Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995 9783666401770, 9783525401774, 9783647401775

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Psychotherapie in Ostdeutschland: Geschichte und Geschichten 1945-1995
 9783666401770, 9783525401774, 9783647401775

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Michael Geyer (Hg.)

Psychotherapie in Ostdeutschland Geschichte und Geschichten 1945–1995

Mit 1 Abbildung und 5 Tabellen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-40177-4 ISBN 978-3-647-40177-5 (E-Book) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Punkt für Punkt GmbH · Mediendesign, Düsseldorf Druck und Bindung: Hubert & Co KG, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

1.

K  apitel 1945–1949: Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1.1 Michael Geyer: Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1945–1949 . . . . . . . . . . . . 29 1.3 Die Ausgangssituation – Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Christina Schröder: Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Psychotherapie im 19. und 20. Jahrhundert: Theoretische Innovationen, Schulenprofil, Berufsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Michael Geyer und Christina Schröder: Zum Stand der Professionalisierung der Psychotherapie nach der NS-Zeit – Ein Erklärungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Michael Geyer: Psychoanalyse in Ostdeutschland zwischen 1920 und 1945 am Beispiel der Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Steffen Theilemann: Eine Annäherung an Heinrich Stoltenhoff (1898–1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Ostberlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1.1 Wolfgang Kruska: Berliner Verhältnisse Teil I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1.2 Christoph Seidler: Die Geburt einer psychologischen Beratungsstelle aus der deutschen Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Jena: Gerhard Klumbies: Die Anfänge in Jena 1945–1959 . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Leipzig: Michael Geyer: Der Versuch der Institutionalisierung der Psychoanalyse an der Universität Leipzig durch Alexander Beerholdt . . .

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1.5 Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1.5.1 Bernhard Strauß: Gerhard Klumbies – Pionier der Psychosomatik in Ostdeutschland – Die Übereinstimmung zwischen Natur und Vernunft kommt nicht dadurch zustande, dass es in der Natur vernünftig zugeht, sondern in der Vernunft natürlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1.5.2 Michael Geyer: Ehrig Wartegg (7.7.1897– 9.12.1983) – Lebenswege eines Psychologen im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

2. Kapitel 1950–1959: Pawlow und die Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2.1 Michael Geyer: Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1950–1959 . . . . . . . . . . . . . 90

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Inhalt

2.3 Stationäre Psychotherapie in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Infrid Tögel: Die Psychotherapie-Abteilung an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Klaus-Jürgen Neumärker: Die »Individualtherapie der Neurosen« von Karl Leonhard in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Ellen Sitte: Erfahrungen mit der Individualtherapie nach Leonhard . . . . . 2.3.4 Elisabeth Richter-Heinrich: Die Klinik für kortiko-viszerale Regu­lationstörungen im Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Krankheiten der Akademie der Wissenschaften Berlin-Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95 95 99 105 110

2.4 Beispiele ambulanter Psychotherapie in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.4.1 Wolfgang Kruska: Haus der Gesundheit (HdG) Ostberlin und Klinik Hirschgarten (Higa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2.4.2 Helga Hess: Aufbau einer »Abteilung für Klinische Psychologie an der Poliklinik West Magdeburg« durch Otto Prüssing – Beispiel einer ambulanten psychologischen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2.5 Kinderpsychotherapie in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.5.1 Agathe Israel: Entwicklung der Kinderpsychotherapie I . . . . . . . . . . . . . . . 117 2.5.2 Infrid Tögel: Der Wiederaufbau der Kinderpsychotherapie an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig . . . . . . . . . . . . . 126 2.6 Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.1 Michael Geyer: Internistische Psychotherapie in der Tradition der deutschen psychosomatischen Medizin in Halle/Saale – Ein Gespräch mit Hans-Walter Crodel (Jahrgang 1919) in seinem Haus in Halle . . . . . . 2.6.2 Gottfried Lobeck: »Es hat sich so ergeben« – Aus Gesprächen mit Helmut Born (Jahrgang 1914) zu den Anfängen klinischer Psycho therapie in Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.3 Siegfried Schnabl: Anfänge der Psychotherapie in einem Versorgungskrankenhaus des Gesundheitswesens Wismut in Erlabrunn/Erzgebirge – Ein persönlicher Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Kapitel 1960–1969: Beginnende Institutionalisierung . . . . . . . . . . . . . . 141 3.1 Michael Geyer: Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1960–1969 . . . . . . . . . . . . . 145 3.3 Werner König: Von der Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960 zur 5. Jahrestagung von Bad Elster 1969 . . . . . . . . . . . . . . 151 3.4 Werner König und Michael Geyer: Wiederannäherung an die Psychoanalyse in den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.5 Die wichtigen Zentren der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3.5.1 Ostberlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

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Inhalt

3.5.1.1 Helga Hess: Kurt Höck – seine Visionen und seine neoanalytische Sichtweise – Das Grundsatzreferat von Klink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.2 Wolfgang Kruska: An der Wiege der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie (IDG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.3 Helga Hess: Psychotherapeutische Forschung im Haus der Gesundheit – Probleme, Anfänge und Entwicklung in den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.4 Helga Hess: Das Symposium für Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung 1966 in Berlin-Ost . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.5 Wolfgang Kruska und Barbara Kruska: Psychotherapie im Griesinger Krankenhaus Wuhlgarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2.1 Hermann F. Böttcher und Anita Wilda-Kiesel: Von der Schlaftherapie­ abteilung der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie zur Selbständigen Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung an der Universität Leipzig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2.2 Anita Wilda-Kiesel: Gruppengymnastik und ihre Ziele in der Abteilung für Psychotherapie der Universität Leipzig im Rahmen der Pawlow’schen Schlaftherapie von 1960 bis 1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2.3 Anita Wilda-Kiesel: Die Anfänge der Kommunikativen Bewegungsthera­ pie, ein neuer gedanklicher Ansatz für die Gruppenbewegungstherapie im Rahmen der Kommunikativen Psychotherapie. Die Entwicklung von 1963 bis zum Bewegungstherapiesymposium in Leipzig 1967 . . . . . . . . . . . . 3.5.2.4 Christoph Schwabe: Entwicklungsbedingungen und Entstehen des ersten klinisch orientierten musiktherapeutischen Methodensystems in der deutschen Psychotherapielandschaft 1960–1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Uchtspringe: Infrid Tögel: Psychotherapie an der Bezirksnervenklinik Uchtspringe (1964–1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.1 Gerhard Klumbies: Psychosomatik und Psychotherapie in Jena nach dem Mauerbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4.2 Margit Venner: Die Entwicklung der internistischen stationären Gruppenpsychotherapie in Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.5 Erfurt: Michael Geyer: Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe und ihr Einfluss auf die Psychotherapie der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.6 Halle/Saale: Erdmuthe Fikentscher: Die Anfänge der Psychotherapie an der Universitätsnervenklinik Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.7 Dresden: Gottfried Lobeck und Hermann F. Böttcher: Die eigenständige Abteilung für Psychotherapie am Krankenhaus Dresden-Neustadt von 1967 bis 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.6 Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3.6.1 Agathe Israel: Entwicklung der Kinderpsychotherapie II – Die 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

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Inhalt

3.6.2 Ute Ebersbach, Gertraude Tuchscheerer und Christiane Dittmann: Der Kinderpsychotherapiekatalog und die analytisch orientierte, integrative Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Uchtspringe/Altmark . . . . . 221 3.6.3 Helga Hess unter Mitarbeit von Anne Müller, Erika Schwarz und Gudrun Tscharntke: Die Kinderpsychotherapie im Haus der Gesundheit (HdG) Berlin – Ein nahezu vergessenes Juwel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 3.7 Christoph Schwabe: Beschäftigungstherapie – Positionierung, Wurzeln und Widersprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3.8 Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR . . . . . . . . . . . . 3.8.1 Infrid Tögel: Die »erfolgreiche« und folgenreiche Behandlung des Genossen Dr. H. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkung des Herausgebers (M. G.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8.2 Christoph Schwabe: Nicht-Märchengeschichten eines Musiktherapeuten I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. K  apitel 1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 4.1 Michael Geyer: Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 4.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1970–1979 . . . . . . . . . . . . 245 4.3 Werner König: Das abgestufte System der Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 4.4 Werner König: Der Weg zum Facharzt für Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 4.5 Die Entwicklung der Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.1 Michael Geyer und Werner König: Psychodynamische Psycho­therapie und Psychoanalyse – Psychoanalyse als Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2 Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie – Sektionsgeschichte und Entwicklung des Ausbildungssystems der Kommunitäten in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.1 Helga Hess: Die Gründung der Sektion Dynamische Gruppenpsycho therapie und die Ausbildung in Gruppenselbsterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.2 Wolfgang Kruska: Kommunitäten oder »Lassen Sie sich ein, Widerstand ist zwecklos!« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.3 Helga Hess und Ernst Wachter: Die internationale Selbsterfahrungsgruppe von Kurt Höck und Jürgen Ott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.2.4 Helga Hess: Die Forschung zur Gruppenpsychotherapie und Selbsterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3 Gesprächspsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.3.1 Inge Frohburg: Gesprächspsychotherapie I: Die universitären Gründerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

4.5.3.2 Henriette Petersen: Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist ... – Persönliche Reflexionen über die Ausbildungsanfänge der Gesprächspsychotherapie in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.4 Ilona Stoiber: Verhaltenstherapie 1970–1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.5 Katathymes Bilderleben. Heinz Hennig und Erdmuthe Fikentscher: Zum Aufbau einer Arbeitsgruppe für Katathymes Bilderleben (KB) und die Verbreitung der Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.6 Musiktherapie. Christoph Schwabe und Axel Reinhardt: Die Weiter entwicklung der Musiktherapie und ihre Integrationsbemühungen in die psychotherapeutische Praxis sowie ihre Organisationsformen in den Jahren von 1970–1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.6.1 Christoph Schwabe: Die Entwicklung der Musiktherapie zu einem schulenübergreifenden Konzept – Beweggründe, Auseinandersetzungen, Positionierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.6.2 Christoph Schwabe und Axel Reinhardt: Der Aufbau und die Institutio nalisierung musiktherapeutischer Aus- und Weiterbildungs­angebote unter den realen Bedingungen der DDR-Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.6.3 Wolfgang Goldhan: Vom Anfang der Musiktherapie im Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus (WGK) Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.7 Kommunikative Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.7.1 Anita Wilda-Kiesel: Von der Bewegungstherapie bei funktionellen Störungen und Neurosen zur Kommunikativen Bewegungstherapie und zur Konzentrativen Entspannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.7.2 Anita Wilda-Kiesel: Die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungs ­therapie in der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.7.3 Wilda-Kiesel: Der Fachphysiotherapeut für funktionelle Störungen und Neurosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.8 Autogenes Training und Hypnose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.8.1 Wolf-Rainer Krause: Hypnose und Autogenes Training 1945–1979 . . . . . . . 4.5.8.2 Hans-Joachim Maaz: Der Kampf zwischen autoritärer oder dynamischer Beziehung – am Beispiel der Hypnoseausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5.9 Christoph Schwabe: Von der Beschäftigungstherapie zur Gestaltungs therapie – Entwicklungslinien, das »Heilhilfspersonal« und andere Kuriositäten 1970–1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.6 Regionalarbeit der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und der Gesellschaft für Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4.6.1 Michael Geyer, Werner König und Sigmar Scheerer: Die Arbeit der Regionalgesellschaften – Der Aufbau der Psychosomatischen Grund betreuung und der regionalen Balint-Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 4.6.2 Hermann F. Böttcher und Dorothea Roloff: Regionale Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Dresden von 1975–1990 . . . . . . 349

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4.6.3 Hermann F. Böttcher und Gert Leuschner: Die Regionale Arbeits gemeinschaft Klinische Psychologie der Sektion Klinische Psychologie der Gesellschaft für Psychologie des Bezirkes Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . 354 4.6.4 Sigmar Scheerer: Regionalarbeit der Gesellschaft für Ärztliche Psycho therapie der DDR im Bezirk Frankfurt/Oder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 4.6.5 Infrid Tögel: Balint-Arbeit und Versuch einer Selbsterfahrungsgruppe in Uchtspringe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 4.7 Gisela Ehle: Zur Entwicklung des Lehrgebietes »Medizinische Psychologie« an den Medizinischen Hochschulen der DDR und sein Platz im gestuften integrativen Psychotherapiesystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 4.8 Die weitere Entwicklung ambulanter, stationärer und tagesklinischer Psychotherapie-Abteilungen in Versorgung und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1 Das Haus der Gesundheit Berlin in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1.1 Helga Hess: Die Herausbildung eines Institutes für Psychotherapie und Neurosenforschung (IfPN) mit Integration der Ambulanz, Klinik und Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.1.2 Christoph Seidler: Das stationär-ambulante Fließsystem am Beispiel der Jugendlichengruppen in den Jahren 1978 bis 1991 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2 Psychotherapie an Universitätsklinika und Medizinischen Hochschulen (Leipzig – Halle – Erfurt) 1970–1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2.1 Günter Plöttner: Psychotherapie in der »KT« 1970–1980 . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2.2 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Psychotherapie an der Universitätsnervenklinik Halle/Saale 1970–1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.2.3 Michael Geyer: Stationäre, ambulante und tagesklinische Psycho­therapie an der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.3 Inge Brüll: Die Psychotherapie-Abteilung des Klinikums Berlin-Buch . . . 4.8.4 Ambulante und tagesklinische Psychotherapieeinrichtungen in Sachsen und Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.4.1 Gerhard di Pol: Von der psychotherapeutischen Abteilung der Poliklinik Nord zur Fachpoliklinik für Psychotherapie der Stadt Leipzig – Eine Entwicklung über drei Jahrzehnte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8.4.2 Gerlinde Weise: Ambulante psychotherapeutische Komplextherapie am Modell einer Magdeburger poliklinischen Einrichtung – Zur Ent­stehungs geschichte und Struktur der ambulanten psychotherapeutischen Behandlungsform im Rahmen der Organisation der Polikliniken . . . . . . . . 4.8.4.3 Dorothea Roloff: Psychotherapie in der Grundversorgung – Mein Weg zur Psychotherapie und deren Einführung in der Poliklinik Blasewitz in Dresden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4.9 Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 4.9.1 Klaus Weise und Sabine Gollek: Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 4.9.2 Margit Venner: Psychotherapie in der Inneren Medizin . . . . . . . . . . . . . . . 421

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4.9.3 Paul Franke und Arndt Ludwig: Psychosomatische Gynäkologie – Die Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 4.9.4 Dieter Curschmann, Sigmar Scheerer und Rainer Suske: Die Arbeits gruppe Psychotherapie und Medizinische Psychologie in der Allgemein medizin der Gesellschaft für Allgemeinmedizin der DDR in Koope ration mit der Gesellschaft für Ärztliche Psycho­therapie der DDR . . . . . . 436 4.10 Agathe Israel: Entwicklung der (analytischen) Kinderpsychotherapie III – Die 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 4.11 Christa Ecke: Frauen in der Psychotherapie (1970–1990) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 4.12 Psychotherapie in Seelsorge und kirchlicher Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 4.12.1 Infrid Tögel: Seelsorge-Ausbildung in der DDR (1977–1991) . . . . . . . . . . 443 4.12.2 Brigitte Bühler: Kirchliche Eheberatung in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 4.13 Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR . . . . . . . . . . . . 4.13.1 Inge Frohburg: Eine »West«-Publikation und ihr ehestiftender Nebeneffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.13.2 Christoph Schwabe: Nicht-Märchengeschichten eines Musiktherapeuten II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.13.3 Ilona Stoiber: »Sie dürfen arbeiten, aber leise« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Kapitel 1980–1989: Wege der Emanzipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 5.1 Michael Geyer: Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 5.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1980–1989 . . . . . . . . . . . . 461 5.3 Die Weiterentwicklung der Methoden und der Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Psychodynamische Psychotherapie und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.1 Michael Geyer und Werner König: Der Beginn der Reinstitutionali sierung der Psychoanalyse in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1.2 Hans-Joachim Maaz: Die »Psychodynamische Einzeltherapie« – eine ost deutsche Entwicklung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie 5.3.1.3 Christoph Seidler, Hans-Joachim Maaz und Michael Geyer: Das »Fercher Modell« – Glücksfall für die Balint-Arbeit in (Ost-)Deutschland . . . . . . . . . 5.3.1.4 Hans-Joachim Maaz: Therapie für Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Jürgen Ott (1938–2003) und Michael Geyer: Die Weiterentwicklung der Selbsterfahrungs- und Therapiegruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Helga Hess: Forschung im Haus der Gesundheit, insbesondere zur Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Inge Frohburg: Gesprächspsychotherapie II: Bewährung in der klinischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.3.4 Verhaltenstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 5.3.4.1 Ilona Stoiber: Die Sektion Verhaltenstherapie der Gesellschaft für Ärzt liche Psychotherapie der DDR /Arbeitsgemeinschaft Verhaltens­therapie der Gesellschaft für Psychologie der DDR von 1980–1989 . . . . . . . . . . . . . . . 507 5.3.4.2 Ilona Stoiber: Verhaltenstherapie bei Alkohol- und Medikamenten abhängigkeit 1979–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 5.3.4.3 Brigitte Mehl: Zur Tätigkeit der Sektion bzw. Arbeitsgemeinschaft Ver haltenstherapie am geistig behinderten Kind der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und der Gesellschaft für Psychologie der DDR . . . . . . . . . . . 515 5.3.4.4 Hans-H. Fröhlich: Verhaltenstherapie im Arbeitsfeld Sexualität am Beispiel der AG Sexualtherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 516 5.3.4.5 Wolfram Kinze: Verhaltenstherapeutische Ansätze in der Kinderneuro psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 5.3.4.6 Klaus Udo Ettrich: Psychotherapie in universitärer Ausbildung und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 5.3.5 Katathymes Bilderleben. Heinz Hennig und Erdmuthe Fikentscher: Die Etablierung der Arbeitsgruppe für Katathymes Bilderleben in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR und der Aufbau eines curricularen Ausbildungssystems sowie der Ausbau internatio naler Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 5.3.6 Musiktherapie. Christoph Schwabe und Helmut Röhrborn: Methoden differenzierung und Praxisbezug am Beispiel der Entwicklung der Regulativen Musiktherapie (RMT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 5.3.7 Beschäftigungstherapie/Gestaltungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 5.3.7.1 Christoph Schwabe: Beschäftigungstherapie/Gestaltungstherapie 1980–1989 – Vielfalt und Einfalt, Organisationsversuche und Qualifizie rungsaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 541 5.3.7.2 Marianne Pienitz: Gestaltungstherapie/Kunsttherapie – Ein Erfahrungs bericht von 1981–1995 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 5.3.8 Kommunikative Bewegungstherapie und Konzentrative Entspannung 549 5.3.8.1 A  nita Wilda-Kiesel: Die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie und ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie . . . . 549 5.3.8.2 Brigitte Böttcher: Die Konzentrative Entspannung als Relaxationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 5.3.9 Autogenes Training und Hypnose: Wolf-Rainer Krause: Hypnose und Autogenes Training in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 5.3.10 Wolfgang Gräßler: Logotherapie und Existenzanalyse in der DDR bis 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 5.4 Weitere Entwicklung stationärer und tagesklinischer Psychotherapieeinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 5.4.1 Michael Geyer: Die Universitätsklinik für Psychotherapie und Psychosomatik Leipzig in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560

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5.4.2 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Psychotherapie in der Universitätsnervenklinik Halle 1980–1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.2.1 E  rdmuthe Fikentscher: Psychotherapie bei Patienten im Erwachsenenalter 5.4.2.2 Heinz Hennig: Psychotherapeutische Ansätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.3 Hans-Joachim Maaz: Die Klinik für Psychotherapie und Psycho­somatik im Diakoniewerk Halle – Ein Freiraum zur Integration von Methoden der Humanistischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.4 Irene Misselwitz: Aufbau der Psychotherapie in der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Universität Jena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.5 Entwicklung der Kinderpsychotherapie IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 5.5.1 Agathe Israel: Entwicklung der (analytischen) Kinderpsychotherapie – die 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 5.5.2 Michael Scholz und Agathe Israel: Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychotherapie im Leipziger Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 5.6 Hans-Dieter Rösler, Hermann F. Böttcher, Heinz Hennig: Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin (1986–1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 5.7 Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.1 Gisela Ehle: Psychotherapie in der Psychiatrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.2 Bettina Schmidt: Psychosomatik in der Inneren Medizin – Forschung, Lehre und Patientenversorgung an der Universität Leipzig in den Jahren 1980 bis zur Wende 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7.3 Helmut Röhrborn: Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Psychotherapie in der Inneren Medizin« – von der Gründung bis zum stillen Ableben 5.8 Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.1 Sigmar Scheerer, Werner König und Michael Geyer: Regional­arbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.2 Dieter Seefeldt: Qualitative und ökonomische Effekte der Integration der Psychotherapie in die allgemeinmedizinische Grundbetreuung – Ein empirisch gestützter Bericht aus dem damaligen Bezirk Potsdam . . . 5.8.3 Helmut Röhrborn: Die Regionale Arbeitsgemeinschaft Wismut der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.8.4 Wolfram Zimmermann: Kooperation der Leipziger Universität mit einem Kreiskrankenhaus – eine ungewöhnliche »Partnerschaft« für Medizinische Psychologie und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.9 Infrid Tögel: Aufbau einer ökumenischen Telefon­seelsorge in Dresden ab 1984 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 5.10 Ost-Ost- und Ost-West-Beziehungen in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 616

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5.10.1 Michael Geyer und Hermann F. Böttcher: Das internationale Psycho­therapie-Symposium in Dresden 1984 und der Beginn der Zusammenarbeit mit der DGPT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.2 Der Internationale Erfurter Kongress vom 28.–30. September 1987 und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.2.1 Michael Geyer: Die vorgezogene Wiedervereinigung der deutschen Psychotherapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.2.2 Irene Misselwitz: Nachwirkungen des Erfurter Kongresses 1987 – Die Schöpfung einer Großtante aus dem Westen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.2.3 Gottfried Lobeck: Vater Staat – Ein Dritter im Bunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.3 Christina Schröder: »Nicht mehr ohne Freud« – Das Sigmund-Freud Symposium im Juli 1989 als öffentlicher Ausdruck des Veränderungs willens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.10.4 Helga Hess: Das 3. Symposium der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung vom 25.–27. September 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.11 Persönliche Berichte über die 1980er Jahre, die Vorwende- und Wendezeit . . . 5.11.1 Jürgen Ott (1938–2003): Gute Zeiten, schlechte Zeiten – Bedeutung normativer Krisen für die Identitätsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.2 Andreas Peglau: Psychoanalyse im DDR-Rundfunk – eine (Vor)Wende geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.11.3 Gabriele Brunnemann: Als Internistin in der Regionalgesellschaft Potsdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12 Geschichten aus dem Alltag eines Psychotherapeuten in der DDR . . . . . . . . . . . 5.12.1 Inge Frohburg: Carl Rogers in Moskau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.2 Michael Geyer: Der graue Schlapphut oder die geheime Mission des Spions E. B. 008 im kalten Osten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.3 Christoph Schwabe: Nicht-Märchengeschichten eines Psychotherapeuten III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.4 Hans-Joachim Maaz: Die »Briefcouvert-Affäre« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.12.5 Hans-H. Fröhlich: Politik gegen Polithomos sowie eine Amputation in drei Schnitten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Kapitel 1990–1995: Wende- und Nachwendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 6.1 Michael Geyer: Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 673 6.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675 6.3 Deutsch-deutsche Integration in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 6.3.1 Michael Geyer: Was war das Besondere an der GPPMP? – Zur Attraktivität einer ehemaligen DDR-Fachgesellschaft nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686

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6.3.2 Psychotherapie Ost – Psychotherapie West – Eine Vereinigung auf Raten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.1 Vorbemerkung des Herausgebers: Es wächst zusammen – ... oder auch nicht ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.2 Werner König: Der gescheiterte Versuch der Zusammenführung von GPPMP und AÄGP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.3 Paul Franke: Die Zusammenführung der Psychosomatischen Gynäkologie Ost und West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2.4 Sigmar Scheerer: Die Vereinigung der Balint-Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . 6.3.3 Die strukturelle Angleichung der psychotherapeutisch-psychosomati schen Versorgung und der ärztlichen und psychologischen Weiter- und Fortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.1 Roger Kirchner und Christoph Seidler: Die Integration der ostdeutschen Psychotherapiemethoden in die kassenärztliche Versorgung im vereinten Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.3.2 Roger Kirchner: Die Einführung des Facharztes für Psychothera­peutische Medizin in die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer . . .

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6.4 Aus- und Weiterbildung in der Zeit der Übergangs­bestimmungen in den neuen Bundesländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1 Die Rolle der Weiterbildungskreise und Regionalen Gesellschaften . . . . . . 6.4.1.1 Michael Geyer: Der Sächsische Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.2 Ernst Wachter und Helga Hess: Der Weiterbildungskreis in Sachsen-Anhalt e. V. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.1.3 Roger Kirchner, Frank F. Schiefer und Rainer Suske: Gründung der Brandenburgischen Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie in Cottbus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Michael Geyer, Werner König und Heinz Hennig: Die Weimarer Psychotherapiewoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.3 Roger Kirchner: Montecatini-Kongresse und Psychotherapiewochen in der Toskana während der Phase des Zusammenwachsens von Ost und West . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4.4 Dieter Seefeldt: Von der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psycho­ therapie des Bezirkes Potsdam zur Brandenburgischen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V. . . . . 6.5 Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Die psychoanalytisch begründete Psychotherapie nach der Wende – die psychoanalytischen Ost-Institute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1.1 Michael Geyer: Die Gründung analytischer Institute und die Beziehung zur DGPT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1.2 Michael Geyer: Das Leipziger Institut und die Reinstitutionalisierung der Psychoanalyse im Osten Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.5.1.3 Margit Venner und Irene Misselwitz: Wurzeln und Entwicklung des Thüringer »Instituts für Psychotherapie und Angewandte Psycho analyse e. V.« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1.4 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Die Gründung des Mittel deutschen Institutes für Psychoanalyse e. V. (MIP) in Halle/Saale . . . . . . . . 6.5.1.5 Christoph Seidler und Michael Froese: Endlich Freiheit, endlich Psychoanalyse? – Zur Gründungsgeschichte der »Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin« (APB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1.6 Peter Wruck: Zur Geschichte des Instituts für Psychotherapie und Psychoanalyse Mecklenburg-Vorpommern (IPPMV) e. V. . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Die DGAPT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2.1 Hans-Joachim Maaz: Die DGAPT – ihre Wurzeln, die Geschichte und die multimodale Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2.2 Hans-Joachim Maaz, Ulrike Gedeon und Hans-Jörg Klemm: Die Sektionen der DGAPT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Christoph Seidler: Selbsterfahrung mit der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie während der Wende . . . . . . . . . . . 6.5.4 Gesprächspsychotherapie nach der Wende: Inge Frohburg: Gesprächspsychotherapie III – Zurück in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.5 Verhaltenstherapie nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.5.1 Hans-H. Fröhlich und Wolfram Kinze: Zur Entwicklung der Verhaltens therapie nach der Wende: Übergangsregelungen – Fachkommission – Institutionalisierung der Aus- und Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.5.2 Ilona Stoiber: Weiterbildungsmaßnahmen zum Suchttherapeuten nach 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.6 Heinz Hennig und Erdmuthe Fikentscher: Die Gründung der Mittel deutschen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben e. V. (MGKB) mit eigenem Ausbildungsinstitut – Vom Katathymen Bilderleben (KB) zur Katathym-Imaginativen Psychotherapie (KIP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.7 Ulrike Haase, Axel Reinhardt und Christoph Schwabe: Die Gründung und der Ausbau der Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen sowie die Gründung der DMVS e. V. – Beweggründe und Position in der gesamtdeutschen Musik­therapielandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.8 Kommunikative Bewegungstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.8.1 Anita Wilda-Kiesel: Die Kommunikative Bewegungstherapie nach 1990. . . 6.5.8.2 Brigitte Böttcher: Die Konzentrative Entspannung (KoE) nach 1990 . . . . . . 6.5.9 Autogenes Training und Hypnose. Wolf-Rainer Krause: Hypnose und Autogenes Training nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6.6 Schicksale stationärer und ambulanter Psychotherapie-Abteilungen nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803 6.6.1 Psychotherapie und Psychosomatik an ostdeutschen Universitäten nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 803

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Inhalt

6.6.1.1 Michael Geyer: Psychotherapie und Psychosomatik an der Universität Leipzig in der Wende- und Nachwendezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.1.2 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Die Gründung der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik und des Institutes für Medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1990–2000 . . . . . . . . . . . . 6.6.2 Schicksale stationärer Psychotherapie-Abteilungen Sachsens vor und nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2.1 Helmut Röhrborn: Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2.2 Helmut Röhrborn: Psychotherapie im peripheren Versorgungskranken haus – Die Erlabrunner Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6.2.3 Gottfried Lobeck: Die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Weißer Hirsch des Städtischen Krankenhauses Dresden-Neustadt 6.6.3 Dieter Seefeldt: Vom Kliniksanatorium Heinrich Heine Potsdam/Neu Fahrland zur BfA-belegten psychosomatischen Rehabilitationsklinik . . . . .

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6.7 Berichte und neue Identitätssuche zur und nach der Wende . . . . . . . . . . . . . . . . 829 6.7.1 Wolfgang Kruska: Berliner Verhältnisse Teil II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 6.7.2 Jochen Schade: Freiheit und Psychotherapie – Ist politische Freiheit eine Bedingung für psychotherapeutische Arbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 832 6.8 Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten nach der Wende . . . . . . . . 6.8.1 Irene Misselwitz: Teile und herrsche – Eine Wendegeschichte aus gruppendynamischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.8.2 Ilona Stoiber: Geht Verhaltenstherapie nur mit Pawlow? . . . . . . . . . . . . . . 6.8.3 Irene Misselwitz und Margit Venner: Sprechen in der Psychotherapie . . . 6.8.4 Hans-H. Fröhlich: Einmal geheim – immer geheim! . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847 I

Auszeichnungen und Preise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 I.1 Michael Geyer: Die John-Rittmeister-Medaille (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . 849 I.2 Michael Geyer: Der Oskar-Vogt-Preis (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 850

II

Bildungsprogramm Facharzt für Psychotherapie 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 852

III Thesen und Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder 1973 und 1982 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857 III.1 Prager Psychotherapiethesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857 III.2 Die Potsdamer Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 IV Die Rodewischer Thesen 1963 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866 V

Autorenkurzbiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 871

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 895 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949

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Vorwort

Vorwort des Herausgebers In diesem Buch wird erstmalig die Psychotherapie in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1995 systematisch auf der Basis von Archivmaterial und Zeitzeugenberichten dargestellt. Durch eine einheitliche Struktur der nach Zeitabschnitten geordneten Kapitel soll dem Leser der Zugang erleichtert werden: Jedes Kapitel beginnt mit einem gesellschafts- und wissenschaftspolitischen »Überblick«, der durch eine »Ostdeutsche Psychotherapiechronik« des entsprechenden Zeitraums ergänzt wird, die alle wesentlichen Ereignisse auflistet. Danach wird in Einzelbeiträgen dem Stand der Verfahrensentwicklung von Psychodynamischer Einzel- und Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie, Autogenem Training und Hypnose, Katathym-Imaginativer Psychotherapie, Kommunikativer Bewegungstherapie, Konzentrativer Entspannung und Musiktherapie ebenso Raum gegeben wie dem Prozess der Integration der Psychotherapie in die Breite der Medizin. Jedes Kapitel schließt mit Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten, mit Interviews und Berichten von Zeitzeugen ab. Ein Anhang mit wichtigen Dokumenten, Weiterbildungsrichtlinien, der wissenschaftlichen Auszeichnungspraxis und Registern komplettiert das Buch. Dieses Buch erzählt von der Geschichte der Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Es kommen Autoren zu Wort, die die wesentlichen Strömungen und Bereiche der ostdeutschen Psychotherapie repräsentieren. Sie erzählen ihre eigene Sicht auf ihre berufliche Vergangenheit und deren Begleitumstände. Als Zeitzeugen, die die Geschichte der Psychotherapie in Ostdeutschland miterlebt und gestaltet haben, war es ihnen ein Anliegen, ihren Anteil an den Geschehnissen offenzulegen. Mit Hilfe ihrer Erinnerungen lassen sich, so hoffe ich, differenziertere Antworten auf die Frage finden, wie Psychotherapie in der DDR funktionierte. Wichtig war mir, dass die Autoren möglichst authentisch von ihrem Blick auf die Zustände in der DDR berichten, um somit umfassende Erinnerungen, Fakten und Hintergründe festzuhalten, die andernfalls drohen, in Vergessenheit zu geraten oder verfälscht zu werden. Der Zeitrahmen umfasst die 50 Jahre zwischen 1945 und 1995. Diese Zeitspanne überlappt zwischen 1945 und 1949 und noch einmal zwischen 1990 und 1995 die staatliche Existenz der DDR. Trotzdem ist der Einfluss der sozialistischen Gesellschaftsordnung sowohl einige Jahre vor der Staatsgründung als auch noch einige Jahre danach in einer Weise vorhanden, der diese Ausweitung rechtfertigt. Auch gehören beide Zeiträume – insbesondere die Jahre des Übergangs zu demokratischen Verhältnissen – zu den spannenden Phasen der ostdeutschen Psychotherapieentwicklung. Legt man den Maßstab der westlichen, d. h. in erster Linie westdeutschen Psychotherapielandschaft an, fällt der Vergleich zwischen West und Ost für die einzelnen Verfahren unterschiedlich aus. Ähnlich dem Westen dominieren zwischen 1970 und 1989 in der DDR die psychodynamischen Verfahren – in welchen Formen auch immer – in Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Anders als im Westen spielt die Verhaltenstherapie erst zum Ende des DDR-Staates eine größere Rolle, während sich die Gesprächspsychotherapie nach Rogers und Tausch synchron zum Westen entwickelt und größten Einfluss auf das Gesprächsverhalten der Psychotherapeuten aller Richtungen ausübte. Angesichts der gesellschaftlichen

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Vorwort

Umstände in der DDR ist dieser Tatbestand nicht unbedingt zu erwarten. Er wirft mehrere Fragen auf, deren Klärung das Bild der Psychotherapie in Ostdeutschland, wie es in zahlreichen Publikationen der letzten 20 Jahre gezeichnet wurde, verändern dürfte. Die Autoren, die in diesem Buch zu Wort kommen, lebten und arbeiteten in einem Spannungsfeld zwischen ideologischer Indoktrination, Repression und Freiheitsdrang. Sie berichten von den Anfängen der Psychotherapie in einem Regime, das anfangs durchaus totalitäre Züge trug, von ideologisch motivierten Machtkämpfen, aber auch von den – aus damaliger wie heutiger Sicht – positiven Entwicklungen. Es werden Leistungen und – aus damaliger wie heutiger Sicht – positive Entwicklungen beschrieben, die trotz des Regimes erreicht worden sind und oft subversiven Charakter trugen, die zum Teil aber auch gerade deshalb gelangen, weil bestimmte Charakteristika des vergangenen Staatswesens sie ermöglichten.1 Alle Autoren sind Zeitzeugen mit einem eigenen Erfahrungshintergrund, der es mitunter schwer macht, »historisch objektiv« zu berichten. Das Buch vereint also durchaus gegenteilige Positionen: sog. historische Fakten einerseits und Erzählungen eines sich erinnernden Subjekts andererseits. Die Fülle der dargestellten historischen Fakten soll es dem Leser ermöglichen, das Erzählte einzuordnen und zu bewerten. Die Erinnerung von autobiographisch berichtenden Zeitzeugen sind, wer würde es leugnen, interessengeleitete Konstruktionen der Vergangenheit, die immer auch mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft geordnet sind. Der Zeitzeuge steht also immer unter Verdacht, eine für seine eigene Position in der Gegenwart geeignete Vergangenheit zu erinnern. Dieser Verdacht erhält Nahrung durch die damalige Position der sich erinnernden Erzähler. Fast alle Autoren bekennen, dass sie damals aktiv Handelnde und nicht allein Opfer des Systems waren. Dies ist keineswegs die gewohnte Position ostdeutscher Psychotherapeuten. In zahlreichen Publikationen der letzten 20 Jahre haben wir wiederholt unsere eigene Rolle als Regimekritiker, Unterdrückte oder Zukurzgekommene der Gesellschaft thematisiert. Wir haben uns also in erster Linie mit den Opfern der DDR identifiziert, mit den Verfolgten und Traumatisierten. Dass wir beschreiben, wie wir diese Gesellschaft jenseits eines von Person zu Person unterschiedlich vorhandenen Widerstandes aktiv mitgestaltet haben, mag bei einigen Lesern dazu führen, uns, die wir unterschiedliche fachpolitische Machtpositionen besetzt hatten, mit den damaligen politischen Machthabern zu verwechseln. Als ich mit dem vorliegenden Projekt begann, habe ich mich natürlich gefragt, ob ich auf solche Projektionen angemessen reagieren kann, die unausweichlich am Ostdeutschen festgemacht werden, wenn er versucht, Entwicklungen darzustellen, die einen Teil seines Lebens 1 »Jahrzehntelang basierten konventionelle Diskurse über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, ­insbesondere in Diktaturen, auf einer Reihe einfacher Dualismen, die in der öffentlichen Debatte Selbstverständlichkeiten geworden zu sein schienen: Hier Zivilisation oder Modernität, dort Barbarei oder AntiModernität; hier ›gute Wissenschaft‹ dort ›rassistische‹ bzw. ›ideologisch kontaminierte Pseudowissen­ schaft‹; hier also Wahrheit, Geist und dort Unwahrheit bzw. Wahrheitsverbiegung im Dienste der Macht. Am schönsten gestalteten sich solche Diskurse, wenn auch noch der Charakter der einzelnen Akteure hinzugenommen wurde. Man hatte dann alles in einer Doppelreihe: Hier die anständigen Menschen, die echte, sprich: moderne Wissenschaft in Demokratien betrieben und betreiben; dort die kriminellen Täter, die Pseudowissenschaft in Diktaturen betrieben und betreiben« (Ash 2010, S. 12).

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Vorwort

in der DDR ausgemacht haben. Die Frage ist, ob der Leser bereit ist, ein breiteres und differenzierteres Spektrum ostdeutscher Geschichte zu akzeptieren als gewohnt. Es gibt eine mehr oder weniger offen geäußerte Bereitschaft, die DDR als Fortsetzung des Naziregimes zu betrachten. So wurde auch in den letzten 20 Jahren weniger die Geschichte der Ostdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet als die Geschichte der SED/Stasi-Diktatur. Sie war vielleicht auch der erregende und blutrünstige Teil unserer Geschichte und für das Publikum allemal interessanter als das, was den Menschen trotz SED und Stasi das Leben wertvoll machte, was sie an Leistungen vollbrachten, auf die sie damals stolz waren und es immer noch sind. Eine Berichterstattung über den Alltag gewöhnlicher Menschen wird gern verunglimpft als »ostalgische« Verharmlosung des DDR-Staates. Und kann man denn überhaupt 40 Jahre mit Stalin, Ulbricht, Honecker und Mielke verbracht haben, ohne für immer verseucht zu sein? Diktatur, Verrat, mangelnde Triebsteuerung und Primitivität des Ostdeutschen scheinen immer noch die westliche Zivilisation zu bedrohen. Das macht eine Betrachtung, die auch Positives würdigen soll, nicht einfach. Sabrow (2009, S. 16 ff.) erklärt diese Schwierigkeit vieler Zeitgenossen im Umgang mit der DDR mit dem Fehlen einer verbindlichen geschichtskulturellen Meistererzählung über die DDR und ihren Untergang, wie sie sich in Bezug auf die NS-Herrschaft seit langem hergestellt habe. Zur DDR gibt es mehrere Geschichten. Den öffentlichen Diskurs beherrscht eine Vorstellung, in der die DDR als ein im Herbst 1989 mutig überwundener Unrechtsstaat vorkommt. Der sog. gewöhnliche DDR-Bürger stellt insofern eine Variante dieser Erinnerung dar, als er zwar froh ist, der DDR entkommen zu sein, er aber dem Unrechtsstaat DDR nicht so nahe gekommen ist, dass er einen eigenen Opferstatus beanspruchen könnte und das Leben in der DDR – so gut es eben ging – ohne besondere Schuldgefühle genossen hat. Ihm fällt es naturgemäß schwer, sein Leben in der DDR pauschal als »Leben in der Diktatur« oder – noch schlimmer – als »falsches Leben« desavouiert zu sehen. Im Milieugedächtnis früherer DDR-Eliten wird eine vereinigungskritische Anschlusserinnerung gepflegt. In ihr erscheint die DDR als Normalstaat und die Vereinigung als koloniale Unterwerfung mit Zustimmung der Kolonisierten in gezielter Analogie zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 (Sabrow 2009, S. 24). Der Unterwerfungsthese hängen auch einige vom Ergebnis der Wende enttäuschte Bürgerrechtler an, die die DDR lieber als reformierten eigenständigen sozialistischen Staat gesehen hätten. Die Psychotherapeuten der Wendezeit – und auch die Autoren dieses Buches – bilden diese ostdeutsche Erinnerungslandschaft ab und lassen sich entsprechend unterschiedlichen, in sich gespaltenen Milieugedächtnissen zuordnen. Sabrow (2009, S. 16 ff.) plädiert dafür, diese unterschiedlichen Geschichten über die DDR schon allein deshalb hinzunehmen, weil die DDR – anders als der Nationalsozialismus – keinen Zivilisationsbruch markiert. Insofern kann diese Zeit auch privat wie öffentlich erzählerisch tradiert werden. Im Fall der DDR kann es ein öffentlich wie privat verteidigungsfähiges richtiges Leben im falschen gegeben haben, ohne in Konflikt mit den heute gültigen kulturellen Normen zu geraten. Das wird hoffentlich in den Geschichten dieses Buches erkennbar. Eines ist jedenfalls unübersehbar: Über die DDR wurde früh, viel und anders geredet als über die Nazizeit. Der Mauer des Schweigens nach 1945 steht eine autobiographische Welle

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Vorwort

nach 1989 gegenüber. (Noch heute erzählen die Ostdeutschen nicht ungern ihre Geschichten sogar dann, wenn sie keiner mehr hören will.) Dass die DDR ein kategorial anderes Staatsgebilde war als das Dritte Reich und insofern nicht mit dem Nationalsozialismus verglichen werden kann, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Regime viele Aspekte eines Unrechtsstaates hatte, Menschen systematisch in ihrer Meinungsäußerung unterdrückt, terrorisiert und eingesperrt hat. Dabei haben viele Menschen mitgemacht und machten sich so in vielerlei Beziehung schuldig. Die meisten haben aber – unabhängig von ihrer politischen Überzeugung – ein nach damals wie heute gültigen Normen ordentliches Leben geführt. Es ist jedenfalls nicht sinnvoll, die vielfachen Brechungen zu ignorieren, die zwischen dem Charakter einer Gesellschaftsordnung und dem Charakter von Personen existieren. In allen Zeiten finden wir in jämmerlichen und verlogenen Regimen stolze und tatkräftige wie auch in brutalen und menschenverachtenden Strukturen mitfühlende und solidarische Menschen. Insofern stehen jeweils der Einzelne und seine Taten zur Debatte. Die Fragen, die wir uns schon lange vor dem Ende der DDR selbst stellten, gingen alle in eine Richtung: Wer konnte wie innerhalb eines solchen Systems und mit dessen Anerkennung gearbeitet haben, ohne an der Schuld, die dieses System zu verantworten hat, beteiligt zu sein? Die Antwort dürfte auch in den Reihen der hier versammelten Autoren unterschiedlich ausfallen.2 Das Spektrum der Schuld, die unter den Psychotherapeuten der DDR zu eruieren ist, reicht von Verrat und Denunziation bis zum Schweigen über miterlebtes Unrecht. Dabei war die Zahl der Denunzianten unter den Psychotherapeuten sicher nicht höher als in anderen Bereichen der Gesellschaft, nach meinem derzeitigen Erkenntnisstand eher geringer, als gewöhnlich unterstellt wird. Angesichts dessen, dass in der Allgemeinbevölkerung der DDR 1,3 % und unter Ärzten als einer Hauptzielgruppe der Stasi mindestens 3 % Inoffizielle Mitarbeiter (IM) der Stasi waren (Weil 2008, S. 25 ff.), wären unter den 1.700 Mitgliedern der Fachgesellschaft (GÄP/GPPMP) mehr als 50 IM zu vermuten. So viele aktenkundige IM konnte ich bislang nicht ausmachen. Die Stasiakten zeigen auch, dass Pläne der Staatssicherheit oft genug am korrekten Verhalten von Psychotherapeuten scheiterten (Süß 1998, S. 341). Üble Fälle inoffizieller Stasimitarbeit sowie schwerwiegende berufsrechtliche Vergehen wurden in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung offengelegt. Haltungen und Handlungen jenseits solcher klar definierten Schuld sind schwerer zu bewerten. Vielleicht gelangt der Leser bei der Lektüre dieses Buches zu diesem oder jenem Urteil. Gewöhnlich werden »objektive« schriftliche Zeugnisse den »subjektiven« Berichten von Zeitzeugen gegenübergestellt. Zeitzeugen, die selbst eine aktive Rolle in der DDR-Psychotherapie eingenommen haben, kann unterstellt werden, sie schönten ihre Rolle nachträglich 2 ������������������������������������������������������������������������������������������������������ Zweifellos sind nicht nur Politiker, sondern auch Wissenschaftler wie Psychotherapeuten handelnde Subjekte/Akteure und das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wird heute eher als Ergebnis gegenseitiger Verhandlungen verstanden: »So können Wissenschaftler Ressourcen aus der politischen Sphäre ebenso für ihre Zwecke zu mobilisieren versuchen, wie Politiker ihrerseits wissenschaftliche Ressourcen für bestimmte Zwecke zu mobilisieren versuchen können. Allerdings ging und geht die Initiative meist von wissenschaftlicher Seite aus, denn erst dadurch lernt die politische Seite überhaupt, welche Möglichkeiten einer Zusammenarbeit hier bestehen« (Ash 2010, S. 23).

22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Vorwort

und stellten sich und die Ereignisse der DDR-Zeit in der aus heutiger Sicht sozial erwünschten Weise dar. Dies ist sicher ein Problem aller solcher Unternehmungen. Eine gewisse Kontrolle dieser Tendenzen dürfte allerdings allein durch die Vielzahl der Autoren und deren politisch und fachpolitisch sehr unterschiedliche Stellung gewährleistet sein. Auch habe ich mich bemüht, voneinander abweichende Positionen zu einem Ereignis nebeneinander stehen zu lassen. Es gibt zudem einen plausiblen Grund, eventuelle Nachteile dieser Art in Kauf zu nehmen. Die auf reichhaltigen schriftlichen Zeugnissen basierende Faktenlage ist nämlich in einer bestimmten Weise defizitär. So sind die Sichtweisen von Zeitzeugen der Ereignisse gerade bei diesem Projekt unverzichtbar, weil sie einen Kontext zu den offiziellen Protokollen und Berichten abgeben können, der dort nicht zu finden ist. Diese Protokolle und Berichte stehen unter dem Generalverdacht der Verfälschung realer Sachverhalte. Offizielle schriftliche Materialien aus der DDR-Zeit wie Vorstandsprotokolle oder Berichte von Kongressen und Dienstreisen, die immer an das Generalsekretariat der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR (also auch an die dort angesiedelten offiziellen Institutionen der Staatssicherheit) gingen, für bare Münze zu nehmen, ist sowohl leichtfertig als auch ignorant. Diese Texte wurden im Hinblick auf politisch – oft auch fachpolitisch – relevante Sachverhalte bis zum Ende der 1980er Jahre häufig tendenziell verfasst. Nur die konspirativ gewonnenen Stasiberichte bildeten einen Kontrast zur »allgemein schönfärbenden Tendenz der nicht-konspirativen Berichtssysteme der DDR« (Herbst 2003, S. 217). Die Verfälschung geschah durch Verschweigen oder Betonung unwichtiger Details bis hin zur schlichten Falschdarstellung wichtiger Sachverhalte. Ich kann das bezeugen, denn ich selbst habe genügend dieser Art »bearbeitete« Berichte an das Generalsekretariat der MedizinischWissenschaftlichen Gesellschaften eingereicht, immer mit der bewussten Absicht, die ­verschiedenen Auswerter dieser Berichte zu täuschen. Und ich gestehe, es sogar mitunter lustvoll getan zu haben. Die Texte von Vorstandsprotokollen, Kongressberichten, Fach­ gebiets­konzeptionen u. a. ohne Beachtung dieser Umstände als reale Inhalte von Diskussionen in Vorstandsitzungen oder Mitgliederversammlungen zu werten, erschiene mir als nachträglicher Sieg eines repressiven Systems. Wenn ein Historiker ein Ereignis bewertet, indem er einen solchen Bericht unkommentiert zitiert, wird eine der damaligen Repression geschuldete, verfälschte Darstellung eines Ereignisses endgültig zum realen Faktum aufgewertet. Unzählige Papiere – das Buch enthält zahlreiche Beispiele – müssen auf diese Weise hinterfragt werden. Die Autoren versuchen, in einzelnen Beiträgen und den jeweiligen den Kapiteln vorangestellten Übersichten entsprechende Kontexte zu den offiziellen Texten zu liefern. Daneben gibt es – unabhängig von den offiziellen Dokumenten – ohnehin mehrere Lesarten dieser Zeitabschnitte. Das macht eine Bewertung vieler Ereignisse nicht eben einfach. In einem Regime, das sich in seiner Eigendarstellung als »Diktatur des Proletariats« und Staat des »Demokratischen Zentralismus« präsentierte, erwartet man eine Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Prozesse, insofern auch der Psychotherapie. Entgegen dieser Ansicht war jedoch die Psychotherapieszene im Osten Deutschlands nie einheitlich. Das kam spätestens ans Tageslicht, als einige ostdeutsche Psychotherapeuten nach der Wende begannen,

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Vorwort

den Westdeutschen die sog. DDR-Psychotherapie zu erklären, und anderen, die auch dabei waren, diese Geschichten sehr fremd vorkamen. Die DDR als typische Nischengesellschaft stellte auch für Psychotherapeuten viele Nischen bereit, die anderen verborgen waren. Mir wurde damals bewusst, dass es wenig Sinn hat, die eigene Perspektive zum Maßstab einer Geschichte der ostdeutschen Psychotherapie zu machen. So gab es zu dem vorliegenden Buch und der damit verbundenen Breite der politischen Meinungen und Konzepte sowie der Qualität der Darstellung keine Alternative. Das Buch ist eine kollektive Leistung im eigentlichen Sinne, an deren Zustandekommen mehr als 70 Frauen und Männer beteiligt sind. Es sind fast ausnahmslos Personen, die schon vor Jahrzehnten, trotz unterschiedlicher Ausgangsberufe und methodischer Ausrichtungen, die Zusammenarbeit miteinander pflegten und deren Leben eng mit den Ereignissen und Prozessen verbunden ist, die Gegenstand dieses Buches sind. Ihnen allen möchte ich dafür danken, dass sie sich mit gleichem Enthusiasmus und hoher Verlässlichkeit, die sie auch früher auszeichneten, an diese Aufgabe wagten und das Buch mit ihren eigenen Erfahrungen geprägt haben. Mein Dank geht an einige meiner ältesten Mitstreiter und Freunde, Paul Franke und Hans-Joachim Maaz »aus dem Osten« und Bernhard Strauß und Wolfgang Senf »aus dem Westen«. Sie haben mich ermutigt, das Projekt überhaupt anzugehen. Besonders möchte ich Helga Hess und Werner König danken, die sich dieser Aufgabe ohne Wenn und Aber verschrieben und mit großem persönlichen Einsatz die Entstehung des Buches begleitet haben. Sehr zu Dank verpflichtet bin ich auch Inge Frohburg, die die Regie über die Entwicklung der Gesprächspsychotherapie sowie Ilona Stoiber, Hans-H. Fröhlich und Wolfram Kinze, die die Koordination über die Verhaltenstherapie übernommen haben. Danken möchte ich auch zwei Personen, die nicht an diesem Buch mitgeschrieben, dennoch aber Anteil an seinem Zustandekommen haben: Regine Lockot und Heike Bernhardt haben in ihrem Buch »Mit ohne Freud« (Bernhardt u. Lockot 2000) für den keineswegs einfach zu überschauenden Bereich der psychoanalytisch begründeten Psychotherapie wichtige Ausschnitte der Entwicklung der Psychotherapie in Ostdeutschland recherchiert und dargestellt. Diese Vorarbeiten waren für das vorliegende Buch von großem Wert. Dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, besonders Ulrike Kamp und Günter Presting, danke ich für die verständnisvolle Begleitung dieses wohl nicht ganz gewöhnlichen Projektes. Michael Geyer

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1. Kapitel

1945–1949: Nachkriegszeit

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1.1  Überblick

1.1

Michael Geyer: Überblick

In diesem Kapitel werden die Ausgangsbedingungen für die Entwicklung der Psychotherapie im Nachkriegsdeutschland sowie die Versuche eines Neubeginns in Ostdeutschland beschrieben. Es hat sich eingebürgert, den Ostteil als den von je zu kurz gekommenen Teil Deutschlands zu sehen. Das ist zwar zum Teil für Mecklenburg-Vorpommern zutreffend, das mit einem bereits vor dem Krieg niedrigen Industrialisierungsgrad und einem Bevölkerungsanteil von 50 % aus den Ostgebieten Vertriebener in der Nachkriegszeit zu kämpfen hatte. Für die Gebiete Mitteldeutschlands, also den Süden Brandenburgs, Sachsen, SachsenAnhalt und Thüringen, gilt dies jedoch weder kulturell noch wirtschaftlich. Der mitteldeutsche Raum gehörte bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den kulturell und wirtschaftlich führenden Regionen Europas. Sowohl die ärztliche Psychotherapie und Psychosomatik als auch die Psychoanalyse hatten feste Standbeine in dieser Region. Den Spuren dieser vielversprechenden Entwicklung noch bis in die 1930er Jahre hinein folgen Schröder und Geyer in ihren Beiträgen. Die sowjetische Besatzungsmacht und die westlichen Alliierten verfolgen von Anfang an unterschiedliche soziale, politische und wirtschaftliche Konzepte. Während in den westlichen Zonen der Marshall-Plan den wirtschaftlichen Aufbau nach dem Muster einer kapitalistischen freien Marktwirtschaft vorantreibt, ist die Ostzone bald geprägt von der Durchsetzung einer am Sozialismus der UdSSR orientierten Planwirtschaft. Aus heutiger Sicht ist es kaum erklärlich, dass diese Politik sich anfangs durchaus auf die breite Masse stützen konnte. Der konsequente Antifaschismus der neuen Machthaber im Osten entfaltet eine erhebliche Anziehungskraft auf heimkehrende Emigranten wie Bertolt Brecht, Arnold Zweig, Anna Seghers oder Alfred Döblin, die ein neues Deutschland aufbauen wollen, das sich Zielen wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität verschrieben hat. Die dem Kommunismus innewohnende strukturelle Gewalt wird von der sozialistischen Heilserwartung überdeckt, mit der die verstörten Menschen an den Wiederaufbau gehen. Schon im Juli 1945 werden auf Anweisung der SMAD (Sowjetische Militäradministration in Deutschland) alle privaten Banken und Versicherungen geschlossen. Im September 1945 wird eine Bodenreform durchgeführt. Grundbesitz über 100 Hektar wird enteignet und in Parzellen zu 5–25 Hektar an landlose Bauern verteilt. Bei den brutal durchgesetzten Enteignungen kommt es zu zahlreichen Rechts- bzw. Menschenrechtsverletzungen. 1946 stimmt in einem Volksentscheid in Sachsen eine Dreiviertel-Mehrheit für die »Enteignung von Kriegsverbrechern«, d. h. von Besitzern größerer Industriebetriebe. In anderen Teilen Ostdeutschlands werden durch rasch verabschiedete Gesetze ebenfalls die größeren Betriebe in VEB (Volkseigene Betriebe) umgewandelt. Der private Sektor umfasst 1946 nur noch 40 % der Bruttoproduktion. Auf diesem Hintergrund werden ostdeutsche Institutionen aufgebaut und deren Leitungsebenen mit Personen entweder aus dem deutschen kommunistischen Widerstand oder mit den in die Sowjetische Besatzungszone zurückgekehrten Emigranten besetzt. Zu ersteren gehören die Psychoanalytiker Dietfried Müller-Hegemann (1910–1989) und Alexander Mette (1897–1985), die später offiziell die Psychoanalyse bekämpfen werden, ihr in einer ambivalenten Art und Weise jedoch verbunden bleiben und leitende Positionen in der Gesundheitsverwaltung einnehmen. Sie werden in den folgenden

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

20 Jahren zu den einflussreichsten Vertretern der Psychotherapie. Allerdings begeben sie sich in den Dienst einer Ideologisierung und Sowjetisierung von Medizin und Psychotherapie, die immerhin bis zum Ende der 1950er Jahre die Entwicklung der Psychotherapie behindert, ehe die Pawlow’sche Schlaftherapie, wie die psychotherapeutische Anwendungsform des Pawlowismus genannt wird, an ihren praktischen Anwendungsproblemen scheitert und gemeinsam mit ihren Protagonisten bedeutungslos wird. Nach dem Krieg ist in Sachsen (Leipzig, Dresden), Thüringen (Jena, Erfurt) und Ostberlin auf dem Gebiet der Psychotherapie noch beträchtliches wissenschaftliches und methodischtechnisches Potential vorhanden. Es dünnt sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren aus. Ernst Speer (1889–1964), Psychotherapeut aus der Binswanger’schen Tradition ärztlicher Psychotherapie und Psychosomatik, später Gründer der Lindauer Psychotherapiewochen, wird von der Universität Jena wegen seiner Nazivergangenheit entlassen. Andere, wie der in Dresden lebende Franz Baumeyer (1900–1978) oder der in Erfurt praktizierende Gerhard Scheunert (1906–1994), verlassen die Sowjetische Besatzungszone aus politischen und wirtschaftlichen Gründen. Der Leipziger Psychiater und Psychoanalytiker Herbert Weigel (1901–1966) geht aus wirtschaftlichen Gründen in den öffentlichen Dienst und arbeitet nicht mehr psychotherapeutisch. Der in Dresden-Strehlen ansässige Psychiater und Psychoanalytiker Heinrich Stoltenhoff (1898–1979, s. a. den Beitrag von Theilemann } Abschnitt 1.3.4) ist seit 1932 nicht mehr psychoanalytisch tätig und wird bald Chefarzt eines der größten sächsischen Psychiatrischen Landeskrankenhäuser. Die wenigen nichtemigrierten Psychosomatiker, die nach 1945 in der Ostzone bleiben, z. B. Hans Curschmann (1875–1950), Rostock, Werner Hollmann (1900– 1983), Potsdam und Gerhard Katsch, Greifswald (1887–1961), sind entweder zu alt oder wenden sich wieder voll der Inneren Medizin zu, in der bessere Karrierechancen existieren. Ostberlin profitiert von den offenen Sektorengrenzen. Schultz-Hencke (1892–1953), Werner Kemper (1899–1975) und andere Mitglieder des neugegründeten Westberliner Instituts sind auch in Ostberlin aktiv. Ostberliner lassen sich im Westberliner Institut ausbilden. An den Universitäten Leipzigs, Ostberlins und Greifswalds gibt es vielversprechende Projekte, der Psychoanalyse in Form von Lehrstühlen und Lehrbereichen eine Heimstatt zu geben. Das Scheitern sämtlicher Ansätze ist einer Politik geschuldet, die spätestens mit der Gründung der DDR 1949 bemüht ist, sich von den westlichen internationalen Entwicklungen abzukoppeln und in einer stalinistischen Pseudopsychologie – dem Pawlowismus/Nervismus – gipfelt. Von nun an wird der Pawlowismus als dialektisch-materialistische Grundlage aller Lebenswissenschaften der Psychoanalyse als »spätbürgerlicher Ideologie des Imperialismus« gegenübergestellt. Die in der Versorgungspraxis arbeitenden Psychotherapeuten richten sich ein. Wenn es irgendwie geht, arbeiten sie weiter wie gewohnt. So ist an der 1949 gegründeten poliklinischen Abteilung für Psychotherapie am Haus der Gesundheit Berlin nicht viel von Pawlow die Rede. Dort wird psychoanalytische Therapie praktiziert. Andere entstehende Zentren wie Jena (Kleinsorge, 1920–2001, Klumbies, geb.1919), Ballenstedt (Marchand, 1920–1983) und Halle/Saale (Crodel, geb. 1919) integrieren theoretisch reflexologische Konzepte, die jedoch eher neben den eigentlich angewendeten Suggestivverfahren und dem traditionellen »ärztlichen Gespräch« psychodynamischer Orientierung stehen. Das Nebeneinanderbestehen von offiziellen Theorien und einer Praxis, die anderen, inoffiziellen Konzepten folgt, begleitet von nun an die Entwicklung der Psychotherapie in Ostdeutschland.

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1.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1945–1949

1.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1945–1949 1945 08. Mai: Deutschland wird durch alliierte Truppen besetzt und von der Naziherrschaft befreit. Unter den amerikanischen Soldaten ist Alfred Katzenstein (1915–2000), in Mönchengladbach als Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie aufgewachsen, Kämpfer im spanischen Befreiungskrieg, interniert in Frankreich, Psychologiestudent in den USA, amerikanischer Soldat und schließlich – nach Übersiedlung aus den USA in die DDR 1954 – einflussreicher Psychotherapeut der DDR. Alexander Mette (1897–1985), Analysand von Therese Benedek in Leipzig, DPG-Mitglied bis 1935, als Antifaschist unter Überwachung der Gestapo und an seiner publizistischen Arbeit gehindert, stellt sich für den Aufbau eines neuen Deutschland in der Sowjetischen Besatzungszone zur Verfügung. Dietfried Müller-Hegemann (1910–1989), ebenfalls am Berliner DGP-Institut ausgebildeter Psychoanalytiker und als KPD-Aktivist aktiver Widerstandskämpfer gegen die Nazis, wird als Kriegsgefangener in die Sowjetunion gebracht. 1948 zurückgekehrt, wird er eine Partei- und Universitätskarriere machen und der einflussreichste psychotherapeutische Fachpolitiker der ersten Dekade der DDR werden. 22. Juli: Aufgrund des Befehls Nr. 17 des Oberbefehlshabers der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) wird die Deutsche Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen in der Sowjetischen Besatzungszone gebildet. Weitere Befehle (Nr. 234 und 272) orientieren auf den Ausbau von Polikliniken und Krankenhäusern. Der Befehl 272 bildet die Grundlage für die (Wieder-)Errichtung einer von der Sozialversicherung getragenen Poliklinik, des späteren Hauses der Gesundheit Berlin, in deren Mauern 1949 eine psychotherapeutische Beratungsstelle und Ambulanz ihren Betrieb aufnimmt. 2. Jahreshälfte: Gründungsmemorandum der Nachfolgeeinrichtung des Berliner Instituts für Psychoanalyse, des Instituts für Psychopathologie und Psychotherapie. Harald Schultz-Hencke zeigt sich offen gegenüber den neuen sowjetischen Einflüssen: Er könne seine theoretische Position im Sinne einer an den Instituten in Moskau und Charkow praktizierten Psychotherapie reflexologisch und instinktpsychologisch formulieren (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 387). Alexander Mette erneuert seine Mitgliedschaft in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) und bewirbt sich als Dozent am Institut für Psychopathologie und Psychotherapie in Westberlin. Harald Schultz-Hencke nimmt dieses Angebot Mettes nicht an. Mette spricht an verschiedenen Berliner Volkshochschulen über Psychoanalyse, wird Mitglied der KPD und bekommt eine Stelle in der Gesundheitsverwaltung. An der Medizinischen Klinik der Universität Jena experimentiert Hellmuth Kleinsorge (1920–2001), späterer Direktor dieser Klinik und – 1951 – Gründer der Jenaer Psychotherapie-Abteilung, mit Hypnotherapie bei körperlichen Störungen. In Erfurt bekommt der wegen NSDAP-Mitgliedschaft aus dem öffentlichen Dienst entlassene Ehrig Wartegg Unterschlupf in der Praxis von Gerhard Scheunert, dem späteren Mitbegründer der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV). Ein weiterer Psy-

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

chotherapeut, der Psychologe Wilhelm Leibold (1906–1954), ehemaliger Kollege von Wartegg am Leipziger Psychologischen Institut, praktiziert ebenfalls in diesem Umfeld. 20. September: Ernst Speer (1889–1964), Gründer der Lindauer Psychotherapiewochen (1950), seit 1937 NSDAP-Mitglied, an der Jenaer Universität 1943 habilitiert und vor Kriegsende designierter Inhaber des ersten Psychotherapie-Lehrstuhls in Deutschland, wird wegen seines aktiven Einsatzes für die Ziele der NSDAP als Hochschullehrer entlassen (Mettauer 2010). 18. Dezember: Alexander Beerholdt (1883–1976) hält bei der Kulturabteilung der KPD in Leipzig einen Vortrag über »Psychoanalyse und Seelenheilkunde« und knüpft erste Kontakte mit der den Lehrbetrieb wieder aufnehmenden Universität.

1946 Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, die (noch) in der Sowjetischen Besatzungszone wohnen, sind Franz Baumeyer (Dresden), Alexander Mette (Weimar), Gerhard Scheunert (Erfurt), Erich Tiling (Gera), Herbert Weigel (Leipzig). Ständiger Gast: Siegfried Möller (Potsdam). 16. Januar: Alexander Beerholdt (Lehranalysand von Felix Boehm) erhält vom Rektor und Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig, Hans-Georg Gadamer (bekannt durch seine »philosophische Hermeneutik«, bis 1947 in Leipzig, später Heidelberg), einen Lehrauftrag am Psychologischen Institut. Ab dem Sommersemester liest er bis 1948 drei Semesterwochenstunden »Einführung in die Tiefenpsychologie« und »Einführung in die Freud’sche Psychoanalyse«, zwischen 1948 und 1951 lehrt er nur noch sporadisch. Er findet keinen Anschluss an die DPG. Mai: Alexander Mette lädt zu Freuds 90. Geburtstag die Mitglieder des demokratischen Kulturbundes zu einem Festvortrag ein. Hans-Walter Crodel (*1919) erhält eine Stelle in der Inneren Abteilung des Stadtkrankenhauses Halle-Dölau und beginnt, sich mit Psychosomatischer Medizin zu beschäftigen. Juli: Alexander Mette zieht nach Weimar um und wird stellvertretender Landesdirektor im Landesgesundheitsamt Thüringen. Er erbittet von der Leitung des Westberliner Instituts für Psychopathologie und Psychotherapie (speziell von Werner Kemper und Carl MüllerBraunschweig) eine Begutachtung seiner Publikationen, um die Tiefenpsychologie für neue Arbeitspläne aufzuwerten (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 387). 17. Dezember: SMAD-Befehl zur »Erneuerung und Wiedererrichtung der Fürsorge für Geisteskranke, Geistesschwache, Psychopathen und Süchtige«. Zu den 12 Psychiatern, die über die Ausbildung der »Irrenpfleger und Psychotherapeuten« und deren Niederlassungsordnung zu beraten hatten, gehören drei Psychoanalytiker: Kemper (Berlin West), Mette (Weimar) und Baumeyer (Arnsdorf bei Dresden) (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 387 ff.).

1947 20. Februar: Durch den Einsatz des Psychiaters Hanns Schwarz (1989–1977), der, wegen seiner jüdischen Frau während der Nazizeit an der Hochschulkarriere gehindert, seit

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1.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1945–1949

1945 den Greifswalder Psychiatrie-Lehrstuhl einnimmt, wird Harald Schultz-Hencke auf den Lehrstuhl für Psychotherapie an die Unversität Greifswald berufen. Er nimmt den Ruf nicht an, da ihm die Bedingungen in Greifswald und wohl auch die politische Situation in der Sowjetischen Besatzungszone nicht akzeptabel erscheinen. 15. März: Alexander Mette zieht sich enttäuscht von der DPG zurück. Er ist nicht als Delegierter für den 1. Mitteleuropäischen Psychoanalytischen Kongress in Amsterdam herangezogen worden (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 388). 31. Mai: Alexander Beerholdt richtet einen Antrag an Rektor Gadamer auf Gründung eines Institutes für Psychoanalyse an der Universität Leipzig, der, nicht zuletzt durch den Weggang Gadamers im folgenden Jahr, im Sande verläuft. Beerholdt intensiviert daraufhin seine Bemühungen zur Errichtung eines Institutes für Medizinische Psychologie und Psychotherapie nach dem Vorbild des Zentralinstitutes in Berlin, ebenfalls noch ohne Resonanz. 11. September: Herbert Weigel, Neuropsychiater aus Leipzig und Lehranalysand Therese Benedeks, bittet nach seiner Rückkehr aus Dänemark, wo er eine Nervenklinik für deutsche Flüchtlinge eingerichtet hatte, Carl Müller-Braunschweig um Wiederaufnahme seiner Mitgliedschaft in der DPG. Er bleibt bis zur Spaltung der DGP Mitglied. Er wird neuropsychiatrischer Gutachter, später Mitglied auch der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, jedoch nie mehr psychoanalytisch tätig sein. Gerhard Klumbies (*1919) beginnt seine Tätigkeit in der Inneren Klinik der Universität Jena.

1948 Auf der Grundlage des SMAD-Befehls Nr. 124 über die »Organisation deutscher wissenschaftlicher Gesellschaften« werden in den folgenden Monaten die Regionalgesellschaften für Neurologie und Psychiatrie Jena, Leipzig, Berlin und Greifswald gegründet. Alexander Mette wird Leiter der Hauptabteilung des Gesundheitswesens im Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge in Thüringen. Erste Ausgabe der Zeitschrift für »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie«, herausgegeben von Karl L. Bonhoeffer (1868–1948) und Mette unter Mitwirkung von Kemper und Schultz-Hencke (gegründet 1895 von Oskar Vogt als »Zeitschrift für Hypnotismus«, 1902–1942 »Journal für Psychologie und Neurologie«). Die Zeitschrift wird zunächst offizielles Mitteilungsorgan der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, ab 1960 auch der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Der Österreicher Walter Hollitscher (1911–1988), ausgebildeter Psychoanalytiker, Wien, nimmt einen Ruf als Professor für Philosophie an die Humboldt-Universität nach Ostberlin an. 27.–29. Mai: Unter dem Thema »Psychotherapie und Medizinische Psychologie« findet die erste wissenschaftliche Tagung der Psychiater und Neurologen im sowjetischen Sektor mit 350 Teilnehmern statt. Es sprechen u. a. sieben Psychotherapeuten. Linser, der Präsident der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen, und H. C. Roggenbau, Bonhoeffers Nachfolger an der Charité, nehmen zur Ermordung Geisteskranker und zur

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

Massensterilisierung der sog. Erbkranken Stellung. Hermann Nobbe, Leiter der Landesheilanstalt Uchtspringe, trägt ein Schuldbekenntnis vor, in dem er die deutschen Psychiater an ihre Täter- und Mittäterschaft bei der Vernichtung ihrer Patienten und an Freuds Vertreibung erinnert (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 388).

1949 20. September: Harald Schultz-Hencke wird zum Professor mit Lehrauftrag für Psychotherapie an der Medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität berufen. 26. September: Die DPG verabschiedet eine Resolution, die die Gleichzeitigkeit von Positionen im Osten und Westen untersagt. In der Folge gibt Schultz-Hencke die Professur an der Charité wieder auf, um das Westberliner Institut weiter leiten zu können. 01. Oktober: Gründung der ersten psychologischen Beratungsstelle in Ostberlin am Haus der Gesundheit. Erster Leiter ist Hermann Tillmann, eine schillernde Persönlichkeit mit gefälschten Qualifikationsnachweisen, der später wegen Betruges, Zuhälterei und anderer Delikte verurteilt wird. Kurt Höck wird als einziger Arzt neben dem Leiter dort zunächst für ein Jahr tätig. 07. Oktober: Gründung der DDR.

1.3 Die Ausgangssituation – Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland 1.3.1 Christina Schröder: Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Psychotherapie im 19. und 20. Jahrhundert: Theoretische Innovationen, Schulenprofil, Berufsbild In dieser einführenden Skizze der Geschichte der Psychotherapie kommen vor allem solche Aspekte zur Sprache, die in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit den Gestaltungsmöglichkeiten und der Spezifik des Fachgebiets in der DDR stehen. Anhand dieses Auswahlkriteriums erfolgt zugleich eine für historische Darstellungen unverzichtbare Reduktion der Komplexität des kulturellen, wissenschaftlichen, sozialen und berufsständischen Entwicklungsprozesses der Psychotherapie. Die moderne wissenschaftliche Psychotherapie gründet auf der Pionierarbeit der Vertreter des ärztlichen Hypnotismus in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, denen es als angefeindete Außenseitergruppe gelang, Psychotherapie in das Disziplingefüge der Medizin zu integrieren. Dabei steht der Begriff Hypnotismus bereits selbst für die Theorie und Praxis der ärztlichen Hypnose (Schott 1984). Bis dahin war Psychotherapie als Bestandteil des anthropologischen Grundmusters »Hilfsbedürftige – Helfer« ein wesentliches, aber diffuses Element ärztlich-therapeutischen Handelns ebenso wie der Naturheilkunde, Seelsorge, Beratung und Erziehung. Zudem besaßen psychotherapeutische Reflexionen seit der Antike einen festen Platz in den Menschen-

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

bildern der philosophischen Systeme, wo sie als theoretischer Fundus für die Ableitung praktischer Konzepte zur Verfügung standen. Retrospektiv sind diese Erfahrungsqualitäten als vorwissenschaftlich zu bezeichnen, da das angereicherte Wissen nicht systematisch geordnet und empirisch überprüft wurde. Zu den entscheidenden sozialen Triebkräften des Hypnotismus zählen der große öffentliche Einfluss der durch Europa ziehenden Laienhypnotiseure sowie der Behandlungsnotstand der wachsenden Gruppe nervöser Patienten. Die Schulmedizin empfand sowohl die durch die Hypnose gestärkte Konkurrenz auf dem Gesundheitsmarkt (in Deutschland gab es keine gesetzlichen Hürden für die gewerbliche Ausübung von Heilverfahren) als auch den Mangel an kausalen nervenärztlichen Therapiemethoden als Herausforderung (Teichler 2002). Der Innovationsschub, den die Psychotherapie als Wissenschaft und Profession durch den Hypnotismus erhielt, lässt sich anhand folgender Leistungen und Weichenstellungen charakterisieren (vgl. Schröder 1995): 1. Die Hypnose wurde auf experimentellem Wege als natürlicher und regelhafter psychophysischer Zustand ausgewiesen, der den objektiven Einfluss des Geistes auf den Körper erkennbar werden lässt (Tuke 1888). In dieser elementaren Funktion (Freud sprach später von ihrem Lupeneffekt, auch für Bewusstseinsphänomene) galt sie als körperlich verankert und geeigneter Einstieg in die psychosomatische und psychotherapeutische Praxis. 2. Die Hypnose erhielt den Status einer therapeutischen Methode. Für ihre klassifikatorische Einordnung in das medizinische System wurde die Bezeichnung »psychische Therapie« aus der Periode der romantischen Psychiatrie übernommen, in welcher erstmals eine bewusste psychische Beeinflussung Geisteskranker versucht worden war. 3. Die Suggestionstheorie zur rationalen Erklärung des Hypnosevorgangs und der Wirkungsweise des »hypnotischen Befehls« (insbesondere von H. Bernheim und A. Forel durch Anleihe bei der akademischen Assoziationspsychologie ausgearbeitet) stellte die erste psychologische Therapietheorie auf dem Boden der naturwissenschaftlich fundierten Medizin dar. Da sich die Vertreter der parallel entwickelnden Experimentalpsychologie nicht für eine wissenschaftliche Kooperation interessierten (Wilhelm Wundt erteilte eine offizielle Absage), blieb die psychologische Verankerung psychotherapeutischer Ansätze lange in den Händen von Medizinern. 4. Die Suggestionstheorie förderte den klinischen Erfolg der Hypnose und ermöglichte den Erkenntnisfortschritt, dass Suggestionen auch im Wachzustand wirken und psychotherapeutisches Vorgehen prinzipiell von einer konkreten Methode abstrahiert werden kann. Erst vor diesem Hintergrund wurde eine adäquate Abgrenzung des Gegenstandes der Psychotherapie als psychologische Beeinflussung gestörter körperlicher, psychischer und sozialer Funktionen im Rahmen eines Heilauftrags möglich. Diese wiederum ebnete allen weiteren Spielarten und Richtungen den Weg. 5. Das ausbaufähige Spezialgebiet wurde von den beteiligten Ärzten ausschließlich für die Medizin reklamiert. Um ihre Außenseiterposition zu überwinden, setzten sie sich gezielt für eine Institutionalisierung der Psychotherapie als medizinisches Fach mit Lehrstühlen, Pflichtunterricht, Facharzttitel und gesetzlicher Regelung des ärztlichen Behandlungsmonopols ein. Auf diese Weise verankerten sie eine aktive und auf Besitzstand ausgerichtete Indienstnahme der Psychotherapie.

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

Insgesamt gesehen erwies sich die Hypnose für die moderne Psychotherapie als konstituierend und identitätsbildend. Aufgrund ihrer Einseitigkeit und inneren Widersprüche bot die symptomorientierte hypnotische Suggestion außerdem Anlass, selbst grundsätzlich in Frage gestellt zu werden. Gerade die sorgfältige klinische Beobachtung und Kasuistik der Hypnoseärzte erhellten die Schwächen ihres Vorgehens. Die entscheidenden Anstöße für methodische und theoretische Weiterentwicklungen des Gebietes gingen deshalb von abgrenzenden widerlegenden Positionen aus. Die beginnende konkurrierende Auseinandersetzung begründete in der folgenden zweiten Etappe der Psychotherapieentwicklung den bis heute bestehenden hohen Stellenwert der Verfahrenstreue. Die hypnotische Suggestion wurde nach 1905 schnell randständig, erlebte aber in Deutschland in den Lazaretten beider Weltkriege eine unerwartete Renaissance. Diese festigte den Ruf des Basisverfahrens Hypnose, Ärzte von der Wirksamkeit psychotherapeutischer Methoden zu überzeugen. Für die Entwicklung differenzierter Entspannungstechniken lieferte sie jahrzehntelang direkte Anstöße. Als erstes Gegenkonzept kristallisierte sich ab 1890 die Wachpsychotherapie (Schultz 1952) heraus, deren rationale Methoden wie Verhaltensübung, sokratischer Dialog, Reizgewöhnung u. a. bis 1914 eine breite Anwendung unter deutschsprachigen Nervenärzten fanden. Im Unterschied zu der wissenschaftsorganisatorisch und standespolitisch engagierten Interessengemeinschaft der ebenfalls zumeist niedergelassenen Hypnoseärzte wirkten diese vereinzelt und ohne berufsständische Ambitionen, auch wenn sie sich Psychotherapeut nannten. Als Leitbild und Modellkrankheit diente die Neurasthenie. Die gegenüber der Suggestionstechnik geltend gemachte theoretische Erneuerung bestand in der ätiologischen Annahme eines inneren Konfliktes zwischen irrationaler, symptomerzeugender Vorstellung und realitätsgerechter, gesunder Vorstellung, der durch Willensstärkung und neue (Lern)Erfahrungen aufzulösen ist. Freuds kurzzeitige Beschäftigung mit dem »Gegenwillen« im neurotischen Geschehen stand unter dem Einfluss dieser populären Strömung und ist als ein Durchgangsstadium auf seiner Suche nach »kräftigeren Waffen« der modernen Seelenbehandlung als die Suggestion einzuordnen (Freud 1890). Im Vergleich mit dem klinischen Erfolg, der theoretischen Kohärenz und dem hermeneutischen Zugang der Psychoanalyse, in dessen Mittelpunkt bewusste und unbewusste subjektive Bedeutungen standen, gerieten die psychagogischen Verfahren in den 1920er Jahren ins Abseits. Die Entstehung der Psychoanalyse stellt einen Höhepunkt der Psychotherapiegeschichte dar, insbesondere weil sie sich der bis dahin ignorierten emotionalen Erfahrung der Patienten widmete. Ihre Entwicklung ist einerseits durch methodische und theoretische Qualitätssprünge gekennzeichnet und andererseits in die Kontinuität des beschriebenen Prozesses eingebettet. Dabei wurde Freud zum Inbegriff des charismatischen Schulengründers, der auf sich allein gestellt ein abgestimmtes Gesamtkonzept vorgibt, dem andere stringent folgen. Die Merkmale und inneren Maßstäbe aller tiefenpsychologischen Schulen für Professionalität sind seitdem Prinzipientreue und Loyalität, eine ausgeprägte Binnenstruktur und feste Ausbildungs- und Ausübungsregeln. Für die Psychotherapie als Ganzes brachte die klassische Psychoanalyse sowohl wegweisende Erneuerungen als auch problematische Veränderungen mit sich: 1. Freud löste sich über den Zwischenschritt der kathartischen Affektabfuhr von der Suggestion und fand empirisch zur Technik der (Hypnose-)freien Assoziation, die in das

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

neue Universum der unbewussten Abwehrprozesse und der symbolischen Bedeutung neurotischer Symptome führte. Der dazugehörige Begriff »Psychoanalyse« (der Symptomgeschichte) tauchte erstmals 1896 auf. Die Aufschluss gebende Modellkrankheit war die Hysterie. 2. Nachdem Freud verschiedene klinische, psychologische und anthropologische Bausteine zu einem großen Theoriengebäude zusammengefügt und zur Reinheit der Lehre bestimmte Kriterien aufgestellt hatte, genügten die Psychoanalytiker sich selbst und sprachen anderen Methoden von vornherein eine spezifische Wirksamkeit ab (Schröder 2007). Mit diesen Vorzeichen gerieten Revisionsversuche und Akzentverschiebungen zwangsläufig unter den Verdacht der Spaltung und endeten häufig in kräftezehrenden »Ausgründungen« (Will 1995). Außerdem betrachteten sie dieses Gebäude als eigenständige und der an den philosophischen Fakultäten beheimateten akademischen Psychologie überlegene Human- und Sozialwissenschaft. 3. In diesem Interpretationsrahmen wurde Psychotherapie nicht mehr als wünschenswerte Zusatzkompetenz des Mediziners, sondern als klinische Anwendung der Grundlagenwissenschaft Psychoanalyse und als einzig berechtigte Form der Psychotherapie angesehen. Diese Verschiebung der primären Identität und Vereinnahmung der Psychotherapie als solcher hatte zur Konsequenz, dass alternative Methoden und Methodenkombinationen als unprofessionell und eine medizinische Ausgangskompetenz als verzichtbar galten. 1926 öffnete Freuds Plädoyer für die »Laienanalyse« auch anderen akademischen Berufen den Zugang zur Behandlung, wenn sie die psychoanalytischen Ausbildungsstandards erfüllten. Damit unterlief er das generelle ärztliche Behandlungsmonopol und den trotz aller Geringschätzung jeglicher Psychotherapie bestehenden Mindestkonsens mit der Schulmedizin. Das war der Preis dafür, die Psychoanalyse als kritisch-aufdeckende Methode vor einer Medikalisierung bewahren und den nach dem Ersten Weltkrieg gewachsenen Behandlungsbedarf für einen Professionalisierungsschub nutzen zu können. Ohne es zu ahnen, schufen Psychoanalytiker auf diese Weise die ersten Voraussetzungen für die spätere Etablierung Psychologischer Psychotherapeuten auf dem Gesundheitsmarkt. 4. Den bedeutendsten Gewinn für die Psychotherapie erzielte die Psychoanalyse mit der Entdeckung des Übertragungs-Gegenübertragungs-Prozesses und der therapeutischen Schlüsselrolle der Gegenübertragungsanalyse. Die für deren Realisierung als notwendig erkannte mehrdimensionale Selbsterfahrung des Psychoanalytikers revolutionierte die Ausbildung und Qualitätssicherung für die gesamte Psychotherapie. Das Ausbildungsmodell des 1922 gegründeten Berliner Psychoanalytischen Instituts, bestehend aus den gleichberechtigten Komponenten Theorie, Lehranalyse und Fallsupervision (möglich an der angeschlossenen Poliklinik), setzte sich international durch (Schröter 2002) und wurde für alle anderen psychotherapeutischen Richtungen zum Maßstab. Der tiefenpsychologische Schulenstreit, in dem ab 1912 unterschiedliches subjektives Evidenzerleben auch auf persönlicher Ebene ausgetragen wurde und zu dessen Charakterisierung die Psychoanalytiker später Freuds Metapher des »Narzissmus der kleinsten Differenz« heranzogen, trug außerdem dazu bei, dass eine Gruppe ärztlicher Psychotherapeuten gezielt

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

nach einer inhaltlichen Metaebene suchte. Sie traten für gemeinsame Institutionen sowie für inneren und äußeren Zusammenhalt ein. Vor allem mit der Behandlung von traumatisierten Soldaten vertraute Nachwuchspsychotherapeuten sondierten nach dem Ersten Weltkrieg die Chancen für eine schulenunabhängige, indikationsgerechte und auf Methodenvielfalt setzende allgemeine und differentielle Psychotherapie. Ebenso ausschlaggebend für den Syntheseversuch wie der ermüdende Schulenstreit war das gewachsene klinische Prestige der Psychotherapie, das sich während des Ersten Weltkrieges als nützlich erwiesen hatte. Die Suche nach übergeordneten Wirkfaktoren und einem integrativen Theorienbezug sollte der Verankerung einer medizinischen Querschnittdisziplin Psychotherapie dienen und das Berufsfeld insbesondere in Form eines Spezialarztes und anerkannter kassenärztlicher Leistungen sichern. Im Zuge dieses wissenschaftlichen und standesärztlichen Engagements von Medizinern wie J. H. Schultz, A. Kronfeld, W. Eliasberg, E. Kretschmer, E. Speer u. v. a. entstand 1928 die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie, deren Kongresse und Zeitschriften dem angestrebten Schulendiskurs eine konstruktive Plattform gaben (Zeller 2001). Es ging neben offener Methodenkritik darum, »Sinn, Wesen, Haltung und Norm des psychotherapeutischen Handelns« (Eliasberg 1927a, S. 73) so zu bestimmen, dass sich alle Schulen und Richtungen darin wiederfinden können. Diese Aktivitäten wurden von den orthodoxen Psychoanalytikern abgelehnt. Die klinische Einbindung des Querschnittfaches erforderte zugleich eine enge Kooperation mit der ebenfalls aufstrebenden Psychosomatik. Diese untermauerte die Notwendigkeit der medizinischen Herkunft des Psychotherapeuten, vorerst gegen die Heilpraktiker und die Toleranz der Psychoanalyse in Zulassungsfragen gerichtet. Von dem Vereinigungsprojekt zeigten sich die involvierten Ärzte auch aus sozialen und wissenschaftslogischen Gründen überzeugt, denn es stand in ihren Augen für Erkenntnisfortschritt und eine patientengerechtere Versorgung. Das gegenwärtige Konzept einer allgemeinen und differentiellen Psychotherapie ist letztlich eine Wiederholung dieses naheliegenden Gedankens auf höherem methodologischem Niveau und über die Grenzen der ärztlichen Psychotherapie hinweg. Die zwiespältigen Folgen des ideologischen Missbrauchs einer universellen Psychotherapie ab 1933 werden im } Abschnitt 1.3.2 dargestellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten sich, vollständig unabhängig von dem ärztlich dominierten Entwicklungsstrang, zwei von der akademischen Psychologie verantwortete große Psychotherapieschulen, die Verhaltenstherapie und die klientenzentrierte Psychotherapie. Beide entstanden weitgehend in den USA. Das war kein Zufall, denn dort gab es schon seit Ende des 19. Jahrhunderts eine starke angewandte Psychologie. Zu dieser gehörte eine Fraktion, die sich mit verhaltens- und entwicklungsgestörten Kindern beschäftigte und eine »psychologische Klinik« ins Leben rief, weshalb sich die dort beschäftigten Psychologen erstmals »klinische Psychologen« nannten. Sie warteten dringend auf therapeutische Angebote und waren auch für die Psychoanalyse offen, die sich ab 1910 in der amerikanischen Psychiatrie durchsetzte. Die Entwicklungswege beider neuer Formen der Psychotherapie verliefen getrennt, dennoch entstammen sie derselben Tradition experimentalpsychologischer Grundlagenforschung. Ihr jeweiliges Psychotherapieverständnis wurde jenseits der ärztlichen Niederlassung aus subklinischen Bereichen generiert, welche die amerikanischen Psychiater noch nicht besetzt hatten. Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit bestand in der

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

unvermeidlichen Konfrontation mit der Psychoanalyse. Diese wurde zwar als unwissenschaftlich angesehen, ihre klinische Praxis wirkte aber dennoch faszinierend und herausfordernd. Beide Richtungen fanden naturgemäß großen Zuspruch unter praktisch tätigen Psychologen und stehen seit den 1960er und 1970er Jahren für eine ebenbürtige Qualität psychotherapeutischen Denkens und Handelns. Um diesen Anspruch auf eine eigenständige fachliche Vertretung zu unterstreichen, wählte man die Sammelbezeichnung »psychologische« anstatt »nichtärztliche« Psychotherapie. Die längere Geschichte der Verhaltenstherapie beginnt mit dem behavioristischen Manifest von 1913, in dem der amerikanische Experimentalpsychologe Watson von der psychologischen Forschung einzig und allein die Kontrolle und Vorhersage des beobachtbaren Verhaltens verlangte und subjektiven Daten jeglichen Wert absprach. Dieses methodisch noch völlig unausgereifte positivistische Programm beruhte auf der Annahme, dass eine professionelle Praxis nur aus der Anwendung von Ergebnissen der Grundlagenwissenschaft entsteht und auch psychosoziale Interventionen experimentell überprüfbar sein müssen. Die zugleich gegen die erfolgreiche Psychoanalyse und die praxisferne akademische Introspektionspsychologie gerichtete Position war mit der »arbeitsmotivierenden Hoffnung« verbunden, das endlose Spekulieren zu überwinden und ebenso wie angrenzende empirische Wissenschaften objektive Forschungsmöglichkeiten zu finden (Egger 2006, S. 184). Für die methodische Umsetzung bot sich der transparente Verhaltensaufbau durch Konditionierung nach der russischen Physiologenschule Pawlows an, dessen »technische Analogie-Modelle« (Egger, S. 184) in der amerikanischen Lernforschung zwischen den beiden Weltkriegen auf große Resonanz stießen. Historisch interessant ist der Umstand, dass sowohl Freud als auch Pawlow ihre Lehren persönlich in die USA brachten. Watson und seine Gruppe beschäftigten sich intensiv mit der experimentellen Neurose im Sinne Pawlows und ersten Formen des Abbaus von Problemverhalten. Während dieser Initialphase ging es auch immer wieder darum, psychoanalytische Theoriebestandteile empirisch nachzuvollziehen und in das eigene Paradigma aufzunehmen. Da sich die Psychoanalyse letztlich als »experimentell unverdaulich« erwies (Schorr 1984), verzichteten die Psychologen auf deren Integration. Sie verkündeten einen Neuanfang und gingen nach dem Zweiten Weltkrieg dazu über, die inzwischen vor allem für kindliche Entwicklungsstörungen wie Stottern und Enuresis entwickelten Einzelmethoden und neue lerntheoretische Erkenntnisse zu bündeln. Dahinter stand auch der gesellschaftliche Prestigegewinn der ­Psychologie durch ihre Kriegswichtigkeit. Dieser »lerntheoretisch begründeten Behandlungsforschung« und klinischen Praxis fehlte aber noch ein treffender und verbindender Name. Die Bezeichnung Verhaltenstherapie wurde schließlich Ende der 1950er Jahre von mehreren Protagonisten aus unterschiedlichen Forschungszentren eingeführt und sorgte für einen Profilierungsschub. Die Verhaltenstherapie ist deshalb ein Produkt wissenschaftlicher Kooperation und Abstimmung ohne zentrale Gründerfigur. Ihre Stärken liegen insbesondere in der Methodik der Psychotherapieforschung (Einführung der Modellstudie und des Kontrollgruppenvergleichs) und in der Standardisierung psychotherapeutischer Abläufe. Da die Therapieerfolge bei komplexen psychischen Störungen ausblieben und die internen Variablen der Blackbox Aufklärung verlangten, kam es schnell zu pragmatischen Erwei-

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terungsversuchen. Diese wurden von fundamentalistischen Vertretern ähnlich wie in der Psychoanalyse bekämpft. Die Diskrepanzen und separatistischen Tendenzen konnten durch A. Banduras Konzept des teilnehmenden Modelllernens, das auch verdeckte, nachahmende, symbolische und selbstregulierende Lernprozesse umfasst, ausgeglichen und verhindert werden. Den therapeutischen Kern dieser »kognitiven Wende« bildeten Bewertungsprozesse der Patienten. Ab 1960 traten die Verhaltenstherapeuten, die ihre Hochburgen in den universitären Einrichtungen der Klinischen Psychologen besaßen, auch gezielt berufsständisch in Erscheinung. 1987 wurde das Verfahren in Westdeutschland nach einem langen Kampf um Legitimation zur Kassenleistung (Ersatzkassen 1980). Die gesellschaftlich einflussreichere und nach wie vor ärztlich geprägte Psychoanalyse erreichte diesen Status schon 1967. In der DDR hätte die Verhaltenstherapie aus mehreren Gründen eine besonders wichtige Rolle einnehmen können: Sie stand erstens in dem Ruf, wissenschaftlich-rational zu sein und keinen unnötigen ideologischen Überbau zu besitzen. Zweitens arbeiteten die ostdeutschen Psychologen gerade selbst mit dem Tätigkeitskonzept der sowjetischen Psychologie, das eine Überwindung des mechanistischen Determinismus der in den 1950er Jahren aus politischer Absicht profanisierten Lehre Pawlows versprach. Drittens hatte die universitäre Psychologie Deutschlands seit jeher wenig mit der Psychoanalyse im Sinn und wartete in Ost und West darauf, das klinische Terrain stärker für sich in Anspruch nehmen zu können. Und viertens hatte sich durch die Auflösung der tiefenpsychologischen Traditionen in den psychosozialen Berufen im Gegensatz zu Westdeutschland eine Praxislücke gebildet, die angesichts des Versorgungsbedarfs geschlossen werden musste. Dennoch blieb die Verhaltenstherapie lange randständig und musste sich mit dem Interesse einiger wissenschaftlich tätiger Psychologen begnügen. Die im Vergleich dazu sehr erfolgreiche Rezeption und Praxis der klientenzentrierten Psychotherapie steht ebenfalls in einem Zusammenhang mit den beiden letzten Punkten. Diese Form der Psychotherapie fungierte auch in der DDR unter der von R. Tausch 1968 eingeführten deutschen Bezeichnung Gesprächspsychotherapie. Diese Psychotherapieform wurde systematisch von der herausragenden Therapeutenpersönlichkeit C. Rogers entwickelt, der Anregungen aus geistes- und naturwissenschaftlichen Strömungen und von solchen Psychotherapeuten aufnahm, die sich explizit mit der therapeutischen Beziehung beschäftigten. Er war als Psychologe Zeit seines Lebens dem Objektivierungsstreben der empirischen Forschung verpflichtet und verband diese mit der Suche nach philosophischen und ethischen Argumentationen für psychotherapeutisches Handeln. Aus der Beratung kommend und auf Teamarbeit setzend verschob Rogers die Vorzeichen in der therapeutischen Beziehung von der asymmetrisch praktizierten Deutungshoheit der Therapeuten auf die Förderung der gleichberechtigten und autonomen Rolle der Klienten, welche er weder von der Psychoanalyse noch von der Verhaltenstherapie beachtet sah. Die neuen Grundhaltungen des Therapeuten wurden aus vollständig protokollierten Therapieverläufen operationalisiert, empirisch in Feldversuchen überprüft, didaktisch aufgearbeitet und als Selbsterfahrungsdimension zugänglich. Diese Seite der Gesprächspsychotherapie stellte eine wichtige Innovation für die vergleichende Psychotherapieforschung dar. Außerdem konnte ihr technisches Vorgehen gut an Gruppensitzungen adaptiert und die Therapeutenvariablen gezielt für Gruppenprozesse nutzbar gemacht werden.

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

In den USA wurden Generationen von Klinischen Psychologen mit diesem Rüstzeug ausgebildet. Die Wirkungsannahme eines sich unter günstigen kommunikativen und emotionalen Bedingungen selbst aktualisierenden Subjektes ermöglichte den Gesprächspsychotherapeuten eine wichtige Abstraktionsleistung für die Weiterentwicklung der Psychotherapie. Sie sahen in der Umsetzung der therapeutischen Basisvariablen eine geeignete Interventionsmöglichkeit für alle zwischenmenschlichen Begegnungen. Diese erweiterte Sicht verbesserte die Zugänglichkeit von Psychotherapie für subklinische Problemstellungen, brachte aber auch die Gefahr der Pseudoprofessionalität mit sich. Im Vergleich zu anderen Schulen legten Gesprächs­ psychotherapeuten weniger Wert auf ein originäres Modell zur Erklärung der Psychogenese behandlungsbedürftiger Störungen, was ihre Konkurrenzfähigkeit schwächte. In Ostdeutschland fand die Gesprächspsychotherapie wegen des praktischen Gruppensettings sowie wegen ihrer inhaltlichen Nähe zu kritischen Bewegungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ungehindert offizielle Akzeptanz. Außerdem erschien ihre Betonung der humanen Anlagen und der Tendenz zur Selbstvollendung dem sozialistischen Persönlichkeitsideal verwandt. Gemeinsam repräsentieren Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine neben der ärztlichen Traditionslinie bestehende psychotherapeutische Kompetenz. Sowohl die ärztliche als auch die psychologische Psychotherapie standen nun vor der schwierigen Aufgabe, gesellschaftliche und soziale Anerkennung für das gesamte Fach zu sichern, das sich ständig erweiternde Berufsfeld sinnvoll aufzuteilen und entwicklungshemmende Konventionen zu hinterfragen.

1.3.2 Michael Geyer und Christina Schröder: Zum Stand der Professionalisierung der Psychotherapie nach der NS-Zeit – Ein Erklärungsversuch Wenn bislang von den Folgen der NS-Zeit für die Psychotherapie die Rede war, wurde in der offiziellen psychoanalytischen Selbstdarstellung meist die vielschichtige Zerstörung der eigenen Schule, der »Freud’schen Psychoanalyse«, durch den Nationalsozialismus fokussiert.3 Im Vordergrund standen dabei die enormen Verluste an wissenschaftlichem Potential durch die Vertreibung der jüdischen Analytiker und die ideologisch begründete erzwungene ­Vereinheitlichung des Faches zur »Deutschen Seelenheilkunde«, die mit der Aufgabe der psychoanalytischen Prinzipien einherging. Dass es sich hier nicht nur um Verluste, innere Emigration und das Durchstehen einer Bedrohung, sondern auch um Beteiligung und Eigeninitiative handelte, wurde eher den Vertretern anderer Richtungen angelastet. So 3 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Nachdem die deutschen Psychoanalytiker mehrere Jahrzehnte brauchten, ihre wenig rühmliche Vergangenheit genauer unter die Lupe zu nehmen (Lockot 1985a), stand dann ein – durchaus angemessenes – Schuldbewusstsein einer objektiven Betrachtung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik in modernen Gesellschaften – d. h. auch in totalitären Systemen – im Wege. So bedarf es eines Ausländers, in klarer Sprache die Forderung zu stellen, dieses Verhältnis »ohne unreflektierte Moralisierungen oder gegenwartspolitisch gemeinte Besserwisserei zu thematisieren« (Ash 2010, S. 12 ff.). Allerdings findet auch die in der Nachkriegszeit aufgewachsene Generation deutscher Historiker allmählich zu einer kritischen Betrachtung der bisherigen Praxis (Bohleber 2009, Schröter 2009).

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wurde die Mitarbeit der prominentesten Psychoanalytiker an dem Diagnoseschema des »Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP)«, die im vollen Bewusstsein geschah, damit ein Instrument des »biologischen Schutzes der Rasse« zu schaffen, also im Einzelfall mit der Diagnose ein Todesurteil zu verhängen, erst 60 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft an die breite Öffentlichkeit gebracht (Knebusch 2005). Die sog. arischen Psychoanalytiker und Psychotherapeuten setzten also dem Naziregime nicht nur wenig Widerstand entgegen, sondern ließen sich von ihm instrumentalisieren, instrumentalisierten dieses Regime aber auch in ihrem Sinne. Es ist für jeden Deutschen, der sich in der Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus fühlt, nachvollziehbar, dass die Geschichtsschreibung der Abgrenzung nicht frei sein konnte von »einfachen Dualismen, die in der öffentlichen Debatte Selbstverständlichkeiten geworden zu sein schienen: Hier Zivilisation oder Modernität, dort Barbarei oder Anti-Modernität; hier »gute Wissenschaft« dort »rassistische« bzw. »ideologisch kontaminierte Pseudowissenschaft«; hier also Wahrheit, Geist und dort Unwahrheit bzw. Wahrheitsverbiegung im Dienste der Macht« (Ash 2010, S. 12). Speziell die Geschichtsschreibung der traditionellen Freud’schen Psychoanalyse setzte in diesem Zusammenhang oft wissenschaftliche Standpunkte und professionelle Ziele, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprachen, mit eigennütziger Anpassung bis zu nationalsozialistischer Gesinnung gleich. (Die nachkriegspolitische Funktion einer solchen Art von Geschichtsschreibung im Rahmen der ­Auseinandersetzung zwischen den deutschen analytischen Verbänden, in der die DPV die wissenschaftliche Wahrheit und die DPG das nationalsozialistisch kontaminierte Erbe Schultz-Henckes verwaltete, wird zunehmend reflektiert; Bohleber 2009, Schröter 2009.) Da unser Thema die Geschichte der gesamten Psychotherapie in einem Teil Deutschlands und nicht nur die Geschichte einer Methode oder einer Schule ist, sind hier über­greifende Betrachtungen anzustellen. Im Vordergrund steht die Frage nach dem Grad ihrer Institutionalisierung und Professionalisierung in der Medizin, also wie tief Psychotherapie in der Gesellschaft und in der Medizin verankert wurde, z. B. Psychotherapie als Kassenleistung, oder nach der Integration psychotherapeutischer Methoden in einzelne Fachgebiete der klinischen Medizin, z. B. in die Allgemeinmedizin oder in die Gynäkologie. Des Weiteren ist übergreifend relevant, ob es zu allgemein verbindlichen Ausbildungskriterien und Weiterbildungsrichtlinien kam, die den Zugang zur Versorgung der Bevölkerung regelten. Ergab sich also eine verstärkte Spezialisierung hin zum Beruf eines Psychothera­peuten? Beachtet man solche Aspekte der Psychotherapiegeschichte, treten professionsgeschichtliche Linien hervor, die das gesamte 20. Jahrhundert bestimmen und durch politische Ideologien und unterschiedliche Gesellschaftsordnungen keineswegs in dem Maße gebrochen wurden, wie es oft angenommen oder vorausgesetzt wird. Diese Linien sollen zunächst kurz skizziert werden, bevor ein Resümee der Konsequenzen der NS-Zeit folgt.

Die erste Linie: Die Idee von einer wissenschaftlichen – theorie- und methodenübergreifenden – Disziplin Psychotherapie Während der Weimarer Republik formierte sich eine Gruppe jüngerer ärztlicher Psychotherapeuten, die aufgrund ihrer militärmedizinischen Erfahrungen pragmatischer dachten und all-

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gemeingültige Prinzipien aus dem Bezugsrahmen der psychotherapeutischen Einzel­methoden herauslösen wollten, um wissenschaftlichen Boden für die Psychotherapie zu gewinnen. Sie plädierten für eine schulenunabhängige, indikationsgerechte und patientenorientierte Psychotherapie in der Hand eines Spezialarztes, dessen Stärke gerade aus der Variabilität seines methodischen Repertoires erwächst. Dabei sollten die Eigenarten und Vorzüge der Schulrichtungen erhalten bleiben (Schröder 2007). Obwohl die naheliegende Idee gegenstandsadäquater methodischer Vielfalt schon seit der Koexistenz von Hypnotismus, Wachpsychotherapie, Psychokatharsis und Psychoanalyse von strategisch denkenden Psychotherapeuten ernst genommen wurde, entstanden daraus erst nach dem Ersten Weltkrieg ein wissenschaftliches Rahmenkonzept und ein fachpolitisches Programm. Ausschlaggebend dafür waren eine durch die Kriegsneurosenbehandlung ausgelöste interne Methodenkritik, welche eine Unterordnung der Methode unter das Therapieziel mit sich brachte, und ein höherer fachlicher Stellenwert der Psychotherapie innerhalb der Medizin. Dieser war der wissenschaftlichen und klinischen Überlegenheit der Psychotherapie im Umgang mit neurotischen und funktionellen Störungen aller Körperbereiche zu verdanken und bestärkte das Bestreben, innerhalb der naturwissenschaftlich orientierten Medizin, ebenso wie vormals die Psychiatrie, als eigenständige Disziplin anerkannt zu werden. Der namhafteste Vertreter dieser Offensive war der Nervenarzt Johannes Heinrich Schultz, der 1919 mit dem Buch »Die seelische Krankenbehandlung« zur methodologischen Neubesinnung aufrief und den Syntheseversuch einleitete. Nach Gründung der Gesellschaft für Allgemeine Ärztliche Psychotherapie erfüllte diese den Schulendiskurs mit Leben (s. a. den vorstehenden Beitrag von Schröder } Abschnitt 1.3.1) und koordinierte vielfältige berufspolitische und wissenschaftliche Aktivitäten. Dieser Syntheseversuch verschränkte sich nach dem nationalsozialistischen Machtantritt mit einer politischen Indienstnahme der Psychotherapie, der ihn unabhängig von seinem sachlichen Kern und von theoretischen und praktischen Vorbehalten seitens einiger Psychotherapieschulen in Misskredit brachte. Die erzwungene Emigration der jüdischen Analytiker führte dazu, dass nur wenige Anhänger Freuds und Adlers in Deutschland verblieben und es dadurch zu einer Verschiebung zwischen liberalen und konservativ-national gesinnten Kräften kam, zu denen vor allem die schulenunabhängigen ärztlichen Psychotherapeuten sowie die Jungianer zählten. Einige der verbliebenen Psychotherapeuten »arischer Abstammung« nutzten sofort und vorauseilend die Gelegenheit, den kräfte- und prestigezehrenden Schulenstreit mit Hilfe der ideologisch begründeten Einheitsmetapher von der »Neuen Deutschen Seelenheilkunde« und des staatlich verordneten Zentralismus inhaltlich aufzuheben und neue Zuordnungen und Strukturen zu schaffen. Da die Psychotherapie angesichts des Gültigkeitsanspruches der Erb- und Rassenlehre grundsätzlich als entbehrlich galt, standen diese um gesellschaftliche Reputation bemühten Psychotherapeuten zunächst vor dem Problem einer systemkonformen Legitimation ihrer Existenz (Schröder 1989). An dieser Stelle verstießen sie fundamental gegen ihr Berufsethos, indem sie für psychische Störungen einen funktionalen Zusammenhang zwischen Heilen und Auslese (eine Vorstufe der Vernichtung) konstruierten. Wo Psychotherapie wirke, trage sie zur Leistungssteigerung und Volksgesundheit bei und lasse trotz psychischer Symptome auf vorhandene Erbgesundheit schließen. Wo Psychotherapie nichts mehr ausrichte, sei die Erbschädigung bestätigt (Schröder 1989). Mit dieser ideologischen Funktionalisierung, die sich bis in die Erstellung des

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erwähnten Diagnoseschemas niederschlug und auf deren tatsächliche Auswirkungen in der Versorgung von Patienten hier nicht eingegangen werden kann, sicherte sich die Psychotherapie zwischen 1933 und 1945 nicht nur das formale Überleben, sondern auch eine erfolgreiche und relativ selbstbestimmte Institutionalisierung als einheitliche Fachdisziplin.

Die zweite Linie: Die Etablierung der Psychotherapie als Ausbildungsgang und kassenärztliche Leistung Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich ebenfalls schulenübergreifend die Überzeugung von sozial engagierten Psychotherapeuten durch, Psychotherapie könne als kassenärztliche Leistung in der krisengeschüttelten Nachkriegsgesellschaft für einen sinnvollen sozialen Ausgleich sorgen (Schröder 2007). Diese Linie wurde im Nationalsozialismus im Rahmen des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (auch Zentralinstitut geannt und 1942 zum kriegswichtigen Reichsinstitut avanciert) absichtsvoll weitergeführt. Das ab 1938 gültige Ausbildungsprogramm dieses Instituts stellte nach der mehr oder weniger erzwungenen »Vereinigung« aller Richtungen den offiziellen und einzigen Weg für die Zulassung zur psychotherapeutischen Behandlungsausübung in Deutschland dar und setzte auf Kohärenz und Ergänzung der drei tiefenpsychologischen Richtungen, die als Arbeitsgruppen bezeichnet wurden. (Bemerkenswert sind die strikte Beibehaltung der Ausbildungsschwerpunkte des Freud’schen Lagers einschließlich einer vorklinischen Grundla­ genausbildung für nichtärztliche Kandidaten [Schröter 2009] und das Experiment, die fallbezogene Sichtweise der einzelnen Richtungen im sog. Dreierseminar perspektivenerweiternd gegenüberzustellen.) Eine gewagte und intern sofort umstrittene Regelung war die bedingte Zulassung von Nichtmedizinern zur Behandlung. Diese erhielten die Berufsbezeichnung »Behandelnde Psychologen«. Der Jungianer Gustav Richard Heyer (1890–1967), Leiter der Abteilung »Behandelnde Psychologen« des Zentralinstituts, begründete diese Maßnahme mit dem Argument, dass natürlich erst der Arzt und Psychotherapeut in Personalunion eine ideale Lösung ergebe. Da die Mediziner aber ein zu geringes Interesse an der Psychotherapie nähmen und deshalb selbst den Mangel an Fachkräften verursachten, könne dieser vorübergehend nur durch ausgewählte Nichtärzte ausgeglichen werden, die eine Eignungsprüfung absolvieren müssen. Die Ausbildung solle gerade diesen Kandidaten Grenzen auferlegen (Heyer 1940). Eine wesentliche formale Absicherung der ärztlichen Sorgfaltspflicht bestand in der Vorschrift der Zusammenarbeit jedes »Behandelnden Psychologen« mit einem Arzt. Da am Zentralinstitut deshalb die Patienten von den Ärzten der Poliklinik nach einer Voruntersuchung an die Behandelnden Psychologen überwiesen wurden, legte dieses Vorgehen den Grundstein für das spätere Delegationsverfahren. Die in den ersten Jahren großzügig gewährte Zulassung von Juristen, Lehrern und Theologen wurde nach dem Erlass der Diplomprüfungsordnung für Psychologen am 5. Juli 1941 für akademisch ausgebildete Psychologen reserviert. 1941 verzeichnete die Institutsstatistik 45 nichtärztliche Ausbildungskandidaten, die ein Übergewicht besaßen (Lockot, 1985). Damit hatte man den Psychologen eine wichtige Tür geöffnet, aber zugleich auch als Konkurrent auf dem psychotherapeutischen Versorgungsmarkt geschwächt. Durch seine Monopolstellung und seine Verflechtung in die

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

NS-Strukturen konnte das Institut auch Absprachen und Verträge zur Gebührenregelung für Ärzte und Psychologen u. a. mit der Wirtschaftsgruppe Lebens- und Krankenkassen erreichen (Lockot 1985).Hier liegen die Ursprünge für die weitere Etablierung ärztlicher wie psychologischer Psychotherapie im Kanon kassenärztlicher Leistungen nach 1945.

Die dritte Linie: Die Integration der Psychotherapie in die Klinische Medizin – Psychotherapie als medizinisches Querschnittfach und als Spezialdisziplin der Medizin Die klinische Einbindung der Psychotherapie stellte für die ärztliche Bewegung den wichtigsten Gradmesser für eine erfolgreiche fachliche Entwicklung dar und wurde besonders ideenreich betrieben. Dem klinischen Integrationsanliegen war u. a. die sich schnell einbürgernde Unterscheidung in »große Psychotherapie« und »kleine Psychotherapie« geschuldet, die J. H. Schultz und A. Kronfeld 1925 in Anlehnung an die Aufteilung der Chirurgie vorschlugen (Schröder 2007). Die kleine Psychotherapie, bestehend aus symptomatischen Methoden suggestiver und übender Natur, sollte vergleichbar mit der heutigen psychosomatischen Zusatzversorgung von Allgemeinmedizinern und Fachärzten bei funktionellen Störungen und psychischen Überlagerungen körperlicher Krankheiten im Rahmen eines ganzheitlichen Behandlungsauftrags angewandt werden. Außerdem oblag es in diesem Sinne qualifizierten Ärzten, Indikationen für die große Psychotherapie zu stellen und Patienten an Spezialisten zu überweisen. Diese Zuständigkeit ging mit einem Aufschwung der psychosomatischen Grundlagenforschung in Deutschland einher. Die große Psychotherapie, langfristig und aufdeckend, sollte dem virtuos vorgehenden Spezialisten, am besten im Status eines Facharztes, vorbehalten sein. Die freiwillige Positionierung auf dem Rücken einer vor allem internistischen Psychosomatik sorgte in den nächsten Jahrzehnten ebenso wie der Ursprung der Psychotherapie in der nervenärztlichen Praxis und die Ignoranz der Psychiatrie gegenüber dem aufstrebendem Gebiet für einen dauerhaften und erfolgreichen institutionellen Verbund von Psychotherapie und Psychosomatik. Die standesärztliche psychotherapeutische Bewegung der Weimarer Republik legte mit dem Anspruch, ein medizinisches Querschnittfach zu etablieren, auch die Notwendigkeit einer medizinischen Grundkompetenz des neuen Berufstyps fest. Die Aufnahme psychotherapeutischer Methoden in alle klinischen Fächer, eine prinzipielle psychosomatische Denkweise und eine Ausweitung der Praxis durch die psychotherapeutische Weiterbildung von Fachärzten blieben auch nach 1933 Hauptanliegen der Fachvertreter (Schröder 1989). Sie setzten die begonnene Arbeit zur Verbreiterung der Versorgungsbasis der Bevölkerung in erster Linie durch Werbekampagnen bei Allgemeinpraktikern und Hausärzten fort, da diese präventiv und als Mutiplikatoren wirken sollten. Außerdem erschien eine Vielzahl von fachspezifischen Veröffentlichungen, die einen Bezug zur Psychotherapie herstellten, z. B. Psychotherapie in der Frauenheilkunde oder Psychotherapie in der Zahnheilkunde. Wiederum wollten die ideologischen Vordenker der Psychotherapie das Interesse der Offiziellen des NS-Regimes für ihr Leistungsangebot durch ordnungsstaatliche Überlegungen gewinnen. Dadurch wurde auch dieser an sich humane Kern psychotherapeutischen Denkens und Handelns dem Missbrauch ausgesetzt (Schröder 1989).

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

Resümee Am Ende des Dritten Reiches liegt Europa in Trümmern. Deutschland ist geteilt, seiner staatlichen Autonomie beraubt und in den Augen der Welt moralisch diskreditiert. Die Sowjetunion übernimmt in Osteuropa die politische Macht. Eine deutschsprachige Denkkultur, die Psychoanalyse, ist des größten Teils ihrer Wurzeln beraubt und mit ihren jüdischen Protagonisten in den englischsprachigen Raum emigriert. Die Folgen des Nationalsozialismus treffen Ostdeutschland wie Westdeutschland: Zunächst lastet eine untilgbare Schuld auf den Psychotherapeuten, als Berufsstand an Verbrechen beteiligt zu sein, die einen Zivilisationsbruch markieren. Als Folge dieser Ver­ brechen ist eine gewaltige Ausdünnung des Berufsstandes der Psychotherapeuten zu beklagen sowie der Verlust der internationalen Reputation, begleitet von der Desavouierung deutscher neopsychoanalytischer Ansätze wie der Theorie von Schultz-Hencke. Auch die fachpolitisch progressive Vision von einer wissenschaftlichen – theorie- und methodenübergreifenden – Disziplin Psychotherapie ist durch die nationalsozialistische »Deutsche Seelenheilkunde« kontaminiert. Es mag zynisch klingen, aber die Psychotherapie als Profession, als Fachgebiet der Medizin, hat durchaus Boden gut gemacht.4 Um diesen zwiespältigen Effekt zu erklären, sind neuere Forschungsergebnisse zum Verhältnis von Politik und Wissenschaft in Diktaturen geeignet. Zum einen zeigt sich, dass gerade beim Wechsel von einem politischen Regime zu einem anderen, und zwar gerade dann, wenn es sich um den Übergang von der Demokratie zur Diktatur handelt, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik bzw. von Wissenschaft und Staat neu verhandelt wird und auch neu verhandelt werden muss, da beide auf unsicherem Terrain stehen (Ash 2010, S. 21). Jeder Regimewechsel bietet also die Chance für einen Entwicklungsschub gerade im Hinblick auf die noch ungeklärte Institutionalisierung eines neuen Faches wie der Psychotherapie. Zum anderen zeigt sich am Beispiel des Nationalsozialismus besonders deutlich ein Aspekt des Verhältnisses von Politik und Wissenschaft in totalitären Regimen, der die Wissenschaftler keineswegs nur als »Opfer« des Systems in Erscheinung treten läßt (Ash 2010, S. 23). Die verbliebenen Psychotherapeuten sind, natürlich in unterschiedlichem Maße, als Akteure aufgetreten und haben Ressourcen aus der politischen Sphäre ebenso für ihre Zwecke mobilisiert, wie die Politiker ihrerseits wissenschaftliche ­Ressourcen für eigene Ziele nutzten. Dabei ging die Initiative meist von der kreativeren wissenschaftlichen Seite aus, den Machthabern die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit nahezubringen, gerade dann, wenn die Existenz des Faches noch keine historische Selbstverständlichkeit für das neue Regime ist. Aber wer möchte schon Profiteur eines solch verbrecherischen Regimes sein? Dieser Teil der Professionalisierungsgeschichte der Psychotherapie wird denn auch im Nachkriegsdeutschland wenig thematisiert. Der widersprüchliche Balanceakt zwischen ideologischer Mitgestaltung, fachlichem Niedergang, Traditionsbewusstsein, punktuellem Erkenntnisgewinn und professionellen Erfolgen im nationalsozialistischen System erweist sich als beson4 Übrigens trifft dies noch mehr auf die akademische Psychologie zu, die in der Zeit des Nationalsozialismus erstaunliche Fortschritte in der Disziplingenese gemacht hat.

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

ders schwer nachzuvollziehen und zu bewerten. Aber nur er erklärt die merkwürdige Parallelentwicklung der Psychotherapie in Ost- und Westdeutschland, was die Institutionalisierung in der Medizin und in der akademischen Wissenschaft betrifft (Geyer 1999). Wirft man vom Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung aus einen Blick auf diesen Aspekt der Nachkriegsgeschichte der Psychotherapie in Deutschland, erscheint eines unabweisbar: In beiden Teilen Deutschlands verlief die Entwicklung in einer Weise ähnlich, dass trotz unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen am Ende die Ähnlichkeiten zwischen Ost- und Westdeutschland größer waren als beispielsweise zwischen Ostdeutschland und Russland auf der einen und Westdeutschland und Frankreich auf der anderen Seite. Schepank (1988) konnte kurz vor der Wiedervereinigung in seiner bekannten Übersicht über die stationäre Psychotherapie in der Welt feststellen, dass es in beiden Teilen Deutschlands mehr stationäre Versorgungskapazität gab als in allen übrigen Ländern zusammen. Typisch deutsch ist die frühe Einbindung der Psychotherapie in das System der Sozialversicherung und dies korrespondiert mit einer ebenfalls in der übrigen Welt nicht vorhandenen breiten Etablierung psychotherapeutischer Bildungsinhalte im System der ärztlichen Aus-, Weiter- und Fortbildung. So waren die Weiterbildungsstrukturen in beiden unterschiedlichen Staatsgebilden zum Zeitpunkt der Vereinigung 1990 beinahe kompatibel. Und das alles, so muss man hinzufügen, trotz anfänglich rüder Versuche einer Sowjetisierung der Medizin in Ostdeutschland. Diese Gemeinsamkeit ist das Ergebnis einer bis 1945 identischen Geschichte und Kultur, wozu auch das gemeinsame Erbe des Nationalsozialismus zu rechnen ist.5 Allerdings hat Ostdeutschland an den Folgen des Nationalsozialismus ungleich schwerer zu tragen als Westdeutschland, das nicht nur ein demokratisches Staatswesen, sondern auch umfangreiche Wirtschaftshilfe von den Westmächten erhält. Die Mehrzahl der kurz nach dem Krieg noch in Ostdeutschland beheimateten Psychoanalytiker und ärztlichen Psychotherapeuten verlässt den Osten aus politischen und wirtschaftlichen Gründen. In der vorstehenden Psychotherapiechronik der Nachkriegsjahre und im nachstehenden Beitrag über die Leipziger Arbeitsgruppe für Psychoanalyse werden solche Wanderungen von Ost nach West dargestellt. Während Ostberlin noch von der offenen Sektorengrenze profitiert und sich die Ostberliner Psychotherapeuten ohne Wechsel des Landes am wissenschaftlichen Leben des Westberliner DPG-Institutes beteiligen können, erleiden die ehemaligen Zentren in Sachsen und Thüringen einen Aderlass an ausgebildeten Analytikern. Trotzdem behaupten am Ende der Naziherrschaft die Psychotherapeuten in beiden deutschen Staatswesen, fortan mit einem gefestigterem Selbstverständnis als am Anfang des 20. Jahrhunderts, einen beinahe selbstverständlichen Platz in der Medizin. Auf beide gemeinsam kommt jedoch der mühsame Lernprozess zu, die eigene gesellschaftliche Einbindung selbstkritisch zu hinterfragen und die Anfälligkeit der Psychotherapie für ideologischen Missbrauch zu erkennen.

5 Jedoch ist, wie in den späteren Kapiteln dieses Buches sichtbar wird, auch nach dem Ende des National­ sozialismus niemals in den 45 Jahren bis zur Wiedervereinigung die Bezogenheit aufeinander wirklich aufgegeben worden.

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

1.3.3 Michael Geyer: Psychoanalyse in Ostdeutschland zwischen 1920 und 1945 am Beispiel der Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse Die Nachkriegsentwicklung von Psychotherapie und Psychosomatik im Osten Deutschlands ist nur darzustellen auf dem Hintergrund des geistig-kulturellen Niedergangs dieser Region, der zwölf Jahre vor der Teilung Deutschlands begann. Der mitteldeutsche Raum gehörte bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den kulturell und wirtschaftlich führenden Regionen Europas. Heute ist in Vergessenheit geraten, dass Sachsens Wirtschaftsleistung pro Einwohner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und insbesondere in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg – an der Spitze Deutschlands lag (Karlsch u. Schäfer 2006). Die zweitälteste deutsche Universität Leipzig war eine der Geburtsstätten der modernen Medizin und Psychologie. Hier wurde der erste nerven- und seelenheilkundliche Lehrstuhl an einer Universität eingerichtet. Der Leipziger Professor für »Psychische Medizin« und Dekan der Medizinischen Fakultät – Johann A. H. Heinroth (1773–1843) – prägte 1818 den Begriff »Psychosomatik«. Es sei auch daran erinnert, dass Wilhelm Wundt (1832–1920) in Leipzig 1879 das erste psychologische Universitätsinstitut der Welt gründete, das auch nach dem Tod Wundts noch unter dem Ganzheits- und Strukturpsychologen Felix Krüger (1874–1948) ein Mekka der akademischen Psychologie war.

Von der Gesellschaft für psychoanalytische Forschung zur Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse der DPG Auch nach dem Ersten Weltkrieg bleibt Leipzig ein Zentrum medizinischer und psychologischer Innovationen. Bevor sich die seinerzeit nicht unumstrittenen neuen psychoanalytischen Behandlungsmethoden etablieren können, ist die Buchstadt Leipzig 1919 bereits einer der Sitze und Vertriebszentrum des Internationalen Psychoanalytischen Verlages. Ausgebildete Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft sind zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht in Leipzig ansässig. In Sachsen – Dresden – lebt seinerzeit als einzige ausgebildete Psychoanalytikerin Margarete Stegmann, die bereits 1911, gemeinsam mit Tanja Rosenthal und Karen Horney, als eine der ersten Frauen in die Berliner Psychoanalytische Gesellschaft aufgenommen worden war. Sie wird allerdings von Freud, der ihren Mann in Analyse hatte, nicht sonderlich geschätzt. Gleich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges findet sich in Leipzig eine Gruppe an Psychoanalyse Interessierter zusammen, die, wie Freud seinem Freund Sándor Ferenczi brieflich mitteilt, »in Verbindung« mit ihm getreten sei (Brabant, Falzeder, 1993–1996). Wie Pollock (1973) ohne weitere Quellenangabe berichtet, sei eine Gruppe Leipziger Studenten gleich nach dem Ende des Krieges zu Freud nach Wien gefahren und habe ihm den Wunsch vorgetragen, in Psychoanalyse ausgebildet zu werden. Freud habe ihnen mehrere eigenhändig signierte Imago-Bände zum Studium geschenkt und geraten zu warten, bis sich ein Analytiker in Leipzig niederlassen würde. (Diese Bände seien übrigens von Therese Benedek nach ihrer Emigration 1936 der Bibliothek des Chicagoer Instituts übergeben worden; Pollock 1973.)

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

Dem Heft 5 des Jahrgangs 1919 der »Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse« ist dann der Rubrik »Zur psychoanalytischen Bewegung« folgender Bericht zu entnehmen: »In Leipzig hat sich über Anregung des Herrn K. H. Voitel, stud. med., eine ›Gesellschaft für psychoanalytische Forschung‹ gebildet, welche bereits eine beträchtliche Anzahl von Personen der verschiedensten akademischen Berufe umfaßt und sich in ernster Arbeit durch Vorträge, Diskussionen und gemeinsame Lektüre um die Verwirklichung ihrer Absichten bemüht. Die junge Gesellschaft, der das beste Gedeihen zu wünschen ist, hat ihren Kontakt mit der Internationalen psychoanalytischen Vereinigung hergestellt.« Diese Gruppe entfaltet rege Aktivitäten und berichtet über sie in den folgenden Jahrgängen der »Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse« (Voitel, 1920, 1925). Wer waren diese ungeduldigen jungen Leute, die nicht warten konnten und ihr Vorhaben gleich in eigene Hände nahmen? Zusammen mit dem Kopf der Gruppe, dem Medizinstudenten Karl H. Voitel, waren bereits 1920 »30 Herren« Mitglieder der Gesellschaft, unter ihnen die Mediziner Otto Vauck, Dr. Knopf und Herbert Weigel, Tore Ekman, Lektor für schwedische Sprache an der Universität Leipzig, und der Lehrer Hermann Ranft. Typisch für die Arbeit der Gesellschaft in den nächsten Jahren ist der Tätigkeitsbericht im Sommersemester 1920 (Intern. Zeitschr. Psychoanal. 1920, 6, S. 290), ebenfalls publiziert unter der Rubrik »Zur psychoanalytischen Bewegung«: »7. Mai, abends 8 1/2 Uhr: Leseabend (Kasuistik zur Traumdeutung). 14. Mai, abends 8 1/2 Uhr: Vortrag Dr. Knopf: Totem und Tabu. 4. Juni, abends 8 1/2 Uhr: Vortrag cand. med. Hollenberg: Kritik und Besprechung von A. Adler: »Der nervöse Charakter.« 11. Juni: Leseabend (Prof. Freud: Ein der psa. Theorie widersprechender Fall von Paranoia). 18. Juni: Vortrag Dr. Knopf: Über Narzißmus. 25. Juni: Leseabend (Dr. Th. Reik: Über Vaterschaft und Narzißmus). 2. Juli: Vortrag Dr. Knopf: Über Entstehung des Größenwahns. 9. Juli: Leseabend (Zur Psychopathologie des Alltagslebens). 16. Juli: Vortrag des Herrn Dr. Raimund Schmidt, Herausgeber der Annalen der Philosophie, als Gast: ›Das Wesen des fiktionalen Denkens und dessen Bedeutung für die Medizin‹. 23. Juli: Vortrag Dr. Knopf: Psychoanalyse und Fiktionalismus. (Diesen Vortrag hat Dr. Knopf schon am 23. Mai in Halle/Saale auf der ›Als Ob‹-Konferenz vor einer großen Zuhörerschar gehalten.) Im Wintersemester beabsichtigt die Gesellschaft einen ›Einführungskurs in die Psychoanalyse‹ zu veranstalten. Wiederbeginn der Sitzungen: Mitte Oktober. Mitgliederbestand: 30 Herren. Karl H. Voitel.« Die Mitglieder der Gruppe waren also nicht praktisch psychotherapeutisch oder psychoanalytisch tätig. Sie waren in den ersten zwei Jahren ihres Bestehens weder in Lehranalysen noch fanden Supervisionen von Behandlungen statt. Das ändert sich, als Anfang 1920 der Dermatologe Dr. med. Tibor Benedek und seine jüdische Frau, die Psychiaterin und Psychoanalytikerin Dr. med. Therese Benedek, aus Budapest nach Leipzig emigrieren. Mit Sándor Ferenczi, Franz Alexander, Therese Benedek, Jenö Hárnik, Melanie Klein und Sándor Radó hatte sich Budapest, nach Wien und Berlin, zu einer Hochburg der europäischen psychoanalytischen Bewegung entwickelt. Die kommuni-

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

stisch orientierte Räteregierung, die nach dem Ersten Weltkrieg zunächst die Macht übernommen hatte, hatte Sándor Ferenczi, Schüler und (damaligen) Freund Freuds, einen psychoanalytischen Universitätslehrstuhl und eine Klinik eingerichtet. Das 1919 an die Macht gekommene faschistische Horty-Regime macht dem rasch ein Ende und zwingt insbesondere die o. g. jüdischen Analytiker zur Emigration. Tibor Benedek kann eine Assistentenstelle in der Dermatologie der Leipziger Universität, seine Frau Therese eine Halbtagsstelle in der Nervenklinik übernehmen. Die Halbtagsstelle, die sie bis 1925 behält, ermöglicht Therese Benedek eine privatärztliche psychoanalytische Nebentätigkeit und Zeit für Lehranalysen und Supervisionen (Weidemann 1988, May 2000). Offenbar findet sie auch bald Zugang zur »Gesellschaft für psychoanalytische Forschung« und ist sich vermutlich der Begrenzungen dieser Gruppierung bald bewusst. Bereits im August 1921 nutzt Benedek, die ihre psychoanalytische Ausbildung in Ungarn bei oder im Umkreis von Ferenczi erhalten hat, ihre alte Beziehung zu ihrem Lehrer Ferenczi zur Vermittlung eines Kontaktes zur Berliner Psychoanalytischen Vereinigung bzw. ihres damaligen Vorsitzenden Abraham (Freud u. Abraham 1964). Die körperlich kleine, resolute und dabei offen und verbindlich auf Menschen zugehende Therese Benedek macht großen Eindruck auf die arrivierten Berliner Psychoanalytiker (Brabant, Falzeder 1993–1996). Man traut ihr zu, eine psychoanalytische Gruppierung nach den sich gerade bildenden Vorstellungen der Internationalen Vereinigung zu bilden: Die Zugehörigkeit zu einer psychoanalytischen Vereinigung erfordert von nun an neben dem theoretischen Studium eine Lehranalyse und supervidierte analytische Behandlungen. In der zweiten Hälfte des Jahres 1922 kristallisiert sich eine kleine Gruppe aus der Gesellschaft für psychoanalytische Forschung heraus, die diesen Regeln entspricht: Zutritt zu dieser exklusiven Gruppe hatten nur noch Personen, die zumindest eine Lehranalyse begonnen hatten. Diese Gruppe besteht neben Therese Benedek zunächst aus cand. med. Karl H. Voitel, med.-pract. Otto Vauck, cand. med. Herbert Weigel sowie dem Lehrer Hermann Ranft. Diese hatten alle bei Therese Benedek die Lehranalyse begonnen und wurden auch von ihr supervidiert. Es entsteht ein recht lebendiges und attraktives psychoanalytisches Leben und Treiben, das auch den Beifall der Internationalen Analytischen Vereinigung findet, deren Redakteur im Anschluss an die Meldung der neugegründeten Leipziger Gruppierung lobt: »Organisation und Arbeitsplan dieser kleinen Vereinigung können als mustergültig für die Bildung neuer Gruppen dienen« (Intern. Zeitschr. Psychoanal. 1923, S. 238). Die Berliner Gruppierung der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) ermutigt Therese Benedek durch großzügige Auslegung der damals entstandenen Aufnahmeregeln (May 2000) und macht sie bereits am 24. November 1923 nach einem Vortrag über »Die Entwicklung der Gesellschaftsorganisation«, in dem sie die Entstehung der Gesellschaftsformen z. B. des Nationalstaates und des Kapitalismus im Rahmen der Libido- und Narzissmustheorie Freuds erklärte, zum außerordentlichen Mitglied (Intern. Zeitschr. Psychoanal. 1924, S. 106). Bereits ein Jahr später wird von Therese Benedek in der »Internationalen Zeitschrift« als »unser Mitglied« gesprochen und die Leipziger Gruppe als »Psychoanalytische Gesellschaft Leipzig« tituliert, die »im Jahre 1924 allwöchentlich eine Sitzung ab[hält], wobei die Freud-

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

schen metapsychologischen Schriften sowie die neuen Veröffentlichungen zur Technik seminaristisch besprochen wurden. Frau Dr. Benedek sprach ferner auf Einladung der ›psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft des Psychologischen Seminars des Leipziger Lehrervereines‹ (Leiter Herr Ranft) an zwei Abenden in diesem Institut über ›Grundbegriffe der Psychoanalyse‹ und Herr Ranft hielt an gleichem Ort einen ausführlichen Einführungskurs für Lehrer ab. Dr. Voitel« (Voitel 1925). Noch im Dezember 1924 wird sie nach einem von der Berliner Psychoanalytischen Vereinigung begeistert aufgenommenen klinischen Vortrag über Erythrophobie zum ordentlichen Mitglied ernannt und spielt somit bereits mit 32 Jahren (einem Alter, in dem bei heutigen Kandidaten bestenfalls eine analytische Ausbildung in Gang gekommen ist) eine bedeutende Rolle in der psychoanalytischen Bewegung. Abraham schreibt damals an Freud: »Diese Frau erwirbt sich wirklich Verdienste durch Heranziehung junger Leute ebenso wie durch ihre vorzügliche praktische Tätigkeit« (Freud u. Abraham 1964, S. 350). 1925 benennt sich die Berliner Psychoanalytische Vereinigung in Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG) um. Die »Leipziger Psychoanalytische Gesellschaft« oder – wie sie ab 1927 offiziell von der DPG bestätigt heißt – die »Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft« entwickelt sich noch bis Ende 1932 prächtig. Die Mitgliedschaft wächst kontinuierlich. Die Gruppe trifft sich wöchentlich mit Ausnahme der Sommermonate. Therese Benedek tut etwas, was einigen heutigen Psychoanalytikern unmöglich (in zweifacher Wortbedeutung) erscheint: Vormittags führt sie Lehranalysen und Supervisionen mit den gleichen Personen durch, mit denen sie sich abends zum Studium und wissenschaftlichen Austausch trifft. Benedek (1955, S. 637) bezeichnet selbst die damaligen Beziehungen zwischen Lehranalytiker und Analysand – obwohl oder weil kaum formalisiert – als »easygoing«. Aus heutiger Sicht hatte Benedek gegenüber dem Mainstream der damaligen Psychoanalyse einen etwa 20-jährigen theoretisch-technischen Vorsprung. Sie hatte – möglicherweise durch ihre Ausbildung im Umkreis des auch für damalige Verhältnisse unorthodoxen Ferenczi – den Vorteil, die Bedeutung der Gegenübertragung, d. h. die Verantwortung des Analytikers für seinen eigenen persönlich-emotionalen Beitrag zur Übertragung und für den analytischen Prozess bereits verinnerlicht zu haben. Insofern verfügte sie sowohl über persönlich-menschliche als auch technische Möglichkeiten, derartig komplexe Beziehungen zu beherrschen. Jedenfalls wird ihr von ihren Zeitgenossen einerseits ein hohes Maß an Intuition und Einfühlung, ja eine Art siebter Sinn, andererseits aber auch Authentizität, Beherztheit und Direktheit zugesprochen (May 2000, S. 65). In den Mitteilungsblättern der »Internationalen Zeitschrift« bis Ende 1932 finden sich zahlreiche kulturelle und wissenschaftliche Aktivitäten der Gruppe. Ihre Mitglieder halten zahlreiche Vorträge in verschiedenen Fakultäten der Leipziger Universität und in Pädagogischen Seminaren und Lehrerinstituten (Weigel 1928). Therese Benedek und ihre Mitstreiter nutzen den Rundfunk als neues Medium zur Verbreitung psychoanalytisch-psychosomatischer Erkenntnisse. Der Mitteldeutsche Rundfunk sendet zwischen 1924 (evtl. schon 1923) und 1933 zahlreiche Serien mit populärwissenschaftlichen Vorträgen über Tiefenpsychologie, verschiedene psychosomatische Themen (Intern. Zeitschr. Psychoanal. zwischen 1924 und 1933, s. a. Ulrike Mays historische Studie über Therese Benedek 2000) und wohl auch die ersten Ergebnisse der Forschungen Benedeks

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

über den Einfluss der Hormone auf die Psyche sowie psychosomatisch-gynäkologische Probleme (mündliche Mitteilung der Witwe John Rittmeisters und Alfred Katzensteins 1979). Der spätere Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, Gerhard Scheunert, kommt bereits als 23-Jähriger in ihre Lehranalyse. Ebenso Alexander Mette, der nach 1945 eine Karriere in der SED und der ostdeutschen Gesundheitsverwaltung macht, sowie Ewald Roellenbleck und Ehrig Wartegg, der Schöpfer des Wartegg-Zeichentestes (s. a. andere Beiträge dieses Buches). (Fritz Riemann beginnt ebenfalls eine Lehranalyse bei ihr, die jedoch durch die Emigration Benedeks unterbrochen und später bei Boehm fortgesetzt wird.) Benedek nimmt mit Vorträgen zu ihren vielfältigen Forschungsthemen an allen wesentlichen psychoanalytischen Kongressen teil. Zum Zeitpunkt der Machtergreifung Hitlers hat sich Leipzig als ein wesentlicher Ort der psychoanalytischen Ausbildung und Forschung neben Berlin und Frankfurt a.M. etabliert.

Der Niedergang der Leipziger Arbeitsgruppe Lange vor 1933 zieht die Gefahr herauf. Das Berliner Institut verliert zwischen 1930 und 1933, bis auf die »Nichtjuden« Boehm und Müller-Braunschweig, alle Dozenten, Lehr- und Kontrollanalytiker durch Flucht und Emigration. In dieser Situation wird Benedek gebeten, am Berliner Institut tätig zu werden. Schon Ende 1933 pendelt sie zwischen Leipzig und Berlin und ist bald nur noch zwei Tage in Leipzig. (May 2000). Ein Bericht über die Leipziger Gruppe erscheint in der »Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse« das letzte Mal im vierten Quartal 1932. Nach Hitlers Machtergreifung markiert insbesondere die Bücherverbrennung im ersten Halbjahr 1933 im Rahmen der »Aktion wider den undeutschen Geist« einen weiteren tiefen Einschnitt in der Geschichte der Psychonalyse. Die Hauptaktion ist zweifellos die von nationalsozialistischen Studenten durchgeführte Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933. Neun sog. Rufer übergeben jeweils die Bücher »undeutscher« Autoren den Flammen. Bereits der vierte Rufer hat die Psychoanalyse im Visier: »Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Sigmund Freud.« In Leipzig gibt es am 1. April und 2. Mai 1933 sog. nichtstudentische Bücherverbrennungen, in deren Verlauf gewerkschaftliche und sozialdemokratische Verlagshäuser angegriffen werden. Für die Benedeks beginnt eine Leidenszeit, die erst nach der nochmaligen Emigration 1936 endet. Auch die Praxis von Therese Benedek wird mit den damals üblichen antisemitischen Parolen bedacht. Das Umfeld an der Universität verändert sich fundamental. Psychiatrische Universitätsklinik und Psychologisches Institut werden zu einem Zentrum nationalsozialistischer rassistischer Ideologie. Beide Universitätsinstitutionen übernehmen eine führende Rolle bei der Ächtung sexuologischer und psychoanalytischer Ideen und Schriften. Nach Gründung der Reichsstelle für deutsches Schrifttum tagt am 16. Juni 1933 der »Arbeitsausschuss« in der Deutschen Bibliothek Leipzig, um Festlegungen zur »Liste Sexualliteratur« zu treffen. Für deren fachgemäße Bearbeitung wird der Leipziger Psychologe und Naziführer Hans Volkelt bestimmt, dem an diesem Tag »eine Reihe von Einzelwerken« aus der Liste »zur nochmaligen Prüfung übergeben« wird.

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

Das Sitzungsprotokoll nennt sodann die Bildung einer »besondere[n] Kommission«, die »die Schriften der Psychoanalyse für die Schwarzen Listen bearbeiten soll«. Den Vorsitz übernimmt ebenso Hans Volkelt, darüber hinaus arbeiten in dieser Kommission »die Herren Dr. Otto Klemm, Dr. Adolf Erhardt und Dr. Helmuth Burkhardt (sämtlich vom Psychologischen Institut der Universität Leipzig) sowie Herr Privatdozent Dr. med. Hans BürgerPrinz von der Psychiatrischen Nervenklinik der Universität Leipzig« (Loosch 2008). Von den damals neun wissenschaftlichen Mitarbeitern des Psychologischen Institutes waren also vier aktiv in diese Aktionen eingebunden. Der fanatischste und eifrigste Wortführer des Nazitums an der Leipziger Universität ist Hans Volkelt (1886–1964), der höchstens von Burkhardt an Gemeinheit bei der Denunziation ihres gemeinsamen Chefs Felix Krüger übertroffen wird. Obwohl er dem Nationalsozialismus nahe steht, macht sich Krüger durch prosemitische Äußerungen in seinen Vorlesungen angreifbar und wird nicht zuletzt durch den Verrat seiner Mitarbeiter zum Rücktritt von seinem Amt als Rektor der Universität und vom Amt des Institutsdirektors gezwungen (Loosch 2008). Das SA- und NSDAP-Mitglied Priv.-Doz. Dr. med. Bürger-Prinz, dessen Rolle bei der Vernichtung lebensunwerten Lebens noch aufzuklären ist – auch nach 1945 anerkannter Psychiater, Hochschullehrer und Klinikleiter an der Universität Hamburg –, macht nicht zuletzt durch die Zugehörigkeit zu dieser Kommission, aber auch durch seine Tätigkeit als ehrenamtlicher Richter am Erbgesundheitsgericht rasch Karriere. Die den Nazis geleisteten Dienste bewegen das Reichsministerium des Inneren – an der Fakultät vorbei, die mit anderen Kandidaten verhandelt –, gegen alle üblichen Regeln Bürger-Prinz 1937 auf den Hamburger Psychiatrischen Lehrstuhl zu setzen, den er immerhin bis Ende der 1960er Jahre – bei kurzer Unterbrechung nach dem Krieg – innehat (Hamburger Universität 2009). Diese Leute haben also die Aufgabe, das deutsche Schrifttum vom »psychoanalytischen Ungeist zu reinigen«. Und sie bestimmen das geistige Klima in Leipzig. Unter diesen Umständen ist die Beschäftigung mit der Psychoanalyse karrierefeindlich und gefährlich (s. a. die Biographie Warteggs in diesem Kapitel). Benedek verlegt den Schwerpunkt ihrer Arbeit zunehmend nach Berlin und zieht 1934 ganz nach Berlin. Zum 13. IPV-Kongress in Luzern 1934 sind als Referenten der DPG nur noch Benedek, Boehm und Kemper vermerkt. Zu diesem Zeitpunkt ist jedoch schon klar, dass die Psychoanalyse nur dann nicht verboten wird, wenn sie ausschließlich von »Ariern« vertreten wird. Die jüdischen Mitglieder werden zum Austritt veranlasst. Von 56 DPG-Mitgliedern bleiben noch 14 nichtjüdische Mitglieder in der Gesellschaft. So »gereinigt«, beschließt die DPG 1936, an einem vom Reichsinnenministerium konzipierten und ab 1939 von der Deutschen Arbeitsfront finanzierten Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psycho­ therapie unter der Leitung von M. H. Göring (einem Vetter Hermann Görings) zusammen mit Jungianern, Künkel-Anhängern und sog. unabhängigen Psychotherapeuten (z. B. J. H. Schultz und von Hattingberg) mitzuwirken. Es wird eine »Deutsche Seelenheilkunde« aus den verschiedenen psychotherapeutischen Theorien entwickelt. Zweigstellen existieren in Düsseldorf, Wuppertal, Stuttgart, München und später in Wien. Eine Zweigstelle in Leipzig wird nicht erwogen (Baumeyer 1971). Ab 1933 werden die Treffen der Leipziger Arbeitsgemeinschaft zunehmend konspirativ. Benedek ist sich der Probleme bewusst, die einem Teil ihrer Analysanden durch die Lehr-

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

analyse bei einer Jüdin entstehen, und empfiehlt Scheunert, der 1933 in die NSDAP eintritt, die Beendigung der Lehranalyse zur Wahrung seiner beruflichen Chancen. Es dauert noch bis 1936, ehe die Gestapo den Leipziger Psychoanalytischen Verlag mit umfangreichen Bücherbeständen beschlagnahmt. Auch die Leipziger Arbeitsgemeinschaft löst sich und ihre Bibliothek auf. Zu diesem Zeitpunkt ist die Ausreise der Benedeks bereits beschlossene Sache. Tibor Benedek, der nach Hitlers Machtergreifung wegen seiner Ehe mit einer Jüdin an der Habilitation gehindert wird, ist zur Emigration entschlossen. Er reist bereits 1935 in die USA, um dort Möglichkeiten für eine berufliche Zukunft zu erkunden. Er bekommt die Zusage für eine Stelle am Department of Dermatology der Chicagoer Universität. Ende November 1935 wird Therese Benedek von Roellenbleck, ihrem einstigen Leipziger Analysanden und inzwischen Freund der Familie, gebeten, aus der DPG auszutreten. Kurz darauf – am 5. Dezember 1935 – erhält sie die Einladung Franz Alexanders an das Chicago Institute of Psychoanalysis, das bis zu ihrem Tode ihre berufliche Heimat wird. Vor ihrer Abreise richten die verbliebenen Mitglieder der Leipziger Arbeitsgemeinschaft eine Abschiedsfeier für Therese Benedek aus. Sie überreichen ihr eine Urkunde mit folgendem Text in kunstvollen Lettern: »Unserer verehrten Frau Therese Benedek in herzlicher Dankbarkeit und freundschaftlicher Verbundenheit. Leipzig, 21. März 1936«, unterschrieben ist die Urkunde von Hermann Ranft, Otto Vauck, Ewald Roellenbleck, Tore Ekman, Gerhart Scheunert sowie Herbert Weigel (Pollock 1973, Schmidt 2004). Am 30. April 1936 kommen Tibor und Therese Benedek mit ihren zwei Kindern mit dem Schiff in New York an. Eine Woche später ist sie bereits in Chicago. Sie wird dort die Nachfolgerin Karen Horneys als Leiterin der Ambulanz des Psychoanalytischen Institutes. Zurück in Leipzig bleibt die Schwester Therese Benedeks, die 1945 im KZ umkommt.

Das weitere Schicksal der Mitglieder der Leipziger Arbeitsgemeinschaft Therese Benedek (1892–1977) wird sofort nach ihrer Ankunft in Chicago Analytikerin der Insitutsambulanz und Lehranalytikerin des von Franz Alexander geleiteten Psychoanalytischen Institutes. Sie wird eine legendäre Therapeutin und Lehranalytikerin (Schmidt 2004) und eine international bekannte Forscherin, der die Psychoanalyse einige grundlegende Konzepte der frühen Mutter-Kind-Beziehung (»confident expectancy«, »mother-childunit«, »symbiotische Beziehung«) und vielbeachtete Bücher über psychosomatische Aspekte der weiblichen Sexualität, Gegenübertragung, Lehranalyse und Supervision verdankt (s. a. Benedek 1973 sowie die Biographien Therese Benedeks von Weidemann 1988 und May 2000). Nach dem Krieg entsteht wieder Kontakt zu ihren ehemaligen Analysanden Scheunert und Roellenbleck und sie schickt ihnen Carepakete (May 2000, S. 80). Karl H. Voitel (ca. 1895–1929), der Initiator der Leipziger Gesellschaft für psychoanalytische Forschung, kann noch ein Jahr nach Beendigung seiner Ausbildung als Psychoanalytiker arbeiten, ehe er schon 1929 an Tuberkulose stirbt. Herrman Ranft (1883, Todesjahr unbekannt), Pädagoge und späterer Familientherapeut und Erziehungsberater, lebt ab 1935 in Chemnitz. Über seine weitere Tätigkeit dort und sein Schicksal nach dem Krieg ist (mir) nichts bekannt.

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1.3  Wurzeln der Psychotherapie in Ost- und Mitteldeutschland

Otto Vauck (ca. 1895, Todesjahr unbekannt) ist bis zum Kriegsende als Psychiater in der Nervenheilanstalt Bergmannswohl Schkeuditz in der Nähe von Leipzig tätig und geht nach dem Krieg nach Schweden (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 436). Gerhart Scheunert (1906–1994), schon als Student 1929 in Lehranalyse bei Therese Benedek, lässt sich 1936 in Erfurt als Nervenarzt und Psychotherapeut nieder (teilt dort nach dem Krieg zwischen 1946 und 1949 seine Praxis mit einem anderen ehemaligen Analysanden Benedeks, dem Psychologen Ehrig Wartegg), geht 1949 nach Westberlin und gehört 1950 zu den Gründungsmitgliedern der DPV. Zwischen 1956 und 1964 wird er Vorsitzender der DPV. Ewald Roellenbleck (1899–1976) setzt die psychoanalytische Arbeit nach der Lehranalyse bei Benedek bei Boehm und später bei Müller-Braunschweig fort und lässt sich nach dem Krieg als Analytiker in Darmstadt nieder. Tore Ekman (1897–?), schwedischer Staatsangehöriger, ist bis zum Kriegsende in Leipzig als Lektor und Psychoanalytiker tätig. Er kehrt nach dem Krieg nach Schweden zurück. Alexander Mette (1897–1985), der 1926–1927 seine Lehranalyse bei Therese Benedek macht, u. a. von Karen Horney supervidiert wird und ab März 1928 Mitglied der DPG ist, ist von 1928 bis 1946 als Nervenarzt und Psychoanalytiker in Berlin tätig und wird in den 1930er Jahren von der Gestapo überwacht. Nach 1945 übernimmt er leitende Positionen in der im Aufbau begriffenen Gesundheitsverwaltung der Ostzone und später der DDR und betreibt noch bis Juni 1951 eine ambivalente Kontaktpflege mit der DPG in Westberlin. Nach seiner Etablierung als leitender Mitarbeiter des Gesundheitsministeriums der DDR führen ihn seine politischen und theoretischen Auffassungen deutlich von der Psychoanalyse weg und er wird einer der Wegbereiter des Pawlowismus. Herbert Weigel (1901–1966) ist nach Beendigung seiner analytischen Ausbildung mit Abschluss am Berliner Psychoanalytischen Institut von 1933 an als DPG-Mitglied psychoanalytisch und als Fachgutachter am Versorgungsamt in Leipzig tätig. Er wird 1939 als Truppenarzt eingezogen und leitet bis zum Kriegsende eine große neurologisch-psychiatrische Abteilung in Posen. 1945–1947 richtet er eine Nervenklinik für deutsche Flüchtlinge in Dänemark ein, kehrt dann wegen der akuten Notlage seiner Frau und seiner vier Kinder nach Deutschland zurück und wird Gutachter, später bis zum Ende seiner Berufstätigkeit leitender Gutachter des Bezirkes Leipzig. Er tritt nach ihrer Spaltung 1950 aus der DPG aus und ist offenbar nur noch in wenigen Fällen psychoanalytisch tätig. Jedenfalls tritt er als Psychoanalytiker in der DDR nicht in Erscheinung. Dagegen wird er vorübergehend stellvertretender Vorsitzender der Neurologisch-Psychiatrischen Gesellschaft der DDR, ist Vorsitzender der Sektion Soziale Rehabilitation der Gesellschaft für Rehabilitation der DDR und wird 1962 zum Obermedizinalrat ernannt. 1961 erhält er die Hufeland-Medaille in Gold und 1964 die Verdienstmedaille der DDR. Er stirbt 1966.

Schlussbetrachtung Was ist 1945, nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches, übriggeblieben von den vielversprechenden Entwicklungen, die sich bis 1933 abzeichneten?

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

Die wenigen praktizierenden Psychoanalytiker, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch in Leipzig sind, werden in alle Himmelsrichtungen versprengt. Weigel, der Einzige, der ab 1947 wieder in Leipzig ist, wählt die sichere Existenz als Bezirksgutachter und wendet sich von der Psychoanalyse ab, die im Osten zudem schon in den 1940er Jahren politisch immer mehr unter Verdikt gerät. Als Statthalter der Psychoanalyse in Leipzig profiliert sich allein Alexander Beerholdt, der nicht zum engeren Kreis der Leipziger Arbeitsgemeinschaft gehörte (s. a. den Beitrag über Beerholdt in diesem Buch). Die anderen ehemaligen Leipziger Analytiker wie Scheunert, Roellenbleck und Riemann gehen in den Westen. Der im Osten bleibende Alexander Mette macht eine politische Karriere. Selbst in dem kurzen Zeitfenster zwischen 1946–1947, in dem die Psychoanalyse noch nicht politisch geächtet ist, fehlt die kritische Masse für die Nutzung der vorhandenen Freiräume zur Etablierung der Psychoanalyse an öffentlichen wissenschaftlichen Institutionen (s. den Beitrag über Alexander Beerholdt). Es sollten mehrere Jahrzehnte vergehen, bis die Psychoanalyse in Leipzig wieder eine Heimat findet (Geyer 1989b, 1991).

1.3.4 Steffen Theilemann: Eine Annäherung an Heinrich Stoltenhoff (1898–1979) Als Heinrich Stoltenhoff seine Arbeit als Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses für Neurologie und Psychiatrie Arnsdorf (bei Dresden) im November 1964 beendet, ist seinem Familienkreis und nahezu allen Fachkollegen etwas Bemerkenswertes seiner Biographie verborgen: Heinrich Stoltenhoff war Psychoanalytiker. Nach Ausbildungen am Berliner Psychoanalytischen Institut mit einer Lehranalyse bei Sándor Radó und in Wien, wo er sich bei Wilhelm Stekel von Dezember 1923 bis März 1924 einer weiteren Lehranalyse unterzieht (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 433), arbeitet er ab 1925 zunächst als Psychotherapeut in der Ambulanz der AOK-Berlin, später – zwischen 1930 und 1932 – als Analytiker in freier Praxis in Berlin. 1926 erscheint sein »Kurzes Lehrbuch der Psychoanalyse« (Stoltenhoff 1926). Mit diesem ist er wohl der erste Analytiker, der die praktische Handhabung der psychoanalytischen Therapie systematisch in einer Gesamtschau zu beschreiben sucht. Für Stoltenhoff konzentriert sich die analytische Arbeit deutlich auf die der Übertragung. »Es leuchtet ohne weitere Auseinandersetzungen ein, daß von der Aufdeckung [der] Übertragungverhältnisse der Erfolg der Analyse abhängt; denn mit Bewusstmachung dieser sich in der Übertragung ergebenden Zusammenhänge kommt man an die Wurzeln der Krankheit überhaupt heran« (S. 120). In den Ideen vorrangig bei Freud, in der Terminologie teilweise mit Stekel, geht Stoltenhoff – wie bald nach ihm andere, z. B. Harald Schultz-Hencke als vermutlich einem seiner »Brüder« im sog. Kinderseminar am Berliner Institut – auf die neu aufkommenden Themen unter der jungen Generation von Analytikern ein: auf die Darstellung der Psychoanalyse »aus dem ganz allgemein Bekannten, gleichsam aus dem Alltäglichen heraus« (S. 15), auf die

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1.4  Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone

Bedeutung der Differentialindikation, auf die Rolle aktiver Techniken und auf die Thematik einer »Tiefenanamnese« (S. 193). Bis 1932 bleibt Heinrich Stoltenhoff der Psychoanalyse treu. Bis in jenes Jahr lassen sich seine analytisch orientierten Publikationen verfolgen (Stoltenhoff 1932). Dann scheint es, dass Heinrich Stoltenhoff seine analytische Identität gegen die eines Psychiaters eintauscht: zumindest nach außen. Die Frage, ob dieser Tausch wesentlich mit seinem Weggang aus Berlin 1932 und/oder mit der Begründung seiner von ihm geleiteten psychiatrischen Privatklinik in Dresden-Strehlen verknüpft ist, bleibt noch unbeantwortet. Seine Dresdner Klinik führt er bis zum Wechsel auf die Direktorenstelle in Arnsdorf im Jahr 1950. Greift Heinrich Stoltenhoff hier das Vergangene seiner analytischen Zeit nicht wieder auf, so doch eine andere Seite seiner Vergangenheit: das väterliche Erbe. Sein Vater hatte die Irrenanstalt Kortau/Allenstein von 1893 bis zu seinem Tode 1917 geleitet.

1.4

Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone

1.4.1 Ostberlin 1.4.1.1 Wolfgang Kruska: Berliner Verhältnisse Teil I Nach der Kapitulation Deutschlands im Mai 1945 sahen sich Sieger und Besiegte in Berlin einem riesigen Trümmerfeld von 75.000.000 m³ Schutt gegenüber, einem Siebtel aller Trümmermassen Deutschlands. Der Verkehr stand still, es gab weder Strom noch Gas, die Wasserversorgung funktionierte nur noch in manchen Außenbezirken. Die Lebensmittelzufuhr war unterbrochen, Zeitung, Rundfunk, Telefon und Postverbindung gab es nicht mehr. All diese für das Leben einer Großstadt notwendigen Einrichtungen kamen erst im Verlauf des Sommers allmählich wieder in Gang. Als einziges Haus weit und breit war das Haus der Gesundheit Berlin (HdG) schwer beschädigt stehen geblieben. Die Straßenzüge, an denen es erbaut wurde, sind verschwunden. Seine jetzige Adresse ist Karl-Marx-Allee 3. Das HdG wurde 1913 wohl als Kaufhaus erbaut. 1923 hatte eine Versicherung das Gebäude übernommen und die erste Berliner Poliklinik darin eingerichtet. Bei der Wiederherstellung wurde der sechste Stock in einfacherer Form errichtet. In dieser fünften Etage befand sich ab 1. Oktober 1949 die von der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) eingerichtete psychotherapeutische Beratungsstelle, aus der sich später das Institut für Psychotherapie im HdG entwickelte. Die VAB ist eine Neugründung nach dem Krieg, initiiert durch den kommunistischen Stadtrat Ottomar Geschke, aufgebaut und geleitet von Ernst Schellenberg. Sie ging später in der AOK (West)-Berlin auf, im Ostteil wuchs aus ihr die Sozialversicherung Berlins und der DDR. Die Geschichte der Teilung Berlins ist untrennbar mit dem Kalten Krieg verbunden. Das Erstaunliche war, dass trotz früher Abgrenzungsbestrebungen beider Seiten manche gemeinsame Institutionen noch eine ganze Weile bestehen blieben oder gemeinsam genutzt wurden. Das Westberliner Institut für Psychotherapie war so eine gemeinsam

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genutzte Institution. Hier ließen sich die jungen Ärzte auch aus dem Ostteil der Stadt, viele aus der Charité, psychotherapeutisch ausbilden, unter ihnen auch Kurt Höck. Vor allem aber bestand der innere Zusammenhalt zwischen den Berlinern, Ost oder West, weiter. Es wurde von hüben nach drüben gesiedelt. So ziemlich jeder hatte im anderen Stadtteil Verwandte. Wesentliche Institutionen blieben im Ostteil, die Humboldt-Universität mit der Charité und der Staatsbibliothek, dem Zeughaus, der Staatsoper Unter den Linden und der Museumsinsel, oder besser, was von ihnen übriggeblieben war. Das wurde in Westberlin nachgeholt, nachgebaut: Als Pendant zur Humboldt-Universität die Freie Universität, als Pendant zur Charité das Benjamin-Franklin-Klinikum, zur Staatsoper die Deutsche Oper usw. Bei Verankerung und Standort der Psychotherapie und der psychoanalytischen Tradition gab es zwischen Ost und West allerdings nichts zu teilen. Zwar war schon zu Zeiten der Weimarer Republik Psychotherapie in die Gebührenordnung aufgenommen worden, aber die Hauptklientel dürfte damals aus wohlhabenden Bürgern, aus der jüdischen Mittel- und Oberschicht und vor allem aus dem Bildungsbürgertum gekommen sein, und jene wohnten schon zu Kaisers Zeiten im bürgerlichen Westen und nicht im proletarischen Osten (obwohl es natürlich auch im Osten sehr bürgerliche Quartiere und im Nordwesten und in der Mitte ausgesprochene Proletarierhochburgen gab). Auch das Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie im Reichsforschungsrat hatte sich im späteren Westteil der Stadt befunden. Sowohl das Zentralinstitut für psychogene Erkrankungen der VAB (gegründet 1946) als auch das Institut für Psychotherapie e. V. Berlin (gegründet 1947) befanden sich im Westteil, im amerikanisch bzw. britisch besetzten Sektor. Das Bürgertum Berlins hatte sich anders entwickelt als in den großen Handelsmetro­ polen oder Freien und Hansestädten, anders als z. B. in Hamburg oder Bremen, Leipzig oder Erfurt, Frankfurt/M., Nürnberg oder Augsburg. In Preußen, in Berlin, blieb der civis immer auf den (meist adligen) miles bezogen, die »Zivilität« stand auf schwachen Beinen. Ein entscheidender Grund für den Aufstieg Hitlers ist die Schwäche des auch noch durch Inflation und Weltwirtschaftskrise deklassierten Bürgertums, die mangelhafte Entwicklung von ­Zivilität und Zivilcourage (die Arbeiter waren politisch gespalten in Sozialdemokraten, Kommunisten und Nationalsozialisten und blockierten sich gegenseitig bzw. droschen aufeinander ein). Das ebnete den Weg für das komplette Versagen nicht nur der Institutionen, sondern auch der Einzelnen, für das wir in Jäckels Werk »Die Charité« folgendes Beispiel finden: »Am 22.4.1933 werden alle jüdischen Ärzte von der Kassenpraxis ausgeschlossen. An den Toren der Charité nehmen SA-Trupps zu Beginn des Sommersemesters allen jüdischen Studenten die Ausweise ab. Während der Semesterferien 1933, als die meisten Klinikchefs im Urlaub sind, wird jüdischen Professoren und Dozenten vom Kultusministerium die Lehrbefugnis entzogen. In den einzelnen Fachgebieten müssen aus der Charité ausscheiden: Innere Medizin: 47 von 100; Psychiatrie und Neurologie: 7 von 17; Dermatologie: 5 von 17; Kinderheilkunde: 8 von 26; Pathologie: 7 von 20. Und keiner der ›arischen‹ Klinikdirektoren droht aus Protest seinen Rücktritt an, keiner erhebt in öffentlicher Vorlesung seine Stimme für die diffamierten Kollegen [...] So geschieht es auf allen Gebieten des geistigen Lebens, indem die geistige Elite Deutschlands jenem Akt grausigster Selbstverstümmelung, den je eine Kulturvolk an sich

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1.4  Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone

selbst vorgenommen hat, unwidersprochen zusieht, verwirkt sie die Möglichkeit, dem kommenden, noch größeren Unheil Einhalt zu gebieten« (Jäckel, 1999, S. 663 ff.). Den einzigen öffentlichen ernsthaften Akt der moralischen und religiösen Selbstbewahrung nahmen evangelische Christen der Bekennenden Kirche mit der Barmer Erklärung von 1934 vor. 1932 gab es in der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft 48 ordentliche Mitglieder und acht außerordentliche. Nach dem erzwungenen Austritt der in- und ausländischen jüdischen Mitglieder verblieben 1935 in dieser Gesellschaft noch 14 ordentliche und vier außerordentliche Mitglieder (Dührssen 1994). Diese Vorgeschichte hätte dringend der Aufarbeitung bedurft. Die ersten Nachkriegsjahre waren zwar mehr von der »Sorge um die Notdurft des gelebten Leibes«, weniger von der »Sorge um das Heil der Seele« geprägt (so hat das meines Wissens Klages eindrucksvoll formuliert). Und ähnlich, wie nach der ersten großen nationalen Katastrophe, dem Dreißigjährigen Krieg, bestimmten Teilungs- und Trennungsvorgänge die deutsche Nachkriegsgeschichte. Sie schlugen auf alle Lebensbereiche, besonders auf die Produktionsverhältnisse, durch und wurden durch Spaltungsvorgänge und Projektionen verschärft. Dem »cuius regio, eius religio« der Fürsten von damals folgte 300 Jahre später ein »cuius regio, eius ius« der Besatzungsmächte. Und ebenso wie damals das Heilige Römische Reich hatte Deutschland seine Weltgeltung verloren, verspielt. Das galt auch für die lange im deutschen Sprachraum beheimatete Psychoanalyse. Die Diskussion der eigenen Verstrickung hätte den in Deutschland verbliebenen Psychoanalytikern einen echten Neubeginn ermöglicht. Natürlich kamen zusätzlich enorme Missverständnisse zum Tragen. Dass nicht jeder im Bereich einer Nazi-Diktatur ein Nazi, nicht jeder im Bereich einer kommunistischen Diktatur ein Kommunist ist, muss man sehen können und auch wollen. Die Welt sah damals mit Angst und Abscheu auf Deutschland. Allerdings erlaubt nur das Leben in einer Diktatur die Erfahrung, wie schwierig es ist, in einem durch und durch unanständigen System persönlich anständig zu bleiben; in einem nicht nur unanständigen, sondern verbrecherischen System, in dem Massenmörder die Macht an sich gebracht haben, kann jede Form von zu viel Anstand, von zu viel Zivilcourage tödlich sein. Trotzdem haben es einige gewagt. Unsere Bewunderung und unser Dank gilt heute noch Menschen wie John Rittmeister. – Es war daher sicher naiv, anzunehmen, dass die psychoanalytische Welt den in Deutschland verbliebenen Psychoanalytikern gestatten würde, einfach so zur Tagesordnung überzugehen. Ich denke, wir müssen heute beides sehen: die unvermeidbare Verstrickung trotz allen persönlichen Anstands und das Verdienst des Neubeginns unter schwierigsten Umständen. So begann der Wiederaufbau der Psychotherapie, institutionell gut versorgt und organisiert im Westteil der Stadt (dennoch schon den Keim der Spaltung in sich tragend), schmal und bescheiden im Ostteil der Stadt, mit einer Riesenhypothek, der Last einer verdrängten Vergangenheit.

1.4.1.2 Christoph Seidler: Die Geburt einer psychologischen Beratungsstelle aus der deutschen Tragödie Die gemeinsame Geschichte verbindet die beiden deutschen Staaten womöglich mehr, als wir glauben. Besonders die Katastrophen von Nazizeit und Krieg, deren schuldhafte und

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

schamvolle Verarbeitung sowie deren Abwehr bilden sicher einen Kern der gemeinsamen Grundlagenmatrix. Und zu diesen Abwehrmanövern gehört auch die Spaltung.

Diagnose als Todesurteil Den gemeinsamen Tiefpunkt der Psychotherapie sehe ich – nach der mangelnden Solidarität mit den jüdischen Kollegen und Lehrern – in dem Diagnoseschema des »Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP)«, also des »Reichinstitutes«. Dieses Dokument kam unter dem Titel »Diagnose als Todesurteil« über Roland Knebusch erst beim DGPT-Kongress 2004 in Berlin auf den Tisch. Unterschrieben wurde das Diagnoseschema von allen wichtigen Analytikern: Felix Böhm, Werner Kemper, Carl Müller-Braunschweig, John Rittmeister, Harald Schultz-Hencke, aber auch von den Jungianern von Hattingberg, Heyer, Kranefeld, Achelis, den Adlerianern Göring und Herzog sowie als Stellvertretendem Institutsleiter J. H. Schultz. Auf ihn geht auch der Titel zurück, denn er schrieb davon, dass er »dies Todesurteil in Form einer Diagnose gestellt habe« (Schultz 1940, S. 115). Mit diesem Diagnoseschema haben sich die prominentesten reichsdeutschen Psychoanalytiker an dem »biologischen Schutz der Rasse« beteiligt. Und das geht weit über Konzessionen an den NS-Geist hinaus, bei denen z. B. Tüchtigkeit oder eine kämpferische Lebens­einstellung zu einem psychoanalytischen Therapieziel erhoben worden sind. Die reichsdeutschen Psychoanalytiker haben damit direkt dem Endziel des NS-Regimes gedient, nämlich seinem Vernichtungswerk. Die Auseinandersetzung mit der »erblich degenerativen Psychopathie« als eigenem Krankheitsbild nimmt dabei den größten Teil ein und wird von Schultz mit besonderem Eifer herausgestellt. Der Text liest sich folgendermaßen: »Was für uns so ungeheuer wichtig und für die von der psychologisch-pädagogischen Seite kommenden Menschen so schwer ist, ist folgendes: So festgelegt wie diese primitiven Idioten in ihren untertierischen Reaktionen (sie grunzen, schmatzen, lassen Kot und Urin unter sich), so festgelegt sind auch bestimmte Formen allgemeiner psychischer Degeneration. Diese ­Menschen nennen wir in unserem Arbeitskreis Psychopathen. Das sind die erblich degenerativen, die erblich entarteten Psychopathen. Wir dürfen diese als seelische erbliche Miss­ bildung bezeichnen und sind ihnen gegenüber im eigentlichen Sinne psychotherapeutisch völlig machtlos. Das dürfen wir gerade in unserem Arbeitskreis mit voller Sicherheit sagen« (Schultz 1940, S. 113). Es wäre eine Untersuchung wert, wieso Schultz nun gerade die ­Hysterie so fürchtet, aber sie scheint besonders dämonisch zu sein: »Wir sind übereinstimmend der Ansicht, dass es auch eine hysterische Psychopathie, eine Entartungshysterie gibt, die völlig unheilbar ist, die niemals eine hysterische Reaktion im einzelnen, sondern immer eine hysterische Umwandlung der ganzen Persönlichkeit bedeutet. Das ist als ›hysterischer Charakter‹ in der Psychotherapie, als ›degenerative Hysterie‹ in der Psychiatrie viel bearbeitet worden« (S. 114). Und weiter: »[...] es gibt ganz zweifellos diesen erblich-degenerativen, ­psychopathischen, unheilbaren hysterischen Typ. Meistens scheint es sich hier um eine sehr durchschlagende Vererbung zu handeln. Die wenigen Fälle, wo ich dies Todesurteil in Form einer Diagnose gestellt habe, zeigten das deutlich; Sie wissen, dass im neuen Scheidungsrecht in Deutschland mit Recht diese Form der Hysterie als Scheidungsgrund

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1.4  Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone

gilt; denn es kann keinem Mann zugemutet werden, mit einer solchen Bestie zu leben« (S. 115). Es geht also nicht nur um den mörderischen Inhalt, es geht auch um die menschenfeindliche, zynische Sprache. Von denen stammen wir also ab – wir Ost- und Westberliner. Den Süddeutschen sei es etwas besser gegangen, sie bekamen bald Unterstützung aus England und Amerika (z. B. Helmut Thomae oder Alexander Mitscherlich, der aber auch nur 100 Stunden Lehranalyse absolvierte).

Aufbau Ost als Spottgeburt6 In Berlin-West gab es bald die Poliklinik der Versicherungsanstalt Berlin (VAB) und wenig später das Institut für Psychotherapie (IfP). Aber die VAB – heute AOK – war noch für das gesamte Berlin zuständig. Deswegen war sie auch an einer Ost-Psychotherapie interessiert. Dennoch unterscheiden sich die Entwicklungen Ost und West von nun an eklatant. Die folgende Erzählung stammt von Kurt Höck, und der war ein großartiger Erzähler: Der US-Army war aufgefallen, dass sich plötzlich so viele Schweizer Bürger Carepakete abholten. So kam sie ganz kurz nach dem Krieg auf die Spur eines gewissen Dr. Tillmann, der mit Angestellten der Schweizer Botschaft Altnazis für 50.000 Mark Schweizer Pässe besorgte. Tillmann bekam davon 10.000 Mark. Er wurde von den Amerikanern zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Mitte 1949 kam er – noch kahlgeschoren – nach Ostberlin und konnte sich als Opfer der Amerikaner ausgeben und die entsprechenden Funktionäre (mit Handkuss habe er die ehemals Wiener Kommunistin und Reemigrantin Schmidt-Kolmer beeindruckt) davon überzeugen, dass er eine psychologische Beratungsstelle eröffnen könne. Diese befand sich dann im Haus der Gesundheit am Alexanderplatz, der ältesten Poliklinik Berlins, die seit 1948 wieder eröffnet war. Sein Arbeitsvertrag galt ab 1. Oktober 1949, eine Woche vor Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Dem Vernehmen nach ging Tillmann nach wenigen Jahren zurück nach Westberlin und gründete eine Sexualberatungsstelle. Diese wurde ihm auf irgendeine Weise zum Verhängnis, jedenfalls kam er wegen Zuhälterei ins Zuchthaus. Spätestens seit der Währungsreform war Ostberlin abgekoppelt. Durch die Gründung der beiden deutschen Staaten wurde die Spaltung zusätzlich vertieft. Wer irgendwie konnte, ging in den Westen, natürlich auch die Ärzte. Das Haus der Gesundheit verwaiste, und es ergingen Aufrufe an die übriggebliebenen Ärzte, im Haus der Gesundheit Sprechstunden zu halten. So kam Kurt Höck dorthin, zunächst nebenberuflich in die Röntgen-, später in die EKG-Abteilung. Tillmann, der damals gemäß der Jung’schen Assoziationsexperimente arbeitete, brauchte für seine Narkoanalysen einen Arzt. Das übernahm, neugierig wie er war, Kurt Höck. Er war von den Prozessen, die dort abliefen, sehr beeindruckt, fand das alles aber so chaotisch, dass er sich bald um eine ordentliche Ausbildung kümmerte. Die gab es damals nur am SchultzHencke-Institut in Westberlin. Seine psychoanalytische Karriere endete zunächst nach dem 17. Juni 1953. Der Kalte Krieg hatte sich erneut verschärft. 6 »Du Spottgeburt aus Dreck und Feuer« – so begrüßt Faust Mephisto (Faust I).

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1956 drohte die Schließung der Psychotherapie-Abteilung im Haus der Gesundheit. Damals war ein gewisser Dr. med. Braemer Ärztlicher Direktor (später Amtsarzt in Pankow), der sich über den geringen Patientendurchlauf in der Psychotherapie ärgerte. Die Bezahlung lief über Krankenscheine, so ähnlich wie heutzutage. Die Anzahl der Scheine war für die Poliklinik das Kapital. Braemer ließ die Krankengeschichten von drei Psychiatern aus Berlin-Buch und aus Berlin-Herzberge kontrollieren, um zu erfahren, wie eine Therapie läuft, denn er selbst war kein Psychotherapeut. Dabei stellte sich fataler- oder glücklicherweise heraus, dass es in den Krankengeschichten so gut wie keine Eintragungen gab. Der Leiter der Psychotherapie-Abteilung, der Psychiater Dr. Meyer, ging daraufhin in den Westen. Nun rief Ehrig Wartegg, der seit 1. September 1950 mit sechs weiteren Psychoanalytikern zu der Abteilung gehörte, Höck an, er möge die Psychotherapie retten. Höck war inzwischen niedergelassener Internist und Mitarbeiter bei Brugsch in der Medizinischen Klinik der Charité. Nun übernahm er die Chefarztposition im Haus der Gesundheit. Von 1956 bis 1986 trägt diese Abteilung, später das »Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung« (IfPN), die Handschrift dieses Mannes. Er ist auch Geburtshelfer der Gruppenpsychotherapie: Die Wartezeiten für Patienten waren immens lang, die Fokussierung und Verkürzung der Psychoanalysen brachten nicht die erwünschte Erleichterung. Es begannen die ersten Therapiegruppen – aus der Not geboren.

Kalter Krieg Ost gegen Ost Der Begriff »Cliquenwirtschaft« klingt zu harmlos, die Bezeichnung »Kulturkampf« viel zu euphemistisch für den »Kalten Krieg«, der sich, z. B. während der Pawlow-Welle, abspielte: Walter Hollitscher (1911–1986), ein Wiener kommunistischer Psychoanalytiker (IPV), wurde 1949 aus dem Londoner Exil an die Humboldt-Universität zu Berlin als Professor für Philosophie gerufen. 1951 schrieb er in einem Aufsatz zur Psychoanalyse: »Es ist, als wären Freuds Arbeiten auf dem Gebiete der Neurosenlehre nicht erschienen, als seien psychische Konflikte, die zur Krankheit führen, durch ein paar freundliche oder strenge Worte wegzublasen, als wäre der Nachweis unbewusster psychischer Reaktionen nicht geführt worden [...] Es ist grotesk, so zu tun, als wären sie nicht durch Freud zum Gegenstand wissenschaftlicher Problemstellungen geworden« (Hollitscher 1951, S. 334 f.). Darauf folgte die ideologische Zurechtweisung in der »Einheit«, der »Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Kommunismus«: »Aber obwohl er sich in Worten einer Kritik Freuds anschließt, verfolgt Hollitscher unverkennbar die Tendenz, von Freud zu retten, was zu retten ist [...]. Es ist kaum übertrieben, wenn man feststellt, dass in dieser Kritik das ganze Programm der Psychoanalyse als große wissenschaftliche Entdeckung gefeiert wird [...], erkennt der Genosse Hollitscher heute, dass die Psychoanalyse grundsätzlich nichts mit Wissenschaft zu tun hat, sondern im Gegenteil nur ein Beispiel dafür ist, wie die barbarische Ideologie des Imperialismus eine noch unentwickelte Wissenschaft – die Psychologie – mit einem Schlage zu zerstören sucht. Die Psychoanalyse ist eine antihumanistische, barbarische Ideologie, denn sie macht die tierischen Triebe zur Grundlage der menschlichen Psychologie und verleugnet die Beherrschung des Tierischen in uns durch die Kraft des Bewusstseins [...]. In der Sowjetunion wurde Anfang der 1930er Jahre die Diskussion über die Psycho­

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analyse abgeschlossen und ihr reaktionärer, unwissenschaftlicher und mystischer Charakter nachgewiesen« (Havemann 1951, S. 1641 f.). So schwang die stalinistische Keule 1951 Robert Havemann, der Dissident, dessen Vorlesungen über »Dialektischen Materialismus« 1963/64 ich zwei Semester miterleben durfte, den ich danach hoch verehrte, der »Gerechter unter den Völkern« in Yad Vashem wurde. Auch dieser KGB- und Stasimann war also ein Kind seiner Zeit, einer teuflischen Zeit. Dass unter dem Einfluss solcher Kampagnen Psychoanalytiker das Weite suchten, ist sofort einzusehen, zumal die wirtschaftlichen Unterschiede schon überdeutlich waren. Den nachfolgenden Brief von Kurt Höck an die psychologische Psychoanalytikerin Dr. Lieselotte Windorpski fand ich 1996 bei unserem Auszug aus dem Haus der Gesundheit zufällig in der Bibliothek zwischen Sonderdrucken. An diese Stelle gehört auch ein Gedanke zum Thema Archiv und Gedächtnis. Die komplizierte und über weite Teile destruktive Überführung der DDR-Polikliniken in den Bereich des SGB V der Bundesrepublik, vor allem auch die rasch wechselnden Eigentumsverhältnisse an der kostbaren Immobilie Haus der Gesundheit, führte zu einem sehr sorglosen und verlustreichen Umgang mit den Archiven (Krankenblätter, Kaderakten, Dokumente wissenschaftlicher Gesellschaften usw.). Diese Vorgänge sind für den Umgang mit DDR-Geschichte nicht untypisch. Frau Dr. Lieselotte Windorpski b. Frau Elisabeth Koblank Frankfurt a. Main Beethovenstr. 26

Berlin, den 23.5.1960

Liebe Wd, leider hat es sich nicht mehr so einrichten lassen, dass ich selbst mit Ihnen in Berlin sprechen konnte. Hätte ich etwas von den Konflikten geahnt, in denen Sie sich befunden haben, so hätte ich sicher mit Ihnen von mir aus darüber gesprochen, zumal ich in Lindau einiges über die neue Tätigkeit von Herrn Stemmler erfahren habe. Herr Stemmler arbeitet als Sprechstundenhilfe und Psychotherapeut in einer Privatpraxis und muß die Patienten, die von dem betreffenden Arzt psychotherapiert werden, einzeln und in Gruppen mit Malen, Bildnern usw. beschäftigen. Das ist sicher eine Tätigkeit, die wesentlich unselbständiger und unbefriedigender ist als die, die er bei uns hatte. Ich habe in Lindau außerdem einen Einblick in die weitere Entwicklung der Psychotherapie in Westdeutschland bekommen und rechne mit Sicherheit damit, dass zunehmend stärker die rein ärztliche Psychotherapie sich durchsetzen und dieser Bereich für Nichtärzte verschlossen sein wird. Zugleich habe ich in diesen Tagen das Buch von Meyerhoft: Leitfaden der Klinischen Psychologie, Ernst Reinhardt-Verlag München 1959, gelesen. Dort wird sehr klar die Grenzziehung bzw. Begrenzung für Psychologen dargelegt. Vielleicht können Sie einmal kurz die ersten Seiten dieses Buches durchlesen. Dies alles sind die Gründe, warum ich überzeugt bin, dass Sie auf die Dauer Ihren Schritt sicher bereuen werden. Ich möchte Sie daher bitten, aus der Entfernung und in aller Ruhe sich Ihre Entscheidung zu überlegen. Da Sie alles hier stehen und liegen gelassen haben, Ihre Wohnung völlig

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unberührt ist usw., haben Sie Ihren Entschluß doch scheinbar völlig überraschend und sicher in falscher Einschätzung der Gesamtsituation gefaßt. Nach Rücksprache mit Herrn Dr. Landsberger haben wir veranlaßt, dass Ihre Wohnung bis zu Ihrer Antwort auf meinen Brief in dem Zustande bleibt, in dem sie sich befindet und keine weiteren Maßnahmen eingeleitet werden. Sollten Sie sich nach eingehender Überprüfung aller Umstände entschließen zurückzukommen, so würde Ihre Abwesenheit als Urlaub deklariert werden und keinerlei Maßnahmen irgendwelcher Art gegen Sie hier getroffen werden. Ich kann Ihnen das hundertprozentig sicher garantieren und würde persönlich dafür einstehen. Sollten Sie jedoch bei Ihrem Entschluß bleiben, so hoffe ich, dass Sie auch drüben eine Tätigkeit finden, die Ihnen zusagt und Ihren Interessen und Neigungen entspricht und Ihnen die Freude macht, die Ihre hiesige Tätigkeit Ihnen bereitet hat. In diesem Falle wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilten, ob Ihr Beitrag zur Gruppenpsychotherapie von uns mit veröffentlicht werden kann. Vielleicht ist es Ihnen dann auch in einiger Zeit mög­lich, eine kurze Zusammenfassung über Ihre bisherigen Gruppen und über die bisherigen Behandlungen der wichtigsten Einzelpatienten zu schicken. Wie Sie aus der Erfahrung mit Herrn Stemmler wissen, pflegen die Patienten bei einem derartig plötzlichen Behandlerverlust meist darunter am meisten zu leiden. Ich wünsche Ihnen nochmals alles Gute und gebe die Hoffnung auf eine Rückkehr bisher noch nicht auf. PS: Soeben erhalte ich Ihren Brief. Wie Sie aus meinen vorher geschriebenen Zeilen entnehmen können werfe ich also keinen Stein auf Sie, sondern habe Sie als gute Mitarbeiterin geschätzt. Ich glaube, einen guten Instinkt für politische Entwicklungen zu haben, habe mich daher auch von der Pariser Geschichte keineswegs beunruhigen lassen. Aus diesem Instinkt heraus möchte ich Ihnen sagen, dass ich felsenfest davon überzeugt bin, dass es niemals zu einer Entwicklung kommen wird, die den Besuch der nächsten Verwandten nicht ermöglicht, noch viel weniger, dass innerhalb Deutschlands sich zwei Völker entwickeln, die sich gegenseitig bekämpfen. Wie Sie wahrscheinlich wissen, leben meine 61-jährige Mutter und mein einziger Bruder ebenfalls in Westdeutschland. Ich bin überzeugt, dass wir uns immer gegenseitig besuchen können. Soweit dieser Brief, ein Zeitdokument von 1960. Am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut. – Dennoch: Nicht alle gingen, irgendwo gab es immer Psychoanalytiker (in Berlin, Leipzig, Dresden, Uchtspringe), die nicht im »kommunistischen« Machtkampf und in der »Cliquenwirtschaft« verfangen waren. Höck konnte 1964 in Berlin-Hirschgarten die Psychotherapie-Klinik eröffnen als eine Abteilung der Psychotherapie im Haus der Gesundheit. Es entstand das stationär-ambulante Fließsystem, das so leistungsfähig war, den Bedarf an Psychotherapie in Ostberlin einigermaßen abdecken zu können. Der erste Klinikleiter J. Burkhardt – auch er Absolvent des Schultz-Hencke-Instituts in Westberlin – übernahm später die Psychotherapie-Klinik am »Weißen Hirsch« in Dresden. Überhaupt haben die in der DDR verbliebenen Psychoanalytiker damals keine Ausbildungsinstitute gründen können, vielmehr haben sie Psychotherapie-Abteilungen in Kliniken aufgebaut, vorzugsweise in der Psychiatrie. In Kliniken gibt es immer Gruppenprozesse, mit

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denen umgegangen werden muss. Das ist ein Grund für das Überwiegen der Gruppen­ psychotherapie vor der Einzelpsychotherapie. Trotz der beschädigten »Väter« und der elenden Voraussetzungen in (Ost)Deutschland entstand eine leistungsstarke Psychotherapie, deren Erfahrungsschatz noch gehoben werden muss.

1.4.2 Jena: Gerhard Klumbies: Die Anfänge in Jena 1945–1959 Nichts, gar nichts Auffälliges erwartete ich im EKG einer für die EKG-Aufzeichnung unbewegt liegenden Versuchsperson. Herr Kleinsorge schilderte ihr in Hypnose in ruhigem Ton verschiedene Erlebnisse: Schnee und Kälte, nächtlicher Heimweg allein durch Wald, erwartungsvolle Freude, erfüllte Freude, Erinnerung an den Tod der Mutter, Sorge vor einer Operation usw. Als ich das EKG auswertete, traf es mich wie ein Donnerschlag. Das hatte ich noch nicht gesehen und stand auch in keinem Buch: Alle Herzfunktionen wandelten sich vor unseren Augen; Nicht nur Herzfrequenz und respiratorische Arrhythmie, auch P, PQ, QRS, die Dauer und Lage von ST, T, die U-Zacke, Reizbildung, Reizleitung und Durchblutung des Herzens; aber das keineswegs chaotisch, sondern wie wir es aus der Praxis kannten, etwa nach dem Tod eines Angehörigen, vor einer Operation usw., doch dort beobachteten wir im selben EKG keinen Wandel wie hier in einer kurzen Aufeinanderfolge. Das war 1948. Die »Deutsche Medizinische Wochenschrift« eröffnete mit unserem Beitrag »Herz und Seele« ihren Jahresband 1949. Wer ihn herausgreift, findet dort die Suggestionen wörtlich und dazu alle EKG abgebildet. Herr Kleinsorge wusste aus dem Klinikbetrieb, dass ich mich mit dem EKG besonders auskannte. Im Krieg war ich aus Russland zu einer Flieger-Untersuchungsstelle in Königsberg kommandiert worden und arbeitete dort mit dem jungen Dozenten Lothar Wendt eng zusammen, der gerade an seinem Buch »Die physikalische Analyse des EKG« schrieb. Aber ich brachte auch Vorkenntnisse auf einem anderen Gebiet aus Königsberg mit, die mir bei der Bewertung der EKG-Befunde halfen. Auf dem Lehrstuhl Kants saß zu dieser Zeit Konrad Lorenz, der spätere Nobelpreisträger. In der Kant-Gesellschaft diskutierte dieser scharfsinnige Beobachter der Tierwelt Fragen seiner vergleichenden Verhaltensforschung. Ich beteiligte mich und verfolgte die weitere Entwicklung in der »Zeitschrift für Tierpsycho­ logie«. Bei der Suggestion eines nächtlichen Weges alleine durch Wald fühlte sich unsere ­Versuchsperson auf einmal angefasst und zuckte zusammen. Gleichzeitig verlangsamte sich die Erregungsausbreitung im Herzen (QRS-Verbreiterung) und die Herzschlagfolge sank auf die Hälfte, alles binnen 1,5 Sekunden. Patienten mit kompensatorischen Pausen nach Extrasystolen schildern uns den gefühlten Ausfall eines Herzschlages häufig mit den Worten: »Manchmal bleibt mir das Herz stehen.« Und der Volksmund sagt im gleichen Sinne: »Vor Schreck blieb mir das Herz stehen.« Passt diese Beobachtung irgendwie zu unserem bisherigen Wissen von der Schreckreaktion? – Das Zusammenfahren und Starrsein vor Schreck ist kein nervliches Versagen, sondern eine biologische Leistung; denn das Ducken und unbe-

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wegliche Verharren ist für viele Vierfüßler eine lebenswichtige Tarnung. Beim Menschen reift das schreckhafte Zusammenzucken schon im Mutterleib, z. B. auf einen Trompetenstoß hin. Bei Jungmöven ist dieser Reflex vom etwa 5. bis 30. Tag auslösbar. In dieser Zeit sind sie farblich dem Boden angepasst und noch nicht flugfähig. Mit Eintritt der Flugfähigkeit erfolgt bei Schreck, z. B. auf einen Schuss, der augenblickliche Flugstart im dann weißen Federkleid. Die instinktive Schreckreaktion ist eingewoben in die Gesamtentwicklung eines Lebewesens wie die Flugfähigkeit und die Farbe der Federn. Sie umfasst nicht nur die Skelettmuskulatur, sondern auch die Herztätigkeit; denn zeitgleich mit der Schreckstarre tritt eine Bradykardie ein. Animalium und Vegetativum reagieren synchron und synerg, eine angeborene Gesamtreaktion des Organismus. Im Nervensystem mit aufwärts immer umfassenderen Regulationen sind diese nur an oberster Stelle auslösbar, in dem von mir sog. Praecortex, der kranialen Verschlussstelle des embryonalen Neuralrohres. Ich begann mich für Psychotherapie zu interessieren, Literatur zu studieren und erfuhr die stärksten Anregungen durch Patienten mit einer psychosomatisch geprägten Anamnese. Ein Patient war bei der Gefangennahme in Stalingrad erblindet, strengste Simulationsprüfungen waren negativ, im Heimkehrerzug erlebte er die Wiederkehr seines Sehvermögens. Bei einer Patientin trat eine bleibende Oesophagusachalasie ein, als sie gegen Ende des Krieges im Luftschutzkeller das Eindringen von schwarzen Amerikanern befürchtete. Wir konnten bei Sehstörungen und Cardiospasmus mit Hypnosebehandlung klar objektivierbare Erfolge erzielen. 1949 sahen wir eine Geschäftsfrau mit Trigeminusneuralgie, die nach vergeblichen Behandlungsversuchen und Operationen seit vier Jahren Morphium erhielt und darunter körperlich und geistig verfiel. Ihr Ehemann hatte von Schmerzbekämpfung durch Hypnose gehört und bat um den Versuch. Unser Klinikchef Lommel und Herr Kleinsorge rieten davon ab. Also nahm ich Urlaub und bemühte mich bei der Patientin zu Hause, eine hypnotische Analgesie zu erzielen. Am 18. Behandlungstag konnte jeder Trigeminusanfall auf diesem Wege kupiert werden. Die Umstellung auf Schallplatte, später Tonband, dann die bloße Vorstellung des Tonablaufes erbrachten viele lehrreiche Erfahrungen, die ich unter dem Titel »Ablationshypnose« eingehend beschrieben habe. Im Laufe der Jahre behandelten wir in der Klinik 41 Patienten mit schwersten Schmerzzuständen wie Kausalgie, Phantomschmerz, Rückenmarksverletzungen, 22 erfolgreich, neun davon hatten häufig Morphium erhalten, verzichteten dann freiwillig trotz Entziehungserscheinungen darauf, sechs wurden bleibend morphiumfrei, drei rückfällig. Unsere Patienten stellten wir den Ärzten in der Klinik vor, Ärzten in überweisenden Kliniken, Studenten in Vorlesungen mit der Demonstration von Hypnosen. Zahlreiche Kollegen wollten bei uns hospitieren. Daher veranstalteten wir ab 1953 Psychotherapie-Kurse in unserer Klinik. Konnten wir 1952 noch die Psychotherapiewoche in Lindau besuchen, so wurde dies im Jahr des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 nicht mehr genehmigt. Daher boten unsere Veranstaltungen vielen interessierten Kollegen einen Ersatz dafür, mit neuen diagnostischen und therapeutischen Anregungen, Patientenvorstellungen und der Möglichkeit zu Diskussionen. Die Kurse wurden auch von Kollegen aus Polen, der ČSSR und UdSSR gern besucht. Wir hatten Berichterstatter aus der BRD, Frankreich und der Schweiz. So ergab sich ein internationales Diskussionsforum interessierter Ärzte und Wissenschaftler. In

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24 Jahren wurden es 23 mehrtägige Kurse in Jena, Schloss Reinhardsbrunn, Gera und ­Rostock-Warnemünde, teils zusammen mit der Gesellschaft für Psychotherapie, der Aka­ demie für Ärztliche Fortbildung, der Bezirksakademie, der Regionalgesellschaft, in manchen Jahren zwei Kurse, 1963 musste ein Kurs aus politischen Gründen abgesagt werden; wir berichten noch davon. Ja, 1952 hatten wir noch die Psychotherapiewoche in Lindau besucht, die Prof. Speer begründet hatte. Er besaß dort die erste pychotherapeutische Privatklinik in Deutschland und hatte umfangreichste Erfahrungen. Speer hielt bis 1945 Vorlesungen in Jena und fuhr dazu jede Woche von Lindau nach Jena und zurück, im Kriege nicht nur beschwerlich. Zu den zahlreichen interessierten Hörern in Jena hatte Kleinsorge gezählt. Er sah sich als Schüler von Speer. 1949 erhielt er einen Lehrauftrag für Psychotherapie, habilitierte sich 1950 für Innere Medizin mit einer Arbeit über »Einwirkungen affektiver Erregungen auf das Blut«, wurde Dozent und nach der Emeritierung des 75-jährigen Chefs unserer Klinik – 1951 – dessen Nachfolger. Gleich 1951 gründete er eine Psychotherapie-Abteilung, die ich als Oberarzt leitete. Von den 15.000 Patienten, die jährlich in unserer Poliklinik betreut wurden, spielten bei vielen psychische Faktoren mitbegründend oder überlagernd eine Rolle, doch hielten wir nur bei 1,4 % eine Psychotherapie für unerlässlich, die über die Möglichkeiten der Sprechstunde hinausgeht und höhere fachliche und zeitliche Ansprüche stellt. Als objektive Methoden entwickelten wir die Provokations- und die Enthemmungsdiagnostik. Mit den Möglichkeiten einer Universitätsklinik klärten wir psychische Einflüsse auf Herz, Blutgefäße, Blutzusammensetzung, Kreislaufregulation, Atmung, Verdauungsfunktionen, Urinzusammensetzung, Sexualfunktionen, Bewegungsorgane, auf Hauterscheinungen, die sensiblen und motorischen Leistungen des Nervensystems, die vegetativen, hormonellen und Stoffwechselregulationen. Vor allem interessierten uns dabei Erkrankungs- und Heilungsmöglichkeiten. Eingeleitete Hypnosebehandlungen brachten uns in 75 % Erfolg, Behandlungen mit Psychoanalyse oder Autogenem Training in je 50 % (geringe Erfolge, Behandlungsabbrüche oder unbekannte Ergebnisse immer zu den Misserfolgen gerechnet). Zur Gesamtzahl der Erfolge unserer Psychotherapie-Abteilung trug das Autogene Training jedoch am meisten bei, dank der großen Zahl der Patienten in diesen Übungsgruppen. Am wenigsten für den Gesamterfolg erbrachte die zeitaufwendige analytische Behandlung. Nach zehn Jahren fassten wir 1958 alle unsere Kenntnisse und Erfahrungen in einem Buchmanuskript zusammen, für dessen Abfassung mich Kleinsorge ein halbes Jahr von allen anderen Aufgaben freistellte. Zu den 160 Kapiteln des Buches steuerte er vier eigene bei: Psychopharmaka, Schlaftherapie, Bewegungstherapie und Asthma. Die DDR benötigte Devisen in D-Mark und wollte auch unser Buch dafür nach folgendem Plan nutzen. Das Manuskript sollte an einen Westverlag gehen, der den Druckauftrag nach Leipzig gibt und dann auch bezahlt und einen kleinen Teil der Auflage in der DDR belässt. Ein Münchener Verlag war dazu bereit. Nach der Verlagsarbeit sandte er den Text druckreif an die Leipziger Druckerei. Diese änderte eine der Titelseiten mit dem Zusatz »Volkseigener Betrieb«. Der West-Verlag akzeptierte diese Änderung beim Titel nicht, die Druckerei aber bestand darauf. Nun vergab der Verlag den Druck an eine westliche Druckerei, zahlte nichts in die DDR, und natürlich blieb

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auch keine Teilauflage hier. 1959 erschien »Psychotherapie in Klinik und Praxis« von Kleinsorge und Klumbies ausschließlich im Westen. 1959 wurden mir von der Fakultät anspruchsvolle Aufgaben gestellt. (Als Ärztlicher Direktor und Prodekan beantragte ich die Verlagerung des Universitätsklinikums aus der Innenstadt nach Lobeda und leitete die Planungsgruppe aus allen Klinikdirektoren, Universität, Stadt, übergeordneten Stellen des Gesundheitswesens und der Regierung.) Ich konnte mich nicht mehr ungeteilt der Psychotherapie widmen, und weitere tüchtige Kräfte für die Psychotherapie-Abteilung waren uns willkommen.

1.4.3 Leipzig: Michael Geyer: Der Versuch der Institutionalisierung der Psychoanalyse an der Universität Leipzig durch Alexander Beerholdt7 Nach dem Ende des Tausendjährigen Reiches ist in Sachsen wenig übriggeblieben von den vielversprechenden Entwicklungen, die sich bis 1933 abgezeichnet hatten. Die wenigen praktizierenden Psychoanalytiker, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges noch in Leipzig sind, werden in alle Himmelsrichtungen versprengt. Herbert Weigel, einziges ordentliches Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft und ab 1947 wieder in Leipzig, wählt die sichere Existenz als Bezirksgutachter und wendet sich von der Psychoanalyse ab. In dieser Situation wird der am Ende des Krieges bereits 62-jährige Dr. med. Eduard Richard Alexander Beerholdt (29.12.1883–3.11.1976) der Statthalter der Psycho­ analyse in Leipzig. Es ist ein Mann, der nicht zum engeren Kreis der Leipziger Arbeits­ gemeinschaft gehörte, die sich 1936 aufgelöst hatte (s. a. den Beitrag über die Leipziger Arbeitsgemeinschaft der DPG in diesem Kapitel), sich aber mit Hingabe dem Projekt der Institutionalisierung der Psychoanalyse sowohl an der Leipziger Universität als auch im städtischen Gesundheitswesen Leipzigs widmet. Um Beerholdt und seine Motive zu verstehen, lohnt ein kurzer Blick auf seine Lebensgeschichte (Regine Lockot hat 2000 eine biographische Skizze von Alexander Beerholdt auf der Grundlage seines Nachlasses publiziert, auf die hier ausdrücklich verwiesen wird). Alexander Beerholdt wird als erstes von vier Kindern in einer Kaufmannsfamilie in Halle/Saale geboren. Sein Elternhaus charakterisiert er selbst später als »freisinnig sozialistisch«. Er besuchte die Schule in Dresden und das Humanistische Gymnasium in Leipzig. Reisen nach Galizien und Holland unterbrechen seine gymnasiale Ausbildung, die er schließlich 1904 am König-Albert-Gymnasium in Leipzig mit dem Abitur abschließt. Er studiert anschließend Medizin an der Leipziger Universität und promoviert 1909 mit einer Arbeit »Über epidemisch aufgetretene Appendizitis in einer Erziehungsanstalt«. Nach Militärzeit und Assistentenzeit im Ostseebad Heringsdorf lässt er sich als praktischer Arzt, Chirurg und Geburtshelfer in Alberschweiler (Kreis Saarburg), dem »gemischt-französischen 7 Alle biographischen Daten und Angaben sowie die dargestellten Inhalte des Schriftwechsels sind dem mir 1992 von Lothar Behrends übergebenen und seitdem in meinem Besitz befindlichen schriftlichen Nachlass Alexander Beerholdts entnommen.

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1.4  Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone

Teil« Lothringens, nieder, leitet das Hospital Civil und ist als Kantonalarzt und Reichsbahnarzt tätig. Er heiratet 1911 die Französin Anne Bernard aus Nancy. Die Ehe bleibt kinderlos, da Anne an Multipler Sklerose erkrankt. 1914 nimmt er als Oberstabsarzt am Ersten Weltkrieg teil, wird bereits im September 1914 so schwer an Oberkörper, Schulter, linkem Arm und linker Hand verwundet, dass er seine chirurgische Tätigkeit für immer aufgeben muss, ist aber ab September 1915 bereits wieder als Regiments- und Bataillonsarzt im Dienst. Nach dem Krieg (1919) – er hat seinen Wohnsitz nach Leipzig zurückverlegt – wird er im Hauptversorgungsamt als Abteilungsvorsteher und Dezernent der Ärztlichen Abteilung zur Gutachtenprüfung eingesetzt. Anfang 1920 beginnt er eine Art Privatstudium an der Universität Leipzig, um eine Ausbildung zum »Sonderfacharzt für Psychotherapie und für die Neurosenprobleme« zu absolvieren. Nebenbei studiert er Rechts- und Kameralwissenschaften und belegt bis zum Wintersemester 1924 Vorlesungen in Psychologie bzw. Philosophie. Gleichzeitig verbringt er zwölf Monate als Assistenzarzt an der psychiatrischen Nervenklinik der Universität Leipzig. In dieser Weise qualifiziert, wird er als Obergutachter und gerichtlicher Sachverständiger (Regierungsmedizinalrat für Neurosengutachten) im Bereich der Sozialversicherung (Oberversicherungsamt) tätig und betreibt eine Praxis als »psychologischer Nervenarzt und Psychotherapeut«. 1926 beantragt Beerholdt den dauernden Ruhestand, da die Multiple Sklerose seine Frau so pflegebedürftig macht, dass er für sie sorgen will, bleibt aber gutachterlich und in der psychotherapeutischen Praxis tätig. Er bekommt 1927 eine Ernennung zum Gerichtsgutachter und »Obergutachter für Neurosefälle« beim Oberversicherungsamt. 1933 gerät er in Schwierigkeiten mit den neuen Machthabern. Er beschreibt in einem Fragebogen der Universität Leipzig ein Verhör durch die Gestapo im Herbst 1933 »wegen Unterminierung der Staatsautorität« nach einer Anzeige wegen »sehr schwerwiegender, staatsgefährdender Äußerungen«. Seine Schwägerin wird für fünf Monate inhaftiert. Seine Frau Anna stirbt 1936. Kurz vor ihrem Tod – 1935 – beginnt er eine zweijährige Lehrtherapie bei Felix Boehm, in einer Zeit also, in der sich die Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse (DPG) auflöst und die DPG in das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« umgewandelt wird (s. a. den Artikel über die Leipziger Arbeitsgruppe der DPG in diesem Buch). Danach zählt er sich zur Gruppe »Tiefenpsychologie und Psychoanalyse« des Institutes und fühlt sich spätestens von da an als Psychoanalytiker. Er ist außerdem Mitglied der Internationalen und der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie. Er pflegt guten Kontakt zu Prof. Mathias Heinrich Göring, Vetter Hermann Görings und Leiter des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie, bleibt jedoch der NSDAP fern und verweigert sich jeder politischen Vereinnahmung. 1937 trägt er sich mit der Absicht, ein privates Medizinpsychologisches Institut mit Poliklinik einzurichten, muss den Plan jedoch wieder aufgeben. 1938 heiratet er Gertrud Else Nestler, die zwei Söhne mit in die Ehe bringt. Auch aus dieser Ehe entstehen keine eigenen Kinder. Im Krieg (1943) wird Beerholdts Haus durch Bomben und Feuer mehrere Monate unbewohnbar und – wie er mitteilt – sein Privatvermögen eingefroren. Seine Bibliothek ist schwer dezimiert (aus einem späteren Brief 1946 ist zu erfahren, dass die Hälfte der Bücher verbrannt ist und die andere Hälfte ausgelagert wurde). In den letzten Kriegstagen wird auch

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das Berliner Institut von russischen Soldaten, die aus dem Institut beschossen werden, abgebrannt, nachdem der Institutsleiter Göring der SS gestattet, die als Lazarett markierte Einrichtung als Stützpunkt für den Endkampf zu benutzen. Nur wenige ausgelagerte Unterlagen des Institutes bleiben übrig. Die Stimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit wird deutlich aus einem Briefwechsel. Beerholdt schreibt am 21. September 1945 an J. H. Schultz: »Lieber Schultz, gestern erfuhr ich durch Ihren Pat. Rausch, dass Sie noch leben, noch reagieren können und noch in ihrem Heim hausen. Sie ahnen gar nicht, wie mich das gefreut hat. Ich beglückwünsche Sie herzlich und möchte nur, dass auch die übrigen Kollegen vom Institut gleichfalls als Subjekte unserer aller Arbeit wieder nachgehen können. Was macht das Institut? Vielleicht können Sie mich einmal kurz über alles informieren lassen; ich wäre Ihnen sehr verbunden über all die einzelnen Kollegen zu hören und über die Zukunft und die Aussichten unserer Arbeitsgemeinschaft, des Institutes und was davon vielleicht noch gerettet werden konnte. Ich selbst war zwei Monate aus meinem Heim exmittiert und ebenso lange hat sich meine Frau Mühe geben müssen alles wieder einigermassen sauber zu bekommen. Ich drücke Ihnen im Geiste herzhaft die Hand und begrüße Sie auch im Namen meiner Frau herzlichst Ihr [Unterschrift]« [Orthographie und Grammatik im Original; M. G.]. Die Antwort kommt bereits am 30. September 1945: »Lieber Beerholdt! Herzlichen Dank für Ihre freundlichen kameradschaftlichen Zeilen, aus denen ich zu meiner Freude entnehme, dass Sie, ebenso wie die Mehrzahl der hiesigen Kollegen, von Schwerschaden bewahrt sind. Das Institut ist total vernichtet; es sind von verschiedenen Seiten Neusammlungsversuche gemacht (Schultz-Hencke, Fr. Dr. Lemcke-C-G. Jung), aber z. Z. stehen ganz primitive Existenzfragen so dringend im Vordergrunde, dass vor Frühjahr 46 kaum etwas Erspriessliches zu erwarten ist. Der frühere Leiter ist in den Kampftagen gefangen und seitdem verschwunden. Es heisst also zunächst hier abwarten und durch den Winter kommen, der bestimmt nicht leicht wird. Vor allem brauchte man grosspolitische Klarheit. Sehr von Herzen hoffe ich, dass Sie und die Ihren den struggle for life weiter siegreich zu einer besseren Zukunft bestehen! In diesem Sinne bitte ich um die herzlichsten Grüsse und Wünsche an die Gattin und drücke Ihnen die Hand als Ihr [Unterschrift]. Er nutzt die ersten Gelegenheiten, die Psychoanalyse unter den neuen Machthabern zu propagieren. Schon am 18. Dezember 1945 hält er bei der Kulturabteilung der KPD der Stadt Leipzig einen Vortrag über »Psychoanalyse und Seelenheilkunde«. Der Universitätsbetrieb kommt langsam wieder in Gang. Die sowjetische Militärverwaltung erlaubt die Aufnahme der Lehrtätigkeit der Universität Leipzig zum 8. Februar 1946. Seit Herbst 1945 laufen die Vorbereitungen. NSDAP-Mitglieder sind als Lehrpersonen in Leipzig zu diesem Zeitpunkt nicht einsetzbar. Am Psychologischen Institut, dessen akademische Mitglieder zu den fanatischsten Nazis der Universität gehören, fehlen Hochschullehrer. Ein Dr. Ley vom Psychologischen Institut tritt an Beerholdt heran. Nach anfänglichem Zögern zeigt sich Beerholdt bereit, einen Lehrauftrag für das Sommersemester 1946 anzunehmen. Der Dekan der Philosophischen Fakultät und alsbaldige Rektor der Universität, Hans-Georg Gadamer (1900–

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2002; später Nachfolger Karl Jaspers auf dem Heidelberger Lehrstuhl und Begründer der Philosophischen Hermeneutik), schreibt am 16. Januar 1946 an Herrn Regierungs-Medizinalrat Dr. Beerholdt: »Sehr geehrter Herr Doktor! Durch Herrn Dr. Ley erfahre ich Ihre Adresse. Er regt an, Sie zur Mitarbeit am Psychologischen Institut der Universität Leipzig heranzuziehen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich einmal anrufen und eine persönliche Unterredung mit mir ausmachen würden. (Tel.: 35197, privat: 392416.) Mit vorzüglicher Hochachtung [persönliche Unterschrift:] H. G. Gadamer [Stempel:] d. z. Dekan der philologisch-historischen Abteilung der Philosophischen Fakultät« [die gestempelte Abkürzung »d. z.« bedeutet »der zukünftige«; M. G.]. Ein Treffen muss dann sehr rasch verabredet und eine Einigung erzielt worden sein, denn schon am 12. Februar wird Beerholdt gebeten, einen Fragebogen auszufüllen und mit einer minutiösen Biographie, insbesondere etlichen Stellungnahmen zur politischen Betätigung im »Dritten Reich«, Bestätigungen von Amtspersonen über die Richtigkeit der Angaben sowie den üblichen Zeugnissen und Zertifikaten einzureichen. Aus dem Nachlass Beerholdts wird ersichtlich, dass er privat den Fragebogen in mehreren Varianten ausfüllt, ihn aber bereits eine Woche später einreicht. Schon im folgenden Semester beginnt seine Lehrtätigkeit auf der Grundlage folgender Vorlesungsankündigung, die sich auch in den folgenden Semestern bis zum Sommersemester 1947 nur wenig verändert: »Im Sommersemester 1946 gedenke ich zu lesen: 1.) Einführung in die Tiefenpsychologie (Triebgeschichtliches nach psychoanalytischer Empirie) (ab 1947 »Einführung in die Neurosenlehre«) (wöchentl. einstündig) 2.) Lesung der Freudschen Einführung in die Psychoanalyse (wöchentl. einstündig) 3.) Tiefenpsychologische Übungen (arbeitsgemeinschaftliche Verwendung des Materials aus 1 und 2) (wöchentlich einstündig)« Er liest dienstags (eine Stunde) und mittwochs (zwei Stunden) jeweils am Spätnachmittag, insgesamt im Semester 45 Stunden, davon sind 15 Stunden Seminare oder Übungen. Beerholdt möchte sich für diese Aufgabe der Unterstützung seiner Kollegen am Berliner Institut versichern und schreibt am 19. Februar 1946, dem gleichen Tag, an dem er offiziell seine Personalunterlagen der Universität einreicht, an Harald Schultz-Hencke. Er weiß zu diesem Zeitpunkt, dass noch 1945 die DPG zunächst nach der Satzung von 1931 als »Berliner Psychoanalytische Gesellschaft« (BPG) – das Alliiertenrecht lässt die Bezeichnung »Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft« nicht zu – mit C. Müller-Braunschweig als 1. Vorsitzenden, F. Boehm seinem Vertreter und W. Kemper als 3. Vorstandsmitglied wiedergegründet worden ist. Er fragt nach dem Schicksal des Institutes und seiner führenden Köpfe, schildert

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

seine Situation und bittet um Literaturhinweise, da seine Bibliothek verbrannt sei. (SchultzHencke bietet ihm direkte Hilfe an und ermutigt ihn in seinen Vorhaben.8) Beerholdt ist einer der wenigen politisch nicht belasteten Fachleute auf dem Gebiet der Psychologie und Psychotherapie und ist als Experte beim Aufbau neuer Strukturen im Gesundheitswesen gefragt. Er bemüht sich seit Frühsommer 1946 um Kontakt zum Berliner Institut, bietet Müller-Braunschweig seine organisatorische Hilfe bei der Vervielfältigung von Mitgliederlisten, Statuten etc. an und fragt nach den Aufnahmebedingungen in die DPG (damals noch BPG). Beerholdt bewirbt sich schließlich mit Verweis auf die Lehranalyse bei Boehm um eine a. o. Mitgliedschaft. Auf Müller-Braunschweigs Nachfrage hin bezeichnete Boehm ihn allerdings analytisch als »unbeschriebenes Blatt« (Lockot 2000, S. 252). Anfang August 1946 schließlich weist Müller-Braunschweig in seinem Brief an Beerholdt darauf hin, dass beschlossen worden sei, sich streng an die Statuten der Gesellschaft zu halten. Beerholdt habe zwar eine Lehranalyse, könne aber kein theoretisches Studium der Psychoanalyse nachweisen (was getrost als Vorwand aufgefasst werden darf). Somit könne er nicht als a. o. Mitglied aufgenommen werden (Beerholdt/Müller-Braunschweig, 04.08.1946, Bundesarchiv, zit. nach Lockot 2000, S. 252). So steht Beerholdt fachlich allein in Leipzig. Er findet sich mit dieser Abfuhr ab und wiederholt nie mehr seinen Aufnahmeantrag. Seinen Plan, ein psychoanalytisches Institut zu gründen, hat er jedoch nicht aufgegeben. Aber die Aufgaben, die auf ihn von allen Seiten einstürmen, sind ohne Hilfe nicht zu lösen. In den Unterlagen Beerholdts findet sich ein Brief vom 27. Dezember 1946 an Kemper, in dem er seine Situation eindringlich schildert. Lieber Kollege Kemper, Herr Proehl hat mir von Verhandlungen des FDGB Halle durch Dr. Kanberg mit Vizepräsident Dr. Beyer der Zentral Verwaltung für das Gesundheitswesen berichtet, ohne dass ich noch richtig klar sehe. Es ist da von einer Schlüsselzahl 4:1 die Rede (d. h. dass auf vier Aerzte ein Psychotherapeut kommen sollte) nach Angaben Lindenberg´s. Ich kann aber mit alledem noch nichts Richtiges anfangen. Ich werde wahrscheinlich in den nächsten Tagen mit dem Rektor der Universität Leipzig über die Frage der Medizinischen Psychologie, Psychotherapie und der Tiefenpsychologie an der Leipziger Universität zu verhandeln haben und möchte deswegen gern möglichst ausreichend orientiert sein. Könnten Sie mir darüber Bescheid zukommen lassen? Halle will jetzt psychotherapeutische Beratungsstellen einrichten und Praktikantinnen-­ Schulen für Kräfte, die nach einem halben Jahr als psychotherapeutische Assistentinnen in der Praxis von Psychotherapeuten bzw. in Beratungsstellen als Helferinnen mit arbeiten können. Mit früherem Leipziger Lehrerverein oder vielmehr mit dem FDGB Erzieher überlege ich mir, 8 Eine ähnliche Bitte um Hilfe bei der Abfassung eines Vortrages in Halle ergeht noch einmal im Sommer an H. Schultz-Hencke, F. Boehm und J. H. Schultz. Die Antworten sind unterschiedlich im Ton. Boehm empfiehlt ihm in nass-forscher Manier, auf Literatur doch zugunsten freier Einfälle und Rede zu verzichten. Kemper und Schultz-Hencke bemühen sich dagegen mit freundlichen Ratschlägen.

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1.4  Psychotherapie in der Sowjetischen Besatzungszone

in Verbindung mit der Justiz und dem Arbeitsamt, wie wir Beratungsstellen einrichten könnten für sozialgefährdete Jugendliche. Auch müßte die Psychotherapie doch eigentlich mindestens beratend, wenn nicht behandelnd in Lager für den Strafvollzug unterliegende Jugendliche vertreten, tätig sein. Auch Halle plant für seinen Bereich das Gleiche. Es geht sogar noch weiter in dem von mir gemeinten Sinne und denkt jetzt ernstlich daran ein Erziehungslager für noch nicht straffällige Jugendliche einzurichten. Dazu gehört natürlich auch die Orientierung, wenn nicht Schulung von Volksrichtern und Volksamtsanwälten. Aber bei mir hier in Leipzig sind das alles noch nur Ideen, denn wo soll ich denn Lehrkräfte für alles das hernehmen, die ich gern in einem neu zu gründenden Institut für Medizinische Psychologie und Psychotherapie zusammenfassen möchte. Wüßten Sie mir da nicht Rat und Weg. Halle ist da doch besser daran, trotz Flügel (und Pönitz?), denn dort finden sich ja doch mehr Psychotherapeuten, wenn auch nicht gerade ärztliche. Aber nicht nur wegen der Lehrkräfte die hier für notwendig wären bin ich ganz auf mich allein gestellt hier, sondern auch wegen des notwendigsten fachlichen Hilfs-Personals, wenigstens für den Anfang, bis Eigenes herangebildet wäre. Das wäre das Dringendste, weswegen ich mich an Sie wende, in der Hoffnung, dass Sie mir vielleicht den einen oder anderen Tipp oder Anschriften zu geben oder sonst zu helfen vermöchten. Kommt Schultz-Hencke nach Halle? Steht schon ein Termin oder sonst was fest? Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich über das notwendigste bald wissen lassen könnten. Verbindlichen Dank im Voraus. Mit den herzlichsten Grüßen auch von meiner Frau, auch an Ihre Gattin Ihr ergebener [Unterschrift]« Trotz der Überforderung durch Verhältnisse, die ersten Nachkriegssemester scheinen für Beerholdt erfolgreich verlaufen zu sein. Der Brief gibt einen ersten Hinweis auf seine Hoffnung, in oder an der Universität ein »Institut für Medizinische Psychologie und Psychotherapie (Psychopathologie)« etablieren zu können. Am 31. Mai 1947 richtet er einen Antrag an Gadamer (der offenbar am 18. Juni 1947 wiederholt wird), der hier auszugsweise wiedergegeben wird. »An Magnifizenz den Rektor der Universität Leipzig Herrn Prof. Dr. Gadamer »[...] unter Bezugnahme auf die in den beifolgenden verschiedenen Anlagen gemachten Ausführungen bezüglich der Notwendigkeit und der Aufgaben, Funktionen der Medizinischen Psychologie und Psychotherapie bez. Tiefenpsychologie und Psychopathologie bitte ich um Eurer Magnifizenz Unterstützung bei meinen Bemühungen oder vielmehr um Uebernahme meines Vorhabens um Errichtung eines Institutes für Medizinische Psychologie und Psychotherapie (Psychopathologie) in Leipzig, für das ich schon die Landes- bez. Sozial-Versicherungs-Anstalt und die Sozialversicherungs-Kasse Leipzig sich einsetzen zu lassen ich mich bemühe, und zwar an oder bei der Universität. Ein solches Institut ist an der sächsischen Universität unbedingt erforderlich schon zur Sicherung des medizinischen Nachwuchses der Psychotherapie.

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

Ferner ist solches Institut nötig aus Gründen, die ich mehr der Sozialversicherung dargelegt habe: Beratung und Kontrolle der Kranken, die psychotherapeutisch behandelt werden sollen oder wollen müssen und aus bestimmten Gründen ausgesiebt und kontrolliert sein möchten; ebenso erforderlich wie für die Psychotherapeuten selbst; zu ihrer Unterstützung (Kassen und Patienten gegenüber), zu ihrer Beratung, zur Vermeidung von Fehlern, um der Sozialeinrichtung – oder dem Kostenträger sonst – Umwege, vermeidbare Unkosten zu ersparen. Und schließlich ist solches Institut auch mehr als wünschenswert, weil die Tiefenpsychologie auch allgemein soziale und letzten Endes auch (innen- und außen-) politische Bedeutung im gewissem Ausmass in sich bergen, jedenfalls einigen, vielleicht nicht unbeträchtlichen Wert im Rahmen des Wiederaufbaues Deutschlands und seiner Demokratisierung, also für die Um-, Nacherziehung (über die akademische Jugend) haben, gewinnen kann. Das deutsche Volk, als ganzes Volk in hohem Grade neurotisch, bedarf dringend [...] der Selbsterkenntnis. Die Tiefenpsychologie hat [...] nicht nur für den einzelnen Deutschen [...] Bedeutung, sondern ebenso für das Volk als Ganzes [...]« [Nach einem Exkurs über die soziale Bedeutung eines solchen Institutes, die auch der FDGB interessieren müsste, wird wieder der deutsche Volkscharakter bemüht:] » In Deutschland wäre eine solche charakterliche und politische Fehlentwicklung wie in den beiden vergangenen Jahrzehnten wohl nicht ohne weiteres möglich gewesen, wenn auch die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie schon längst weit mehr verbreitet gewesen wären. Nicht umsonst haben die größten Länder wie Amerika, England und nicht zuletzt Russland und andere fortschrittlichen Völker dergleichen tiefenpsychologische Institute schon längst [...].« Im weiteren Verlauf des Antrages wird auf die acht Anlagen, u. a. ein an die Landesverwaltung Sachsen – Gesundheitswesen gerichtetes Memorandum über Notwendigkeit der Psychotherapie im Rahmen der Leistungen der Sozialversicherung sowie direkt an die Sozialversicherung gerichtete Anträge auf Einrichtung eines psychologisch-psychotherapeutischen Institutes in Leipzig, Bezug genommen und deren Inhalte erklärt. Obwohl die damalige Zeit des Umbruchs viele Möglichkeiten eröffnete, bis dahin randständige Gebiete oder Anliegen nach vorn zu bringen – man denke nur an die Einrichtung von Lehrstühlen für Psychoanalyse an der Charité und der Universität Greifswald in diesen Jahren –, standen die Aussichten in Leipzig für Beerholdts Anliegen nicht wirklich gut. Aus heutiger Sicht dürfte dieser Antrag eines akademischen Außenseiters, der noch dazu ohne jegliche politische Unterstützung blieb, in Anbetracht der vor Leipziger Universität und Land Sachsen liegenden Probleme wenig Eindruck auf die Verantwortlichen gemacht haben. Nicht eine offizielle Reaktion der Universitätsleitung ist den Unterlagen Beerholdts zu entnehmen. Gadamer scheint die Sache im Sande verlaufen zu lassen. Wahrscheinlich hat Gadamer mit Beerholdt persönlich gesprochen und vielleicht abwiegelnd einen Hinweis auf nachlassende Hörerzahlen in den tiefenpsychologischen Lehrveranstaltungen gegeben, um die ausbleibende Unterstützung des Antrages zu entschuldigen. Beerholdt bezieht sich jedenfalls in einem Brief an Rektor Gadamer direkt am 20. Juni 1947 auf solche Einwände und berichtet über seine Erfahrungen bei der Vermittlung tiefenpsychologischen Wissens an die Studenten. Er bestätigt die nachlassende Beteiligung eingeschriebener Hörer an ­seiner Vorlesung, meint jedoch, sehr viele nichteingeschriebene Hörer zu haben und kommt

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1.5  Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen

schließlich zu einer Gesamteinschätzung: »Ich kann zu meiner großen Freude, wie ich glaube mit Recht, annehmen, dass der anfänglich große unübersehbare Widerstand gegen die Materie selbst mehr und mehr überaus interessiertem Mitgehen Platz gemacht hat, dass jetzt offenbar eine prinzipiell andere Atmosphäre herrscht.« (Ein Zeitzeuge, der damalige Student der Psychologie in Leipzig Infrid Tögel, äußerte allerdings in einem Gespräch mit dem Verfasser [2010], die Vorlesungen seien wenig lebendig, eher langweilig gewesen.) Auch dieser Brief scheint die Universitätsverwaltung und den schon auf einen Lehrstuhl in einem der westlichen Sektoren (Frankfurt am Main und Heidelberg) orientierten Gadamer nicht zu beeindrucken. Angebote Beerholdts, das Lehrangebot im Sommersemester 1948 auszuweiten, werden nicht mehr positiv beantwortet. Um diese Zeit endet sein Engagement an der Universität Leipzig. Zumindest sind keine weiteren Versuche Beerholdts, ein Institut in oder an der Universität einzurichten, bekannt. Er konzentriert sich von da an auf die Errichtung eines Instituts für Medizinische Psychologie und Psychotherapie nach dem Vorbild des Zentralinstituts für psychogene Erkrankungen der VAB (Kemper, Schultz-Hencke) in Berlin. Nach einer ersten Ablehnung seines Planes durch die Sozialversicherungsanstalt Sachsen am 26. August 1947 bleibt er hartnäckig dieser Aufgabe verbunden. Nach vielen Rückschlägen gründet er schließlich am 1. Mai 1951 eine »Abteilung für Psychotherapie« an der Großpoliklinik Nord in Leipzig, die von der Sozialversicherung finanziert wird, und leitet sie bis 1968. Nach der Übergabe der Abteilungsleitung an seinen Nachfolger Gerhard di Pol – Beerholdt ist inzwischen 85 Jahre alt – wird sich die Abteilung mit 22 Mitarbeitern zu einer der größten ambulanten/tagesklinischen Einrichtungen der DDR entwickeln. Alexander Beerholdt ist – wie schon in der gesamten Zeitspanne als ärztlicher Leiter dieser Abteilung – auch in seinem späten Ruhestand bis zu seinem Tod 1976 ausschließlich psychoanalytisch tätig. Er ist wegen dieser – zumindest in der Pawlow-Ära in der DDR eher verpönten – analytischen Ausrichtung seiner Tätigkeit nie belangt worden. Von dieser Abteilung ist nochmals an anderer Stelle die Rede (} Abschnitt 4.8.4.1).

1.5

Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen

1.5.1 Bernhard Strauß: Gerhard Klumbies – Pionier der Psychosomatik in Ostdeutschland9 – Die Übereinstimmung zwischen Natur und Vernunft kommt nicht dadurch zustande, dass es in der Natur vernünftig zugeht, sondern in der Vernunft natürlich Gerhard Klumbies, geboren 1919 in Königsberg, war bis 1985 als Professor für Innere Medizin am Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität in Jena aktiv und ist mit Sicherheit eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Psychotherapie und Psychoso9 Erstmalig publiziert in: Psychother. Psych. Med. 2004; 54: 387–391 Online-Publikation: Zugriff am 30. Juni 2004 ISSN 0937­2032.

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matik der DDR. Gerhard Klumbies lebt heute als Emeritus immer noch in Jena und nimmt mit großem Interesse Anteil an den Entwicklungen unserer Disziplinen. Das nachfolgende fragmentarische Porträt basiert auf einem Interview mit Gerhard Klumbies, in dem er seine Lebensgeschichte, wichtige wissenschaftliche Stationen und die spezifische Entwicklung der Psychotherapie in Jena schilderte. Das gesamte Interview – Klumbies ist ein exzellenter Erzähler – wäre es eigentlich wert, abgedruckt zu werden. Aus Platzgründen ist das nicht möglich, weswegen nachfolgend Zusammenfassungen seiner Berichte – durchsetzt mit Originalpassagen – wiedergegeben werden.

Wurzeln in Königsberg Gerhard Klumbies hat seine Kindheit und Jugend in Königsberg verbracht und wollte dort auch studieren. Dann kam der Krieg. Klumbies war vom ersten bis zum letzten Kriegstag Soldat, bekam aber die Möglichkeit, während des Krieges wegen Ärztemangels in Königsberg zu studieren (u. a. bei Konrad Lorenz, der dort 1940–1945 den Lehrstuhl für Philosophie innehatte). Nach Arbeitsdienst und Einsatz in Polen und Frankreich konnte er das Medizinstudium 1940 beginnen. »Zum Physikum mussten wir dann eine Präparierleistung ablegen, ich bekam einen Fuß und sollte die Knöchelgegend präparieren. Ich hatte mich darauf etwas vorbereitet, indem ich eine Mausefalle auf dem Balkon aufgestellt hatte. Damit fing ich einen Spatz und habe dann diesen Spatz seziert. So habe ich die Feinheiten des Sezierens gelernt, die mir anfangs wegen des Fronteinsatzes gefehlt hatten.« 1943 kehrte Klumbies nach Königsberg zurück, einem Jahr, in dem die Familie ausgebombt worden war. Da auch die Universitätsklinik zerstört war, mussten alle das Studium an der Universität Greifswald fortsetzen. Dort erhielt er die Nachricht, dass Königsberg eingenommen worden war, die Eltern geflohen und umgekommen seien. Erst viel später erfuhr er, dass diese Nachricht falsch war, dass die Eltern wohlbehalten in Dänemark angekommen waren. »Es war mir überhaupt ein Fest zu studieren, da ich großes Interesse für die Entwicklungsgeschichte hatte. Dies war wohl eine Folge davon, dass mein Vater, er war Pastor, noch so sehr an der biblischen Schöpfungsgeschichte hing, und ich doch dann allmählich merkte: so geht das nicht. Und als ich aus dem Krieg zum ersten Mal zurückkam, mich zu Hause hinsetzen konnte, mein Anatomielehrbuch aufschlug und mir als erstes die Wirbelsäule ­vornahm, da sah ich, dass die Halswirbel überhaupt nicht zu verstehen sind, wenn man sie nicht ableitet aus dem Skelett des Fisches. Also, es war wunderbar, es war mir ein Fest, und das ist weiter so geblieben, denn die ganze Anatomie ist natürlich von der Entwicklungsgeschichte durchzogen, sie zeigt sich auch in der Physiologie und in der Klinik.« Als der Krieg endete, befand sich Klumbies als Famulus in Aue und Lichtenstein (Erzgebirge), wo er den Einmarsch der Amerikaner, später der Russen miterlebte. Fluchtgedanken wurden aufgegeben mit dem Entschluss, in einem örtlichen Lazarett zu helfen. Nach der Lazarettauflösung führte ihn der Weg nach Jena. Dort musste er – frisch verheiratet – zunächst beim Wiederaufbau der Universitätsgebäude helfen. Sodann schloss er das Studi­um ab und wurde zunächst Assistent in der Frauenklinik (ab 1946), wechselte dann aber – nicht

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zuletzt motiviert durch eine schwere Tuberkuloseerkrankung seiner ersten Frau (die 1953 an den Folgen ihrer Erkrankung verstarb) – in die Innere Medizin als Assistent von Lommel.

Der Weg zur Psychosomatik 1951 wurde Hellmuth Kleinsorge Nachfolger Lommels. Kleinsorge praktizierte bereits damals aktiv die Hypnose. Klumbies wurde von Kleinsorge aufgefordert, EKGs abzuleiten, während eine Probandin hypnotisiert wurde: »Na, ich war gerne dazu bereit, und er hat also eine Serie von Erlebnissen suggeriert, die sie traumbildhaft erlebte – Erlebnisse des Kummers, der Sorge, der Freude, von Schreck und Hitze und Kälte und während die Suggestionen, von denen vielleicht jede fünf Minuten anhielt oder ein bisschen länger, und die ausgemalt wurden, um plastisch zu werden, lag die Probandin ruhig da, und er sprach auch ruhig und eindringlich, aber es war nichts los dabei, ich dachte, da findet man im EKG also bestimmt gar nichts. Und als ich nachher die EKGs auswertete, da kam ich doch ins Staunen. Keine einzige Funktion war unverändert geblieben. Das war also das, was mich zur Psychotherapie gebracht hatte.« Von Kleinsorge wurde Anfang der 1950er Jahre in der Klinik für Innere Medizin eine Abteilung für »Internistische Psychotherapie« eingerichtet, deren Leiter Klumbies wurde und die später von Margit Venner weitergeführt wurde. Im Gespräch berichtet er, dass es damals zu erheblichen Sprachproblemen mit Psychologen gekommen sei, die bei der Dia­ gnostik der Patienten zu häufig »Ausdrücke der Psychiatrie« entnommen hätten. »Was in der Sprechstunde erschien, das wurde behandelt.« (So entwickelte Dipl.-­Psych. Berthold Bauer ein »Bettnässer-Weck-Gerät«.) »Allerdings muss ich sagen, dass wir im Vergleich zu dem, was bis zuletzt in den Fachzeitschriften berichtet wird, dass also 30 % der Patienten, die zum Internisten kommen, psychotherapiebedürftig sind, dass wir im Vergleich dazu doch sehr scharfe Indikationen gestellt haben. Nach unserer Auffassung waren es nur 1,4 % der Patienten, die in unsere Klinik kamen, für die eine internistische Psychotherapie indiziert war. Nur das, was in der Sprechstunde nicht versorgt werden konnte, gelangte in die psychotherapeutische Abteilung.«

Das Verhältnis zur Psychoanalyse Wie die Bezeichnung »internistische Psychotherapie« sagt, verstand sich G. Klumbies immer primär als Internist und hat sich in einigen seinen Schriften eher kritisch gegenüber der Psychoanalyse geäußert. In seinem Lehrbuch (s. u.) schrieb er: »Unsere kritische Einstellung hindert uns in keiner Weise, den Grundgedanken Freuds anzuerkennen, dass bei vielen Neurosen erst die Analyse psychologischer Hintergründe und lebensgeschichtlicher Zusammenhänge weiterführt. Freud selbst aber schrieb: Das Lehrgebäude der Psychoanalyse, das wir geschaffen haben, ist in Wirklichkeit ein Überbau, der irgendeinmal auf sein organisches Fundament aufgesetzt werden soll, aber wir kennen dies noch nicht.« »Nach dem Krieg, als Kleinsorge die Klinik übernahm, bekam dieser einen Lehrauftrag für Psychotherapie und wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, die Psychoanalyse zu berücksichtigen. Dies war ein Resultat des Antirassismus, der sich nach dem Krieg als Reak-

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tion auf den Nationalsozialismus ergab. Wir haben uns mit großer Aufmerksamkeit mit der Psychoanalyse beschäftigt. Es stellte sich dann heraus, dass wir uns nicht haben davon überzeugen lassen können, dass alle Neurosen in die Kindheit zurück gehen. [...] Wir haben uns aber auch nicht der materialistischen Psychologie Pawlows unterworfen und auf Pawlow nicht so reagiert, wie das gerne gesehen worden wäre. Bei einem Kongress in Leipzig habe ich in Abrede gestellt, dass die Großhirnrinde der oberste Gehirnabschnitt sei, der die ›führende Rolle‹ innehätte (und habe damit auf die übliche Gleichstellung von Großhirn und Partei angespielt).« 1959 erschien das Lehrbuch: »Psychotherapie in Klinik und Praxis«, von Kleinsorge und Klumbies verfasst und vom Verlag Urban & Schwarzenberg in München (also im Westen!) verlegt. Das Buch war wegen der staatlichen Entzweiung in der DDR nicht erhältlich. 1974 erst wurde ein entsprechendes Werk von Klumbies im Verlag Hirzel in Leipzig unter dem Titel »Psychotherapie in der Inneren und Allgemeinmedizin« publiziert. Damals war Kleinsorge in den Westen gegangen und durfte nicht mehr in einem DDR-Buch erscheinen. »Es war also kein Wort von Kleinsorge mehr drin; ich konnte bei der ersten Auflage noch angeben, welche Teile von wem stammen. Dies war vorweg noch Gegenstand vieler Diskussionen mit Stasi, Verlag usw. Der Verlag wurde dann auch bedrängt. Die hat­ten mir kurz gesagt, wir haben das Papier und die Druckkapazität für das Psychotherapiebuch, es wird auf jeden Fall ein Psychotherapiebuch erscheinen, ob Sie dabei sind oder nicht, Herr Kleinsorge ist auf keinen Fall dabei.« »Es gab dann fünf Auflagen des Buches, die noch zu DDR-Zeiten erschienen, die letzte 1988 – ein Jahr vor der Wende. Der Name Kleinsorge wurde aber gelöscht. Müller-Hegemann, Klinikdirektor in Leipzig, ist es ähnlich ergangen. Der Verlag hat auch in unserem Buch alle Stellen gestrichen, in denen Müller-Hegemann vorkam. Auch er war in den Westen gegangen und hatte dort ein Buch über die »Mauerkrankheit« veröffentlicht, also über die schweren Belastungen infolge des Mauerbaus. Ein gut bekannter Patient hier aus der Stadt, der zur Hochzeit seiner Tochter in den Westen fahren wollte und einen Antrag gestellt hatte, brach, als dieser Antrag abgelehnt wurde, noch im Passamt tot zusammen, hatte einen Herzinfarkt. Die Stasi verbreitete danach, er hätte fahren dürfen. Das war ganz typisch.«

Entwicklung der Psychotherapie in Jena Die Universitätsklinik in Jena war – nicht zuletzt dank der von Klumbies geleiteten internistischen Psychotherapie – ein psychotherapeutisches Zentrum in der DDR, in dem suggestive Methoden eine große Rolle spielten. Dies lässt sich, wie G. Klumbies erläutert, historisch erklären: »Ausgangspunkt für die Entwicklung der Psychotherapie in Jena war Binswanger, der die psychiatrische Klinik geleitet hat. Wenn man seine Bedeutung für die Psychotherapie ermessen will, muss man sich seine vier bedeutendsten Assistenten ansehen. Der eine war Hans Berger, der das EEG entwickelte und die Hirnforschung immer eng mit der Hypnoseforschung verband. Ein weiterer Assistent war Oskar Vogt, noch berühmter und bedeutender als Berger, da er immerhin vier verschiedene Hirnforschungsinstitute gründete –in Berlin, Berlin-Buch, Moskau und zuletzt in Neustadt im Schwarzwald. Dort wurde Vogt ein Institut

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von Krupp aufgebaut, nachdem er von den Nazis aus dem Berliner Institut verjagt wurde, da er – nach der Untersuchung von Lenins Hirn – beschrieben hatte, dass Lenin eine auffallend hohe Zahl von Assoziationsfasern im Gehirn gehabt hätte, was Vogt dazu veranlasste, Lenin einen ›Assoziationsakrobaten‹ zu nennen. Der dritte Assistent war J. H. Schultz, der bekanntlich das Autogene Training entwickelt und das berühmte Buch ›Die seelische Krankenbehandlung‹ verfasst hatte. Der vierte Assistent schließlich war später E. Speer, Lehrer Kleinsorges, der die Lindauer Psychotherapiewochen mitbegründet hatte und noch während seiner Anfangszeit in Lindau wöchentlich nach Jena kam, um dort Vorlesungen zu halten« [Anmerkung: Er wird wegen seines aktiven Einsatzes für die Ziele der NSDAP als Hochschullehrer 1945 entlassen, er hat keine Vorlesungen mehr in Jena gehalten]. Binswanger selbst war in Breslau bei Heidenhain zur Psychotherapie gekommen, bei dem damals auch Pawlow tätig war. Nachdem die Hypnose zum damaligen Zeitpunkt als unwissenschaftlich abgetan war aufgrund der Feststellung der Pariser Akademie der Wissenschaften, dass Mesmers Ansatz nichts mit Magnetismus zu tun hatte, beschäftigte sich Heidenhain mit der Tätigkeit des dänischen Schaubudenhypnotiseurs Hansen, der mehrere wissenschaftliche Untersuchungen auslöste, welche die Hypnose langsam wieder salonfähig machten. Einen wichtigen Einfluss hierbei hatte der Jenaer Physiologe Preyer, der u. a. in Oxford Tierhypnosen demonstrierte. Lommel gab zwei Hunden Brei zu schlucken und wollte im Röntgenbild beobachten, wie der Vorgang der Verdauung vonstatten ging. Nach einer dreistündigen Unterbrechung, in der er seine Vorlesung hielt, stellte er die Hunde wieder vor den Röntgenschirm und stellte fest, dass nicht ein Bissen aus dem Magen in den Darm übergetreten war. Erst nach seiner Rückkehr setzte sich der Speisebrei im Darmbereich fort und Lommel erkannte, die Hunde hatten – von ihrem Herrchen getrennt und im dunklen Zimmer – Angst gehabt, was den Magen dazu gebracht hatte, zu ruhen, nichts mehr zu tun. Diese Untersuchungen wiederum knüpften an die Tradition von Ludolph Krehl an, der in unserer Poliklinik die Pathologische Physiologie begründete, ehe er später an die Universität Heidelberg ging.«

Die ablative Hypnose Kleinsorge und Klumbies entwickelten die suggestiven Verfahren weiter und befassten sich auch mit dem »Theorienstreit« zwischen Suggestion (»nur symptomatisch«) und Analyse (»kausal«): »Was wir hier feststellen ist, dass sich die psychoanalytische Tätigkeit sehr häufig und auch erfolgreich ausgesprochener Wachsuggestionen bedient, dass sie aber im Allgemeinen dafür blind ist und es auch sein will.« »Ich habe mich besonders um die Schmerzbehandlung bemüht und die sog. Ablationshypnose entwickelt, damit Patienten sich ohne Hypnotiseur von Schmerzen befreien konnten. Das primäre Hilfsmittel war das Tonbandgerät. Die Krankenkasse konnte damals überzeugt werden, für unsere Patienten 13 Tonbandgeräte anzuschaffen, nachdem wir gezeigt hatten, dass die Behandlung mit der Ablationshypnose sehr viel billiger ist als die ewige Einnahme von Schmerzmitteln, Krankenhausaufenthalten und Operationen. Mit dieser Methode haben wir Phantomschmerzen, Trigeminusneuralgien, schlimmste Schmerzen behandelt. Patienten, die jahrelang Morphium erhalten hatten, haben wir mit dieser Methode bleibend von Schmerzen befreit.«

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»Wir haben die Behandlungen bei 41 Patienten mit schwersten Schmerzen (bei denen Amputationen, Leitungsanästhesien, Nervenresektionen, Laminektomien etc. vergeblich vor­genommen worden waren) durchgeführt. Bei 22 hatten wir Erfolg. Bei 19 keinen, weil eine der erforderlichen Stufen nicht erreicht wurde: Tiefenhypnose, Schmerzfreiheit, posthypnotische Wirkung, Ablation. Wir haben immer auch unsere Misserfolge beschrieben, was ich für unbedingt notwendig halte. Ich muss sagen, darauf bin ich ein bisschen stolz, dass wir solche schwer kranken Patienten mit Erfolg behandelt haben.«

Kant und Einstein Aufgewachsen in der Stadt Immanuel Kants und beeinflusst durch dessen Nachfolger, u. a. auch Lorenz, der Kants Lehrstuhl für fünf Jahre innehatte, war es selbstverständlich, dass G. Klumbies auch mit der Philosophie in Kontakt kam, die sein Wirken und seine Theorieentwicklung maßgeblich beeinflusst hat: »Etwas anderes, was ich persönlich in der Psychotherapie in Gang gesetzt habe, war, dass ich als einer der Ersten die Vererbung erworbenen Verhaltens in der Psychotherapie vertreten habe. Ich hatte das große Glück, in Königsberg durch meine Lehrer mit der Philosophie Kontakt zu bekommen. Während der ganzen Kriegszeit trug ich den ›Kant‹ und den ›Einstein‹ mit mir herum. Ich habe die Relativitätstheorie und Kant nebeneinander verarbeitet und – wie später Konrad Lorenz – die Dreidimensionalität in ihrer körperlichen und seelischen Grundlage verstanden. Die dreidimensionale Raumvorstellung ist uns angeboren wie die drei senkrecht aufeinander stehenden Bogengänge des Innenohrs – sie stimmt aber nur in gewissen Grenzen mit der Wirklichkeit überein. Ich hatte große Freude daran, dass ein Vertreter der evolutionären Erkenntnistheorie (G. Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie. Stuttgart: Hirzel, 1998) mich mit dem Motto zitiert, dass die Übereinstimmung zwischen Vernunft und Natur nicht dadurch zustande kommt, dass es in der Natur vernünftig zugeht, sondern in der Vernunft natürlich. Das habe ich in einer Arbeit über Kausalität und Finalität erläutert, die 1956 veröffentlicht wurde.«

Die Psychotherapie nach der Wende »Die Wende war der Traum meines Lebens, nicht nur weil ich Verwandte ›drüben‹ hatte. Es war mein sehnlichster Wunsch, erstens die Wiedervereinigung Deutschlands zu erleben und zweitens Königsberg wiederzusehen. Beides hat sich dann auch erfüllt. Nur in der Psychotherapie kam es etwas anders, als ich mir das vorgestellt hatte. Im Grunde wurde unsere vielseitig orientierte Psychotherapie mit ihren vielen Methoden nicht wirklich beachtet. Nach der Wende gab es plötzlich nur noch die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie, ausgerechnet jene beiden Methoden, die sich immer schon gegenseitig jeden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit abgesprochen haben (Freud: Das Symptom ist Symbol eines lebensgeschichtlich verdrängten Komplexes – Eysenck: Das Symptom ist die Neurose, seine Heilung ist die Heilung der Neurose). Dies hat mich sehr überrascht und ich habe auch mit Kollegen aus dem Westen darüber korrespondiert. Diese sagten mir – es ging ja auch um die Frage einer Wiederauflage meines Buches –, ich müsse entweder die Psychoanalyse oder die Ver-

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haltenstherapie vertreten, müsse mich entscheiden, damit das Buch auch verkauft werden könne. Sonst sei es zwar ganz interessant, aber für den, der praktisch psychotherapeutisch in unserem Kassenab­rechnungssystem arbeiten will, relativ wertlos. Am besten sei noch, wenn in jedem Kapitel stünde, wie psychotherapeutische Leistungen abzurechnen seien. Letztlich dominierten Organisationsfragen: Die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie waren vororganisiert und hatten starke Fürsprecher. Alles, was dazu in Konkurrenz stand, wurde dann plötzlich zum alten Eisen getan. Das war eine Überraschung: dass man die Psychotherapie ausschließlich unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet, das kannten wir gar nicht.« Das Gespräch mit Gerhard Klumbies, es dauerte mehrere Stunden, war eine wahre Fundgrube für Details aus der Geschichte der Psychosomatik und Psychotherapie, geradezu selbstverständlich verkörpert er klinisches Erfahrungswissen. Das aufgrund der oben berichteten Entwicklung nicht mehr aufgelegte Lehrbuch »Psychotherapie in der Inneren und Allgemeinmedizin« ist ein in vielen Teilen noch heute aktueller Versuch, die »funktionelle Seite der Organe« besser zu verstehen. Diese Seite lernte Klumbies nicht zuletzt über die Hypnose kennen, die er in bewährter Jenaer Tradition kultivierte und weiterentwickelte. Es war das Erstaunen über die körperlich-seelischen Wechselwirkungen, die Gerhard Klumbies zur Psychotherapie brachten, dieses Erstaunen ließ ihn zu einem bescheidenen und immer wissbegierigen Arzt und klinischen Lehrer werden.

1.5.2 Michael Geyer: Ehrig Wartegg (7.7.1897– 9.12.1983) – Lebenswege eines Psychologen im 20. Jahrhundert Vorbemerkung Ehrig Wartegg – Schöpfer des früher sehr verbreiteten projektiven Wartegg-Zeichentests – war von 1950 bis Ende der 1970er Jahre als Psychodiagnostiker und Psychotherapeut im Haus der Gesundheit Berlin tätig. Er hat mehrere Generationen von Psychotherapeuten dort mit der Psychoanalyse vertraut gemacht und in psychodynamischer Einzel- und Gruppenpsychotherapie ausgebildet. Der Verfasser selbst hat Wartegg während einer Hospitation im Jahre 1970 im Haus der Gesundheit kennengelernt und sehr von Warteggs besonderer Herangehensweise an den kranken Menschen profitiert. Ehrig Wartegg hat etwa ein Jahr vor seinem Tod, am 1. September 1982, im Hause seines guten alten Freundes Dipl.-Psych. Dr. phil. Horst Weigelt in Gotha vor etwa 15 Psychotherapeuten aus Thüringen einen Vortrag mit dem Titel »Wie wird man Psychologe? Ein Lebensweg in acht Bildern – Autobiographische Studie über psychodiagnostische Aspekte des 20. Jahrhunderts« gehalten und auf Tonbandkassetten festgehalten. Die Kassetten hat Wartegg anschließend seinem Gastgeber zur freien Verwendung geschenkt.10 10 Frau Ingeburg Weigelt (Gotha), die Witwe Weigelts, hat mir (ich kenne das Ehepaar Weigelt seit den 1970er Jahren) die Kassetten sowie den gesamten Briefwechsel Weigelts mit Wartegg zwischen der Erfurter Zeit Warteggs 1947 bis zu seinem Tod ausdrücklich auch zur Verwendung in diesem Buch übergeben. Ihr danke ich herzlich für diese an keine Bedingungen gebundene großzügige Geste.

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

Ein fünf Jahre vorher – am 22. April 1977 im Haus der Gesundheit Berlin – gegebener Bericht über sein Leben, der naturgemäß viele Überschneidungen enthält, ist bei Bernhardt und Lockot (Wartegg 2000, S. 95–111) bereits abgedruckt. So habe ich mich entschlossen, die wesentlichen Stationen seines Lebens auf der Grundlage des Gothaer Vortrages zusammenzufassen und nur die Passagen des Vortrages wörtlich wiederzugeben, die die frühere Berliner Darstellung ergänzen. Ehrig Wartegg verstand sich selbst nicht nur als Wissenschaftler sondern auch als Künstler. Er wollte ursprünglich Komponist werden und widmete nicht zufällig sein gesamtes Leben als Wissenschaftler einem berühmt gewordenen Zeichentest. Für eine Darstellung seines Lebens wünschte er, »man könnte den menschlichen Lebenslauf in seinem differenzierteren Sinngefüge aufzeichnen wie eine Art Orchesterpartitur«. Im Gothaer Vortrag wählt er einen anderen künstlerischen Entwurf: »Ähnlich, wie der inzwischen weit verbreitete WarteggTest sich vorwiegend qualitativ auf acht archetypisch prägnante Zeichen konzentriert, möchten wir auch unsere autobiographische Skizze in acht Bilder gliedern: 1. Böhmische Landschaft, 2. Schlösser und Fabriken, 3. Die letzte Monarchie, 4. Eremitage, 5. Schule der Weisheit, 6. Wege der Wissenschaft, 7. Arbeit und Beruf, 8. Psychotherapie.«

Das erste Bild: Böhmische Landschaft, 1897–1905, 1- bis 8-jährig Wartegg verbringt seine ersten Kindheitsjahre als Pflegling bei einer unverheirateten Schwester der Mutter im Böhmischen, einer Landschaft, die »rein zufällig [...] auch für die Kindheit Freuds und Gustav Mahlers [seines Lieblingskomponisten, M. G.] bezeichnend war«. Die Mutter hatte sich noch während der Schwangerschaft vom Vater des Kindes getrennt, einem »schmucken Dragoneroffizier vielleicht von der Uniform her und vom charmanten Auftreten ganz amüsant«, da ihr das Leben an seiner Seite »todlangweilig« gewesen sei. Sie habe einen Dresdner Industriellen, einen sehr vermögenden Erfinder und Fabrikanten der Asbestproduktion, geheiratet, dem der kleine Wartegg wohl »sehr ungelegen« gewesen sei. In Böhmen war »das Milieu idyllisch, verwöhnend. Auffällig schien dem Psychoanalytiker dabei aber die einseitig weibliche Umwelt, denn die Tante hatte nun, um das Ganze auch rentabler zu machen, zwei Mädchen, heimatlose, elternlose auch noch mit aufgenommen, so dass der Junge doch recht isoliert war.« Wartegg bringt die hier erfolgte Prägung in Verbindung mit einer diagnostischen Einschätzungen seiner späteren Lehranalytikerin Therese Benedek: »[...] frühe Desintegration elterlicher Leitbilder, introversiv verlagertes Über-Ich, ausgeprägte Selbstbeobachtung mit sensibel differenzierten Identifi­ kationen, Projektion des subjektiv phantasierten Familienromans in eine sogar objektiv ­historisch imponierende Umwelt«. Über seine Mutter sagt Wartegg, sie sei nur selten zu Besuch gekommen »und wirkte so wie eine reiche, verwöhnende schenkende, aber im Grunde fremde Tante. Der Vater lebte auch etwas abseits und erschien ziemlich gleichgültig, indifferent, war wohl auch unbedeutend«. (Die ihm 1925 von Sigmund Freud gegebene Empfehlung, vor Ausübung der erstrebten Psychotherapie eine gründliche Lehranalyse bei Therese Benedek, Leipzig, zu absolvieren, sei in diesem Zusammenhang sehr hilfreich gewesen.)

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1.5  Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen

Das zweite Bild: Schlösser und Fabriken, 1906–1911, 9- bis 14-jährig »Ziemlich abrupt besann sich die Mutter doch auf das Kind und versuchte, beim Stiefvater eine Übersiedelung durchzusetzen, die 1906 neunjährig erfolgte. Das war ein sehr plötzlicher Milieuwechsel von der empfindsamen, idyllischen Provinz in die fremde Großstadt«. Der kleine Wartegg verbringt den Rest seiner Kindheit in einem der Dresdner Albrechtsschlösser auf dem linken Elbhang, die von den reichsten Fabrikanten der Stadt bewohnt werden. In diesem Hause ist neben den Reichen der Stadt auch Richard Strauß zu Gast, der dem Neunjährigen rät, das Komponieren von der Pike auf zu lernen. Er freundet sich auf dem Gymnasium mit einem Spross des Sächsischen Königshauses an, der mit ihm ein gemeinsames Schicksal hat, nämlich »dass die Mutter dieses Prinzen, Luise von Toskana, eine Österreicherin, ihren etwas langweiligen, fadblonden Ehemann Friedrich August verlassen hatte und mit einem interessanteren Partner ins Ausland verzog. Romantisch wurde die Geschichte, weil der junge Wartegg sich in die Schwester dieses Prinzen Christian, Pia Monika, regelrecht verliebte. Und die war nun tatsächlich nachgewiesenermaßen ein Kind nicht des Königs, sondern des Fremden, Musiker oder Französischlehrer, mit dem die Luise geflüchtet war. Hier entstand nun eine Phantasie oder ein Traum: Der Junge stellte sich ­nämlich vor: Du könntest diese aparte, reizende, zu begehrende Frau, könntest sie eigentlich nur gewinnen, wenn du selbst ein Prinz wärst, aber es bestünde eine Möglichkeit, und das trat dann im Traum regelrecht auf: Du musst mindestens wie der Prinz auf der Brust einen silbernen Stern haben. Niemals hat später der Psychologe das erreicht«.

Das dritte Bild: Die letzte Monarchie, 1912–1919, 15- bis 22-jährig Der 15-jährige Wartegg entscheidet sich – in Anlehnung an seinen leiblichen Vater – für die Offizierslaufbahn und kommt in die Kadettenschule nach Dreiskirchen bei Wien. »Dem Psychologen später erschien das doch als sehr wesentlich für sein entstehendes Interesse für die Gruppendynamik. Es war erlebte Gruppendynamik, könnte man sagen«. Ein erfahrener Lehrer schätzt Wartegg wegen seiner sprachlichen Begabung und rät ihm von der Offizierslaufbahn ab. Der Erste Weltkrieg beginnt und Wartegg erzählt die Geschichte einer Verwundung durch einen russischen Scharfschützen und seinen Einfall, den Maria-Theresia-Orden, den man nur bekommt, wenn man auf irreguläre Weise eine Schlacht gewinnt, durch einen Sabotageakt im russischen Hauptquartier hinter den feindlichen Linien, bei dem er den feindlichen General umbringen will, zu erringen. Da er den Plan weitererzählt und die Vorgesetzten davon erfahren, wird er zunächst als Spion verdächtigt, schließlich gibt ihm ein Vorgesetzter, der Spaß versteht, einen unbedeutenden Orden und kommandiert ihn an einen südlichen Frontabschnitt nach Italien. Hier lernt er den Bruder Zitas, der Frau des letzten Kaisers von Österreich, kennen, die angesichts der drohenden Niederlage das Reich erhalten will und über ihren anderen Bruder, Sixtus, der bei der Entente diente, heimlich einen Separatfrieden zwischen Österreich und der Entente anzubahnen versucht. Diese sog. Sixtus-Affaire ist historisch bezeugt. Wartegg, der von Zita wegen seines »Schweizer Namens« (ein Schloss in der Schweiz hat diesen Namen) ausgesucht wird, spielt eine Rolle als Kurier.

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

Nach dem Krieg kommt er nach Graz. »Ich lernte da in Graz den später weltberühmten Dirigenten Karl Böhm kennen. Ich zeigte ihm meine harmlosen Kompositionen, Versuche großer Sinfonien, die er lächelnd beiseiteschob und meinte: ›Na, wissen Sie, junger Mann, mit dem Komponieren wollen wir mal eine Weile warten. Jetzt setzen Sie sich erst mal ans Klavier und üben schön exakt und gewissenhaft das Spiel der beiden Hände, das selbständige Spiel der beiden Hände. Kleine Bach’sche Fugen und Inventionen. Dann wollen wir weitersehen.‹ Schon das war mir nicht so recht, denn ich hatte ja große Pläne und wollte ja komponieren. Tatsächlich habe ich auch späterhin so ein richtig exaktes Klavierspiel niemals erreicht«.

Das vierte Bild: Eremitage »Die Mutter hatte sich schon 1913 vom zweiten Ehemann ebenfalls getrennt, und etwas labil und vielleicht auch verstiegen, wie sie war, verliebte sie sich in einen bedeutend jüngeren Italiener, heiratete ihn, übersiedelte nach Mailand. Dort lernte ich so nebenbei bei einem Besuch Toscanini kennen, von dem ich noch heute einen Dirigentenstab aufbewahre«. Nach der Scheidung der dritten Ehe der Mutter 1920 »meine ich mit Eremitage den Rückzug aus einem bisher recht vielfältigen und dramatischen Leben in besinnliche Isolation eines Schwarzwaldhauses [...]« Hier begegnet er dem Philosophen Hermann Keyserling, dem Verfasser vom »Reisetagebuch eines Philosophen« und dem Gründer der sog. »Schule der Weisheit« in Darmstadt. »Ich lernte dort kennen: C. G. Jung, Max Scheler, Thomas Mann, Rabindranath Tagore, für den komponierte ich auch noch einen Teil seiner Lieder, und, was nicht so ganz zufällig war, die Maler Paul Klee und Kandinsky. Sie vermuten schon, dass daraus dann, aus so vielfältigen Eindrücken und Einflüssen, eben auch die Konzeption des Zeichentests erwuchs. Außerdem lernte ich dort, auf diesem einsamen Häuschen [...] eine schwarzhaarige, leidenschaftliche, leicht französische Elsässerin kennen. [...] Marion selbst war so energisch und rigoros wie meine Mutter [...]. Dem bin ich ausgewichen. Wie und ob erfolgreich, das zeigt das nächste Kapitel – das fünfte Bild«.

Das fünfte Bild: Schule der Weisheit »In diesem Kreise lernte ich nicht nur bedeutende Persönlichkeiten kennen, mit denen ich mich, wie man analytisch meinte, vielfältig differenziert identifizieren konnte. Es wurde also die Gefahr einer Isolation oder auch Spezialisierung gemindert. Wichtiger war, dass ich im Kreise der Jungianer, die dort auch verkehrten, dem Sinologen Richard Wilhelm begegnete, der dort ein Referat hielt über das altchinesische Orakel- und Weisheitsbuch ›Yi-king‹. Hier nun in Auseinandersetzung mit dieser chinesischen Zeichen- und Symbolsprache entstand unter dem Eindrucke des Referats der Zeichentest. Mein Gedanke war nämlich: Wie ist das möglich, dass man mit so paar wenigen Strichen, wie das in diesem Buch geschieht, die ganze Philosophie begründen, aufbauen, erweitern, die ganze Welt, das Leben, den Menschen erklären will [...]. Wie ist es möglich, dass sich dies so lange hielt und solche Konsequenzen hat – etwas müsste doch dran sein. Man müsste also auch Zeichen finden, die vielleicht aber jetzt nicht so abstrakt, obskur und symbolisch sind, sondern konkreter widerspiegeln menschliche Verhaltensweisen. Ganz konzentriert müsste in wenigen Stri-

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1.5  Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen

chen und Ansätzen der Mensch angeregt werden, sich mit Qualitäten, mit Positionen auseinanderzusetzen. Aber dies dürfte nicht nur deutend geschehen, wie da in diesem Orakelbuch, sondern man müsste gestalten. Man müsste in Auseinandersetzung mit jeder dieser acht Einzelqualitäten dem Leben begegnen – tätig begegnen und in der Weiterführung sich entäußern, kundtun, sein persönlichstes Temperament, seine persönlichsten Möglichkeiten und Stellungnahmen. Das Leben, das reale, das wirkliche Leben, müsste sich widerspiegeln in dieser Gestaltung. Dies wurde in dem kleineren Kreise bedeutender Menschen lebhaft diskutiert, und ich selbst hatte Zweifel, ob das nicht doch noch etwas zu phantastisch und weltfremd wäre. Da begegnete ich dem alten Philosophen Max Scheler, Autor von ›Stellung des Menschen im Kosmos‹, und der meinte: ›Na, junger Mann, da brauchen Sie keine Bedenken zu haben, denn da gibt’s alte Vorgänger, bedeutende Leute, die ganz Ähnliches gewollt haben, z. B. den guten Leibniz. Sie wissen wohl gar nicht, dass der dieses Buch Yiking ganz genau studierte, dass er sogar darüber, was ja sehr schwierig war in der Zeit, mit einem chinesischen Kaiser korrespondierte und dass ihm plötzlich der Einfall kam, man müsste Zeichen finden, die sog. Universalia, ja Charakteristika, die irgendwie über die Welt der Zahlen hinausreichen und sehr konzentriert den Menschen und die Welt erfassen. Die müsste man finden und validieren. So genau derselbe Gedanke. Aber er hat’s nicht ausgeführt, sondern er hat stattdessen, statt der Universalia, die mathematische Infinitesimalrechnung erfunden und vieles, vieles bedeutende andere‹.«

Das sechste Bild: Wege der Wissenschaft, 1925–1937, 28- bis 40-jährig »Es setzt also da ein, worauf ich schon Bezug nahm, bei der Begegnung mit Sigmund Freud. Mit der psychoanalytischen Literatur hatte ich mich schon in der isolierten Schwarzwaldsituation auseinandergesetzt. Ich hatte schon erwähnt, dass Freud erstaunlicherweise interessiert Anteil nahm, obwohl ich ja eigentlich weder Arzt noch Psychologe und ganz unbedeutend war und mich persönlich an den Leipziger Kreis überwies. Etwas später kam ich ja auch nicht nur wegen der Lehranalyse, sondern beruflich nach Leipzig an das psychologische Institut und hatte nun eine Mittelstellung: Auf der einen Seite Student der Psychologie, auf der anderen Seite Kontakte mit den von der Fachpsychologie ja wenig anerkannten Psychoanalytikern. Dies ergab eine konkrete Dialektik, denn ich hätte mich ja auch entscheiden müssen zwischen analytischer und experimentalpsychologischer Fragestellung. Es blieb also seitdem immer etwas in der Schwebe: Bin und werde ich ein Forscher oder wirke ich als Psychotherapeut? Die Analytikerin selbst, Therese Benedek, meinte: ›Na ja, jetzt haben Sie ja Gelegenheit, hier in der Lehranalyse, wie das ja Freud auch meint und fördert, Ihre Mutterprobleme und Ihre Mutterübertragungen realiter abzureagieren.‹ Ich selbst hatte schon damals manche Bedenken, ob diese Theorie der Übertragung, also diese Freud’sche Kerntheorie, von der Funktion des Analytikers im Rahmen einer persönlichen Übertragung, ob die gültig sei. Ich meinte nämlich, man müsste ja wohl bedenken, dass ein Einzelner kaum in der Lage sei, alles das, was jemand erlebt – man denke nur an meine vielfältige Biographie und die vielen Bezugspersonen –, das alles auf sich zu nehmen und im persönlichen Gespräch auszutragen. So entstand dann bei mir der Plan und die Idee, lange bevor das sonst bekannt war, von der Gruppentherapie«.

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1. Kapitel  |  1945–1949: Nachkriegszeit

»Die Atmosphäre des Leipziger Institutes selbst war etwas romantisch emotional. Die wenigsten heute wissen wohl noch etwas von der Ganzheitspsychologie Felix Krügers, also die Idee, dass das Wesentliche an der menschlichen Entwicklung nicht, wie bei Freud, sexuell, sondern emotional motiviert sei. Dieser Gedanke wäre vielleicht jetzt oft wieder dienlich. Die Psychologen, auch wie ich neulich feststellte, gerade am Leipziger Institut, haben dafür gar kein Verständnis, sondern sind mehr mathematisch orientiert. Was die persönliche Entwicklung betrifft, erlebte ich nach der Stiefvaterproblematik, so wie sie, wie die Psychoanalytiker meinten, zum zweiten Mal eine Auseinandersetzung mit einem männlichen Gegner. Und das war der Kinderpsychologe Hans Volkert, von dem man vielleicht heute gar nicht mehr viel kennt und weiß«. (Anmerkung: Dr. Hans Volkert war der fanatischste und eifrigste Wortführer des Nazitums an der Leipziger Universität. Wartegg versucht sich anzupassen und tritt in die NSDAP ein. S. a. } Abschnitt 1.3.3 über die Leipziger AG der DPG.) »Er selber [Volkert] war etwas degeneriert, als Persönlichkeit recht fragwürdig, und charakteristisch war für ihn, dass er heimlich sich, man könnte sagen, fast in infantil-lüsterner Art mit den Schriften Freuds auseinandersetzte. Die hatte er noch in der Nazizeit auf dem Dachboden liegen, aber realiter bekämpfte er mich als Vertreter der Freud’schen Psychoanalyse und infolgedessen irgendwie jüdisch beeinflusst, aufs Schärfste. Es ging so weit, dass man mich so wie einen Verbrecher anthropologisch untersuchte auf die Rassenzugehörigkeit. Es wurden also Profile erfasst mit allen Messgeräten, die den nordischen Anteil feststellen sollten. Glücklicherweise war der untersuchende Anthropologe mir ganz wohlwollend gesinnt und stellte dann im Gutachten fest: ›Na ja, also das, was man als ostbaltisch vermutet, was in der breiten Gesichtsform ja wirklich möglich ist, dieser slawische Einschlag, das ist eigentlich nicht so zu verstehen. Die genauen Messungen ergeben eine Art fälischen Einschlag. Na ja, das ist zwar nicht nordisch, aber als breites Gesicht noch einigermaßen tragbar.‹ Es nützte nichts. Ich wurde auf Betreiben Volkerts 1938 als Assistent gekündigt. Sehr wesentlich war noch die Begegnung mit dem Kulturphilosophen und Psychologen August Vetter, der mit mir Assistent war und ebenfalls entlassen wurde. Der hatte auch eine gewisse Bedeutung auch für die Verbreitung des Zeichentest und mit ihm gemeinsam haben wir auch in der Leipziger Zeit diesen Einzeltest erweitert, u. a. durch den Deutungstest, den Sie vielleicht gar nicht mehr kennen, das heißt, ein modifizierter Rorschach-Test, wo die Klecksbilder nicht mehr so diffus geboten werden, sondern mit ganz bestimmten Fragestellungen, und dann den Erzählungstest, welcher angefangene Geschichten, so ähnlich, wie die angefangenen Zeichnungen, gestaltend weiterführt. Das Ganze war schon so der Ansatz zu einem Testsystem. Es hatte praktische Folgerungen. Der Vetter, der da als Assistent auch entlassen wurde und schon viele Beziehungen zu Psychotherapeuten hatte, ging an das Berliner Psychoanalytische Institut und hat dort während der ganzen Kriegszeit mit einer sehr interessanten, eigentlich heute noch aktuellen Fragestellung, die Tests kombiniert angewendet, also nicht nur den Zeichentest, sondern auch den Erzählungstest und den Deutungstest«.

Das siebte Bild: Arbeit und Beruf, 1938–1949, 41- bis 52-jährig »Die Entlassung aus dem akademischen Hochschuldienst [hatte] auch ihre positiven Seiten. Sie nötigte mich, von der etwas unklaren Position des Forschers oder Psychotherapeuten

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umzuschalten auf eine mehr praktische Berufsausrichtung. Ich fand konkrete Beziehung zur Welt der Arbeit und der Berufe mehr als bisher durch Übergang vom Institut und von dem psychoanalytischen Kreis zur Berufsberatung in Erfurt. [...] nicht zufällig [klärte sich] auch endlich das bisher recht strittige Problem der Partnerschaft. Ich fand eine sehr bescheidene, ausgeglichene, gütige, mütterliche Ehefrau, die nach Meinung der Psychoanalytiker – ja aber eben auch so ziemlich bewusst – als Gegentyp der unsteten, problematischen Mutter gewählt worden sei. Diese Konsolidierung in familiärer und beruflicher Hinsicht ermöglichte dann vielleicht auch eine geradlinigere Entwicklung. Auch selbst in wissenschaftlicher Hinsicht. Ich hatte am Arbeitsamt und am Landesarbeitsamt Erfurt die Aufgabe und auch selbst die Ambition, die damals doch etwas technisch spezialisierten, nüchternen Eignungsprüfungen, Berufseignungsprüfungen, charakterologisch zu orientieren, also ganzheitlicher zu gestalten, was nicht nur durch Einfügung der Persönlichkeitstests, des Zeichentests und der anderen Tests geschah, sondern was in Ausführung einer Untersuchungsserie alle bisherigen Berufseignungsverfahren zusammenfasste unter charakteriologischem Aspekt. Erst viel später habe ich erfahren, dass in der Schweiz Franziska Baumgarten auch diese charakteriologische Tendenz praktizierte, dass ich also nicht allein dastand.«

Das achte Bild: Psychotherapie »Die Berufsberatung wurde schon 1945 im Rahmen der ganzen Umorganisation aufgelöst [Anmerkung: Hier verschweigt Wartegg, dass er wegen seiner Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen wurde]. Ich war also zunächst arbeitslos und fand dann aber guten natürlichen Anschluss an die frühere Phase der Psychoanalyse durch die Wiederbegegnung mit dem Psychoanalytiker Scheunert, der in Erfurt eine Praxis hatte und gemeinsam mit mir diese Praxis ausbaute [...] [Anmerkung: Scheunert hatte ebenfalls eine Lehranalyse bei Therese Benedek in Leipzig absolviert.] Die ermöglichte also doch auch empirische Erfahrungen, die mir den Übergang nach Berlin zum Haus der Gesundheit erleichterten. In diesem Hause, kann man nun sagen, und dies würden ja auch die Analytiker bestätigen, hat sich der Lebenslauf und auch die Persönlichkeit wesentlich stabilisiert. Von der älteren Dynamik, Dramatik und Dialektik blieb höchstens übrig die Auseinandersetzung zwischen zwei extremem Persönlichkeiten, nämlich zwischen Wartegg und dem Ärztlichen Direktor Höck. Charakterologisch könnte man sagen, dass es kaum größere Gegensätze geben kann, denn der eine blieb immerhin doch vorwiegend besinnlich, forschend, emotional, phantasiebetont, introvertiert und der andere ist der so ausgesprochen Extravertierte, der praktischrealistisch-tüchtige Organisator. Man könnte meinen, dass da, psychoanalytisch betrachtet, der Stiefvaterkomplex wieder aufgerührt worden wäre und es erhebliche aggressive Auseinandersetzungen gegeben hätte. Dass dies nicht der Fall war, das liegt daran, dass der eine Teil, nämlich ich, vorsichtig, gutmütig, verträglich und anpassungsfähig war, aber auch, andererseits, dass ich den Gegenpol und diese andere Persönlichkeitsstruktur auch wirklich objektiv schätzte. Ich habe dann manchmal in der Gruppe, wenn wir so die Positionen besprachen, auch den Patienten gesagt: Na ja, ich muss Ihnen raten und darauf hinweisen, dass ich selbst so drei Stufen im Leben erlebte: Das erste Mal merkte ich, na ja, es gibt ja also Leute und Typen, die sind so vollkommen anders als ich, und das hat mich regelrecht geär-

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gert. Aber ich war eigentlich zu schwach dazu, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Darum habe ich den Ärger in mich hineingefressen. Dies brachte wenig ein. In der zweiten, etwas reiferen Phase versuchte ich, den anderen etwas näher und objektiver zu betrachten und stellte fest: Na ja, vieles ist ja eben anders, aber wenn ich schon nicht so verstehe, na dann kann ich’s humorvoll und ironisch von mir absetzen, für mich ja nicht maßgeblich. Die dritte und letzte Phase besteht aber darin, dass ich die Andersartigkeit objektiv anerkenne. Dass mir manches sogar imponiert, obwohl ich sicher bin, dies persönlich nie zu erreichen. Die ist eine eigentliche reife Phase und schafft nicht nur persönliche Überlegenheit, sondern ermöglicht auch einen fruchtbaren, wechselseitigen Kontakt mit dem Gegentyp. So bin ich also durch meinen unmittelbaren Vorgesetzen nicht gehindert, sondern in jeder Hinsicht gefördert worden. Ich hatte die Möglichkeit für Reisen und Kongresse und habe nun besonders in der Zeit von 50 bis 60 fast jedes Jahr die Kongresse der westlichen Gesellschaft für Psychologie und auch internationale Kongresse besucht. Die wesentlichen Stadien dieser mehr theoretischen als objektivierten Entwicklung waren nun schon im Zeichen des Selbst die Auseinandersetzung mit der Pawlow’schen Reflextheorie, und es wurde ja objektiv auch als eine Art naturwissenschaftliche Entdeckung anerkannt, dass die Tatsache, dass man beim Kinde im Zeichentest bestimmte, rein reflexive Phasen als normal nachweisen kann, die dann als pathogen, neurotisch bis psychotisch beim erwachsenen Patienten wiederkehren. Das war eine, also vielleicht nicht überall noch ganz verstandene Erkenntnis. Das zweite am Zeichentest bedeutsame war die Entdeckung der Normreihe, d. h. die Tatsache, dass die Lösungen inhaltlich nicht unendlich variieren, sondern dass jedes Zeichen ganz bestimmte Lösungen nahelegt, die sich nun auch sogar statistisch mathematisch erfassen lassen. [...] Im Unterschiede also zu den, zumal in den letzten zwei Jahrzehnten etwas extrem spezialisierten mathematischen, statistischen Methoden meinte ich immer schon, dass man vergleichen, objektivieren können müsste [...]. In diese Richtung mündete dann die letzte Forschung auch in eine Gliederung und Sammlung aller sprachlichen Begriffe, der verfügbaren Adjektiva, Partizipia und Substantiva, ein. Bei den Letzteren fand nun über die Jahrtausende hinaus eine Begegnung, Rückbesinnung und Weiterführung in Auseinandersetzung mit dem von mir immer schon verehrten Theophrast statt. So wie dieser mit wenigen Hauptwörtern – Heuchler, Schmeichler, Feigling – präzise seine alten Athener charakterisierte und sich dabei mit ihnen natürlich auch kritisch aus­ einandersetzte, so wie die Dramatiker durch Jahrhunderte hindurch Ähnliches – man denke an Homer und Shakespeare, aber auch an die neuste Zeit – immer wieder zu konzentrieren versuchten, so meinte ich, müsste ich [...] nicht nur durch die experimentellen Testbefunde, von der lebendigen Sprache her irgendwie erfassen und deuten, interpretieren auch unser eigenes problematisches Jahrhundert. Dies also wäre wohl nicht nur der Lebenslauf eines Psychologen, sondern auch die psychodiagnostische Sicht eines gefährdeten Jahrhunderts.« Ehrig Wartegg trat zwar in den letzten Jahren seines Lebens nicht mehr öffentlich in Erscheinung, blieb aber bis zu seinem Tod 1983 bei seinen Schülern und Kollegen ein geschätzter Gesprächspartner. Wie er Therapie und Forschung im Haus der Gesundheit beeinflusste, wird in den Beiträgen von Seidler, Hess und Kruska in späteren Kapiteln des Buches dargestellt.

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2. Kapitel

1950–1959: Pawlow und die Folgen

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2.1  Überblick

2.1

Michael Geyer: Überblick

Der Sozialismus soll in der jungen DDR im Schnelldurchgang entstehen. Die Arbeiterschaft wird durch immer höhere Normen drangsaliert. Gleichzeitig wird mit erheblichem Druck versucht, die private Wirtschaft und Landwirtschaft in Produktionsgenossenschaften oder halbstaatliche Unternehmen umzuwandeln. Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 bringt diesen Prozess zunächst in ein langsameres Tempo. Die Parteiführung wird durch rüde, ideologisch verbrämte Positionskämpfe erschüttert. Schauprozesse dienen dem Ziel, die Partei unter straffe Kontrolle der Führenden zu bekommen. Alfred Katzenstein, 1954 aus den USA zurückgekehrt, leidet unter den Folgen der gegen Westemigranten geführten Prozesse.11 Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die im Osten verbliebenen ausgebildeten Psychoanalytiker wie Alexander Mette und Müller-Hegemann (Berliner Institut) oder der auf einen Lehrstuhl nach Ostberlin berufene Walter Hollitscher aus dem Wiener analytischen Institut lassen sich zur ideologischen Speerspitze der SED gegen die Psychoanalyse instrumentalisieren und werden zu Wegbereitern einer durch Stalin politisierten Form des Pawlowismus, der der Partei als Grundlage eines etwa zehn Jahre währenden Versuches dient, die ostdeutsche medizinische Wissenschaft zu sowjetisieren.12 Dass diese ehemaligen Psychoanalytiker im Laufe der folgenden Jahre von orthodoxen stalinistischen Ideologen links überholt und ins Abseits gestellt wurden, gehört zur Logik des Konfliktes, in dem diese Personen ihr Leben verbringen. Einer der militantesten Kritiker der Psychoanalyse ist Robert Havemann, späterer Dissident, damals noch stalinistischer Philosoph. Irgendwann sitzen sie dann alle vier gemeinsam zwischen allen Stühlen. In Jena (Kleinsorge und Klumbies), Halle/Saale (Crodel), Leipzig (Müller-Hegemann, Beerholdt), Dresden (Born) und Ostberlin (Höck, Wartegg) bilden sich psychotherapeutische Kristallisationskerne, die einerseits an die Psychoanalyse und die Traditionen der deutschen ärztlichen Psychotherapie und der Psychosomatischen Medizin (von Bergmann, Siebeck, von Weizsäcker u. a.) anknüpfen, andererseits vordergründige Anpassungen an den Pawlowismus vornehmen. Diese Zentren bieten bald Ärzten und Psychologen regelmäßige psychotherapeutische Weiterbildungen an. Nach Heidelberg im Westen (1950) werden in den folgenden Jahren in Leipzig und Jena die ersten ostdeutschen universitären stationären Psychotherapie-Abteilungen gegründet, in denen nach außen hin anfangs die politisch 11 So wird der Westemigrant Franz Dahlem 1953 der Fraktionsbildung gegen das Ulbricht-Regime beschuldigt und aus dem Führungsgremium der SED ausgeschlossen. 12 Torsten Rüting (2002) beleuchtet das weltanschauliche Fundament der stalinistischen Gesellschafts­ pyramide und legt die Legitimationsfunktion Pawlows als naturwissenschaftliche Ikone des sowjetischen Herrschaftssystems bloß. Die Utopien des Maschinenzeitalters zielten auf den permanent perfektionierten Proletarier, einen roboterhaften Stachanow aus der Matrize. Der Takt der Technik sollte seinen ­Biorhythmus disziplinieren, bis sie ihm gleichsam zur zweiten Natur geworden war. Als Schöpfer dieser Idealgestalt galt im »Neuen Russland« Iwan Pawlow. Er symbolisierte die Utopie von der totalen Konditionierbarkeit des »Neuen Menschen« und zielte auf ein funktionales Gegenmodell zum humanistischen Persönlichkeitsideal. Seine »Reflexologie« prägte die Massensuggestion totalitärer Propagandaapparate und floss auch in die behaviouristische Verhaltenspsychologie der kapitalistischen Demokratien und in die Werbung ein.

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

k­ orrekte Schlaftherapie nach Pawlow durchgeführt wird. In Wirklichkeit bewegen sich Kleinsorge und Klumbies in Jena weiter auf traditionellen Wegen des ärztlichen Hypnotismus und Harro und Margit Wendt in Leipzig folgen zunehmend der psychodynamischen Linie. Die offene Grenze in Berlin ermöglicht noch den deutsch-deutschen Austausch. Die Lindauer Psychotherapiewochen bleiben für einige Jahre ein Ort der Gemeinsamkeit zwischen Ost- und Westdeutschen. Unbeeindruckt von ideologischen Einflüssen entwickelt der aus der Frankfurter Psychiatrieschule stammende, durch seine Klassifikation der schizophrenen Psychosen bekannte Psychiater und Psychotherapeut Karl Leonhard zunächst an der Erfurter Nervenklinik und dann an der Charité in Berlin sein Konzept der Individualtherapie der Neurosen, das wesentliche Elemente der modernen Verhaltenstherapie enthält und für einige Jahre das am häufigsten angewendete Verfahren in der Behandlung von schweren Phobien und Zwangsstörungen wird. In diesem Jahrzehnt wird der Westen zur Zuflucht der ostdeutschen Eliten. Bis zum Mauerbau sind allein 50 % der ostdeutschen Ärzteschaft in den Westen geflohen. Der ununterbrochene Aderlass über die offene Grenze bedroht die Existenz der DDR. Das Regime muss sich abgrenzen von der Bundesrepublik, zunächst ideologisch und wirtschaftlich, dann aber möglichst auch wissenschaftlich. Bereits am Ende des Jahrzehnts zeichnet es sich jedoch ab, dass alle Versuche scheitern, die medizinische Wissenschaft politisch zu indoktrinieren bzw. sie zu sowjetisieren. So verschwindet die Schlaftherapie als klinische Anwendungsform des Pawlowismus – genau so schnell wie sie gekommen war – bis Anfang der 1960er Jahre fast gänzlich aus dem Methodenarsenal der DDR-Psychotherapeuten. Die klassische psychodynamisch orientierte ärztliche Psychotherapie mit den sie immer begleitenden autound fremdsuggestiven Methoden, die neuen Formen der Gruppenpsychotherapie und die Individualtherapie nach Leonhard bestimmen die Praxis.

2.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1950–1959 1950 Dietfried Müller-Hegemann beginnt seine Tätigkeit in Leipzig, entwickelt die »Rationale Psychotherapie« und die Schlaftherapie nach Pawlow in Abgrenzung zur Psychoanalyse. Ehrig Wartegg bekommt eine Stelle an der Psychotherapeutischen Beratungsstelle des Hauses der Gesundheit und zieht von Erfurt nach Ostberlin. Kurt Höck verlässt für mehrere Jahre das Haus der Gesundheit Berlin und setzt seine internistische Facharztweiterbildung an der Charité fort. Frühjahr: Beginn der jährlichen Psychotherapiewochen in Lindau unter der Leitung von Ernst Speer. Bis zum Mauerbau werden regelmäßig Psychotherapeuten aus der DDR teilnehmen (Crodel, Höck, Kleinsorge, Klumbies, Christa Kohler, Marchand, Margit und Harro Wendt u. v. a.).

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2.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1950–1959

28. Juni–04. Juli: Pawlow-Konferenz der Akademie der Wissenschaften und der Medizinischen Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau (Stalin hatte die Lehre Pawlows nach dessen Tod zum Dogma für alle Lebenswissenschaften, einschließlich der Psychologie, Pädagogik und Kybernetik, gemacht). K. M. Bykow entwickelt – nach Pawlow – für die Theorie der Psychotherapie die »kortiko-viszerale Pathologie« in Abgrenzung gegen die Psychosomatik angloamerikanischer Prägung. Die Schlaftherapie nach Pawlow wird von A. G. Iwanow-Smolenski vorgestellt. Die Konferenz ist von der stalinistischen Selbstkritik führender sowjetischer Wissenschaftler geprägt, die sich angeblich der »Entfaltung der Ideen und Lehren Pawlows« widersetzt ­hätten. 20.–24. Juli: III. Parteitag der SED mit der Vorgabe, die »Errungenschaften der Sowjetwissenschaften« und den dialektischen Materialismus in der Wissenschaft der DDR durchzusetzen. Die SED initiiert die » Pawlow-Kampagne« als Rahmen für eine Sowjetisierung der DDR-Wissenschaften. September: Klumbies und Kleinsorge publizieren in der Zeitschrift »Medizinische Klinik« ihre psychophysiologische Studie »Das Herz im Orgasmus«. Es ist die einzige deutsche Forschungsarbeit, die im Kinsey-Report »Das sexuelle Verhalten der Frau«, der 1953 in den USA erscheint, erwähnt wird. 18. September: Beschluss der Mitgliederversammlung der DGPT (Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie) in Braunschweig: »Die in der Ostzone lebenden Mitglieder« sollen keine Aufforderung zum Beitritt erhalten. Das sind: Alexander Beerholdt (Leipzig), Alexander Mette (Weimar), Milla von Prosch (Kallinchen), Martha Schultze (Görlitz), Erich Tiling (Berlin-Ost), Hildegard Walter (Wittenberg), Leonore Szmula (Jena), Heinrich Stoltenhoff (Arnsdorf bei Dresden), Herbert Weigel (Leipzig), Karl Sothmann (Berlin-Ost) (Bernhardt u. Lockot 2000). 19. Oktober: Herbert Weigel aus Leipzig, Anhänger Schultz-Henckes, tritt nach über 20-jähriger Zugehörigkeit nach der Gründung der DPV aus der DPG aus. Gerhart Scheunert, der Erfurt bereits im Winter 1948/49 verlassen hat, befindet sich in Westberlin und gehört zu den Gründungsmitgliedern der DPV.

1951 01. Mai: Alexander Beerholdt gründet die Abteilung für Psychotherapie an der Großpoliklinik Nord in Leipzig und bleibt bis 1968 ihr Leiter, Gerhard di Pol wird sein Nachfolger. Bis zu seinem Tod am 03. November 1976 führt Beerholdt psychoanalytische Behandlungen durch. Trotz Rückzugs hält Alexander Mette losen Kontakt zur – nach der Abspaltung der DPV – sich neu konstituierenden DPG (Felix Boehm). Robert Havemann veröffentlicht in der »Einheit« eine vernichtende ideologische Kritik der Psychoanalyse und kritisiert die angeblich zu psychoanalysefreundliche Haltung Walter Hollitschers (s. den Beitrag von Seidler } Abschnitt 1.4.1.2). An der Charité-Nervenklinik hält Richard Heidrich (er wird 1958 Nachfolger von Leonhard auf dem Neuropsychiatrischen Lehrstuhl in Erfurt), der bei Schultz-Hencke in Westber-

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

lin eine Lehranalyse begonnen hat, fakultative Vorlesungen »Autogenes Training« für Medizinstudenten. 2. Jahreshälfte: Eröffnung einer ambulanten Psychotherapie-Abteilung an der Medizinischen Universitätspoliklinik Jena. Aus der Jenaer Tradition von O. Binswanger und J. H. Schultz werden Hypnose und Autogenes Training von Hellmuth Kleinsorge und Gerhard Klumbies weiterentwickelt. Erste Versuche mit der Pawlow’schen Schlaftherapie in Jena und Halle (Crodel). 17. Dezember: Müller-Hegemann wird die kommissarische Leitung der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig übertragen, wird direkter Nachfolger des sich vehement wehrenden bekannten Hirnforschers Richard Arwed Pfeiffer (1877–1957) und besitzt damit den ehrwürdigen Lehrstuhl von Paul Flechsig. Pfeiffer bleibt zunächst in der Klinik und betreibt weiter eine Privatstation in der Emilienstraße, die als Heimstatt der geplanten Psychotherapie-Abteilung bestimmt wird.

1952 Die Habilitationsschrift Müller-Hegemanns von 1951 »Die Psychotherapie bei schizophrenen Prozessen« erscheint als Buch im Leipziger Hirzel-Verlag. 05.–10. Mai: Im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewoche hält Klumbies Vorträge über seine psychophysiologischen Forschungen und die Psychotherapie des Internisten. 21. Juni: Dietfried Müller-Hegemann propagiert auf der Tagung der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie in Leipzig seine »Rationale Psychotherapie«. Juli: Sehr widerstrebend und bis zuletzt kämpfend verlässt Pfeiffer die Klinik. Damit ist der Weg zur Einrichtung der Psychotherapie-Abteilung in seiner Privatstation frei.

1953 01. Januar: Dietfried Müller-Hegemann gründet an der Leipziger Universitätsklinik eine stationäre Psychotherapie-Abteilung. Es ist nach Heidelberg die zweite stationäre universitäre Behandlungseinrichtung in Deutschland. Die ehemalige Privatstation Pfeiffers in der Emilienstraße 14 wird ihre erste Heimstatt. Zunächst besteht eine Frauenstation mit acht Betten, die wenig später durch eine gleichgroße Männerstation ergänzt wird. Hier wird Müller-Hegemann die Schlaftherapie nach Pawlow beispielhaft für die DDR entwickeln. Als Abteilungsleiter wird Harro Wendt ernannt, der neben der Schlaftherapie bald auch psychodynamische Therapieansätze einzuführen versucht. 15.–16. Januar: Pawlow-Tagung in Leipzig mit 1800 Teilnehmern. Verabschiedung der »wichtigsten Leitsätze zur Pflege und Nutzbarmachung der Pawlow’schen Errungenschaften in der Deutschen Demokratischen Republik« . Walter Hollitscher prangert die Lehre Freuds als wissenschaftsfeindlich und antihuman an. Eine staatliche Pawlow-Kommission, die die Pawlow’sche Lehre in der DDR durchsetzen soll, wird etabliert. Als Psychotherapeuten werden Alexander Mette, Dietfried Müller-Hegemann, später auch Alfred Katzenstein berufen.

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2.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1950–1959

05. März: Tod Stalins. In der DDR wird kurz danach der Kurs der Sozialisierung und Verstaatlichung in Industrie und Landwirtschaft weiter verschärft. Gleichzeitig werden die Arbeitsnormen der Industriearbeiter verschärft. Am 17. Juni kommt es zu Aufständen, die mit Hilfe sowjetischer Panzer niedergeschlagen werden. Die Regierung vermindert daraufhin die Geschwindigkeit des Prozesses der Umwandlung der DDR in eine sozialistische Gesellschaft. Kleinsorge und Klumbies beginnen jährliche Fortbildungslehrgänge in Psychotherapie in der Medizinischen Universitätspoliklinik Jena mit rasch wachsender Teilnehmerzahl, insgesamt werden in den folgenden Jahren 23 Kurse durchgeführt.

1954 Frühjahr: Alexander Mette beginnt seine Universitätskarriere mit einer Professur und einem Lehrauftrag für Psychotherapie an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1. Jahreshälfte: Arbeitstagung über »kortiko-viszerale Regulationen« in Leipzig, erster Erfahrungsaustausch über die Therapie nach Pawlow, insbesondere die Schlaf­ therapie. Gründung einer »Arbeitsgemeinschaft der Psychologen im Gesundheitswesen der DDR« zur Artikulierung organisatorischer und berufsrechtlicher Fragen gegenüber dem Mi­nisterium für Gesundheits- und Sozialwesen bzw. dem für Universitätskliniken und Medizinische Hochschulen zuständigen Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen (30 Mitglieder).

1955 Dietfried Müller-Hegemann veröffentlicht sein Buch »Zur Psychologie des deutschen Faschisten«. Kurt Winter (Besprechung zu: Dietfried Müller-Hegemann, Zur Psychologie des deutschen Faschisten. Greifenverlag Rudolstadt 1955, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (6) 3/1958, S. 465–473, hier: S. 473) kritisiert scharf, generell vertrete Müller-Hegemann die »fehlerhafte Konzeption, den Faschismus auch psychologisch erklären zu wollen«. Das Buch ist in wenigen Wochen vergriffen. Eine überarbeitete Nachauflage 1957/58 scheitert an ideologischen Bedenken, die Müller-Hegemann nicht akzeptieren kann. Dieser Vorgang dient Müller-Hegemann später (1971) u. a. zur Begründung seiner Flucht in den Westen. 01. Juni: Karl Leonhard, weltbekannt durch seine Beschreibung der sog. zykloiden Psychosen (im Verbund mit einer Neuklassifikation schizophrener Psychosen), nimmt von Frankfurt am Main aus einen Ruf für die Professur für Psychiatrie und Neurologie an der Medizinischen Akademie Erfurt an und beginnt, seine »Individualtherapie der Neurosen«, eine der modernen Expositionsverhaltenstherapie ähnliche Behandlungsform, zu entwickeln (s. a. die Beiträge von Neumärker und Sitte in diesem Kapitel). Oktober/November: Der Volksaufstand gegen das kommunistische Regime in Ungarn wird blutig niedergeschlagen. Allerdings erhält Ungarn in der Folgezeit das liberalste Staatswesen aller Länder im Einflussbereich der Sowjetunion.

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

1956 Arnold Zweig schreibt zum 100. Geburtstag Sigmund Freuds im Maiheft der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« den Aufsatz »Die Natur des Menschen Sigmund Freud«. Im gleichen Heft erscheint »Das Motiv der Kästchenwahl« von Sigmund Freud (Bernhardt u. Lockot 2000). Erst 1981 wird es wieder eine Publikation mit Freud-Texten geben (Fühmann u. Simon 1981). XX. Parteitag des KPdSU mit »Entstalinisierungs-Rede« von Nikita Chruschtschow. Alexander Mette wird Leiter der Hauptabteilung für Wissenschaft im Ministerium für Gesundheitswesen. Alexander Mette gibt zum 100. Geburtstag von Sigmund Freud dessen Biographie im Verlag Volk und Gesundheit heraus. Erst 1989 erscheint wieder eine Freud-Biographie (Kästner u. Schröder 1989). Kurt Höck übernimmt auf Bitten Ehrig Warteggs die Leitung der Psychotherapie-Abteilung des Hauses der Gesundheit Berlin, die droht, wegen Ineffektivität der durch analytische Einzeltherapie gekennzeichneten Versorgungsangebote geschlossen zu werden (die Mitarbeiter können einfach nicht genug Patienten behandeln). Höck beginnt mit Gruppenpsychotherapie.

1957 Dietfried Müller-Hegemann gibt das erste Psychotherapielehrbuch der DDR heraus. Er definiert Neurosen darin als »reversible kortikale Störungen von bestimmter Chronizität«, die »durch überstarke Außenreize und andere Überlastungen des Kortex zustande kommen, in erster Linie, wenn in ihm gegensätzliche Erregungs- oder Hemmungsprozesse aufeinanderprallen«. 01. Juli: Karl Leonhard (s. vorn) folgt dem Ruf an die Humboldt-Universität zu Berlin, entwickelt seine »Individualtherapie der Neurosen«, eine der modernen Expositionsverhaltenstherapie ähnliche Behandlungsform, weiter und beginnt, Zwangsneurosen und Phobien stationär in der Charité-Nervenklinik zu behandeln (s. a. die Beiträge von Neumärker und Sitte in diesem Kapitel).

1958 Alexander Mette wird Mitglied des Zentralkomitees der SED, bleibt es allerdings nur bis 1963.

1959 1. Januar: Das »Gehaltsabkommen über die Vergütung für Hochschulkader im Gesundheitswesen«, in dem die Psychologen neben Chemikern, Physikern und anderen Akademikern mit den Ärzten gleichgestellt werden, tritt in Kraft. Frühjahr: Karl Leonhard eröffnet an der Nervenklinik der Charité eine psychotherapeutische Abteilung mit 50 Betten und entwickelt dort seine »Individualtherapie der Neurosen« weiter.

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2.3  Stationäre Psychotherapie in den 1950er Jahren

19. Juli: Anna Freud schreibt ihren letzten Brief an Arnold Zweig in die DDR (Bernhardt u. Lockot 2000). 05.–08. November: VIII. Fortbildungslehrgang in Psychotherapie der Medizinischen Universitätspoliklinik Jena mit ca. 70 Teilnehmern unter Leitung von Kleinsorge. Erfolgs­ berichte über »Rationale Psychotherapie«, oft mit »Ruhehypnose und Autogenem Training« kombiniert, geben Hofmann und Klumbies, der auch »Traumanalyse« einbezieht. Bauer arbeitet mit dem Wartegg-Zeichentest, dem Rorschach-Deutetest, mit Katathymem Bilderleben und Hypnose. Höck stellt die Problematik von Gruppenpsychotherapie dar, die, nach seinem historischen Überblick am Beginn einer dritten psychiatrischen Revolution stehe. Wartegg führt »intentionales Training« als verkürzte, gezielte Gruppentherapie zur »kollektiven Realanpassung« zum Ausgleich von biographisch regulierenden Verfahren durch (Bernhardt u. Lockot 2000). Kleinsorge und Klumbies geben ihr Buch »Psychotherapie in Klinik und Praxis« im Münchener Verlag Urban & Schwarzenberg heraus. Neurosen werden als Fehlanpassungen aufgrund abnormer Erfahrungen, die so weitgehend sind, dass eine selbständige Korrektur nicht mehr gelingen würde, interpretiert (S. 328).

2.3

Stationäre Psychotherapie in den 1950er Jahren13

2.3.1 Infrid Tögel: Die Psychotherapie-Abteilung an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig 1952 wurde Dietfried Müller-Hegemann kommissarischer Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig, 1957 wurde er Direktor und erhielt den entsprechenden Lehrstuhl. D. Müller-Hegemann war von seiner Ausbildung her psychotherapeutisch interessiert und veranlasste 1953 die Gründung einer psychotherapeutischen Abteilung. Mit der Leitung wurde Harro Wendt beauftragt, der von seiner Ausbildung her ebenfalls psychotherapeutisch sehr interessiert war. Vor der Eröffnung der Psychotherapie-Abteilung in Leipzig hatte dieser sich einige Wochen in der Tübinger Klinik aufgehalten, die damals von Ernst Kretschmer geleitet wurde. Dort gab es auf Initiative von E. Kretschmer eine stationäre Psychotherapie. Über deren Gestaltung und Prinzipien sollte sich H. Wendt informieren. Zeitweise arbeitete auch H. Wendts Frau Margit, die ebenfalls psychotherapeutisch interessiert und psychoanalytisch orientiert war, als Stationsärztin an dieser Abteilung mit.

13 Die Entwicklung der stationären Psychotherapie an der Medizinischen Universitätsklinik Jena, ebenfalls einer Gründung der 1950er Jahre, wird im 1. und 3. Kapitel vom Mitbegründer dieser Einrichtung, Gerhard Klumbies, und im 3. Kapitel von Margit Venner dargestellt.

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

D. Müller-Hegemann verfasste das erste Lehrbuch für Psychotherapie in der DDR: »Psychotherapie – Ein Leitfaden für Ärzte und Studierende« (1957). Er bezeichnete die von ihm bevorzugte Form der Psychotherapie als »Rationale Psychotherapie«, wobei Einsicht und übende Verfahren eine wesentliche Rolle spielten. Analytischen Richtungen stand er distanziert gegenüber; in der Klinik ging das Gerücht, das hänge damit zusammen, dass er bei seiner Lehranalyse bei H. Schultz-Hencke einmal eine Stunde lang schweigend auf der Couch gelegen habe. Auf Initiative von D. Müller-Hegemann erfolgte 1960 in Leipzig die Gründung der »Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in der DDR«, der von Beginn an eine Sektion Klinischer Psychologen zugehörte. Die Gründung der Leipziger Psychotherapie-Abteilung 1953 erfolgte in einer Zeit, als die Reflextheorie Pawlows politisch zur theoretischen Leitlinie der Psychologie erklärt ­worden war. Die herkömmliche Psychologie wurde als »bürgerliche Psychologie« negativ bewertet; die Schulpsychologen und die Psychologen beim Arbeitsamt wurden abgeschafft. Ehrig Wartegg benannte damals seinen Zeichentest in »Reflexographische Zeichenprobe« um. Die psychotherapeutische Arbeit musste also auch unter dieser ideologischen Vorgabe erfolgen. Wie die Tätigkeit faktisch gestaltet wurde, war davon nur sehr bedingt abhängig. Immerhin stand die an der Pawlow’schen Konzeption orientierte Schlaftherapie in der Arbeit dieser Abteilung zunächst sehr im Vordergrund. Harro Wendt hat sich dann auch mit der Arbeit »Schlaftherapie als Hilfsmittel bei der Behandlung von Neurosen« (1960) habi­ litiert. In den ersten Jahren nach Gründung dieser Abteilung wurde die Schlaftherapie auch sehr konsequent angewandt. Der Schlaf wurde mit Hilfe von Ruhesuggestionen vom Tonband (gesprochen von H. Wendt) eingeleitet, unterstützt mit Gaben des Schlafmittels Kalypnon, das nach zwei bis drei Tagen durch ein Placebo ersetzt wurde. Kalypnon gab es im Verlauf dann noch ein- bis dreimal pro Woche in absteigender Dosierung, an den anderen Tagen stets Placebos. In den ersten Jahren wurde von H. Wendt häufig Hypnose angewandt, was aber schon ab etwa 1956 sehr viel seltener vorkam. Stattdessen bekamen Einzelgespräche immer mehr Bedeutung. Diese Gespräche waren stark analytisch orientiert. H. Wendt und seine Frau bekannten sich intern ausdrücklich zu analytischen Konzeptionen, empfahlen auch die ­entsprechende Literatur. Generell spielte das Autogene Training in dieser Abteilung eine wichtige Rolle. Alle Patienten wurden zum Lernen dieses Verfahrens angeleitet. Begleitend wurden sehr bald auch andere Methoden eingesetzt, damals »psychotherapeutische Hilfsmethoden« genannt. Schon Mitte der 1950er Jahre wurde von H. Wendt Musiktherapie angewandt – allerdings nur in rezeptiver Form. Sie wurde – ähnlich wie die Ruhesuggestionen – vom Tonband in die Patientenzimmer gesendet. Später, als nach einem Umzug der Abteilung in ein eigenes Haus bessere räumliche Möglichkeiten zur Verfügung standen, wurde auch aktive Musiktherapie eingeführt, dies durch Christoph Schwabe, später wohl der führende Musiktherapeut der DDR. Ebenfalls nach dem Umzug in das neue Haus war es räumlich auch möglich, eine Gestaltungstherapie durchzuführen. Sie fand mehrfach wöchentlich für etwa eineinhalb Stunden statt. Prinzip war, dass mehrere Patienten (oft zwei bis fünf) gemeinsam an einer Aufgabe

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2.3  Stationäre Psychotherapie in den 1950er Jahren

arbeiteten: Eine wesentliche Rolle darin spielte die Gestaltung von Glasmosaik-Bildern. Dabei erarbeiteten mehrere Patienten gemeinsam einen Entwurf; Mikroskop-Objektträger wurden in kleine Glasscherben zerbrochen, die dann bemalt und auf einer stabilen Grundlage befestigt wurden. Entscheidend waren dabei die Interaktionen zwischen den Patienten, die im Hinblick auf die Art der Kommunikationsprozesse von dem begleitenden Therapeuten beobachtet und den Patienten kommentierend dargelegt wurden. Von Anfang an spielte auch Physiotherapie eine Rolle – zunächst (da kein Raum für Gruppen zur Verfügung stand) als Einzeltherapie, wobei von vornherein aktives Üben im Vordergrund stand. Später (als es einen Raum dafür gab) wurde die Physiotherapie in Gruppen durchgeführt, wobei die Physiotherapeutin Anita Kiesel (später Dr. A. Wilda-Kiesel) allmählich die Kommunikative Bewegungstherapie entwickelte. Erfahrungen aus den verschiedenen Therapieformen konnten dann in den Einzel- und Gruppengesprächen weiter bearbeitet werden. Sehr bemerkenswert war die Entwicklung der Gruppentherapie. Ganz zaghaft wurden in den 1950er Jahren erste Versuche unternommen – zunächst in geschlechtshomogenen und oft auch in symptomhomogenen Gruppen. Beratend bei der Entwicklung der Gruppen­ therapie in Leipzig wirkte gelegentlich H. Teirich aus Freiburg/Breisgau. Allmählich stellte sich heraus, dass diese homogenen Gruppen die Dynamik (wegen des gleichen »blinden Flecks«) wesentlich einschränkten, und es wurde zu symptomgemischten Gruppen über­ gegangen. Die Gruppen waren anfangs auch stark psychagogisch gestaltet und erst schrittweise fand man den Mut zu mehr Gruppendynamik. Der Schritt zu geschlechtsgemisch­ten Gruppen hatte dann sehr viel Mut erfordert – und die Überraschung war groß, als durch die Begegnung zwischen den Geschlechtern in den Gesprächsgruppen keine besonderen Schwierigkeiten auftraten, sondern sich eine konstruktive Dynamik entwickelte. Aber das Gesamtkonzept der Gruppentherapie war noch nicht prägnant dynamisch, oft war es mehr eine Behandlung »des Patienten in der Gruppe«, wobei die Gruppe als Verstärker diente. Das Gesamtkonzept der Psychotherapie-Abteilung war über die Jahre hin weitgehend durch H. Wendt geprägt und analytisch orientiert. Der biographische Hintergrund spielte bei der Diagnostik stets eine große Rolle; der Orientierung auf den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsstruktur und Belastung (Konflikt) wurde stets viel Aufmerksamkeit gewidmet. Und das Ziel der Arbeit war nicht nur Besserung auf der Symptomebene, sondern Veränderung der Haltung des Patienten, mit dem Ziel, Belastungen besser bewältigen zu können. H. Wendt war nicht die gesamte Zeit Leiter der Abteilung. Zeitweise wurde er durch seine Frau M. Wendt als Leiterin abgelöst. Etwa 1960 wurde das Verhältnis zwischen dem Klinikdirektor und dem Abteilungsleiter (H. Wendt) wegen der unterschiedlichen Konzeptionen immer gespannter, was bei Chefvisiten oft sehr deutlich wurde. Teilweise als Folge davon wechselte H. Wendt 1961 nach Uchtspringe (damals Bezirk Magdeburg), wo er die Leitung des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie übernahm und in Magdeburg eine Professur erhielt. Nach dem Weggang von H. Wendt wurde die Abteilung von Dr. med. Christa Hoppe, später Christa Kohler (und dann als Professorin Leiterin der »Selbständigen Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung der Karl-Marx-Universität

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

Leipzig und Dekanin der Medizinischen Fakultät), und während deren zeitweiliger Beurlaubung von Dr. med. Karl Seidel (später Professor an der Charité und in den 1980er Jahren Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED) geleitet. K. Seidel führte die Abteilung (obwohl fast ohne eigene Ausbildung) im Wesentlichen im Geist von H. Wendt weiter; unter C. Kohler trat die analytische Orientierung zugunsten einer allgemeineren dynamischen etwas in den Hintergrund (s. die entsprechenden Beiträge in den Kapiteln 3 und 4). Da D. Müller-Hegemann zugleich Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft im Gesundheitsministerium war, kamen oft auch hochrangige Patienten nach Leipzig zur Therapie: die Frau eines stellvertretenden Ministerpräsidenten, ein Minister, der Leiter einer Vereinigung Volkseigener Betriebe mit etwa 300.000 Betriebsangehörigen, der Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik beim ZK der SED. Dadurch bekamen die Mitarbeiter der Abteilung auch gewisse Einblicke in Probleme auf Führungsebenen, die in den Massenmedien sonst völlig tabu waren. Die menschliche Seite auch dieser Persönlichkeiten wurde sehr deutlich sichtbar. Eine Erfahrung im Hinblick auf äußere Bedingungen war noch bemerkenswert. Die Abteilung arbeitete seit der Gründung bis etwa 1960 unter sehr einfachen Bedingungen: räumlich sehr beengt, keine Räume für Gruppen- oder Bewegungstherapie; einfachste Möbel – nur durch neuen Anstrich aufgewertet; im Umfeld eine Gaststätte (in der es abends Lärm gab), eine Druckerei und eine Brauerei, wo Maschinen liefen und LKWs fuhren. Trotz dieser Einschränkungen war Ende der 1950er Jahre die sog. »Schlaftherapie« – als Kürzel für die Psychotherapie-Abteilung – ein Begriff in Leipzig geworden. Die Kapazität war angesichts des großen Bedarfs aber zu gering und die Arbeitsbedingungen waren kaum noch akzeptabel. Die Klinikleitung wandte sich deshalb an den Rat der Stadt Leipzig und bekam eine große Villa mit viel Nebengelass und parkähnlichem Garten in der Karl-TauhnitzStraße 25 zugewiesen. Alle Umbauten und die Einrichtung durch einen Innenarchitekten wurden mit Lottogeldern finanziert. Die für die 1950er Jahre komfortable Ausgestaltung erregte allgemeine Bewunderung. Damit existierten nun 34 stationäre Behandlungsplätze. Als neues Kürzel der Abteilung bürgerte sich der Name »KT« ein. Gemessen an den bisherigen Bedingungen waren die äußeren Gegebenheiten im neuen Haus also nahezu herrschaftlich. Vor diesem Umzug tauchte bei Begegnungen mit Kollegen der Verdacht auf, dass die Patienten dann aus diesem schönen Haus wohl gar nicht gern nach Hause gehen würden und dadurch vor geplanten Entlassungen mehr Schwierigkeiten auftreten könnten. Dies war jedoch nicht der Fall. Aber eine unerwartete Folge trat ein: Die Ansprüche der Patienten stiegen erheblich. Während vorher kaum Kritik an den äußeren Bedingungen geübt worden war, wurde jetzt viel öfter kritisiert: Irgendwo sei es nicht sauber genug, das Essen sei zu kalt oder komme zu spät usw. Es hat einige Zeit gedauert, bis die Therapeuten mit dieser Situation angemessen umgehen konnten. (Mir drängen sich dabei Parallelen zu der Entwicklung nach 1990 auf und der generelle Gedanke, dass Bedürfnisse/ Ansprüche ins Unermessliche steigen können.)

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2.3  Stationäre Psychotherapie in den 1950er Jahren

2.3.2 Klaus-Jürgen Neumärker: Die »Individualtherapie der Neurosen« von Karl Leonhard in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité Berlin Vorbemerkung Karl Leonhard (1904–1988) gilt neben Carl Wernicke (1884–1905) und Karl Kleist (1879– 1960) als ein markanter deutschsprachiger Vertreter der Neuropsychiatrie des 20. Jahrhunderts. Zum 1. Juni 1955 hatte er eine Berufung nach Erfurt als Direktor der Nervenklinik an der Medizinischen Akademie erhalten und folgte zum 1. Juli 1957 der Berufung an die Humboldt-Universität zu Berlin. Hier übernahm er von seinem Vorgänger Rudolf Thiele (1888–1960) das Amt des Direktors der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité. Bis zu Leonhards Emeritierung 1970, letztlich bis an sein Lebensende, standen Fragen der endogenen Psychosen unverändert im Mittelpunkt seines Interesses. Sein Buch über die Aufteilung der endogenen Psychosen, erstmals 1957 im Berliner Akademie-Verlag erschienen, erlebte Auflage um Auflage. Es erschien schließlich unter Einbeziehung der »Differenzierten Ätiologie« mit erweitertem Titel, als er die »Klinik und Ätiologie der frühkindlichen Katatonie« mit einbezog. Durch Übersetzungen ins Englische, Italienische, Japanische, später ins Spanische, erreichte die Verbreitung der Ansichten Leonhards über die endogenen Psychosen internationales Ausmaß.

Leonhards Beschäftigung mit den Neurosen und der Psychotherapie Verfolgt man Leonhards Publikationsaktivitäten in zeitlicher Reihenfolge, wird erkennbar, dass er ab Mitte der 1950er Jahre Themen über akzentuierte Persönlichkeiten, psychogene Störungen oder neurotische Entwicklungen mit zunehmendem Interesse und Engagement bearbeitete. Erstmals findet sich 1956 das Wort »Psychotherapie« in einer Leonhard’schen Publikation. Es handelt sich um Band 8 der DDR-Zeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie«. Auf den Seiten 131 bis 134 ist ein Vortrag »Über das Vorbeiträumen und seine Bedeutung in der Psychotherapie« abgedruckt, den Leonhard am 9. Oktober 1955 auf der Tagung der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena gehalten hatte. Nach einer fach­ lichen Auseinandersetzung zum Thema »Traum« mit S. Freud, C. G. Jung, A. Adler und L. Binswanger, denen Leonhard einen »Missbrauch des Traums« vorhält, da für sie der Traum »zu einer Art Spielplatz [...] der Tiefenpsychologie mutiert sei«, setzt er seine Auf­ fassung über die »eigenartige Tatsache« entgegen, »dass der Traum mit seinen Gedanken das Erlebnis des Wachens wiederholt, das Traumbild aber regelmäßig daran vorbeigeht«. Er bezeichnet dies als »Vorbeiträumen« und deklariert ein »Gesetz des Vorbeiträumens«. Für die Praxis bedeutet es nach Leonhard, dass »die Kranken keinerlei Scheu haben«, ihre »Erlebnisse und Gedanken« zu erzählen und so den Psychotherapeuten dazu verhelfen, »viel schonender zu den seelischen Konflikten der Patienten« vorzudringen, »als in einfachen analysierenden Gesprächen«. Von daher stellt das Vorbeiträumen »eine wertvolle Hilfe in

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

der Psychotherapie« dar. Leonhard belegt dies, wie in nahezu all seinen Arbeiten, mit einer Reihe von Kasuistiken. Die sich im Nachgang zu seinem Vortrag entwickelnde kritische Diskussion, geführt von Max Müller und Gerhard Klumbies, ist in der Publikation nachzulesen. Leonhards Antrittsvorlesung in Berlin am 29. Oktober 1957 hat weder das Thema endogene Psychosen noch Träume oder Psychotherapie zum Inhalt – und dennoch ergeben sich hierzu Bezugspunkte. Leonhard spricht über die »psychologische Entwicklung zum Selbstmord« und publiziert 1959 das erste und einzige Mal in einer Zeitschrift für Psychotherapie (Leonhard 1959b). Der Inhalt seines Beitrages ist bemerkenswert. Am Beispiel Suizid wird auf die Tatsache hingewiesen, dass nicht einmalige Erlebnisse für den Suizid verantwortlich zu machen sind, sondern »eine psychologische Entwicklung die Voraussetzung dafür darstellt, dass Affekte hohe Grade erreichen«, »dass das Wechselspiel der Gefühle«, »das ständige Schwanken zwischen den Polen, zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Erfüllung und Versagen« als Ursache des Suizids anzusehen ist. Die Gesamtheit dieser Überlegungen und Erfahrungen wird für Leonhards zukünftige Arbeiten auf dem Gebiet der Neurosen und deren Therapie grundlegende Bedeutung erlangen.

Leonhard und die psychotherapeutische Abteilung Mit der Übernahme des Direktorats der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité 1957 hatten zwar Leonhards theoretische Konzeptionen über die Möglichkeiten der Entstehung von Neurosen und deren Therapie zunehmend Gestalt angenommen, es fehlte bislang aber ein institutioneller Rahmen, um sie in die Praxis umzusetzen. In seinen Erinnerungen »Meine Person und meine Aufgaben im Leben« schreibt er hierzu: »Eine psychotherapeutische Abteilung für Erwachsene gab es in Berlin noch nicht, als ich die Klinik übernahm. Ich hielt ihre Einrichtung zunächst auch gar nicht für nötig, indem ich mich dahin äußerte, auf jeder der psychiatrischen Abteilungen sei Psychotherapie durchzuführen. Ich hatte natürlich Recht, zu sagen, dass auch psychotisch Kranke psychotherapeutisch betreut werden müssen, aber dies geschah doch in ganz anderer Form als bei neurotisch Kranken, so dass es schwierig ist, beide Therapien nebeneinander durchzuführen. Bei leichteren Neurosen«, schrieb Leonhard, »musste ich mich völlig von der Neigung abwenden, eine vorgegebene Abnormität sei die Voraussetzung für die neurotische Entwicklung. Ich blieb lediglich bei der Meinung, dass bestimmte Eigenheiten zur Neurose disponieren, aber Eigenheiten, die durchaus normal sind.« Und Leonhard fährt fort: »Aufgrund meiner neu erworbenen Kenntnisse musste ich eine psychotherapeutische Abteilung gründen« (Leonhard 1995, S. 69, 70). Die Realisierung erfolgte bereits 1959. Die Abteilung umfasste 50 Betten und befand sich im Hinterhaus der Klinik. »Die Betten waren«, wie Leonhard schreibt, »schnell belegt«. Dies betraf auch »zwei kleinere Zimmer« mit sieben Betten, die aber »aus dem Betrieb der Abteilung herausgenommen waren«. Hier erfolgte die Unterbringung von Patienten aus Theater, Film und Dichtkunst. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass man Leonhard, dem »zugereisten Fachmann aus der BRD«, in seinem Einzelvertrag vom Staatssekretariat für Hochschulwesen der DDR vom 20. Juli 1957 unter § 2 neben einem »Gehalt von monatlich DM 3.600,–« die »Ausübung einer Privatpraxis in der Klinik entsprechend seinen Wünschen« schriftlich

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2.3  Stationäre Psychotherapie in den 1950er Jahren

zusicherte (Archiv der HU Berlin: PA Karl Leonhard, Bl. 31). Die Privatpraxis und die stationäre Behandlung betraf in den folgenden Jahren aber nicht nur Patienten mit »Neurosen«, sondern auch solche mit neurologischen und anderen psychiatrischen Erkrankungen. Das Problem des damaligen Ärztemangels löste Leonhard für seine psychotherapeutische Abteilung dahingehend, dass er auf freie Arztstellen drei Psychologinnen und einen Psychologen einstellte, die gerade ihr Examen beendet hatten. Allerdings, so Leonhard, hatten sie von Psychotherapie, »vor allem der von mir durchgeführten Psychotherapie kaum eine Vorstellung«. Das theoretische Rüstzeug bestand zunächst in der Pflichtlektüre des von Leonhard verfassten und am 22. Oktober 1959 vom VEB Gustav Fischer Verlag Jena in einer »ersten Auflage von 800 Exemplaren zum Ladenpreis von DM 6,35« aufgelieferten Heft 19 der »Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiet der Psychiatrie und Neurologie« mit dem Titel »Individualtherapie und Prophylaxe der hysterischen, anankastischen und sensohypochondrischen Neurosen« (Archiv HU Med. Fak., Band 7). Hier wird erstmals die »Individualtherapie« beschrieben, wie sie von den Psychologen unter ärztlicher Anleitung durch Leonhard und seiner Oberärztin B. Bergmann konsequent realisiert wurde. Bergmann, die Leonhard aus Frankfurt am Main gefolgt war, habilitierte sich zur Aufgabenstellung passend über »Kombiniert abnorme Wesenszüge in neurotischen Reaktionen«. Der Beitrag erschien 1961 in Buchform. Bereits 1963 publizierte Leonhard mit seinen Mitarbeitern (Abb. 1) in dem Buch »Individualtherapie der Neurosen« eine »Statistik, die über mehr als 500 Fälle« vorweisen konnte. Sein Interesse an den Psychosen, insbesondere den zykloiden Psychosen, an Fragen der Neuropsychologie und biologischen Psychologie, an den Krankheiten »berühmter Menschen«, an »normalen und abnormen Persönlichkeiten« hielt er aufrecht und belegte dies mit Vorträgen, Zeitschriftenbeiträgen und Büchern. Dennoch, den Neurosen und ihrer Individualtherapie galt seine besondere Aufmerksamkeit. Mit seinem in erster Auflage 1963 erschienenen Buch über »Kinderneurosen und Kinderpersönlichkeiten« (Leonhard 1963b) erfährt das Gebiet über die Lebensalter hinweg seine Abrundung. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie und ob die Leonhard’sche Vorgehensweise mit Beginn seiner Berliner Zeit erklärbar ist. In seinen Erinnerungen schreibt er hierzu: »Ich erarbeitete nach früheren Behandlungen von Zwangsneurosen, die schon in die Zeit meiner Frankfurter Tätigkeit fallen, in vielen eine eigene Methodik aus [...] Ich sprach von Individualtherapie und grenzte mich dadurch von anderen Psychotherapien ab. Der Name sollte zum Ausdruck bringen, dass die Behandlung in jedem Fall der Individualität des Patienten und der Individualität, d. h. besonderen Form der Neurose, angepasst werden muss«. Leonhard sah die Aufgabe »für einen psychotherapeutisch tätigen Arzt« darin, »echt Kranke zu heilen, das heißt echte Neurosen zu behandeln«. Handelte es sich aber bei den von ihm differenziert beschriebenen einzelnen Formen endogener Psychosen nicht auch um »echte Psychosen«, um »echt Kranke«? Sollte sich seine bisherige ärztliche Erfahrung dahingehend verfestigt haben, dass eine Heilung bei diesen »echt Kranken« trotz aller differentialdiagnostischer Einschätzungen bis auf die zykloiden Psychosen nicht optimal zu realisieren war? Die damaligen Therapieformen endogen schizophrener Krankheiten gaben gegenüber den Neurosen Anlass zu eher pessimistischen Reflexionen. Um dem zu entgehen, um seinem inneren Bedürfnis nachzukommen, »psychische Spannungssituationen« durch seine, wie er selbst

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behauptete, »übergenaue anankastische Wesensart« möglichst zu vermeiden, konnte eine intensive Beschäftigung mit den Neurosen und deren Individualtherapie auch bei Leonhard nachhaltig positive Akzente setzen. Und so führte er im Vorwort der »Individualtherapie der Neurosen« (Leonhard 1963a) im März 1963 aus, dass die »eigentliche, ich möchte sagen, die einzige Aufgabe« der Ärzte und Psychologen in den psychotherapeutischen Abteilungen darin besteht, »Neurotiker zu heilen«. Wie vorausschauend und modern Leonhard dachte und handelte, belegen seine Worte: »Nach diesen Erfahrungen möchte ich es wirklich – ich betone es noch mal – für dringend notwendig ansehen, dass jede psychiatrische Klinik eine eigene Abteilung zur Behandlung der Neurosen einrichtet.«

Inhalt und Methodik der Individualtherapie Leonhards Bereits in seiner 1959 erschienenen Monographie brachte Leonhard zum Ausdruck, dass nicht von »der Neurose« ausgegangen werden kann, dass »neurotische Grundformen« existieren, zu denen er zu diesem Zeitpunkt die hysterische, anankastische und sensohypochondrische Neurose zählte, die einer Individualtherapie bedurften. Differenziert unterschied Leonhard später zwischen idiohypochondrischen Neurosen, »wenn die Krankheit in der Idee, in der Befürchtung oder Überzeugung besteht«, und sensohypochondrischen Neurosen, »wenn sie mit subjektiven Missempfindungen einhergehen«. Ausführlich ging er bei seiner Individualtherapie 1963 auch auf die Behandlung »der Anorexia nervosa und beim Zwangserbrechen« ein. Seine Behandlungsmethodik hat für diese damals noch nicht weitverbreitete Krankheit richtungweisenden Charakter. Er macht deutlich, dass »zuerst der normale Ernährungszustand hergestellt werden muss« und man sich »dann erst psychotherapeutisch mit der allgemein neurotischen Haltung der Patienten« beschäftigen kann. Auch wenn er »damit sicher nach Auffassung vieler am falschen Ende« die Therapie beginnt, zeigen sich, so Leonhard, »vor allem Kinder für eine psychotherapeutische Behandlung ungleich aufgeschlossener, wenn man sie erst einmal körperlich geheilt hat und dabei zu einem Vertrauensverhältnis gekommen ist«. Einen breiten Raum nehmen die Behandlungsgrundsätze der psychogenen Impotenz und der hysterischen Neurosen sowie der »infantil-pseudohysterischen Neurose« ein, bei der »das Infantile die Persönlichkeit und die Reaktionsweise biologisch lenken«. Einzig bei den hysterischen Neurotikern soll nicht nur das Symptom, sondern die »Wesensart« beeinflusst werden. Man muss bestrebt sein, ihn in seiner »inneren Haltung umzuerziehen«. Da bei den hysterischen Neurosen oftmals eine »zweite neurotische Komponente vorhanden ist [...] häufig depressive Züge [...] eine zyklothyme Persönlichkeit« zu verzeichnen ist, spricht Leonhard die besondere Bedeutung der Differentialdiagnose der Neurosen im Allgemeinen an, setzt sich aber ebenso ausführlich mit der »Individualprophylaxe der Neurosen« auseinander. Generell wird nach Leonhard die »Art der Neurose mehr von der inneren Struktur des Menschen als von dem äußeren Geschehen« bestimmt. Persönlichkeiten zum Zwecke der Klärung ihrer Neurose zu durchschauen, so Leonhard, ist schwierig. Es verwundert von daher nicht, wenn er die Auffassung vertritt, dass »man die Neurose in der Regel erst dann durchschaut, wenn man auch die Wesensart des neurotischen Menschen durchschaut«. Faktoren wie die »Wesensart des Menschen«, das »Ausgangserlebnis«, das »Wechselspiel der

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Gefühle« in Form von »Bejahung und Verneinung«, der »Affekt, d. h. eine Angst, die den Kranken zwingt, etwas zu denken und zu tun, was er vom Verstand her nicht bejaht«, sind in diesem Bedingungsgefüge elementare pathogene Faktoren. Durch »Ablenkung, Belastung, Gewöhnung und Umerziehung«, durch »psychotherapeutische Gespräche, die auf die Persönlichkeitsstruktur des Neurotikers abgestimmt sind«, die ihn dazu befähigen, »unter unserer Anleitung im Grunde genommen selbst seine Heilung herbeizuführen«, und nicht »passive Methoden« wie »Hypnose, Suggestivmaßnahmen [...], d. h. alles, was der Patient nur passiv hinzunehmen hat, gibt es daher bei meiner Therapie der Neurosen nicht«, betont Leonhard. Er räumt ein, dass gerade die Therapie einer Zwangsneurose »etwas Mühevolles und Zeitraubendes« darstellt, dass »nach der Entlassung eine Rückfallgefahr besteht, da man die anankastische Neigung nicht beseitigen kann«. Mit dieser Aussage weist er auf einen methodentypischen Fakt hin, dass man bis auf die hysterische Neurose zwar die Symptome der Neurose, jedoch nicht die Wesensart des Patienten beeinflussen kann. Die »Wesensart«, die »Persönlichkeit« des Menschen, des Kranken zu erkennen, ist für Leonhard ein zentrales Anliegen, das er empirisch sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern vorerst durch »Beobachtung und Exploration« realisiert. »Mimik, Gestik und Phonik« werden in die Analyse mit einbezogen (Leonhard 1968b, 1976). Ein Jahr nach der »Individualtherapie« (1963a), erscheint in erster Auflage das Buch »Normale und abnorme Persönlichkeiten« (Leonhard 1964a), das er und 14 Mitarbeiter seiner Klinik herausgeben. Später wird das Werk unter dem Titel »Akzentuierte Persönlichkeiten« (Leonhard 1968a) weitergeführt. Es handelt sich um grundlegende Ausführungen, die der Neurosen- und Persönlichkeitsdiagnostik und der Individualtherapie dienen. Parallel zu den Inhalten dieser Bücher wird in Vorträgen und Publikationen die Thematik weiter­ geführt (u. a. von Trostorff 1963, Neumärker 1966; Leonhard 1966, 1967, 1968, 1981; Pose u. Schmieschek 1970).

Individualtherapie im Vergleich Ende 1964 hält Leonhard Vorträge in Tokio und wird mit einer in Japan seit vier Jahrzehnten praktizierten Neurosenbehandlung von Shoma Morita (1874–1938) bekannt. In der MoritaTherapie erkennt Leonhard »enge Beziehungen zu der von mir eingeführten Individualtherapie der Neurosen«. Hierüber berichtet er im Archiv für Psychiatrie (Leonhard 1965b). Die parallelen Inhalte der Therapien sieht er darin, dass »neurotische Entwicklungen – im Gegensatz zu den einfachen Reaktionen durch ein psychisches Wechselspiel entstehen, in dem ein Gefühl – am häufigsten die Angst – durch ein Hin und Her der Erlebnisse und Gedanken pathologische Grade erreicht«. In der Auffassung von Morita ist es die »antagonistische psychische Aktivität«, durch die sich krankhafte Symptome fixieren. Die Unterbrechung dieses psychischen Wechselspiels ist das »gemeinsame Ziel« beider Therapieformen (Leonhard 1965b). 1965 tritt Hans J. Eysenck (1916–1997) mit seiner »Modern Behavior Therapy«, die auf der Lerntheorie und den Prinzipien der Konditionierung basiert, an die Öffentlichkeit (Eysenck 1965). Leonhard geht unmittelbar auf Eysencks Vorstellungen ein. Gefördert werden die Möglichkeiten eines Vergleichs der therapeutischen Konzeption in der Neurosen-

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problematik durch die deutschsprachige Ausgabe des Buches von Eysenck »Neurosen – Ursachen und Heilmethoden« im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften in Berlin (Eysenck u. Rachman 1967). Den Archivunterlagen der Humboldt-Universität ist zu entnehmen, dass Leonhard in einem Schreiben vom 30. September 1964 Eysenck, der als Referent zu dem Internationalen Symposium über kortiko-viszerale Physiologie und Pathologie vom 2.–6. November 1964 in Berlin vorgesehen war, in seine Nervenklinik einlädt, die »psychotherapeutische Abteilung zu besuchen«. Leonhard weiter: »Wie Sie vielleicht wissen, habe ich eine eigene Form der Psychotherapie aufgebaut, die in mancher Beziehung Verwandtschaft mit Ihren eigenen Bestrebungen aufweist.« Am 6. Oktober 1964 schreibt Eysenck, dass er leider aus Krankheitsgründen seinen Berlin-Besuch – er war hier geboren, besuchte das Bismarck-Gymnasium, emigrierte 1934 zunächst nach Frankreich, dann nach England (Amelang 1998) – absagen muss. Die Auseinandersetzung mit der Eysenck’schen Methode blieb indessen aktuell. 1966 hatten sich zwei Mitarbeiter der Leonhard’schen ­psychotherapeutischen Abteilung, Hildegard Behrendt und H. Schmieschek, mit der Neurosenauffassung und Behaviour-Therapy in Gegenüberstellung zu den Individualtherapien positioniert (Behrendt 1966, Schmieschek 1966). Das zehnjährige Bestehen der Abteilung 1969 war Anlass, einen Überblick über die Erfolge der Individualtherapie zu geben. Im Zeitraum von 1959 bis 1963 wurden 1048 Patienten behandelt, davon konnten 64,1 % als »völlig gesund« und 29,5 % als »wesentlich gebessert« entlassen werden. Von diesen Patienten wurden sieben Jahre später 498 im Rahmen einer Nachuntersuchung erfasst. Die Katamnese führte zu dem Ergebnis: 69,4 % »völlig gesund«, 24,3 % »im Wesentlichen symptomfrei« (Pose u. Schmieschek 1970). Aufgrund dieser Ergebnisse setzte sich Leonhard in einem Grundsatzartikel 1973, ausführlich auf Eysenck und Morita eingehend, mit der Frage auseinander: »Ist die Individualtherapie eine Verhaltenstherapie?« In der Behandlung von Situationsphobien sah er »eine Verwandtschaft mit der Verhaltenstherapie«. Dennoch, so Leonhard, »zu der Auffassung, die Neurose sei erlernt, konnte Eysenck nur dadurch kommen, dass er den Affekt in der Neurose vernachlässigt; den Affekt lernt man nicht!« Vor diesem Hintergrund sah Leonhard die Überlegenheit seiner Individualtherapie darin, dass »auch echte Zwangsneurosen sowie Nosophobien und Erwartungsneurosen mit Erfolg behandelt werden«. »Aber«, so Leonhard 1973, »ich muss mit gewisser Resignation feststellen, dass heute auch in unserem Land viel mehr von Verhaltenstherapie als von Individualtherapie gesprochen wird, obwohl man die letztere doch aus nächster Nähe kennenlernen konnte und die Erfolge auch nicht bestritten hat.« Die Resignation bezog sich außerdem auf die Tatsache, dass die propagierte »in-vivo-Therapie« der Verhaltenstherapie viel früher in seiner Individualtherapie praktiziert wurde. Sie sollte bei »neurotischen Fehlhaltungen, wenn irgend möglich, von Anfang an angewendet werden, nicht erst dann, wenn die Behandlung im Sprechzimmer versagt. Sie führt bei Phobien, Zwangsneurosen und hypochondrischen Neurosen am schnellsten und am sichersten zum Ziel«. In Anspielung auf die Ausführungen von Eysenck und Rachman 1967 vermisst Leonhard bei diesen Autoren allerdings den Begriff hypochondrisch ebenso wie die Begriffe Nosophobie, Kardiophobie und Organneurose. Und so kritisiert Leonhard die Tatsache, dass die Verhaltenstherapie »nur äußere Störungen behandeln möchte, nicht innere Fehlhaltungen« (Leonhard 1976).

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Anlässlich des Symposiums der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie vom 14.– 16. November 1978 in Friedrichroda ging Leonhard auf das »therapeutische Versäumnis durch Unterlassung der Einzelbehandlung bei sekundären Fehlentwicklungen« ein (Leonhard 1979). Einleitend stellte er fest, dass »in anderen Ländern und auch bei uns [...] im Laufe der letzten Jahre die Einzelbehandlung der Neurosen zugunsten der Gruppenbehandlung stark abgenommen hat«. Gruppenpsychotherapie eignet sich für Leonhard ebenso wie die Selbsterfahrungsgruppe nicht für die Behandlung »schwerer Neurosen«, »sondern mehr der Behandlung von Anpassungsschwierigkeiten«. Wie bedeutsam für Leonhard die Auffassung über die Gruppentherapie war, belegen seine Ausführungen im Alter, als er in seiner Autobiographie »Meine Person und meine Aufgaben im Leben« nochmals mit den Worten auf sie einging: »Ich kann nur meine große Besorgnis äußern, dass durch die Ausweitung der Gruppentherapie die Behandlung echter Neurosen vernachlässigt wird« (Leonhard 1995, S. 72). Natürlich hatte er die Entwicklung der Psychotherapie national, international und in Berlin-Ost verfolgt. Es war ihm nicht entgangen, dass z. B. Kurt Höck (1920–2008) nahezu zeitgleich zu der Beschreibung seiner Individualtherapie 1959 als Ärztlicher Direktor vom Haus der Gesundheit seine Konzeption der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie realisierte. Leonhard war auch Mitautor in dem von Höck, Szewczyk und Wendt 1971 herausgegebenen Buch »Neurosen« und kannte die seit 1969 DDR-verbindliche Neurosendefinition. All dies hielt ihn nicht davon ab, seine Meinung über Neurosen und deren Individualtherapie unverändert zu propagieren. In einer der letzten Publikationen vor seinem Tod bemüht Leonhard »Goethe, Kant, Locke, Villaume«, die »die Methode unserer Individualtherapie kannten«. Er beschreibt Lockes Bewältigung von »phobischer Angst vor einem Tier« oder Goethes »phobische Angst, auf Türme zu steigen« (Straßburger Münster) »in vivo«, die er dadurch überwand, dass er den Turm immer wieder bestieg, »bis er ohne Angst und Schwindel auf der obersten Plattform stehen konnte (Leonhard 1989). Bei diesen Personen sah Leonhard die Wurzeln einer, d. h. seiner Individualtherapie!

2.3.3 Ellen Sitte: Erfahrungen mit der Individualtherapie nach Leonhard Als Professor Karl Leonhard 1957 von der Medizinischen Akademie in Erfurt an die Humboldt-Universität zu Berlin zum Direktor der Nervenklinik der Charité berufen wurde und sich neben der Neurologie intensiv der weiteren Erforschung psychiatrischer Krankheitsformen widmete, waren nicht wenige Patienten seiner stationären Patienten gar nicht endogen erkrankt. Vielmehr zeigten sie neurotische Entwicklungen. Deren Behandlung verlangte eine andere Herangehensweise, um schnellen und auch dauerhaften Erfolg zu erzielen. Für Leonhard war die Neurose das Ergebnis einer abnormen psychischen Auseinandersetzung mit äußeren Gegebenheiten. Sofern organische Ursachen für das Beschwerdebild nicht vorlagen bzw. zuvor klinisch ausgeschlossen waren, verboten sich medikamentöse und physiotherapeutische Maßnahmen. Dagegen war eine konsequente psychologische Führung unverzichtbar.

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Dieses notwendig andere Vorgehen gab 1959/60 den Anlass, eine separate, die psychotherapeutische Abteilung mit 50 Betten einzurichten. Für die Entwicklung seiner individualtherapeutischen Ideen suchte sich Leonhard Mitarbeiter aus einem Pool diplomierter Psychologen, die bei ihrer Allround-Ausbildung besonderes Interesse an klinischer Arbeit zeigten. Die im Studium nur theoretisch mit bekannten Psychotherapien vertrauten, aber noch nicht darauf festgelegten jüngeren Psychologen erschienen ihm geeignet, neue therapeutische Wege zu erproben. Sie bekamen in Zusammenarbeit mit teils auch psychotherapeutisch vorgebildeten Oberärzten die Aufgabe, die unter ihren Beschwerden stark leidenden und in ihrer Lebensführung beeinträchtigten Menschen zu heilen, die uns nicht nur aus dem örtlichen Versorgungsbereich, sondern zunehmend auch aus anderen Landesteilen zuströmten und im Laufe der Jahre auch Wartelisten füllten. Unter Führung des erfahrenen Psychiaters Karl Leonhard entwickelten seine Mitarbeiter Methoden, um in relativ kurzer Zeit Symptomfreiheit und auch dauerhaften Erfolg bei den unterschiedlichsten Neuroseformen zu erzielen: Zwangsneurosen, Situationsphobien, Nosophobien (ideohypochondrische und sensohypochondrische Neurosen), Beschäftigungsneurosen, Erwartungsneurosen, psychogener Tic, psychogene Impotenz und Frigidität, Magersucht und Zwangserbrechen. Diese sehr unterschiedlichen Beschwerdebilder erforderten natürlich auch spezielle Behandlungsstrategien, auf die in diesem engen Rahmen nicht detailliert eingegangen werden kann. Sie sind in vielen Fallschilderungen von seinen Mitarbeitern (Hildegard Behrendt, Bärbelies Bergmann, Ursula Gutjahr, Hansgeorg Schmieschek, Ellen Sitte, Hans Szewczyk, Sieglinde von Trostorff) eingehend beschrieben und können in den mehrfachen Auflagen unter dem Titel »Individualtherapie der Neurosen« von Karl Leonhard nachgelesen werden. Hier soll vorrangig Grundsätzliches, d. h. Unverzichtbares bei der Behandlung von Neurotikern zur Sprache kommen. Damit ist nicht nur die Symptombeseitigung, sondern gleichfalls eine prophylaktische Zielsetzung gemeint, um einen nachhaltigen Erfolg zu ermöglichen, einem Symptomwandel vorzubeugen. Eine selbstverständliche Voraussetzung dafür ist die sehr eingehende Exploration zum Beschwerdebild und seiner Entwicklung. Bereits am Morgen nach der stationären Aufnahme bekam Leonhard in einer etwa 20-minütigen Ärztekonferenz erste Informationen über die Neuzugänge des Hauses. Er notierte sie in seiner Kurzschrift auf mit Namen, Alter und Überweisungsdiagnose des Patienten vorbereiteten Zetteln für ein Ringbuch, das er immer bei sich hatte. Diese Aufzeichnungen dienten ihm bei seinen wöchentlichen Visiten, um den Untersuchungs- und Behandlungsfortgang zu verfolgen und mit seinen Empfehlungen zu ergänzen. Auf der Station führten die Therapeuten weitere Einzelgespräche mit den Patienten über ihre Leidensgeschichte. Die hilfesuchenden Neurotiker waren nur selten aus eigenem Antrieb gekommen, vielmehr von Hausärzten, Betriebsärzten, verschiedenen Fachärzten, meistens Internisten überwiesen worden. Sie boten die unterschiedlichsten Erscheinungsbilder, teils deutlich sichtbare, teils äußerlich weniger erkennbare (s. o.). Vielfach hatten sie damit schon mehrfache Behandlungsversuche hinter sich und trafen mit wenig Hoffnung auf Heilung bei uns ein. Aber für Leonhard galt der Grundsatz, niemanden mit Behandlungsbegehren abzuweisen, ganz gleich, wie schwierig und chronifiziert sich das Beschwer-

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debild darstellte. Gerade die schweren Fälle bedurften bevorzugt einer Therapie, weil leichtere oft auch von selbst abklingen. Die ersten Tage auf der Station galten nicht nur der Erfassung der aktuellen Situation (Beschwerden und soziale Folgeerscheinungen), sondern ebenso der Klärung ihrer Entstehungsweise. Zwar wurde auch die Kindheitsentwicklung erfragt, aber die Ereignisse zur Zeit der neurotischen Entwicklung, die Ausgangserlebnisse hatten besonderes Gewicht für die Konfliktbearbeitung und den therapeutischen Ansatz. Es bedurfte des einfühlenden Befragens und Beobachtens, um die tieferen Wurzeln der Symptomatik zu eruieren. Auch der Patient konnte dabei erfahren, welche Zusammenhänge zwischen äußerem Geschehen und seiner ihm eigenen Wesensart und Reaktionsweise zu dem Beschwerdebild geführt hatten. Auch diese Erkenntnis war ein wichtiges Moment auf dem Weg zur Heilung. Leonhard kannte die herausragende Bedeutung unterschiedlicher Reaktionsweisen der Patienten entsprechend ihrer jeweiligen Persönlichkeitsstruktur. Ihre diffizile Analyse war jeder Behandlung voranzustellen, auch um Richtung und Tempo der Therapie mitzubestimmen. So war zunächst die Unterscheidung zwischen Wunschneurosen und Befürchtungsneurosen von größter Wichtigkeit. Die den konträren Neuroseformen zugrundeliegenden Persönlichkeitsbilder können allerdings sehr verschiedenartig sein. Leonhard schildert sie eingehend in seiner Monographie »Kinderneurosen und Kinderpersönlichkeiten« und zusammen mit seinen Mitarbeitern in »Individualtherapie der Neurosen«. So unterscheidet er je nach Strebungen und Neigungen des Menschen zwischen der übergenauen, der übernachhaltigen, der demonstrativen, der stimmungslabilen, der weichherzigen, der ängstlichen und der impulsiven Wesensart. Soweit diese individuellen Unterschiede sich in normalem Maß kundtun, bezeichnet er sie als Wesenszug. Bei deutlicherer Ausprägung gegenüber dem Durchschnittsmenschen, wenn unbestrittene Besonderheit des Individuums vorliegt, bezeichnet er sie als anankastische, paranoide, hysterische, zyklothyme, emotive, hypochondrische und epileptoide Persönlichkeitsstruktur. Diese akzentuierten Persönlichkeiten versteht er aber nur im Rahmen des Normalen. Als abnorm, psychopathisch gelten nur diejenigen, die in verstärkter Weise vom Durchschnitt abweichen. Akzentuierte Persönlichkeiten machen nach Untersuchungen von Sitte bei Erwachsenen und von Gutjahr bei Kindern etwa die Hälfte der Durchschnittsbevölkerung aus. Im Vergleich zu unauffälligen Menschen haben sie die Bereitschaft zum Ungewöhnlichen, zum sozial Positiven wie sozial Negativen, was sich je nach den äußeren Umständen unterschiedlich auswirken kann. Vorzüge und Nachteile der akzentuierten Persönlichkeiten schildern Leonhards Mitarbeiter in »Normale und abnorme Persönlichkeiten« von Karl Leonhard (1964a). Dieser beschreibt sie noch ausführlicher in seinem späteren Werk »Akzentuierte Persönlichkeiten« (1968) auch mit Beispielen aus der Literatur. Er geht dabei auf die Kombination von Charakter- und Temperamentszügen ein. Die genannten charakteristischen Erlebnisweisen können mit jeweils unterschiedlicher Ausprägung in verschiedenen Kombinationen auftreten und bewirken, zusammen mit ebenso vielfältigen äußeren Verhältnissen, denen der Patient ausgesetzt ist, die Buntheit neurotischer Symptomgestaltung. Für ihre Entstehung hat die Aufschaukelung ambivalenter Gefühle eine herausragende Bedeutung, wie Leonhard mehrfach in seinen Werken betont und wie auch aus zahlreichen Fallschilderungen hervorgeht. Das Wechselspiel der Gefühle im Zusammenhang mit äuße-

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rem Geschehen aufzudecken, war das Ziel zahlreicher Gespräche, aber das Erkennen individueller Reaktionsbereitschaften musste sich auch auf Beobachtung der Ausdrucksweisen und Anforderungsbewältigung stützen. Eine besondere Rolle bei der Persönlichkeitsdiagnostik spielten Mimik, Gestik und Phonik des Patienten unter gleichzeitiger Beachtung seiner Intelligenz und seiner bevorzugten Alltagstätigkeit. Dem Mienenspiel und dem Tonfall ließ sich entnehmen, ob ein Patient ohne Bedenken, ganz hinter der Bejahung einer Frage steht oder dabei innere Zweifel an seiner Zustimmung hegt und ob umgekehrt bei der Verneinung vielleicht nur eine gespielte Echtheit vorliegt. Für einen Behandlungserfolg hätte das theoretische Wissen um die Zusammenhänge der Entstehungsbedingungen für die Neurose nicht ausgereicht. Dem Teufelskreis der Gefühle, Hoffnung und Enttäuschung, Erfolg und Misserfolg, Anerkennung und Ablehnung war so nicht zu entrinnen. Zur Unterbrechung dieses Wechselspiels bedurfte es der konsequenten Anleitung und Unterstützung einer Vertrauensperson. Durch verständnisvolle Zuwendung war zunächst die Ebene für eine vertrauensvolle Beziehung zu schaffen und ebenso deren Erhalt über alle schwierigen Etappen der Symptombeseitigung mit einer stufenweisen Ak­tivierung. Konkrete Behandlungsschritte bei der angestrebten Verhaltens- und Einstellungsänderung bestanden in Ablenkung, Gewöhnung, Umerziehung und zunehmender körperlicher und geistiger Belastung, flankiert von Gesprächen mit beruhigendem und ermunterndem Inhalt. Hierzu kurz die erforderlichen Maßnahmen: Patienten erhielten nach der stationären Aufnahme einen wöchentlich zu aktualisierenden Plan über ihre Tageseinteilung. Darin waren neben festen Zeiten für die in der Gemeinschaft einzunehmenden Mahlzeiten auch die für die individuelle Behandlung ihrer neurotischen Probleme fest vereinbarte Zeiten vorgeschrieben. Sie betrafen das Üben schwieriger Tätigkeiten (z. B. Schreiben bei Schreibkrämpfen, lautes Lesen beim Stottern, schmutzige Verrichtungen im Garten oder auf der Station bei Waschzwängen, Stadtbesorgungen bei Agoraphobien, Aufenthalt in geschlossenen Räumen bei Klaustrophobien, zunehmende körperliche Anstrengungen bei hypochondrischen Neurosen usw.). Aufgabe des Therapeuten war, mit seiner Gegenwart zu garantieren, dass die bisher nur unter größten Schwierigkeiten auszuführenden Tätigkeiten korrekt, d. h. ohne falsche motorische Handlungsweise, ohne langes Zögern, ohne Zurückweichen, ohne übermäßige Verspannung erledigt wurden. Dazu war oftmals nicht nur seine persönliche Anwesenheit erforderlich, sondern auch ein manueller Einsatz wie z. B. beim Schreibkrampf das Verhindern einer falschen Handhaltung des Patienten, beim Schiefhals Korrektur der Kopfstellung unter ablenkenden Gesprächen oder beim Vorlesen. Die Übungsbehandlung zur Umgewöhnung bei Zwangsneurosen erstreckte sich je nach Ausgestaltung (Waschzwang, Grübelzwang usw.) über viele Etappen mit allmählich erschwerten Bedingungen und mit jeweils mehrfachen Wiederholungen. Für einen dauerhaften Erfolg reichte aber die Annäherung an normales Verhalten und das Erreichen dieses Zieles noch nicht aus. Die Grenze für angemessene Verhaltensweisen musste deutlich überschritten werden. Erst diese erhöhten Anforderungen gaben dem Patienten die Sicherheit, zukünftig seinen zwanghaften Versuchungen zu widerstehen, wenn er sich an bereits Geleistetes erinnern konnte.

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Bei den Phobien spielte neben dem Üben eine geschickte Ablenkung von den ängstigenden Gedanken, die sich der Handlung beimischen wollten, eine besondere Rolle; bei den Nosophobien konnten sportliche Aktivitäten, die mit Ausdauer ausgeführt wurden, körperliches Selbstvertrauen und Sicherheit schaffen. Für Ablenkung von neurotischen Gedankengängen sorgten auch kulturelle Unternehmungen. Arbeitstherapeuten standen für handwerkliche und künstlerische Anleitungen bereit sowie Physiotherapeuten für die Organisation sportlicher Unternehmungen. Auch das Pflegepersonal war geschult, auf die Einhaltung von Vereinbarungen zu achten. Sozialarbeiter konnten gelegentlich Wohnungsund Arbeitsprobleme lösen helfen. Alle an der Behandlung Beteiligten tauschten untereinander ihre Erfahrungen aus und kooperierten zum Wohle der Patienten. Die Behandlungsdauer war nicht von vornherein festgelegt, sollte sich vielmehr am Erfolg orientieren und auch an dessen Stabilität, die mit ambulanten Nachbetreuungen abgesichert wurde. Die Sozialgesetzgebung ermöglichte chronifizierten Fällen auch eine über die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von sechs Wochen hinausgehende stationäre Behandlung und Nachsorge. Ziel der Behandlung war die volle Rehabilitation im Bereich der Familie und der Berufswelt. Viele Patienten hatten aufgrund ihrer neurotischen Beschwerden ihre häuslichen Aufgaben nicht mehr in der gewünschten Weise erfüllen können. Viele fühlten sich darüber hinaus eingeschränkt, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, Ausbildung und Berufstätigkeit fortzusetzen, kulturelles Leben zu genießen. Ihr gesamtes Erleben war eingeengt. Aber auch ihre Umwelt war davon indirekt mitbetroffen. Angehörige und Arbeitskollegen wie Freunde sahen in den Beschwerden Anlass zur Rücksichtnahme und minderten damit die Motivation für eine Umgewöhnung. Auch diese sozialen Kreise mussten gelegentlich zu einer Einstellungsänderung aufgefordert werden, um bei der stationären Entlassung Erreichtes nicht erneut zu gefährden. In der regelmäßig verabredeten ambulanten Nachbetreuung wurde gerade auf diese Aspekte der Rehabilitation Wert gelegt. Die Nachsorge erfolgte in mehrwöchigen Abständen, wurde dann in Abhängigkeit des subjektiven Befindens des Patienten und seiner äußeren Umstände gelockert. Für die differenzierte Beurteilung der Erfolge mit der Individualtherapie legte B. Bergmann eine umfassende Statistik vor. Sie erfasst darin alle in den Jahren 1959 und 1960 behandelten Fälle mit dem Nachuntersuchungsergebnis nach zwei Jahren. Dieser nach Graden der Rehabilitation gestaffelten Einschätzung stellt sie mehrere Tabellen voran, in denen sie – jeweils aufgeteilt nach den Neuroseformen – einen Überblick gibt über: – die Häufigkeit der verschiedenen Neurosegruppen (deutliches Überwiegen ideo- und sensohypchondrischer Neurosen gegenüber den einzelnen der übrigen elf Formen) – das Erkrankungsalter, – die durchschnittliche Dauer der stationären Individualtherapie, – die Dauer der subjektiven Krankheit vor unserer Behandlung, – die Dauer der objektiven Arbeitsunfähigkeit vor unserer Behandlung. Meine Erinnerungen an die unzähligen, sehr dankbaren Patienten nach unseren koordinierten und manchmal schwierigen therapeutischen Bemühungen stimmen damit überein.

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2.3.4 Elisabeth Richter-Heinrich: Die Klinik für kortiko-viszerale Regu­ lationstörungen im Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Krankheiten der Akademie der Wissenschaften Berlin-Buch Das zunächst als Institut für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie 1956 gegründete klinisch-experimentelle Forschungsinstitut mit Sitz in Berlin-Buch wurde 1957 durch den damaligen Ärztlichen Direktor des städtischen Klinikums Buch, Prof. Dr. Rudolf Baumann, mit einem Neubau durch den Bauhaus-Architekten Franz Ehrlich errichtet. Es wurde später in die damalige Forschungsgemeinschaft der naturwissenschaftlich-technischen und medizinischen Institute der Deutschen Akademie der Wissenschaften integriert. Als Chefarzt der ersten medizinischen Klinik dieses Klinikums führte Baumann die Schlaftherapie unter einer streng umrissenen Indikation zur Beeinflussung gestörter Regulationsprozesse (z. B. Blutdruck, Stoffwechsel) zunächst in einer klinischen Topdrug-Abteilung ein. Im Rahmen der Akademiereform 1972 entstand aus dem Institut sowie aus dem von Prof. Dr. Albert Wollenberger geleiteten Akademie-Institut für Kreislaufforschung das Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Forschung, zu dessen Direktor Rudolf Baumann berufen wurde. Die Forschungsaktivitäten am Institut waren durch die Theorien des sowjetischen Physiologen und Nobelpreisträgers Iwan Petrowitsch Pawlow mitgeprägt und konzentrierten sich auf die Rolle des zentralen Nervensystems bei der Regulation von Bluthochdruck, Stress, neuroendokrinen Dysregulationen und psychosomatisch bedingten Erkrankungen (Heinz Bielka 2002). Die Mitarbeiter des Institutes als Leiteinrichtung für die Erforschung und Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren interdisziplinär zusammengesetzt aus klinischen und theoretisch experimentellen Arbeitsgruppen, u. a. arbeiteten zwei psychologische Gruppen. Die Arbeitsgruppe Klinische Psychologie/Psychotherapie bestand aus drei Psychologen. Der Leiter der Gruppe war Prof. Dr. Katzenstein, der seine psychotherapeutische Ausbildung als Emigrant in den USA absolviert hatte. Diese Gruppe war für die Psychotherapie der stationären und ambulanten Institutspatienten zuständig. Sie bezeichnete ihr System als komplexe Psychotherapie und benutzte ein breites Methodenspektrum bestehend u. a. aus Autogenem Training, Hypnose, psychologischen Fragebögen sowie individuellen psychologischen Gesprächen. Als ich im Frühjahr 1959 meine Stelle als wissenschaftliche Assistentin im damaligen »Institut für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie der Akademie der Wissenschaften« antrat, war es als Einheit von klinisch-angewandter und theoretisch-experimenteller Forschung konzipiert und mit seinen technischen Einrichtungen für eine moderne medizinisch biologische Arbeitsrichtung ausgewiesen. Mein ehemaliger Lehrer am Institut für Psychologie der Universität Leipzig, Prof. W. Fischel gab dem dortigen Psychologischen Institut, obgleich dieses sich traditionsgemäß (Wilhelm Wundt) an der Philosophischen Fakultät befand, eine naturwissenschaftliche Ausrichtung. Wir hörten z. B. zusammen mit den Medizinern zwei Semester Physiologie. Bei Prof. Fischel hatten wir Spezialseminare in Neurophysiologie und hörten zwei Semester experimentelle Tierpsychologie. Das kam mir nun im Berliner Institut sehr zugute. Hier war bereits der Dipl.‑Psych. Dr. Katzenstein eingestellt, der die Patienten psychotherapeutisch betreute. Ich hätte es damals vorgezogen, bei ihm zu arbeiten, erhielt aber die Aufgabe, bei Patienten den Zustand der höheren Nerventätigkeit (HNT) zu bestimmen.

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2.3  Stationäre Psychotherapie in den 1950er Jahren

Etwa zur gleichen Zeit kam Dr. Ctibor Dostálek, damaliger Mitarbeiter und späterer Direktor des Prager »Instituts für Experimentelle Kreislaufforschung«, für drei Jahre in unser Institut. Er war ein Spezialist für die Ausarbeitung rückläufig bedingter Reflexe in Human- und Tierexperimenten. Dr. Dostálek wurde als Leiter der »Arbeitsgruppe zur Untersuchung der höheren Nerventätigkeit« eingesetzt, zu der zunächst noch eine technische Assistentin und ich gehörten. Fußend auf seinem o. g. Untersuchungsparadigma entwickelte ich einen Test, der es erlaubte, in 20 Minuten die bedingt reflektorische Aktivität von Hypertonikern durch Ausarbeitung eines rückläufig bedingten hautgalvanischen Reflexes zu erfassen. Da Prof. Baumann auch an der Thematik »Diabetes mellitus« forschte, wendete ich die Methode ebenfalls bei diesen Patienten an und entwickelte aus den vergleichenden Untersuchungen eine Dissertation (Universität Leipzig, 1964). Es war die erste Dissertation, die in diesem noch jungen Berliner Institut fertiggestellt wurde. Diese Forschungsrichtung entsprach einem »main stream« der internationalen psychologischen Forschung dieser Zeit, in den angloamerikanischen Ländern vertreten durch den Behaviorismus. Der Behaviorismus stützte sich primär auf objektive, physikalisch erfassbare Parameter. Nach Skinner gehörten psychische Phänomene in eine Black Box zwischen Reiz und Reaktion. Die Psychosomatik vertrat dagegen den Standpunkt, Krankheiten ganzheitlich zu betrachten als ein biopsychosoziales Phänomen, war aber zunächst teilweise zu spekulativ psychologisch ausgerichtet. In den USA entwickelte sich die Psychophysiologie rasant. Sie basiert auf einer experimentell und metrisch ausgerichteten Beziehungsanalyse psychologischer und physiologischer Variablen. Sie bot so die Möglichkeit, Einseitigkeiten des behavioristischen und psychosomatischen Ansatzes zu überwinden. Darauf basierend führten wir eine mehrjährige Studie durch, in der wir die Informa­ tionsaufnahme und -verarbeitung essentieller Hypotoniker unter den Aspekten der akustischen Sensibilität bei der Reizaufnahme, der physiologischen Reaktivität sowie der akustischen Adaptation mit einer umfangreichen psychophysiologischen Methodenbatterie testeten. Das Fazit dieser Untersuchungen war, dass Hypertoniker, im Vergleich zu normo­ tonen, hypotonen und kardiophobischen Kontrollgruppen, charakterisiert waren durch eine besonders hohe Sensibilität, Reaktivität sowie verringerte Adaptation (Richter-Heinrich et al. 1971, 1974, 1976). Wir entwickelten daher ein nichtmedikamentöses, psychophysiologisch orientiertes Therapieprogramm mit folgender Zielstellung: – auf somatischer Ebene das erhöhte physiologische Aktivierungsniveau der Hypertoniker, ihre erhöhte Reaktivität sowie die verringerte Adaptation speziell des Herz-KreislaufSystems zu beeinflussen, – auf psychologischer Ebene krankheitsfördernde Erlebens- und Verhaltensweisen zu modifizieren. Die Ergebnisse zeigten, dass psychophysiologisch orientierte Behandlungsverfahren eine wirksame Therapievariante darstellen können. Die eingeschränkte Effektivität bei anhaltend hohen diastolischen Belastungsblutdruckwerten spricht dafür, dass bei diesen Patienten möglicherweise bereits Gefäßschäden vorliegen, die einer rein psychologischen Behandlung nicht zugänglich sind. Ausschließlich können derartige Methoden daher nur bei bestimm-

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

ten Patienten im Anfangsstadium der Hypertonie bzw. in der Prävention eingesetzt werden. In höheren Stadien können sie die Pharmakotherapie ergänzen und gegebenenfalls zu einer Reduktion der Medikamentendosis bzw. zu einer verbesserten Blutdruckregulierung schwer einstellbarer Patienten beitragen.

2.4 Beispiele ambulanter Psychotherapie in den 1950er Jahren 2.4.1 Wolfgang Kruska: Haus der Gesundheit (HdG) Ostberlin und Klinik Hirschgarten (Higa) Eine kurze Darstellung der Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung am HdG und der Neurosenklinik Hirschgarten kann nur zusammenhängend erfolgen, so eng sind beide konzeptionell und personell verbunden. Über die über Jahre angeschlossene psychotherapeutische Kinderabteilung wird in diesem Buch von Hess u. a. gesondert berichtet. Die psychotherapeutische Abteilung des HdG nahm am 1. Oktober 1949 ihre Arbeit auf. Ihre ersten Leiter waren oder nannten sich Psychologen (s. Seidler im 1. Kapitel). Ehrig Wartegg begann 1950 in der Ambulanz zu arbeiten, Kurt Höck war der erste ärztliche Mitarbeiter. Einige Jahre war die psychotherapeutische Abteilung in die Köpenicker Straße ausgelagert. 1956 war die Abteilung von Schließung bedroht, und ihr Fortbestand wurde davon abhängig gemacht, dass Kurt Höck die Leitung übernehmen und die Abteilung reorganisieren würde. In diesen ersten Jahren wurde ausschließlich einzeltherapeutisch gearbeitet. Grundlage waren die neoanalytischen Anschauungen von Schultz-Hencke. Von J. H. Schultz wurde auch die Einteilung der Neuroseformen übernommen. In geringem Umfang wurde auch Autogenes Training nach J. H Schultz durchgeführt. Die Psychotherapie in der DDR wurde immer und bis heute aus zwei Quellen gespeist – hier die nervenärztliche, dort die internistische. In den Anfangsjahren drückte sich das so aus: hier, wenn auch höchst unterschiedlich orientiert, die Psychiater, z. B. Leonhard, Wendt, Müller-Hegemann, Mette, dort die Internisten Kleinsorge, Klumbies, Marchand, Höck. Beide Richtungen wurden 1960 in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR zusammengeführt. Besonders in den südlichen Bezirken der DDR blieb das internistische Element deutlich bestimmender. So kamen auch die Arbeiten zur Behandlung psychosomatischer Erkrankungen aus dieser ­Tradition. Die Psychotherapie im Ostteil Berlins, wie schon erwähnt, kränkelte vor sich hin, weil die langen Einzeltherapien zu entsprechend langen Wartezeiten führten. Die Zeit von 1956–1966 war die Zeit der Reorganisation und der Neuausrichtung. Um das Versorgungs-/Wartezeitenproblem zu lösen, wurde das Angebot an Guppen mit Autogenem Training erweitert und nach und nach wurden Gesprächsgruppen eingeführt. Dabei wurden verschiedene Formen ausprobiert, z. B. symptomorientierte Gruppen, offene und halboffene Gruppen. Ab 1960 wurden dann die Gruppen vorwiegend als geschlossene Gruppen durchgeführt. 1964 wurde die Neurosenklinik Hirschgarten eröffnet und in das

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2.4  Beispiele ambulanter Psychotherapie in den 1950er-Jahren

Versorgungssystem mit einbezogen. Die ersten Jahre wurde dort kombiniert gruppen- und einzeltherapeutisch behandelt. Ab 1956 begann der Prozess der wissenschaftlichen Fundierung der Neurosentheorie und der Entwicklung von wissenschaftlichen Therapiemethoden. Am Ende der Entwicklung stand das »Abgestufte diagnostisch-therapeutische System der Neurosebehandlung« (s. den Beitrag von König } Abschnitt 4.3). Die Anfänge der Gruppentherapie waren bescheiden und vollzogen sich außerhalb Berlins. Erst die Beschäftigung mit Gruppenformen und die Differenzierung der unterschied­ lichen neurotischen Krankheitsbilder ab 1956 führten schließlich zur schon erwähnten ­Einrichtung der Neurosenklinik Hirschgarten 1964. 1966, nach zehn Jahren einer außerordentlich intensiven und verändernden Zeit, bereiteten Höck und Mitarbeiter das Internationale Symposium über Gruppenpsychotherapie vor (} Abschnitt 3.5.1.4). Seine Ergebnisse wurden in »Gruppenpsychotherapie in Klinik und Praxis« 1967 von Kurt Höck publiziert (Höck 1967a). Ab 1966 bildeten sich die Strukturen am HdG Berlin heraus, die dann über zwei Jahrzehnte das Profil bestimmten. Die Abteilung Psychotherapie und Neurosenforschung war selbständiger Chefarztbereich, bis 1986 Chefarzt Dr. K. Höck, danach Chefarzt Dr. C. Seidler. Es gab drei eigenständige Arbeitsbereiche, die aber aufs engste untereinander verzahnt arbeiteten: erstens der ambulante diagnostisch-therapeutische Bereich, zweitens die Neu­ rosenklinik Berlin-Hirschgarten, drittens die Forschungsgruppe. 1980 wurde die »Abteilung ...« in »Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung« umbenannt. Dieses Institut bestand bis 1991. Das HdG existiert heute weiter als Ärztehaus, aber ohne Psychotherapie. Es ist das herausragende Verdienst Kurt Höcks, aus einer kleinen, vor sich hin dümpelnden Beratungsstelle eine der bedeutendsten Psychotherapie-Abteilungen der DDR und ­vielleicht sogar des gesamten damaligen Ostblocks geschaffen zu haben. Sicher hat er das nicht allein geschafft, aber er war der Inspirator, der Motor und der Repräsentant. So wurde diese Abteilung in ihrer Verzahnung von durchschnittlich großer Klinik und sehr großer, auch personell gut ausgestatteter Ambulanz für hilfesuchende Patienten, für ausbildungsinteressierte Kollegen und für Fragen der Forschung eine hervorragende Anlaufstelle. Das Besondere an dieser Einrichtung war die Entwicklung einer systematisierten Form von Gruppenpsychotherapie, die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. Sie wurde in modifizierter Form an vielen Psychotherapieeinrichtungen der DDR eingeführt. Wesentliche Ausbildungsgänge wie die Gruppenselbsterfahrung waren an ihr orientiert. Die Psychotherapie in der DDR war aber immer multizentrisch. In der Anfangsphase der Gruppenpsychotherapie hatte Wendt schon vieljährige Erfahrungen vorzuweisen und hat sie auch publiziert. Die ersten Selbsterfahrungsaktivitäten begannen auch nicht in Berlin, sondern im Erfurter Raum (Ott, Geyer, Stern, Maaz u. a.). Die Leipziger Einrichtung in der Karl-Tauchnitz-Straße mit ihrem Konzept der Kommunikativen Psychotherapie (Christa Kohler) wurde zum Mekka für dutzende Bewegungs- und Musiktherapeuten in der DDR, da dort mit Anita Wilda-Kiesel und Christoph Schwabe äußerst kreative Pioniere ihrer Therapierichtungen ihr Wirkungsfeld hatten. Außerdem hatte Leipzig das behalten und Erfurt das erreicht, was in Ostberlin nie gelang: die universitäre Anbindung der Psychotherapie. Es gab

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hier in Berlin zwar interessierte und wohlwollende Kontakte zur Sektion Psychologie um Helm und seine Gruppe der Gesprächspsychotherapeuten, einen echten Eingang psychoanalytischen Denkens und Wissens in den psychologisch oder gar medizinischen universitären Bereich gab es aber nicht.

2.4.2 Helga Hess: Aufbau einer »Abteilung für Klinische Psychologie an der Poliklinik West Magdeburg« durch Otto Prüssing – Beispiel einer ambulanten psychologischen Versorgung »Auch die Angst kann müde werden.« Diese Auffassung veranlasste Otto Prüssing, im Rahmen seiner poliklinischen psychologischen Arbeit ambulante Intensivgruppen in der Behandlung von Phobien, insbesondere von Straßen- und Verkehrsmittelphobien, durchzuführen. Angeregt durch Diskussionen mit Vertretern der Verhaltenstherapie Jürgen Mehl, Hansgeorg Schmiescheck und Werner Dummer, setzte Otto Prüssing den Gedanken therapeutisch um, dass »auch Angst müde wird«, wenn ihr anfangs durch das »Schaffen einer Vertrauensstrecke« zugleich intensiv begegnet wird. Über seine Erfahrungen mit der seit 1976 erprobten Intensivstrategie berichtete er 1979 auf einer Tagung an der Akademie für Ärztliche Fortbildung/Berlin Lichtenberg in Neubrandenburg. Die Patienten wurden durch die ärztliche Kollegin eine Woche arbeitsunfähig geschrieben, kamen aber die gesamte Woche über ab frühmorgens zur Therapie. Es erfolgte ein durchstrukturiertes Programm auf der Grundlage einer erweiterten Verhaltenstherapie – mit Konfron­tation, positiver Bewältigung, Verbalisierung, formelhafter Vorsatzbildung, Visualisierung, Realkonfrontation mit Aufsuchen der Orte der Angst – allein oder in Begleitung einer Krankenschwester –, Auswertung, eventuell konzentrierte Wiederholung am Nachmittag. Erstes Ziel war das eigenständige Aufsuchen der Therapieeinrichtung ohne Begleitung. Es erfolgte eine wöchentliche Nachbetreuung sowie Wiedermeldung in Krisensituationen. Für alle Therapieverfahren erfolgte zuvor eine differenzierte Diagnostik sowie hinterher eine Fragebogenerhebung zur Therapiemotivation, zum Therapieverlauf und -erfolg – im Sinne heutiger Qualitätssicherung. Die ökonomische Abrechnung erledigte die Verwaltung der Poliklinik mit der Sozialversicherungskasse. Dieses Modell einer ambulanten Intensivtherapie hatte sich auch in anderen Polikliniken sehr bewährt und zu großem Behandlungserfolg geführt. Die Organisation der ambulanten gesundheitlichen Betreuung in der 1949 gegründeten DDR erfolgte zunehmend über die Errichtung von Polikliniken. Vorreiter hierfür war die wiedereröffnete und bereits 1923 als Ärztehaus der Versicherungsanstalt Berlin und der Vereinigten Ortskrankenkassen gegründete erste Poliklinik in Berlin, dem Haus der Gesundheit am Alexanderplatz. Es handelte sich hierbei um Ambulatorien, die möglichst alle Facharztbereiche in einer zentralen Einrichtung vereinigten bzw. zumindest einer zentralen Verwaltung und einem einheitlichen Direktorat unterstellten. Der Vorteil bestand einerseits in der örtlichen Nähe von Fachabteilungen, der möglichen schnellen kollegialen Verständigung sowie der gemeinsamen Nutzung insbesondere von Labor-, EKG- sowie Röntgenbefunden ohne Mehrfacherhebungen. Im Haus der Gesundheit in Berlin führte dies schließlich auch

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2.4  Beispiele ambulanter Psychotherapie in den 1950er-Jahren

zur Einführung einer zentralen Einheitsakte – mit entsprechend farbigen Einlageblättern – zur komplikationslosen Information über Untersuchungsergebnisse und Behandlungen anderer Fachbereiche und damit zur Möglichkeit einer ganzheitlichen Betrachtung von Krankheitsgeschehen. Ungeachtet dessen hatten einzelne Fachabteilungen eine Spezialakte angelegt (z. B. die Abteilung Psychotherapie), wenn es um die Wahrung zu schützender Daten ging. Nicht zu übersehen war jedoch neben der zentralen ärztlichen Leitung auch die staatlich übergeordnete Verwaltung und parteiliche Einbindung in Wettbewerbsanforderungen (z. B. Erringung des Titels »Kollektiv der sozialistischen Arbeit«), die staatspolitischen Anforderungen zu entsprechen hatte. In Magdeburg wurde 1957 nach der Bildung der Medizinischen Akademie Magdeburg und der Auflösung des Krankenhauses Kahlenbergstift im Stadtbezirk Stadtfeld als ambulante Versorgungseinheit die Poliklinik West mit dem Chefarzt Dr.Wielepp gegründet. Eine Zielstellung der Polikliniken bestand darin, neben Diagnostik und Therapie umfangreiche Prophylaxe zu betreiben – so z. B. in Form von Schwangeren- und Mütterberatungsstellen, Jugendgesundheitsschutz, Diabetikerberatung sowie auch Psychohygiene. Der Aufbau einer ambulanten psychotherapeutischen Versorgung der Stadtbezirke Süd und West in Magdeburg ist vor allem dem Psychologen Dr. Otto Prüssing im Zusammenhang mit einer engagierten Nervenärztin, der Neuropsychiaterin Dr. Lang zu verdanken. Otto Prüssing, Jahrgang 1927, war nach dem Krieg und Gefangenschaft u. a. Schüler von Prof. Fischel, Leipzig, der den experimentalpsychologischen Lehrstuhl von Wilhelm Wundt innehatte. Nach einer kurzen pädagogisch psychologischen Lehrtätigkeit an einer Fachschule kam Prüssing 1960 an die Nervenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg und intensivierte seine experimentalpsychologische Arbeit. Er promovierte an der KarlMarx-Universität Leipzig mit einem neuropsychologischen Thema der tachistoskopischen Figur-Grund-Differenzierung in der Hirnleistungsdiagnostik (Parnitzke u. Prüssing 1965) und schuf damit zugleich einen Brückenschlag zur Neuropsychiatrie. Otto Prüssing folgte 1968 dem Angebot, in der Poliklinik West eine psychologische Abteilung aufzubauen. Er tat dies unter der Bedingung, als Psychologe eine eigenständige Abteilung gestalten und leiten zu können. Durch seine experimentalpsychologische Vorbildung am Leipziger Institut sowie seine psychotherapeutischen Intentionen wandte er sich vor allem dem Autogenen Training zu, auch in Zusammenhang mit der Behandlung von Phobien und Zwängen, den Schlafstörungen sowie Süchten, insbesondere Alkohol- und Fettsucht, d. h. Krankheitsbildern, die einen engen Bezug auch zu neurophysiologischen Fragestellungen haben. So entwickelte er ab 1976, z. B. gemeinsam mit dem Dipl.-Ing. Dieter Krell/Abteilung Neurophysiologie der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburgs, für das Autogene Training ein Messgerät zur Temperaturableitung aus der Fingerbeere und ermittelte aus der anfänglich unterschiedlichen Basistemperatur der Probanden eine Vorhersage für den Erfolg zum Erlernen des Autogenen Trainings. Außerdem wurde dadurch eine Objektivierung der peripheren Gefäßreaktion beim Autogenen Training, z. B. auch als Grundlage für Feedback-Trainings, möglich (Krell u. Prüssing, 1982). Zu den Abteilungen für Klinische Psychologie und Neuropsychiatrie der Poliklinik West gehörten zwei Psychologen, zwei Nervenärztinnen, vier Krankenschwestern, zwei Fürsorgerinnen, eine Sekretärin und eine technische Kraft. Die anfangs geringe Patientenzahl änderte

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sich bald durch die gruppengemäße Anwendung mancher Therapieformen. So wurde das Autogene Training in Kursen durchgeführt, dazu wurden dann jeweils psychosomatische Zusammenhänge erörtert, Aufklärung über Stress- und Stressbewältigung vermittelt. Hier entwickelten sich bald auch Anfänge zu Gruppengesprächen. Ähnlich wie die Gruppen mit Autogenem Training verliefen dann auch die Therapien für Adipöse und Alkoholiker, erweitert durch verhaltenstherapeutische Strategien, unterstützt durch spezifische Fachkräfte, z. B. einen Diabetologen, Fürsorgerinnen etc. Parallel zu dieser Entwicklung wurden der fachliche Austausch sowie die Verbreitung gesundheitlicher Erkenntnisse durch Fachgesellschaften angestrebt. Für den Bezirk Magdeburg (der später mit dem Bezirk Halle das Land Sachsen-Anhalt bildete), gab es – aus historischer Entwicklung gewachsen – die Medizinisch-Wissenschaftliche Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie Magdeburg, weiterhin die Regionale Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Magdeburg (Vorsitzende Prof. H. Wendt, Dr. G. Schulz, Dr. O. Prüssing) sowie die Regionale Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie des Bezirks Magdeburg in der Gesellschaft für Psychologie der DDR (gegründet 1965 unter Jürgen Guthke, damals Schönebeck, Hans Regel und Otto Prüssing, Magdeburg, sowie Infrid Tögel, Uchtspringe). Daneben existierte die Urania, der Kulturbund mit dem Club der Intelligenz »Otto von Guericke« sowie weiterhin ein Kabinett für Gesundheitserziehung der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen der Stadt Magdeburg. Die Referenten dieses gesamten Fachgebietes – Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik – gestalteten meist in Personalunion Weiterbildungen und Tagungen in allen diesen Fort- und Weiterbildungsgesellschaften, häufig unterstützt durch Kollegen des Nachbarbezirks Halle/Saale. Die fachliche Aktivität war rege: Grundkurse und Seminare, Frühjahrs- und Herbsttagungen wurden durchgeführt, wissenschaftliche Arbeitstagungen sowie wissenschaftliche Festveranstaltungen (} Abschnitt 4.6.5). Otto Prüssing erlebte die therapeutischen Freiheitsgrade als groß: Behandlungsform und -umfang wurde von den Therapeuten bestimmt. Die poliklinische Leitung war an der Fallzahl und an der Behandlungseffektivität interessiert, die Inhalte waren Sache der Fachleute. Die fachliche Weiterbildung lag im Interesse der Therapeuten. In der Poliklinik war bei Vorliegen einer entsprechenden Konzeption (z. B. Intensivtherapie, Begleitung der Pa­tienten) auch die Erweiterung des Fachpersonals möglich, was sich durch gruppentherapeutische Arbeit in einer Erhöhung der Patientenzahlen dann wieder ausglich und positiv auswirkte. Die Einsatzbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Abteilung für Klinische Psychologie war entsprechend groß und auch erfolgreich. Persönliche Freizeit, oft auch abends, wurde gern geopfert. Die Schließung der Poliklinik 1990 bedeutete auch das Ende der Abteilung. Auf eine weitere Niederlassung verzichtete der damals 63-Jährige. Seine Botschaft und sein Vermächtnis, das er mir gegenüber im Gespräch benennt – gegenüber dem damaligen Diktat der Ideologie, derzeit gegenüber dem Diktat des Geldes, jetzt aber insbesondere als Rückblick auf das gelebte Leben –, heißt: Menschlichkeit.

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2.5  Kinderpsychotherapie in den 1950er Jahren

2.5

Kinderpsychotherapie in den 1950er Jahren

2.5.1 Agathe Israel: Entwicklung der Kinderpsychotherapie I Von der Schwierigkeit, Rückschau zu halten Sigmund Freud erkannte sehr früh, dass Geschichte immer Geschichte von lebendigen Bezügen zum Anderen und zur Umwelt ist. Wenn man aus dieser Perspektive die Geschichte der Kinderpsychotherapie in der DDR beschreiben will, steht man beim Materialsammeln und Nachdenken als Historikerin, die gleichzeitig betroffene Zeitzeugin ist, von den Umständen und vom Thema her vor einer mehrfachen Herausforderung. Ich wuchs in der DDR auf, lernte, studierte, lebte die längste Zeit meines Lebens in diesem Staat als Frau, Mutter und Bürgerin. Voller Begeisterung beteiligte ich mich Anfang der 1970er Jahre als junge Ärztin an der Sozialpsychiatriereform in Leipzig, engagierte mich später für die Behandlung von jugendlichen Psychosepatienten und empfand es als großes Glück, dafür auch noch ein Gehalt zu beziehen. Selbstverständlich gab es politisch riskante Situationen, beherrscht von der Angst, den Beruf zu verlieren, auch war die Ausbildung zur Psychotherapeutin beschwerlich, dennoch stand ich mit einigen Kollegen und Mitarbeitern in einer fachlichen und persönlichen Beziehung, deren Verbindlichkeit man heutzutage oft vermisst. Der Alltag in der DDR – zumindest in den letzten Jahrzehnten – war kein Jammertal, sondern förderte auch die persönlichen Kräfte, Propaganda und Mängel zu entlarven und in verlässlichen Gruppen sich gegenseitig zu helfen, und machte Lust, kreativ zu sein. Angelsächsische, bundesdeutsche oder sowjetrussische Fachliteratur ließen sich nicht rezipieren, ohne die verschiedenen gesellschaftlichen Paradigmen kritisch unter die Lupe zu nehmen. Das Leben in der DDR förderte auch eine gewisse Wachheit für den Ursprung eigener Ängste. Andererseits möchte ich aber heute aus der Distanz möglichst objektiv darüber berichten, und ich wäre naiv, wenn ich annähme, ich hätte mich jenseits der bewussten und reflektierten Selbstbehauptung von der persekutorischen (verfolgenden) Gesellschaftsdynamik der Diktatur abschotten können. Zu einer der introjizierten Einwirkungen gehört die Tendenz, aus der Freund-Feind-Perspektive eine »Sache« verteidigen oder verurteilen zu müssen und damit konfliktgeladene Vieldeutigkeit zu vermeiden. So wird man verändert durch das, was man erlebt, und diese Veränderung fließt mehr oder weniger bewusst in die Beobachtung ein. Diese spannungsreiche innere Situation ist in der psychoanalytischen Arbeit nicht unbekannt: Man muss sich anrühren lassen und gleichzeitig ausreichend distanzieren, um aus einer dritten Position auf die Szene schauen zu können. In ähnlicher Weise möchte ich im Umgang mit dem Thema als Subjekt verstanden werden, das den Gegenstand verändert, wie dieser mich verändert. Eine objektive allgemein gültige Rückschau ist mir nicht möglich. Anhand von Publikationen, Aufzeichnungen, Gesprächen mit Zeitzeugen, eigenen Erinnerungen wird versucht, einen Weg durch die Jahrzehnte zu gehen. Daraus entsteht ein Wissen, das weder kontextfrei noch neutral ist, bestenfalls eine brauchbare, aber keine endgültige Erkenntnis bietet.

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

Das gesellschaftliche Bild vom Kind in den 1950er Jahren Was in einer Gesellschaft ein Kind zum psychotherapeutischen Behandlungsfall werden lässt, wird weniger durch sein Seelenleben oder sein Leiden bestimmt als vielmehr durch das gesellschaftliche Bild vom Kind und den davon abgeleiteten Vorstellungen über Entwicklung, Erziehung und Bildung. In der DDR der frühen 1950er Jahre existierte eine Sicht auf das Kind, die sich, nicht zuletzt in radikaler Gegenpo­sition zum Biologismus und Rassismus der Nazis, in der zentralen Aussage zusammenfassen lässt: Die Umwelt formt den Menschen. Sie basierte auf drei charakteristischen Modellen: – dem Defizitmodell: Heranwachsende sind werdende Erwachsene, d. h. Unreife, Nochnicht-Wissen oder -Können werden als defizitäre Differenz gegenüber Erwachsenen aufgefasst; – dem Tabula-rasa-Modell: Heranwachsende sind nahezu grenzenlos formbare Rezipienten einer geplanten und programmierten Erziehung, d. h., individualspezifische Voraussetzungen werden den Außenbedingungen, vertreten durch den Erwachsenen und seine Anforderungen, untergeordnet; – dem Kollektivierungsmodell: Heranwachsende haben sich vor allem die Fähigkeiten und Eigenschaften rational-bewussten, gesellschaftsverpflichtenden und angepassten Verhaltens anzueignen, d. h., es »wurde ein konventionell-konformistisches Niveau angezielt« (Schmidt 1997 S. 67). In der Praxis bedeutete das: Wenn man Kinder ausreichend ernährt und kleidet, zu Ordnung, Disziplin und Sauberkeit sozialisiert und kollektivbezogen bildet, dann werden sie sich zu gesunden Staatsbürgern entwickeln, was mit Hilfe staatlicher Gesundheits-, Erziehungs-, Bildungs-Programme keine Schwierigkeiten darstellen sollte. Zu diesen Programmen zählte es auch angesichts des Arbeitskräftemangels, Wochenheime für Säuglinge und Kleinkinder einzurichten oder sie im Fall von Erkrankungen großzügig ins Krankenhaus einzuweisen, um die Berufstätigkeit der Mütter nicht zu unterbrechen. Analog dem sowjetischen Vorbild sollten Massenorganisationen wie die Pionierorganisation (JP), die Freie Deutsche Jugend (FDJ) oder die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) Hand in Hand mit Schule und Familie den Lebensalltag aller Schulkinder und Jugendlichen gestalten und in Heranwachsenden die sozialistische Persönlichkeit prägen. »Sowjetpädagogen sprachen unumwunden vom ›Programm menschliche Persönlichkeit‹, von deren Projektierung, die sich in entwicklungslenkenden Anforderungssystemen niederschlug« (Schmidt 1997). Zur gleichen Zeit herrschte in der DDR offiziell eine energische Ablehnung der Psychoanalyse und ihrer Entwicklungstheorie als einer spätbürgerlichen, irrationalen und idea­ listischen sexuellen Verirrung. Eine öffentliche Distanzierung der Psychotherapeuten gegenüber diesen Positionen lässt sich in einer Literaturrecherche der Fachpresse nicht finden. Der Psychoanalytiker Ernst Federn, Sohn des Freud-Schülers Paul Federn und ehemaliger KZ-Häftling, war überzeugt, die Verteufelung der Psychoanalyse in Ostdeutschland sei direkt von Stalin ausgegangen. Weil der Rivale Trotzki mit der Psychoanalyse sympathisierte, sei Stalin dagegen gewesen und habe die politischen Kader entsprechend instruiert

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2.5  Kinderpsychotherapie in den 1950er Jahren

und eine verhängnisvolle Welle der Verfolgung ausgelöst, die eigentlich einen rein persönlichen Ursprung hatte (mündliche Mitteilung E. Federn 1993). Eine interessante Überlegung, denn die kurze Blütezeit der Psychoanalyse und ihre Auswirkung auf die Pädagogik der Kindergärten in der nachrevolutionären Sowjetunion war schon 1929 vorüber, wie der Psychoanalytiker und Kommunist Wilhelm Reich an Ort und Stelle in Moskau feststellen musste. Andererseits liegt die Vermutung nahe, dass nicht nur die Respektierung der kindlichen Sexualität, sondern auch die Anerkennung des Unbewussten, Unkontrollierbaren, die Praxis der wertfreien Beobachtung von Kindern, die Anerkennung einer individuellen inneren Welt keinen Platz in der stalinistischen Diktatur hatten. In der DDR herrschten mindestens bis 1956, ähnlich wie in der Sowjetunion, totalitäre Verhältnisse. Andersdenkende wurden hart bestraft und verfolgt. Gegenüber Intellektuellen herrschte ein tiefes Misstrauen.14 Verursachte Existenzangst, dass die DDR-Psychotherapeuten schwiegen, ja sich sogar gegenüber der Psychoanalyse distanzierten, oder waren es die abgewehrten Schuld- und Schamgefühle, die sie mit den Vertretern der Staatsmacht als »bessere Deutsche« teilten? Weder im öffentlichen und vermutlich auch nicht im privaten Raum entwickelte sich eine Kultur der Reflexion, die es Betroffenen ermöglicht hätte, sich aus dem Teufelskreis Täter–Opfer zu lösen oder den nachgeborenen Kindern mehr zu vermitteln als ein »nie wieder«. Wandte man sich deshalb nur zu gern einer verkürzten Pawlow’schen Reflexologie zu, in der Rationalität herrschte? Bemerkenswert war das Vorhaben des 1948 aus Israel in die DDR zurückgekehrten jüdischen Schriftstellers Arnold Zweig, die psychoanalytische Pädagogik und Therapie in Ostdeutschland wieder zu etablieren. Er plante bereits im Exil, nach Friedensschluss ein System von Kindergärten über ganz Deutschland auszustreuen, in denen sich »psychoanalytische Schulung und Pädagogik an das Friedenswerk machen sollten« (Zweig 1996), und wollte eine Kindergartenpflicht einführen. Beobachtung sollte als Grundlage der Erziehung von Kleinkindern dienen. Zweig fand dafür in Ostdeutschland keine Unterstützung, obwohl er mit hohen Ämtern in der Kulturpolitik versehen wurde.15 Anna Freud versprach er 1953 in einem Brief »eine Umorientierung unserer Leute in Sachen S. Freud und seines Lebenswerkes [...], die zu seinem 100. Geburtstag schon für die DDR wenigstens geschafft sein sollte [...]. Den Umschwung in der Öffentlichkeit gedenke ich selber herbeizuführen, denn die Bedeutung von Pawlow’schen Arbeiten und die Sigmund Freuds unterstützen einander, anstatt einander zu hemmen« (Zweig 1996). Er täuschte sich in der Beurteilung der politischen Verhältnisse. Voller Illusionen über die Vereinbarkeit der Psychoanalyse mit seinem Sozialismus- und Demokratieverständnis in den Osten zurückgekehrt, traf er dort, wie viele Exilautoren, auf eine politische Führung, die selbst die Kriterien bestimmte, nach denen das Erbe, Kunst und Literatur zu messen seien. Das kurze Tauwetter nach Stalins Tod hatte lediglich dazu geführt, dass zum 100. Geburtstag Sigmund Freuds im Mai 1956 in der Zeit14 Es sei erinnert an die Schauprozesse 1957 gegen Walter Janka, Leiter des Aufbau-Verlages, und gegen Wolfgang Harich, Professor der marxistischen Philosophie, beide Vertreter eines dritten Weges – beide der Konspiration und des Revisionismus angeklagt. 15 Sein Buchmanuskript »Freundschaft mit Freud« wurde ihm 1963 kommentarlos vom Aufbau-Verlag der DDR zurückgesandt und erschien dort erst 1996.

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schrift »Neue deutsche Literatur« eine Arbeit Freuds und ein Beitrag Zweigs erschienen. Die von Alexander Mette verfasste Freud-Biographie enthielt dagegen eine Fundametalkritik des Freud’schen Werkes (Mette 1956)

Die Kinderpsychotherapie in den 1950er Jahren Bereits in den ersten Nachkriegsjahren deuten sich in den beiden deutschen Teilstaaten unterschiedliche Entwicklungen an. Während man in der BRD die ambulante soziale Therapie von Kindern und Eltern nach dem Vorbild der Child Giudance Kliniken in England und Amerika ausbaut, scheint es in der DDR erst einmal keinen Bedarf für Kinderpsychotherapeuten zu geben. Die Child Giudance Kliniken arbeiteten mit Social Workers, die »im dynamischen Mechanismus des menschlichen Verhaltens« (Ratcliff u. Westeimer 1956, S. 20) geschult waren. Bereits 1948 initiierte man in Berlin-West am Institut für Psychotherapie mit öffentlicher Finanzierung die Psychagogenausbildung als Heilhilfsberuf (Berg u. Poweleit 1997). Wenngleich der Psychagogenberuf englische und amerikanische Vorbilder hatte, war er auch auf die im Göring’schen Reichsinstituts entwickelten Konzepte zurückzuführen. Dieser Umstand blieb erstaunlicherweise bis in die 1990er Jahre unerwähnt (Oberborbeck 1995), könnte aber die berufliche Gleichstellung der Kinderpsychotherapeuten mit den Erwachsenenpsychotherapeuten lange behindert haben. Zum einen bestand am Reichsinstitut die Tradition, dass die Kindertherapie den Erwachsenenpsychotherapeuten mit Zusatzqualifikation vorbehalten war, zum anderen war das Psychagogenkonzept belastet durch seinen Inaugurator Viktor von Weizsäcker als Vertreter der »Deutschen Seelenheilkunde« (Oberbeck 1995, S. 204). So wurde 1947 ein scheinbar neues Berufsbild »für Kindergärtner, Hortner, Heimerzieher, Lehrer oder dergl.« (Institut für Psychotherapie 1947) entworfen, das die klinische und theoriebildende Bedeutung der Kinderanalyse der Vor-Nazizeit nicht aufgriff, sondern sich »in erster Linie mit Versagern, Störern, Triebhaften und erst in zweiter Linie mit Trägern neurotischer Symptome im eigentlichen Sinne« befassen sollte (Institut für Psychotherapie 1948). Zwar entwickelte sich daraus neben der in beiden Teilen Deutschlands favorisierten ärztlichen Psychotherapie sehr früh eine fruchtbare Verbindung zu Pädagogik, Psychologie und Jugendhilfe, aber die Psychagogen durften bis 1972 ihre Tätigkeit in Beratungsstellen, Praxen, Kranken- und Jugendhilfeeinrichtungen nicht als Behandlung bezeichnen. Erst 1991 wurde offiziell »die heilkundliche und psychotherapeutische Qualität des Berufes anerkannt« (Berg u. Poweleit 1997, S. 252). Dennoch gelang es einigen Fachleuten in der frühen BRD, den Anschluss an die internationale Entwicklung zu finden. In der DDR treffen wir in den 1950er Jahren auf eine eher gegensätzliche Tendenz: 1. Neben wirtschaftlicher Not und schlechter gesundheitlicher Verfassung bestimmte die Ideologie, dass in einem von Ausbeutung befreiten Staat die Ursachen für seelisches Leiden behoben seien, die staatliche Gesundheitspolitik zentrierte sich auf die Behebung körperlicher Leiden. 2. Kinderpsychotherapie war in der DDR von Anfang an eng an die Medizin, besonders an das Fachgebiet der Kinder- und Jugendneuropsychiatrie, gebunden und wurde entsprechend der Vormacht der Krankenhausversorgung fast ausschließlich im stationären Setting ausgeübt. Aber die in der Nazizeit in den psychiatrischen Landesanstalten geschaffe-

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nen Fachabteilungen für Kinder (wie in Mühlhausen, Ückermünde) und auch einige Universitätsabteilungen (wie in Heidelberg) waren entleert oder geschlossen. Diese Fachabteilungen hatten im Rahmen der T4-Aktion der Diagnostik und Aussonderung von psychisch kranken und behinderten Kindern und Jugendlichen gedient. Es wurden etwa 7000 Kinder und Jugendliche getötet. Der Aufbau von Kinder- und Jugendpsychiatrischen Stationen begann etwa 1948. Auf den Stationen befanden sich überwiegend geistig behinderte, seltener psychisch kranke Heranwachsende, die man zu pflegen und zu fördern versuchte. 3. Kinderpsychotherapie blieb deshalb dem damaligen medizinischen Krankheitsmodell, das die Diagnostik und Heilung von Defekten in den Mittelpunkt stellte, verpflichtet, und das psychodynamische Verständnis für die innere Welt des Kindes blieb untergeordnet. Übende Verfahren, die eher der Sonderpädagogik zugeordnet werden sollten, waren verbreitet. Nur wenige Einrichtungen, wie die Kinderpsychotherapiestation der Universitätsklinik Leipzig (s. den folgenden Beitrag von Tögel } Abschnitt 2.5.2) oder die Universitätsklinik Greifswald, boten Psychotherapie an. 4. Viele Nervenärzte und das Pflegepersonal waren durch die schreckliche, zum Teil mitverschuldete, zum Teil geduldete, zumindest gewusste Tötung psychisch kranker Kinder in der Nazizeit und die damit verbundene Schuld belastet, arbeiteten aber dennoch weiter in den gleichen psychiatrischen Anstalten. Als Beispiel sei die Tötung behinderter und kranker Kinder 1939 bis 1945 in der Landesheilanstalt Ückermünde genannt (Bernhard 1994). Wie sich der Perspektivwechsel gegenüber »lebensunwertem Leben« vollzog, bleibt unklar. 5. Die von der sowjetischen Besatzungsmacht eingesetzten Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und die Ärzte im staatlichen Gesundheitswesen versuchten ihre Staatstreue durch Abgrenzung von der Vergangenheit und Distanzierung von bürgerlichen, sprich feindlichen, Theorien, zu denen die Psychoanalyse und verwandte psychodynamischen Theorien zählten, nachzuweisen.

Die Entwicklung der Kinderpsychotherapie in den 1950er Jahren im Spiegel der Fachpresse Da sich entlang den in der Zeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie« veröffentlichten Beiträgen (dem sog. zentralen Fachorgan) die Entwicklung der Kinderund Jugendpsychotherapie sehr gut nachvollziehen lässt, werden hier einige Beiträge ausführlicher zitiert. Die Autoren arbeiteten meist in psychiatrischen Kliniken oder Anstalten. Ihre Patienten lebten, wie der größte Teil der Bevölkerung, in knappen materiellen Verhältnissen oder stammten aus einem der damals sehr verbreiteten Wochenkrippen, Säuglingsund Kinderheimen oder Erziehungsheimen. Wenige, aber programmatische Arbeiten zur Kinderpsychologie wurden in den 1950er Jahren veröffentlicht, die schlimme Kindheiten ahnen lassen. Sittlichkeitsverbrechen an Kindern (Schilf 1952), Kinder als Mörder (Schilf 1953), Fortlaufen und Poriomanie (Rennert 1965), Selbstmord (Müller-Küppers u. Schilf 1955) werden beschrieben. Die psychodynamischen Hintergründe finden dabei kaum Beachtung. Umso mehr ist die Position von

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Erika Geisler zu würdigen, die Selbstmord und Todessehnsucht im Kindesalter auch mit inneren Verarbeitungsmöglichkeiten, Verlust und Identifikation mit einem geliebten Wesen in Verbindung bringt (Geisler 1953). In einer umfangreichen Arbeit zur Kinderpsychologie, 1956 veröffentlicht von Dietfried Müller-Hegemann, kommissarischer Direktor der Universitätsklinik Leipzig und der Krankenanstalt Leipzig-Dösen (Müller-Hegemann 1956), vermischen sich Vereinfachungen und dogmatische Bekenntnisse zu einem unangenehmen Konglomerat. »Die schroffen Widersprüche in den theoretischen Grundlagen der Kinderpsychologie kommen zum Vorschein, wenn wir nach den Hauptfaktoren der Kindesentwicklung fragen. Nur allzu bekannt sind uns allen noch die Auffassungen, die in den Jahren 1933–1945 offizielle Gültigkeit in Deutschland hatten – nämlich die Chromosomen als die wesentlichen Faktoren zu bewerten, nicht nur für die Körpergröße und die Gesichtszüge, sondern auch für die intellektuellen und moralischen Qualitäten des Menschen.« Müller-Hegemann führt im Folgenden einige Lehren auf, »die zwar weniger extremistisch sein mögen als jene, aber im Prinzip das Gleiche besagen«. Er bezieht sich auf Henri Valons 1950 im Verlag Volk und Wissen in der DDR erschiene Monographie »Die psychische Entwicklung des Kindes«, der postuliere, die Geschichte eines Lebewesens sei durch seinen Genotyp beherrscht und werde durch seine Phänotyp vollzogen. Müller-Hegemann findet »eine ähnliche Auffassung in der deutschen Kinderpsychologie bei Karl Bühler und Kofkau u. a. bis zum heutigen Tag. Umso bemerkenswerter ist der Standpunkt der sowjetischen Psychologen, den Umweltfaktoren eine weit überwiegende Bedeutung gegenüber den Erbfaktoren beizumessen [...], dass das Kind von Anbeginn an ein aktives Wesen darstellt, das man weder durch eine Einfaktorennoch durch eine Zweifaktorentheorie begreifen kann und dessen Entwicklung nur im Verlauf einer fortdauernden Wechselwirkung zwischen kindlicher Eigentätigkeit und Umwelteinflüssen zustande kommen kann«. Diese Auffassung wirkt auf den ersten Blick moderat und lässt die nachfolgend zitierten Autoren wie Schmutzgesellen dastehen: »In der Gegenwart treten mit der Tiefenpsychologie eine Reihe von Schulen zum Vorschein, die bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit durch eine markante Einschätzung des Kindes verbunden sind. Bekannt ist die Formulierung Freuds geworden, dass der Säugling »polymorph pervers« sei. Diese pansexualistische Kennzeichnung besagt nicht so viel wie die von Tiefenpsychologen ständig wiederholte Behauptung, dass aggressive, destruktive Züge charakteristisch seien. Stekel, einer der einflussreichsten Schüler Freuds, geht soweit zu sagen, dass das Kind ein Hasser sei, der seiner Umgebung feindlich gegenüberstehe, ja das Kind ein geborener Verbrecher sei. Wenn so weit gehende Auffassungen auch nicht von allen Tiefenpsychologen geteilt werden, so bleibt als kennzeichnend die von Schultz-Hencke, der auf eine Amalgamierung der verschiedenen tiefenpsychologischen Richtungen bedacht ist, bestehen, dass das Kleinkind destruktiv in dem Sinne sei, wie es an die Dinge herangeht.« Diesen Ansichten stellt Müller- Hegemann Äußerungen aus der Sowjetunion gegenüber, so von Kalinin, »der zwar nicht Fachpsychologe gewesen ist, aber als Staatsoberhaupt der SU ein ganz bevorzugtes wissenschaftliches Interesse für kinder- und jugendpsychologische Fragen bewiesen hat«. Kalinin spricht von der »seelischen Schönheit der Jugend, die stets den Wunsch habe, sich selbst aufzuopfern und große Taten zu vollbringen.« Er führt Maka-

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renko und seinen pädagogischen Optimismus an, begründet aus den Erfahrungen der Kollektiverziehung, »dass nämlich ein richtig organisiertes Kollektiv allmählich das moralische Antlitz, den Charakter und das Verhalten der Zöglinge verändert [...]. Schließlich gibt es noch ein höchstes Stadium auf dem Wege zur vollen Entwicklung der Persönlichkeit: wenn jeder Zögling die Forderung an sich richtet, die auf der Basis des Kollektivs entwickelt wurden [...]. Der Mensch wächst von Anbeginn an in ständig sich erweiternde gesellschaftliche Beziehungen hinein [...] von deren Organisation hängt es in erster Linie ab, ob wir entwicklungsgestörte und heilbedürftige oder organisch und moralisch gesunde Kinder vor uns haben. Wo Kinder künstlich von allen zwischenmenschlichen Beziehungen isoliert gehalten werden, entstehen die Kaspar-Hauser-Typen. Für sie gewinnen auch einmal die tiefenpsychologischen Triebtheorien eine bestimmte Gültigkeit. [...] aber die kindliche Aktivität ist im Stande, den gesellschaftlichen Rahmen, für den wir Erwachsenen verantwortlich sind, mit frischem Leben zu erfüllen und unter günstigen Verhältnissen den krisenlosen Übergang zu einer bewusst willentlich integrierten Persönlichkeitsstruktur zu vollziehen, die sich vom angeblichen Triebgeschehen der Tiefenpsychologie grundsätzlich unterscheidet.« Müller-Hegemann schließt seine Arbeit mit einem Stalin-Wort über den Wachstumsprozess, der »von unbedeutenden und verborgenen quantitativen Veränderungen zu sichtbaren Veränderungen, zu grundlegenden Veränderungen, zu qualitativen Veränderungen übergeht [...]. Es handelt sich um Wachstumsprozesse, in denen sich die Gesetzmäßigkeiten des dialektischen Materialismus mit aller Deutlichkeit manifestieren.« War das eine Auftragsarbeit, die die offizielle Linie vertreten sollte? Zumindest deckte sich die Auffassung weitestgehend mit dem politischen Kurs. Möglicherweise trieben Müller-Hegemann auch persönliche Gründe, sich auf diese Weise von seinem Lehrer SchultzHencke abzusetzen. Der Autor scheint mit dem, was er hier schreibt, identifiziert. Ein kritischer Diskurs in der Fachöffentlichkeit fand nicht statt. Diese und ähnliche Arbeiten blieben unwidersprochen. Der Glaube an das prinzipiell »Gute« im Menschenkind, vorausgesetzt, die Gesellschaft gibt ihm Möglichkeit, sich zu entfalten, was für die DDR zutreffen sollte, wurde zur offiziellen Wahrheit erhoben. Andererseits musste für Verhaltensstörungen und abweichende Entwicklungen eine Erklärung gefunden werden. Handelte es sich nur um Relikte der Vergangenheit oder (angeborene) Psychopathien oder organische Behinderungen? 1955 schreibt A. M. Schnell, verdiente Ärztin des Volkes, leitende Fürsorgeärztin in der gleichen Zeitschrift »Über Gespensterträume bei Schulkindern«, »dass ausgehend von der Lehre Pawlows, diese Scheinwelt allmählich im 12. Lebensjahr abflaut. Gespenster, Unholde und Knochengerippe und schließlich eine Verbrecherwelt müsste sich nicht entwickeln, wenn andere Wege für kindliches Denken geebnet werden«. Und sie kommt zu dem Schluss, dass »die weitere phylogenetische Entwicklung zweierlei mit sich bringen werde: 1. Eine allmähliche Verringerung der Gespenster, Phantasien und der Zahl der Träumer. 2. Ein immer weiteres Anteponieren der Altersstufen, in denen die Gespensterträume zum Abflauen kommen. Das Kind wird die wirklichkeitsangepaßte Verarbeitung seiner Frühphase in immer kürzerer Zeit erledigen« (Schnell 1955). Phantasie und Träumen, ein lästiger und verzichtbarer Ausdruck des Daseins! Immer wieder treffen wir auf Publikationen, in denen die Psychoanalyse kritisch abgewertet wird.

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So 1956 im Lehrbuch für Neurologie und Psychiatrie, herausgegeben von Rudolf Lemke und Helmut Renner (1970), oder in der Arbeit der Ärztin und Forscherin, Eva Schmidt-Kolmer, aus dem Hygieneinstitut der Humboldt-Universität zu Berlin über »Die Rolle der zwischenmenschlichen Beziehungen für die Gesundheit des Kindes«: »Ganz im Gegensatz zu den Behauptungen der Psychoanalytiker wie Spitz, Bowlby usw., dass die Mutter-Kind-Beziehung in der frühesten Kindheit die entscheidendsten und ausschlaggebenden zwischenmenschlichen Beziehungen sind, konnten Untersuchungen von Damborska, Pease und Gardener sowie unsere Untersuchungen der Auswirkungen des Umweltwechsels bzw. der Trennung von der Mutter in den ersten Lebenswochen und -monaten zeigen, dass der junge Säugling diese Trennung kaum oder gar nicht bemerkt, wenn seine Bedürfnisse in adäquater Weise gestillt werden [...]. Das Fremdeln ist nicht, wie die Psychoanalytiker behaupten, der Ausdruck einer depressiven Phase, sondern ein Ergebnis des fortschreitenden Unterscheidungsvermögens des Kindes. Kommen Kinder in Wochenkrippen und Dauerheimen nur selten in unmittelbaren Nahkontakt mit dem Erwachsenen, dann bleiben sie in ihrer körperlichen wie psychischen Entwicklung zurück, weil ihre höhere Nerventätigkeit nicht genügend trainiert wird und sie häufig Hemmungszustände zeigen [...]. Der Anteil der verhaltensgestörten Vorschul- und Schulkinder ist bei uns wesentlich niedriger als in Westdeutschland [...]. Die Pflege und Erziehung der kommenden Generation wird eine Gemeinschaftsarbeit zwischen der Familie und den gesellschaftlichen Kindereinrichtungen sein« (Schmidt-Kolmer 1961). In diesen Beiträgen spiegeln sich der Zeitgeist und besonders das Dilemma zwischen Propaganda und Realität wider. Dennoch und nicht zuletzt weil die psychischen Auffälligkeiten von Heranwachsenden nicht zu übersehen waren, bemühten sich jenseits der offiziellen Linie sowohl in den meist an den Jugendgesundheitsschutz angegliederte, neu geschaffenen ambulanten staatlichen Kinderneuropsychiatrischen Beratungsstellen als auch in den stationären Abteilungen der psychiatrischen Großkrankenhäuser und Universitätskliniken und -ambulanzen immer mehr Fachkräfte auch um einen psychotherapeutischen Behandlungsansatz. So stellt 1956 Infrid Tögel, der zusammen mit Rose-Marie Kummer die Kinderpsy­ chotherapie an der Universitätsnervenklinik Leipzig 1953–1955 wiederaufbaute (} Abschnitt 2.5.2), in einem Aufsatz »Zur Geschichte der Kinderpsychotherapie« seine Position dar. Er würdigt die zentrale Bedeutung der Psychoanalyse für die Kinderpsychotherapie, favorisiert aber die »rationale Therapie«. Sinn und Erfolge der Analyse als Behandlungsmethode im Kindesalter scheint er in Frage zu stellen und schließt sich Müller-Hegemann an, »dass es für die Entwicklung des Kindes wertvoller ist, vorhandenes zu fördern als Verdrängungen nachzuspüren«. Dem Autor ist es besonders wichtig, bei seinem Streifzug durch die verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren – wie motorisch-gymnastische Ruhe-, Entspannungs- und Atemübungen, Suggestionen, Gemeinschaftsspiel, klärend-helfende Gespräche und Ähnliches mehr – nachzuweisen, dass »eine lenkende, also eine pädagogische Komponente in der kinderpsychotherapeutischen Arbeit nicht zu entbehren [...], eines Lenkens, erzieherischen Momentes nicht zu entraten ist« (Tögel 1956). Ebenfalls 1956 berichtet R. Kummer, die zu den bekanntesten Kinderpsychotherapeutinnen der DDR zählte, über »Erfahrungen mit einer psychothera­peutisch orientierten Spielthe-

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rapie« (Kummer 1956). Sie berichtet ganz plastisch aus ihrer klinischen Praxis, skizziert auch Melanie Kleins und Anna Freuds Therapietechnik, vertritt aber gleichzeitig eine gegenteilige Auffassung, »dass es nicht notwendig, ja sogar ungünstig sei, vom Kind im Spiel dargestellte Konflikte tiefenpsychologisch zu deuten, dass wir das Spiel des Kindes keineswegs im analytischen Sinne deuten dürfen, zum einen wegen der Fragwürdigkeit vieler der klassischen Deutungen, zum anderen weil es ja eben nicht kindgemäß ist, Konflikte durchzudenken, sondern durchzuspielen und im Spiel zu erledigen, das Kind in die Richtung zu lenken, in die es gesteuert werden muss«. Besonders schwer nachvollziehbar wird ihre Haltung bei »Teilretardierten mit altersgemäßem Intelligenzniveau, aber schweren Rückständen ihrer sonstigen Persönlichkeitsreife. [...] Wir arbeiten therapeutisch bei diesen Kindern meist etwas anders als bei vorwiegend neurotischen. Nach ein bis zwei Stunden freien Spiels [...] werden ihnen Aufgaben gestellt. Vor allem muss man darauf achten, dass die Darstellung der Realität in altersgemäßer Weise erfolgt. So war es notwendig, einzugreifen, als ein zehnjähriger Patient eine Frauenfigur aus dem Sceno-Kasten auf einen Wollhund setzte, das Ganze als einen Ritter aus dem Mittelalter erklärte und diesen vom Zug überfahren ließ. Nach einigen Stunden haben unsere Patienten sich den Forderungen gebeugt und vermeiden ganz von selbst derartige Fehler – bei wachsender Gestaltungskraft und inhaltlicher Bereicherung.« Hier wird es sich wohl kaum um Äußerungen zuliebe der offiziellen Linie handeln, sondern eher um eine in dieser Zeit auch unter analytischen Psychotherapeuten nicht ungewohnte Auffassung vom wissenden, erwachsenen Therapeuten, der das unwissende Kinde lenken und leiten muss. Bemerkenswert ist eine Arbeit des Kinderneuropsychiaters Christian Wieck. Er publizierte bereits 1956 über »Erziehungsberatung im Rahmen der Kinderpsychotherapie« (Wieck et al. 1973), in der er das Spektrum der »Erziehungsanstalten und [die] große Zahl von Heimen, Jugendwerkhöfen« für schwierige Kinder und Jugendliche beschreibt, in denen die Kinder nach einem »Gut-Böse-Schema« beurteilt werden und sowohl Eltern als auch Erzieher aus seiner Sicht »durch die außerordentlich bewegten Zeitumstände der letzten Jahrzehnte [...] in ihrer Haltung nicht selten erschüttert sind [...], auch aus der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse [...], und dass Angehörige der älteren Generation der heutigen Jugend nicht immer das Verständnis entgegenbringen können, wie es für diese notwendig und wünschenswert wäre«. Als poliklinisch und stationär tätiger Arzt beklagt er das Fehlen von »Heimen für psychotherapeutisch zu behandelnde Kinder und Jugendliche« und den »Verbotsgehorsam«. Dem setzt er Einfühlung, Vertrauen, Vermeidung von Strafen, Geborgenheit, »praktische Spieltherapie«, Elternberatung – besonders der Mütter-, aber auch Makarenkos Ansatz der »Belehrung«, entgegen. Von der psychoanalytischen Therapie hält er nichts, »weil es nicht kindgemäß ist, Konflikte durchzuspielen«, wohl aber von der »tiefenpsychologischen Auffassung [...] der Abreaktion«. Er beschreibt »3 spieltherapeutische Gruppen, die vom Arzt, Psychologen und von pädagogischen Mitarbeitern geführt werden«. Man wendet den Sceno-Kasten, freies Gestalten wie Fingermalen, Kneten, Gemeinschaftsspiele an und schafft eine »verständnisvolle Atmosphäre«. Dieses Angebot besteht sowohl stationär als auch für 20 ambulante Kinder. In der ausführlichen Darstellung seines Therapiekonzepts scheint er auch eine vorsichtige Kritik an der neuen Staatsideologie vermitteln zu wollen, die auf eine gelungene Umerziehung setzt und die Traumatisierung durch Nazizeit und Krieg verleugnet.

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2.5.2 Infrid Tögel: Der Wiederaufbau der Kinderpsychotherapie an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Leipzig Vor dem Zweiten Weltkrieg hat es an der Universitätsnervenklinik Leipzig eine ausgeprägte Kinderpsychotherapie gegeben. Dies war wohl vor allem Paul Schröder, von 1925 bis 1938 Direktor der Klinik, zu danken, dessen Arbeitsschwerpunkt die Kinderpsychiatrie war. Aus dieser Arbeit stammt sein Buch »Kindliche Charaktere und ihre Abartigkeiten« (Schröder 1931). Durch den Zweiten Weltkrieg war diese Tradition völlig abgerissen und kam nur in Berichten früherer Mitarbeiter vor. Seit 1952 war Dietfried Müller-Hegemann Direktor der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik an der Universität Leipzig. Er war psychotherapeutisch sehr interessiert und hat den Impuls zum Wiederaufbau der Psychotherapie an der Kinderabteilung der Klinik gegeben, die bis dahin ausschließlich psychiatrisch orientiert war. Der damalige Oberarzt dieser Abteilung, Dr. Christian Wieck, ein guter Kinderpsychiater, begleitete dieses Vorhaben freundlich, hatte aber selbst keine psychotherapeutische Ausbildung. Die Entwicklung lag bei einer damaligen Stationsärztin, Dr. Rose-Marie Kummer, und einem Psychologen. Wir waren dabei ausschließlich auf Literatur angewiesen. Drei Werke spielten dabei eine entscheidende Rolle: Anna Freud: »Einführung in die Technik der Kinderanalyse« (1927), Hans Zulliger: »Heilende Kräfte im kindlichen Spiel« (1952) und August Aichhorn: »Verwahrloste Jugend« (1925). Auf dieses Werk hatte uns Müller-Hegemann selbst ausdrücklich hingewiesen. Es ist bemerkenswert, dass wir uns in einer Zeit, in der die Orientierung auf die Reflextheorie Pawlows ihren Höhepunkt hatte, ausschließlich an analytisch geprägten Autoren orientierten. Die Konzeption von Melanie Klein, soweit sie uns damals zugänglich war, haben wir hingegen kaum in das sich entwickelnde Konzept einbezogen. Beim Wiederaufbau der Kinderpsychotherapie haben wir zunächst tastende Versuche unternommen und nur allmählich ein klareres Konzept entwickelt. Die einzelnen Methoden wurden zunächst auf der Station erprobt, wobei die dort tätigen Erzieherinnen, die dieser Arbeit sehr aufgeschlossen gegenüber standen, mit einbezogen wurden. Methodisch wurden angewandt: Autogenes Training (bei etwas älteren Kindern), Spieltherapie in Gruppen, wobei wir uns stark an den Prinzipien von Zulliger orientierten. Dabei wurde der Gruppendynamik große Aufmerksamkeit gewidmet. Veränderungen wurden im Wesentlichen durch interpretierende Hinweise der Therapeuten angestrebt. Maltherapie, wobei dunkles Packpapier (etwa 40 x 60 cm) verwendet wurde; teils wurde Fingermalen angewandt, es standen aber auch Pinsel unterschiedlicher Stärke zur Verfügung. Schließlich wurde in Einzeltherapie mit dem Sceno-Test von Gerhild von Staabs gearbeitet. Dabei stand der diagnostische Anteil dieses Verfahrens gegenüber dem therapeutischen sehr im Hintergrund der Aufmerksamkeit. Begleitende Therapie der Eltern war damals noch nicht bekannt, der Kontakt mit den Eltern hatte vorwiegend den Charakter der Beratung. Die Störungsbilder waren sehr vielfältig. Natürlich gab es in den Nachkriegsjahren nicht selten Verwahrlosungserscheinungen. Aber die typischen neurotischen Störungsbilder bei Kindern waren in der Mehrzahl. – Bei Verhaltensauffälligkeiten wurde meist die Spieltherapie in Gruppen eingesetzt, bei Enuresis und Enkopresis vorwiegend Maltherapie (bei Enko-

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2.6  Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen

presis akzentuiert Fingermalen), bei ausgeprägten Kontaktstörungen Einzeltherapie mit dem Sceno-Test. Natürlich war das Ausmaß der Erfolge unterschiedlich, aber es kam auch zu sehr bemerkenswerten Erfolgen.

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Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen

2.6.1 Michael Geyer: Internistische Psychotherapie in der Tradition der deutschen psychosomatischen Medizin in Halle/Saale – Ein Gespräch mit Hans-Walter Crodel (Jahrgang 1919) in seinem Haus in Halle G: Herr Crodel, ich freue mich sehr, Sie so gesund und wohl hier sitzen zu sehen. 1969, als wir uns das erste Mal beim Kongress der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in Bad Elster trafen, waren Sie 50 und ich 26 Jahre alt. Es liegt wohl in der Natur des Älterwerdens, dass mir damals der Altersunterschied größer schien als heute. In meiner Erinnerung waren Sie ein mir freundlich zugewandter »älterer« Herr, der alle wesentlichen Psychotherapeuten kannte und im Vorstand der Gesellschaft eine Rolle spielte. Dazu vielleicht später. Meine erste Frage betrifft die Gegenwart: Sie sind jetzt 90 geworden und machen noch jeden Tag Sprechstunde? C: Ja, ich hab noch Sprechstunde, und zwar internistisch-psychotherapeutisch. Ich habe also die Möglichkeit, psychosomatisch abzurechnen, und das mache ich auch relativ reichlich. Ich habe nicht die ganze Woche über einen vollen Kalender. Das heißt also, den Montag habe ich vormittags frei, dann habe ich am Nachmittag drei Stunden, am Dienstag morgens und nachmittags, Mittwoch nachmittags, Donnerstag und Freitag jeweils vormittags jeweils etwa drei Stunden. Das belastet mich nicht so sehr, ich habe Freude dran, hab die letzten 20 Jahre etwa 270 Scheine im Quartal. 15 bis 20 % der Patienten sind jeweils neu im Quartal. Ich mache meist Kurztherapien, aber auch Beratung im Sinne von Coaching. Das funktioniert eigentlich ganz gut. G: Und darf ich Sie auch nach Ihrem Motiv fragen, nach den Beweggründen? C: Na ja, Herr Geyer, das ist einfach das Problem des Mitbewegtseins, was dabei ’ne Rolle spielt. Das ist für mich eigentlich das Entscheidende. Nicht so sehr im Sinne von übertriebener Hilfeleistung und was man da alles noch für Gedanken dazu haben kann, sondern das Mitbewegtsein, eine Gemeinsamkeit zu finden, mit der man arbeitet und was letzten Endes hilft. G: Also, ich bin jetzt auch ein Jahr im Ruhestand und verstehe Sie ganz gut. C: Im Augenblick bin ich dabei, Fortbildung zu machen mit dem Thema Placebo und all dem, was dazugehört, und weiter bin ich einmal im Jahr in Bad Nauheim bei Herrn Schüffel und bin auch bei den Wartburg-Gesprächen dabei ... So weit die Gegenwart. G: Kommen wir zu unserem eigentlichen Thema. Mich interessiert Ihr Weg zur Psychosomatik und Psychotherapie. Wie ging das in den ersten Jahren nach dem Krieg in der Sowjeti-

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schen Besatzungszone mit der Psychotherapie? Sie sind ja einer der wenigen, die tatsächlich noch diese Zeit selbst mitgestaltet haben. Als der Krieg vorbei war, waren Sie ja schon Arzt. C: Ja, ich bin schon im Krieg Arzt gewesen. Um ein wenig früher anzufangen. Im Jahr 1927, da war ich acht Jahre alt, hat mein Religionslehrer im Gymnasium gesagt, lass dir doch »Zwischen Wasser und Urwald« vom Albert Schweitzer schenken. Und das haben meine Eltern getan, und von da an war für mich die Richtung klar. Vielleicht gehört noch was anderes dazu, was sehr merkwürdig ist. Mein Vater hatte mir zu der Zeit, als ich ins Gymnasium kam, einen Zwerg-Esel geschenkt. Da oben ist er [zeigt auf eine verblichene Wandmalerei im Wohnzimmer]. Und wenn ich so diese Zeit bedenke – merkwürdigerweise habe ich meine Kindersorgen und Jugendprobleme nicht mit meinen Eltern besprechen können, sondern mit dem Esel. Und das ist für mich eine Grunderfahrung, die auch dazugehört. 1938 habe ich dann das Abi gemacht. Da mein Vater von den Nazis entlassen worden ist, konnte ich nicht studieren. Auch weil ich nie beim Jungvolk oder der Hitlerjugend gewesen war. Aber dann während des Wehrdienstes in Leipzig ergab sich die Möglichkeit, in die Militärärztliche Akademie zu kommen. Und in der Militärärztlichen Akademie war ein sehr freizügiges Studium möglich, was, sagen wir, nicht ideologisiert war und mich ein bisschen erinnert hat an die Situation eines Colleges, die ich während eines Schüleraustausches in Oxford erlebt habe. Man konnte frei sein, konnte frei denken, und während dieser Zeit im Studium bin ich dann neben Berlin in Greifwald, Straßburg und zumindest Heidelberg gewesen, wobei in Straßburg erste Kontakte mit Psychologen zustande kamen, mit Bender, der auch Parapsychologe war. In Heidelberg bin ich durch Siebeck intensiv mit der Psychosomatik bekannt geworden. Ich habe dann einen wichtigen Impuls während der Examensarbeit in Berlin gehabt, da hab ich noch, obgleich ich keine Vorlesungen mehr besuchen sollte, von Bergmann gehört, bei dem von Uexküll Oberarzt war. Dass war so eindrucksvoll, dass ich gesagt habe: »Ohne das kannst du nicht«. Ich entsinne mich noch an von Bergmann, der eine Dame mit einem Basedow vorstellte, sich hinter sie stellte, die Thyroidea abtastete und sagte: »Wissen Sie, sie hat ›ne Schilddrüsenüberfunktion, aber dabei erlebt sie vieles.« Und das war’s. Vor Kriegsende habe ich noch in der Augenheilkunde promoviert und war dann in Halle an der Uni und wurde in Lazaretten eingesetzt. G: Und wie ging es nach dem Kriege weiter? C: Am Tage, bevor die Amis hier in Halle einzogen, war ich hier im Lazarett und wurde dann zur Seuchenbehandlung geholt. Ich hatte auch die Aufgabe, ein kleines Krankenhaus mit 50 Betten allein zu versorgen mit Typhus, Paratyphus, Diphterie, Scharlach, alles relativ schwierig. Ich habe dann eine kleine Epidemie von Polio (Kinderlähmung) bewältigen müssen, und dabei habe ich ein zentrales Erlebnis gehabt. Ich habe eine Einrichtung besucht, die auch Polio hatten, und hab da mitgekriegt, wie ein Mensch mit vier Leuten festgehalten und lumbalpunktiert wurde und habe da gesagt, so geht das bei mir nicht. Und habe es dann gelernt, dass man mit einem Kind redet und es richtig hinlegt und sagt, das piekst dann einen Augenblick, dann kann man durchaus eine Lumbalpunktion machen, wenn man es vernünftig macht, ohne dass das Kind schwierig wird, und man hatte seinen Liquor, und die Sache war erledigt. Das war also einfach von vornherein ein ganz anderer Weg, ranzugehen, und der hat sich eigentlich bei mir bewährt.

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G: Da haben Sie die Bedeutung der Arzt-Patient-Beziehung erlebt und vielleicht auch ihr suggestives Element? C: Ja. Das war mein Weg. Dann kam eines Tages der Stadtarzt, der Bruder eines Schulkameraden, und sagte: »Also du kannst hier nicht bleiben, wir machen im Luftwaffenlazarett in Dölau ein Stadtkrankenhaus auf. Wir brauchen jemanden in der Inneren, da kommst du dann hin.« Als ich dann da war, sagte er sofort eindringlich: »Bitte denken Sie dran, dass Psychosomatisches immer mit zu bedenken ist.« G: Sehr erstaunlich für diese Zeit, oder? C: Ja, das war 1946, als ich an ihn geriet. G: Und was war das für ein Fachmann? C: Er war Internist und Psychoanalytiker Jung’scher Prägung und in Halle als Stadtarzt eingesetzt. Während ich in Dölau schon eine Weile tätig war, rief er mich eines Abends – es war schon ziemlich spät – zu sich in die Chefetage darunter und sagte: »Crodel, ich bin morgen nicht mehr da. Ich weiß, wenn ich heute Nacht nicht weggehe, werde ich morgen verhaftet.« Er war SPD-Mitglied und sicher politisch sehr exponiert. Ein enormer Vertrauensbeweis übrigens. G.: Ja. Aber sicher auch ein Verlust. Wie ging es dann mit der Psychosomatik weiter? C: Das Nächste war dann, dass ich versucht habe – ja, es ging nicht anders –, es über Herrn Pawlow zu versuchen. Ich hab dann Pawlow bis ins Letzte hinein gelesen, bis ich gesehen habe, dass da auch sehr kluge Leute eine Rolle spielten. Dann kamen die Pawlow-Konferenzen. Müller-Hegemann organisierte in Leipzig in den frühen 1950er Jahren große Kongresse. Dann haben wir halt versucht, den Pawlow immer mitzudenken. Da gab es in der Psychosomatik ja auch reichlich Anhaltspunkte. G: Ja. Aber wie haben Sie das in die praktische Arbeit integriert? C: Wenn wir bei Pawlow bleiben wollen: Der Müller-Hegemann machte das ja sehr plakativ. Hauptsache etwas Neues, Modernes. Am Anfang war da viel Ideologie im Spiel. Bereits Ende der 1950er Jahre war das Politische schon nicht mehr so vordergründig. Da hieß es »Schlaftherapie« und das war was Medizinisches, Eigenes. Da fragte niemand mehr nach der Ideologie. Mit der Schlaftherapie haben wir es geschafft, uns vom Politischen abzukoppeln. Diese eigentlichen Pawlow-Geschichten waren dann nur noch in Berlin-Buch bei Baumann (Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Regulationsforschung) lokalisiert, aber dort ging es wirklich um Forschung und weniger um Politik. G: Und was haben Sie tatsächlich gemacht? C: Praktisch haben wir das ärztliche Gespräch mit einem psychodynamischen Akzent, Autogenes Training und Hypnose und später Gruppenpsychotherapie gemacht, wie wir es auch in Lindau gesehen haben. 1953 musste mein Vater, weil er einfach mit der politischen Situation nicht mehr zurechtkam, sich verändern und hatte dann einen Ruf an die Akademie in München. G: Über Ihren Vater haben wir ja noch nicht gesprochen. C: Er war Kunstmaler [zeigt auf die von ihm bemalten Wände des großen Wohnzimmers]. Er war also dann in München an der Akademie der Künste. Und dann war ich im Zwiespalt: auch dort hin zu gehen oder bei meinen Patienten zu bleiben. Aber nach München konnte ich damals leicht fahren. Ich hörte, was es da bei Stolze in Lindau für hervorra-

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gende Möglichkeiten gab. Und dann bin ich in Halle geblieben und fast jedes Jahr nach Lindau gefahren. G: Ich weiß, dass Sie selbst in dieser Zeit bereits eine Menge Fortbildungsveranstaltungen organisiert haben. C: Natürlich, ja, wir waren damals im mitteldeutschen Raum eine Gruppe von vier Leuten, die gut miteinander konnten. Das waren Marchand, Chefarzt der Lungenklinik in Ballenstedt, Schlieack und Wohlgemuth, zwei Internisten, die in Bernburg eine psychiatrische Zusatzausbildung gemacht haben und später in den Westen gegangen sind, und ich aus Halle. Wir haben uns zusammengetan und wir haben Kurse über 14 Tage gemacht, die bestanden im Wesentlichen aus Gesprächstechnik und Autogenem Training, auch Hypnoseausbildung haben wir gemacht. Und jedes Jahr bin ich zur Fortbildung nach Lindau gefahren. Als es dann so 1955/56 mit dem Westgeld schwieriger wurde, hat Stolze zu mir gesagt: »Ach wissen Sie, machen Sie doch einfach mit als Hilfskraft, und wir setzen Sie in den Kursen ein, wo Sie hinwollen.« So bin ich oft bei J. H. Schultz gewesen, bei Berthold Stokvis musste ich als Hilfskraft wach bleiben, während er hypnotisiert hat. Ich erinnere mich auch an Wiesenkötter und Heyer, die damals schon ziemlich alt waren, und Ernst Speer, von dem man lernen konnte, wie gehe ich auf Menschen ein, die nicht zu meiner Schicht und nicht in meine unmittelbare Lebenssituation hineingehören. G: Können wir noch ein wenig reden über Sie als Fortbilder? Sie waren ja im mitteldeutschen Raum nicht ganz allein auf weiter Flur. Gab’s denn damals auch Kontakte zu Jena? Zu Kleinsorge und Klumbies? C: Ja, wir haben uns gegenseitig unterstützt. Allerdings blieb ein gewisser Abstand. Ich glaube, es lag daran, dass ich deren psychophysiologische Experimente nicht mochte. Die haben die Versuchspersonen geängstigt und dann die Reaktionen gemessen. Das war nichts für mich. Das kann man nicht machen. G: Aber zusammen gearbeitet haben Sie, Kurse zusammen durchgeführt? C: Doch, doch, wir haben auch zusammen gearbeitet. So streng getrennt war das nicht. G: Dann gab es ja damals noch Beerholdt in Leipzig, Müller-Hegemann oder Lükke Aresin an der Leipziger Universität oder Helmut Born in Dresden auf dem Weißen Hirsch. Gab es zu denen Kontakte? C: Schon, aber nur sehr locker. Zusammen gearbeitet haben wir nicht. Auch zu MüllerHegemann in Leipzig kam ich erst in Verbindung, nachdem die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie gegründet worden ist und er der 1. Vorsitzende war. Da war ja auch die Pawlow-Ära bereits für uns am Ende. G: Wenn Sie die ersten 15 Jahre nach dem Krieg von heute aus überblicken, was hat sich für Sie Entscheidendes entwickelt in dieser Zeit, was war für Sie die wesentliche Entwicklungstendenz? C: Für mich war es die Bedeutung, die der Einzelne und die Beziehung bekommen hat. G: Das wäre der Gegensatz zur Reflexologie Pawlows, wo die Seele und die Beziehung eigentliche keine Rolle spielen sollte. C: Ja, allerdings spielte das Psychoanalytische nicht die große Rolle wie im Westen. G: Haben Sie denn ’ne Ahnung, ob für Sie überhaupt die analytische Szene, die psychoanalytische Szene in Mitteldeutschland noch irgendwo präsent war? Gab’s da noch was?

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C: Bis auf Beerholdt in Leipzig und Stockhardt aus Frankfurt/Main, der einige Zeit in Halle war, gab es in den 1950er Jahren niemanden mehr. G: So könnte man für Ihren Kreis sagen, dass er in erster Linie aus internistischen Psychosomatikern und Psychotherapeuten bestand, also eine Fortsetzung der Tendenzen war, die in der alten AÄGP (Allgemeine Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie) dominierten? C: So kann man das sehen. Das Analytische spielte zwar eine Rolle, war aber nicht das Wesentliche. G: Also, wenn ich noch mal rekapitulieren darf: Es gab so einen Trend, es beginnt mit der Psychosomatik der alten Schule, also von Bergmann, von Uexküll, von Weizsäcker, Siebeck usw., und dann kamen psychodynamische und beziehungsdynamische Elemente dazu. C: Ja, die sind darauf aufgebaut worden. Zunächst einmal ist dieser Boden dagewesen, und von diesem Boden aus ging’s dann mehr in die Beziehungsproblematik rein. G: Also ein kleiner Verbund von Internisten, die psychodynamisch orientiert waren, haben dann hier Kollegen, wahrscheinlich vorwiegend Internisten oder Psychiater ... C: Ja, Internisten, Psychiater, aber auch ziemlich viele Allgemeinärzte ... G: ... die haben Sie dann unterrichtet. C: Ja, die haben wir unterrichtet, und wir haben uns regelmäßig getroffen. Das Entscheidende war, den Kollegen etwas zu geben. Aber eine Organisationsform, mit der man eine Gesellschaft gründen könnte, war das nicht. G: Hm. Und diese Tätigkeit wurde sozusagen am Anfang mit Pawlow verbrämt, kann man das so sagen? C: Ja, verbrämt, trotzdem ist es so, dass ich einfach das, was ich da erarbeitet habe, nicht missen möchte – ganz komische Sache. Ich würde sagen – diesen ganzen ideologischen Aufbau finde ich ziemlich entsetzlich, aber die Bemühung, an der Stelle in die Funktion des Nervensystems einzudringen, halte ich schon für ganz wesentlich. G: Für den Internisten ist das auch ganz plausibel. C: Ja, ist ganz wesentlich. Im Grunde ging’s dann um unsere unmittelbare Tätigkeit. Wenn ich wüsste, welche Reflexe beispielsweise beim Magen ’ne Rolle spielen, dann könnte ich viel besser mit Unregelmäßigkeiten umgehen. Das war die Frage, die ins Praktische hineingeführt hat. G: Ja, ja, diese Ideen gibt’s ja heute noch. C: Ja, ja eben. G: Und dann kam 1960 die Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Da waren Sie mit dabei? C: Ein Jahr nach der Gründung bin ich eingetreten. Da gab es irgendwelche persönlichen Gründe, dass ich bei der Gründung nicht dabei war. Ich habe immer den Eindruck gehabt, dass Marchand nicht so sehr gerne wollte, dass ich das Wort führe. Marchand, der konnte es nicht haben, dass irgendjemand ’ne andere Meinung hatte. Er musste auf jeden Fall bestimmen. Und er hat tatsächlich einmal in einer Hypnose so stark geleitet, dass ein schwerer Zwischenfall aufgetreten ist, wo es sehr schwierig war, den Betreffenden wieder aus dem hypnotischen Zustand rauszukriegen, weil er so stark, zu stark bestimmt hatte. Also, mich wollte er nicht bei der Gründung dabei haben.

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G: Ich habe mit ihm auch sehr spezielle Erfahrung. Er gab sich bei der »Firma« den Namen »Kaufmann« (IM Kaufmann) – eine etwas einfallslose Übersetzung seines Namens – und sorgte mit einer üblen Denunziation für eine 15-jährige Bespitzelung meiner Person. Aber kommen wir zurück zum Thema. Später sind Sie dann lange im Vorstand gewesen. Aber wir wollten ja unser Gespräch hauptsächlich über die Zeit der 1950er Jahre führen. Vielleicht noch vorher die Frage zum Mauerbau 1961. War Ihnen klar, dass Sie im Osten bleiben wollten? C: Ja, der Mauerbau. Kurz vor dem Mauerbau war eine Psychosomatiker-Tagung in Hamburg. Ich war mit Derbolowski [ein bekannter Psychosomatiker aus Hamburg, der auch in der beginnenden Gruppenpsychotherapiebewegung eine Rolle spielte; M. G.] gut bekannt. Aber beim Gesellschaftsabend saßen an einem Tisch Herr Balint, Herr Mitscherlich und Herr Jores, also Leute, vor denen man als junger Mensch doch sehr viel Achtung hatte. Ich bin einfach hingegangen und habe gesagt: »Also wissen Sie, ich sitze in Halle, ich mache das und das, bin an der Psychotherapie interessiert. Ich weiß nicht, wie ich weitermachen soll. Soll ich mich in Richtung einer weiteren großen analytischen Ausbildung bewegen, das würde Erhebliches in meinem Leben verändern, oder soll ich versuchen, in Halle so weiterzuarbeiten?« Und das führte zu einem Gespräch von ungefähr 20 Minuten und Balint sagte schließlich: »Sagen Sie, Herr Crodel« – Balint kannte übrigens Halle, weil er zwei Jahre dort in seiner Facharztweiterbildung gewesen ist – »Sagen Sie mal, haben Sie mal überlegt, wo Sie mehr gebraucht werden?« Na, das war für mich ziemlich klar. Diese Antwort hat vermutlich bewirkt, dass ich dann letzten Endes hier geblieben bin. Ist also sehr wichtig gewesen für mich. Übrigens stand ich am Tage vorher mit ihm im Gang und fragte: »Sagen Sie, wie ist das denn so mit dem Timing bei Deutungen. Gibt’s da irgendetwas, was Sie mir als Regel sagen könnten?« Er sagt: »Ach, wissen Sie, das hat man so im Urin.« [Beide lachen.] G: Also, Sie hatten sich schon entschieden, in Halle bei Ihren Patienten zu bleiben. Aber der Kontakt zu Ihren Eltern wurde sicher schwierig. C: Ja, sehr. Zur Beerdigung durfte ich dann in den 1970ern hinfahren. Dann aber erst wieder 1988. G: Eine sehr lange Zeit ... – Wir haben sehr wenig über Ihre Klinik und die Psychotherapeutische Station Ihrer Klinik geredet. Können wir das noch nachholen? C: Gern. Zunächst ist es so gewesen, dass ich seit den 1950er Jahren immer Betten innerhalb der Inneren in Dölau mit Psychotherapiepatienten belegt hatte, dann auch eine Station. Aber 1969 ergab es sich, dass in der Nähe des Klinikums ein Haus frei wurde. Plötzlich konnte ich da rein, und wir hatten dann 21 Betten und konnten somit zwei Gruppen durchführen. Die Schwierigkeit war damals nicht, dass man das einrichten konnte, sondern die Namensgebung. G: Ja? C: »Psychotherapeutische Station« hätte ich mit Sicherheit nicht durchgekriegt. Ja, das war so eine komische ideologische Engstirnigkeit! Da haben wir dann »Hufeland-Station« daraus gemacht. Und damit konnte ich gut leben, und zwar deshalb, weil ich von seiner »Makrobiotik« die ich weiß nicht wie vielte Auflage habe mit einer Eintragung vom lieben Onkel Hufeland [Crodel lacht herzhaft, da er mit Hufeland irgendwie verwandt ist].

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Wir haben dann letzten Endes eine stationäre Behandlung im Sinne einer psychodynamischen Therapie durchgeführt, sowohl mit Einzel- als auch Gruppengesprächen gearbeitet und meine Frau hat dann die kommunikative Bewegungstherapie durchgeführt. Die Gruppengespräche allerdings wurden eher aktiver geführt, weniger im Sinne einer analytischen Gruppe. G: Also, eher leiterzentriert. C: Ein bisschen leiterzentriert, ohne zu sehr leiterzentriert zu sein, sondern es wurde immer wieder aufgenommen, was da gekommen ist. G: Und wie lange haben Sie diese Station geführt? C: Bis 1991. Leider ist die Station nach meinem Weggang eingegangen, weil sich kein Nachfolger fand. G: Da waren Sie immerhin schon 72! C: Ja, da war ich schon so alt. Aber mit unserer Arbeit bin ich ganz zufrieden bis dahin. Wir haben versucht, unsere Möglichkeit zu nutzen, und das, was wir da machten, ist meiner Meinung nach auch ganz gut gegangen. Wir haben allerdings die Gruppen nicht so im Sinne von Höck laufen lassen. Das hat nicht so ganz gepasst ... G: Das war nicht so ganz Ihre Mentalität. C: Nee, musste nicht sein. G: Wenn ich es richtig verstanden habe, sind Sie immer Internist geblieben. C: Ja, ich war internistischer Chefarzt und habe immer diesen Sonderbereich Psychotherapie mitgemacht. G: Dann wäre ich erst mal am Ende mit meiner Fragerei. Ich danke Ihnen für diesen Einblick in eine Zeit, die ich persönlich nicht erlebt habe.

2.6.2 Gottfried Lobeck: »Es hat sich so ergeben« – Aus Gesprächen mit Helmut Born (Jahrgang 1914) zu den Anfängen klinischer Psychotherapie in Dresden Die Sorge, ob rückblickende Gespräche die Kraft des hochbetagten Baumeisters sächsischer Psychotherapie zu sehr forderten, wurde von der sichtbar belebenden Wirkung zufriedener Rückschau und mit stolzer Freude wahrgenommenen Interesses zu seiner Lebensleistung in den Hintergrund geschoben. »Es hat sich so ergeben«, war die knappe Antwort darauf, worin seine Aufgeschlossenheit seelischer Krankenbehandlung gegenüber fuße. Die ersten Jahre des Arztberufes forderte der Krieg. Auf einer langen Fahrt im Lazarettzug lieh ihm sein Vorgesetzter Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Neurosenlehre – »das war ein theoretischer Vorlauf, dem ich zunächst nicht folgte.« Dennoch fiel die Lektüre auf fruchtbaren Boden, habe er doch auch von dieser Seite seine früh gewachsene Ahnung bekräftigt gesehen, dass ein gleichsam »unsichtbarer Bereich«, zu dem er auch den Glauben zähle, unser Dasein deutlich mitgestalte. Auf die Innere Medizin mit ihrem Versprechen, eine wesentliche Seite des Krankheitsverständnisses abbilden zu können, fiel dann seine Wahl. Und in den Worten aus seiner ersten, bisherige Lebenserfahrungen gewichtenden und ordnenden Veröffentlichung 1949

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zum Weltbild eines Arztes finden sich Sätze, die sein späteres psychotherapeutisches Wirken erstaunlich klar und entschlossen programmatisch vorwegnehmen: »Diese Situation ist nicht einfach damit abzutun, dass man eben den ›seelischen Faktor‹ ›berücksichtigen‹ müsse, wie man, seit es Mode und salonfähig geworden ist, bis zum Überdruss hören und lesen kann. Zum Überdruss, weil man sofort die stehende Formel, die leere Redensart herausfühlt – der ›Faktor‹ wird eben nur konstatiert, viel seltener auch wirklich ›berücksichtigt‹, noch seltener wird er aber wirklich gründlich erfasst und praktisch für die Behandlung in Anspruch genommen« (Born 1949). 1948 begann er in Dresden-Neustadt als Assistenzarzt an der inneren Klinik »Wurzener Straße«. Rückblickend erinnert er das ihn damals bewegende Gewicht der »Tatsache, dass ich ohne Voreingenommenheit in der Arbeit mit internistischen Patienten ständig auf einen hohen Anteil psychogener Syndrome stieß, die ich dann, so gut ich konnte, mit psychotherapeutischen Mitteln, soweit sie mir vertraut wurden, zu behandeln versuchte«. Und »es war schon ein Glück«, dass er damals, bald schon als Oberarzt, in Prof. F. Lickint einen wohlwollenden und anerkennenden Förderer fand, nach dessen Wechsel 1953 an die Medizinische Klinik Dresden-Friedrichstadt er die Leitung der Klinik übernahm. Ermutigung und Stärkung in annehmend-verständnisvoller Atmosphäre sei immer wesentlich für ihn in der Begegnung mit seinen Patienten gewesen. Physiotherapie, Körperertüchtigung und Autogenes Training wurden tragende Säulen, und als nützlich habe sich der Gedanke erwiesen, mit der Ausdrucksgymnastik (Born 1953) den Patienten zu helfen, auf somatopsychischem Wege psychosomatischen Abläufen gleichsam in Umkehrung entgegenwirken zu lernen. Mit der Verlegung der Klinik nach Dresden-Loschwitz (1956) habe er, erstmals im Bezirk Dresden, einer Station Gestalt gegeben, welche die bisherigen psychotherapeutischen Erfahrungen mit aufgeschlossenem Personal umfassender im Rahmen der internistischen Behandlung zu nutzen half und weiterzuentwickeln versprach. Ausgehend von den unmittelbaren praktischen Erfahrungen, den Anregungen über Austausch, Literatur und Tagungsteilnahme (bis 1961 gelegentlich in Lindau) habe sich ihm die Arbeit am »seelischen Faktor« in drei Stufen geordnet (Born 1959). Mit »Behandlung durch intensive Aufklärung« suchte er der häufig auch iatrogen induzierten »übertriebenen Krankheitsfurcht« beizukommen. Die »Behandlung durch Entspannungsübungen« sei dem Grundsatz gefolgt: »Entspannung entzieht der aus dem Ich-Krampf lebenden Neurose den Boden. Als Übung mildert sie, zur Haltung vertieft wandelt sie (gegebenenfalls auch ohne analytische Klärung)«. Und in der »Behandlung durch Aussprache« (»die pathogene Potenz affektiver Spannungen und Konflikte nimmt in dem Maße ab, wie sie ausgedrückt oder bewusster Auseinandersetzung zugänglich gemacht werden«) habe er das Aussprechen seinerzeit überfordernder seelischer Belastungen ermutigend und anteilnehmend begleitet und so im Wiedererleben korrigierendes Durcharbeiten angestrebt. Der Gang der Dinge stellte ihn dann 1963 vor die Aufgabe, als Chefarzt das im Dresdner Stadtteil Weißer Hirsch den Beschäftigten im Uranbergbau errichtete Nachtsanatorium nach Ende des Erzschürfens in der Dresdner Region zu übernehmen und in eine städtische Klinik für Innere Medizin zu wandeln. Vorgefunden vielfältige Möglichkeiten zur Physiotherapie, Sportstätten wie auch ein Kultursaal erlaubten nun in besonderer Weise, »meinen

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ganzheitlichen Begriff von innerer Medizin zu verwirklichen – und zu dem gehörten (neben Psychotherapie) auch Bewegungs- und Musiktherapie, Physiotherapie im weitesten Sinne (Training, Hydrotherapie) sowie Ausdruckstherapie«. Ein Psychologe konnte eingestellt werden, und ärztliche wie pflegerische Kompetenz für die auch hier eingerichtete, psychotherapeutisches Vorgehen einbeziehende Station wurde sorgsam ertüchtigt. Mit Veröffentlichungen und Vorträgen habe er sich mit seinen psychotherapeutischen Erfahrungen im Rahmen der Inneren Medizin Interessierten vorstellen können. Ein besonderes Anliegen sei es außerdem gewesen, seinen »ganzheitlichen Blick« in die Fortbildung der Mitarbeiter im Gesundheitswesen einzubringen. Gern und oft nutzte er die Gelegenheit, dem Hörerkreis an der evangelischen Akademie in Meißen seine Gedanken und Erfahrungen zu erschließen. »Die Psychotherapie hat sich (in den Anfängen allein auf weiter Flur in Dresden) ganz natürlich aus der Bedarfslage der Inneren Medizin entwickelt.« Einmal geweckt, bewirkten ein stetig steigender Wunsch und Bedarf nach so konzipierter Behandlung sowohl seitens der Patienten als auch der zuweisenden Kollegen, dass weitere Schritte zu einer jetzt selbständigen, fachkundig geleiteten psychotherapeutischen Spezialstation ermutigt wurden. Spätestens hier war guter Grund nachzufragen, wie die Träger der Stadt und die Verantwortlichen des Bezirkes Dresden für diesen Weg gewonnen werden konnten. »Das war nicht so schwer, allerdings ging das auch nicht von allein.« Er habe stets das persönliche Gespräch gesucht, und es sei ihm eigentlich immer gut gelungen, Interesse, Verständnis, aber auch Vertrauen für sein Wirken und seine Absichten zu wecken. Unterstützend sei es wahrscheinlich auch gewesen, dass Professor Dr. Ehrig Lange, der damalige Leiter der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik an der Dresdner Medizinischen Akademie, zu verstehen gab, er habe zunächst nicht die Absicht, selbst eine psychotherapeutische Abteilung aufzubauen, und stehe deswegen dem Wunsch wohlwollend gegenüber, in der Klinik auf dem Weißen Hirsch eine eigenständige psychotherapeutische Abteilung einzurichten. Die Gründung der ersten psychotherapeutischen Spezialstation 1967 im Bezirk Dresden an seiner Klinik, die 1970 mit dem Umzug in ein separates Gebäude außerhalb des Klinikbereiches auch räumlich ihre Selbständigkeit unterstrich, habe er mit Stolz und Genugtuung erlebt. Für ihn habe diese notwendig gewordene Entlassung in die Eigenständigkeit zu keiner Zeit das Ende der Psychotherapie in der Inneren Medizin bedeutet. Unverändert wurde von ihm das internistische Vorgehen in bewährter Art mit psychotherapeutischer Einflussnahme verbunden. Und 1974 bekam mit der Einrichtung einer psychosomatischen Sta­tion innerhalb seiner Medizinischen Klinik dann auch dieses spezielle Behandlungsprofil Struktur. Somit sei er als Internist bis zu seinem Wechsel in den Ruhestand 1980 stets auch Psychotherapeut geblieben. Es hat sich so ergeben – die anklingende Leichtigkeit dieses Satzes verschleiert etwas die Besonderheit, dass Chefarzt Dr. Born »in den Anfängen allein auf weiter Flur in Dresden« diese Pionierleistung erbrachte. Dass im täglichen Tun ein Internist bei seinen Patienten »in einem hohen Prozentsatz auf psychogene Syndrome stieß«, war ja seinerzeit wie auch heute

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nichts Ungewöhnliches. Jedoch bedurfte es augenscheinlich besonderer Aufgeschlossenheit, sicheren Mutes und steten Bemühens, dies auch als Aufgabe zu sehen und sie meistern zu wollen. Darauf angesprochen ließ er erkennen, dass hier prägende Gegebenheiten seinen Lebensweg gestalteten. Sein Vater starb sehr früh, und als kleiner Knirps habe er es dankbar begrüßt, dass seine Mutter – auch auf sein Drängen – einen Mann heiratete, der ihm ein guter, zugewandt fördernder und beispielgebender Vater wurde. Später war es dann ein verehrter Gymnasiallehrer, der in ihm den tiefen Wunsch weckte, sich um einen Studienplatz der Germanistik und Pädagogik zu bemühen. Nur der Umstand, dass im Jahr seiner Bewerbung dafür kein Platz frei war, habe ihn dann zum Medizinstudium geführt. Wesentlich wurde die Begegnung mit einem erfahrenen Bergführer in den Alpen, der ihm mit christlicher Glaubensstärke, tiefer Naturverbundenheit und aufrechter Menschlichkeit eine besondere Lebenswelt erschloss, Haltung vermittelte und ein lebenslang vertrauter väterlicher Freund wurde. Er vor allem habe es vermocht, ihm die Augen auch für die »unsichtbaren Bereiche« zu öffnen. Ein tiefes Bedürfnis sei gewachsen, das so geformte Verständnis zu Krankheit und Gesundheit, einem Bergführer gleich, ermunternd, anleitend und beispielgebend sowohl seinen Patienten als auch seinen Mitarbeitern zu vermitteln. Dankbar nehme er wahr: »Einiges von diesem Geiste ist heute noch lebendig geblieben«. Am Ende des Weges: »›Überwinde dich selbst‹ ist ein großes Wort, das über meiner Jugend stand: Jugend hat immer zu große Worte, man sagt auch, dass sie keine Tugend hat. Das Motto hatte auch einen zweiten Teil: ›[...] und du überwindest die Welt‹. Ich habe sie nicht überwunden; und so ist es allen gegangen, die dieses zu große Wort zu ihrem Leitspruch genommen haben. Weil es nämlich ein dummer Leitspruch war. Oder ein ›geheimnisvoller‹ im Gewand der Dummheit? Weil davor gehört hätte, was die Griechen schon vor zweitausend Jahren in ihren Sprüchen des Delphischen Orakels wussten, als erstem: Gnothi seauton (erkenne dich selbst). Der Zentaur, am Rand der Dresdner Heide, hat mich immer geheimnisvoll angesprochen. Ich denke, jetzt beginne ich zu begreifen; nach 95 Jahren in dieser Welt, die ich nicht überwunden habe, aber vor der ich in Bewunderung und Ehrfurcht schaudernd stehe. Diese Symbolfigur besagt: Erkenne dich selbst – so bist du Teil dieser Welt und ihrer Geschöpfe! Du bist nichts Besseres als die anderen, und doch schon ein Stückchen auf dem Weg zu einem anderen, neuen; aber eben ein Stück, eng verbunden mit dem Tierischen. Du beginnst einen Menschenkopf zu erheben, aber nicht in Hochmut, sondern in Hoffnung.«

2.6.3 Siegfried Schnabl: Anfänge der Psychotherapie in einem Versorgungskrankenhaus des Gesundheitswesens Wismut in Erlabrunn/Erzgebirge – Ein persönlicher Rückblick Vorbemerkung: Im September 1955 nahm die sog. Pawlow-Station der Medizinischen Klinik des Bergarbeiterkrankenhauses Erlabrunn auf Initiative des damaligen Ärztlichen Direktors und internistischen Chefarztes Dr. med. Wolfgang Mährlein ihre Arbeit auf. Mit Jahresbeginn 1956 begann der Klinische Psychologe Dr. phil. Siegfried Schnabl als erster fachlicher

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Leiter mit dem Aufbau einer stationären Psychotherapie. Er wurde später mit seinen Veröffentlichungen zum Sexualverhalten und zur Sexualaufklärung DDR-weit und international bekannt. Bei der Tagung »Fünfzig Jahre stationäre Psychotherapie im Krankenhaus Erlabrunn« in Erlabrunn am 22. April 2006 hielt er einen humorvollen und bewegenden Vortrag über die ersten Jahre der Erlabrunner Psychotherapie. Das Manuskript wurde von Helmut Röhrborn geringfügig überarbeitet. Nach der Gedächtnispsychologie stirbt das Alte später als das Neue. Also erinnere ich mich an die Erlabrunner Zeit, zumal sie für meine Biographie sehr wichtig war. Ich muss mich aber in der kurzen Rede auf einige Reminiszenzen vom Status nascendi der Erlabrunner Psychotherapie beschränken. Anfang 1956 trat ich als noch 28-Jähriger mit etwas Herzklopfen erwartungsvoll hier an. Heute steht nun, wie Sie sicher errechnen und leider vielleicht auch sehen, ein alter Mummelgreis vor Ihnen. Es soll mir nicht peinlich sein, sofern Sie nicht auch noch eine senile Demenz diagnostizieren. Das Angebot des Ärztlichen Direktors Dr. Mährlein, der zu meiner Freude heute hier anwesend ist, bezog sich auf den Aufbau und die Leitung einer »Pawlow-Station«. Ich sollte schon etwas früher kommen, wollte aber meine Promotion noch abschließen. Damals vollzog sich in der Sowjetunion und folglich auch in der DDR ein Pawlow-Revival. So war meine Dissertation im Rahmen eines Aspirantur-Forschungsauftrags nicht zufällig eine experimentelle Arbeit bezogen auf Pawlow’sche »Höhere Nerventätigkeit«. Aus seinen Werken, worin auch von Neurosen die Rede war, erhoffte ich ein gewisses naturwissenschaftliches Fundament, wenigstens zum Verständnis kortikaler Mechanismen neurotischer Reaktionen. Klinisch relevant waren besonders die Forschungen seines Schülers Bykow über kortiko-viszerale Regulationen. Unter diesem Thema fand 1954 in Leipzig ein Kongress statt. Pawlow schrieb auch über Schlaf und schon Anfang der 1950er Jahre schuf Baumann in Berlin-Buch eine elegante Vorzeigestation. 1953 erschien sein Buch »Physiologie des Schlafes und Klinik der Schlaftherapie«. Obwohl wir ein Drittel des Lebens verschlafen, begann die Forschung erst, REM-Schlaf war noch unbekannt. Unsere Erlabrunner Station lief von Anfang an ungetauft beharrlich als Schlaftherapie und man überwies zur »somniferen Therapie«. Baumann behandelte damit vor allem innere Krankheiten. Auch mir wurde angetragen, vor allem Hypertonien und Magen-Darm-Ulcera und -entzündungen kurieren zu wollen. Wir konnten auch Erfolge unter reichlichem Schlaf neben medikamentöser, Diät- und Rollkurbehandlung erzielen, aber diese waren oft gefolgt von Rezidiven. Es gab noch keine verträglichen effektiven, retard wirkenden ACE-Hemmer oder Sartane, Helicobacter pylori war noch unentdeckt. Bald richteten wir die Indikationen auf funktionelle Erkrankungen, vorwiegend psychogene, und ich gestehe, von Anfang an Psychotherapie betrieben zu haben. Die meisten Patienten kamen von den internistischen Stationen, auf denen die Beschwerden somatisch nicht erklärt werden konnten. Die Oberärzte Scholze und Bothe der Medizinischen Klinik betreuten diese Patienten kooperativ mit, auch wenn sie später auf unserer Station behandelt wurden. Zunächst wurden sie mir konsiliarisch vorgestellt. Wenn ich genügend Verdacht auf psychische Anteile in der Ätiopathogenese sah und sie aus diesem

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

oder anderen Grund für uns geeignet fand, wurden sie nach schriftlichem Befund und Besprechung in der sog. Mittagsrunde übernommen. Diese Mittagsrunde fand täglich im Chefarztzimmer statt, wohin um zwölf Uhr die Internisten über die sog. »Mährlein-Brücke« eilten. Es war zwar keine Balint-Arbeit, dennoch glaube ich anmaßend, dass bei den ausführlichen Vorstellungen der Symptomatik mit der Lebensgeschichte der Patienten das ganzheitliche, psychosomatische Denken bei den Internisten gefördert wurde. Der Terminus »psychosomatisch« galt übrigens ideologisch als westlich, dualistisch suspekt. Die meisten Patienten klagten über multiple Beschwerden, im Schnitt die Männer über 3,17, die Frauen über 3,84. Über Schlafstörungen klagten 33 % der Männer und 37 % der Frauen, danach folgten in der Häufigkeit Kopfschmerzen und Herzbeschwerden. Schwäche, Ängste, Phobien, Schwindel etc. beklagten überwiegend Frauen. Sehr bald entwickelte ich eine »Dokumentation klinisch-psychologischer Untersuchungen« auf Randlochkarten. Damit ließen sich hunderte Daten aus Anamnese und Befunden verschlüsseln und per »Nadelung« beliebig korrelieren. Das war günstig für eine wissenschaftliche Auswertung, die Dr. Mährlein sehr förderte. Computer gab es noch nicht. Später verschlüsselte und speicherte ich die Daten meiner Intim-Enquete von 2000 Probanden für die Habilitationsschrift. Die so häufigen Insomnien ergaben sich auch aus der Annahme Einweisender, Schlaftherapie heile sie, dabei wäre das eher kontraindiziert gewesen. Wir strebten auch keinen unphysiologischen Dauerschlaf an, sondern nur einen prolongierten unter sparsamster Verwendung von Hypnotika, ohne Barbiturate, Benzodiazepine selten. Als Faustan (Diazepam) aufkam, wurde es häufig und oft lange von Praktikern verschrieben, oft ohne das Abhängigkeitspotential genügend zu bedenken. Hauptmedium – neben dem Abbau zwanghaften Schlafenwollens oder anderer Ursachen – war das hypnogen modifizierte Autogene Training, das wir zu jeder Bettzeit zentral in die Zimmer leiteten. Das Autogene Training setzten wir auch oft ambulant individuell variiert ein, meist als Adjuvans, denn allein heilt es selten Neurosen. Das gilt auch für die Hypnose, mit der wir vor allem bei monosymptomatischen Fällen Erfolge hatten. Ich erinnere mich, schon bald hier auf einer Ärztetagung eine Hypnotherapie demonstrieren zu müssen. Die Ein- oder Überweisungsdiagnose lautete damals vorwiegend »Vegetative Dystonie«. Ätiologisch sagt sie nichts aus, meist erwiesen sich dagegen psychische Faktoren als relevant. Die »vegetative Dystonie« larvierte aber gut, denn als psychogen erkrankt oder neurotisch zu gelten, empfanden viele, nicht zuletzt medizinisches Personal, beleidigend. Organisch krank zu sein war ehrenhafter – das ist vielleicht noch heute so. Wir bekamen ja auch manche Funktionäre, die keiner psychischen Fehlhaltung verdächtigt werden wollten. Da klang »Erschöpfungssyndrom« fast wie der Titel »Held der Arbeit«. Sicher hat sich das Vorkommen bestimmter Symptome seitdem verändert. So sahen wir damals nicht selten pubertätsmagersüchtige Mädchen als Anorexia nervosa, aber keine heute so häufigen Bulimien mit Fress-Brech-Sucht. Auch neue Termini gibt es für altbekannte Diagnosen wie generalisierte Angststörung und Persönlichkeitsstörung. Ansonsten behandelten wir die verschiedensten Neurosearten und psychogenen Erkrankungen bis hin zu exogenen Depressionen, die man heute wohl pathophysiologisch kaum noch von den endogenen trennt. Die nebenwirkungsarmen SSRI gab es noch nicht.

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2.6  Berichte von und Interviews mit Zeitzeugen

Manches hat sich heute als organische Krankheit erwiesen, z. B. die Migräne, auch wenn die Attacken oft psychisch getriggert werden. Weder mit Analgetika noch mit Psychotherapien erzielte man Besserungen wie heute mit Triptanen. In meinem speziellen Fach galten Potenzstörungen zu 90 % psychogen, 10 % als organisch bedingt. Seit sich zunehmend Urologen damit befassten, kehrte man das Verhältnis um. Die Wahrheit liegt sicher bei 50/50. Vor allem Angio- und Neuropathien werden als Ursache angesehen, die diabetogenen sind schon lange bekannt. Nun eroberten PDE-5Hemmer wie Sildenafil den Markt. Die meisten Männer wollten ja nur eine »Gliedsteifmache-Therapie« mit Medikamenten oder Tricks, denn nur ihr Penis sei gestört, nicht sie selbst oder die Partnerschaft. Frauen sind für dyadische Probleme meist sensibler. Studien zeigen nun, dass psychogene erektile Dysfunktionen, wie sie heute weniger traumatisierend, aber bedenklich Erfolgsorgan-fokussierend heißen, auf die blaue Pille sogar höherprozentig ansprechen als organisch bedingte. Warum nicht nutzen, wenn erfolgreicher Coitus viagratus die potenzkillenden Versagensängste abbaut, wofür man im Prä-ViagraZeitalter so viel Zeit und Geduld brauchte. In der Gründerzeit und danach arbeitete ich nicht nach einer bestimmten Lehrmeinung, wenn auch stets einige bedenkend. Es waren vorwiegend fokus- und konfliktzentrierte Gesprächstherapien. Die Patienten erwarteten vor allem Beschwerdereduktion, und so musste man initial symptomorientiert vorgehen und, falls nötig, behutsam auf psychogene Faktoren, auch der Persönlichkeit, weiterführen und die Kooperation vertiefen. In der täglichen Praxis lernte man manches Handling besser als aus Büchern, z. B. dass man sich bei einem eloquenten Patienten disqualifiziert, wenn man nach einer Stunde einen Blick auf die Armbanduhr wagt – er habe ja erst angefangen. Wenn Uhr, dann an der Wand gegenüber. Man entdeckt auch die Übertragung und Gegenübertragung, die ja kontrolliert in homöopathischer Dosierung unverzichtbar ist, auch Empathie, ohne sich für eine Koalition gegen den schlechten Chef oder Partner vereinnahmen zu lassen. In der Paartherapie war darauf zu achten, nicht ungleich gelbe Karten zu zeigen, um nicht die Akzeptanz des einen zu verlieren. Und man lernte hohe Frustrationstoleranz, wenn sich keine baldigen Erfolge zeigten. Traten sie ein, durfte man nicht narzisstisch gekränkt sein, wenn der Patient sagte oder dachte: Es war ganz interessant, aber ich hätte ihn gar nicht gebraucht, hab’s doch selbst geschafft. Es galt, sich über solche Abnabelung zu freuen, leisten wir doch vor allem Hilfe zur Selbsthilfe. Für Psychoanalyse fehlte mir trotz Belesenheit und begonnener Lehranalyse nicht nur die nötige Ausbildung. Ideologisch war sie hier verpönt, bis später eine Teilrehabilitation erfolgte. Neben einigen theoretischen Bedenken erschien sie mir für stationäre Arbeit zu langwierig und nur für wenige geeignet, manches kürzere Verfahren erfolgreicher. So setzten wir auf die Verhaltenstherapie im Sinne von Eysenck und Wolpe, sehr wirksam bei Ängsten, Panikattacken und Phobien. Ähnliche Strategien verwendete die »Individualtherapie der Neurosen« Leonhards, damals Ordinarius der Psychiatrie an der Charité, wo ich auch hospitierte. An der Universität Leipzig lehrte Müller-Hegemann, dessen Vorlesungen ich hörte. Sein Buch »Psychotherapie« von 1957 war ebenfalls nicht schulgebunden. Für die Praxis viel

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2. Kapitel  |  1950–1959: Pawlow und die Folgen

gelernt habe ich bei Kleinsorge und Klumbies, Universität Jena. Ihr umfassendes Buch »Psychotherapie in Klinik und Praxis«, 1959 im Westen erschienen, spiegelte unser internistisch geprägtes Patientengut recht gut wider. Aus Berlin kamen Anregungen von Höck, speziell zur Gruppenpsychotherapie. Wir machten hier erste moderate Ansätze dazu bei täglichen Patienten-Kolloquien. Auch Beschäftigungstherapie in der Gruppe mit einer Schwester blieb erster Versuch, professionelle Musiktherapie entstand leider noch nicht. Aus Leipzig, wo sie wurzelte, gab es Impulse von Frau Kohlers »Kommunikativer Psychotherapie«. Es fanden hierzulande auch zahlreiche Fachtagungen und AG-Sitzungen statt, besonders nach Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Wenigstens bis zur Mauer war es auch nicht allzu schwer, Tagungen im Westen zu besuchen, dort zu referieren und Kontakte zu knüpfen. Es war weiterbildend interessant, aber man kam auch selbstbewusst wissend zurück, dass wir hier auch gute Arbeit leisteten und überall nur mit Wasser gekocht wird. Im Bergarbeiterkrankenhaus zu arbeiten brachte nicht nur den Vorteil der WismutZuschläge, Lebensmittelmarken und Ostseeurlaube in Zinnowitz. Die Ärztebibliothek bekam auch ein gutes Valuta-Kontingent. So konnte allerhand psychotherapeutische Fachliteratur angeschafft werden. Gewiss mag unsere Therapie pragmatisch, ja eklektizistisch anmuten. Aber sie wurde immer individuell patientenadäquat zu gestalten versucht. Studien zeigten zudem, dass der Erfolg stärker als von der jeweiligen Methode von der Person des Therapeuten und der Kooperation des Patienten abhängt. Bald wuchs mir die Arbeit über den Kopf. Die Station, zunehmende konsiliarische Untersuchungen und Ambulanz, daneben psychologische Zusatzgutachten bei Verdacht auf abnormes Rentenbegehren, Gerichtsgutachten, Vorträge, Publikationen etc. überforderten. Es gelang mir schließlich, eine zweite Planstelle zu erwirken, die 1963 Herr Kollege Schirbock arbeitsteilig besetzte. Er ist inzwischen auch schon honoriger Rentner, wir hören noch von ihm. In der täglichen Arbeit stieß ich immer wieder auf Ehe- und Sexualprobleme als Ursachen oder Mitbedingungen psychogener Erkrankungen. Kein Wunder, sind doch Gesundheit und Liebe die wichtigsten, uns emotional am stärksten berührenden Dinge im Leben – und ich las, schrieb und forschte darüber. So nahm ich 1973 das Angebot des damaligen Kreisarztes von Karl-Marx-Stadt an, dort eine Ehe- und Sexualberatungsstelle zu gründen. Diese zweite berufliche Halbzeit wäre nicht möglich gewesen ohne das Fundament durch die erste wichtige, kreative hier in Erlabrunn. Schließen wollte ich nun mit gebührender Laudatio auf die heutige Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik, deren Basis ich gestalten durfte, und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Aber vor Ihnen darf und muss ich auf die Uhr blicken – und auf mein schriftliches Grußwort verweisen. Ich bin stolz, als früher Geburtshelfer etwas mitgewirkt zu haben am Entstehen dieser wunderbaren Klinik, und bin sicher, dass sie eine sehr gute Zukunftsprognose hat. Die wichtigsten Buchpublikationen, die auf der Erlabrunner Zeit gründeten, beschäftigen sich mit Nervosität und Sexualität (Schnabl 1969, 1972, 1974b).

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3. Kapitel

1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

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3.1  Überblick

3.1

Michael Geyer: Überblick

Nachdem die offizielle Politik der DDR im ersten Jahrzehnt nach der Staatsgründung noch auf die Wiedervereinigung eines sozialistischen Deutschlands zielt, propagiert die SED Ende der 1950er Jahre nun immer offener die Abgrenzung von der Bundesrepublik auf allen Ebenen des Gemeinwesens. Die bis dahin durch die Existenz gesamtdeutscher medizinischer Gesellschaften noch vorhandene deutsch-deutsche Gemeinsamkeit stört die Entwicklung zu einer sozialistischen Gesellschaft mit eigenständigen identitätsbildenden Institutionen. Die führenden Fachvertreter der medizinischen Disziplinen der DDR werden gedrängt, eigene nationale Gesellschaften zu gründen. In den traditionellen Gebieten der Medizin erhebt sich dagegen deutlicher Widerstand, der bei offenen Grenzen auch kaum zu brechen ist (50 % aller Ärzte gehen bis zum Mauerbau 1961 in den Westen). Die Psychotherapeuten dagegen stehen diesem Ansinnen mehr als offen gegenüber. Müller-Hegemann und andere Repräsentanten der Psychotherapie wie Kleinsorge, Wendt und Marchand sehen die einmalige Chance, die Psychotherapie als eigenständige Disziplin durch Gründung einer Gesellschaft, die weder von der Psychiatrie noch von der Inneren Medizin abhängig ist, voranzubringen. Müller-Hegemann kann sich mit dem für seine Person noch vorhandenen politischem Rückenwind vor allem gegen den Widerstand seiner überwiegend psychotherapiefeindlichen Psychiatrie-Kollegen behaupten und packt die erste Gelegenheit noch vor dem Bau der Berliner Mauer beim Schopf, eine Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie zu gründen. Neben Müller-Hegemann sind Kleinsorge und Klumbies aus Jena, Wendt, der Leiter der von Müller-Hegemann gegründeten Leipziger Universitätsabteilung für Psychotherapie, Leonhard, Höck und Mette aus Berlin sowie Marchand aus Ballenstedt weitere Protagonisten der Unternehmung. Hans Szewczyk, Arzt und Psychologe an der Charité Berlin, wird der Repräsentant der Psychologen in der neugegründeten Gesellschaft. Diese wächst rasch und wird nunmehr auch im Hinblick auf ihre ideologische Orientierung kritisch betrachtet, denn noch lebt nicht nur in den Köpfen einiger führender Parteigrößen, sondern auch in denen von Psychotherapeuten die Vorstellung, Psychotherapie könne eine medizinische Wissenschaft sein, die im Hinblick auf Menschenbild und Therapieziele mit der herrschenden Ideologie kompatibel zu entwickeln wäre und die Linie der Partei auch im tagespolitischen Geschäft bei der Veränderung der Gesellschaft unterstützen könnte. Zwar ist es für einen philosophisch geschulten Psychotherapeuten kein besonderes Problem, sich mit dem marxistischen Menschenbild zu identifizieren, da es das Ideal einer hochreflexiven, beziehungsorientierten, selbstbestimmten, autonomen Persönlichkeit verkörpert, einem Ideal, mit dem sich auch ein westlicher Psychotherapeut identifizieren kann. Den Ansprüchen jedoch an eine unmittelbare gesellschaftliche Instrumentalisierung von Psychotherapie unterwarf sich in seinem praktischen Handeln kaum ein Psychotherapeut. Auch die der SED nahestehenden leitenden Psychiater und Psychotherapeuten grenzen sich von solchen ­Forderungen ab, wenn sie denn überhaupt gestellt werden (s. dazu auch die Ausführungen in der Psychotherapiechronik 1971 zur Brandenburger Konferenz des ZK der SED im } Abschnitt 4.2). Das Scheitern des Pawlowismus in seinen grotesken bis lebensgefährlichen psychotherapeutischen Anwendungsformen (s. den Beitrag von Tögel } Abschnitt 3.8.1) demontiert in

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

den frühen 1960er Jahren auch einen seiner wichtigsten Propagandisten. Müller-Hegemann, bereits durch die Publikation seiner 1955 im Greifenverlag Rudolstadt erschienenen Schrift »Zur Psychologie des deutschen Faschisten« zunehmend ins politisch-ideologische Abseits geraten, verliert im Laufe der Turbulenzen, die nach dem Tod eines hohen Ministerialbeamten in seiner Klinik infolge hoher Kaliumbromatdosen im Rahmen der »Schlaftherapie« entstehen, seinen Lehrstuhl in Leipzig und wird ins Griesinger-Krankenhaus Berlin »strafversetzt«, das er bis zum Verlassen der DDR 1971 leitet. Die Psychotherapeuten gehen zur Tagesordnung über. Höck entwickelt in Berlin seine Form der Psychodynamischen Gruppentherapie weiter, braucht dazu ein Experimentierfeld und eröffnet im Juni 1964 in Berlin-Hirschgarten eine stationäre Abteilung, die zur Geburtsstätte der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie wird. Bereits 1966 werden die Ergebnisse dieser Entwicklungsarbeit auf einem internationalen Symposium in Ostberlin vorgestellt, das Höck und Mitarbeiter ausrichten, der ersten größeren Ost-West-Tagung nach dem Mauerbau. Die führenden Gruppenpsychotherapeuten Ost- und Westeuropas finden sich ein. Der Entschluss zur Gründung der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG) wird bei dieser Veranstaltung gefasst, allerdings ohne DDR-Beteiligung umgesetzt. Einer weiteren politischen Einflussnahme kann und will sich der Vorstand der GÄP nicht entziehen. Das von der SED initiierte Symposium »Sozialismus, wissenschaftlich-technische Revolution und Medizin« verlangt kategorisch auch von den Psychotherapeuten, die Ursachen unterschiedlicher fachlicher Auffassungen in den eigenen Reihen zu klären und eine dialektisch-materialistische Grundlage der wissenschaftlichen Positionen des Fachgebietes zu erarbeiten. Eine verbindliche Neurosendefinition, die schließlich 1969 in Bad Elster diskutiert und verabschiedet wird (} Abschnitt 3.3), erfüllt diese Forderung und bildet durch entsprechende Erweiterungen eine fachlich durchaus diskutable Grundlage der Verständigung zwischen den zunehmend heterogenen Strömungen der Gesellschaft. Der 5. Jahreskongress der GÄP in Bad Elster vom 9.–11. Juni 1969 stellt nicht nur durch die Einigung auf die Neurosendefinition die Weichen für die erstaunliche Entwicklung der folgenden Jahre. Hier wird auch die zukünftige Grundstruktur beschlossen, die die Gesellschaft in Sektionen, Arbeitsgemeinschaften und Regionalgesellschaften gliedert und damit die Voraussetzung für die Entwicklung der unterschiedlichen Psychotherapiemethoden (Psychodynamische Gruppen- wie auch Einzeltherapie, Gesprächspsychotherapie (GT), Hypnose und Autogenes Training, Verhaltenstherapie, Musik-, Bewegungs- und Gestaltungstherapie u. a.) wie auch des Mitgliederlebens in den Regionen schafft. Im gleichen Jahr beginnt in Erfurt das Experiment einer mehrjährigen psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppe, deren Mitglieder (insbesondere Böttcher, Franke, Geyer, Maaz, Ott, Schwabe und Wilda-Kiesel) später erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Psychotherapie in der DDR und darüber hinaus gewinnen werden.

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3.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1960–1969

3.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1960–1969 1960 April: 30 Teilnehmer aus dem Osten, meistens an Gruppenpsychotherapie interessiert, sind letztmalig vor dem Bau der Mauer Teilnehmer der Psychotherapiewoche in Lindau. Sie können mit Foulkes, Raoul Schindler, Walter Schindler, Teirich und anderen namhaften Gruppenpsychotherapeuten ihre Erfahrungen diskutieren. 09.–10. Juni: Tagung der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie in Leipzig. Thema: Psychohygiene und Psychotherapie (26 Teilnehmer aus der DDR und zwei aus dem Ostblock). Müller-Hegemann gibt auch ideologisch noch den Ton an und kritisiert in seinem historischen Überblick die Tendenz der westlichen Welt, »soziale Probleme und Aufgabenstellungen zu psychologisieren«. 10. Juni: Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP) der DDR am Rande obengenannter Tagung. (Die GÄP wird während des Bestehens der DDR bis 1990 13 Jahreskongresse mit internationaler Beteiligung durchführen, eine wesentliche Rolle bei der Angleichung der beruflichen und fachlichen Verhältnisse zwischen DDR bzw. neuen Bundesländern und BRD bzw. alten Bundesländern in den Jahren nach der Wende spielen und erst im Jahre 2003 aufgelöst werden.) Es wird von der Gründungsversammlung folgender Vorstand gewählt: 1. Vorsitzender: Müller-Hegemann, Leipzig, 2. Vorsitzender: Kleinsorge, Jena, Sekretär: Klumbies, Jena; Schatzmeister: Wendt, Leipzig; ferner: Leonhard, Berlin; Mette, Berlin; Höck, Berlin; Marchand, Ballenstedt; Szewczyk, Berlin, als Leiter der Psychologensektion. Harro Wendt veröffentlicht seine Habilitationsschrift: »Schlaftherapie als Hilfsmittel bei der Behandlung von Neurosen«. Er definiert Neurosen als Störungen in der Harmonie kortikaler Regulationen, die zu funktionellen Störungen verschiedener Symptomatik und Lokalisation führen. Zu diesem Zeitpunkt ist er allerdings theoretisch bereits mehr psychoanalytisch orientiert. Werner König schreibt seine Vordiplomarbeit zum Thema »Kritische Betrachtungen zur neueren Psychoanalyse« an der Leipziger Universität. 15. September: Zum ersten Mal wird in einer deutschen Klinik ein Nichtmediziner als Musik- und Gestaltungstherapeut angestellt: Christoph Schwabe beginnt seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit dem Aufbau von Musik- und Gestaltungstherapie an der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig.

1961 Kurt Höck wird – trotz seiner Parteilosigkeit, aufgrund seiner Erfolge als Direktor des Hauses der Gesundheit Berlin – zum Bezirksarzt von Ostberlin bestellt und bleibt in dieser Funktion bis 1963, also in der politisch außerordentlich brisanten Phase vor und nach dem Bau der Berliner Mauer. Der politische Einfluss, den er mit diesem Amt besitzt und den er auch über ein Jahrzehnt darüber hinaus behält, erleichtert 1964 die Gründung der

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

Klinik Hirschgarten und die Entwicklung und Etablierung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie. 13. August: Durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wird die deutsche Teilung endgültig vollzogen. Die Reisefreiheit ist nunmehr extrem eingeschränkt. Nur wenige Fachwissenschaftler zählen zum »Reisekader« und können Tagungen im Ausland besuchen. Irene Blumenthal, die einzige Ostdeutsche, die zu dieser Zeit noch eine psychoanalytische Ausbildung am Westberliner Institut macht, muss die Ausbildung abbrechen (Bernhardt u. Lockot 2000). 04.–05. Oktober: 1. Jahreskongress der GÄP. Rahmenthema: »Vegetativer Symptomenkomplex« unter Leitung von Müller-Hegemann. Szewczyk und Klumbies halten die Übersichtsreferate. Müller-Hegemann und Wendt sowie Kohler weisen die Wirkungen von Psychotherapie auf das Gesamtbefinden bei Patienten mit neurotischen Störungen nach. Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird der 1960 gewählte Vorstand bestätigt. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena wird das »Institut für Psychologie« neu gegründet. Hiebsch und sein Mitarbeiter Vorwerg entwickeln eine eigenständige sozialpsychologische Forschungsrichtung, die auch die Psychotherapie und Psychoprophylaxe (»Verhaltenstraining«) beeinflussen wird.

1962 21.–23. Mai und 22.–24. November: Die Fortbildungsveranstaltungen der Vorstandsmitglieder werden koordiniert: Müller-Hegemann führt das »Psychotherapeutische Minimum« in Leipzig im Mai, Wendt in Uchtspringe im November durch. 28.–29. November: 2. Jahreskongress der GÄP mit internationaler Beteiligung in Leipzig. Thema: Suggestion und Hypnose. Die Gesellschaft hat bereits 251 Mitglieder. Die Neuwahl des Vorstandes hat folgendes Ergebnis: 1. Vorsitzender: Kleinsorge, Schwerin; 2. Vorsitzender: Müller-Hegemann, Leipzig; Sekretär: Klumbies, Jena; Schatzmeister: Wendt, Uchtspringe; ferner: Leonhard Berlin; Höck, Berlin; Marchand, Ballenstedt; Szewczyk als Leiter der Psychologensektion. 19. Oktober: Unter Vorsitz von Werner Straub (Dresden) wird die »Gesellschaft für Psychologie der DDR« gegründet. (Sie führt bis zum Fall der Mauer sieben Kongresse durch und wird einen Monat nach der Wiedervereinigung, am 3. November 1990, aufgelöst.) Friedhart Klix wird zum ordentlichen Professor und Institutsdirektor an der Humboldt-Universität zu Berlin berufen. Er setzt die bereits zuvor begonnene Ausrichtung der Forschung und Lehre in der Experimentalpsychologie mit Bindung an Mathematik und Kybernetik fort. An diesem Institut findet jedoch auch die Klinische Psychologie eine Heimstatt. Helm und Frohburg entwickeln hier in den folgenden Jahren die Gesprächspsychotherapie in Anlehnung an das Ehepaar Tausch, Hamburg. Mehl beschäftigt sich mit Verhaltenstherapie. In der DDR wird die Psychologie institutionell neu geordnet. Die Arbeits- und Ingenieurpsychologie wird in Berlin und Dresden, die Klinische Psychologie in Berlin und Leipzig, die Pädagogische Psychologie an der Universität Leipzig und die Sozialpsychologie an der Universität Jena konzentriert. Diese Spezialisierung ersetzt das bis Anfang der 1960er Jahre einheitliche Psychologiestudium mit Diplomabschluss zugunsten einer praxisnä-

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3.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1960–1969

heren fachrichtungsspezifischen Ausbildung. In diesem Zusammenhang erfolgte in der Fachrichtung Klinische Psychologie die (stärkere) Ausrichtung auf Psychotherapie – bei Bevorzugung von Verhaltens- und Gesprächspsychotherapie – als einem anwendungsbezogenen Teilgebiet der Klinischen Psychologie. (An der Karl-Marx-Universität Leipzig wird die Fachrichtung Klinische Psychologie erst 1974 eingerichtet.)

1963 28.–30. November: Gemeinschaftskongress von GÄP und Arbeitsgemeinschaft zum Studium nervaler Regulationen sowie der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie in Leipzig. Bassin aus Moskau thematisiert die Kontroverse zwischen psychosomatischer Medizin auf psychoanalytischer Grundlage, die deshalb abzulehnen sei, und der Theorie des Nervismus, die sich Pawlowscher Konzepte bedient. Erstmalig betont wieder ein Vertreter des Ostblocks, Roubicek (Prag), den Nutzen psychoanalytischer Erfahrungen, den wiederum Müller-Hegemann und Leonhard in Frage stellen. (Aus späterer Sicht sind auf dieser Konferenz Rückzugsgefechte der Pawlowisten/Nervisten zu besichtigen, die später auch auf Kongressen der GÄP keine Rolle mehr spielen.) Karl Leonhard veröffentlicht das Lehrbuch »Individualtherapie der Neurosen«. Er stellt seine der modernen Verhaltenstherapie sehr ähnliche Behandlungstechnik vor, die vor allem bei phobischen und Zwangsstörungen sehr erfolgreich ist und bis in die 1980er Jahre in der DDR an mehreren Einrichtungen angewendet wird.

1964 Kurt Höck stellt auf einer Tagung in Klink/Müritz seine theoretische Konzeption von ambulanter Psychotherapie vor, die wesentlich auf der Neopsychoanalyse Harald Schultz-Henckes basiert. 15. April: Arnold Zweig hält im Club der Kulturschaffenden in Berlin-Ost einen Vortrag über seine Freundschaft mit Freud. Dagobert Müller referiert auf dieser Veranstaltung über die wissenschaftliche Leistung Freuds. Frühjahr: Eröffnung der psychotherapeutischen Abteilung in Uchtspringe durch Harro Wendt. Er legt das Schwergewicht auf tiefenpsychologische Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Juni: Kurt Höck eröffnet in Berlin-Hirschgarten eine Klinik, die stationäre PsychotherapieAbteilung des Hauses der Gesundheit, deren Gründung er noch im Amt des Bezirksarztes von Berlin in die Wege geleitet hat. Sie wird ein Mekka der Gruppenpsychotherapie in der DDR und dient als Experimentierfeld für die Entwicklung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie.

1965 26. Mai: Symposium: »Theoretische Grundprobleme der Psychotherapie« in Berlin-Ost. Thema: Daseinsanalyse. Medard Boss (Zürich) stellt sein daseinsanalytisches Konzept

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

vor und diskutiert mit Karl Leonhard, Gerhard Klumbies und Walter Bräutigam (Heidelberg). Müller-Hegemann kritisiert den Mangel an naturwissenschaftlicher Orientierung und die Ablehnung des Kausalitätsprinzips. 28.–29. Mai: 3. Jahreskongress der GÄP in Schwerin. Leitung: Hellmuth Kleinsorge (der sich vorübergehend in den Westen abgesetzt hatte, daher den Jenaer Lehrstuhl verloren und nun die Leitung des Schweriner Krankenhauses innehat, jedoch 1968 endgültig in den Westen geht; s. dazu auch den Beitrag von Klumbies } Abschnitt 3.5.4.1); Thema: Probleme älterer Menschen (30 Vorträge). Die Neuwahl des Vorstandes hat folgendes Ergebnis: 1. Vorsitzender: Kleinsorge, Schwerin; 2. Vorsitzender: Müller-Hegemann, Leipzig; Sekretär: Klumbies, Jena; Schatzmeister: Wendt; Uchtspringe; ferner: Leonhard, Berlin; Höck, Berlin; Marchand, Ballenstedt; Szewczyk als Leiter der Psychologensektion. November bis Dezember: Der Internist und Psychosomatiker Kleinsorge (Schwerin, früher Jena) und der Dermatologe Linser (Berlin) führen auf dem DDR-Kreuzfahrtschiff »MS Völkerfreundschaft« eine Hochseeklimakur mit 450 Ekzematikern und Asthmakranken durch. Die Reise wird zugleich als Forschungsprojekt von Kurt Höck und Helga Hess und zwei weiteren Psychotherapeuten konzipiert und begleitet (s. a. den Beitrag von Hess zur Forschung im Haus der Gesundheit } Abschnitt 3.5.1.3).

1966 20.–22. Januar: Kurt Höck veranstaltet das Internationale Symposium über Gruppenpsychotherapie in Berlin-Ost, auf dem sich erstmals nach dem Mauerbau Gruppenpsychotherapeuten aus Ost und West treffen. Als aktive Teilnehmer sind anwesend: aus der ČSSR F. Knobloch, J. Knoblochova, J. Rubes, J. Skala, aus Polen St. Leder, Z. Miniewski, aus Ungarn Böszörmenyi, aus Jugoslawien O. Horetzky, V. Hudolin, aus England M. Jones, aus Österreich R. Schindler, aus der Bundesrepublik Deutschland U. und G. Derbolowsky, H. Enke, E. Ferchland, F. Heigl, A. Heigl-Evers, G. Wittich und aus der DDR J. Burkhardt, K. Höck, G. Israel, W. König, D. Müller-Hegemann, D. Vater, H. Wendt, die ihre jahrelangen Erfahrungen über die Anwendung der Gruppenpsychotherapie in Klinik und Praxis austauschten. Annelise Heigl-Evers bemüht sich, einen (Gesamt-)Deutschen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik (DAGG), ähnlich dem 1959 von Raoul Schindler initiierten »Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppenynamik« (ÖAGG), und eine gleichnamige Zeitschrift zu gründen. (Der Deutsche Arbeitskreis wird dann bald gegründet, aber ohne Gruppenpsychotherapeuten der DDR. Erst im Jahre 2000 wird nach langwierigen Verhandlungen der Deutsche Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie [DADG] als sechste eigenständige Gruppierung gleichberechtigtes Mitglied des DAGG.)

1967 17.–18. März: Symposion der GÄP: »Bewusstsein und Unbewusstes« in Berlin-Ost. Bassin (Moskau) verknüpft die »Theorie der Einstellung« (Usnadse und Galperin) mit dem

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3.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1960–1969

»Unbewussten« und Horvai (Prag) versucht, das Unbewusste nicht mehr nur als psychoanalytische Kategorie zu begründen. Auch Helm bereitet es »keine erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten, auch unterbewusste neurophysiologische Verarbeitungsprozesse zu postulieren«. 05.–07. Juni: 4. Jahreskongress der GÄP in Bad Elster unter Leitung Kleinsorges. 1. Tag (Leitung Klumbies): Psychotherapie bei Organfunktionsstörungen. 2. Tag (Leitung Leonhardt): Psychotherapie von Sexualstörungen. 3. Tag (Leitung Szewczyk): Psychotherapie bei Berufskonflikten. Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird folgender neuer Vorstand gewählt: 1. Vorsitzende: Kleinsorge, Schwerin; nach der Flucht Kleinsorges in den Westen ab 1968 Wendt, Uchtspringe, bis dahin 2. Vorsitzender; Sekretär: Klumbies, Jena; Schatzmeister: Kohler, Leipzig; ferner: Göllnitz, Rostock; Müller-Hegemann, Leipzig; Leonhard, Berlin; Höck, Berlin; Marchand, Ballenstedt; Szewczyk als Leiter der Psychologensektion. 27.–28. Oktober: Das ZK der SED veranstaltet das Symposium »Sozialismus, wissenschaftlich-technische Revolution und Medizin«. Die Partei verlangt kategorisch auch von den Psychotherapeuten, die Ursachen unterschiedlicher fachlicher Auffassungen in den eigenen Reihen zu klären und auf der Grundlage einer dialektisch-materialistischen Betrachtung gemeinsame wissenschaftliche Positionen des Fachgebietes zu erarbeiten. Der Vorstand sieht sich zum Handeln gezwungen und erarbeitet in den folgenden Jahren als »gemeinsame fachliche Auffassung« eine Neurosendefinition, die schließlich 1969 in Bad Elster diskutiert und verabschiedet wird (s. den Beitrag von König } Abschnitt 3.3). Eysenck und Rachman publizieren ihr verhaltenstherapeutisches Standardwerk »NeurosenUrsachen und Heilmethoden« erstmalig in deutscher Sprache im Verlag der Deutschen Wissenschaften in Ostberlin. Das Buch wird ausdrücklich für Zwecke des Psychologiestudiums von Klix und Mehl herausgegeben und von Mitarbeitern des Lehrbereichs Klinische Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin übersetzt. Kurt Höck gibt das Buch »Gruppenpsychotherapie in Klinik und Praxis« im Jenaer VEB Gustav Fischer Verlag heraus und begründet damit die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. November: Christoph Schwabe verteidigt an der Philosophischen Fakultät der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg seine Dissertation mit dem Thema »Untersuchung über Entwicklung und Stand der Musiktherapie«.

1968 17.–19. April: Die Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR führt einen ersten Weiterbildungslehrgang für Psychotherapeuten »Diagnostische Methoden in der Psychotherapie« durch. Es wird die künftige Zusammenarbeit zwischen GÄP und Akademie geregelt: Eine Fortbildungsveranstaltung mit Unterstützung der Akademie wird im Zwei-JahresRhythmus zwischen den Jahreskongressen der GÄP in Reinhardtsbrunn (Thüringen, in der Nähe von Gotha) durchgeführt. Mai: Gründung einer psychotherapeutischen Weiterbildungsgruppe an der Klinik für Neurologie und Psychiatrie der Medizinischen Akademie Erfurt unter Führung von Jürgen

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

Ott. Teilnehmer sind junge Ärzte und Psychologen, die sich regelmäßig in Privatwohnungen zum Literaturstudium und zu Fallbesprechungen treffen. 1969 entsteht aus dieser Gruppe die erste psychoanalytische Selbsterfahrungsgruppe (SEG) der DDR (s. den Beitrag von Geyer } Abschnitt 3.5.5). 23.–29. Juni: Erste Vorträge zur Psychotherapie bzw. Psychotherapieforschung auf dem 2. Kongress der Gesellschaft für Psychologie der DDR, Symposium »Psychologische Forschungsprobleme in der Psychotherapie« (Helm u. H.-R. Böttcher). August: Das Prager Reformmodell eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« durch schrittweisen Aufbau einer sozialistischen Demokratie, Abschaffung der Pressezensur und Einhaltung der Rechtsnormen (»Prager Frühling«) wird durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR und den Einsatz von Panzern der Sowjetunion, der DDR, Polens, Ungarns und Bulgariens beendet. September: Das Lehrbuch von Christa Kohler »Kommunikative Psychotherapie« erscheint. Es ist ein Lehrbuch, das keinen tieferen Bezug zu Pawlow, sondern eher modernen westlichen Theorien nimmt. Das verabschiedete Gesetz über die Einweisung von psychisch Kranken in psychiatrische Einrichtungen vom 11. Juni 1968 und »Anordnung zur Sicherung des Rechts auf Arbeit für Rehabilitanden« vom 26. Augsut 1968 entsprechen internationalen Rechtsstandards. Hans Szewczyk publiziert das Buch »Konflikte im Beruf« im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.

1969 März: In Leipzig wird eine erste internationale Tagung »Theorie und Methodik der Musiktherapie« unter Leitung von Christa Kohler und Christoph Schwabe durchgeführt. Veröffentlichung des Hauptmaterials 1971 (Kohler 1971). 9.–11. Juni: 5. Jahreskongress der GÄP in Bad Elster. Auf diesem wohl für lange Zeit bedeutendsten Kongress werden Neurosen DDR-einheitlich definiert als »Funktionelle Erkrankungen durch erlebnisbedingte Störungen der cerebralen Reizverarbeitung in Form von a.) nachhaltigen vegetativen Affektreaktionen b.) nachhaltigen bedingt-reflektorischen Störungen oder c.) psychischen Fehlentwicklungen.« Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird folgender neuer Vorstand gewählt: 1. Vorsitzender: Wendt, Uchtspringe; 2. Vorsitzender: Müller-Hegemann, Berlin-Biesdorf; 1. Sekretär: Marchand, Ballenstedt; 2. Sekretär: Höck, Berlin; Schatzmeister: Kohler, Leipzig; ferner: H. R. Böttcher, Jena; Göllnitz, Rostock; Klumbies, Jena, Leonhard, Berlin; Szewczyk, Berlin. Im Anschluss an die Mitgliederversammlung am 10. Juni werden folgende Sektionen gegründet und ein jeweiliger Vorsitzender (in Klammern) gewählt: 1. Sektion Psychologie in der Medizin (verbunden mit der Sektion Klinische Psychologie in der Gesellschaft für Psychologie) (Szewczyk), 2. Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie (Höck), 3. Sektion Hypnose und Autogenes Training (Klumbies), 4. Sektion Musiktherapie (Kohler), 5. Sektion Kinderpsychotherapie (Göllnitz). (Ein Jahr später wird die Sektion Geistige Gesundheit gegründet [Müller-Hegemann]. Erst 1975 werden die thematischen

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3.3  Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960

Arbeitsgemeinschaften Verhaltenstherapie [Mehl, Dummer] und Gesprächspsychotherapie [Helm, Frohburg] gegründet. Beide sind als Arbeitsgemeinschaften parallel auch in der Gesellschaft für Psychologie beheimatet.) Juni: Es erscheint die Erstauflage des Buches »Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen« von Christoph Schwabe. 2. Jahreshälfte: Karl Leonhard, Inhaber des Psychiatrie-Lehrstuhles an der Berliner Charité und Begründer der Individualtherapie (eine Expositionstherapie von Zwangsstörungen und Phobien) erreicht die Gründung eines Forschungsprojektes »Nervale und psychische Störungen und Krankheiten« beim Ministerium für Gesundheitswesen der DDR. Höck und Hess übernehmen das Teilprojekt »Funktionelle und psychisch bedingte Störungen im Krankengut des ambulanten Gesundheitswesens«. Das Gesamtprojekt wird später unter dem Titel »Forschungsprojekt Psychonervale Störungen« bis zum Ende der DDR weitergeführt. Oktober 1969: Gründung der »AG Musiktherapie« der Gesellschaft für Rehabilitation in der DDR (Christoph Schwabe, Ingrid Mederacke, Wolfgang Goldhan). Dezember: Gründung einer Forschungsgruppe und Beginn der Ausbildung in Gesprächspsychotherapie an der Humboldt-Universität zu Berlin unter Leitung von Johannes Helm.

3.3 Werner König: Von der Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960 zur 5. Jahrestagung von Bad Elster 1969 Am 10. Juni 1960 wird im Hörsaal der Leipziger Universitätsfrauenklinik am Rande einer Tagung der Psychiater die »Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in der Deutschen Demokratischen Republik« gegründet. Sie sollte eine sehr lebendige, wenn auch wechselvolle Geschichte erfahren und die einzige Medizinisch-Wissenschaftliche Gesellschaft der DDR werden, die die Wende überlebte. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie auf ihrem Gebiet ein Stück Wende vorwegnahm. An der Gründungssitzung nehmen Ärzte und Psychologen aus dem ganzen Land teil, überwiegend aus Kliniken, sowohl von Universitäten, aber auch von Bezirks- und Kreiskrankenhäusern der Fächer Psychiatrie, Innere Medizin, Gynäkologie, Dermatologie, auch aus Lungenheilstätten, die damals eine große Rolle spielten, von Ordinarien und Chefärzten bis zu jungen Assistenten. Aber auch niedergelassene Allgemeinmediziner und Ärzte verschiedener Fächer aus Polikliniken sind dabei. Die Teilnehmer, die bisher an den Tagungen der psychiatrischen Gesellschaft teilgenommen haben, kennen sich untereinander besser als die hinzukommenden Ärzte und Psychologen aus anderen Fächern. Die maßgeblichen Vertreter der Psychotherapie, aus deren Kreis ein Vorstand gewählt wird, sind fast allen bekannt, wenn nicht persönlich, so doch mindestens aus der Literatur. Die Erwartungen, die an diese Gesellschaft geknüpft werden, sind vielschichtig. An erster Stelle steht wohl für die meisten, durch Solidarisierung und gegenseitigen Austausch, die Stel-

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

lung der Psychotherapie in der Medizin zu stärken und die psychotherapeutische Versorgung zu verbessern. Psychosomatisch denkende Ärzte sind noch isolierte Einzelkämpfer oder wirkten in kleinen insulären Gruppen. Oft sind es Chefs, die an Erfahrungen der Vorkriegszeit anzuknüpfen versuchen und einige Schüler um sich scharen konnten. Alle erhoffen sich über eine bessere Anerkennung von Psychotherapie und Psychosomatik Stärkung und Erleichterung im eigenen Arbeitsfeld. Diese Hoffnung ist von Anfang an notwendig damit verbunden, bei den zuständigen staatlichen Stellen Gehör zu finden. Diese Hoffnung ist trotz regelmäßiger Erfahrung einer diesbezüglichen Schwerhörigkeit nie ganz erloschen und unterhielt unermüdliche neue Anläufe. Die Erwartungen waren natürlich auch auf neue Möglichkeiten des wissenschaftlichen Erfahrungsaustausches und der Weiterbildung gerichtet. Diese Gründung war nicht nur ein Zusammenschluss, sondern auch eine Abgrenzung, eine Unabhängigkeitserklärung der Psychotherapie gegenüber der »Psychiatrie«. Dieses Feindbild, man muss es wohl leider so nennen, war hervorgerufen und geprägt durch den fachlichen Anspruch, den viele Psychiater auf die Psychotherapie erhoben. Hinzu kam aber eine ständige latente Bedrohung durch eine Reihe von Psychiatern, die sich als selbsternannte Sachwalter der Lehren Pawlows ermutigt fühlten, fachliche Kontroversen zu politisieren, darüber Macht auszuüben und andere als westlich orientiert zu denunzieren. Zur Zeit der Gründung der Gesellschaft, also 15 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die Psychotherapie in einer Wiederbelebungsphase. Die medizinische Versorgung war so weit sichergestellt, dass Forderungen nach ihrer Ergänzung durch die notwendige Einbeziehung auch der psychischen Dimension spruchreif geworden waren. An verschiedenen Orten und Institutionen waren alte Traditionen wieder aufgegriffen worden. Auch wurde die Notwendigkeit der Psychotherapie aus der Diskrepanz zwischen den Angeboten einer rein somatisch orientierten Medizin und den Anforderungen der medizinischen Versorgung an Stellen neu erkannt, die an keiner eigenen Vorgeschichte anknüpfen konnten. Man wusste aber wenig voneinander. Die verstreuten Einzelkämpfer suchten nach einem gemeinsamen Forum. Wie das aussehen könnte, war nicht zuletzt von der Erinnerung an die alte und dem Blick über die Grenze zur neuen AÄGP beeinflusst. Man musste das Rad nicht ganz neu erfinden. Neben der AÄGP ging ein wichtiger Einfluss auf die damalige Psychotherapie von der Lindauer Psychotherapiewoche aus. Sie repräsentierte den Stand der Psychotherapie in den deutschsprachigen Ländern und darüber hinaus. Sie trug im Jahr der Gründung der Gesellschaft das Motto »Gruppenpsychotherapie«. Zur Wahl dieses Themas schrieb der damalige Leiter Helmuth Stolze in der Einladung zur 10. Lindauer Psychotherapiewoche: »Die Auffassung vom kranken Menschen hat sich gewandelt: stärker als früher muß man, um ihn zu verstehen, die sozialen Faktoren berücksichtigen. Das bedeutet, daß man sich von veränderten neuen Standpunkten aus dem ­Patienten nähern und neue therapeutische Wege einschlagen muß. Eine erfreuliche internationale Zusammenarbeit wird es ermöglichen, daß die Teilnehmer der Lindauer Psychotherapiewoche durch beste Fachkenner aus vielen Ländern umfassend in die junge, aber an Bedeutung ständig zunehmende Arbeitsweise der Gruppenpsychotherapie eingeführt werden.« Gruppenpsychotherapie war ein internationaler Trend geworden.

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3.3  Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960

Die Lindauer Psychotherapiewoche wurde auch von psychotherapeutisch interessierten Ärzten aus dem Osten besucht, was ja vor 1961 vergleichsweise einfach möglich war. Man brauchte lediglich (!) die ausreichende Menge D-Mark. In diesem Punkt wurden die Teilnehmer aus dem Osten in Lindau auch unterstützt. Marchand, Mitglied des bei der Gründung gewählten Vorstandes, leitete gemeinsam mit Raoul Schindler und Dietrich Langen Seminare zum Thema »Die Gruppenpsychotherapie in Klinik und Anstalt.« Wenn man auch für die Zeit ab Mitte der 1970er mit Recht die Frage diskutiert, ob das Übergewicht der Gruppenpsychotherapie in der DDR mit der Gesellschaftsordnung zu tun hat, so darf man für den Beginn sagen, dass die Gruppenpsychotherapie fast als zeitgemäßes Erfordernis in die Wiege der Psychotherapie-Gesellschaft der DDR gelegt worden war und nichts Ostspezifisches hatte. Neben Marchand nahmen im Mai 1960 auch die späteren Mitglieder des ersten Vorstandes Höck und Wendt an der Lindauer Woche teil. Alle drei waren in Gruppenpsychotherapie erfahren, um nicht zu sagen, hatten sich ihr verschrieben. Insgesamt waren 1960 rund 30 Teilnehmer aus dem Osten in Lindau. Sie konnten Foulkes, Raoul Schindler, Walter Schindler, Teirich und andere namhafte Gruppenpsychotherapeuten erleben. Gruppenpsychotherapie war das Hauptthema 1960. Was in Lindau sonst überwiegend vertreten wurde und auch die Breite der Praxis bestimmte, bezeichnete man damals als »aktiv-klinische Psychotherapie«, in der heutigen Terminologie würde man sagen, vielfältige Kurztherapien. Unter ihnen spielten Autogenes Training und Hypnose eine wichtige Rolle. Die vermittelten Methoden waren auch in manchem durchaus analytisch orientiert, aber eben Alternativen zur analytischen Langzeittherapie. Leuner stellte 1960 in Lindau sein Katathymes Bilderleben vor. Auch nonverbale Methoden wie die Konzentrative Bewegungstherapie fielen darunter. Die namhaftesten Vertreter der aktiv-klinischen Psychotherapie waren J. H. Schultz, Ernst Speer, der Begründer der Lindauer Wochen, G. R. Heyer und Dietrich Langen. Zurück nach Leipzig, vier Wochen nach Lindau. Die Initiative zur Gründung der Gesellschaft war überwiegend von den Vertretern der damals vier profiliertesten psychotherapeutischen Institutionen ausgegangen. Zu diesen Institutionen gehörte die Medizinische Universitätspoliklinik der Universität Jena, vertreten durch Hellmuth Kleinsorge und Gerhard Klumbies. Hier bestand seit 1951 eine Psychotherapie-Abteilung, aus der zahlreiche Veröffentlichungen hervorgegangen waren, u. a. das Lehrbuch von Kleinsorge und Klumbies »Psychotherapie in Klinik und Praxis« (1959). Von der Jenaer Klinik wurden auch ab 1953 psychotherapeutische Fortbildungskurse durchgeführt, die großen Anklang fanden. Das Lehrbuch von Kleinsorge und Klumbies ließe sich gut in die genannte »aktiv-klinische Psychotherapie« einordnen, was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass ja J. H. Schultz und Ernst Speer aus der Jenaer Schule kommen, auf der Kleinsorge und Klumbies aufbauten. Aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Leipzig kamen auch zwei Vertreter in den Vorstand, der Ordinarius Müller-Hegemann und sein Oberarzt Wendt, der die dortige ­Psychotherapie-Abteilung leitete, aber kurz nach der Gründung der Gesellschaft die Leitung des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie in Uchtspringe (in der Nähe Magdeburgs) übernahm.

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

Ein nachhaltiger Einfluss auf die Arbeit der Gesellschaft kam von Anfang an aus der psychotherapeutischen Abteilung des Hauses der Gesundheit Berlin. Sie bestand bereits seit 1949, erhielt aber erst ab 1956 unter der Leitung von Kurt Höck ihr eigenes Profil und ihre Ausstrahlung. Die vierte beteiligte Institution war die Ende 1958 von Karl Leonhard gegründete Psychotherapie-Abteilung der Nervenklinik der Charité. Oder einfacher und treffender: die vierte Institution war Karl Leonhard. Die Genannten initiierten nicht nur die Gründung, sondern bestimmten auch für mehrere Jahre den Vorstand wie auch die noch näher darzustellende Diskussion um eine gemeinsame Auffassung zu Definition, Diagnostik und Therapie der Neurosen. Der bei der Gründungsversammlung gewählte Vorstand bestand aus neun Mitgliedern, bei deren Vorstellung wir dem damaligen Briefkopf der Gesellschaft folgen: Vorsitzender: Prof. Dr. Müller-Hegemann, Direktor der Neurologisch-Psychiatrischen UniversitätsKlinik Leipzig Vorsitzender: Prof. Dr. Kleinsorge, Direktor der Medizinischen Universitätspoliklinik Jena Schriftführer: Prof. Dr. Klumbies, Ärztl. Direktor der Univ.-Kliniken Jena und Oberarzt der Med. Univ.-Poliklinik Schatzmeister: Doz. Dr. Wendt, Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie Uchtspringe Weitere Vorstandsmitglieder: Prof. Dr. Leonhard, Direktor der Univ.-Klinik für Psychiatrie und Neurologie an der Charité Berlin Prof. Dr. Mette, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Humbold-Universität Berlin Chefarzt Dr. Höck, Psychotherapie-Abteilung des Hauses der Gesundheit Berlin Chefarzt Dr. Marchand, Ärztlicher Direktor der Heilstätte Ballenstadt/Harz Dipl.-Psychol. Dr. Dr. Szewczyk, Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie an der Charité Berlin Für den, der die Vorstandsmitglieder kannte, war sofort zu erkennen: Den Vorsitz musste der linientreue Müller-Hegemann übernehmen, nebenamtlich Hauptabteilungsleiter im Ministerium für Gesundheitswesen, in seinem ideologischen Einfluss unterstützt von Alexander Mette, der wie Müller-Hegemann der Psychoanalyse abgeschworen hatte und begeisterter Pawlow-Anhänger geworden war. Man muss sich nicht vorstellen, dass Müller-Hegemann durch seine politische Position andere Kandidaten aushebelte, sondern kann vielmehr davon ausgehen, dass die anderen Vorstandsmitglieder ihm diesen Platz gern einräumten, weil sie sich davon mehr Gewicht und Gehör für die Gesellschaft versprachen. Die Mitgliedschaft Mettes im Vorstand war ideologischer Zierrat, von dem man ähnliche Vorteile erwartete wie vom Vorsitz Müller-Hegemanns. Mette war an der psychotherapeutischen Praxis nicht mehr interessiert und nicht lange im Vorstand. Er wurde drei Jahre danach ins ZK der SED berufen. Die stärkste Fraktion bildeten die vier Internisten, die beiden Jenaer Kleinsorge und Klumbies sowie Höck und Marchand.

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3.3  Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960

Von Wendt musste man zunächst Loyalität gegenüber seinem Chef Müller-Hegemann erwarten. Die Spannungen zwischen beiden, die bald zum Weggang Wendts führen sollten, waren nur der unmittelbaren Umgebung bekannt. Seine heimliche Liebe zur Psychoanalyse schwelte damals noch im Verborgenen. Szewczyk hatte die Psychologen zu vertreten, was man ihm auch zutrauen konnte. Relativ allein stand Leonhard. Wissenschaftlich sicher der Bedeutendste, wenn auch mehr durch die Fortführung der Kleist’schen Lehre durch sein Werk »Die Aufteilung der endogenen Psychosen«, aber psychotherapeutisch doch originell, politisch abstinent, was er sich als aus dem Westen gekommen erlauben konnte. Ein ehrlicher Einzelkämpfer ohne Bündnispolitik (s. a. den Beitrag über Leonhard vorn). Die Gruppenkonstellation hatte aber noch eine andere Ebene, die eine wichtige Rolle spielen sollte, nämlich die Stellung zur Psychoanalyse. Höck bekannte sich damals klar zur Lehre Schultz-Henckes und fand darin am ehesten Unterstützung bei Wendt und Marchand. Die Jenaer Schule und Leonhard standen aus rein fachlichen Positionen der Psychoanalyse sehr kritisch gegenüber und Müller-Hegemann aus der von ihm gewählten ideologischen Position. Aus der Satzung der Gesellschaft sind die folgenden Passagen erwähnenswert: § 3 (1) »Die Gesellschaft besteht aus ärztlichen Mitgliedern und einer angeschlossenen Sektion nichtärztlicher Mitglieder«. »Der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie besteht aus Ärzten und einem Vertreter der angeschlossenen Sektion für nichtärztliche Mitglieder«. Unter der »angeschlossenen Sektion nichtärztlicher Mitglieder« heißt es in Absatz (8): »Jedes Mitglied der Sektion hat auch in der Vollversammlung der Gesellschaft Stimmrecht. Lediglich bei der Wahl zum Vorstand wählen die ärztlichen und nichtärztlichen Mitglieder getrennt.« Das heißt im Klartext, dass nur Ärzte den Vorstand wählen konnten. Die »nichtärztlichen« Mitglieder, damals ausschließlich Diplom-Psychologen, konnten nur ihren Vertreter wählen und hatten auf den übrigen Vorstand keinen Einfluss. Hier zeigt sich, wie die Gründer der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie sich in der Wahrung der »Ärztlichen« Psychotherapie der AÄGP verbunden fühlten, auch wenn sich diese Haltung bald als nicht mehr zeitgemäß erwies. An der Gründung sind 130 Ärzte und 30 Psychologen beteiligt. Das ändert sich überraschend. Im Mitgliederverzeichnis von 1963 finden sich 115 Ärzte und 110 Psychologen und von da an war das Verhältnis paritätisch. Dieses Mitgliederverzeichnis von 1963 enthält einen anrührenden Zufall: Es beginnt mit »Regierungsmedizinalrat Dr. Beerholdt Leipzig C 1 Leibnizstraße 27« und endet »Dr. Herbert Weigel Chefarzt der Poliklinik Stadthaus Leipzig C 1 Chopinstr. 16«. Die einzigen Psychoanalytiker als Alpha und Omega der Gesellschaft! Dazwischen in der Liste, außer den beiden Abtrünnigen Mette und Müller-Hegemann, niemand mit einer abgeschlossenen analytischen Ausbildung. Aber, wie sich erst viel später zeigen wird, eine Reihe mehr oder weniger heimlicher Sympathisanten. Bei dem Versuch im Januar 1991, die AÄGP und die inzwischen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie genannte Gesellschaft zu verbinden,

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

bestand die Gesellschaft aus fast genau 730 Ärzten und 730 Psychologen und rund 100 anderen Mitgliedern. Die Haltung der Abschottung von Ärzten und Psychologen in der AÄGP, die einen Zusammenschluss verhinderte, war unverkennbar anachronistisch geworden. Ihre Vertreter in der AÄGP haben zu dem beigetragen, was sie am wenigsten wollten, nämlich zur Stärkung der Fraktion der Psychologischen Psychotherapeuten. Was nicht in der Satzung stand, aber zunächst sehr ernst genommen wurde, war die Vereinbarung, dass im Vorstand immer Psychiater und Internisten in gleicher Zahl vertreten sein sollten. Man stritt damals, ob die Psychotherapie ein Kind der Inneren Medizin oder der Psychiatrie sei. Der Proporz war von den Internisten durchgesetzt worden und sollte vor den Dominanzbestrebungen der Psychiater, genauer Müller-Hegemanns schützen; mit dem Nachlassen seiner Macht wurde diese Klausel unwichtig. Es lassen sich drei Spannungslinien ausmachen, die die Geschichte der Gesellschaft von Anfang an bestimmten. – Ist die Psychotherapie ein rein ärztliches Fach oder ist auch von anderen Berufen eine psychotherapeutische Kompetenz zugänglich? – Ist Psychotherapie ein Teil der Psychiatrie oder gehört sie in alle Medizinischen Gebiete oder ist sie ein eigenes Fach? – Und schließlich: Welches fachliche Credo ist das allein Seligmachende? Der Versuch, die Psychologen zu dominieren, ist im Laufe der Zeit, bei vielen aber schon recht bald, von einer kooperativen Haltung und der Einsicht abgelöst worden, dass es nicht um »ärztlich«, sondern um »medizinisch« geht und dass die Aufgaben der Medizin in allen Bereichen einer zunehmenden Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen bedürfen. Was dabei die Psychologen betraf, so konnte die Einführung des Fachpsychologen der Me­dizin mit dem Erwerb einer fünfjähringen Erfahrung in verschiedenen medizinischen Fachgebieten und abschließender Prüfung die meisten der noch verbliebenen Bedenken gegen ihre Teilnahme an der psychotherapeutischen Versorgung ausräumen. Auf der Grundlage dieser – einem Facharzt analogen – Weiterbildung und einer anschließenden psychotherapeutischen Ausbildung konnte man der Übernahme therapeutischer Verantwortung, aber auch von Leitungsaufgaben, mit gutem Gewissen zustimmen. Mit der zunehmenden Etablierung des eigenständigen Faches Psychotherapie und der Einführung des Facharztes wurden die Spannungen zur Psychiatrie keinesfalls geringer, aber sie haben die Entwicklung der Psychotherapie kaum noch beeinträchtigt. Die Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie fand am Rande einer Tagung der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie statt. Aber auch die erste wissenschaftliche Tagung nach der Gründung war zeitlich, räumlich und organisatorisch mit einer Tagung der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie verbunden. Beide Tagungen wurden von Müller-Hegemann (»M.-H.«, wie er allgemein genannt wurde) geleitet. Die organisatorische Erleichterung mag eine Rolle bei der Entscheidung für eine gemeinsame Tagung gespielt haben, aber wichtiger war doch wohl, dass sich MülllerHegemann verpflichtet fühlte, den Psychiatern zu demonstrieren, dass sich die Psychotherapeuten unter seiner Leitung nicht zu weit emanzipieren würden.

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3.3  Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960

Inhaltlich widmete sich diese Tagung dem auch 1960 nicht mehr sehr originellen Thema »Vegetative Dystonie«. Es referierten sechs Psychiater und zwei Internisten, hier griff der Proporz nicht. Szewczyk befasste sich mit der Entwicklungsgeschichte, Leonhard mit der Beurteilung aus der Sicht des Psychiaters, Klumbies mit deren Polygenese, Dutz mit der Häufigkeit. Kleinsorge und Müller-Hegemann berichteten über Erfolge beim Autogenen Training. Der Vortrag von Kohler »Die Bedeutung vegetativer Störungen bei Neurosen und deren Behandlung mit komplexer Psychotherapie« war neben dem von Kleinsorge der Einzige, der mit Psychotherapie im engeren Sinne zu tun hatte. Die Sektionssitzung der ­Klinischen Psychologen unter dem Vorsitz von Hans Szewczyk war sozialpsycholo­ gischen Aspekten in der Medizin gewidmet. Das war ein Anfahren mit gezogener Handbremse. Ein engagierter Vorsitzender hätte der Gesellschaft zu einem anderen Auftakt verholfen. Die 2. Tagung der Gesellschaft am 28./29. November 1962 in Leipzig war die erste organisatorisch eigenständige. Sie befasste sich mit Suggestion und Hypnose. Auch dieses Thema erscheint von Vorsicht bestimmt, aber es ging doch wenigstens um Psychotherapie. Rückblickend viel interessanter ist eine von der Gesellschaft veranstaltete Fortbildungstagung im April 1964 in Klink an der Müritz. Alle Vorstandsmitglieder (Mette war inzwischen ausgeschieden) trugen ihre Auffassungen zu pathogenetischen und therapeutischen Problemen vor. Daneben aber auch Seidel, Lange, Wartegg und Wieck. Diese Tagung kann als der unbeabsichtigte Auftakt zu der jahrelangen Vorstandsdiskussion in Vorbereitung der Tagung von Bad Elster verstanden werden, da sich hier zum ersten Mal alle Vorstandsmitglieder fachlich positionierten. Auf den Vortrag von Höck wird noch an anderer Stelle einzugehen sein (} Abschnitt 3.5.1.1). Die 3. Jahrestagung am 28./29. Mai 1965 in Schwerin leitete Kleinsorge. Hauptthema waren Probleme der Psychotherapie des höheren Lebensalters. Kleinsorge hatte durch seine vorübergehende Übersiedlung in die Bundesrepublik seinen Lehrstuhl verloren und war Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Schwerin und Chefarzt der Medizinischen Klinik. Kleinsorge war aber inzwischen Vorsitzender der Gesellschaft. Auch der 4. Kongress 1967 fand unter seiner Leitung statt und befasste sich mit funktionellen Erkrankungen, sexuellen Störungen und Berufskonflikten. Viel einflussreicher als diese Tagung oder andere eigene Impulse war in diesem Jahr für Gesellschaft für Psychotherapie das Symposium »Sozialismus, wissenschaftlich-technische Revolution und Medizin« am 27./28. Oktober. Darunter muss man sich so etwas wie einen thematisch umschriebenen kleinen Parteitag der SED vorstellen. Der Vorstand der Gesellschaft sah sich durch die dort aufgestellten Forderungen unausweichlich vor die Aufgabe gestellt, die Ursachen unterschiedlicher fachlicher Auffassungen in den eigenen Reihen zu klären und auf der Grundlage einer dialektisch-materialistischen Betrachtung gemeinsame wissenschaftliche Positionen des Fachgebietes zu erarbeiten. Das bedeutete nicht weniger, als eine verbindliche Neurosenlehre und eine darauf bezogene vereinheitlichte therapeutische Strategie zu entwickeln. Die Partei- und Staatsführung stellte mit diesem Symposium leitenden Kadern in der medizinischen Wissenschaft indirekt, aber doch sehr ernsthaft die Frage: Wer ist für uns und wer ist gegen uns?

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

Eine Antwort auf diese Forderungen war unumgänglich. Sie musste der Partei- und Staatsführung einigermaßen gemäß sein. Auch musste sie natürlich mehrheitlich getragen werden. Um es vorwegzunehmen: Besonders ideologisch fiel die Antwort nicht aus. Sie forderte aber eine Auseinandersetzung im Vorstand der Gesellschaft über die dort vertretenen unterschiedlichen wissenschaftlichen Positionen. Diese Diskussion hätte aus eigener Initiative nie so stattgefunden und wurde ein großer Gewinn. Höck dazu: »Diese entscheidend neuen Anforderungen, Aufgaben, Perspektiven und Möglichkeiten bewirkten eine äußerst dynamische Entwicklung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie« (1979b). Die Ergebnisse der Diskussion, die zunächst nur im Vorstand stattfand, wurden auf der 5. Jahrestagung der Gesellschaft 1969 in Bad Elster vorgelegt und danach von Höck, Szewczyk und Wendt in einem Buch von 1972 zusammengefasst. Die wichtigen Ergebnisse der Tagung beziehen sich auf die Themen Definition, Klassifikation und Ätiopathogenese der Neurosen. Klumbies stellte im Namen des Vorstandes nach einem Überblicksvortrag über die Geschichte der Neurosenlehre folgende Definition vor: Neurosen sind funktionelle Erkrankungen durch erlebnisbedingte Störungen der zerebralen Reizverarbeitung in Form von – nachhaltigen vegetativen Affektreaktionen oder – nachhaltigen bedingt-reflektorischen Störungen oder – psychischen Fehlentwicklungen. Diese Definition war ein Kompromiss. So stammten die nachhaltige Affektreaktion aus der Jenaer Schule, die zerebrale Reizverarbeitung und die bedingtreflektorische Störung von Müller-Hegemann und die Fehlentwicklungen von Höck und Leonhard, wenn sich auch beider Vorstellungen von der Fehlentwicklung unterschieden, was sich auf die weitere Entwicklung der Vorstandsthesen auswirkte. Genau genommen stand niemand uneingeschränkt hinter dieser Definition und Untergliederung. Worin der eigentliche Gewinn lag, formulierte Klumbies am Ende seines Beitrages so: »Die vorgeschlagene Neurosendefinition möge – das ist unser Wunsch – dazu dienen, dass wir nicht wie bisher mit dem gleichen Wort verschiedene Begriffe verbinden, sondern das Wort Neurose im gleichen Sinne verwenden. Definitionen sind ja keine Erkenntnisse, sondern Festlegungen im Interesse der Verständigung. Entscheidend ist, dass man sich über sie einigt. Nicht im Geringsten ist damit natürlich dem Einzelnen die Freiheit genommen, andere Erkenntnisse zu vertreten oder zu entwickeln. Es wird nur zweckmäßig sein, dann klarzustellen, dass man sich einer anderen Ausdrucksweise bedient. Wir hoffen, dass wir damit unserer Verständigung untereinander einen Dienst erweisen« (Klumbies 1972). Der Gewinn für die Verständigung war zweifellos da. Nicht nur, dass man unter Bezug auf diese Definition weniger aneinander vorbeiredete, sondern dass die einmal angefangene Diskussion unter immer mehr Beteiligten weiterging. Auch erweiterte sich ihre Zielstellung wieder über die von Klumbies formulierte. Die Diskussion verlagerte sich vom Definieren auf die Suche nach einer hinreichend verbindlichen, als Lehrmeinung vertretbaren Auffassung. Die Gesellschaft hatte sich ja auf die Fahne geschrieben, mehr Psychotherapie in die

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3.3  Gründung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1960

Medizin zu tragen. Dazu suchte man möglichst unstrittige nosologische und therapeutische Lehrmeinungen. Höck befasste sich in Bad Elster und in der zugehörigen Veröffentlichung mit der Ätiopathogenese. »Der größte Teil der heute noch bestehenden und zum Teil mit großer Leidenschaft vorgetragenen Unterschiede in den Auffassungen hängt unseres Erachtens vorwiegend damit zusammen, dass diese Tatsache der unterschiedlichen Ätiopathogenese der einzelnen Formen nicht berücksichtigt wird« (Höck 1972). Höck beschreibt die einzelnen Neurosenformen aus der gemeinsamen Definition in ihrer Ätiopathogenese durch Unterschiede bei den Faktoren: Auftreten der Symptomatik, Bewusstseinsnähe, abnorme auslösende Situation, konfliktspezifische Erregung, persönlichkeitsspezifische Erregung, Symptomwechsel, auffällige Lebensentwicklung, Auffälligkeiten in Schwellensituationen, frühkindliche Verhaltensstörungen, Fehlhaltungen und Spontanheilung. Dabei muss sich Höck über das von Klumbies vorgestellte Verständnis der Definition (»keine Erkenntnisse, sondern Festlegungen im Interesse der Verständigung«) wieder hinausbegeben in den wissenschaftlichen Glaubenskrieg. Hier bewährt sich aber schon die Definition, indem sich die Meinungsunterschiede viel besser lokalisieren lassen als vordem im quasi freien Raum des Meinungsstreites. Höck bezieht sich bei der Beschreibung der vegetativen Affektreaktionen auf Kleinsorge und Klumbies, die diese Form in die Diskussion eingebracht haben. Wohl in dem Glauben, Kleinsorge und Klumbies richtig zu interpretieren, schreibt er mit Selbstverständlichkeit: »Die Symptomatik tritt sofort im Anschluss an eine Konfliktsituation auf.« Das ist die einzige Stelle der sich über eine Druckseite erstreckenden Beschreibung der vegetativen Affektreaktion, der Klumbies nicht zugestimmt hätte. Entsteht die vegetative Spannung, die zum Symptom führt, einlinig aus einem erlebten Affekt oder ist sie konflikthaft? Die Abweichungen in den Auffassungen von Höck und Klumbies lassen sich so auf dem Hintergrund der Definitionsdiskussion viel klarer auf den Punkt bringen als vorher. Die hier aufgezeigte Stelle erwies sich im Weiteren als entscheidender Unterschied zwischen Höck und Klumbies. Die analytisch orientierten Berliner ließen vom Konflikt nicht ab und Klumbies mochte nicht an ihn glauben. Höck geht bei der Darstellung der Ätiopathogenese der Fehlentwicklungen über die in der Definition unterschiedenen Untergruppen hinaus durch die Unterscheidung von primären und sekundären Fehlentwicklungen. Damit gibt er auch einen neuen Anstoß zur Weiterführung der Diskussion von Bad Elster, die sich dadurch aber wandelt von der Diskussion der Neurosendefinition zu einer Diskussion der Klassifikation pathogenetischer Neurosenformen. Dass Höck derjenige war, der diese Debatte weiter vorantrieb, lag vermutlich nicht nur in seiner Person begründet, sondern auch in seiner psychodynamischen Orientierung. Es gibt wohl kein anderes Gebiet in der Medizin, dass so auf Gedeih und Verderb auf die Ätiopathogenese angewiesen ist wie die analytische und analytisch orientierte Psychotherapie. Auch bei anderen Krankheiten macht man große Anstrengungen, die Ursachen zu finden. Aber nirgends ist man therapeutisch so machtlos, bevor man die Ursache erkannt hat. Dieses sine qua non der Ätiologie in seinem aus der Psychoanalyse kommenden Neuroseverständnis trug vermutlich bei zu seinem unermüdlichen Kampf auf einem Feld, von dem die Autoren der ICD-10 flohen – und viele mit ihnen.

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

Höck stellt aus den Erfahrungen der Diskussion um die Neurosendefinition fest, dass die meisten Diskrepanzen bei den Neurosen in Form von psychischen Fehlentwicklungen bestehen. Dabei geht es in erster Linie um die Rolle der frühen Kindheit. Höck versucht zu belegen, dass die Auffassungen der marxistischen Sozialpsychologie, wie sie Hiebsch 1966) vertritt, der frühen Kindheit in der Persönlichkeitsentwicklung eine ähnliche Stellung zuweisen wie moderne psychoanalytische. Höck und Leonhard waren die Vertreter im Vorstand, die Neurosen überwiegend als Fehlentwicklungen verstanden. Aus der Auseinandersetzung mit Leonhard dürfte die Idee der Differenzierung von zwei Formen von Fehlentwicklungen erwachsen sein, die sich insbesondere in der Rolle der frühen Kindheit unterscheiden. Die Neurosen auf der Grundlage primärer Fehlentwicklungen entsprechen dem, was Höck aus der Krankheitslehre SchultzHenckes übernommen hat. Neurosen auf der Grundlage sekundärer neurotischer Fehlentwicklungen sind in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass die Fehlentwicklung nach Auftreten eines Symptoms einsetzt. Im Vergleich zu den primären Fehlentwicklungen ist die auslösende Situation objektiv schwerer und damit auch bewusster. Chronifizierende Faktoren, die später von König (1972) als das entscheidende Kriterium der sekundären Fehlentwicklung identifiziert werden, sind zunächst nur als »begünstigend« aufgeführt. Über die Chronifizierung sind die in Bad Elster von Leonhard vorgestellten Befürchtungs- und Wunschneurosen in ihrer Ätiopathogenese gut zu erfassen und von den primären Fehlentwicklungen pathogenetisch gut abzugrenzen. Neben diesen inhaltlichen Ergebnissen brachte der Kongress von Bad Elster auch Neuerungen in der Struktur der Gesellschaft durch die Gründung von Sektionen. Es waren fünf Arbeitsrichtungen, für die eine eigenständigere Arbeit wünschenswert erschien: Gruppenpsychotherapie, Autogenes Training und Hypnose, Kinderpsychotherapie, Klinische Psychologie, Musiktherapie. Diese Sektionen wählten eigene Vorstände, führten eigene Tagungen, aber auch Fortbildungslehrgänge und Kurse durch. So wurde beispielsweise die gesamte Gruppenselbsterfahrung, die 1971 begann, von der zuständigen Sektion ge­tragen. Alle neuen Sektionen entwickelten schnell ein eigenständiges wissenschaftliches Leben und bestätigten damit, dass es zweckmäßig war, diese Interessenstränge zu verselbständigen. Alle fünf Sektionen werden uns in späteren Kapiteln wieder begegnen. Die Thesen von Bad Elster wurden sowohl im Vorstand als natürlich nach ihrer Veröffentlichung auch von den Mitgliedern weiter diskutiert. Das führte dazu, eine erweiterte Vorstandssitzung zu diesem Thema einzuberufen, Anfang November 1974 nach Schloss Cecilienhof in Potsdam. Höck hatte dazu noch einmal eine Diskussionsgrundlage erarbeitet, die eine weitere Präzisierung der Veröffentlichung von 1973 war. Neun Diskussionsteilnehmer von 18 Eingeladenen schickten eine schriftliche Stellungnahme, zehn nahmen an der mündlichen Diskussion teil. Die Positionierungen in dieser Debatte lassen sich in drei Gruppen fassen. Die einen, vertreten u. a. durch Klumbies, meinten, man werde unglaubwürdig, wenn man so eine Definition so schnell ändere. Eine zweite Gruppe war um weitere Präzisierung und Qualifizierung bemüht, während eine dritte wohl unausgesprochen mehr dazu tendierte, das Unternehmen zu kippen, durch wissenschaftliche Einwände, Bezug auf ICD oder darauf, dass der Neurosebegriff überholt sei.

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3.4  Wiederannäherung an die Psychoanalyse in den 1960er Jahren

Im Ergebnis der Sitzung im Cecilienhof wurden Höck, Katzenstein, Szewczyk und König beauftragt, eine neue Vorstandsvorlage zu erarbeiten. Auch dazu legte Höck im Januar 1975 noch einmal einen Entwurf vor, der neben der Klassifikation auch Thesen zu Diagnostik und Therapie enthielt, wie die Unterscheidung von symptomzentrierter und persönlichkeitszentrierter Therapie. Damals waren die beiden Veröffentlichungen »Neurosenlehre und Psychotherapie« (Höck u. König 1976) und »Gruppenpsychotherapie« (Höck 1978b), in denen Höck gemeinsam mit König mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit tritt, bereits im Manuskript fertig. Nach deren Veröffentlichung war Höck offensichtlich müde, sich weiter mit so viel Energie um einen Vorstandskonsens zu bemühen, und widmete sich lieber der weiteren Ausarbeitung und Durchsetzung seines abgestuften Systems der Diagnostik und Therapie neurotisch funktioneller Störungen (} Abschnitt 4.3).

3.4 Werner König und Michael Geyer: Wiederannäherung an die Psychoanalyse in den 1960er Jahren Unser Thema bedarf eines Blickes auf die Hassliebe zwischen Psychoanalyse und Marxismus, die die Entwicklung beider Theoriengebäude spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts begleitet. Zu allen Zeiten gab es sog. Freudomarxisten, die Psychoanalyse und Marxismus keineswegs in Konkurrenz, sondern in einem Ergänzungsverhältnis sahen. ­Entscheidende Impulse für die Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus kamen aus der frühen Sowjet­ union. Wie Christfried Tögel (1986) beschreibt, gab es zu Lenins Zeiten keinerlei Widerstand gegenüber der Psychoanalyse. Das zeigen sowohl die Freud-Übersetzungen im Staatsverlag als auch das Engagement enger Krupskaja-Mitarbeiter für die Psychoanalyse. Lenins Wissenschaftspolitik, so war damals zu hören, war eine Politik des wissenschaftlichen Pluralismus, des wissenschaftlichen Meinungsstreits und der Hochschätzung aller wissenschaftlichen Errungenschaften. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, wie weit man dem heute zu folgen vermag, sondern darauf zu verweisen, dass dieser Geist – neben der stalinistischen PawlowKampagne – auch in der DDR weiterlebte; ganz deutlich im legendären Hörsaal 40 der Leipziger Universität, wo u. a. Ernst Bloch und Hans Mayer lehrten. Unter ihrem Einfluss entstand z. B. die Arbeit von Werner König »Kritische Betrachtungen zur neueren Psychoanalyse« von 1960. Die Affinitäten zur Psychoanalyse wurden nicht nur von oppositionellen Einstellungen zur herrschenden Ideologie, sondern auch von dem Glauben an die Möglichkeit eines besseren Sozialismus und seines humanistischen Kerns getragen. Materialismus und innerer Widerspruch als Movens wurden als faszinierende Gemeinsamkeiten beider Lehren gesehen. Daneben gab es in der Nachkriegszeit im Osten noch vor der Gründung der DDR Ansätze zu einer Wiederbelebung der Psychoanalyse. Der Lehrauftrag an Kleinsorge mit der ausdrücklichen Aufforderung, auch Psychoanalyse zu lehren, ist dafür ein Beispiel. Auch Mette in Berlin und Beerholdt in Leipzig trafen in den ersten Nachkriegsjahren auf keinen Widerstand gegen psychoanalytische Ideen. König hatte seine erste Berührung mit der Psychoanalyse als Oberschüler 1948. Zur Einarbeitung in eine ehrenamtliche Mitarbeit in einer Sozialhilfeorganisation nahm er in Dresden an Seminaren über Freud und Adler teil.

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

Die DDR erreichte natürlich auch die extreme Gegenbewegung in der Sowjetunion. So konnte in den ersten Jahrzehnten der Herrschaft Stalins über die junge Sowjetunion die Beschäftigung mit der Psychoanalyse mit dem Tode enden. Letztere Geschichte sitzt auch den deutschen Kommunisten noch nach Jahrzehnten tief in den Knochen. Wer Stalins These folgen muss, der historische Materialismus sei zum Verständnis aller Motive des Menschen hinreichend, muss notgedrungen ein Gegner anderer Erklärungsweisen menschlichen Verhaltens sein. Die Reflexologie Pawlows eröffnet dem Stalinismus zudem eine einfache und mit dem stalinistisch verfremdeten Marxismus gut übereinstimmende Möglichkeit, den »Neuen (kommunistischen) Menschen« per Konditionierung zu erschaffen.16 Dazu bedarf es keiner Psychologie und schon gar nicht der Psychoanalyse. Es besitzt eine eigene Tragik, dass drei ausgebildete Psychoanalytiker, von denen zwei sogar eine Mitgliedschaft in der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung be­saßen, die ideologische Speerspitze gegen die Psychoanalyse im Nachkriegsostdeutschland bildeten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten diese drei – es handeIte sich um Alexander Mette, Dietfried Müller-Hegemann und den Wiener Walter Hollitscher – prominente politische Positionen und Einfluss auf das Gesundheitswesen und die Wissenschafts­ entwicklung Ostdeutschlands und der DDR bekommen (Bernhardt 2000; Geyer 2003). In der stalinistischen Ära des DDR-Regimes konkurrieren diese drei mit anderen prominenten Ideologen um die militanteste Position im Umgang mit der Psychoanalyse (s. dazu die Kontroverse zwischen Havemann und Hollitscher, ausführlich zitiert bei Seidler im 1. Ka­pitel). Müller-Hegemann verhängte dann auf den großen Pawlow-Konferenzen der 1950er Jahre eine Art ideologischen Bann über die Begrifflichkeit der Psychoanalyse, die in die medizinische Praxis Eingang fand. Begriffe wie »Psychosomatik« oder »Unbewusstes« oder auch nur »psychoanalytisch« wurden eine gewisse Zeit geächtet. Der Begriff »psychoanalytisch« kam erst über den Umweg »psychodynamisch« bzw. »dynamisch« Ende der 1960er Jahre wieder in Gebrauch. Der Begriff des Unbewussten wurde in den Höck’schen Schriften zur Gruppendynamik auf dem Umweg über die sowjetischen – eigentlich georgischen – Persönlichkeitstheorien Usnadses und Galperins, insbesondere deren ganzheitlichen Begriff der »Einstellung«, reimportiert (Höck 1981). Nicht so sehr die Patientenbehandlung war unter Verdikt gestellt, sondern die Beschäftigung mit der Psychoanalyse als Gegenentwurf zur herrschenden Ideologie. Daher kam es weniger auf das Tun als auf die Begriffe an.

16 ����������������������������������������������������������������������������������������������������� »Als Schöpfer der Idealgestalt eines ›Neuen Menschen‹ galt im ›Neuen Russland‹ Iwan Pawlow. Er symbolisierte die Utopie von der totalen Konditionierbarkeit des Menschen und zielte auf ein funktionales Gegenmodell zum humanistischen Persönlichkeitsideal. Seine ›Reflexologie‹ prägte die Massensugges­ tion totalitärer Propagandaapparate und floss auch in die behaviouristische Verhaltenspsychologie der kapitalistischen Demokratien und in die Werbung ein. Das Leben, selbst das rein physiologische, wird zu einem kollektiv experimentellen [...] – zum Objekt kompliziertester Methoden der künstlichen Auslese und des psychophysischen Trainings werden. Bei ihren ›Ausleseverfahren‹ beriefen sich die Bolschewiki auf Pawlows Lehre. Sie glaubten an die Vererbbarkeit erlernter Reflexe und damit an die Möglichkeit der physiopsychischen Menschenzucht« (Rüting 2002).

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3.4  Wiederannäherung an die Psychoanalyse in den 1960er Jahren

Das psychoanalytische Denken war subversiv und musste unterdrückt werden. Insofern wagte es auch niemand, eine explizit dem psychoanalytischen Denken verpflichtete psychoanalytische Vereinigung, Arbeitsgemeinschaft oder gar ein psychoanalytisches Institut zu gründen. Wenn von einer Wiederannäherung an die Psychoanalyse die Rede ist, dann ist damit vor allem eine theoretische Wiederannäherung gemeint, denn in der Praxis sind die von der Psychoanalyse abgeleitete Diagnostik- und Psychotherapiemethoden nie aus dem Verkehr gekommen. Es gibt in den 1950er Jahren auch keine direkten Verbote der Anwendung psychoanalytischer Verfahren in der medizinischen Praxis. Beerholdt in Leipzig führt als Chef einer der größten psychotherapeutischen Ambulanzen der DDR und noch als Pensionär bis zu seinem Tod 1976 vorwiegend Psychoanalysen durch. In Berlin behandeln Wartegg und Burkhardt bis 1955 ausschließlich psychoanalytisch. Auch nahmen eine Reihe von Ärzten aus Ostberlin bis zur Mauer an einer psychoanalytischen Ausbildung in Westberlin teil. Niemand ist deswegen je belangt worden. Dass ab Mitte der 1950er Jahre keine oder nur noch deutlich weniger analytische Psychotherapie am Haus der Gesundheit Berlin durchgeführt wird, hatte keine politischen, sondern explizit wirtschaftliche Gründe. (Die Scheinzahl war dem damaligen Direktor einfach zu gering und er fürchtete um die Existenz der Einrichtung.) Diese Diskrepanz zwischen einerseits der ideologischen Ächtung der Psychoanalyse als anthropologischer oder Persönlichkeitstheorie und andererseits der Anerkennung ihrer praktischen Bedeutsamkeit sogar durch ihre theoretisch-ideologisch größten Feinde mutet beinahe grotesk an. Es ist belegt (} Abschnitt 2.3.1), dass Müller-Hegemann, durchaus militanter Protagonist des Pawlowismus, seinen Mitarbeitern psychoanalytische Lehrbücher ans Herz legte. Auch der öffentlich ausgetragene ideologische Streit zwischen Müller-Hegemann, der in seiner Schrift zur Psychologie des deutschen Faschismus verbrämte psychoanalytische Erklärungsmuster verwendete, und Winter, der das als Ketzerei sah, drückt diese Ambivalenz aus. Politisch-ideologisch wird die Psychoanalyse als dekadent, bürgerlich und pseudowissenschaftlich diffamiert, zur praktischen Arbeit, und sei es zur Erklärung menschlicher Verhaltensmuster, scheint sie unentbehrlich. Alexander Mette wird sich bis zu seinem Tod immer wieder auf hochambivalente Weise mit der Psychoanalyse beschäftigen (so schon 1956 im Rahmen einer Freud-Biographie und 1958 in einer Art Fortführung dieser Arbeit in »Freud und Pawlow«; Mette, 1956, 1958). Der rüde angegriffene Walter Hollitscher hält es nicht mehr lange in der DDR aus und kann sich in Wien weiter mit der Psychoanalyse auseinandersetzen. Die tiefsitzende Furcht, die Beschäftigung mit der Psychoanalyse als Gesellschafts- und Persönlichkeitstheorie könne als subversive Aktion interpretiert werden, schwindet nach Stalins Tod 1953 und Chruschtschows anschließender innen- wie außenpolitischer Kursänderung nur langsam. So scheint die genannte und für die Zeit um 1960 eher ungewöhnliche Beschäftigung Königs mit der Psychoanalyse in seiner Vordiplomarbeit den Beginn einer theoretischen Wiederannäherung an die Psychoanalyse zu markieren. Anfang der 1960er Jahre ist die Rückbesinnung auf psychodynamische Konzepte selbst in den Hochburgen der Pawlow’schen Schlaftherapie unübersehbar. In Leipzig arbeitet Wendt inzwischen mehr und mehr auf psychodynamischer Grundlage, weil aus klinischer

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

Sicht die Schlaftherapie eine persönlichkeitsorientierte Psychotherapie nicht ersetzen kann. Als durch einen Todesfall und schwere Zwischenfälle die Schlaftherapie sogar in den Fokus des Staatsanwaltes gerät, bringt das auch ihren größten Verfechter Müller-Hegemann zu Fall (s. a. die skurrilen Geschichten am Ende des 3. Kapitels). Die Ursachen für die zunehmende Beschäftigung mit unbewussten Prozessen in der Ätiopathogenese und Therapie psycho­ gener Störungen liegen somit sowohl auf der gesellschaftlich-politischen als auch versorgungspraktischen Ebene. Da nach wie vor das Individuum nicht sehr hoch im Kurs steht und Psychoanalyse eher mit der Behandlung des Einzelnen assoziiert wird, kommt die Gruppe als Möglichkeit der Annäherung an psychoanalytisches Denken in den Blick. Das Haus der Gesundheit, ein Hort (neo)psychoanalytischen Denkens, nutzt diesen Weg bereits seit den späten 1950er Jahren. 1966 begegnen sich in Ostberlin die – durchweg analytisch orientierten – Gruppenpsychotherapeuten Europas durchaus auf Augenhöhe (} Abschnitt 3.5.1.4). Als das Zentralkomitee der SED das Symposium »Sozialismus, wissenschaftlich-technische Revolution und Medizin« veranstaltet und kategorisch auch von den Psychotherapeuten verlangt, die Ursachen unterschiedlicher fachlicher Auffassungen in den eigenen Reihen auf der Grundlage einer dialektisch-materialistischen Betrachtung zu klären, erarbeitet der Vorstand eine methodenübergreifende gemeinsame Neurosendefinition, die schließlich 1969 in Bad Elster diskutiert und verabschiedet wird (s. den Beitrag von König } Ab­schnitt 3.3). Diese Definition schafft mit der Einführung der »primären Fehlentwicklung« die Basis für eine persönlichkeitsbezogene Psychotherapie, die letztlich psychoanalytischen Vorstellungen verpflichtet ist. Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Psychotherapie 1971 in Magdeburg, die für die Gruppenpsychotherapie und -selbsterfahrung schicksalhaft war (siehe Psychotherapiechronik 1971 } Abschnitt 4.2), arbeitet König in seinem Vortrag heraus, dass in die Neurosenklassifikation von Bad Elster Schultz-Henckes Ätiologievorstellungen eingegangen sind, mindestens aber unter diesem Blickwinkel als ätiologische Klassifikation verstanden werden kann. Schultz-Henckes ätiologische Faktoren – initiale und stabilisierende Bedingungen (primäre Fehlentwicklung), auslösende Bedingungen (nachhaltige Affektreaktion) und chronifizierende Bedingungen (sekundäre Fehlentwicklung) – waren die theoretische Grundlage der in der von Höck und König vertretenen Neurosenlehre, die in der DDR weite Verbreitung fand. Daran wurde stellenweise fachliche, nie aber ideologisch gefärbte Kritik geäußert. Im Zuge der Einführung dieser Definition kommen die psychoanalytischen Begriffe in der Praxis wieder mehr in Gebrauch und auch das Bedürfnis nach Selbsterfahrung wächst unter den jungen Psychotherapeuten. Als sich am Ende des Jahrzehnts in Erfurt junge Ärzte und Psychologen zu einer psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppe (}Abschnitt 3.5.5) zusammenschließen, ist ihnen nicht klar, dass sie damit den ersten Schritt auf einen langen Weg setzen, auf dem sich zunehmend mehr Gleichgesinnte treffen, die der Psychoanalyse wieder einen institutionellen Platz in Ostdeutschland verschaffen werden.

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3.5  Die wichtigen Zentren der 1960er Jahre

3.5

Die wichtigen Zentren der 1960er Jahre

3.5.1 Ostberlin 3.5.1.1 Helga Hess: Kurt Höck – seine Visionen und seine neoanalytische Sichtweise – Das Grundsatzreferat von Klink »Halte dich an Schultz-Hencke« – es klingt wie ein Vermächtnis von Kurt Höck in seinen späten Lebensjahren – in einem Brief an mich, Helga Hess, und führt zurück zum Beginn seines aktiven psychotherapeutischen Wirkens. Kurt Höck (5.9.1920–29.11.2008) legte erstmalig zusammenhängend seine Haltung zur Psychotherapie in seinem Grundsatzreferat 1964 in Klink/Mecklenburg dar (Höck, 1985). Historisch liegt dieser Zeitpunkt kurz nach dem Bau der Mauer 1961, dem bewussten Verbleiben Kurt Höcks in der DDR, seiner Tätigkeit 1962 als Bezirksarzt – verbunden mit dem Bekämpfen der Ruhrepidemie damals in Berlin. Dazu gehört jedoch auch sein Rücktritt aus diesem politischen Amt durch seine mehrmonatige Reise als Schiffsarzt auf der »Frieden« nach Indien, ein Traum, den er sich 1963 erfüllte. Seine Funktion bestand nun ausschließlich in der Leitung des Hauses der Gesundheit (seit 1957), der Berliner Poliklinik im Zentrum Berlins auf dem Alexanderplatz, einschließlich der psychotherapeutischen Abteilung, die in diese Poliklinik integriert war. Durch seine Tätigkeit als Bezirksarzt konnte Kurt Höck jedoch zuvor den formalen Antrag seines Oberarztes, Johannes Burkhardt, eine stationäre Psychotherapie in Berlin-Hirschgarten – in einer ehemaligen Villa mit 28 Betten – zu eröffnen, genehmigen (} Abschnitt 4.8.1.1). In seinem Referat: »Ambulante Psychotherapie einschließlich Psychoagogik« skizziert der damals 44-Jährige die bisherige Entwicklung, Veränderung und Ergänzung der psychotherapeutischen Arbeit – angefangen von der Beratungsstelle bis zur psychotherapeutischen Abteilung. Er legt in 12 Thesen seine theoretische Konzeption dar. Anhand einer ersten, 1000 Pa­­tienten umfassenden Krankengutanalyse sowie einer 289 Patienten umfassenden ­Therapiestudie von J. Burkhardt legt er sein Diagnose- und Therapieverständnis vor. Hier klingt die zukünftige Differenzierung von Behandlungsstrategien mit der Präferenz von Gruppenmethoden an. Er weist auf die Ausbildung von Psychotherapeuten mit Hilfe der Gruppenpsychotherapie anstelle einer »sehr umstrittenen Lehranalyse« (Höck 1985a, S. 33) hin, er setzt sich für die Lehr- und Lernbarkeit, auch die Schulung von Ärzten aller Fachgebiete mittels Balint-Gruppen ein. Mit dem Anliegen der Integration der Psychotherapie in die Medizin vertritt er eine ganzheitliche medizinische Sicht eingeschlossen soziologischer Sichtweisen. Er endet mit dem Satz: »Unsere Aufgabe als Psychotherapeuten sollte es sein, diese neue Entwicklung nicht nur aufmerksam zu verfolgen, sondern sie aktiv mit zugestalten« (Höck, S. 35). Diese Forderung hat Kurt Höck für sich voll eingelöst (s. Seidler 2009; Tschuschke 2005). Sieht man sich die Thesen von Kurt Höck näher an, seine theoretischen Axiome, so ­finden wir viele Entsprechungen bei Harald Schultz-Hencke, bei dem Höck 1949 bis 1952 in Westberlin Vorlesungen hörte und Seminare miterlebte. Die Thesen betreffen stichpunkt­ artig:

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

1. das Thema konstitutioneller Faktoren der frühen Kindheit, die Notwendigkeit der Ausreifung des Nervensystems im Zusammenhang mit der liebevollen Zuwendung der Mutter; 2. die Umweltabhängigkeit der Ausreifung der kortikalen Funktionen, sowie die Sozialdeterminiertheit des zweiten Signalsystems. Einflüsse der frühen Kindheit als Prägung; 3. Hemmung als einen aktiven Vorgang; 4. Härte und Verwöhnung und insbesondere Pendelerziehung als neurosebildende Faktoren; 5. Fehlhaltungen im Bereich des Besitz-, Geltungs- und Sexualstrebens im Sinne von Schultz-Hencke. Ausbildung von Gehemmtheit, Bequemlichkeit, Riesenanspruch als sekundäre Faktoren der Neuroseentstehung; 6. die Notwendigkeit der Herstellung positiver harmonischer Beziehungen nach Sullivan; 7. die Möglichkeit der Korrektur oder Verfestigung von Fehlhaltungen bzw. sekundären Begleiterscheinungen; 8. Bewährungs-, Versuchungs- und Versagungssituationen als symptomauslösende Umweltsituationen; 9. die größere Wichtigkeit der Folgeerscheinungen für die Prognose; 10. die Ablehnung der Libidotheorie, der Überbetonung des Sexuellen, der Struktur von Es, Ich Und Über-Ich, »die führende Rolle des ›Unbewussten‹« bei Anerkennung der »unbestreitbaren Tatsache, dass seelische Vorgänge sich auch außerhalb unserer subjektiven Wahrnehmung, also unbewusst vollziehen«. Die Ablehnung eines prinzipiellen Unterschiedes »zwischen den unbewussten und den bewusst wahrgenommenen Erfahrungen«; 11. nach Leonhard die Prägung bestimmter angeborener Reaktionsweisen; 12. die Bedeutung von Rollenfunktionen nicht nur in der Gruppe, sondern auch in der Gesellschaft. Höck weist weiterhin auf die Wandlungen der Reaktionen des Menschen auf die veränderten Umwelterscheinungen hin, so auf die Veränderung der Wahninhalte von Paranoikern, auf das Auftreten von Simulation und Artefakten, auf den phänomenologischen Strukturwandel der einzelnen Neuroseformen, z. B. die Wandlung der klassischen Hysterie zugunsten einer Somatisierung von neurotischen Reaktionen, auch auf die Veränderung von Neurosenstrukturen (Höck, 1985a, S. 12–16). Vergleicht man diese Thesen Kurt Höcks, die er in späteren Arbeiten im Einzelnen wieder aufgriff, so fällt vor allem in den Thesen 1, 2, 3, 5, 7, 8, 9 und 10 eine hohe Übereinstimmung mit den Anschauungen von Schultz-Hencke auf. D. h., nicht die Tatsache, dass Höck in der DDR in einem autoritären Staat lebte, hat diese Sichtweise geprägt. Insbesondere die These 10, die sich explizit mit psychoanalytischem Gedankengut beschäftigt, ist nicht einer offiziellen Ablehnung der Psychoanalyse in der DDR geschuldet, sondern entspricht weitgehend der neoanalytischen Position Schultz-Henckes, obwohl diese Formulierungen der offiziellen Gesundheitspolitik der DDR eher entgegenkommen. Ähnlich erging es Schultz-Hencke, der durch die Ablehnung dieser psychoanalytischen Annahmen Freuds und des entsprechend analytischen Vokabulars (bereits vor dem Nationalsozialismus) im Reichsinstitut relativen Handlungsspielraum hatte.

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3.5  Die wichtigen Zentren der 1960er Jahre

Woher kommt jedoch die Nähe bzw. Übernahme der Anschauungen Schultz-Henckes durch Höck? Sieht man sich die Lebensläufe beider Psychotherapeuten an, so finden wir überraschende Gemeinsamkeiten: – Beide erlebten während der Studentenzeit einen Krieg, Schultz-Hencke – anfangs als Freiwilliger – den Ersten Weltkrieg, Höck – in einer Studentenkompanie – den Zweiten Weltkrieg. Beide waren am Ende der Kriege 26 bzw. 25 Jahre alt. – Beide kamen aus einer geistig engagierten Haltung, einer »Bewegung« – Schultz-Hencke aus der »Jugendbewegung«, die mit ihren politischen Interessen stark sozial engagiert war, deren Mitglieder sich häufig als Romantiker verstanden (und es auch waren) und die sich jedenfalls als zukunftsträchtig »jung« fühlten. Der Zusammenhalt dieser jungen Menschen in der Jugendbewegung lag nicht so sehr in der persönlichen Verehrung für einen Meister, sondern in dem Gefühl, die Hoffnungsträger der Zukunft zu sein, jene kommenden Kulturträger, die das Unglück der Gegenwart überwinden würden (Dührssen 1988, S. 11). Höck kam aus einem sozialdemokratischen Elternhaus, hatte im Lazarettdienst bereits Gruppenerfahrungen gemacht und übernahm nach dem Kriegsende aufgrund von weiteren Erlebnissen, wie z. B. der Zurücksetzung als ostpreußischer Flüchtling, gewerkschaftliche Arbeit. Er gründete späterhin z. B. auch eine Gemeinschaftshilfe der Ärzte und Zahnärzte auch für niedergelassene Ärzte und ihre Angehörigen als gesicherte Altersversorgung (Hess 1986b, S. 6–19). – Beide hatten Lazaretterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, Schultz-Hencke als Oberarzt, Höck als Student – aufgrund der Situation mit weitreichenden Vollmachten. – Beide waren konfessionslos, deutsch, waren in keiner Partei, hatten jeweils einen ­jüngeren Bruder »Walter« und verloren ihre erste Ehefrau durch Tod, Höck im Jahre 1949. – Beide waren Assistenzärzte u. a. in der Charité Berlin und erlebten durch Whitkower das Bemühen um die Einführung einer psychosomatischen Abteilung. – Beide begannen als niedergelassene Allgemeinpraktiker, hatten also unmittelbaren Patientenkontakt. – Beide folgten dem Grundsatz einer notwendigen Empirie gegenüber weltanschaulichen Konzeptionen. – Beide hatten eine Vision für die Umsetzung der psychotherapeutischen Versorgung in die Medizin sowie im Hinblick auf eine machbare Ausbildungsform für Ärzte. – Beide engagierten sich für die Schaffung von psychotherapeutischen Polikliniken sowie von Ausbildungsinstituten. »Es gelang Schultz-Hencke in der Zusammenarbeit mit Werner Kemper und einer Reihe von jüngeren Kollegen, jene Institution ins Leben zu rufen, die zunächst »Zentralinstitut für psychogene Erkrankungen der VAB« genannt wurde und deren Kostenträger die Versicherungsanstalt Berlin wurde. Die Leitung dieser Institution hatte er (nach Werner Kempers Auswanderung) bis zu seinem Tod 1953 in Händen gehalten. Er verwaltete mit dieser Institution eine erste Möglichkeit, die Psychoanalyse als therapeutische Methode in das Sozialversicherungssystem Deutschlands einzuführen« (Dührssen 1988, S. 13 f.). Höck entwickelte aus der Abteilung für Psychotherapie der Poliklinik des Hauses der Gesundheit in Parallele zu diesem, nunmehr von Dührssen geleiteten Institut ab ca. 1972 ein Institut für Psychotherapie und Neurosenfor-

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

schung (IfPN), das eine große Ambulanz, eine stationäre Einrichtung sowie eine Forschungsabteilung enthielt (} Abschnitt 4.5.2.4). – Beiden wird weiterhin direkt oder indirekt eine zu große Anpassung bzw. Systemkonformität – einerseits mit dem Nationalsozialismus, andererseits mit dem sozialistischen System in der DDR – und dadurch ein zu starkes Abrücken bzw. Verschleiern der Positionen Freuds vorgeworfen. – Es gab noch eine Gemeinsamkeit: Beide erhielten trotz Habilitation keine Professur. Schultz-Hencke hatte sehr mit den Auseinandersetzungen der Psychoanalytiker im engeren Sinne zu kämpfen, die er durch seine theoretische und empirische Sichtweise initiiert hatte. Durch mangelnde »Linientreue« kam es zur Spaltung in DPG und DPV. 1944 wurde durch Göhring, 1945 durch die Akademie der Wissenschaften eine Berufung erwogen, die ihm letztlich 1947/48 durch die Humboldt-Universität in Ostberlin zugesprochen wurde. Letztere musste er »unter dem Druck führender Berliner Akademiker und in Zusammenhang mit der Gründung der Freien Universität (in West) Berlin zurückgeben (Köhler 1988, S. 16). Höck hatte nach der Verteidigung seiner Dissertation B (Habilitation) im Jahre 1978 eine Dozentur von der Akademie für Ärztliche Fortbildung zuerkannt bekommen, nicht jedoch eine Professur. Hier spielte möglicherweise auch die mangelnde Parteizugehörigkeit und damit seine staatlicherseits nicht berechenbare Eigenständigkeit eine Rolle. Unabhängig von diesen Gemeinsamkeiten, die in der Zielrichtung und offenbar im Charisma, das beide ausstrahlten, sehr weit übereinstimmten, waren beide Charaktere wohl recht unterschiedlich. Schultz-Hencke wird als sensitiv, verletzlich, im Kontakt recht zurückhaltend beschrieben, Höck war durchaus lebhaft, kontaktfreudig, spielte mit Begeisterung Tennis (gründete auch gleich einen Verein), war optimistisch, zupackend: »Wo ich bin, da ist vorn« lautete sein Wahlspruch, den er oft vehement verwirklichte. Beide jedoch erkrankten: Schultz-Hencke 1953 nach einer Blinddarmoperation mit nachfolgenden mehrfachen Embolien. Kollegen äußerten nach Lockot den Verdacht der vielen unverarbeiteten Kränkungen (Lockot 1985b, S. 134). Er verstarb im 61. Lebensjahr. Höck erkrankte lebensgeschichtlich eher: 27-jährig an Typhus, 1968, 48-jährig, an Dickdarmkrebs. Dieser Erkrankung ging eine politische Intrige im Haus der Gesundheit voraus. Entsprechend seinem Naturell mit seiner »Flucht nach vorn-Strategie« ließ er sich trotz der existentiell recht bedrohlichen Situation nicht unterkriegen: Noch im Krankenhaus diktierte er die erste Konzeption für die Entwicklung der Screeningverfahren der Neurosendiagnostik. Innerhalb der DDR gelang es Höck, Gedanken, die auch Schultz-Hencke sehr nahe waren, umzusetzen, z. B. im Sinne eines differentiellen Versorgungssystem, eines Ausbildungsinstitutes, einer zunehmenden Integration der Psychotherapie in die Medizin, der notwendigen Forschungen auf dem Fachgebiet. Die Herausbildung ihrer weitgehenden Selbstbestimmtheit auch im Angesicht repressiver politischer Systeme, die Herausbildung ihres Charismas machten sie für andere zu Hoffnungsträgern und Identifikationsfiguren. Die zupackende, aktiv handelnde Bewältigungsstrategie bei Höck erlaubte wenig Spielraum für Regression (was in seiner Therapiekonzeption bemängelt wird), Ersteres hat bei interner und externer Bedrohung sicher auch am meisten Sinn.

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3.5  Die wichtigen Zentren der 1960er Jahre

Höck hat – über Intentionen Schultz-Henckes hinaus – seinen wesentlichen theoretischmethodischen Beitrag in der Schaffung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie geleistet. Die Aus- und Weiterbildungsstrukturen der Gruppenpsychotherapie wurden dominante Psychotherapiemethode in der DDR, anfangs neben der Analyse, später auch neben der Einzeltherapie. Die Stringenz seines Ansatzes, der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie mit dem Kippprozess als Knotenpunkt eines Umschlages in eine neue Qualität zu einer Arbeitsphase, ist mehreren Aspekten geschuldet: – einer autoritären, repressiven Gesellschaftsordnung, bei der zugleich männliche Auto­ rität seit Jahrhunderten gefragt war, – dem Vorherrschen eines Neurosebildes im Sinne der sog. klassischen Neurose, des »gehemmten« Menschen, – der Erfahrung, dass eine kohäsive Gruppe die therapeutische Leistung – auch einer dualen Beziehung – übersteigt, – der Überzeugung, dass Therapieerfolg nur durch die Übernahme von Eigenverantwortung zu erlangen ist, auch im Sinne eines Qualitätssprungs zur Reife, zum Erwachsenwerden, – letztlich dem Aspekt seiner eigenen Entwicklung – eingebettet in die geschichtliche Situa­tion von Kriegs- und Nachkriegszeit und dem Erleben, dennoch aktiv Veränderung bewirken zu können. Kurt Höck konnte seine Vorstellungen bis Ende der 1980er Jahre verwirklichen. Bereits in den Jahren zuvor deutete sich ein Wandel der Neurosebilder im Sinne der Zunahme sog. früher Störungen und ein Wandel sozialer Strukturen an. Mit der Auflösung der DDR und ihrer damit verbundenen Strukturen zerfiel bzw. veränderte sich vorerst das in der DDR geschaffene psychotherapeutische Versorgungs- und Ausbildungssystem. Es erfolgte jetzt ein Wandel zu einer freieren Gesellschaftsordnung. Damit treten jetzt andere existentielle Anforderungen in den Vordergrund, denen nur durch Übernahme von Verantwortung zu begegnen ist. Für die Gruppenpsychotherapie von Höck bleibt die Frage des »Aufhebens« in einem neuen, dialektischen Sinne.

3.5.1.2 Wolfgang Kruska: An der Wiege der Intendierten Dynamischen ­Gruppenpsychotherapie (IDG) Die IDG als Methode ist eine zentrale und überdauernde Lebensleistung von Kurt Höck. Seidler hat darauf hingewiesen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen IDG und Selbsterfahrungsbewegung gab – das eine hat das andere befruchtet oder auch gestört. Im Nachhinein bildet sich manches klarer ab als während des Prozesses der Entstehung eines Systems. Höck hatte nicht die Absicht, eine in sich geschlossene Persönlichkeitstheorie darzulegen. Es ging ihm darum, auf dem Boden einer wissenschaftlich fundierten und überprüfbaren Einteilung der Neurosen eine gleichfalls wissenschaftlich fundierte Therapiemethodik zu finden, die möglichst lehr- und lernbar, effektiv und ökonomisch in der Anwendung sein sollte. Sie sollte unter den gesellschaftlichen Verhältnissen und der vorherrschenden Ideologie in der DDR wenigstens vertretbar, besser noch, mit ihr kompatibel sein.

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Dabei war das Reizwort »Psychoanalyse« möglichst zu vermeiden. Es hätte damals auch zu Recht nicht eingeführt werden dürfen. Es wurde zwar auf Psychoanalytiker und deren Anschauungen zurückgegriffen (bei dem Entwicklungskonzept und der Neuroseneinteilung auf H. Schultz-Hencke und J. H. Schultz), aber das Ergebnis ist nicht »psychoanalytisch«, denn wesentliche Grundannahmen und Unabdingbarkeiten, nicht nur der Freud’schen Psychoanalyse (Libidotheorie, Ödipuskomplex), blieben marginal. Die überragende Bedeutung unbewusster Konflikte und Komplexe, die Rolle des Narzissmus und die Konstituierung und frühe Entwicklung des Ich durch Objektbeziehungen und die begleitenden affektiven Prozesse wurden damals in ihrer Bedeutung kaum wahrgenommen. Dabei spielten durchaus bewusste Anpassungs-, vielleicht auch Selbstzensurvorgänge eine Rolle. Der MarxismusLeninismus (»ML«), der sogar Ausbildungs- und Prüfungsgegenstand in der ärztlichen Ausbildung war, als herrschende Ideologie und das »sozialistische Menschenbild« schwebten damals durch, ja dominierten alle kulturellen Bereiche, übrigens keineswegs nur im Osten. Die Hegel’sche Dialektik in der Adaption von Marx, in der Umformung von Mao Tse Tung war durchaus eine geläufige und anziehende Denkmethode, die hüben in der marxistischen Form, drüben, als Folge der 68er-Bewegung in der maoistischen Version, eine Renaissance erlebte. Es wurden daher Verbindungen zur marxistischen Sozialpsychologie gesucht, zur sowjetischen Einstellungspsychologie, auch lerntheoretische Ansätze wurden bedacht. Aber wir fanden nichts Aktuelles, was uns im Verständnis der Gruppenprozesse, besonders der unbewussten, weitergebracht hätte. Die sog. Freudomarxisten in Frankreich oder Lateinamerika spielten für uns keine Rolle, einfach, weil wir ihre Arbeiten nicht kannten. Das Buch von Seve »Marxismus und Theorie der Persönlichkeit« erwies sich nicht nur für klinische Fragestellungen als wenig ergiebig. Die Auseinandersetzung mit der Freud’schen Psychoanalyse zu führen und deren Aneignung unter dem Zentralbegriff der Einsicht in den Rahmen eines motivationspsychologischen Konzepts zu bringen, hat U. Holzkamp-Osterkamp versucht. Das war theoretisch durchaus bestechend, eine praktische Hilfe ergab sich daraus nicht. Die einzige wirkliche Verbindung zwischen den drei Bereichen Neurosen­ verständnis, Therapiemethodik und gesellschaftliche Kompatibilität meinten wir nur bei Wilhelm Reich zu finden, Psychoanalytiker, vielleicht einer der begabtesten überhaupt, und eine ganze Weile Marxist, wenn auch unter Kommunisten immer schlechter gelitten. Ein dialektischer Grundzug, der sich durch seine »Charakteranalyse« zieht, seine Vorstellung von progressiv verändernden Kräften (Triebkräften und -wünschen) und regressiven bewahrenden Kräften (Abwehrmechanismen und Widerstandsformen), Einheit und Kampf der Gegensätze, die sich auf eine Entscheidungssituation hinentwickeln und schließlich zu einer vorübergehenden Lösung auf einem höheren Niveau gelangen, lässt sich durchaus ­herauslesen und als Matrix eines Gruppenprozesses verstehen. Die nahe Verbindung ergibt sich ferner aus Reichs Konzept, den Ansatz der Veränderung der Neurose oder des neurotischen Charakters durch die Bearbeitung der situativen und Charakterwiderstände zu erreichen. Dazu müsse der unbewusste Widerstand erst einmal deutlicher und erlebbar werden. Von dort bis zur Verstärkung, ja Provokation des Gruppenwiderstands oder der Widerstandsphänomene des Einzelnen war es dann nur ein Schritt. Wir überdachten diese Ansätze von Reich ohne den Teil, der über Freuds Libidotheorie hinausgeht, ja, sie konkretistisch ­verzerrt.

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Von den vier weiteren Autoren, deren Konzepte Misselwitz zu Recht als die theoretischen Wurzeln der IDG ansieht, sind zwei Psychoanalytiker: Bion und Foulkes, die beiden anderen, Lewin und Slater, sind eher als Sozialpsychologen einzuordnen. Von Slater stammt das Konzept, dass eine Gruppe sich nur entwickelt, wenn einerseits genügend Frustration ­vorhanden ist, andererseits die Bedrohlichkeit nicht zu groß ist. Er hielt eine ausreichende Frustration für den Motor der Gruppenaktivität. Slater versuchte, Bions »Grundannahmen« und Freuds »Urhordentheorie« miteinander zu verbinden. Tatsächlich hat das Slater’sche Frustrationskonzept in unseren Köpfen zunächst eine ziemliche Verwirrung angerichtet. Es wurde eifrig »frustriert«, jedoch nicht nur die neurotischen Heilserwartungen, sondern auch die ganz normalen Wünsche nach Information, Zuwendung und Respekt, was zu einer entsprechenden, sowohl geängstigten als auch daraus geboren aggressiven und feindseligen Atmosphäre in den Gruppen führte. Irgendwann war dann klar, dass sowohl das Urhordenkonzept als auch das Frustrationskonzept als auch das Widerstandskonzept in der Form, wie wir sie verstanden und umgesetzt hatten, der falsche Weg waren. Es war auch ein undialektischer Weg. Der eine Teil des Gegensatzpaares, Bindung/Autonomie, konnte sich überhaupt nicht entwickeln, weil die Gruppen die wechselseitige und die Bezogenheit zum Therapeuten, eine Ahnung von Bestätigung, ja Anflug von primärer Liebe überhaupt nicht erfahren konnten, obwohl das Bedürfnis mit den Händen zu greifen war. Das Konzept musste nicht Frustration, Abhängigkeit und Durchsetzung, sondern Identifikation, Abhängigkeit und Abgrenzung lauten, ohne die Widerstände zu übersehen, sie stattdessen zur rechten Zeit zu bearbeiten und ohne die Ausweichmanöver und Bequemlichkeitshaltung der Gruppe oder der einzelnen Teilnehmer zu bedienen. Das Konzept wurde daher um die sog. »Anwärmphase« erweitert. Als die IDG noch in ihren Kinderschuhen steckte, haben wir sicher so manchen Fehler gemacht, und ich fürchte, manchen Patienten eher geschadet als genutzt. Danach, nach vielen Debatten und Klärungen, hatte das sog. Phasenkonzept Höcks im Großen und Ganzen seine Form gefunden. Für die Fülle der Darstellung der affektiven Prozesse in Gruppen, die dortigen Übertragungs- und Gegenübertragungspositionen, die Besonderheiten der Gruppenpsychotherapie gegenüber der Einzelanalyse wurden außer den von Misselwitz schon genannten Autoren noch viele andere herangezogen, von denen ich nur Max Pages herausheben möchte. Er stellt wunderbar dar, wie es dem Trainer/Therapeuten so gehen kann und dass die Merkmale der Pluralität (H. Arendt) und ihre Folgen auch für den Trainer/Therapeuten zutreffen. Unbewusste Gruppenidentität und unbewusstes Gruppengedächtnis haben uns sehr wohl, ergänzend und als Pendant zu den eher »psychosozialen« Abläufen, damals auch durchaus beschäftigt. Nachdem wir in der Methode sicherer geworden waren, wurde auch schon im Haus der Gesundheit ausgelotet, wo und wie sich außerhalb des stationären Settings die Methode in modifizierter Form eignete. Eine Frucht dieser Überlegung waren die ambulanten Intensivgruppen (Kessling, Linsener, Kruska, Seidler). Die Behandlung nach diesem Konzept unter tagesstationären Bedingungen erwies sich als sehr fruchtbar. Die Prozesse verliefen sehr intensiv. Diese Gruppenform habe ich später für unsere ambulante Fachabteilung in Köpenick in modifizierter Form weiter praktiziert. Des Weiteren wurden Paargruppen eingeführt (Schwarz, Kruska, Kirchner). Eine sehr interessante Konstellation ergab sich bei der Behand-

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lung von Patienten im mittleren und höheren Lebensalter. Sie waren oft weder willens noch imstande, stationäre oder ambulante Intensivgruppen mitzumachen. Der Therapeut – in diesem Fall Dr. Wartegg – nahm stärker den inhaltlichen und pragmatisch beratenden Aspekt auf, ich als der Ko-Therapeut beobachtete stärker den Prozess, die Veränderungen des Beziehungsgefüges und die daraus resultierenden affektiv-emotionalen Zusammenhänge. Diese Gruppenarbeit mit sicher auch nicht immer einfachen, aber gestandenen und lebenserfahrenen Menschen und die Deutungskunst von Dr. Wartegg waren sehr bereichernd. Die Notwendigkeit einer besonderen Modifikation ergab sich beim Gegenstück unserer »Mittelaltergruppe«: bei den jugendlichen Erwachsenen (C. Seidler). Später kamen auch reine Frauengruppen dazu (C. Ecke u. a.). Einen vorläufigen Abschluss dieser Etappe fand die bisherige Entwicklung mit den ­Thesen Höcks (1977) zu seiner Habilitation. Die nächste Etappe war durch das Wiederaufkommen psychoanalytischen Denkens und durch das gewachsene Interesse für die Einzelanalyse mitbestimmt. Und damit will ich mich beschränken, obwohl noch viele Bücher, viele hin und her gewendete, bestätigte oder verworfene Gedanken und Konzepte zu nennen wären.

3.5.1.3 Helga Hess: Psychotherapeutische Forschung im Haus der Gesundheit – Probleme, Anfänge und Entwicklung in den 1960er Jahren Es war beinahe so wie beim Kohlenklauen von den Zügen nach 1945: Man musste wissen, wo und wann die Kohlenzüge langsam fahren, musste das Risiko auf sich nehmen aufzuspringen, und das Risiko, sich erwischen zu lassen. Leichter moralischer Trost: »Was denn, Herr Pfarrer, Sie auch?« In Köln nannte man es »Fringsen«, vom Bischof, dem späteren Kardinal Frings, entschuldet. Die Anwendung des Persönlichkeitsttests MMPI-Saarbrücken, den Annelies Stephan »an Land gezogen« hatte, wurde mehrfach torpediert. Abgesehen davon, dass wir keine Devisen für eine ordnungsgemäße Beschaffung hatten und im »Raubdruck« die ersten Exemplare erstellten, enthielt er für die staatliche Aufsicht zu viele religiöse Fragen. Nach etlichen Beanstandungen, meist durch Angehörige von Patienten beim Ministerium, entschied Kurt Höck in seiner charakteristischen Art, den »Stier bei den Hörnern zu packen« und die Flucht nach vorn anzutreten, entsprechende Fragen zu eliminieren und die verkürzte Form dann auch an einer eigenen Stichprobe zu normieren. So reduzierten und adaptierten wir den Test, indem Stephan, Hess, Höck ihn von 566 auf 470 Fragen reduzierten und an die Originalform adaptierten (1972). Zeller normierte den verkürzten Test dann an einer DDR-Stichprobe (Zeller, Höck). In einem ähnlichen Dilemma standen wir bei allen weiteren diagnostischen Fragen und therapeutischen Erfordernissen. So gingen wir daran, eigene Verfahren zu entwickeln, eigene Untersuchungen anzustellen, dabei Verfügbares auf Brauchbarkeit zu überprüfen. Kurt Höck hatte die Vision, ein Institut für Psychotherapie und ­Psychoanalyse aufzubauen, nach der Teilung der Stadt mit hinüber gerettet, als er 1949 in der Abteilung Psychotherapie im Haus der Gesundheit erstmalig arbeitete, die er dann ­später als Chefarzt übernahm. Dazu musste sich jeder Mitarbeiter – bereits bei der Einstellung – zur Forschung verpflichten.

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Im Laufe der Zeit wurden einige Grundbausteine für die Forschung geschaffen. Gleichzeitig wurde jetzt im Rückblick deutlich, dass die Technik sich in diesen 1950er Jahren enorm entwickelt hat und für Forschung ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Bausteine betrafen die Organisation von Mitteln für Forschung, die Errichtung einer Bibliothek (bestehend aus über 2000 gesammelten Sonderdrucken), die Datenverarbeitung, die Möglichkeiten zu veröffentlichen sowie die personelle Situation. Das Niveau der Forschungsorganisation entsprach lange Zeit dem eines Manufakturbetriebes. Mit Einbindung in das Forschungsprojekt des Ministeriums für Gesundheitswesen ab 1969 wurden aus­ gefeilte Forschungsanträge eingereicht. Hier konnten wir im Laufe der Zeit die Stelle eines Mathematikers schaffen. Zwei weitere umfangreiche Forschungsprojekte (1976–1980; ­ 1981–1985) ermöglichten den Aufbau einer eigenständigen Forschungsabteilung (} Abschnitt 4.5.2.4) mit der Einstellung eines Physikers und eines Diplom-Ingenieurs. Forschung hatte auch einen indirekten Zugzwang, dass Kongressbesuche nur unter gleichzeitigem ­Halten eines Referates durch den Chefarzt bewilligt wurden. Veröffentlichungen waren begrenzt in Zeitschriften möglich. Es gab die »Zeitschrift für Psychiatrie, Neurologie und med. Psychologie«, die sog. Mette-Zeitschrift, die monatlich einmal erschien. 1979 wurde die Reihe »Psychotherapieberichte des HdG Berlin« (ISSN 0138-1040) als »graue« Literatur geschaffen, d. h. Hausliteratur auf schlechtem Papier. Jedes Exemplar (und das Papier) musste vom Ministerium für Kultur genehmigt werden. Im Laufe der Zeit wechselte die Schriftenreihe geringfügig den Titel aus. Es wurden bis zu ihrer Einstellung bei Auflösung des Institutes 45 Hefte durch Kurt Höck herausgegeben, ab Heft 31 federführend unter Helga Hess. Eine eigentlich erste offizielle, psychotherapeutische Schriftenreihe wurde mit der Zeitschrift »Psychotherapie und Grenzgebiete P+G« in den 1980er Jahren durch die drei fachübergreifenden Herausgeber, den Internisten und Psychotherapeuten Kurt Höck, den Juristen, Psychiater und Psychotherapeuten Jürgen Ott und den Sozialpsychologen Manfred Vorwerg im Verlag Johann Ambrosius Barth Leipzig herausgegeben. Von Kurt Höck war damit eine stärkere Durchdringung der drei Aspekte innerhalb der Psychotherapie erhofft. Es blieb jedoch bei einer stärkeren Abgrenzung der einzelnen Herausgeber, die zugleich dann als jeweils einzelne Bandherausgeber in Erscheinung traten. Hier erschienen 11 Zeitschriftenhefte, das letzte wiederum von Helga Hess herausgegeben. Buchpublikationen konnten erfolgen. Sie wurden ebenfalls über eine Druckgenehmigung des Kulturministeriums freigegeben. Häufigste Buchverlage für den Bereich Psychotherapie waren der VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin; VEB Georg Thieme Verlag Leipzig sowie VEB Gustav Fischer Verlag Jena. Ein Bezug auf das sozialistische Gesundheitswesen im Vorwort oder das marxistische Menschenbild erleichterte die Genehmigung zum Druck. Die Forschungsarbeiten waren Teilbausteine einer systematischen Entwicklung, die Kurt Höck immer im Auge hatte und »intendierte«, d. h. anstrebte. Sie bezogen sich in den 1960er Jahren auf die Exploration, die Testdiagnostik und die Entwicklung und Umsetzung des abgestuften Systems der Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen und Krankheiten (} Abschnitt 4.3.). Wie im Beitrag über die Vision Höcks (} Abschnitt 3.5.1.1) deutlich gemacht wurde, hat die Psychotherapie im Haus der Gesundheit ihre Wurzeln insbesondere im neoanalytischen

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Ansatz bei Schultz-Hencke sowie im Institut in der Müllerstraße in Berlin bei Annemarie Dührssen. Dieser Ansatz schlug sich deutlich in der Gestaltung der Exploration nieder. ­Jahrelang vermittelte Ehrig Wartegg als Mentor in zwei- bis dreistündigen Patientensitzungen detailgenau seine tiefenpsychologische Explorationstechnik und Erfahrungen. Gemeinsam mit Kurt Höck erarbeiteten beide einen Lebenslauf-Umwelt-Fragebogen (LUF, unveröffentlicht), der die wesentlichen biographischen Daten – nach strukturellen Merkmalen unterteilt – erfragt. Die wöchentlichen ärztlichen Supervisionsvorstellungen der Diagnostik mussten dem von Höck verlangten tertium comperationis standhalten: Eine Hypothese war durch dreifachen Beleg zu verifizieren. Diagnostisch wurde anfangs unterschieden in Fremd-, Rand-, Schicht- und Kernneurosen (zu späteren Diffrenzierungen s. König } Ab­schnitt 4.3). Interessant ist, dass die Untersuchungsergebnisse an Ekzematikern und Asthma­tikern (s. u.) mittels des von uns benutzten Explorationsschemas unbesehen vergleichbar waren mit einer Untersuchung von Studt und Arnds 1968 aus Westdeutschland, ein Hinweis auf dieselbe theoretische Herkunft. Testdiagnostisch wurde der Wartegg-Zeichen-Test (WZT, Wartegg, 1980) verwandt, der wegen seiner differentialdiagnostischen Hinweise bereits in der Groborientierung (hirnorganisch, neurotisch, psychotisch) recht wertvoll war. Zugleich gestattete er anhand des sog. Qualitätenprofils Aussagen zur Neurosenstruktur. Über diesen Test arbeitete außer Wartegg und Petzold (2000) vor allem König (1969a) und versuchte später, ihn zu validieren. Außer diesem Verfahren eigneten sich die Wartegg-Erzählproben sowie Satzergänzungsproben zur Überprüfung und Vervollständigung der Explorationsergebnisse. Zur Erfassung der Symptomatik und Persönlichkeit wurden zunehmend Fragebögen verwandt, so z. B. Symptomlisten, der MMQ, der MPI von Eysenck sowie anfangs noch der nicht revidierte MMPI-Saarbrücken (Höck 1969). Neben den klassischen klinischen Skalen wurden die neoanalytischen Skalen schizoid, depressiv, zwanghaft, hysterisch zur Auswertung herangezogen. Sie wurden später durch stärker sozial-relevante Skalen ersetzt (} Abschnitt 4.5.2.4). 1968 erfolgte die erste systematische Umsetzung der Konzeption des abgestuften Systems der Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen (s. König } Abschnitt 4.3). Nach ersten Vorarbeiten für epidemiologische Erfassungen (J. Burkhardt und G. Hesse, 1967) erfolgten zielgerichtete Itemsammlungen in den einzelnen Fachabteilungen der Poliklinik und deren neuroserelevante Überprüfung durch Helga Hess im Rahmen der Konzeption einer Siebtestentwicklung. Linsener (1969) sowie König (1969a, 1972, 1973a) setzten sich zugleich stärker mit dem Autogenen Training auseinander. Die Explorationsdaten – einschließlich einer genauen Sexualanamnese – wurden nachträglich in einem Dokumentationsblatt EDV-gerecht verschlüsselt. Dies betraf auch die Daten des LUF sowie die testdiagnostischen Daten. Auf diese Weise konnten sie zu Krankengutanalysen und damit Forschungsfragen genutzt werden. Die Gruppenforschung im eigentlichen Sinne begann mit der Verfolgung des soziometrischen Ansatzes von Moreno, der derzeit von Editha Ferchland unter H. Enke (damals Ulm), insbesondere von Raoul Schindler (Österreich) sowie A. Heigl-Evers (Tiefenbrunn) verwandt und ausgebaut worden war. Hier in der Klinik Hirschgarten wurde damals die Konstellation von drei Gruppen untereinander in ihrem Gefüge gesehen und erfasst (Hess

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1969). Weitere Ansätze galten der Beachtung der therapeutischen Gemeinschaft sowie Anregungen Knoblochs mit seinen Erfahrungen von Lobec mit der Arbeitstherapie im Gesamtgefüge der Therapie. Höck berichtet 1969 über eigene Erfahrungen.

Das spezielle Projekt der Klimakurreise Im Jahre 1965 bestand die einmalige Gelegenheit, dass Kurt Höck das Psychotherapieteam auf einer Hochseeklimakur für insgesamt 450 Ekzem- und Asthmapatienten leitete bzw. die psychologische Aufgabenstellung inhaltlich bestimmen konnte. Der Dermatologie Prof. Karl Linser hatte bereits Mitte der 1920er Jahre die Klimatherapie für Hautleiden immer wieder favorisiert und vorangetrieben. Die Übernahme des Lehrstuhls für Dermatologie an der Berliner Humboldt-Universität im Jahre 1950 gab ihm endlich die Möglichkeit, gemeinsam mit dem Asthmaspezialisten und Psychosomatiker der Universität Jena Prof. Hellmuth Kleinsorge durch die Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Gesundheitswesen ein »Klimaschiff«, die »MS Völkerfreundschaft«, zu chartern und mit durch Ärztekommissionen sorgfältig ausgesuchten Patienten zu Kurzwecken in bioklimatisch erfahrungsgemäß ausgesprochen heilkräftige Meeresbereiche – in das Gebiet der Azoren und der kanarischen Inseln – zu fahren. 299 Ekzematiker und 151 Asthmatiker aus 24 Einrichtungen der DDR waren an Bord, dazu über 100 Personen der Schiffsbesatzung, der Ärzte sowie des mittleren medizinischen Personals – insgesamt ein schwimmendes Krankenhaus –, unterteilt in 12 Stationen. Unter dem Personal befanden sich vier Psychotherapeuten, zwei Ärzte – Kurt Höck und Barbara Graul – sowie zwei Psychologen – Helga Hess und Werner Ullmann. Es war für alle Beteiligten ein einmaliges Erlebnis, zumal Schiffsreisen überhaupt nach der Grenzziehung der DDR die Ausnahme bildeten. Das Einmalige bestand jedoch in der für alle erlebten Gemeinsamkeit, auch des Aufeinanderangewiesenseins, der Kommunikationsdichte insbesondere auch zwischen Patient und Behandler: Tägliche Visiten, Liegestuhlkuren, medizinische und physiotherapeutische sowie dann auch psychologische Untersuchungen und Behandlungen, nicht zuletzt abendliche kulturelle Veranstaltungen bildeten den Tagesablauf. Einprägsam jedoch waren vor allem auch das Zufällige und Unvorhergesehene: etliche Stürme in der Biskaya, das geisterhafte gleichzeitige Rutschen aller Sessel im Café, die Weigerung der Hostessen, Betten der Ekzempatienten aufgrund der Hautschuppen und Kratzblutungen zu machen, der nächtliche Umzug zum Schlafen an Deck seitens der untersten Kajütenbelegung wegen mangelnder Klimatisierung, ein nächtlich in Seenot ge­ratenes Handelsschiff und das Erleben der damit verbundenen Auslieferung und Ohnmacht gegenüber Naturereignissen. Latente Spannungen beim Tanken vor Casablanca. gehörten auch dazu: kleine Lotsenboote, die Männer darauf spielten mit den Rettungsringen. Von der »Völkerfreundschaft« durfte kein Mann über Bord gehen – weder in suizidaler Absicht noch, um in die andere Welt zu entfliehen. Hier wurde deutlich, dass auf unserem Schiff auch eine Gruppe von Stasi-Leuten mitfuhr. Sie passten auf, hielten hier auch nachts Wache – auffällig unauffällig. Dann aber auch die Sicht auf die Inseln, die Nähe zu Afrika, wir meinten, die Löwen zu sehen. Oder die Durchfahrt durch Gibraltar, vor allem aber die Weite des Meeres, die phantastischen sehr farbigen und breiten Regenbögen, die bis auf den

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Schiffsboden trafen, und die laue streichelnde Luft. Solche Erlebnisse waren für alle mehr oder weniger bedeutsam. Neben den klinischen und physiotherapeutischen Behandlungen wurde mit jedem Patienten eine psychotherapeutische, einstündige Exploration über dessen Biographie, insbesondere symptomauslösende und verstärkende Situationen durchgeführt. Daneben wurde gruppenweise das Autogene Training vermittelt. Die Gespräche, untermauert mit den entsprechenden Testverfahren, dem MMQ, dem LUF, dem MMPI, dienten zugleich wissenschaftlicher Forschung. In dem abschließenden Buch über diese Reise (Linser u. Kleinsorge, 1969) konnten psychologische Ergebnisse zur Konzentrationsleistung, zu Befindensstörungen, soziologische Untersuchungen, insbesondere aber Untersuchungen zur Psychopathologie bei endogenem Ekzem sowie Asthma bronchiale niedergelegt werden. Die tägliche Arbeit auf dem Klimaschiff war für alle Beteiligten sehr intensiv, da sie einerseits die täglichen Behandlungen, andererseits die Erhebung der Forschungsdaten an immerhin 450 Patienten zum Inhalt hatte. Hier lernte ich die engagierte Zusammenarbeit mit Kurt Höck schätzen, die dann über Jahre die gemeinsame Forschungsarbeit im Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung Berlin bestimmen sollte und bis zum Ausscheiden aus seiner beruflichen Laufbahn im Jahre 1987 anhielt.

Das erste offizielle Forschungsprojekt Von 1969 bis 1975 lautete der Themenkomplex: »Funktionell und psychisch bedingte Störungen im Krankengut des ambulanten Gesundheitswesens«. Zielstellung und Ergebnisse bis Mitte der 1970er Jahre war die Erarbeitung der Konzeption des abgestuften Systems der Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen (} Abschnitt 4.3). Im Ergebnis dieser Dekade der 1960er Jahre wurden die konzeptionellen Vorarbeiten für die Folgejahre geleistet. Hierbei zeigte sich eine – auch internationale – Tendenz, dass psychometrische Testverfahren die projektiven ablösten.

3.5.1.4 Helga Hess: Das Symposium für Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung 1966 in Berlin-Ost »Es war der Initiative, der Zähigkeit und der sozialen Phantasie Kurt Höcks zu danken, dass ein solch wissenschaftlicher Austausch unter den damaligen Bedingungen zustande kommen konnte. Auch Franz Heigl und ich waren damals im tiefen Winter in das verschneite Ostberlin gereist, um einen Vortrag zu halten und um mit den der Gruppenpsychotherapie verpflichteten Kollegen aus Ost und West zu diskutieren. Diese Diskussionen waren nicht ohne Spannung, und gelegentlich auch nicht ohne Schärfe, besonders wenn es um die Theorie ging, und hier und da in ideologische Sackgassen mündeten. Insbesondere waren es Positionen Freuds, die hier und da Gereiztheit auslösten, insbesondere der Aggressionstrieb, denn, so hieß es, die Aggression sei ein Kunstprodukt der bürgerlichen Gesellschaft. Unter den Bedingungen des Sozialismus gäbe es dergleichen nicht. Doch dies waren vereinzelte Voten, möglicherweise auch von speziell dazu entsandten Funktionären ge­äußert.

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Die Auseinandersetzungen um den eigentlichen Gegenstand, die therapeutische Gruppe, war durchgängig sachbezogen, anregend und interessant und ließ deutlich werden, dass in diesem Bereich psychotherapeutischer Methodik in der DDR selbst, aber auch in den osteuropäischen Staaten erhebliche wissenschaftliche Arbeit geleistet worden war. Dass es schon damals in der DDR eine theoretisch reflektierte, empirisch überprüfte und klinisch breit angewandte Gruppenpsychotherapie gab, wurde auch deutlich, als die Gäste das von Herrn Höck geleitete Ambulatorium, das Haus der Gesundheit in Ostberlin, kennenlernen konnten, und auch die damals eingerichtete Institution für stationäre Psychotherapie in BerlinHirschgarten. Beiläufig sei bemerkt, dass dieses damalige Ostberlin auch selbst für den Westbesucher, nachdem er sich mühsam durch das Nadelöhr der Grenzkontrollen gefädelt hatte, Interessantes zu bieten hatte. So erinnere ich mich an eine exzellente Inszenierung der ›Dreigroschenoper‹ von Bert Brecht durch seine Witwe Helene Weigel und ein ganz vorzügliches politisches Kabarett.« Soweit Annelise Heigl-Evers Rückblick auf diese Tagung im ersten Teil ihrer Grußbotschaft 1990, zum 3. Gruppenpsychotherapiekongress in Berlin. Dieses Symposium war für die gesamte Entwicklung in der Psychotherapie der DDR, insbesondere natürlich die Gruppenpsychotherapie, äußerst wichtig. Es war einerseits ­erstmalig nach dem Mauerbau eine gesamtdeutsche Begegnung größeren Ausmaßes, an­dererseits bereits ein europäisches Treffen der führenden Gruppenpsychotherapeuten. Es war – um im Slogan der Gruppe zu sprechen – eine gelungene Anwärmphase, endlich ein persönliches Kennenlernen der »Großen« – auch für uns Jüngere –, ein Darstellen des jeweils Erreichten, eine Neugier und Wissbegier, ein großes Interesse am fachlichen Austausch, eine Zugehörigkeit zu einer großen Familie. Wir lernten Annelise Heigl-Evers kennen, die zarte, kleine Frau mit ihrer Prägnanz, Sachlichkeit, dem tief auslotenden Denken, sowie ihren Franzl, ihren Ehemann, der zugleich die Rolle eines Beschützers innehatte. Sie hat Wesentliches für die Gruppenpsychotherapie geleistet und war endlich eine Frau, die zur wissenschaftlichen Leitfigur werden konnte. Aus Österreich, dem schönen Wien, kam der großgewachsene, schlanke Raoul Schindler, der die Soziodynamik der Kleingruppe uns jetzt persönlich darstellte, die wesentlich befruchtend dann auf unsere Gruppenarbeit wirkte und letztlich in der Schaffung des Soziogramms (nach Höck und Hess) endete. Es trägt noch heute in vielen Gruppentherapien zur Transparenz der Sitzung bei. R. Schindler bestritt derzeit einen metrischen Ansatz zur Strukturerfassung. Wir waren ehrgeiziger (Hess, 1996b), zumal bereits Editha Ferchland, die damals gemeinsam mit Helmut Enke anreiste (und die, wie auch ich, die Minimode trug), eine metrische Abbildung vorstellte. Über die Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickelte sich eine wohlwollende, zugewandte Freundschaft zwischen Kurt Höck und uns Kollegen des Hauses der Gesundheit mit Helmut Enke, der mich nicht nur stimmlich, sondern auch in seiner Warmherzigkeit und seinem Habitus immer ein wenig an Gilbert Bécaud erinnert. Viele Impulse und auch die Zusammenarbeit mit ihm und seiner Einrichtung gingen seither von dieser Freundschaft aus. Eine letzte gemeinsame Arbeit beleuchtete unsere Ost-West-Kontakte (Hess u. Enke, 2006). Ehrfürchtig und stolz waren wir auch, den »Vater« der therapeutischen Gemeinschaft in der Psychiatrie, den Engländer Maxwell Jones, als Gast und Referenten zu erleben.

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Inhaltlich beeindruckte vor allem die Auseinandersetzung um die Positionen Freuds durch Heigl-Evers, insbesondere hinsichtlich des Aggressionstriebes. In der anschließenden Buchpublikation von Höck (1967a) wird neben der theoretischen Diskussion vor allem diejenige der Gestaltung des gruppenpsychotherapeutischen Settings überhaupt evident, die praktischmethodischen Probleme der Gruppenbehandlung. Als Gruppenpsychotherapie wurde damals offenbar vor allem die analytische Kleingruppe mit bevorzugter Deutungsarbeit des Therapeuten angesehen. Es wurden Probleme im Zusammenhang mit dem klinischen Setting und notwendiger Einhaltung von Normen angesprochen. In diesem Sinne stellte Enke sein bipolares Behandlungssystem mit der Verlagerung von Verantwortlichkeiten auf die Patientengemeinschaft vor, so dass der Therapeut seiner analytischen Haltung gerecht werden kann. Diese bipolare Sicht gehört noch heute zu den Grundlagen stationärer Psychotherapie. Die Diskussionen auf dem Symposium 1966 betrafen einerseits unterschiedlich gestaltete stationäre ­Systeme, die Diskussion um die Unmöglichkeit, geschlossene Gruppen im stationären Setting zu führen (Enke), was Werner König 1967 dann jedoch in der Klinik Hirschgarten erprobte und damit zugleich die Möglichkeit des ambulant-stationären Fließsystems mit inaugurierte. Es betraf ferner die Kombination mit unterschied­lichen praktischen Verfahren, vom Autogenen Training, bis zur Pantomime sowie die ­Therapie bei unterschiedlichen Zielgruppen wie z. B. Somatoneurotikern, Neurotikern, Psychiatriepatienten, Alkoholikern. Ein wesentliches und zugleich historisches Ereignis stellte eine Sitzung am Rande des Symposiums in der Staatsbibliothek dar. Im Rahmen des Gesellschaftsabend, der im Haus der sowjetischen Freundschaft stattfand – hinter der Schinkel’schen Wachablösung Unter den Linden –, trafen sich in einem Nebenraum die westdeutschen Kollegen – federführend Heigl-Evers und Enke – gemeinsam mit Raoul Schindler, dem Österreicher, um eine Vorbesprechung zur Gründung des DAGG, des Deutschen Arbeitskreises für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, ähnlich wie er bereits in Österreich bestand, zu führen. Ich nahm daran als Zeitzeugin teil. Ein Beitritt war für DDR-Kollegen staatspolitisch nicht möglich. Inzwischen ist jedoch auch hier – nach über 30 Jahren – eine gesamtdeutsche Integration erfolgt. Von Kurt Höck war die Gestaltung dieses Symposiums eine historische Leistung. Vor 45 Jahren waren wir jungen Teilnehmer zugleich Anfänger: Michael Geyer, Werner König, Helga Hess – heute bereits gaben und geben auch wir den Stab weiter. Wir haben Begeisterung in der Begegnung, Streit in der Sache und Identifikation mit einem gemeinsamen Anliegen erlebt, das einen tragenden Untergrund in unserem weiteren Tun bildete.

3.5.1.5 Wolfgang Kruska und Barbara Kruska: Psychotherapie im Griesinger-Krankenhaus Wuhlgarten Die städtische »Krankenanstalt für Epileptische« im Wuhlgarten wurde in den Jahren 1890– 1893 am Rande der Wuhle, einem Flüsschen zur Spree hin, erbaut. Es ist ein wunderschöner, denkmalgeschützter Bau mit einer jetzt wiederaufgebauten Kirche, einem zentralen Ver­waltungsgebäude, mehreren großen Häusern und vielen kleinen Pavillons, den sog. Landhäusern. Die anfängliche Belegung mit Epileptikern wurde nach und nach zugunsten sta­tionärer Behandlung aller psychiatrischen Krankheitsformen abgelöst. 1953 wurde die neu­rolo­gische Klinik nach einem Umbau im Haus 3 untergebracht. In der Zeit von 1935–

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1939 wurden in Wuhlgarten massenhaft Zwangssterilisationen, von 1939–1941 auch Selektionen von psychisch Kranken im Rahmen des verbrecherischen Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten durchgeführt. Zum Kriegsende hin diente das Krankenhaus auch als Lazarett. 1945 wurde die Anstalt geteilt. Auf dem Norddrittel des Geländes waren sowjetische Besatzungstruppen stationiert. Der Hauptteil aber blieb Krankenhaus mit dem ­stationären Versorgungsauftrag für die südlichen und südöstlichen Stadtbezirke Ostberlins. Zu dem Krankenhausgebiet gehörte auch einiges Ackerland, das unter der Anleitung von Fachkräften von Patienten bäuerlich bewirtschaftet wurde und zur Versorgung der enormen Patientenzahlen (1400 bei voller Belegung, aber meist überbelegt) beitrug. Man darf nicht vergessen, dass bis zum Aufkommen der Psychopharmakotherapie in den 1950er Jahren die Arbeitstherapie nach Hermann Simon die einzige zuverlässige und nebenwirkungsfreie Therapie war und dass sonst vorwiegend Aspekte der Verwahrung und der Sedierung im Vordergrund standen. Von H. Simon stammt übrigens der berühmte Spruch: »Schweigen ist Silber, Arbeiten ist Gold, Reden ist Blech«, eine nicht sehr psychoanalytische Grundaussage. In Einzelfällen stand noch die Elektrokrampfbehandlung zur Verfügung. Geschlossene Stationen, vergitterte Fenster, sogar noch sog. Kastenbetten gehörten zum Alltag. 1964 übernahm Dietfried Müller-Hegemann (5.5.1910–28.7.1989), der vorher Ordinarius für Psychiatrie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig gewesen war, die Leitung der Klinik und versuchte, im Rahmen der Möglichkeiten und im Geiste der Rodewischer Thesen (s. Anhang IV), ein modernes Krankenhaus für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie aufzubauen. Die psychotherapeutische Abteilung wurde im Herbst 1966 in einem der Landhäuser, dem Haus 21, eröffnet, organisatorisch im Rahmen der Zweiten Psychiatrischen Klinik, der Männerpsychiatrie. Vom gegenüberliegenden Haus 20 aus erfolgte die Versorgung und Beaufsichtigung durch das mittlere medizinische Personal. (Am 1.1.1967 begann der Erstautor seine Facharztausbildung in Wuhlgarten und war zunächst ein dreiviertel Jahr in der Psychotherapie-Abteilung eingesetzt, in die er nach Ende der Facharztausbildung von 1970–1973 als Abteilungsarzt zurückkehrte.) Auf Dietfried Müller-Hegemann trifft sicher das zu, was Schiller im Prolog über seinen »Wallenstein« sagt: »Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte« (Schiller 1798/1993, Bd. 1, S. 635). 1968 fand im Krankenhaus ein Symposium zu Ehren und anlässlich des 100. Todestages von Wilhelm Griesinger (1817–1868) statt, der mit dem berühmten Satz: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« begonnen hatte, die psychiatrischen Erkrankungen aus der Außenseiterposition und Schmuddelecke herauszuholen und ihnen einen Platz im Spektrum menschlicher Erkrankungen zuzuweisen. Im Rahmen dieses Symposiums erfolgte dann die Umbenennung des Krankenhauses Wuhlgarten in »Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus«. Die Initiative dazu ging selbstverständlich von Müller-Hegemann aus. Der Erstautor hat fünf Jahre unter seiner Leitung in verschiedenen Kliniken gearbeitet und ihn als sicher oft sehr steife und förmliche, aber immer das ärztliche Ethos betonende, die psychisch Kranken sehr respektierende Persönlichkeit und als absolut loyalen Chef kennengelernt. Müller-Hegemanns psychoanalytischen und psychotherapeutischen Ansichten und Ansätze sind einem erheblichen Wandel unterlegen gewesen. Noch vor 1945 hatte er eine analytische Ausbildung bei Schultz-Hencke absolviert. Anfang der 1950er Jahre hatte er versucht, die vorherige psychoanalytische Tradition durch eine Orientierung an der sowjeti-

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schen Psychologie, die auf den Erkenntnissen Pawlows fußte, durchzusetzen und hatte sich in explizite Frontstellung zu psychoanalytischen Theorien begeben, was er im Übrigen mit Karl Leonhard, ein in den 1950er und 1960er Jahren sehr prominenten Psychiater, Ordinarius für Psychiatrie an der Charité, teilte, der seinerseits eine Individualtherapie der Neurosen entwickelt hatte. Das Fundament der praktischen Psychotherapie, die in dieser Abteilung durchgeführt wurde, war aber keineswegs so »pawlowistisch«, wie man vermuten könnte. Der Satz »Aber der Mensch ist kein Hund« war ein geflügeltes Wort in der Abteilung. Die Protreptik Kretschmers ist ebenso in die Behandlung eingeflossen wie die paradoxe Intention nach Viktor Frankl; in der Gestaltung des Psychodramas und der Gruppentherapien wurden die Ansätze Morenos, Battegays und R. Schindlers zugrunde gelegt. Auch der gruppenanalytische Ansatz, z. B. von Slavson, ist in die Diskussionen und praktische Therapie mit eingeflossen. In der Diagnostik wurde die Einteilung nach J. H. Schultz zugrunde gelegt und selbstverständlich ist auch die Entwicklungslehre von Schultz-Hencke in die Strukturdiagnostik mit eingeflossen. Das erste Buch, was ich in die Hand gedrückt bekam, war Müller-Hegemanns »Psychotherapieleitfaden«, das zweite von Schultz-Hencke »Der gehemmte Mensch«. In dieser Aufbauphase spielte der leider früh verstorbene Dieter Vater als Oberarzt eine große Rolle. Er war für seine direkte und unverblümte, aber immer anteilnehmende Art bei den Patienten sehr beliebt. Müller-Hegemann verstand seine Psychotherapie als rationale Psychotherapie. Er verstand rational im Wortsinn als vernünftig, eine vernünftige Auswahl der Methoden, die der Individualität des Krankheitsbildes am besten Rechnung trugen. Verbindlich für alle Patienten blieben das Autogene Training und die Krankengymnastik, die sich nach und nach zur Bewegungstherapie entwickelte, und die Kombination von Gruppen- und Einzeltherapie. Aber auch unter solch einem Therapieregime gibt es natürlich eine unbewusste Gruppendynamik, es gibt Träume, schwer zu entschlüsselnde auffällige Verhaltensweisen, kurzum, das Unbewusste lässt sich nicht aussperren. Es wurde in den Fallbesprechungen auch durchaus diskutiert. Eine Wende in der Konzeption und den Anschauungen Müller-Hegemanns stellte das von ihm veranstaltete Symposium »Bewusstsein und Unbewusstes« dar, gleichfalls 1968 im Griesinger-Krankennaus durchgeführt, aus dem ich meiner Erinnerung nach auch Helmut Enke das erste Mal erlebte. Müller-Hegemann hat dann eine neue »Psychotherapie« geschrieben und den an Psychotherapie interessierten Kollegen das Manuskript zum Lesen gegeben. Es enthielt erhebliche Positionsänderungen. Die Veröffentlichung dieses Buchs ist dann in der DDR gescheitert, einem Gerücht nach am Einspruch Alexander M ­ ettes. 1971 ist Müller-Hegemann in die BRD übergesiedelt. Nach seinem Weggang existierte die Abteilung weiter. Neben der Gruppentherapie wurden nach entsprechender externer Ausbildung die Kommunikative Bewegungstherapie (Frau Starkulla, Frau Orthmann, anschließend Frau Münch), die Musiktherapie (Herr Dr. Goldhan) und eine qualifizierte Gestaltungs- und Arbeitstherapie (langjährig Frau Dehler, Frau Stengel) zu weiteren Säulen des therapeutischen Konzeptes. Kernstück blieb aber unter der verbindenden Idee der Therapeutischen Gemeinschaft die Kombination von Gruppen- und Einzeltherapie, wobei der Gruppentherapeut in der Regel auch die Einzelgespräche führte. Ab 1973 wurde die Psychotherapie ein Chefarztbereich. Chefarzt wurde Prof. Werner König, der vorher Oberarzt der Psychotherapie-Abteilung am Haus der Gesundheit gewesen

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war. Dieser Chefarztbereich machte einige Wandlungen durch. Zeitweilig gab es neben dem Stammhaus, dem Haus 21, zwei weitere Stationsbereiche, Haus 23 und Haus 25. In letzterem wurde zunehmend die Dynamische Einzeltherapie (B. Kaiser, P. Ziller) durchgeführt, in den beiden anderen Häusern offene und geschlossene Gruppenformen sowie später auch Einzeltherapien (Erika Plöntzke, G. Wagner, G. Stachura, B. Kruska, B. Gruss, U. Mauss). Zeitweilig wurden in einem der Landhäuser zeitlich verkürzte Diagnostikgruppen durchgeführt. Im Jahre 2000 wurde die bereits erheblich reduzierte Klinik von Frau Frommhold übernommen. Die ambulante psychotherapeutische Komponente wurde 1989 im Rahmen der psychiatrischen Ambulanz institutionalisiert. Der vollstationäre psychotherapeutische Bereich existierte bis 2002. Nach einer Übergangszeit, in der eine Mischform von stationärer, tagesstationärer und ambulanter Behandlung praktiziert wurde, ist die psychotherapeutische Klinik, dem allgemeinen Trend folgend, eine Tagesklinik mit 20 Plätzen geworden, die seit 2008 von Frau Linz geleitet wird. Die Geschichte der Psychotherapie-Abteilung des Griesinger-Krankenhauses erscheint mir für viele Kliniken sehr typisch. Geboren meist durch den Willen und das Interesse einzelner Persönlichkeiten, hatten sie eine Zeit der Blüte und des Experiments von den 1960er bis zu den 1980er Jahren. Heute sind sie in anderer Form in das bundesrepublikanische Versorgungssystem eingebunden. Seit der Wende ist das Stammhaus erheblich geschrumpft, die jetzt von Prof. Wetterling geleitete Klinik hat noch 190 stationäre Betten mit unterschiedlicher Aufgabenstellung und 55 tagesstationäre Plätze. Große Teile der Klinik stehen heute leer, selbstverständlich ist der Übergang von stationärer zu tagesstationärer und ambulanter Behandlung, der Übergang vom Klinikaufenthalt zum betreuten Wohnen eine progressive und begrüßenswerte Entwicklung. Es gibt nach unserem heutigen Therapieverständnis für riesige psychiatrische Großkrankenhäuser überhaupt keinen Bedarf mehr. Und dennoch – wenn man heute durch das Gelände geht, wird die Geschichte von Aufbau, Blüte und schließlich Aufgabe wieder lebendig. Sehr eindrucksvoll, wenigstens in den ersten Jahren, war die langjährige Bindung vieler ehemaliger Patienten an die Einrichtung. Formal an das Autogene Training gebunden (alle vier Wochen »Heuschrecken-AT«), blieben viele Patienten jahrelang untereinander und mit der Klinik in Kontakt. Tatsächlich wurde die Therapeutische Gemeinschaft gerade unter den in der DDR obwaltenden Machtverhältnissen als Ort der zwang- und vorurteilslosen Begegnung genutzt.

3.5.2 Leipzig 3.5.2.1 Hermann F. Böttcher und Anita Wilda-Kiesel: Von der Schlaftherapie­ abteilung der Universitätsklinik für Neurologie und Psychiatrie zur Selbständigen Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung an der Universität Leipzig Dietfried Müller-Hegemann, Direktor der Universitätsnervenklinik Leipzig, stellt in dem 1957 erschienenen Leitfaden »Psychotherapie« seine Konzeption einer »rationalen Psycho-

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therapie« vor, die »im Gegensatz zu psychogenetisch orientierten und anderen mit Spekulationen belasteten Lehren« (1957, S. 11) steht. Theoretische Grundlage ist Pawlows Lehre von der höheren Nerventätigkeit. Autogenes Training, Hypno- und Suggestionstherapie sowie »methodische Aussprachen«, vor allem aber eine mit bedingt-reflektorischen Mitteln betriebene Schlaftherapie, fast immer mit Medikamenten eingeleitet (starke Sedativa) und durch Tonbandruhesuggestionen unterstützt, waren die Basis einer zunächst aus acht Betten bestehenden kleinen »Schlaftherapieabteilung« für stationäre Behandlungen (1953 auf 24 Betten erweitert), die Harro Wendt als Oberarzt übernahm, die Schlaftherapie als Kombinationstherapie verschiedener Methoden »zu einer gut funktionierenden Routinemethode« (S. 157) entwickelte und sich damit 1959 habilitierte. 1959 fand die in »Psychotherapeutische Abteilung« umbenannte Abteilung der Universitätsnervenklinik, vergrößert auf 34 Betten in zwei Stationen, in einer Villa in der KarlTauchnitz-Straße 25 ihren Platz (von da an »KT« genannt) und konnte mit Lottomitteln komfortabel ausgestattet werden. Ausgehend von Müller-Hegemanns Vorstellungen einer Komplextherapie stand die Schlaftherapie noch im Mittelpunkt. Von Harro Wendt als Abteilungsleiter auf Tonband gesprochene Ruhesuggestionen, Texte zur Selbstbesinnung und Musikbeiträge wurden über Lautsprecher in jedes Patientenzimmer zu festgelegten Tageszeiten gesendet. Das Autogene Training als Standardmethode erlernten alle Patienten. Zunehmend erhielten jedoch aktivierende psychotherapeutische Aspekte im Methodengefüge Bedeutung; erkennbar auch an der Fachspezifik der Mitarbeiter: Klinischer Psychologe, Krankengymnastin und Musiktherapeut. 1965 wurde Müller-Hegemann abberufen und übernahm die Leitung des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses Berlin-Biesdorf. Harro Wendt wechselte 1961 und Infrid Tögel 1964 in das Bezirkskrankenhaus Uchtspringe; beide setzten dort ihre psychotherapeutische Arbeit fort. Christa Kohler, die bisher als Stationsärztin tätig war, wurde Oberärztin und übernahm die Leitung der Abteilung für Psychotherapie (später Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung). Sie scharte ein junges Therapeutenteam um sich, mit dem sie schrittweise das Konzept der »Schlaftherapie« verließ und neue Akzente setzte, die 1968 in eine gemeinsame Buchpublikation unter dem Titel »Kommunikative Psychotherapie« mündeten. Unter ihrer Leitung entstand mit den Mitarbeitern Dr. phil. Hermann F. Böttcher, Klinischer Psychologe, Dr. phil. Christoph Schwabe, Musikpädagoge und Musiktherapeut, und Dr. päd. Anita Kiesel, Krankengymnastin/Physiotherapeutin (später Wilda-Kiesel) in einer interdisziplinären Zusammenarbeit eine Form der Psychotherapie, die ganz pragmatisch den bis dahin erreichten Entwicklungsstand in der Leipziger Psychotherapie-Abteilung widerspiegelt und die noch offenen Weiterentwicklungen aufzeigt. Dieses Team, erweitert durch einen Oberarzt, zwei Stationsärzte, Therapieschwestern und technische Mitarbeiter, entwickelte in einem Zeitraum von zehn Jahren von 1965 bis 1975 (Christa Kohler konnte die Leitung ab Mitte 1975 wegen Erkrankung nicht fortführen) vielseitige Aktivitäten in den drei für eine Universitätsklinik charakteristischen Bereichen – Patientenbehandlung, Lehre und Forschung –, die sich u. a. in zahlreichen Publikationen, wissenschaftlichen Veranstaltungen in Form von Symposien mit Gästen aus dem Ausland, Teilnahme an Kongressen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, Mitge-

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staltung von Forschungsprojekten in der DDR und mit dem Ausland (Ungarn, Polen), Einführung neuer Vorlesungsinhalte in das Studium der Medizinstudenten (Psychotherapie, Psychologie) und in der kontinuierlichen Weiterbildung der eigenen Mitarbeiter und Ärzte aller Fachgebiete durch Klinikhospitationen und in Lehrgängen für Psychotherapie (1974, 1975) der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR widerspiegelten. Die Mitarbeiter etablierten als neues 1972 staatlich bestätigtes Berufsbild den »Fachphysiotherapeuten für funktionelle Störungen und Neurosen« (Wilda-Kiesel berichtet in Abschnitt 4.5.7.3 ausführlich darüber). Die Basis und Triebkraft für diese Aktivitäten war die Intention der an Psychotherapie interessierten Nervenärzte, eine eigenständige Psychotherapie innerhalb des Fachgebietes Neurologie und Psychiatrie zu etablieren und nach Wegen zu suchen, auf denen es möglich sein könnte, die Eigenständigkeit so weit zu realisieren, dass eine Herauslösung aus der Psychiatrie erfolgt und sich die Psychotherapie als Spezial- und Querschnittdisziplin in der Medizin profiliert. Dieses Ziel, an dem in der DDR viele Kliniker arbeiteten, gelang in Leipzig im Hinblick auf eine eigene Klinikstruktur zunächst 1974. Christa Kohler (1928–2004) habilitierte sich 1966, wurde 1969 ordentliche Professorin für Psychiatrie und war von 1971 bis 1973 Dekanin des Bereiches Medizin der Universität Leipzig. Sie bemühte sich seit 1965 um eine Verselbständigung der Abteilung für Psychotherapie. Es gelang, die »Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung« aus dem Verband des Fachbereiches Neurologie und Psychiatrie herauszulösen und sie dem Bereich Medizin zu unterstellen. Inhaltlich bot sich in Leipzig für einen solchen Weg, Psychotherapie zu verselbständigen, die Schaffung eines stabilen therapeutischen Settings im klinischen Alltag der stationären Psychotherapie mit den sog. nonverbalen Verfahren der Musiktherapie, Entspannungstherapie, Bewegungstherapie, Beschäftigungstherapie (später Gestaltungstherapie, Maltherapie, Kunsttherapie) an. Um die Erfahrungen und Sichtweisen der auf diesen Gebieten tätigen Fachkollegen ­kennenzulernen, veranstaltete die Leipziger Abteilung für Psychotherapie 1967 und 1969 zwei Symposien mit internationaler Beteiligung und lud gezielt Kollegen aus der Bundes­ republik und dem Ausland ein, die uns aus der Fachliteratur bekannt waren und die – wie sich zeigte – gern die Einladung nach Leipzig annahmen. Im Januar 1967 trafen sich zum Symposium »Probleme der Bewegungstherapie unter psychotherapeutischem Aspekt« und stellten ihre Konzepte vor: Helmut Stolze (München), Konzentrative Bewegungstherapie; Ferdinand Knobloch und Milada Bendowa (Prag), Psychogymnastik; Marianne Fuchs (Erlangen), Atem- und Entspannungstherapie, Funktionelle Entspannung; Katharina Knauth und Helmut Born (Dresden), Ausdrucksgymnatik. Es zeigte sich zu dieser Tagung eindrucksvoll, dass spezielle Formen der Bewegungstherapie entstanden sind, die in der stationären Psychotherapie der verschiedenen Kliniken einen festen Platz erhalten haben (} Abschnitt 4.5.7.1). Im März 1969 folgte das Symposium »Theorie und Praxis der Anwendung von Musik in der Psychotherapie« mit Teilnehmern aus Jugoslawien, Österreich, Schweiz, Holland, Dänemark, Bundesrepublik und Westberlin.

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In beiden Symposien und danach kam es zu intensiven fachspezifischen Begegnungen, zu neuen Akzenten für die eigene klinische Arbeit und zu vielen Anregungen zu weiteren empirischen Untersuchungen mit dem Anspruch, Psychotherapie wissenschaftlich zu fundieren. Die Ergebnisse fanden in den Buchpublikationen in den nachfolgenden Jahren ihren Niederschlag: – 1969: Christoph Schwabe: »Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen«; – 1971: Christa Kohler (Hrsg.): »Musiktherapie. Theorie und Methodik«; – 1972: Christa Kohler und Anita Kiesel: »Bewegungstherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen«; – 1978: Hermann F. Böttcher und Uwe Kerner: »Methoden in der Musikpsychologie«; – 1986: Anita Wilda-Kiesel: »Kommunikative Bewegungstherapie«. Im Zusammenhang mit den Tagungen besuchten bekannte Psychotherapeuten die Klinik, lernten unsere Arbeit kennen und gaben Gelegenheit zum Austausch von Erfahrungen, z. B. 1965 Charles Zwingmann (Frankfurt a. M.), 1966 Raoul Schindler (Wien), 1967 Helmut Stolze (München) und Viktor E. Frankl (Wien), 1972 M. A. Roshnow (Moskau), 1974 Stefan Leder (Warschau). Zur theoretischen Fundierung der Kommunikativen Psychotherapie setzte sich Christa Kohler über längere Zeit in vielen Veröffentlichungen mit den »idealistischen Positionen« der westlichen Psychotherapie auseinander und bemühte sich um eine auf einem marxistischen Menschenbild basierende Neurosenlehre und Psychotherapie. Diese Bemühungen entsprachen ihrer Überzeugung, waren zugleich notwendig und hilfreich, um unter den gesellschaftlichen Bedingungen in der DDR der Psychotherapie die entsprechende Bedeutung zu verleihen. Für die Verankerung der Psychotherapie in der DDR war die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie als ausgewiesene wissenschaftliche Gesellschaft innerhalb der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR unentbehrlich. In ihr fanden im Laufe des Bestehens viele die Rolle der Psychotherapie erhaltende Positionsbestimmungen und Klärungen statt. Wichtige theoretische Bezüge für die Kommunikative Psychotherapie waren die Sozialpsychologie von Bales, Argyle, Hofstätter und Homans, die marxistische Sozialpsychologie von Hiebsch und Vorwerg, die Kommunikationspsychologie der Palo-Alto-Gruppe, die Einstellungspsychologie der Grusinischen Schule von Usnadse und Prangischwili sowie die tiefenpsychologische Neurosenpsychologie als zentraler Bestandteil der Klinischen Psychologie. In der Leipziger Klinik gab es eine kritische Rezeption der westlichen Psychotherapie, zugleich aber auch eine hohe Offenheit und ein starkes Bedürfnis der Mitarbeiter, diese Konzepte kennenzulernen. Wöchentlich fanden Weiterbildungen statt, an denen im Laufe der Jahre zunehmend Fachkollegen aus dem Territorium teilnahmen. Im Weiterbildungsplan des Jahres 1965 finden sich u. a. folgende Themen: die Neopsychoanalyse Schultz-­ Henckes, die Individualpsychologie Alfred Adlers, die analytisch-komplexe Psychologie C. G. Jungs, die Daseinsanalyse Binswangers, die Existenzanalyse und Logotherapie Frankls, die Problematik und der Begriff des Unbewussten, das Menschenbild in der Psychotherapie, die Psychoanalyse Freuds, die Methodik des Einzelgespräches und der Gruppenpsycho­ therapie.

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1972 fanden diese Veranstaltungen zur Weiterbildung als Leipziger Psychotherapie-Kolloquien unter der wissenschaftlichen Leitung von Christa Kohler und Hermann F. Böttcher öffentlich im Senatssaal der Universität mit zahlreichen Gästen von außerhalb statt. Themen waren: Grundlagen und Methoden der Verhaltenstherapie, Theorie des sozialen Lernens, Ambivalenz und neue Entscheidungstheorien sowie eindeutig ausgewiesene psychoanaly­ tische Themen: Abwehrmechanismen, Widerstand, Übertragung, Gegenübertragung, Projektion, Identifizierung, Verdrängung und Regression. 1974 und 1975 richtete die Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung einen Grund- und Aufbaulehrgang Psychotherapie für Ärzte aller Fachgebiete für die Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR mit ca. 80 Teilnehmern über jeweils zwei Wochen aus. Unter der Lehrgangsleitung von Kohler, Starke und Böttcher waren ausgewiesene Psychotherapeuten der DDR als Dozenten tätig, z. B. Hans Böttcher, Crodel, di Pol, Dummer, Geyer, Helm, Hess, Höck, Kiesel, Kulawik, Schwabe sowie Kohler, Starke und H. F. Böttcher. Eine wichtige und viele Kapazitäten der relativ kleinen Mitarbeitergruppe bindende Aufgabe war es, Neurosenforschung zu betreiben – so wie im Namen der Abteilung mitgeteilt. Dafür wurde im Fachbereich Neurologie und Psychiatrie des Bereiches Medizin ein finanziertes Forschungsprojekt »Psychonervale Störungen« eingerichtet. Die Zunahme dieser Störungen, mit denen wir durch unsere Patienten direkt konfrontiert waren, lenkte die Aufmerksamkeit auf die Frage, in welcher Weise sich die Leistungsanforderungen an die Werktätigen unter den veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen auf die psychische Gesundheit auswirken. Wir untersuchten spezielle Berufsgruppen der Industrie, Verwaltung, des Handels sowie Lehrer, die nach Begutachtungen in auffälliger Häufigkeit als berufsunfähig angesehen ­wurden, mit standardisierten Siebtestverfahren und verglichen die Ergebnisse mit Kurpa­ tienten und Patienten in stationärer Psychotherapie. Durch die Mitarbeit einer studen­tischen Forschungsgruppe von 15 Medizinstudenten war es möglich, im Rahmen von Diplomarbeiten und Dissertationen große Gruppen im Umfang von 600 bis 1200 Probanden zu unter­ suchen. Ausgeprägte neurotische und funktionelle Störungen bei 8 bis 23 % der Angehörigen verschiedener Berufsgruppen bestätigten die Ergebnisse epidemiologischer Untersuchungen in der DDR und in Polen. Von 1971 bis 1978 bestand ein Kooperationsvertrag zwischen der Universität Leipzig und dem Ministerium für Schwerindustrie Budapest mit der Zielstellung vergleichender Untersuchungen (verantwortlich für die Realisierung: Dipl.-Psych. Dr. Klari Frendl Gezane und Dipl.-Psych. Dr. Hermann F. Böttcher). Die Ergebnisse bestätigten die Annahme weitgehender Übereinstimmungen (Publikationen in deutscher und in ungarischer Sprache). Schlussfolgernd ergab sich die erneute Bestätigung für die Notwendigkeit, Psychoprophylaxe im großen Umfang für die Gesunden zu betreiben. Das Betriebsgesundheitswesen der Stadt Leipzig wurde zum Kooperationspartner für zahlreiche Aktivitäten von Psychotherapeuten, Betriebsärzten, Klinischen und Arbeitspsychologen in Leipziger Großbetrieben mit dem Einsatz in der Klinik erprobter, für die Psychoprophylaxe modifizierter Methoden der Bewegungstherapie, Entspannungstherapie, Musiktherapie und Gruppengespräche (} Abschnitt 3.5.2.4).

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Im Juni 1969 fand in Bad Elster die 5. Jahrestagung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR statt, die sich von allen vorangegangenen Tagungen dadurch unterschied, dass jetzt ein im Vorstand der Gesellschaft erarbeitetes Verständnis zur Definition der Neurosen, ihrer Diagnostik und Therapie vorgestellt werden konnte. Die Publikation dieser weitgehenden Verständnisübereinstimmung, die für die Entwicklung der Psychotherapie in der DDR grundlegend war, erfolgte 1971 im Buch »Neurosen«, herausgegeben von Höck, Szewczyk und Wendt. Von der Leipziger Abteilung für Psychotherapie waren C. Kohler mit dem Beitrag »Beziehungen zwischen Neurosenpathogenese und Lernvorgängen« und H. F. Böttcher mit »Frustration und psychische Fehlentwicklung in der Kindheit« beteiligt. Die Sektion Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, die ebenfalls zu dieser Jahrestagung in Bad Elster gegründet wurde, suchte auf ihren nachfolgenden Arbeitstagungen, besonders zur 2. Arbeitstagung im Oktober 1970 in Dresden, nach einer theoretisch-methodischen Fundierung für eine gezielte Weiterentwicklung der Gruppenpsychotherapie. Kohler und Böttcher beteiligten sich daran, indem sie »Aspekte der Kommunikation in der Gruppenpsychotherapie« (Kohler) und »Aspekte der Interpretation in der Gruppenpsychotherapie« (Böttcher) reflektierten. Leider kam es erst sechs Jahre später, 1976, zur Veröffentlichung der Beiträge dieser von den Referenten und Teilnehmern der Tagung als Aufbruch in eine neue Entwicklungsetappe der Psychotherapie in der DDR erlebten Veranstaltung (Kurt Höck [Hrsg.]: Gruppenpsychotherapie. Einführung und Aspekte, 1976). Das Jahr 1976 markiert zugleich den Abschluss einer Entwicklung der Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung der Universität Leipzig, die unter der Leitung von Christa Kohler vorwiegend von Anita Kiesel, Christoph Schwabe und Hermann F. Böttcher gestaltet und verantwortet wurde.

3.5.2.2 Anita Wilda-Kiesel: Gruppengymnastik und ihre Ziele in der Abteilung für Psychotherapie der Universität Leipzig im Rahmen der Pawlow’schen Schlaftherapie von 1960 bis 1963 Im Oktober 1960 wurde ich, damals Krankengymnastin, in die Psychotherapie-Abteilung der Leipziger Universitätsnervenklinik aufgenommen. Sie hatte schon vorher drei Jahre lang zwei Patientengruppen der Klinik in der Ambulanz bewegungstherapeutisch betreut. Während der Wachzeiten gab es verschiedene Programme zur Aktivierung. Eine davon bestand aus intensiver körperlicher Belastung, die Kiesel mit den Männer- und Frauengruppen und in Einzeltherapie durchführen musste. Ziele der sportlichen Gymnastik und Spiele waren die körperliche Konditionierung und die Ablenkung der Patienten von ihren Beschwerden. Die sportliche Betätigung sollte »den Gesundungswillen wecken und stärken« (Müller-Hegemann 1957). Müller-Hegemann hielt es für ein wichtiges Aufgabengebiet der Psychotherapie, neben dem Gesundungswillen den Leistungswillen sowie den Willen zur Anpassung an die Erfordernisse des normalen Lebens im Sinne einer Rehabilitation zu stärken. Diese Aufgabe war für die Krankengymnastin ausgesprochen unbefriedigend. Die Pa­tienten hatten weder neurologische Erkrankungen, noch mussten sie wegen eines fehlen-

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3.5  Die wichtigen Zentren der 1960er Jahre

den Antriebes aktiviert werden. Sie konnten mit ihren neurotischen Störungen und ihren multiplen körperlichen und psychischen Beschwerden diese Therapie nicht akzeptieren, da die eigentlichen Ursachen der Erkrankung nicht beachtet wurden. Vielmehr verstärkte die Therapie das gestörte Selbstwerterleben. Die Patienten erlebten vor allem ihre körperliche Unzulänglichkeit, was darin deutlich wurde, dass sie protestierten, wegen ihrer Beschwerden Gründe fanden, nicht an der Therapie teilzunehmen, dass sie zu spät zur Therapie kamen und ständig Pausen einlegten, weil sie sich (zu Recht!) überfordert fühlten. So suchte ich nach anderen Inhalten der täglichen Gymnastik, denn als Krankengymnastin war ich es gewohnt, befundgerecht zu arbeiten. Mir wurde immer deutlicher, dass diese Form der trainierenden und den Körper stark belastenden Gymnastik nicht spezifisch für die Patienten sein konnte. Eine große Hilfe erfuhr ich dabei von Christa Kohler (s. den vorangehenden Beitrag) die ebenfalls mit der bestehenden Situation äußerst unzufrieden war und mit Müller-Hegemann in erhebliche Konflikte geriet. Es gab zwischen Kohler und mir viele Gespräche, in denen wir nach anderen Möglichkeiten in der Bewegungstherapie suchten. Ein neuer gedanklicher Ansatz für die Bewegungstherapie in der Psychotherapie war dadurch gegeben, dass sich nach unseren Beobachtungen neurotische Verhaltensweisen sowohl im verbalen wie im nonverbalen Kommunikationsbereich zeigen. Allerdings dachte Kohler zu dieser Zeit weniger an die therapeutischen Möglichkeiten im zwischenmenschlichen Bereich mit Hilfe der Bewegungstherapie, sondern an das individuelle Ausdrucksgeschehen, das über Gestik, Mimik und Pantomimik abläuft. Sie brachte dies mit der »speziellen Ausdrucksgestaltung« des neurotischen Patienten in Zusammenhang. »Es wird als ein Spiegelbild des neurotischen Patienten gesehen, seiner oft erheblichen affektgeladenen inneren Vorgänge, denen bestimmte dynamische Regulationsprozesse, vorwiegend vegetativer Art, entsprechen« (Kohler, 1968a, S. 35–37). Indem Kohler von verbalen und nonverbalen psychotherapeutischen Methoden sprach, akzentuierte sie den Zugriff auf das doch insgesamt so komplexe biopsychosoziale menschliche Geschehen, das sich immer einheitlich im Erleben, Verhalten und in der Kognition widerspiegelt. Ein nonverbaler Bereich der Psychotherapie konnte im Rahmen der Bewegungstherapie entstehen. Kohler und ich begannen darüber zu reflektieren und suchten in den nächsten Jahren gezielt nach schon vorhandenen Anregungen (s. o.). Außerdem versuchte ich in meiner Gruppengymnastik neue Akzente zu setzen, in dem ich z. B. die Aufstellungsformen der Gruppe veränderte und nicht mehr im Block, sondern im Kreis, in der Gasse und bald mit freier Aufstellung im Raum, vor allem zu Paaren, zu arbeiten begann. Mein Ziel war, die Aufmerksamkeit der Patienten aufeinander zu lenken, gegenseitige Hilfsbereitschaft zu ermöglichen und die Kooperation im gemeinsamen Üben zu Paaren zu fördern.

3.5.2.3 Anita Wilda-Kiesel: Die Anfänge der Kommunikativen Bewegungsthera­ pie, ein neuer gedanklicher Ansatz für die Gruppenbewegungstherapie im Rahmen der Kommunikativen Psychotherapie. Die Entwicklung von 1963 bis zum Bewegungstherapiesymposium in Leipzig 1967 Da Christa Kohler in ihrem Therapiekonzept von einer gestörten sozialen Kommunikation ausging, diente das soziale Bedürfnis nach Kommunikation als Bezugssystem bei der

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Anwendung individual- und gruppentherapeutischer Verfahren. Sie vertrat die Ansicht, dass sich neurotische Patienten schwer in soziale Situationen jeder Art einordnen können und die neurotische Fehlsteuerung im Verhalten besonders deutlich hervortritt, wenn es sich um konkrete, Aufgaben bezogene Situationen handelt, in denen die Patienten eine bestimmte Stellung in den kooperativen Beziehungen einnehmen. Erste Anregungen brachte Kohler 1963 von der Psychotherapiewoche in Lindau mit, wo sie S. Haddenbrok und S. Mederer (1960) arbeiten sah, die in ihrer Gruppentherapie bewussten Blickkontakt und Nähe- und Distanzübungen demonstrierten. Bei K. Meinel (1960) wurde eine genaue Analyse der Bewegungsmerkmale beschrieben, die mir half, die Bewegungsabläufe der Patienten in Bezug auf den Bewegungsrhythmus, den -fluss, die -kopplung und -konstanz sowie die Bewegungskoordination zu analysieren, um Störungen zu erkennen und daraus therapeutische Elemente für eine Harmonisierung der Bewegungen abzuleiten. C. Kohler und ich hatten bei unseren Patienten deutliche Veränderungen im körperlichen Ausdruck beobachtet und erklärten dies aus dem Zusammenhang, der sich zwischen innerem Erleben und äußerer Haltung und deren Spiegelung in der Mimik, Gestik und Pantomimik ergibt. Wir beobachteten die Verfestigung von Verhaltensmustern im Bereich des Bewegungsapperates, die bei über längerer Zeit bestehender emotionaler Gestimmtheit besteht. Wir leiteten daraus die Umkehr des Geschehens ab, in dem wir die Harmonisierung der Bewegungen des neurotischen Patienten in der Bewegungstherapie fördern und erreichen wollten, um auf die innere Befindlichkeit einzuwirken. Einen weiteren therapeutischen Ansatz sahen wir darin, dass sich die zwischenmenschlichen Beziehungen des Neurotikers im Verlaufe der Erkrankung deutlich verändern, dass Störungen im zwischenmenschlichen Bereich und Fehlhaltungen seine Lebensqualität erheblich einschränken (Wilda-Kiesel17, 1987, S. 29). Die Förderung und Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen sollte über eine nonverbale Kommunikation erreicht werden. Dies wurde mit Übungen zur rhythmischen Einstimmung und Einordnung, zur Auseinandersetzung mit dem Raum, durch das freie Gehen, die Partnerwahl und Partnerübungen erzielt (Kohler, 1968a, S. 115). Die neuen Inhalte der »Gymnastikstunden« erforderten eine andere Einstellung und Haltung des Therapeuten in der Therapie. Da ich wusste, dass die Patienten hohe Anforderungen im körperlichen Bereich fürchteten, teilte ich ihnen zu Beginn der Therapie mit, dass es in erster Linie nicht auf die Art und Weise oder die Intensität des Übens ankommt und dass gemeinsames Tun ohne Leistungsabsicht vorrangig ist. »Die Gruppe sollte erleben, dass der Therapeut nicht vor oder über der Gruppe steht, sondern sie in lockerer Improvisation zum therapeutischen Ziel führt. Jeder Patient kann sich möglichst frei entfalten«, schrieb ich schon 1968 (in Kohler 1968, S. 127). Lucie Heyer-Grothe (zit. bei Kiesel et al. 2010) unterstützte die Auffassung, »dass die Bewegungs- und Atemtherapie, die bei der Neurosen- und Psychotherapie in Verbindung mit der Psychotherapie Anwendung findet, mit körperlicher Ertüchtigung im gymnastisch- sportlichen Sinne nur wenig zu tun hat.« Ihr Ziel sei viel-

17 Nach zweiter Eheschließung 1980 Wilda-Kiesel

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mehr, das Körperbewusstsein zu wecken und zu beleben, das Ineinanderwirken von seelischen und leiblichen Zuständen ins Bewusstsein zu heben und therapeutisch auszunutzen. Heyer-Grote stellte sechs Leitpunkte auf. Im Rahmen einer Gymnastik sollten Spannung und Lösung, Gleichgewicht, Körpergefühl, Rhythmus und Raumgefühl beachtet werden. Das rhythmische Arbeiten, wie auch Gleichgewichtsübungen und Raumgefühl zu fördern, waren mir als Krankengymnastin nicht fremd und ließen sich leicht in der Bewegungstherapie verwenden. Dort wurden im Verlaufe der Zeit immer mehr Übungen integriert, die den Blickkontakt, den Körperkontakt, das Nähe- und Distanzverhalten, sich über einen Rhythmus aufeinander einstellen und mit einem Partner üben zum Inhalt hatten. Bei der Beachtung und Verbesserung des Körpergefühls hatte ich anfangs Probleme. Mir half eine Hospitation 1963 bei Marianne Jaenzsch, Krankengymnastin im Klinikum BerlinBuch. Diese war eine direkte Schülerin Elsa Gindlers, die die Konzentration auf den Körper und das Erspüren feinster Bewegungsabläufe in den 1920er Jahren in die Gymnastik eingeführt hatte (Wilhelm 1961). Elsa Gindler, die nie selbst etwas über ihre Arbeit veröffentlicht hatte, war der Ansicht, dass die Konzentration auf den eigenen Körper ein starkes Körperbewusstsein ermöglicht. Kleine Bewegungen, Dehnungen und eine Lagerung der Wirbelsäule auf einen Gymnastikstab halfen, das Körpergefühl zu vertiefen und Spannungen sowie Verspannungen zu lösen. Ich erinnere mich auch an eine Begegnung mit Alice Schaarschuch in Rothenburg ob der Tauber im Jahre 1956. In deren Broschüre von 1957 fand ich viele Anregungen für die Beachtung der Körperwahrnehmung in der Therapie. An meinen Patienten erprobte ich diese neuen Erkenntnisse. Besonders diejenigen, die große Schwierigkeiten beim Erlernen des Autogenen Trainings hatten, weil sie ihren Körper nicht mehr spürten, konnten bald von einer besseren Körperwahrnehmung berichten. Die körperlichen Wahrnehmungen wurden bei E. Gindler nicht reflektiert, die Patienten »dachten« die Worte und Hinweise des Therapeuten mit. ich begann die Patienten aufzufordern, das Erspürte zu benennen. So lernten die Patienten, über ihre Wahrnehmungen zu sprechen, auf die Berichte der anderen in der Gruppe zu hören und sie mit eigenen Erfahrungen zu vergleichen, ohne den anderen nachahmen zu wollen. Ich betonte, dass jeder Mensch nur sich selbst spüren kann und dass alles, was er spürt, für ihn richtig ist. Es entstand die Methode der Konzentrativen Entspannung (KoE). Diese entwickelte sich in der Folge zu einer eigenständigen Therapieform, die in der Physiotherapie als Entspannungstherapie weite Verbreitung fand, in die Fachphysiotherapie integriert war und die auch im Leistungssport, vorwiegend im Schwimmsport, angewandt wurde. 1968 erschien C Kohlers Buch »Kommunikative Psychotherapie« und ich konnte meine bisherigen Erfahrungen darin beschreiben. In dem Buch »Kommunikative Bewegungstherapie – eine Brücke zwischen Psychotherapie und Körpertherapie« (Wilda-Kiesel et al. 2010) schreiben wir, dass die Ansätze zur Hinwendung auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers und seiner Beziehung zur Um- und Mitwelt sowie die Förderung der zwischenmenschlichen Kommunikation in der Gruppenbewegungstherapie bei psychisch Kranken erstmalig in Deutschland an der Leipziger Abteilung für Psychotherapie erprobt wurden und dass sie später, in den 1970er Jahren, etwa parallel mit ähnlichen Entwicklungen in der Bundesrepublik verliefen.

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Im Januar 1967 veranstaltete Kohler ein Symposium zu Problemen der Bewegungstherapie unter psychotherapeutischem Aspekt, welches die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR und die Medizinisch-Wissenschaftliche Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Leipzig ausrichteten. Die Mauer trennte inzwischen Deutschland, deshalb lud Christa Kohler die Wissenschaftler und Praktiker, die sich mit diesem Thema beschäftigten, nach Leipzig ein. Dieses Symposium war ein Meilenstein für die Entwicklung der Bewegungstherapie. Der direkte Kontakt mit H. Stolze (Konzentrative Bewegungstherapie), München, mit F. Knobloch und M. Bendowa (Psychogymnastik), Prag, mit M. Fuchs (Atem- und Entspannungstherapie) und H. Born und K. Knauth (Ausdrucksgymnastik), Dresden, zeigte, dass eine spezielle Bewegungstherapie in der Psychotherapie entstanden war. Referenten zu diesem Symposium waren außerdem: H. G. Wittich, Gengenbach; H. M. Sutermeister, Bern; A. Schmölz, Wien; J. Burkhard und G. Israel, Berlin, und D. Langen, Mainz. Selbstverständlich referierten auch C. Kohler, C. Schwabe und ich selbst.

3.5.2.4 Christoph Schwabe: Entwicklungsbedingungen und Entstehen des ersten klinisch orientierten musiktherapeutischen Methodensystems in der deutschen Psychotherapielandschaft 1960–1969 Es ist nicht verwunderlich, dass »Musik« in der jüngeren Geschichte der Psychotherapie, also in den letzten 50 Jahren, wieder eine Rolle zu spielen begann. Nachdem im Osten Deutschlands die unselige Verknüpfung medizinisch-psychologischen Denkens mit dem Pawlowismus überwunden wurde, also Psychisches wieder als Psychisches definiert werden durfte, fand zunächst langsam, aber zunehmend, auch wieder Musik Aufmerksamkeit als psychotherapeutisches Medium. Es war zunächst das musikalische Interesse von musikinteressierten Medizinern, die erste Impulse zur Wiederbelebung von Musiktherapie gaben. Im Frühjahr 1960 suchte die nunmehr unter der Leitung von Christa Kohler stehende Psychotherapie-Abteilung der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik an der Universität Leipzig einen Mitarbeiter, dem man die Aufgabe übertragen wollte, Musiktherapie als Bestandteil einer neu aufzubauenden komplexen Psychotherapie zu entwickeln. Auf Empfehlung des musikwissenschaftlichen Instituts der Universität wurde ich in der Rolle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters in die Funktion berufen, sowohl an der neu gegründeten Psychotherapie-Abteilung als auch in der psychiatrischen Klinik die Musiktherapie aufzubauen und außerdem Beschäftigungs- bzw. Gestaltungstherapie zu entwickeln und durchzuführen. Diese Arbeit begann im September 1960. Dass ich mit dieser Aufgabe betraut wurde und die Klinikleitung dieses ausdrücklich wollte, ist eines der politischen »Wunder« dieser Zeit, denn ich hatte zwei Jahre zuvor an der gleichen Universität aus politischen Gründen Berufsverbot ausgesprochen bekommen. Außerdem war es ein Novum im Bereich der Medizin, einem Nichtmediziner, einem berufsfremden Kollegen also, der Musiker, Musikpädagoge und Musikwissenschaftler war, eine medizinisch-psychotherapeutische Aufgabenstellung zu überantworten. Man kann davon ausgehen, dass die Leipziger Entscheidung, einen hauptberuflich tätigen Hochschulkader mit der Aufgabe zu betrauen, Musik- und Gestaltungstherapie an einer

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Klinik zu entwickeln und durchzuführen, zum damaligen Zeitpunkt in Deutschland Ost wie West als eine Art »Uraufführung« zu bewerten ist. Diese Tätigkeit in einem zunächst fachfremden und hierarchisch ausgerichteten Umfeld, wie es für die Medizin damals zutreffend war und bis zum heutigen Tage ist, konnte durchaus mit Akzeptanz- und Identifikationsschwierigkeiten verbunden sein. Christa Kohler, die ärztliche Leiterin der neu installierten Psychotherapie-Abteilung, setzte jedoch von Anfang an auf interdisziplinäre Gleichberechtigung der in ihrem Verantwortungsrefugium tätigen Mitarbeiter. Das allerdings brachte ihr bei den ärztlichen Kollegen nicht nur Anerkennung, sondern auch vielfachen Ärger ein. Konzeptionell galt für Kohler eine gleichberechtigte Bedeutung von sog. verbalen und nonverbalen psychotherapeutischen Verfahren. Gleiches galt für die Bedeutung der Dyade und der Gruppe. Anliegen war es, damit ein komplexes Methodensystem der Psychotherapie aufzubauen, in dem sich unterschiedliche Verfahren indikationsabhängig vorteilhaft ergänzen und potenzieren konnten. Zugleich wurde sorgsam darauf geachtet, jede Art von Aktionismus oder Methodenkonkurrenz zu vermeiden. Es gehörte zum Alltag, die klinische Arbeit am Patienten mit der wissenschaftlichen Durchdringung dieser Arbeit zu verbinden. Das bedeutete einen relativ hohen Anspruch an die Leistungsbereitschaft und -fähigkeit des gesamten Teams. Konkrete Vorstellungen, wie eine mögliche Musiktherapie aussehen könnte, waren nur in sehr bescheidenen Umrissen vorhanden. Es galt also, etwas Neues, bisher noch nicht Existierendes aufzubauen. Immerhin war der Klinikleiter Prof. Müller-Hegemann in seiner jugendbewegten Zeit mit dem deutschen Volkslied bekannt geworden. Deshalb bestand die Vorstellung, das Singen in der Gruppe als aktivierendes Moment in das psychotherapeutische Gesamtkonzept einzubeziehen. Die Gruppensingtherapie (Schwabe 1969, S. 147 ff.) wurde zu einer Basistherapie mit sehr unterschiedlichen und wichtigen Teilfaktoren wie beispielsweise der emotionalen Reaktivierung verdrängter traumatischer Erlebnisinhalte, Identifikation mit wichtigen Erinnerungsbildern, Erprobung von sensiblen intimen seelisch-körperlichen Ausdruckselementen innerhalb der Gruppe, Erprobung von Initiativen hinsichtlich der Übernahme von Gestaltungsaufgaben im Gruppengeschehen und manches andere mehr. Ein weiterer Faktor musiktherapeutischen Handelns wurde bereits einige Jahre zuvor durch Harro Wendt (1958; 1960, S. 41) in Verbindung mit der zu seiner Zeit noch favorisierten Schlaftherapie praktiziert. Er verwendete die Rezeption von »guter« Musik (Wendt) in Verbindung mit dem Erlernen des Autogenen Trainings und machte die Erfahrung, dass die »Verbindung von Musik mit dem Schwere- und Wärmeerlebnis zu besseren Trainingsergebnissen des autogenen Trainings führe« (Wenst 1960, S. 41). Als weitere Form einer rezeptiven Musiktherapie beschreibt Wendt das folgende Prozedere: »Die Patienten werden aufgefordert, noch ruhig [in ihren Zimmern] liegen zu bleiben und alle Ablenkungen zu meiden, sich ganz auf die nun folgende Musik einzustellen. Es müsse doch einen Grund haben, dass die Menschen gerade bei guter Musik ihre besten Empfindungen immer wieder angesprochen fühlen [...]. Gute Musik errege nicht, sondern bewege« (S. 41). Aus diesem Ansatz entwickelte sich dann in den folgenden Jahren die sog. ungerichtete rezeptive Einzelmusiktherapie (Schwabe, 1969, S. 94 ff.).

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Das Besondere an dem sich entwickelnden Arbeitsbereich der Musiktherapie war, dass sich unmittelbar aus den konkreten therapeutischen Anforderungen heraus die the­ rapeutischen Maßnahmen ableiteten, die sich für einen effektiven Therapieprozess als ­notwendig zeigten. Dabei handelte es sich um Maßnahmen, die es eigentlich noch gar nicht gab, sondern die aus den Erfordernissen der Praxis heraus erst entwickelt werden mussten. Ausgangssituation war, dass es ein sehr breites Spektrum unterschiedlichster Krankheitsbilder gab, die wir mit den heutigen Diagnosevorstellungen vor allem als psychosomatische Erkrankungen sowie als Persönlichkeitsstörungen einordnen würden. Dazu kamen die Pa­tienten aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Schichten, vom Generaldirektor bis hin zum Lehrling, vom Rentner bis hin zum Teenager. Außerdem war das weltanschauliche bzw. politische Spektrum der Patienten äußerst heterogen, so dass davon auszugehen war, dass sich in der Patientengemeinschaft, also auch in den therapeutischen Gruppen, die gegensätzlichsten Lebensauffassungen begegneten. Im Gesamttherapeutenteam stand dabei die Aufgabe, möglichst schnell zu erkennen, mit welchem therapeutischen »Gewerke« die möglichst effektivste therapeutische Wirkung erreicht werden konnte. Für die Musiktherapie war relativ schnell klar, dass musiktherapeutische Handlungsangebote unmittelbarer als beispielsweise verbale Handlungsangebote emotionale Seiten der Persönlichkeit berühren. Das bedeutete, dass musiktherapeutische Maßnahmen in Kombination mit dem psychotherapeutischen Gespräch, wenn sie in ein komplexes Psychotherapiekonzept integriert sind, sich gegenseitig verstärken können. Es hieß aber auch, damit umgehen zu lernen, dass Musiktherapie eine besondere Brisanz hat, ihr Aufgabengebiet daher klar abgesteckt sein muss und sie einer engen Kooperation mit gesprächspsychotherapeutischen Aktionen bedarf. Aus diesem Kontext heraus entwickelte sich im Laufe der 1960er Jahre ein System von unterschiedlichen Methoden der Musiktherapie, die sowohl in der Dyade als auch in der Gruppe anzuwenden waren. Weitere Gesichtspunkte dieses Methodensystems bestanden darin, sowohl aktive als auch rezeptive Formen der Musiktherapie mit jeweiligen Effektivitätsschwerpunkten aufzubauen. Dabei gab es Methoden, die auf eine eng umgrenzte therapeutische Wirkung angelegt waren, und solche, die als Entwicklungsangebote zu verstehen waren. Ein weiterer Gesichtspunkt für die Handhabung dieses Methodensystems bestand darin, dass nicht alle diese Aktionen vom Musiktherapeuten selbst umzusetzen waren, sondern auch teilweise als zusätzliche Maßnahmen durch den ärztlichen oder Psychologischen Psychotherapeuten innerhalb einer Einzeltherapie zur Anwendung kamen. Schließlich gab es auch musiktherapeutische Methoden, die in Zusammenarbeit mit anderen Therapeuten, beispielsweise der Bewegungstherapeutin, realisiert wurden. Eine erste umfassende Darstellung meines musiktherapeutischen Methodensystems erfolgte 1969 in der Buchveröffentlichung »Musiktherapie bei Neurosen und funktionellen Störungen« im VEB Gustav Fischer Verlag Jena. Die Buchveröffentlichung, die auch in der alten Bundesrepublik und in Übersetzung in Polen erschienen war und sehr schnell drei Auflagen erreichte, fand nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Ländern eine sehr breite und positive Resonanz, wie eine Fülle von Rezensionen zeigte.

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Die Bedingungen in der Psychiatrie der Leipziger Universität standen in den 1960er Jahren in krassem Gegensatz zu denen der neu aufgebauten Psychotherapie-Klinik. Die Ärzteschaft bestand in der Regel aus Assistenzärzten, die hier kurze Zeit tätig waren, um ihre Facharztausbildung zu absolvieren, und die zumeist schnellstmöglich wieder verschwanden, so dass keine Kontinuität im Sinne einer Teamarbeit möglich war. Die Räumlichkeiten waren so beengt und ausschließlich auf die Bettensäle und viel zu kleine Aufenthaltsräume ausgerichtet, dass es unmöglich schien, hier irgendeine Gruppentherapie aufzubauen. Dass diese im Laufe der ersten Jahre doch gelang, grenzt an ein Wunder. Das größte Hindernis bei dieser Pionierarbeit waren die starre Ablehnung und der Widerstand des Pflegepersonals. Ich erinnere mich mit Grausen an die ersten Versuche einer Art Gruppensingtherapie in einem der großen Wachsäle der Frauenstation, bei dem das angeregte gemeinsame Sin­gen durch das grelle Geklapper der Schlüssel und Türschlösser ergänzt wurde, da die Schwestern zu diesem Zeitpunkt das Auf- und Zuschließen der Türen mit besonderem Eifer betrieben. Später dann gelang es, zur Abendzeit – zu anderen Tageszeiten war nichts möglich – Gruppensingtherapie in den Tagesräumen anzuregen, wobei sehr schnell deutlich wurde, dass psychiatrische Patienten offener und konstruktiver auf solche Anregungen reagierten als Patienten mit neurotischen Störungen (Schwabe, 1965). Es kam einer Sensation gleich, als 1964 zum ersten Mal eine Gruppensingtherapie mit Frauen und Männern angeregt und durchgeführt wurde. Das Schwesternpersonal der Frauenstation befürchtete massive sexuelle Übergriffe und hatte sich vorsorglich verzogen, als die ersten Männer zum gemeinsamen Singen die Frauenstation betraten. Da es jedoch außer den hausgemachten organisatorischen Schwierigkeiten keinerlei Komplikationen gab, konnte diese Musiktherapie auch zukünftig so weiter betrieben und damit die bislang strenge Trennung zwischen Frauen- und Männerstation etwas aufgelöst werden. Zurück zur Gesamtentwicklung der Musiktherapie in den 1960er Jahren. Ein Meilenstein war die Veröffentlichung des Buches »Kommunikative Psychotherapie« im Jahre 1968, das vom Therapeutenteam der Leipziger Psychotherapie-Klinik erarbeitet worden war. In dieses Konzept war eine gründliche, aber auch kritische Auseinandersetzung mit den Klassikern der Psychotherapie und Neurosenlehre konstruktiv eingeflossen, ebenso die Orien­ tierung an grundsätzlichen Aussagen zur menschlichen Interaktion, zu erkenntnistheoretischen Fragestellungen unter besonderer Berücksichtigung emotionaler Prozesse und zur methodisch-didaktischen Bewältigung der Teamarbeit im therapeutischen Gesamt­ prozess. Im darauf folgenden Jahr, also im Frühjahr 1969, fand ebenfalls in Leipzig die erste große wissenschaftliche Tagung zur Musiktherapie mit internationaler Beteiligung, insbesondere auch von Wissenschaftlern des westlichen Auslands, statt. Diese Tagung, die mit dem Thema »Theorie und Praxis der Anwendung von Musik in der Psychotherapie« stand, wurde vom Leipziger Psychotherapieteam organisiert und von der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR veranstaltet. Hier wurden zum ersten Mal in Deutschland und im internationalen Kontext auf einer größeren Ebene konzeptionelle, aber auch empirisch experimentelle Forschungsansätze und -resultate der Musiktherapie diskutiert. Diese Tagung, deren

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Organisation und Realisation mit größten politischen Schwierigkeiten verbunden war, wurde zu einem großen Erfolg. Das Leipziger Konzept einer Musiktherapie konnte auf breiterer Ebene bekannt werden und bekam damit auch eine richtungweisende Position im internationalen Maßstab. Die wichtigsten Beiträge dieser Tagung veröffentlichte Christa Kohler als Herausgeberin in dem Sammelband »Musiktherapie. Theorie und Methodik«, der im Jahre 1971 im VEB Gustav Fischer Verlag Jena erschien. Als eines der weiteren Resultate dieser Tagung bekam der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR vom damaligen stellvertretenden Minister für Gesundheitswesen der DDR Ludwig Mecklinger den Auftrag zur Erarbeitung eines Berufskonzepts für zukünftige Musiktherapeuten, das vom Leipziger Psychotherapieteam auch entwickelt und vorgelegt wurde. Die Realisierung eines solchen, inzwischen längst notwendig gewordenen, Berufsbildes scheiterte unverständlicherweise an den Behinderungen seitens derjenigen ärztlichen Psychotherapeuten, die in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR leitende Funktionen einnahmen und durch die Leipziger Psychotherapieprägung eine für sich unvorteilhafte Konkurrenz witterten. Im gleichen Jahr, also 1969, gründete die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie einzelne Fachsektionen mit relativ großer Befugnis. Christa Kohler hatte sich mit Nachdruck dafür eingesetzt, auch eine Sektion Musiktherapie zu gründen, und sie hatte dieses Ziel gegen einigen Widerstand ihrer ärztlichen Konkurrenz auch erreicht. Diese Sektion sollte dann in den weiteren Jahren die Organisationsform werden, über die fachspezifische Tagungen und vor allem auch Weiterbildungsveranstaltungen realisiert werden konnten. Ebenfalls 1969 gründete ich gemeinsam mit der Leipziger Sozialpädagogin und Musiktherapeutin Ingrid Mederacke und dem Berliner Musikwissenschaftler und Musiktherapeuten Wolfgang Goldhan die Arbeitsgemeinschaft Musiktherapie der Gesellschaft für Rehabilitation in der DDR. Die Bedingungen dafür waren günstig, weil der Vorsitzende dieser Gesellschaft, der Orthopäde Prof. Presber, der in Berlin-Buch in der orthopädischen Klinik eine Oberarztstelle innehatte, für diese Anliegen äußerst aufgeschlossen war und seine Umsetzung unterstützte. Nicht nur Presber, sondern auch die Gründungsmitglieder hatten dabei die sehr vielfältigen musiktherapeutischen Anwendungsfelder im rehabilitativen medizinischen sowie im sonderpädagogischen Bereich im Auge. Eine wichtige fördernde Rolle spielte dabei schon zu Beginn der 1960er Jahre der kunstund musikinteressierte Kinderneuropsychiater Dagobert Müller, der durch seine Lehrtätigkeit am Institut für Sonderpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin zukünftige Rehabilitationspädagogen anregte, sich mit Musiktherapie zu beschäftigen, unter ihnen auch Ingrid Mederacke, die an diesem Institut studiert hatte und dann in Leipzig über viele Jahre an der Sonderschule für Körperbehinderte »Albert Schweitzer« musiktherapeutisch tätig war. Es zeigte sich sehr schnell, dass das von mir im klinisch-psychotherapeutischen Bereich entwickelte musiktherapeutische Methodensystem in sich Ansätze zu schulenübergreifender Anwendung besaß. So war es sicherlich kein Zufall, dass Ingrid Mederacke die musiktherapeutisch-didaktischen Erfahrungen, die an der Leipziger Universitätsklinik bei erwachsenen Patienten mit psychosomatischen und psychiatrischen Störungen gemacht wurden, aufgreifen, modifizieren und musiktherapeutisch weiterentwickeln konnte und sie dann bei

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schwerst körperbehinderten Kindern (Mederacke 1979) und bei mehrfach behinderten Kindern erfolgreich in die Praxis umsetzte (Mederacke 1972, 1993). Auf dieser Basis entwickelte sich auch ein enger, freundschaftlicher Kontakt zur kinderneuropsychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik Rostock, speziell zu dem Kinderneuropsychiater Gerhard Göllnitz und der Musik- und Tanztherapeutin Gertrud Schulz-Wulf. Die Arbeitsgemeinschaft Musiktherapie der Gesellschaft für Rehabilitation in der DDR organisierte in den folgenden Jahren zahlreiche Lehrgänge in Berlin, Rostock, Leipzig, Holzdorf bei Weimar, Friedrichroda und anderen Orten. Diese Lehrgänge wurden in enger Kooperation mit der Sektion Musiktherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR organisiert und gestaltet. Auf ein weiteres Arbeitsfeld, das von der Abteilung für Psychotherapie der Leipziger Universität seit Mitte der 1960er Jahre organisiert und wissenschaftlich betreut wurde, soll schließlich noch hingewiesen werden. Anliegen war es, gruppenspezifische Betreuungs- und Übungskonzepte mit einer psychoprophylaktischen Zielstellung zu entwickeln, in denen Elemente unseres Psychotherapiekonzepts modifiziert zur Anwendung kamen. Dabei spielten Methoden der Musiktherapie, u. a. die aus der Regulativen Musiktherapie modifizierte Form des Regulativen Musiktrainings, eine besondere Rolle (Schwabe u. Böttcher, 1979). Ich begleitete über mehr als zehn Jahre eine solche Prophylaxegruppe in einem Leipziger Großbetrieb (Schwabe, Kohler u. Busch, 1971). Dabei ging es vor allem auch um die Frage, wie Kooperationspartner zur Aufrechterhaltung bzw. zur Integration solcher Aktivitäten in die Betriebsorganisation gewonnen werden konnten. Das hier dargestellte Entwicklungsdezennium zusammenfassend, kann gesagt werden, dass es sich um eine Periode der äußerst fruchtbaren und konstruktiven Aufbauarbeit zur Entwicklung eines musiktherapeutischen Konzepts handelte. Die Voraussetzung für das Gelingen dieser umfangreichen Basisarbeit war vor allem die Arbeitsmöglichkeit in einem starken interdisziplinären Team unter der fordernden, aber auch Schutz bietenden und akzeptierenden ärztlichen Leitung. Höhepunkt dieser Entwicklung war sicherlich das Jahr 1969. In diesem Jahr befand sich auch die ärztliche Leiterin der Psychotherapie-Abteilung an der Leipziger Universität, Prof. Christa Kohler, auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit und Einflussnahme, nicht zuletzt auch auf die Geschicke der Psychotherapieentwicklung in der DDR insgesamt. Aber bereits in dieser Zeit zeichnete sich ab, dass diese aktive und bedeutende Frau in den Kreisen ihrer ärztlichen Kollegenschaft nicht nur Freunde, sondern auch Widersacher hatte, die es nicht akzeptieren konnten, dass eine Frau an der Spitze einer solchen überregionalen Entwicklung stand. Dazu kam dann in den 1970er Jahren eine unheilvolle Krankheit, die eine weitere Entwicklung des Arbeitsfeldes von Christa Kohler vehement stoppte. Das hatte leider auch zur Folge, dass das, was auf musiktherapeutischem Gebiet in Leipzig aufgebaut worden war, keinen Rückhalt von Seiten der Medizin mehr hatte. Es wurde sehr deutlich, dass ein Fachgebiet wie die Musiktherapie nicht allein der ärztlichen Akzeptanz bedarf, sondern vor allem von ärztlicher Seite als notwendig angesehen und gewollt werden muss. Ist das nicht gegeben, dann ist die Arbeitsfähigkeit eines Musiktherapeuten auf Dauer nicht gewährleistet, weil er dann sehr bald an die Grenzen seines Leistungsvermögens stoßen wird.

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3.5.3 Uchtspringe: Infrid Tögel: Psychotherapie an der Bezirksnervenklinik Uchtspringe (1964–1981) Harro Wendt wurde 1961 Ärztlicher Direktor der Bezirksnervenklinik Uchtspringe (heute: SALUS-Fachkrankenhaus für Psychiatrie). Er hatte das Ziel, dieses Krankenhaus zu einem modernen psychiatrischen Behandlungszentrum umzugestalten. Dazu gehörte für sein Verständnis auch eine Psychotherapie-Abteilung. Nachdem er in den ersten Jahren schon bei einigen Patienten (die in der Neurologischen Abteilung untergebracht waren) Einzelpsychotherapie durchgeführt hatte, begann 1964 die psychotherapeutische Arbeit in größerem Umfang – zunächst auch noch im Rahmen der Neurologischen Abteilung. 1965 wurde dann ein Haus speziell für die Psychotherapie-Abteilung umgestaltet. Das Konzept entsprach im Wesentlichen dem, das Wendt in der Leipziger Psychotherapie-Abteilung realisiert hatte. Basis war ein analytisches Verständnis der Störungen. Orientierungsrahmen war jedoch, dass der gesamte Tag therapeutisch gestaltet ist. So gab es zwar Ruhesuggestionen vom Tonband, aber die Ruhezeiten waren sehr begrenzt. Und außerhalb der Nachtruhe und der Ruhesuggestionen hatte sich kein Patient im Zimmer aufzuhalten, es sei denn, es war therapeutisch angeordnet. In Zeiten, in denen Patienten keine spezielle Therapie hatten, fand Beschäftigungstherapie statt. Dazu gab es einen eigenen Raum in dem die Patienten viele Gestaltungsmöglichkeiten fanden. Ihnen wurden keine speziellen Tätigkeiten vorgegeben, sondern es wurde mit ihnen besprochen, was für sie sinnvoll wäre. Regelmäßig wurde überprüft, wie weit die Patienten sich an ihr Behandlungsprogramm hielten; wer in anderen Situationen angetroffen wurde, mit dem wurde über die Gründe dafür gesprochen. (Am Rand sei vermerkt, dass in der Beschäftigungstherapie über Jahre hin Material für den Sceno-Test [Gerhild von Staabs] hergestellt wurde, da die Einfuhr aus der Bundesrepublik für nahezu keine Einrichtung möglich war. Andere Einrichtungen konnten demnach das Material aus Uchtspringe erhalten.) Zu dem Ganztagsprogramm gehörte auch, dass die Patienten Aufgaben im Alltag des Hauses übernahmen: Tätigkeiten in der Küche, Säuberungsaufgaben im Haus, Betreuung der Freiflächen. Abends fand keine Therapie statt, es war aber Grundsatz, dass an jedem Abend durch die Patienten etwas gestaltet werden musste. Sowohl die Verteilung der Arbeiten im Haus als auch die Verantwortung für die Gestaltung der Abende wurden wöchentlich einmal bei einer Gruppenvisite besprochen. Zentrum der Therapie waren die Einzelgespräche, die in der Regel mit jedem Patienten ein- bis zweimal wöchentlich stattfanden. In seltenen Fällen konnten sie auch täglich erfolgen. In der Einzeltherapie wurde auf die Traumbearbeitung viel Wert gelegt. Öfter wurden die Patienten auch zu bildnerischem Gestalten angeregt; wobei die Gestaltungen dann in ähnlicher Weise bearbeitet wurden wie Träume. Täglich fand ein eineinhalbstündiges Gruppengespräch statt. Die 23 Patienten wurden in zwei Gruppen eingeteilt, deren eine mehr psychagogisch orientiert und stärker leiterzentriert war, was eine Art dynamische Propädeutik darstellte. Die andere Gruppe war eindeutig dynamisch orientiert. Als Kurt Höck im Rahmen der Sektion Gruppenpsychotherapie (der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie) dann Selbsterfahrungsgruppen durchführte, wurde dessen Konzept von den Uchtspringer Therapeuten weitgehend übernommen, so

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dass dann die zweite Gruppe einheitlich sehr gruppendynamisch geführt wurde und der Therapeut mehr interpretierend und hinweisend in Erscheinung trat. Natürlich wurden alle Patienten veranlasst, das Autogene Training zu erlernen. Täglich fand zweimal Bewegungstherapie statt: morgens als Morgensport, später am Tag dann als psychotherapeutische Bewegungstherapie, wobei das Konzept der Kommunikativen Bewegungstherapie in zunehmendem Maß realisiert wurde. Seit die Psychotherapie ein eigenes Haus hatte, wurde auch Musiktherapie durchgeführt, für alle Patienten regelmäßig als rezeptive Musiktherapie, nach Indikation dann auch als aktive Musiktherapie. Sie erfolgte teils als Gruppensingen, wobei sich beim Kanonsingen die ausgeprägteste Gruppendynamik entwickelte, denn jeder Patient musste einerseits seine Stimme deutlich zu Gehör bringen, sich andererseits auf alle anderen einstellen. Die Musiktherapeutin arbeitete auch mit Instrumenten (dem Orff-Instrumentarium ähnlich). Dabei gab es oft eine bemerkenswerte Entwicklung: Die Musiktherapeutin wirkte in keiner Weise autoritär. Wenn sie den Raum betrat, gab es dort manchmal heillosen Krach, weil jeder Patient das von ihm gewählte Instrument mit größter Lautstärke bediente. Der Musiktherapeutin gelang es dann durch vorsichtige Hinweise, aus dem Geräusch-Chaos eine gemeinsame musikalische Gestaltung zu entwickeln. Dies war auch ein (nonverbaler) Modellfall für gelingende zwischenmenschliche Kommunikation. Als weitere Methode wurde das Handpuppenspiel eingesetzt. (Die Therapeuten hatten nicht die Sicherheit, das Psychodrama durchzuführen.) Das Handpuppenspiel fand einmal wöchentlich statt; alle Patienten waren beteiligt. In einer Visite war festgelegt worden, wer an diesem Tag im Handpuppenspiel aktiv sein sollte. Die dargestellten Szenen fielen unterschiedlich lang aus; gelegentlich griffen die Therapeuten verbal in das Spiel ein, selten mitspielend. In jedem Fall wurde das Dargestellte dann anschließend in der Hausgruppe besprochen, wobei sehr unterschiedliche Erlebnis- und Reaktionsweisen in Erscheinung traten. Zum Konzept der Einrichtung gehörte, dass nicht eine Kombination von Methoden erfolgte, sondern eine Therapieorientierung für die Gesamtgruppe und jeden einzelnen Patienten, an der sich alle Methoden auszurichten hatten. Dazu fand wöchentlich einmal eine Chefvisite durch Wendt statt, bei der alle Patienten einzeln durchgesprochen wurden und jeweils die Therapielinie festgelegt wurde. An diesen Chefvisiten nahmen stets alle Mitarbeiter teil. Die täglichen Visiten waren anfangs ausschließlich als Zimmervisiten gestaltet worden. Als dann Gruppenvisiten aufkamen, wurden auch die Visiten in der Psychotherapie zunächst ausschließlich als Gruppenvisiten gestaltet – bis bemerkt wurde, dass wir Therapeuten nicht mehr wussten, wie es im Zimmer und am Bett des Patienten aussah. Deshalb wurde dann eine Visite wöchentlich wieder als Zimmervisite durchgeführt. Zum Therapiekonzept gehörte generell Verzicht auf Besuch. Telefongespräche waren nicht gestattet (Handys gab es noch nicht!). Die Patienten sollten sich ganz der Therapie widmen können und sich ihrer Problematik ohne Ablenkung stellen müssen. Je nach Therapiefortschritt erfolgten dann Beurlaubungen nach Hause, um die Belastbarkeit des Patienten in seiner Alltagssituation zu überprüfen. Die Erfahrungen dieser Beurlaubungen wurden intensiv in den Gesprächen verarbeitet. Wegen des Rufes, den Wendt genoss, kamen Patienten aus allen Bereichen der DDR nach Uchtspringe, viele aus dem Raum Dresden, da es damals dort keine stationäre Psychothera-

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pie-Einrichtung gab. Es galt das Prinzip, dass alle Patienten aufgenommen wurden – auch schwer gestörte oder an anderer Stelle erfolglos behandelte. Natürlich gab es nicht bei allen Erfolge, vielmehr verschlechterte sich die Erfolgsstatistik gegenüber Einrichtungen, die eine Vorauslese der Patienten vornahmen. Aber das Erfolgserlebnis war natürlich besonders groß, wenn bei einem an anderer Stelle erfolglos behandelten Patienten doch ein befriedigendes Ergebnis zu erzielen war. Aufgrund des Rufes von Wendt kamen seit etwa 1970 ständig Ärzte oder Psychologen nach Uchtspringe, um hier durch Hospitation Psychotherapie zu erlernen. Eine solche Hospitation dauerte meist ein viertel bis ein Jahr, selten nur vier bis acht Wochen. Sie behandelten jeweils eine Anzahl von Patienten unter ständiger Supervision durch die langjährigen Mitarbeiter der Abteilung oder durch Wendt selbst. (Einige der Kollegen, die damals in Uchtspringe hospitiert haben, sind nach 1990 leitende Mitarbeiter von tiefenpsychologisch-analytischen Ausbildungsinstituten geworden.) Etwa in dem hier besprochenen Zeitraum veranstaltete Gerhard Klumbies (Jena) jährlich ein Psychotherapie-Symposium in Reinhardsbrunn. Diese Symposien gehörten zu den profiliertesten Psychotherapie-Veranstaltungen der DDR. Von den Mitarbeitern der Psychotherapie-Abteilung Uchtspringe wurden dort mehrfach Vorträge gehalten (wobei das Konzept der Psychotherapie in Uchtspringe stets als »analytisch orientiert« bezeichnet wurde).

3.5.4 Jena 3.5.4.1 Gerhard Klumbies: Psychosomatik und Psychotherapie in Jena nach dem Mauerbau Am Tag des Mauerbaus, dem 13. Augsust 1961, besaß Herr Kleinsorge (der Direktor der Jenaer Medizinischen Poliklinik) gerade die Papiere zu einer Dienstreise in die BRD und konnte damit ganz legal ausreisen, kam aber nicht wieder, sondern schrieb dem Rektor, dass er nach reiflicher Überlegung nicht mehr in die DDR zurückkehre. In der damals üblichen Weise hatten die Universitäts- und Parteileitung dafür zu sorgen, dass Klinikangehörige und Studenten sich in Resolutionen von Kleinsorge distanzierten und völliges Unverständnis für seinen Schritt heuchelten und dass er die Patienten im Stich ließ. Die Partei veranlasste die Beschlagnahme seiner Wohnung, seiner Akten und seiner Konten – alles, was Herr Kleinsorge bei früher Republikflüchtigen aus der Klinik selbst schon mitgemacht hatte. Die Universität musste eine Beurteilung über ihn abgeben und erklären, wie es dazu kommen konnte. Und schließlich musste sie den möglichst ungestörten Fortgang der Universitätsarbeit sichern. Ich war damals schon zum Leiter der Medizinischen Klinik und Ärztlichen Direktor des Heinrich-Braun-Krankernhaus-Komplexes nach Zwickau gewählt worden und hatte schon ein Wohnhaus dort. Der Rektor bat mich nun, zu bleiben und kommissarisch die Medizinische Poliklinik zu leiten. Herr Kleinsorge schloss sich der Fakultät in Heidelberg an, konnte auch Vorlesungen ankündigen, fand aber keine Aufnahme in eine klinische Einrichtung; denn dort gab es keinen Ärztemangel durch Flüchtende, sondern Vollbesetzung und langfristige Entwicklungspläne. Er musste als Berater pharmakologischer Firmen tätig werden.

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Nach einigen Monaten schrieb er wieder an den Rektor und sondierte die Möglichkeiten seiner Rückkehr. Er sei bei seiner Absage an Jena zu schmerzhaft erkrankt gewesen und durch die Beschlagnahme seines Eigentums verschreckt worden. Nun aber kündigte er seine Rückkehr an und zwar mehrfach – kam aber nicht; er sei noch nicht transportfähig. Er bat, seiner Braut einen Krankenbesuch bei ihm zu genehmigen. Hohnlachend lehnte die Partei ab. Der Rektor fühlte sich veralbert und wollte nicht gegenüber Partei und Ministerium als Depp dastehen, der ernstlich an die Rückkehr glaubt. Da kam Herr Kleinsorge zurück, und zwar über Berlin, wo er viele Bekannte unter führenden Funktionären hatte, und er kam mit einem starken Bekenntnis zum Sozialismus. Die Freude über die Heimkehr des verlorenen Sohnes in Berlin öffnete ihm nicht nur die Tür zur DDR, sondern mit der Zeit auch zur Stelle als Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Schwerin, die erneute Mitwirkung im Zentralen Gutachterausschuss, die Leitung der Gesellschaft für Psychotherapie, den Satz im Einzelvertrag, dass er auch weiterhin die DDR-Wissenschaft im Ausland vertreten könne, und er vermochte über das Ministerium seine Beurteilung aus Jena anlässlich der Republikflucht zu beanstanden und eine bessere zu fordern. Partei- und Universitätsleitung in Jena fühlten sich brüskiert. Über den Dekan erhielt ich den Auftrag, eine Beurteilung zu entwerfen und mit Herrn Kleinsorge abzustimmen, damit er nicht auch diese noch beanstande. Dass Herr Kleinsorge in Jena und in Berlin einen so krass unterschiedlichen Eindruck erweckt hatte, war mir damals nicht bekannt. Ich wusste nur, dass die Partei in solchen Kaderfragen entscheidend mitredet und meinte, dass Entscheidungen in Berlin auch für Jena gelten. Als wir ihn 1963 zu einem Psychotherapiekurs einluden, kam ich gar nicht auf den Gedanken, den Vorsitzenden der Gesellschaft für Psychotherapie der DDR davon auszuschließen. Doch als die gedruckten Programme im Klinikum bekannt wurden, in denen Kleinsorge mit einem Vortrag stand, rief mich der Rektor zu sich: In Jena war Kleinsorge Republikflüchtling, von dem jeder abrücken musste. Der Kreissekretär der Partei hatte schon bei einem ersten Besuch in Jena verboten, dass Kleinsorge durch die Pforte ins Klinikum gelassen wird. Er dürfe jetzt auf keinen Fall in Jena erscheinen! Ich überdachte alle Möglichkeiten und kam zu dem Schluss, dass eine nur persönliche Ausladung von Kleinsorge einen noch größeren Ärger in Berlin und dann auch in Jena auslösen würde. Darum sagte ich telegraphisch allen Teilnehmern noch am Vortag den Kurs ab. 1968 gelang es Herrn Kleinsorge aus Schwerin noch ein zweites Mal, der DDR den Rücken zu kehren, diesmal mit seiner Braut.18 Er fragte aus Zürich an, ob ich unter den ge­gebenen Umständen als Mitautor nicht mehr in Erscheinung treten möchte. Es ging um vier gemeinsame Bücher, von denen eines übersetzt in England, in Moskau und in Japan erschien. Mich interessierte das Erscheinen des Psychotherapiebuches in der DDR. Zu dieser Zeit durfte kein

18 Anmerkung des Herausgebers: Helga Hess, eine Zeitzeugin nahe an diesen Ereignissen, möchte diese Darstellung folgendermaßen ergänzen: »Nach der Rückkehr Kleinsorges von der Klimakurreise im Dezember 1965 empfing ihn der Schweriner Bezirksarzt mit dem Entlassungschreiben als Klinikdirektor. Es hieß, es sei in Schwerin eine Revolution gegen ihn angezettelt worden. Dies bewirkte seine Entscheidung, sich nach Fertigstellung und Herausgabe des Buches: Linser/Kleinsorge »Die Hochseeklimakur« endgültig in den Westen abzusetzen.

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Druckerzeugnis aus dem Westen in die DDR eingeführt werden, und es durfte niemand aus der DDR eine Arbeit ohne Erlaubnis im Westen veröffentlichen, schon gar nicht gemeinsam mit einem »Republikflüchtling«. Es blieb gar nichts anderes übrig, als das Psychobuch zu teilen und jedem die Verfügung über das von ihm selbst Verfasste zu überlassen. Herr Kleinsorge antwortete, dass ja beide Verfasser hinter dem Gesamtwerk stehen. Doch das war durch die Flucht rettungslos verloren. 1970 schloss ich mit dem Leipziger Hirzel-Verlag einen Vertrag über einen neuen Titel ab, in ihn nahm ich alle selbst erarbeiteten Teile des früheren Buches auf, aber keine Zeile von Herrn Kleinsorge. Für die dadurch entstandenen Lücken verfasste ich völlig neue Abschnitte. Mein Manuskript wurde im Zuge der politischen Begutachtung auf Veranlassung des ZK der Partei von zwei Hochschullehrern des Marxismus-Leninismus mit mir »beraten«. Die Philosophen kamen in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, dass »der Autor den Anspruch auf eine marxistische philosophische Position nicht erheben kann und will«. Daraufhin gab es keine Druckgenehmigung bzw. keine Papierzuteilung. Monatelang habe ich dagegen rebelliert, zu diesem Zweck die zahlreichen internationalen Buchbesprechungen zum Psychotherapiebuch aufgelistet und erklärt, dass ich es nicht verantworten kann, wenn jahrzehntelange Erfahrungen den Patienten nicht zugutekommen. Prof. Karl Seidel musste ein Obergutachten erstellen. Er machte nicht die ideologische Rechtgläubigkeit zur Messlatte, sondern den gesellschaftlichen Nutzen. Daraufhin wurde der Druck genehmigt. Als ich die Druckfahnen zur Korrektur erhielt, waren der Name Kleinsorge wie auch Müller-Hegemann überall entfernt. Nur für Kleinsorge konnte ich das nach eingehenden Vorstellungen über wissenschaftliche Gepflogenheiten wieder rückgängig machen, jedoch unter der Bedingung, dass ich den Hinweis auf das erste Buch nur einmal in der ersten Auflage bringe, später nicht wieder. 1974 erschien die erste Auflage der »Psychotherapie in der Inneren und Allgemeinmedizin« von Klumbies, gerade zum Jahreskongress der Gesellschaft für Innere Medizin der DDR in Leipzig, dessen Präsident ich war. – 1988 wurde die 5. Auflage herausgegeben und die Akademische Verlagsgesellschaft in Wiesbaden erwarb eine Lizenzausgabe für die Bundesrepublik. Das Interesse an Psychotherapiekursen war inzwischen so angestiegen, dass der Hörsaal unserer Klinik nicht mehr ausreichte. Wir fanden 1969 mehr Platz in Reinhardsbrunn im Thüringer Wald. Dort waren auch die Gelegenheiten zum Wohnen, Essen, Tagen und geselligen Beisammensein sehr günstig. Die Teilnehmer aus Ost und West bereicherten die Fachdiskussionen. Wir fanden uns deshalb auch 1972 wieder hier zusammen. Herr Schaeffer meisterte die Organisation, ich bereitete den Kurs inhaltlich vor und leitete ihn. Herr Chertok aus Paris regte mit einem Film über einen Patienten viele Gespräche an. 1977 fand unsere Tagung der Sektion Autogenes Training und Hypnose in Rostock und Warnemünde statt. Sie war ganz der Hypnosetherapie gewidmet, deren Entwicklung in Europa (Klumbies), in Amerika (Katzenstein), in Polen (Alexandrowicz u. a.), in der Tschechoslowakei (Kratochvil u. a.), in Ungarn (Kasa u. a.), in Russland (Roshnow u. a.) und es gab Beiträge aus der DDR zu speziellen Themen. Hier blieben die Kollegen aus dem Ostblock schon ganz unter sich. Erstmals hatte Katzenstein von der Bewegung um Milton Erickson berichtet, der die imperativen Suggestionen in der Hypnose geschickt vermied. 1978 fand mit unserer Beteiligung der 1. Europäische Hypnosekongress in Malmö, Schweden, statt. 1980 folgte der 2. in Dubrovnik, Kroatien.

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Der Fachinternist Gerhard Schaeffer hatte sich so für qualifizierte Psychotherapie interessiert, dass er dafür seine Oberarztstellung in einem Krankenhaus aufgab und sich bei uns bewarb. Nach einem Jahr der Kenntniserweiterung in unserer Universitätseinrichtung wurde er 1960 Abteilungsarzt der Psychotherapie, 1969 Oberarzt und habilitierte sich 1984 mit einer Arbeit über die chronische Colitis ulcerosa. 1984 stand meine Emeritierung an. Im Rahmen des Umzuges nach Lobeda wurde 1983 unsere Psychotherapie-Abteilung in die neu erbaute Medizinische Klinik aufgenommen. Frau Venner war 1956 in unsere Klinik eingetreten, promovierte, wurde Fachinternistin und arbeitete dann ihrem Wunsch entsprechend in der Psychotherapie. Sie entwickelte mit Herrn Schaeffer zusammen und in gutem Kontakt zu Herrn Höck eine Form der internistischen Gruppenpsychotherapie. Sie leistete einen wesentlichen Beitrag zur Gründung der Regionalgesellschaft im Bezirk Gera, arbeitete in deren Vorstand, leitete Grundkurse für Psychotherapie, war auch Ausbilderin in Selbsterfahrungsgruppen, erhielt die Facharztanerkennung für Psychotherapie und konnte, nachdem Herrn Schaeffer mit 64 Jahren früh verstorben war, die Leitung der Abteilung 1985 sofort übernehmen und berichtete 1990 über die neue Arbeit in der Medizinischen Klinik in Lobeda. In der Zeit der politischen Wende sprach ich sie an und ermunterte sie, jetzt ihre geplante Habilitation abzuschließen. Sie erwiderte, augenblicklich gebe es Dringlicheres. Viele Polikliniken wurden aufgelöst und Privatpraxen gegründet. Angesichts der Begrenzung der Kassenabrechenbarkeit auf nur zwei Psychotherapieverfahren muss eine stärkere Ausbildung in Psychoanalyse geboten werden, besonders für klinische Psychologen. Ich musste ihr beistimmen; denn ich kannte das Kassendiktat der Beschränkung auf nur zwei Psychotherapieverfahren, Psychoanalyse und Verhaltenstherapie, ausgerechnet zwei Methoden, die sich bisher gegenseitig ihre Wissenschaftlichkeit gegenseitig bestritten. Freud hielt die Krankheitssymptomatik für die verkappte Ersatzbefriedigung eines frühen, unbewussten Konflikts und forderte eine Analyse zum Bewusstmachen. Eysenck fand das grundlos. Für ihn war das Symptom die Neurose und dessen Beseitigung die Heilung. Diese gegensätzlichen Positionen wurden nun als die beiden wissenschaftlich am besten begründeten vorgestellt. Dabei war aus der Entwicklung zu ersehen, dass es gar nicht um Wissenschaft ging, sondern um Voraussetzungen für einen gesicherten Ertrag. Zum Schluss möchte ich hervorheben, dass das Ausscheiden von Herrn Kleinsorge als Mitautor des Psychotherapiebuches in der DDR nach seiner »Republikflucht« allein dem System der DDR geschuldet ist. Egal, ob wenig oder gar nichts von ihm darin verfasst ist, er war mit ersten Kenntnissen und Erfahrungen Initiator und Anreger, der seine ganze Klinik einbezog und dann Vertreter und Förderer der Psychotherapie in der DDR wurde, so weit es ihm möglich war. Er ist 2001 mit 81 Jahren verstorben.

3.5.4.2 Margit Venner: Die Entwicklung der internistischen stationären Gruppenpsychotherapie in Jena Die 1951 von Kleinsorge gegründete Psychotherapie-Abteilung der Medizinischen Universitätspoliklinik Jena konnte 1960 eine eigene Villa beziehen. Sie wurde von Gerhard Schaeffer als Oberarzt geleitet. Außer ihm arbeiteten dort Dipl.-Psych. B. Bauer, Dipl.-Psych. G. Schnabel.

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1964 kam ich dazu, um meine internistische Weiterbildung fortzuführen und mich psychotherapeutisch zu qualifizieren. Vorausgegangen war eine Hospitation in dieser Abteilung. Durch die bestehende Wohnungsnot musste ich zunächst in einem 6 qm großen Kämmerchen in der ansonsten großzügigen und schönen Villa wohnen. Es gab dort neun Patientenbetten, die abwechselnd mit Männern oder Frauen belegt waren. Außer einer Sekretärin und einer Stationshilfe war dort kein Personal, d. h., die Patienten mussten sich im Wesentlichen selbst versorgen. Ich war also gezwungen, mich dort mit einzubringen. Da ich noch alleinstehend und zudem in Jena fremd war, begann ich das Leben und den Ablauf auf der Abteilung zu strukturieren. So führte ich regelmäßige Essenszeiten ein und organisierte Freizeitaktivitäten wie Wanderungen in die schöne Umgebung Jenas, Besuch von Veranstaltungen, Spielabende, spontane Diskussionsabende und Ähnliches. Das war der Beginn unseres stationären Gruppensettings. Oberarzt Schaeffer war begeistert von der plötzlich veränderten Atmosphäre auf der ­Station. Zuvor hatten die Patienten lediglich auf ihre individuellen Behandlungstermine für Hypnosen, Autogenes Training, Katathymes Bilderleben und für psychagogische Gespräche gewartet und ansonsten allerlei unpassende Aktivitäten entwickelt. Die Notwendigkeit der Tagesstrukturierung und auch die Möglichkeit, therapeutisch in Gruppen zu arbeiten, wurden aufgegriffen. So entstand das Modell einer symptomheterogenen, altersheterogenen und dann auch geschlechtsheterogenen offenen Gruppenpsychotherapie. Den Patienten gefiel das neue Gruppensetting offenbar so gut, dass sie regelmäßig zum vorgesehenen Entlassungstermin neue Krankheitsschübe entwickelten. Es war deshalb sehr schwierig, die Dauer der Behandlungen zu begrenzen. Hinzu kamen die staatlichen Vorgaben bezüglich stationärer Behandlungszeiten. Deshalb wurde ab 1970 in geschlossenen Gruppen von sieben Wochen Dauer gearbeitet. Besuchszeiten und Beurlaubungen gab es nicht, um den Behandlungsprozess nicht zu unterbrechen und ihn dadurch zu intensivieren. Anfangs wurde mit den Patienten biographisch gearbeitet. Die zunächst mehr symptomzentrierte Behandlung wurde dadurch immer mehr zu einer persönlichkeitszentrierten Vorgehensweise. Arbeitshypothesen dafür waren für uns das Modell der doppelten Verdrängung von A. Mitscherlich sowie die Vorstellungen von W. Bräutigam und P. Christian, »den psychosomatisch Kranken zum Neurotiker und damit analysefähig zu machen«. Wir gingen davon aus, dass psychosomatische Krankheiten organische Erkrankungen mit multikonditionaler Pathogenese sind, wobei eine psychische Fehlentwicklung an der Entstehung der Erkrankung maßgeblich beteiligt ist. Sehr schnell stellten wir aber fest, dass sich der psychosomatisch Kranke vom Neurotiker wesentlich unterscheidet. Deshalb konnten die verfügbaren psychotherapeutischen Behandlungsstrategien nicht einfach übernommen werden. Dadurch ergab sich die Notwendigkeit, ein eigenes Konzept zu finden. Entwickelt haben wir dieses »Jenaer Modell« auf der Basis der »Dynamisch Intendierten Gruppenpsychotherapie« nach Höck (1981c) und dem »Göttinger Modell« nach Heigl und Heigl-Evers (1973). Zum besseren Verständnis möchte ich hier einige wesentliche Grundannahmen unseres Behandlungskonzeptes darstellen: Das therapeutische Arrangement einer Gruppe ermöglicht dem psychosomatisch Kranken die Reinszenierung der frühkindlichen Spaltungsprozesse, ihre Bearbeitung im Hier und Jetzt der Gruppe und damit ihre spätere Auflösung. Denn nur Erkenntnisabläufe, die in

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der Gruppe sprachlich vermittelt und somit öffentlich werden, verleihen veränderten Strukturen, Haltungen und Verhaltensweisen Realität (Foulkes 1964; Heigl-Evers u. Feller 1993). Der psychosomatisch Kranke, dem bisher vor allem seine körperlichen Beschwerden und die entsprechenden Besorgnisse bewusst waren, erlebt in der Gruppe durch die Arbeit an Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen zunehmend seine eigenen Empfindungen, seine aggressiven Impulse und Gefühle, seine Kränkungen und Ängste. Er beginnt, sich durch Verbalisierung auch den anderen verständlich zu machen, nachdem er erlebt hat, dass beim Auftreten von Beschwerden die gewohnten besorgten Umweltreaktionen ausbleiben (Schonung und Überversorgung). So gilt es, im Laufe der Therapie dem Patienten die Rolle als Kranker und den Rückzug in die körperliche Symptomatik als meist ineffektives Widerstandsphänomen zu verdeutlichen, erlebbar zu machen und zu bearbeiten. Der Hauptakzent in der Therapie muss auf dem Nachholen nicht gemachter Erfahrungen in einer mütterlich-fürsorglichen therapeutischen Atmosphäre liegen. Die Patienten sollen dabei auch lernen, mit den zuvor abgespaltenen Körperbereichen schonend, liebevoll, zärtlich und verständnisvoll umzugehen, anstatt sie wie bisher zu malträtieren. Neben der stationären Gruppenpsychotherapie gehörten eine umfangreiche ambulante Vorbehandlung und eine langfristige ambulante Nachbehandlung zu unserem Konzept. Diese Integration von ambulanter und stationärer Psychotherapie ist unumgänglich, da der psychosomatisch Kranke chronisch krank ist. Unsere Arbeitsweise blieb natürlich nicht unberührt von den gesellschaftlichen Umständen in der DDR. Direkte staatliche Eingriffe in unsere Behandlungskonzeption gab es nicht, solange wir die besonderen Empfindlichkeiten des Systems beachteten. Z. B. durfte der Begriff »psychoanalytisch« nicht als bedeutsam erwähnt werden. Da die biographische Arbeit unter Überwachungsbedingungen gefährlich sein konnte, wurde die Arbeit im »Hier und Jetzt« betont. Schwierigkeiten dieser Art bestehen glücklicherweise jetzt nicht mehr. Jedoch ist unser integratives stationär-ambulantes Behandlungssetting heute so nicht mehr durchführbar. Wir konnten früher jedem Patienten die Behandlung angedeihen lassen, die er brauchte, unabhängig von Stand und Kassenzugehörigkeit.

3.5.5 Erfurt: Michael Geyer: Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe und ihr Einfluss auf die Psychotherapie der DDR19 20 Der Aufbruch der studentischen Jugend in Westeuropa ab Mitte der 1960er Jahre hatte gewisse Parallelen im Ostblock, die am deutlichsten in der Demokratisierungs- und Libera-

19 Der erste Bericht über diese Gruppe ist 1972 erschienen: Ott, J., Geyer, M. (1972): Bericht über eine Selbsterfahrungsgruppe nach 16 Monaten. Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie, 24 210–215, Nachdruck mit einem Kommentar von M. Geyer in: Bernhardt, H., Lockot, R.(2000): Mit Ohne Freud. Zur Geschichte der Psychoanalyse in Ostdeutschland. Gießen: Psychosozial. 20 1998 trafen sich die damals noch lebenden Mitglieder, um die Entwicklung dieser Gruppe zu diskutieren. Das 14-stündige Videoprotokoll dieses Treffens diente diesem Artikel ebenfalls als Grundlage.

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lisierungsbewegung des Prager Frühlings zum Ausdruck kamen. Die Geschichte der Erfurter Selbsterfahrungsgruppe ist nicht zuletzt dieser Aufbruchsstimmung geschuldet, die uns 1968 erfasste. Als 25-jähriger Assistenzarzt arbeitete ich damals in der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt, der Neuropsychiatrischen Klinik einer Medizinischen Hochschule, die Medizinstudenten im klinischen Abschnitt des Studiums ausbildete. Der Klinikdirektor, Prof. Dr. Dr. Richard Heidrich, war 1958 als Nachfolger Karl Leonhards auf den Neuropsychiatrischen Lehrstuhl in Erfurt berufen worden. Nach dem Studium der Medizin (Berlin) und Philosophie/Psychologie (Berlin/Würzburg) begann er seine nervenärztliche Ausbildung zunächst bei Lemke in Jena und führte sie ab 1950 an der Charité bei Thiele zu Ende. Obwohl er sich früh seinem eigentlichen Spezialgebiet der Neuroradiologie und Neuro­ pathologie widmete und konsequent seine wissenschaftliche Position in der Neurologie ausbaute, beschäftigte er sich früh mit den suggestiven Methoden, hielt den Studenten der Medizin und der Psychologie bereits 1951 die erste Spezialvorlesung über Autogenes Training, die an einer deutschen Universität gehalten wurde, bot kontinuierlich Studenten ein klinisches Psychotherapie-Praktikum an allen Sonnabenden des Semesters an, das weithin bekannt war. Ihn faszinierte besonders die Psychoanalyse. Folgerichtig wurde er um 1950 Kandidat des Westberliner DPG-Institutes (bei Schultz-Hencke), absolvierte eine Lehranalyse und besuchte die Lehrveranstaltungen des Instituts, ohne allerdings einen offiziellen Institutsabschluss zu machen. Auf diese Weise gehörte er zu jener kleinen Gruppe ostdeutscher Fachkollegen, die immerhin dafür sorgten, dass die Traditionslinie der Psychoanalyse im Osten nicht völlig abbrach. In Erfurt sorgte er für den Aufbau einer reichhaltigen Bibliothek in der Nervenklinik, wo neben den wichtigsten Büchern und Zeitschriften der Psychiatrie, Neurologie, Neuropathologie, Neuroradiologie, Psychologie und Medizinischen Psychologie auch die Standardliteratur der Psychotherapie vorhanden war: Gesamtausgabe S. Freud, Standardwerke von C. G. Jung, A. Adler, Schultz-Hencke, Nunberg, Rapaport, L. Binswanger, M. Boss, Heidegger, Zutt, Dührssen, A. Freud, Schwidders »Handbuch der Neurosenlehre« und vieles andere. Er hielt Vorlesungen und Seminare über Medizinische Psychologie, Hypnose, Autogenes Training und Neurosenlehre, die später von Jürgen Ott und ab 1973 von mir übernommen wurden. Die Zeitschriftenmappen, die von Station zu Station und Arzt zu Arzt wanderten, enthielten neben deutsch- und englischsprachigen neuropsychiatrischen Journalen auch wesentliche psychotherapeutische Fachzeitschriften wie z. B. »Praxis der Psychotherapie«, »Psychotherapie und Medizinische Psychologie«, »Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse«, »Psyche« und »International Journal of Group Psycho­ therapy«. Das Klima in dieser Klinik war trotz der Offenheit des Klinikchefs weder besonders liberal noch sonderlich psychotherapiefreundlich. Einer der Oberärzte führte zwar exklusive Hypnosebehandlungen durch, ließ jedoch die jungen Assistenten nicht an seinen Kenntnissen profitieren, die anderen waren eher erklärte Gegner psychotherapeutischer Ansätze in der Psychiatrie. Wie überall in Deutschland dienten große Wachsäle der Verwahrung erregter Patienten und die Elektroschocktherapie wurde großzügig indiziert.

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In der Welt regte sich damals überall Widerstand gegen antiquierte autoritäre Strukturen und nicht zuletzt gegen diese Form der Psychiatrie. Natürlich auch bei uns ca. zehn jüngeren Assistenzärzten und Psychologen dieser Klinik. Die Psychoanalyse war im Jahre 1968, dem zweiten Jahr meiner Facharztausbildung für Neurologie und Psychiatrie, nicht nur für die westdeutsche 68er-Bewegung eine hochpolitische Angelegenheit. Jemand, der sich öffentlich zur »Weltanschauung« der Psychoanalyse bekannte, war auch der politischen Gegnerschaft gegenüber der marxistisch-leninistischen Weltanschauung verdächtig. Anders gewendet konnte man mit dem Bekenntnis zur Psychoanalyse auch einen gewissen Abstand zur herrschenden Ideologie sichtbar machen. Man konnte halbwegs sicher sein, dass jemand, der sich mit Psychoanalyse beschäftigte, weder ein Stalinist noch ein orthodoxer Vertreter der offiziellen Parteilinie sein konnte. Ein in unserer heutigen hochbürokratisierten Bildungslandschaft sozialisierter Psychotherapeut, der noch dazu Bekanntschaft mit den festgefügten hierarchischen Strukturen eines traditionellen psychoanalytischen Institutes macht, kann kaum nachvollziehen, dass seinerzeit die Psychoanalyse eine subversive Strömung war und dass wir uns in erster Linie aus tiefer Unzufriedenheit mit den herrschenden politischen Verhältnissen mit diesen Konzepten beschäftigten und von großer Hoffnung erfüllt waren, die Welt um uns herum – nicht nur unsere berufliche Tätigkeit – damit verändern zu können. In den ersten Jahren unserer frühen beruflichen Sozialisation – ich war seit 1964 Doktorand der Erfurter Nervenklinik und in Kontakt mit der »Psychoszene« – hatten wir kaum Möglichkeiten, Psychoanalytiker bei der Vermittlung von Theorie oder in Supervision und Behandlung zu erleben. Trotzdem waren wir im Bilde. Kaum 50 Kilometer entfernt von der deutsch-deutschen Grenze in der Mitte Deutschlands konnten wir alle Fernsehsender empfangen, lasen die erwähnten westlichen Fachzeitschriften und jede Menge ins Land geschmuggelte Literatur. Wie wir standen alle Europäer vom Ural bis an den Atlantik damals mit dem Gesicht nach Westen. Die Westdeutschen schauten auf die USA, die Ostdeutschen auf Westdeutschland und die USA. Unser Blick suchte besonders die Alternative zur ideologisch kontaminierten Fachwissenschaft. Das Bekenntnis zu Freud war für uns gleichzeitig die Zurückweisung Pawlows, dessen »Schlaftherapie« als therapeutischer Ansatz durch die Praxis längst desavouiert war. Und Pawlow stand damals nicht zuletzt für die Sowjetisierung der Psychiatrie. Allerdings mussten wir uns die psychoanalytische Theorie und Praxis zunächst durch Literaturstudium, Kongressbesuche und Selbstversuche aneignen und auf diese Weise eine eigene »psychoanalytische Kultur« entwickeln. Wir waren angewiesen auf Identifikationsfiguren und Kontakte mit einigen Psychoanalytikern, die noch da waren oder zu den spärlichen Kongressen kamen. Ein in diesem Sinne entscheidendes Ereignis war das von Kurt Höck vom 20. bis 22. Januar 1966 in Ostberlin veranstaltete Internationale Symposium über Gruppenpsychotherapie (} Abschnitt 3.5.1.4), auf dem sich erstmals nach dem Mauerbau Gruppenpsychotherapeuten aus Ost und West trafen. Ich befand mich am Ende des Medizinstudiums und es war das erste Mal, dass ich überhaupt eine internationale Tagung besuchen konnte. Jürgen Ott, damals bereits Stationsarzt der Erfurter Nervenklinik, hatte diese Reise organisiert und wir waren nachhaltig beeindruckt von Psychoanalytikern wie Annelise Heigl-

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Evers21, Helmut Enke oder Raoul Schindler und der Art und Weise ihres Umgangs mit uns Anfängern (Ott u. Geyer 2003). Dies war für uns der wesentliche Anstoß, ebenfalls gruppenpsychotherapeutisch zu arbeiten. In zahlreichen Gesprächen mit gleichgesinnten Kollegen der Klinik reifte in den folgenden zwei Jahren, in denen ich noch eine neuropathologische Ausbildung vor Eintritt in die Nervenklinik absolvierte, der Plan, selbst analytische Gruppen durchzuführen. Ich hatte die damalige Gruppenliteratur hauptsächlich von Heigl-Evers besorgt und ging nach meiner Rückkehr in die Psychiatrie im April 1968 an die Arbeit. Buchstäblich mit den Artikeln von Heigl-Evers (1966, 1967a, 1967b) auf dem Schoß, behandelte ich damals die ersten Gruppen in unserer Klinikambulanz. Mit Jürgen Ott besprach ich die Resultate und wir wurden immer überzeugter von den Potenzen dieser Arbeit. Es war klar, dass wir uns selbst um unsere Ausbildung bemühen mussten. Als Voraussetzung sollten ein gemeinsames Literaturstudium und eine Gruppenselbsterfahrung absolviert werden. Dabei war uns bewusst, dass wir uns damit endgültig von der tradierten psychiatrischen Haltung unserer Vorgesetzten entfernten und entsprechende Reaktionen provozieren würden. Im Mai 1968 begannen wir zunächst mit dem theoretischen Studium. Es bildete sich unter Leitung von Jürgen Ott eine erste Gruppe mit acht ärztlichen Kollegen und einer Psychologin, die sich anfänglich jeden Donnerstag in der Klinik traf. Es handelte sich um Rolf Abendrot (später niedergelassener Psychiater, gestorben 1997), Siegfried Endler (später Oberarzt der Neurologischen Klinik in Erfurt, gestorben 2007), Michael Geyer (siehe Autorenkurzbiographien im Anhang), Roland Küstner (später Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Erfurt), Eckehard Müller (Kinderpsychiater, 1983 in den Westen ausgereist, dort Chef einer Kinderpsychiatrischen Klinik am Bodensee, gestorben 1998), Jürgen Ott (Psychiater, Psychotherapeut und Analytiker, 1985 Ausreise in den Westen, dort Oberarzt bei Annelise Heigl-Evers und ihrem Nachfolger Wolfgang Tress an der Psychosomatischen Klinik der Universität Düsseldorf, gestorben 2003), Karin Schneemann (Kinderpsychologin in Erfurt), Günther Witzenhausen (niedergelassener Neuropsychiater in Sondershausen) und Wilfried Zeuke (1977 Flucht in den Westen, dort niedergelassener Neurologe). Unsere Oberärzte empfanden diese Art der demonstrativen Selbsthilfe als dreiste Insubordination und verboten zunächst die Nutzung der Klinikräume; später wurde auch durch üble Nachrede und entsprechend aggressive Dienstplangestaltung versucht, unser Treiben zu torpedieren. Nach dem Verbot der Gruppentreffen in der Klinik trafen wir uns abwechselnd in der Wohnung jedes Gruppenmitgliedes und referierten und diskutierten zunächst 21 Es sei am Rande erwähnt, dass außer der wissenschaftlichen Diskussion der Gruppenexperten aus Ost und West Annelise Heigl-Evers in vielen Einzelgesprächen bemüht war, ihren Plan voranzubringen, einen Deutschen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik (DAGG) ähnlich dem 1959 von Raoul Schindler initiierten Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppenynamik (ÖAGG) und eine gleichnamige Zeitschrift zu gründen. Der Deutsche Arbeitskreis war dann bald gegründet, aber aus den bekannten politischen Gründen ohne Gruppenpsychotherapeuten der DDR. Erst im Jahre 2000, 34 Jahre später, zehn Jahre nach der Wende, wurde nach langwierigen Verhandlungen schließlich die Nachfolgeorganisation der Ostdeutschen Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie, der Deutsche Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG), als sechste eigenständige Gruppierung gleichberechtigtes Mitglied des DAGG.

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nur die psychoanalytische Grundlagenliteratur, neben Freuds wichtigsten Werken die Lehrbücher von Nunberg, Schultz-Hencke, Werke von Adler und Jung, auch die Daseinsanaly­ tiker Ludwig Binswanger und Medard Boss. Nach einem mehrmonatigen Übergangsstadium, in dem sich herausstellte, dass alle – trotz erheblicher Schwierigkeiten – ernsthaft an der Arbeit interessiert blieben, formierte sich 1969 die Gruppe zu einer psychoanalytisch orientierten Selbsterfahrungsgruppe. Diese Gruppe, so unsere Diktion, sollte allerdings keinen institutionalisierten Leiter besitzen. ­Jürgen Ott, der älteste von uns und Spiritus rector dieser Gruppe, musste also seine tonangebende Rolle aufgeben. Interpretationen oder Deutungen sollten gemeinsam erarbeitet werden, jedenfalls sollte niemand eine »Deutungshoheit« besitzen. Organisatorisches wurde ad hoc geregelt. Die Reihenfolge der Gruppenveranstaltungen war anfangs für alle Zeiten durch eine bestimmte beständige Reihenfolge der Gastgeberschaft geregelt worden. Der formale Ablauf eines solchen Gruppenabends widersprach einigen heute in Selbst­ erfahrungsgruppen geltenden Regeln: Nach einem mehr oder weniger deftigen Dinner, bei dem nicht selten gewaltige Mengen Fleisch verzehrt wurden, wurde ein psychoanaly­ tisches Thema im Rahmen eines langfristig festgelegten Planes referiert und diskutiert. Gegen 22 Uhr begann dann der Selbsterfahrungsteil, der den Charakter eines gruppendynamischen Prozesses mit extrem geringer Leiterzentrierung hatte und entsprechend »dynamisch« verlief. Von diesem eigentlichen Gruppenselbsterfahrungsteil wurde ein Tonbandmitschnitt angefertigt. In der Regel ging die Gruppe nach eineinhalb Stunden in eine Reflexionsphase über, in der wir uns über das Erlebte zu verständigen versuchten. Meinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass z. B. die Gruppensitzung am 1. Oktober 1970 bei Roland Küstner folgende Struktur hatte: 19.30 Uhr Abendessen, 20.15–21.00 1. Referat, 21.00–21.45 2. Referat, 21.45 Kaffee, 22.00–23.30 Selbsterfahrung, anschließend Diskussion bis 24.15 Uhr. Auch unsere Praxis veränderte sich. In der Folge begannen mehrere Kollegen (s. z. B. Ott, Geyer u. Schneemann, 1972), mit unterschiedlichen Gruppen aus der Psychiatrie und Kinderpsychiatrie zu experimentieren, die wir weiterhin überwiegend auf der Grundlage des analytischen Gruppenkonzeptes von Annelise Heigl-Evers (1966, 1967a, 1967b) mit guten Ergebnissen durchführten. Ich konnte 1971 bereits kurz nach meiner Facharztprüfung mit dem Aufbau einer Psychotherapie-Abteilung beginnen, in der sowohl ambulant als auch tagesklinisch und stationär gearbeitet wurde. Diese Abteilung bot dann entsprechende institutionelle Möglichkeiten der praktischen Umsetzung unserer gewonnenen Erfahrungen (} Abschnitt 4.8.2.3). Kurt Höck (1920–2008), dessen Experimente mit einer institutionellen Gruppenselbst­ erfahrung im Haus der Gesundheit Berlin als wenig vielversprechend abgebrochen worden waren, kündigte einen Besuch gemeinsam mit Helga Hess in Erfurt an. Dieser Besuch fand am 15. Oktober 1970 statt und hatte bemerkenswerte Resultate. Zunächst schärfte er unser Misstrauen gegenüber Autoritäten. Höck hatte um Erlaubnis gebeten, direkt an der Selbsterfahrungsgruppe, gleichsam als stiller Beobachter, teilzunehmen. Das wurde auch gestattet. Unerwartet mischte er sich jedoch nach wenigen Minuten in das Gespräch ein und übernahm die Führung der Gruppe, die er bis zum Ende der Sitzung nicht mehr abgab. Dieses Verhalten ging als der »große Gruppenklau« in die Geschichte der Erfurter Gruppe ein und

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diente später als warnendes Beispiel für eine falsch verstandene Rücksicht der Gruppenmitglieder gegenüber Usurpatoren. (Als in einem späteren Stadium 1972 Jürgen Ott ähnliche Machtansprüche geltend machte, wurde er kurzerhand für ein Jahr aus der Gruppe ausgeschlossen.) Trotzdem verbrachten wir nach einer entsprechenden Auswertung des Geschehens den Rest der Nacht noch recht fröhlich. Das wichtigere Ergebnis dieses Besuches war jedoch, dass Höck in uns potente Mitstreiter beim Aufbau seines Ausbildungssystems der Selbsterfahrungskommunitäten erkannte, uns ein entsprechendes Angebot machte und die Gruppe nach monatelanger Diskussion beschloss, Höck zukünftig zu unterstützen. 1971 waren Ott (bereits als Trainer) und ich Mitglieder der ersten Kommunität Höcks in Bad-Schandau. Im Gegensatz zu den meisten Berichten über die Vergangenheit verfügen wir in diesem Fall über eine schriftliche Berichterstattung direkt aus dieser Zeit in Form einer Publikation in der Fachzeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie«, die zwar durch unsere Vorgesetzten ziemlich entschärft wurde, jedoch immer noch unsere Ziele und Absichten deutlich werden lässt (Ott u. Geyer, 1972). (Diese Publikation ist von historischem Interesse, weil sie klar belegt, dass uns die aktuelle westliche Literatur zugänglich war und wir uns keineswegs an politisch gewünschten Inhalten orientierten, sondern ausschließlich westdeutsche, englische und nordamerikanische Autoren zitierten. Sie ist ziemlich typisch für unsere Art der Rezeption der aktuellen Fachliteratur.) Der 1972 publizierte Bericht bezieht sich auf die ersten 16 Monate von insgesamt neun Jahren, die die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe dauerte. Zunächst bestand sie aus den bereits genannten neun Mitgliedern, die ausschließlich aus der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt stammten. Im Zeitraum zwischen 1970 und 1972 verließen sechs Mitglieder die Gruppe, da sie sich beruflich anders orientierten (Abendrot, Endler, Müller, Schneemann, Witzenhausen, Zeuke), dafür wurden fünf neue Mitglieder aus Leipzig und Bernburg aufgenommen: Hermann Fried Böttcher (s. Autorenkurzbiographien im Anhang), Anita Kiesel (später WildaKiesel, s. Autorenkurzbiographien im Anhang), Renate Lindt (Psychiaterin in Leipzig, Ausreise in den Westen um 1978, dort niedergelassene Psychiaterin) und Christoph Schwabe (s. Autorenkurzbiographien im Anhang) aus Leipzig sowie Achim Maaz aus Bernburg, später Beeskow (s. Autorenkurzbiographien im Anhang, s. a. die Beiträge der genannten Autoren in diesem Buch). Kurzzeitig gehörten der Gruppe Gisela Garms (heute Stern, damals Psychiaterin und Psychotherapeutin in Mühlhausen) und ab 1975 Paul Franke (Magdeburg, s. Autorenkurzbiographien im Anhang) an. Insgesamt hatte sie im Laufe der Zeit also 16 Mitglieder, vier Frauen und zwölf Männer. Im Laufe der Zeit änderten sich die zeitlichen und inhaltlichen Abläufe. Zwischen 1970 und 1972 wurden Gruppenausflüge beispielsweise nach Leipzig oder auf eine Burg im Harz (Rammelburg), jeweils über zwei Tage mit bis zu sechs Gruppensitzungen, veranstaltet. Ab 1972 konzentrierten wir uns nur noch auf die Selbsterfahrung. Nach der Aufnahme der auswärtigen Kollegen wurden die Treffen zunächst 14-tägig, später – ab 1974/75 – meist im vierwöchigen Rhythmus durchgeführt, da wir durch eigene Weiterbildungsaufgaben nicht zuletzt in den von Höck geleiteten Ausbildungskommunitäten stark beansprucht waren. Mindestens eine Gruppensitzung im Jahr wurde ab 1972 in den Wohnungen der zur Gruppe

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gestoßenen auswärtigen Gruppenmitglieder, also in Leipzig (Wilda-Kiesel, Lind, Schwabe, Böttcher) und Bernburg, später Beeskow (Maaz) durchgeführt. In der Publikation (Ott u. Geyer, 1972) wird nach 16 Monaten folgendes Resümee über unsere Arbeit gezogen: »Bei der Bearbeitung des Tonbandmaterials konnten wir deutlich sich abgrenzende Themenniveaus beobachten. Besonders in der ersten Etappe war zu erkennen, dass sich ähnlich wie bei den Therapiegruppen, wo als Widerstand gegen angst- und spannungssteigernde Situationen oberflächliche Konversation, Besprechung von organisatorischen Problemen, Mitteilung von Symptomen und das Vortragen der eigenen Somatogenie-Theorie sich bemerkbar machen, in der SEG [Selbsterfahrungsgruppe] häufig ein Abgleiten in Fachsimpelei stattfand. Psychologische Kenntnisse wurden dann benutzt, um Themen zurückzuhalten, die die Mitglieder als unvereinbar mit ihrer professionalen Identität und ihrem sozialen Status erachteten. So benötigte z. B. eine sexuelle Problematik mehrere Stunden, bis sie von der Gruppe nicht mehr abgewehrt wurde. Leichter gelang die Durcharbeitung von Geltungsproblematik und Autoritätskonflikten. Die Bevorzugung von Angeboten aus diesem Bereich ergab sich häufig aus aktuellen persönlichen Schwierigkeiten im Rahmen der täglichen Arbeit in der Klinik. Es erwies sich immer wieder als schwierig, den ›therapeutischen‹ vom ›didaktischen‹ Aspekt zu trennen. Auch in der Literatur wird immer wieder auf die Gefahr hingewiesen, dass man die SEG als Therapiegruppe handhabt. Aufgrund der ungenügenden Erfahrungen mit Selbsterfahrungsgruppen wurde der didaktische Aspekt der Gruppenfunktion in diesen Situationen durch den Gruppenleiter nicht immer genügend in den Vordergrund gerückt.« Als wir die Gruppe ins Leben riefen, ging es uns nicht nur um die Verbesserung unserer therapeutischen Kompetenz, obwohl im Artikel als wesentliches Motiv der Wunsch nach Ausbildung genannt wird und insofern die Gruppe den Charakter einer Selbsthilfegruppe hatte. Es ging uns um eine andere Orientierung, als sie uns von den Autoritäten um uns herum angeboten wurde. Das, was wir uns als Wissen aneigneten, und das Erleben des Gruppenprozesses selbst, legten schonungslos die Defizite unserer bisherigen Ausbildung bloß. Für die meisten von uns war das Erleben eines in allen Einzelheiten besprechbaren, fast naturgesetzlich anmutenden Gruppenstrukturierungsprozesses ein enormer Gewinn, der sich unmittelbar auf Selbstverständnis und therapeutische Arbeit auswirkte. Wir verstanden unsere Patienten und uns selbst auf eine neue Weise und erlebten einen starken Kontrast sowohl zur Unangemessenheit als auch Banalität herkömmlicher Konzepte und Erklärungsmuster, wie sie von unseren Vorgesetzten vertreten wurden. Unser Klinikchef, Richard Heidrich, war uns prinzipiell wohlgesonnen, stand jedoch unter starkem Druck einiger seiner der SED nahestehenden Oberärzte und Abteilungsleiter, von denen einige als IM mit dem speziellen Auftrag meiner Bespitzelung in meiner Stasiakte auftauchen. Die geschilderten Konflikte trugen wir in erster Linie mit diesen Mitarbeitern aus, während unser Klinikchef Heidrich Jürgen Ott und mir große Freiräume einräumte. Unsere direkten Vorgesetzten spürten unser Anderswerden, reagierten teils misstrauisch, teils anerkennend. Es entwickelte sich eine eigene Kultur, eine gemeinsame Identität, wie sie nur in speziellen Gruppen als Ergebnis tiefgreifender regressiv-identifikatorischer Prozesse entsteht.

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An dieser Stelle muss ich etwas zur Geschichte des obengenannten Artikels einfügen. Es handelte sich bei dieser Publikation um die abgespeckte – man könnte auch sagen zensierte – Fassung eines Vortrages, den Ott und ich geschrieben hatten und den ich auf dem Magdeburger Kongress 1971 der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie hielt. In diesem Vortrag war der Konflikt genauer geschildert worden, den die Gruppe mit einem Teil der Klinikhierarchie hatte, der sich gegen Innovationen (z. B. die Einführung psychotherapeutischer Methoden in die psychiatrische Versorgung) stemmte; gegen einzelne Mitglieder waren dienstrechtliche Schritte angedroht worden. Zunächst bekam unsere Gruppe Hausverbot in der Klinik. Einzelne Gruppenmitglieder wurden teilweise offen schikaniert, wurden gezielt donnerstags zu Diensten eingesetzt usw. Konflikte mit jungen Mitarbeitern, die ihre Vorgesetzten für nicht besonders fähig halten, gab und gibt es in jeder beliebigen Klinik, nur im Westen wäre es niemandem in den Sinn gekommen, sie zu politisieren. Die SED-Gruppe des Kongresses jedoch, die in einer Kongresspause zusammengetreten war, witterte in unserer Initiative und Gruppenbildung die »Infragestellung der führenden Rolle der SED«. Veränderungen durften nicht von Außenstehenden kommen! Wie mir Christa Kohler, meine Vorgängerin im Direktorat der Leipziger Uniklinik für Psychosomatik und Psychotherapie und damalige starke Frau in Partei und Fachgesellschaft viele Jahre später mitteilte, hätten Harro Wendt (ebenfalls SED-Mitglied) und sie, die uns eher wohlgesonnen waren, in dieser Versammlung eine politische Verurteilung unseres Vortrages nicht verhindern können, wenn sie nicht im zufällig anwesenden Mailänder Kommunisten und Psychiaters Galli, einem Weggefährten des Psychiatriereformers Basaglia, vehemente Unterstützung gefunden hätten. Unsere Hochschulkarriere hätte leicht an dieser Stelle ihr Ende finden können. Die Ironie dieser Geschichte: Offenbar wurde das Ausbleiben einer verurteilenden Stellungnahme von unseren Gegnern als Billigung von höherer Stelle interpretiert, was uns eher mehr Freiraum bot, den wir auch nutzten. Die Gruppe war nicht zuletzt durch diesen Konflikt bekannt geworden. Darüber hinaus wurde auch der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie auf uns aufmerksam und beauftragte unsere Gruppe mit organisatorischen Aufgaben, beispielsweise bei der Vorbereitung des Kongresses mit internationaler Beteiligung 1973 in Erfurt. Schon 1973 kamen mit Böttcher und Ott zwei Gruppenmitglieder in diesen Vorstand. Wir wollten Einfluss gewinnen und unsere Situation verändern und glaubten damals noch, es könnte sich auch am System etwas ändern. (Renate Lind, Jürgen Ott und Eckehart Müller resignierten später und nutzten Gelegenheiten zum Verlassen der DDR.) Die Gruppe gab uns damals auch Zugehörigkeit, Hoffnung und Sicherheit. Keines unserer Mitglieder hat jemals mit der Stasi paktiert oder sonstigen Verrat geübt. Allerdings hat unsere Gruppe die Stasi ziemlich beschäftigt. Ein Studienkollege von Achim Maaz, der sich später als einer der Top-IM der Medizinischen Akademie Erfurt zur Bespitzelung von Ärzten entpuppte, nutzte die Bekanntschaft von Ott und Maaz, die Stasi über unsere Aktivitäten zu informieren. Wie meiner Stasiakte zu entnehmen ist, waren von den neun IM, die auf mich seit 1973 angesetzt waren, allein drei in der Medizinischen Akademie Erfurt in unmittelbarer Nähe zu dieser Gruppe tätig. Wahrscheinlich hat die Gruppe eine sichere Zuflucht für unsere Ausflüge in eine Welt geboten, die wir unbedingt verändern wollten. Sie wurde der Startpunkt unseres Marsches durch die Institutionen, der aus heutiger Perspektive mehr als erstaunlich ist.

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Die fachlich/fachpolitische Potenz der Gruppe wird anhand folgender Statistik deutlich: Von den acht Personen, die zwischen 1970 und 1973 den Gruppenkern bildeten (Böttcher, Geyer, Wilda-Kiesel, Küstner, Lindt, Maaz, Ott und Schwabe), waren sieben in den ersten Selbsterfahrungskommunitäten, die von Höck organisiert worden sind, als Trainer tätig. Böttcher und Ott waren seit 1973, ich selbst seit 1976, gewählte Mitglieder des Vorstandes der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Ott war bis zu seiner Ausreise in die Bundesrepublik 1985 leitend in den Sektionen Gruppenpsychotherapie und Medizinische Psychologie sowie in der Psychiatrischen Gesellschaft engagiert. Maaz, der zunächst in anderen Sektionen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie tätig war, baute später mit Kulawik und Wendt ein Ausbildungssystem in analytisch orientierter Einzeltherapie auf (Maaz 1984). Anita Wilda-Kiesel vervollständigte in dieser Zeit das der Konzentrativen Bewegungstherapie im Westen ähnliche Konzept der Kommunikativen Bewegungstherapie und bildete innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie zahlreiche Physiotherapeutinnen, Psychologen und Ärzte in dieser Methode aus, die praktisch in allen Psychotherapieeinrichtungen der DDR angewendet wurde (Wilda-Kiesel 1987). In ähnlicher Weise ist die Rolle Christoph Schwabes einzuschätzen, der seit 1969 die Sektion Musiktherapie als Institution zur Ausbildung von Musiktherapeuten aufbaute und sein System der auch heute noch breit angewendeten musiktherapeutischen Methoden entwickelte (Schwabe 1969, 1979a). Hermann Fried Böttcher war in mehreren Sektionen der Gesellschaft aktiv und kümmerte sich besonders um die Beziehung zwischen psychologischen und ärztlichen Psychotherapeuten (Ott, Geyer u. Böttcher 1980). Paul Franke hat 1979 die Psychosomatische Gynäkologie begründetet und war ab 1984 Vorstandsmitglied der Sektion Medizinische Psychologie der DDR. Mehrere Gruppenmitglieder (Geyer et al. 1989) waren aktiv bei der Etablierung von Balint-Gruppen im System der psychotherapeutischen Weiterbildung. Ich selbst wurde 1982 zum Vorsitzenden der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie gewählt und konnte in dieser Funktion die ersten großen Ost-West-Tagungen organisieren (so z. B. die Tagung 1984 in Dresden mit Teilnahme des Vorstandes der DGPT, die den Beginn eines langen Prozesses der institutionellen Anschlusssuche an den »Mainstream« der Psychoanalyse markierte, der erst Mitte der 1990er Jahre mit der Aufnahme der ostdeutschen Institute in die DGPT endete; erwähnenswert ist auch die Tagung 1987 in Erfurt mit 250 Teilnehmern aus Westdeutschland, die sog. »vorgezogene Wiedervereinigungsfeier der Psychotherapeuten«, auf der viele ostdeutsche Psychotherapeuten zweieinhalb Jahre vor der Wende Beziehungen zu Personen und Institutionen knüpften, die ihnen halfen, in das wiedervereinigte Deutschland zu finden). Mit Hilfe des überwiegenden Teils des Vorstandes gelang es, bereits lange vor der Wende, prinzipiell zum westlichen Weiterbildungssystem kompatible Weiterbildungsstrukturen aufzubauen (Geyer 1985, 1987, 1991a). Zwischen 1982 und 1989 waren mit Böttcher, Maaz, Ott und mir immerhin vier Mitglieder der Gruppe Vorstandsmitglieder dieser fachpolitisch entscheidenden Institution im Osten. Betrachtet man diese Entwicklung, muss sich der Verdacht erhärten, dass eine Gruppierung durchaus politischen Charakters entstanden war, die offizielle Institutionen der Medizin und Psychotherapie unterwanderte und schließlich übernahm, um die ursprünglichen Gruppenziele zu allgemeinverbindlichen zu machen. Das Verhandeln und Taktieren mit den Mächtigen gehörte auch dazu.

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Dieses Thema unseres Marsches durch die Institutionen hat uns bei unserem 40-jährigen Gruppenjubiläumstreffen 1998 in Erfurt sehr beschäftigt. Ich zitiere einige Auszüge aus dem Videoprotokoll dieser Runde: »Geyer: [...] ich weiß nicht genau [...], wann das so einen politischen Aspekt bekam. Ich habe mir das ja eher übel genommen [...] dass wir natürlich mit solchen Haltungen auch unsere politische Abstinenz entschuldigt haben: Man ermöglicht den Patienten, sich gegen Autoritäten durchzusetzen und sich aufzulehnen und sich autonom zu verhalten – und dann? Natürlich wären für uns politische Aktionen verheerend gewesen [...], und so haben wir uns eben damit entschuldigt, dass wir das wenigstens machen. Wir waren zwar auf der einen Seite sehr mutig, dass wir uns anvertraut haben in solchen Gruppen. Andererseits, wir sind ja nie enttäuscht worden, also keiner hier aus dieser Gruppe hat jemals den Anderen verraten, das ist ja eine ganz kolossale Geschichte, wenn man überlegt, was sonst alles passiert ist. Auf der anderen Seite aber auch hat uns das wahrscheinlich auch ein Leben ermöglicht, ohne in ständigem Streit oder in ständiger Konfrontation mit der Gesellschaft zu sein. Maaz: Berufspolitisch waren wir sehr bald auch oben angekommen. Ich erinnere mich, wie wir uns mit Entwicklungen der Psychotherapie beschäftigt haben und dann eigentlich ganz überraschend, fast noch ängstlich, festgestellt haben ›naja, wir sind dran‹ Geyer: Ja, ja. Maaz: [...] wir haben gesagt, ›wir müssen es machen‹, also wir phantasierten uns sozusagen als die nächste Generation, die die Psychotherapie in der DDR zu übernehmen hat, und das mit ziemlicher Verwunderung. Geyer: [...] und diese Herausforderung haben wir ja angenommen. Maaz: Aber ich habe noch dieses Erlebnis in mir, wie das plötzlich im Raum stand, bisschen erschrocken, ja? Die Alten waren noch alle da und wir haben uns da schon in diesen Funktionen oder Posten gesehen. Wilda-Kiesel: [...] da erinnere ich mich auch genau. Ott: [...] für mich war das eine Art Protest, etwas Aggressives; also mir mein Eigenes zu machen gegen das, was ich da vorfand, zu tun und da Gleichgesinnte zu finden. Und diese Neugier [...] und dann fand ich das eben, also wo was los war. Ich erinnere mich an die ursprüngliche Erfurter Gruppe. Da wurde manchmal das Geld zusammengelegt, um wegzufahren, ›also jetzt ist in Leipzig was los, jetzt legen wir das Geld zusammen und fahren nach Leipzig und gucken was da ist‹, oder in Berlin war irgendwas, ›jetzt laden wir die ein und überprüfen Höck und Heß, was sind das für welche‹, also eine besondere Vorstellung hatte ich von denen nicht, oder irgendwas war in Rostock, ›jetzt wird das Geld zusammengelegt haben wir genug Geld‹, ›und wer fährt‹, und dann wurde Benzin gekauft und dahin gefahren. Also es war eine neugierig erkundende Haltung, ich erlebte ›um mich herum sind ähnlich geartete Menschen die neugierig sind‹, ja? [...] und das war also für mich – glaube ich – das wichtigste Gefühl einer Verbundenheit von neugierigen Menschen, die einfach Dinge wissen wollten, die über das, was da üblich war und verordnet war und so weiter, hinausging. Das betraf dann ja auch den Übergang von diesem Referierteil in diesen anderen Teil, nicht? Wenn ich daran denke und ich denke, ›Gott, das geht theoretisch alles gar nicht‹. Also alles, was man sich ausgedacht hat und was wir

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versucht haben, geht eigentlich nicht, nicht? Also zunächst zu referieren und dann zu essen – noch dazu in einer privaten Wohnung – und dann zu sagen, ›jetzt machen wir Selbsterfahrung‹ und dann loszulegen, einen Sonderdruck in der Hand zu haben und anschließend zu überlegen, wo waren die Antriebssprengstücke und wie war die Psychodynamik und so weiter [...]. Also wenn ich gewusst hätte damals, dass das alles nicht geht [allgemeines Lachen], weil es dafür – Gott sei Dank würde ich heute sagen – keine festgefügten Formen gab, keine curriculäre Ausbildung usw. Also es war viel Neuland, was es zu erobern galt, und das finde ich eben auch das Spannende bei der Zusammensetzung dieser Gruppe, dass eben auch alle von so unterschiedlichen Positionen kamen, also von der Musik oder vom Körper, dass sehr viel Unterschiedlichkeit war, dass es auch es nicht zu schnell zu einer Erstarrung oder zu Verschulung oder zu irgendeiner Festlegung auf irgendeine Linie ging, dass wir uns also über lange Zeit diese Offenheit und diese ­Probierfreudigkeit bewahrt haben. Und ich glaube, das war – nachträglich betrachtet – möglich, weil durch den Außendruck und durch die Öffnung dieser intimen Räume, dieser privaten Wohnungen eine starke Kohäsion entstand, die uns vielleicht aus heutiger Sicht auch naiv gemacht hat. Also, dass wir da vielleicht auch manchmal am Rande gesegelt sind und gar nicht so recht wussten, woher der Wind weht, aber ich glaube, dass sozusagen diese Art Kohäsion in der Gruppe – was sicher mit den Zeitläuften, mit den persönlichen Strukturen und auch mit der Tatsache, dass wir vielleicht irgendwie ganz gut zusammenpassten, zu tun hat, dass das uns sozusagen beflügelt hat. Karin Geyer hatte das damals antizipiert und gesagt: ›Hach, jetzt wollen sie wieder die Welt verändern!‹. Das waren auch günstige historische Zeiten, der politische Gegner war nicht so stark oder man hatte sich mit ihm auf irgendeine merkwürdige Weise arrangiert oder es gab Beziehungen, nicht? Ich erlebe das eigentlich auch für mich als eine enorme Zeit des Aufbruchs, bis [...] wir plötzlich feststellten: ›Jetzt sind wir in diesen Ämtern und jetzt fängt die Verkrustung und Schulenbildung und die Verordnung von oben an, jetzt werden wir zu Verordnern.‹ Man war in einigen Vorständen und da hörte, glaube ich – also für mich jedenfalls –, auch eine Zeit dieser spannenden dynamischen Suchbewegungen auf und da ist – glaube ich – auch für mich so ein Punkt, wo wir dann vielleicht auch zu Einengern geworden sind, wo wir plötzlich [...] dann auch Organisationsstrukturen aufgebaut hatten. Natürlich hat das dann auch sehr viel mit dem Höck’schen Einfluss zu tun, ein bestimmtes Konzept sozusagen nicht nur in der DDR zu etablieren, sondern bis zum Ural zu marschieren und dieses Konzept wirklich flächendeckend und expansiv einzuführen ... Ich versuche, auf die Hypothese zu antworten, die Micha [Geyer] angesprochen hat: Könnte es sein, dass dieser Rückzug in eine solche Gruppe oder Nische oder wie man es nennt, vielleicht den einen oder anderen oder uns alle behindert haben könnte, politisch wirksam zu sein? [...]«.

Damals jedenfalls war es durchaus ein wenig ernst gemeint, wenn ich im Kreise zuverlässiger Freunde behauptete, mit der Verbreitung unserer Art von Psychotherapieverständnis würden »befreite Zonen« im Sinne Che Guevaras geschaffen. Insofern hatten unsere Gegner in der SED und Stasi schon zu Beginn unserer Aktivitäten Recht, wenn sie uns der politi-

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schen Plattformbildung beschuldigten (meiner Stasiakte ist zu entnehmen, dass die IM, die meine Aktivitäten unter Kontrolle halten sollten, die staatlichen Stellen vor uns in dieser Hinsicht warnten; s. a. das IM-Protokoll einer Vorstandsitzung unserer Gesellschaft anlässlich der Freud-Tagung in Leipzig im Juli 1989 von IM »Manfred bzw. Fred Wolke«, publiziert bei Süß 1998, S. 320 ff.). Aber beweist die Paranoidie dieses kranken Systems wirklich etwas? Es war für uns eine enorme Versuchung, so zu tun, als ob wir mit unserer Methode dem politischen System etwas anhaben könnten. Für mich war es seinerzeit ein Trojanisches Pferd, mit dem wir das Regime von innen her bekämpfen konnten. Dass wir uns damit auch etwas vorgemacht haben und vermutlich diese fachpolitische Auflehnung gegen das Establishment als Feigenblatt für unsere Zurückhaltung beim wirklich gefährlichen politischen Kampf gegen das Regime benutzt haben, muss ich heute eingestehen. So bleibt allein die Hoffnung, vielleicht doch einen kleinen Beitrag zum Untergang des Regimes »DDR« geleistet zu haben.

Schlussbemerkung In einem früheren Kommentar zum 1972 publizierten Artikel über die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe (Geyer 2000) habe ich die Frage gestellt, mit der auch diese Betrachtung ab­geschlossen werden soll: »Wie viel äußere Freiheit braucht psychoanalytisches ­Denken und Handeln?« Vielleicht hat dieser Artikel eine der möglichen Antworten gegeben, obwohl ich die Frage lieber offen halten möchte. Jedenfalls denke ich, dass diese Frage nicht von Leuten entschieden werden sollte, deren eigener Horizont nie über den des Systems, in dem sie angepasst leben, hinausging und die es nie gelernt haben, das eigene in Frage zu stellen. Ungeeignet scheinen mir auch die sog. Ostalgiker, die ihre Resignation im neuen System durch Überidentifikation mit dem alten zu bewältigen versuchen. Am ungeeignetsten zur Beantwortung dieser Frage sind aber doch wohl jene, die mit jedem Rückblick auf ihre eigene Rolle in der DDR nach Rechtfertigung suchen müssen, die am einfachsten mit der Antwort, es könne keine Psychoanalyse in der Diktatur geben, gefunden wird. Optimale Anpassung an das jetzige System scheint dem Selbst unverträglich mit dem Bewusstsein allzu offensichtlicher früherer Anpassung. Wenn die Rückschau nicht ­Heldentaten zu Tage fördert, wird gern die prinzipielle Möglichkeit negiert, trotz Diktatur frei denken und – wenn auch in mitunter schmerzlich empfundenen Grenzen – handeln zu können. Eines scheint mir gewiss: Die Selbsterfahrungsgruppe hat uns geholfen, nicht nur unsere innere Freiheit zu bewahren.

3.5.6 Halle/Saale: Erdmuthe Fikentscher: Die Anfänge der Psychotherapie an der Universitätsnervenklinik Halle Obwohl die Psychotherapie sich als Disziplin schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte (die erste psychoanalytische Behandlung fand in Halle/Saale 1904 statt) und in den 1920er

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Jahren sich in verschiedene Richtungen entfaltete, fand sie als wissenschaftlich ausgewiesene Disziplin erst Ende der 1950er Jahre Eingang in die klinische Arbeit der Universitätsnervenklinik Halle. Diese späte Möglichkeit psychotherapeutischen Wirkens in der Halleschen Lehranstalt ist als Folge der nationalsozialistischen und später kommunistischen gleichgeschalteten Wissenschaftspolitik zu sehen. Ende der 1950er Jahre begann unter dem Direktorat von Helmut Rennert, der 1958 von Jena auf den Halleschen Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie berufen worden war, die vorwiegend stationäre Behandlung von Patienten mit funktionellen und neurotischen Störungen, für deren Heilung der für die Psychiatrie so hilfreiche Aufschwung der Pharmakotherapie wenig gebracht hatte. Der erste ärztliche Kollege Lehmann und später Karl-Heinz Liebner hatten noch vor 1961 z. B. an Ausbildungskursen auf den Lindauer Psychotherapiewochen teilnehmen können, in den Folgejahren war der direkte Zugang zu den geistigen Quellen wie Psychoanalyse und tiefenpsychologischen Schulen unterbrochen, einzelkämpferisches Bemühen war in der DDR notwendig. Neben dem Versuch weiterer tiefenpsychologischer Orientierung – angewandt in bildnerischem Gestalten und Traumdeutung – nahmen zunehmend übende Verfahren wie das Autogene Training und Hypnose einen breiten Raum ein (Liebner 1969), aber ebenso verschiedene Formen der Bewegungs- und vor allem der aktiven und rezeptiven Musiktherapie. Halle war dafür bekannt, dass Kirchenmusiker und Musikwissenschaftler wie Stier, Schröder und Bergunder mit großer Persönlichkeitsausstrahlung das ärztliche Wirken ergänzten. Die ärztlichen Therapiekonzepte waren in den Anfangsjahren vorwiegend einzeltherapeutisch ausgerichtet, die Begleittherapien wurden in Gruppen durchgeführt. Mit viel Improvisation und unkonventioneller Eigeninitiative wurden trotz sehr geringer finanzieller Mittel therapiefördernde Möglichkeiten geschaffen, z. B. die Herstellung von Spezialsesseln durch einen erzgebirgischen Möbelbetrieb, die bis in die 1990er Jahre für die Durchführung des Autogenen Trainings genutzt wurden. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begann die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Psychologen an der Klinik. Als erste Psychologin hat Hannelore Mucke vor allem zur Erweiterung des diagnostischen Inventars beigetragen. In Lehre und Forschung war das Fachgebiet kaum vertreten, lediglich in einer Psycho­hygienevorlesung wurden den Medizinstudenten allgemeine psychologische Grundsätze und Lebensregeln vermittelt. Das ab Mitte der 1960er Jahre von Helmut Rennert (1965, 1966), Karl-Heinz Liebner und Erdmuthe Fikentscher (1969) durchgeführte sexualwissenschaftliche Projekt zur sexuellen Entwicklung Studierender und zu Problemen der latenten Sexualkriminalität war parallel mit dem westdeutschen Sexualforscher Giese (1968) geplant. Die gemeinsame West-Ost-Veröffentlichung als Buch im Thieme-Verlag scheiterte nach dessen Unfalltod an verschiedenen politischen Hürden, auch als Bucherscheinung im Barth-Verlag (Rennert et al. 1970) in der DDR, so dass später nur einzelne Artikel in regionalen wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht werden konnten (Fikentscher et al. 1976, 1977, 1978). Die bemerkenswerten Ergebnisse wurden daher einem interessierten breiteren Publikum nicht zugänglich. Verschiedene Daten wurden ohne unsere Quellenangabe von DDR-Sexualforschern – wie S. Schnabl und H. Grassel – verwendet.

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3.5.7 Dresden: Gottfried Lobeck und Hermann F. Böttcher: Die eigenständige Abteilung für Psychotherapie am Krankenhaus Dresden-Neustadt von 1967 bis 1989 Mit der Gründung der ersten psychotherapeutischen Spezialstation 1967 im Bezirk Dresden durch Helmut Born, die 1970 durch den Umzug in ein separates Gebäude auch die räumliche Trennung von der Medizinischen Klinik vollzog, gelang ein großer Schritt zu eigenständiger klinischer Psychotherapie. Nun waren die Mühen der Ebene zu bewältigen, um die dem Fach zukommenden Behandlungsformen konzeptuell zu ordnen, in praktischer Anwendung kritisch zu prüfen und zu entwickeln. Zwar ließ sich auf Bisherigem gut aufbauen, dennoch war es wesentlich, hier in Johannes Burkhardt einen analytisch und gruppendynamisch erfahrenen Nervenarzt und Psychotherapeuten 1969 als Chefarzt gewinnen zu können. Als Mitarbeiter von Kurt Höck am Haus der Gesundheit in Berlin war er mitgestaltend an der sich dort entfaltenden Gedanken- und Arbeitswelt – einer maßgebenden Entwicklungslinie ostdeutscher Psychotherapie – beteiligt und garantierte so die Bindung an die Konturen gewinnende Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. Das war wichtig, denn die von Helmut Born wesentlich auch aus stets bekannter christlicher Haltung geformte Berufsauffassung konnte unter den gesellschaftlichen Bedingungen nur auf diese Weise weiter wirksam bleiben. Gruppenpsychotherapie wurde das therapeutisch wirksame Mittel und die Therapeutische Gemeinschaft das Ordnungsprinzip. Der Verlust von Johannes Burkhardt durch eine schließlich tödlich verlaufende Erkrankung 1972 war ein schwerer Schlag. 1973 wurde Werner Blum, Facharzt für Innere Medizin, zum Leiter der Abteilung für Psychotherapie ernannt, die nun direkt dem Ärztlichen Direktor des Krankenhauses Dresden-Neustadt unterstellt wurde und so auch administrativ fachliche Eigenständigkeit abbildete. Den erreichten Standard zu halten, auszubauen und im Kontakt zu einweisenden Kollegen Vorbehandlung und Nachsorge förderlich zu gestalten, waren die Hauptfelder, denen zunächst das Augenmerk galt. In diese Entwicklung griff unerwartet ein anderes Geschehen ein: Etwa in der Mitte der 1960er Jahre wurde den Verantwortlichen des Gesundheitswesens im Bezirk plötzlich bewusst, den Umstand übersehen zu haben, dass mangels Nachfolgeregelungen ein Großteil der Praxen niedergelassener Nervenärzte in nächster Zeit aus Altersgründen schließen ­werden. In Eile wurden die teilweise noch im Aufbau befindlichen Polikliniken und Am­bulanzen beauftragt, Stellen zu planen und interessierten jungen Kollegen per Delegierung an eine geeignete Ausbildungseinrichtung zur Anerkennung als Nervenfacharzt zu ­verhelfen. So entstanden zu gegenseitigem Nutzen, besonders und begehrt auch an der ­Nervenklinik der Medizinischen Akademie, »Rucksackplanstellen«. Dadurch wurden etwa ab 1971/72 in Dresden, aber auch im Bezirk Dresden an den neu geschaffenen ambulanten ­nervenärztlichen Arbeitsstellen junge, sozialpsychiatrisch aufgeschlossene und sehr oft auch psychotherapeutisch interessierte Kolleginnen und Kollegen tätig. Nun galt es, Weiter­bildungsmöglichkeiten zu erschließen und Zusammenarbeit über persönliche ­Kontakte, Hospitationen, Problemfallseminare etc. auf den Weg zu bringen (s. a. } Abschnitt 4.6.1). Auch verdient Erwähnung, dass 1977 Hermann F. Böttcher als Klinischer Psychologe zur Medizinischen Klinik auf dem Weißen Hirsch wechselte. 1974 war hier von Helmut Born

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wieder eine psychosomatische Station für Patienten mit funktionellen Störungen eingerichtet worden, die, geleitet von der Fachärztin für Innere Medizin, Karin Simmich, vorwiegend mit konfliktzentrierten Gesprächen, Autogenem Training, Bewegungs- und Physiotherapie behandelt wurden. Die mit ihm zugewonnene psychotherapeutische Erfahrung und Kompetenz gestattete, nun auch Patienten mit schweren psychosomatischen Erkrankungen einzubeziehen, deren Behandlung sich bisher auf konservativ-internistisches Vorgehen beschränkte. Das verwirklichte sich in Zusammenarbeit mit Frau Simmich schrittweise in einem therapeutischen Team, zu dem außerdem eine Fachphysiotherapeutin für psychische Erkrankungen, eine Fachkrankenschwester sowie drei weitere Mitarbeiter für verschiedene therapeutische und organisatorische Aufgaben gehörten. Es entstand eine integrierte psychosomatische Therapie aus Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, kommunikativer Bewegungstherapie, Kreativverfahren, Entspannungstherapie, spezieller Physiotherapie und medikamentöser Therapie für das gesamte Spektrum der schweren und chronischen psychosomatischen Erkrankungen, einschließlich der psychogenen Essstörungen Anorexie und Bulimie. Diese Patienten fanden sich zu einer halboffenen, ständig bestehenden Therapiegruppe mit zehn Plätzen. Die Therapiezeit (durchschnittlich zwölf Wochen) wurde krankheitsspezifisch individuell festgelegt. Außerdem wurde eine störungsorientierte psychosomatische Therapie für Patienten mit Migräne und Spannungskopfschmerz in Form einer geschlossenen Therapiegruppe mit zehn Patienten für sechs Wochen angeboten. Das dafür zugeschnittene Konzept enthielt konfliktzentrierte Gruppengespräche, kommunikative Bewegungstherapie, Konzentrative Entspannung und spezielle Physiotherapie. Dieser Ort anspruchsvoller klinischer Psychosomatik kräftigte die Präsenz von Psychotherapie in der Region und erweiterte die Möglichkeiten förderlicher Entwicklung in gegenseitigem Austausch. Doch zurück zur psychotherapeutischen Abteilung. Weil die nötige Einwilligung des Amtsarztes die Sicherstellung der ambulanten nervenärztlichen Versorgung Dresdens voraussetzte, war es erst 1979 möglich, die seit 1973 freie Arztstelle wieder zu besetzen (Gottfried Lobeck). Damit fand die Abteilung zu vorgesehener Stärke: zwei Ärzte und ein Psychologe (Hans-Georg Richter). Nach angemessener Einarbeitung konnte eine dritte Patientengruppe die Behandlung aufnehmen. Einarbeitung erhielt in jener Zeit zusätzliches Gewicht dadurch, als mit dem (Zweit)Facharzt Psychotherapie, gebunden an mehrmonatige Assistenz am Haus der Gesundheit in Berlin (Gottfried Lobeck), das Feld notwendig zu erwerbender Kenntnisse und Fertigkeiten abgesteckt war und die jetzt unverzichtbare Selbsterfahrung in Kommunitäten zur Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie geleistet werden konnte. Diese Ausbildung prägte maßgeblich und wurde in der Folge gleichzeitig auch ein gewichtiger Beweggrund, hier sichtbar gewordenen Fragen und Unklarheiten zu Theorie und Praxis von Psychotherapie nachzugehen. Wolfgang Kruska lässt in seinen Beiträgen gut die außergewöhnliche Atmosphäre spüren, welche besonders die Frühzeit jener Selbsterfahrung bestimmte. Der Intensität, mit der in relativ kurzer Zeit ein beeindruckendes Maß emotionaler Berührtheit und seelischer Tiefe erreicht wurde, entsprach dabei jedoch nicht zwangsläufig auch ein entsprechender

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Zugewinn an emanzipatorischer Reife. So gelang es offenbar nicht immer in wünschenswerter Weise, im Kippprozess und der anschließenden Arbeitsphase die zunächst herausgeforderten Autoritätsbefangenheiten genügend abzustreifen. Mich betreffend wird noch heute in gelegentlichen Gesprächen mit damaligen Mitarbeitern die Verblüffung lebendig, die mein aufgesetztes Agieren nach Art des Leiters des ersten Selbsterfahrungsdurchganges in der danach wieder aufgenommenen Arbeit mit der Therapiegruppe auslöste. Der Beitrag lässt Spuren gleichartig selbsterfahrungsbewirkter Prägungen erkennen. »Das vernünftige Ich hatte Mühe, den Bildern von Isolation und Verfolgung standzuhalten.« So beschreibt Kruska (} Abschnitt 4.5.2.2) Momente von tiefer Regression in seiner Selbsterfahrung, die er in jenen Augenblicken offenbar allein mit sich selbst austrug und gewissermaßen einsam bewältigte. Hier kann ich gut anknüpfen. Bei aller gewonnenen Kraft blieb seinerzeit dennoch auch ein vages Gefühl geahnter Unzulänglichkeit zurück. Bemerkenswerterweise irritierte es mich seither spürbar, wenn ich wahrzunehmen meinte, dass zu sehr nur das Bestimmungswort »Fehl-« bei den berufsbedingt häufig genutzten zusammengesetzten Worten wie Fehlverhalten, Fehlentwicklung oder Fehlbewältigung gelesen wurde und damit eine für mich spürbare, meist verborgen bleibende, Distanz schaffende Wertung den Übertragungsraum mitgestaltete. Wege, dies zu meiden, beschrieben wir, noch zögerlich vortastend, in einem Tagungsbeitrag (Lobeck 1986). Und auch die 1988 in der Ausbildung in (psychoanalytisch fundiertem) Psychodrama erlebten anderen Strategien im Umgang mit Widerstand hielten den Wunsch wach, in täglicher Arbeit den noch verbliebenen Unzulänglichkeiten beizukommen. Die mit der Wende 1989 sich öffnenden Wege gaben dazu reichlich Gelegenheit.

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Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychotherapie

3.6.1 Agathe Israel: Entwicklung der Kinderpsychotherapie II – Die 1960er Jahre Die Institutionalisierung der Kinderpsychotherapie in der DDR Zunehmend differenzieren die kinderneuropsychiatrischen Abteilungen der Psychiatrischen Fachkrankenhäuser und Universitätskliniken ihr Profil. Neben den sog. Förder-Stationen für Schulbildungsunfähige mit heilpädagogischem Schwerpunkt und den Akut- und Diagnostikstationen entstehen psychotherapeutische Stationen, oft als »Schulstationen« bezeichnet, da die Kinder neben den psychotherapeutisch-milieutherapeutischen Angeboten täglich die Krankenhausschule besuchten. Spezielle Angebote für eine stationäre Psychotherapie Jugendlicher gibt es kaum. Eine gewisse Institutionalisierung der Kinderpsychotherapie beginnt, wenngleich vorerst weiter eng an das Fachgebiet der Kinderneuropsychiatrie gebunden, mit der Gründung einer eigenen Arbeitsgruppe 1962 in der Fachgesellschaft für Neurologie und Psychiatrie.

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3.6  Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychotherapie

Führende kinderneuropsychiatrische Vertreter und Lehrstuhlinhaber wie Göllnitz, Rennert, Wieck, Gebelt versuchen an die Entwicklung der 1930er Jahre anzuknüpfen und sparen aber in ihren Publikationen die Nazizeit aus, als sei das Fachgebiet durch Euthanasiepraxis und Erblehre unbeeinflusst geblieben. Dieser Haltung stehen ihre bundesdeutschen Fach­kollegen nicht nach. Ein Beispiel: Am 6. Mai 1973 gibt Wieck einen Rückblick auf 40 Jahre Kinder­ neuropsychiatrie in der Messestadt Leipzig. Erwähnt wird die 1923 gegründete Beratungsund Beobachtungsstelle für Kinder und Jugendliche, deren Leiter R. A. Pfeiffer 1938 auch eine Klinik mit 50 Betten gründete. Völlig unkommentiert wird an die Wiedereröffnung der Abteilung 1949 angeknüpft, »wobei besonderer Wert den psychotherapeutischen und psy­ chagogischen Maßnahmen beigemessen wird« (Wieck et al. 1973). 1969 wird unter die Leitung von Gerhard Göllnitz das staatliche Forschungsprojekt »Defektives Kind« initiiert (ab 1981 als Projekt hirngeschädigte Kinder in der Hauptforschungsrichtung Nr. 30). Das »Studium der Interaktionen hirnorganischer Folgezustände mit psychosozialen Entwicklungen schafft neue Erkenntnisse über abnorme psychogene Reaktionen und Entwicklung abnormer Persönlichkeiten. Hier sollte vermutlich auch die Psychotherapie angesiedelt sein« (Göllnitz 1981). So abstoßend diese Bezeichnung damals und heute auf uns wirkt, konnten unter diesem weiten Deckmantel an Universitätskliniken Untersuchungen durchgeführt werden, die u. a. nachwiesen, dass die »äußere Konstellation der Familie der 50er und 60er Jahre in der DDR [...] auch ohne organische Vorschädigung zur Dekompensation der Person-Umwelt-Beziehung führt« (Rösler et al. 1980). Solche und ähnliche Befunde verschafften der Psychotherapie mit Heranwachsenden und später der Familientherapie eine »offizielle« Legitimierung. Die Dynamik der Eltern-Kind-Beziehung, den Erziehungsstil sowie die psychosozialen Entwicklungsbedingungen in der DDR untersucht 1968 Hans R. Böttcher in der Monographie »Rückblick auf die Eltern« (Böttcher 1968). Obwohl die frühe Kindheit und die außerfamiliären Einflüsse, wie die Fremdbetreuung in Heim oder Krippe, wenig beachtet werden, setzt diese Arbeit einen neuen Akzent, weil sie den Einfluss der Elternpersönlichkeit und der Partnerbeziehung auf die kindliche Entwicklung betont. Die Arbeit schließt mit einem dringenden Appell an die Eltern, »wenn sie selber neurotische oder neuroseverwandte Charakterzüge« an sich bemerken, »sich mit dem Kind der Erziehungsberatung oder der Kinderpsychotherapie vor[zu]stellen«. Dass der Defekt, die Hirnschädigung, Anlass für psychotherapeutisches Handeln ­sein soll, wird dennoch nur von wenigen Kinderpsychiatern in Frage gestellt, wie z. B. von Schmitz, der über seine 12-jährige klinische Erfahrung im Bezirkskrankenhaus Ückermünde berichtet: »Dass in der überwiegenden Zahl emotionale Störungen und Störungen in der Entwicklung, Schulschwierigkeiten, Anpassungsstörungen zur Beratung kommen, hinter denen rein somatisch bedingte Störungen zurücktreten.« Gleichzeitig schildert er katastrophale Verhältnisse auf dem Lande: »Aber gerade bei den Landvätern finden wir durch eine autoritäre Erziehungshaltung oft wenig Bereitwilligkeit, eine Erziehungssituation zu ändern oder eine Konfliktsituation abzubauen. Ebenso wie die meisten bereitwilligen Mütter sich von der ablehnenden Haltung der Väter bestimmen lassen. In der ländlichen Beratungsstelle wird die Fürsorgerin gewissermaßen zur psychologischen Assistentin, ­leider nicht entsprechend ausgebildet, und es fehlen spezielle ausgebildete Sonderpädagogen,

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überhaupt gibt es einen Mangel an Sonderpädagogen in den Beratungsstellen« (Schmitz 1967). Psychotherapie als Spieltherapie und Gruppentherapie fordert er als notwendige Maßnahmen. Kinderpsychotherapie wird zwar als Ausbildungsbestandteil der Subspezialisierung in Kinderneuropsychiatrie aufgeführt, was aber nun eigentlich offiziell unter diesem Begriff zu verstehen ist, bleibt offen bzw. hat mit einer psychodynamisch orientierten Psy­chotherapie wenig gemein. So beschreibt die in der Universitätsklinik Rostock tätige Vor­sitzende der Sektion Kinderneuropsychiatrie der DDR, U. Klein-Peter, 1968 in der Veröffentlichung »Über die Bedeutung der Intensivierung des Leidensdruckes in der Psychotherapie kindlicher Fehlhaltungen« psychische Fehlhaltungen bei organisch gesunden Kindern, unter denen immer wieder einige zu finden seien, die aus ihrem Leiden einen Lustgewinn herleiten. Sie führt zwei Fallbeispiele an. Einmal handelt es sich um einen neunjährigen mutistischen Jungen, der angesichts der plötzlichen Verhaftung seines Vaters und dem Gebot der Mutter, darüber mit niemandem zu sprechen, mutistisch wird. In der stationären Therapie teilt er dies schriftlich mit, »zeigt dabei keine besondere affektive Erregung, keinen Anhalt für jetzt noch wirksames Konflikterleben, das hätte abreagiert werden können. Es wurde zur Durchbrechung der Sprechhemmung eine für den Patienten spürbare Intensivierung des Leidensdruckes vorgesehen [...] mit schmerzhaften Stromstößen faradisiert, verbunden mit Befehlen nachzusprechen. Bei diesem Jungen bedurfte es nur einer einmaligen so drastischen Behandlung, dann konnte er unter psychagogischer Führung sprachlich zunehmend belastet werden. Der Junge wurde nicht rückfällig« (Kleinpeter 1968). Im zweiten Fall handelt es sich um einen elfjährigen Jungen, der in bewusstlosem Zustand in die Klinik eingeliefert wird. Das EEG zeigte einen regelrechten Kurvenverlauf, was letztendlich ausschlaggebend für die Diagnose »Totstellreflex« wird. Am Bett dieses Jungen wurden – »so dass er es hören musste« – unangenehme Behandlungsmaßnahmen (Spritzen, Nasensonde u. Ä.) besprochen, für den Fall, dass er nicht wieder zum Bewusstsein käme. Nach 20 Minuten reagierte er auf energischen Anruf und wurde dann zunehmend besser ansprechbar. Die Mutter war wegen einer paranoid halluzinatorischen Schizophrenie in der Klinik stationär behandelt worden. Der Vater soll kontaktarm und gemütskalt gewesen sein. Er beging ein halbes Jahr vor der Aufnahme des Jungen einen Suizid (Kleinpeter 1968). Beide Behandlungsmaßnahmen wurden als erfolgreiche Psychotherapie dargestellt. Bedenklich wirkt zum einen die Art und Weise der Behandlung, zum anderen, dass dieser Beitrag keine öffentliche Fachdiskussion erfuhr, also unkommentiert blieb, und schließlich, dass gemessen an der geringen Zahl von Veröffentlichungen über Kinderpsychotherapie und dem Status der Verfasserin ein solcher Beitrag natürlich ein immenses Gewicht erhielt. Die Lebensbedingungen der Kinder und Familien ändern sich erheblich, als Ende der 1960er Jahre systematisch die öffentliche Früherziehung in Tageseinrichtungen ausgebaut und die Unterbringung von Säuglingen und Kleinkindern in Heimen zur Ausnahme wird. Um die Berufstätigkeit beider Eltern zu sichern, können Säuglinge bereits ab der 6. Lebenswoche in einer Krippe aufgenommen werden.

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3.6.2 Ute Ebersbach, Gertraude Tuchscheerer und Christiane Dittmann: Der Kinderpsychotherapiekatalog und die analytisch orientierte, integrative Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Uchtspringe/Altmark Die Behandlung von psychisch kranken Kindern und Jugendlichen hat in Uchtspringe eine lange Tradition (Troelenberg 1969, Wendt 1994). Bereits mit der Eröffnung des Klinikums 1894 als »Landes-, Heil- und Pflege-Anstalt« wurden Kinder und Jugendliche unter dem vom damaligen Ärztlichen Direktor Professor Konrad Alt (1861–1922) geforderten Grundsatz »Beobachtung, experimentelle Forschung, exakte klinische Untersuchungsmethoden als Voraussetzung für das therapeutische Wirken« (Troelenberg 1969; Wendt 1994) behandelt. Von Anfang an war für die Patienten der Kinderabteilung der Schulbesuch möglich. Heilpädago­gisches Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen wurde ab 1920 eingeführt und erlebte in den 1960er Jahren einen erneuten Aufschwung. 1961 wurden 450 Kinder und Jugendliche in der Klinik behandelt, 300 besuchten die Sonderschule. Es gab umfangreiche, differenzierte Förderungsprogramme, z. B. zur Milieugestaltung und zur Erziehung zur Selbständigkeit. Für ca. 40 gehörlose geistig behinderte Kinder wurde in Uchtspringe die erste pädagogische Spezialeinrichtung in der DDR geschaffen. Ab 1961 erfolgte unter Professor Harro Wendt die systematische Einführung der Psychotherapie (Troelenberg 1969). Prof. Wendt vertrat die Auffassung: »Der Arzt muss eine große Klaviatur körperlicher und seelischer Behandlungsmöglichkeiten spielen können« (Volksstimme 1964). Die Kinderabteilung wurde von 1964 bis 1978 durch Frau Dr. Rose-Marie Kummer, während ihrer schweren Krankheit 1978 kommissarisch und nach ihrem frühen Tod ab 1979 als Chefärztin durch Frau Dr. Gertraude Tuchscheerer geleitet, die beide maßgeblich die Entwicklung der Psychotherapie für Kinder und Jugendliche vorantrieben. 1965 hatte die Aufnahmestation eine Wartezeit von drei Jahren. Anfangs waren die Kinder mit neurotischen Störungen auf allgemeinen Aufnahmestationen, deren Milieu und später deren verhaltenstherapeutische Ausrichtung den Anforderungen einer tiefenpsychologischen Psychotherapie nicht gerecht wurden. Die Kinder wurden stundenweise außerhalb der Station durch einen Psychotherapeuten behandelt, was der Intensität einer ambulanten psychotherapeutischen Behandlung entsprach und auch so genannt wurde (Schwarz, 1969; Fauer 1973). Am 1. Februar 1968 wurde eine Spezialstation zur psychotherapeutischen Behand­lung »neurotischer Kinder und Jugendlicher« (Fauer 1973) eröffnet. Auf einer Station mit 30 Be­handlungsplätzen wurde in zwei geschlossenen, etwa altershomogenen Gruppen analytisch orientiert gearbeitet (Tuchscheerer 1993). Geschlossene Gruppe bedeutete: Alle Patienten wurden zum gleichen Zeitpunkt aufgenommen und zum gleichen Zeitpunkt entlassen. Den theoretischen Hintergrund bildeten zunächst neoanalytisches Gedankengut nach Schultz-Hencke und Dührssen sowie Veröffentlichungen von van Krevelen, Tausch, Rogers, Slavson, Erikson und das Handbuch von Gerd Biermann (1976–1991). Später standen die Veröffentlichungen über Grundstörungen zur Verfügung (Tuchscheerer 1993; Schwarz 1969; Fauer 1973) Die Literatur wurde teilweise im privaten Ausleihverfahren und durch Geschenksendungen aus der BRD beschafft (Tuchscheerer 1993). Das Arbeiten mit geschlos-

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senen Gruppen hatte den Vorteil, dass intensiv mit einem Vier-Phasen-Therapiekonzept, welches sich auf die Veröffentlichungen von Pelz, Werner und Müller (Tuchscheerer 1981) bezog, behandelt werden konnte. Auf die Therapiephasen und die sich ergebenden speziellen Bedürfnisse der Kinder zugeschnitten wurde im Behandlungsteam ein Spieltherapiekatalog entwickelt, in dem jeder Phase passende Spiele zugeordnet wurden. Dieser Katalog stand dem Stationspersonal zur Planung der Spieltherapie zur Verfügung und wurde als Buch veröffentlicht (Wendt, Kummer u. Tuchscheerer 1986). Auf die Bedeutung der Spieltherapie ist in zahlreichen Veröffentlichungen von Kummer (1956) und Tuchscheerer (1981; 1983b) hingewiesen worden. Da die Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger gleich­ zeitig die Behandlungsphasen durchliefen, entstanden eine sehr effektive multimodale Behandlungsmethode und ein spezifisches Behandlungsmilieu, welches den Kindern und Jugendlichen Impulse zur Entfaltung und Weiterentwicklung boten. Die unterschiedlichen Therapiephasen waren durch entsprechende phasenspezifische Einstellungen, Handlungen und Reaktionen im Umgang mit den Patienten gekennzeichnet. Die Erfahrungen des Personals im Umgang mit allen Beteiligten, die Interaktionen zwischen den Kindern und Jugendlichen, Eltern und Mitarbeitern waren Inhalt der täglichen Teambesprechungen (Tuchscheerer 1993). Das Ziel war, eine Milieutherapie durch das gesamte Mitarbeiterteam und damit die Wirkung der 24-Stunden-Therapie nach van Krevelen zu erreichen. Im Rahmen der Milieutherapie wurde versucht, Pädagogik und Psychotherapie miteinander zu verbinden. Selbsterfahrung, Fallsupervisionen/Problemfalldiskussionen wurden durch den Leiter der Klinik (damalige Bezeichnung: Bezirkskrankenhaus) Prof. H. Wendt angeboten. Das war eine große Bereicherung für die Ausbildung der unterschiedlichen Berufsgruppen und für die Qualitätssicherung der Behandlungen, aber im Vorgesetztenverhältnis nicht immer unproblematisch (Tuchscheerer 1993). Die Problemfallseminare waren eine Kombination aus Supervision und Balint-Gruppenarbeit (Tuchscheerer 1983). Zu Zwecken der Weiterbildung nahmen Schwestern und Pfleger an den Arbeits­beratungen der Erwachsenenabteilung für Psychotherapie teil, der Arzt und der Psychologe an den Chefarztvisiten. Die wöchentlichen Chefarztvisiten auf der Kinderpsychotherapiestation wurden durch den Ärztlichen Direktor Prof. H. Wendt und die Chefärztin der Kinderab­teilung durchgeführt. Dabei ging es um die Kontrolle des Therapieprozesses. In den wöchentlichen Arbeitsberatungen erfolgte neben der Weiterbildung ein Austausch an Informationen und Beobachtungen nicht nur über die Patienten, sondern auch über die Selbsterfahrung mit dem Ziel, eigene Handlungen, Impulse und Regungen richtig zu erkennen. Diese Selbsterfahrungsgruppe war ein wesentliches Element in der Ausbildung der Schwestern und der Therapeuten in der Psychotherapie (Schwarz 1969). Diese Durchmischung von Arbeit, Weiterbildung und Selbsterfahrung erzeugte natürlich auch Kränkungen, Widerstände und Ablehnung. Die Psychotherapie-Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Bezirkskranken­hau­ ses Uchtspringe war die erste Spezialstation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit übergreifendem kollegialen Weiterbildungsangebot. Sowohl das Weiterbildungs­angebot für Ärzte und Psychologen als auch das Behandlungsangebot für Kinder und Jugendliche wurde gebietsübergreifend DDR-weit genutzt. Kollegen aus anderen Bezirken der DDR nutzten die

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Weiterbildungsangebote und es wurden Kinder und Jugendliche aus anderen Bezirken zur Behandlung nach Uchtspringe überwiesen. Das erarbeitete Therapiekonzept wurde mehrfach publiziert (Tuchscheerer 1981, 1988, 1993): Die Psychodynamische Gruppentherapie und die tiefenpsychologische Einzel­therapie mit den Kindern und Jugendlichen: Dabei spielte besonders bei Jüngeren das projektive, nondirektive Arbeiten (Sceno-Spiel nach G. von Staabs, Rollen- und Handpuppenspiel, das Phantasiespiel »Bildstreifendenken«, ähnlich dem kathatymen Bilderleben, Malen, Gestalten) eine wichtige Rolle. Bei älteren gewann das Gespräch sowohl in der Gruppe als auch einzeln an Bedeutung. Parallel dazu wurden die Eltern zur Mitarbeit motiviert. Es erfolgte eine Gruppenarbeit mit den Eltern in psychagogischen (Informations-)Gruppen und psychodynamischen Gruppen (anfangs wöchentlich, später 14-tägig). Bei Notwendigkeit wurde eine Einzeltherapie für psychisch kranke Eltern angeboten. Eltern konnten bei Notwendigkeit parallel in der Abteilung für Erwachsenenpsychotherapie behandelt werden. Die Kooperation der Thera­peuten der beiden Abteilungen einerseits und deren Abgrenzung voneinander andererseits wirkte Spaltungsmechanismen entgegen und lockerte gleichzeitig die Fixierung in der MutterKind-Dyade. (Tuchscheerer, Schulz u. Dittmann 1994). Es wurde frühzeitig beobachtet, dass sich die Therapiefortschritte der Eltern und der Kinder parallel entwickelten. Die Gruppenarbeit mit den Therapievermittlern nach van Krevelen, insbesondere den Schwestern und Pflegern der Station, die als gleichberechtigte Partner im Team angesehen wurden: 1971 wurde in einer Nachuntersuchung nachgewiesen, dass das Behandlungskonzept im Vergleich zur »stationären Einzelbehandlung« eine deutlich verkürzte stationäre Behandlungszeit von vier Monaten und anschließender ambulanter Behandlung mit Heilung bzw. wesentlicher Verbesserung von rund 85 % erreichen konnte. Diese Ergebnisse wurden auf dem UEP-Kongress in Wien 1971 dargestellt (s. a. Tuchscheerer 1993). Das Team, bestehend aus Schwestern, Pflegern und einer Stationshilfe, arbeitete von Beginn an unter der Anleitung eines Arztes und eines Psychologen. Es wurde nach einem inhaltlich und zeitlich festgelegten Tagesplan gearbeitet, der alle ständig wiederkehrenden Tätigkeiten des Stationsablaufes umfasste, durch das Pflegepersonal koordiniert wurde und den Kindern zugänglich war. Der Plan beinhaltete die Zeiten für den Schulbesuch, die Gruppenpsychotherapie, die Spiel-, Musik-, Gymnastik-, Fingermaltherapie, Visitenzeiten usw. (Schwarz 1969). Vor jeder stationären Aufnahme erfolgte eine meist ganztägige ambulante Voruntersuchung. Diese führte zur Beurteilung der Eignung und der Mitarbeitsbereitschaft des Kindes und seiner Eltern und ermöglichte die Planung einer optimalen Gruppenzusammensetzung. Hier wurden auch die Eltern zur Teilnahme an einer dynamischen Eltern-Therapiegruppe gewonnen. Die Mitarbeit der Eltern wurde zur Bedingung für die Aufnahme des Kindes gemacht. Neben der tiefenpsychologischen Anamneseerhebung erfolgte grundsätzlich eine somatische Diagnostik mit körperlich-neurologischer Untersuchung, EEG und der Erfassung der Laborparameter. Bei Auffälligkeiten schlossen sich weitere somatische Untersuchungen an. Außerdem folgte eine ausführliche psychologische Untersuchung, bei der projektive Verfahren, standardisierte Verfahren zur Persönlichkeitsdiagnostik und die Leistungsdiagnostik im Mittelpunkt standen. Zu den projektiven Verfahren gehörten von Beginn an der Sceno-Test nach Gerhild von Staabs. Die Figuren dazu mussten größtenteils selbst gefertigt werden.

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Außerdem gehörten das Szenodrama nach W. Zierl, die Satzergänzungsverfahren, Fragen nach Pigem und Kanner, freie Zeichnung, Zeichnung der Familie in Tieren nach Gräser, der Thomas-Erzähltest und der Duess-Fabeltest zur Diagnostik (Schwarz 1969; Tuchscheerer u. Nachtigall 1976). Später kamen der Wartegg-Zeichentest, der Wunschtest, Wunsch nach Tierverwandlung u. a. hinzu. Die Effektivität der beschriebenen Arbeitsweise ergab sich aus der im Vorfeld erwirkten Behandlungsmotivation der Familienmitglieder, der Einbeziehung aller Familienmitglieder im Sinne von Familientherapie und der Komplexität der reflektierten Behandlungsangebote. Es entwickelte sich eine effiziente Einzel- und Gruppentherapie unter optimaler Abstimmung aller beteiligten Berufsgruppen. Es wurde ein kontinuierliches Beziehungs- und Behandlungsangebot mit vorstationärer, stationärer und häufig langfristiger nachstationärer ambulanter Behandlung entwickelt. Eine Mitsprache der Krankenkassen gab es nicht. Die ideologische Einflussnahme konnte relativiert werden, indem z. B. Begriffe ersetzt wurden, um Konfrontationen zu vermeiden. Anstelle von »Analyse« wurde von »persönlichkeitszentrierter Therapie« gesprochen. Das obligatorische jährliche »sozialistische Wettbewerbsprogramm« wurde zu mindestens 90 % zum ausführlichen fachlichen Arbeitsprogramm. Es war sehr vorteilhaft, dass die Fluktuation des Personals, einschließlich des akademischen Personals, gering war. Das hierarchische Gefälle wurde sehr flach gehalten. Personelle Umgestaltungen wurden zwischen der ärztlichen und pflege­ rischen Leitung unter fachlichen Gesichtspunkten besprochen und gemeinsam entschieden. Ein stabiles, konstantes, wissenschaftlich fundiertes Therapieangebot stand im Mittelpunkt. Nach der politischen Wende verbesserten sich die ökonomischen Möglichkeiten mit einer Verbesserung der therapeutischen Angebote. Zum Beispiel konnte eine umfangreiche Sanierung erfolgen. Außerdem erhielten wir Zugang zu vielfältigen Therapiemethoden und Ausbildungsmöglichkeiten z. B. im Rahmen der Akademie für Ärztliche Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen in Puchheim bei München unter der damaligen Leitung von Prof. Gerd Biermann. Dort fanden wir unsere Behandlungsansätze bestätigt und konnten uns der Vielfalt des Ausbildungsangebotes zuwenden und davon profitieren. Zwischen Prof. Biermann und unserer Klinik entstand ein enger Kontakt. Auch wenn wir im weiteren Verlauf Bestandteile anderer Therapierichtungen im Sinne einer multimodalen Therapie, die auf die Besonderheiten des Patienten abgestimmt ist, integriert haben, liegt unser Hauptaugenmerk nach wie vor auf der Betrachtung der therapeutischen Beziehung mit Übertragung und Gegenübertragung (Ebersbach u. Tuchscheerer 1997). Auch die intensive Diagnostik, einschließlich projektiver Testverfahren, und unser Therapiekonzept mit seinen drei Säulen wurden weitergeführt (Tuchscheerer 1993, 1996). In den 1990er Jahren erlebten auch wir eine Wandlung der Krankheitsbilder. Es zeigte sich deutlich: Psychische Er­krankungen sind abhängig von sozialen und kulturellen Bedingungen. Wir beobachteten eine deutliche Zunahme von Essstörungen und Krankheitsbildern im Sinne von Ich-strukturellen Störungen. Bei letzteren achten wir darauf, dass wir die Strukturen nicht zu sehr auflockern, um eine Dekompensation zu verhindern. Das Vier-Phasen-Behandlungsmodell muss mehr denn je individuell angepasst werden. Es geht zunehmend mehr darum, feste Strukturen zu schaffen, im Gegensatz zur Zeit vor 1990, wo es häufig eher um die Auflockerung von rigiden intrapsychischen und interpersonellen Strukturen ging. Hinzu kommt, dass wir unter

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dem ökonomischen Druck der Krankenkassen nicht mehr mit geschlossenen Gruppen arbeiten können. Dabei benötigen viele psychisch kranke Jugendliche, die zunehmend weniger gruppenfähig sind, dringend eine gut vorbereitete, kontinuierliche gruppenpsychotherapeutische Behandlung. Die Fähigkeit, Gleichaltrige zu verstehen, akzeptieren zu können, mit Gleichaltrigen zu kommunizieren, ist überlebenswichtig. Viele unserer Patienten und ihre Eltern sind zunehmend weniger fähig, sich auf langfristige, zuverlässige Beziehungen mit Einhaltung zwischenmenschlicher Regeln einzulassen.

3.6.3 Helga Hess unter Mitarbeit von Anne Müller, Erika Schwarz und Gudrun Tscharntke: Die Kinderpsychotherapie im Haus der Gesundheit (HdG) Berlin – Ein nahezu vergessenes Juwel »Möchtest du auch einmal lutschen?« Mein erster Patient, Frank, fünf Jahre alt, ein anfangs mutistisches Kind, greift in seinen Mund und streckt mir sein Bonbon entgegen. Es sind unauslöschliche, immer noch bewegende Eindrücke, die ersten eigenen Therapieerfah­ rungen. Für uns junge Psychologinnen – damals Johanna Linsener, Helga Hess, Helga SchubertHelm, Anneliese Stephan, Ulla Sydow – erwies sich der Einstieg in die Psychotherapie über die Arbeit in der kinderpsychotherapeutischen Abteilung als Glücksfall. Im Gegensatz zur analytisch abstinenten Schulpsychologie während des Studiums wurden wir im Haus der Gesundheit erstmals intensiv mit analytischem Gedankengut – hier der Lehre von SchultzHencke – konfrontiert. Die im Hause insbesondere durch Kurt Höck, Ehrig Wartegg, Johannes Burkhardt und Gisela Handschuh vermittelte neoanalytische Theorie mit den Entwicklungsstufen und entsprechenden Störungen konnten wir im Umgang mit den Kindern unmittelbar erleben und erfahren. Wir spürten und erfuhren die lebensnahe Konfrontation mit früher Kindheit, die dann später bei der Behandlung Erwachsener nur noch explorativ aus der Erinnerung zu erfragen ist. In der Kindertherapie zeigte sich für uns die Chance eines beginnenden Theorieverständnisses. Die kinderpsychotherapeutische Abteilung im Haus der Gesundheit am Alexanderplatz in Berlin-Mitte bestand seit der Übernahme und Leitung der Abteilung Psychotherapie durch Kurt Höck im Jahre 1957 (Kruska 1979; Seidler 1989) bis zum Jahre 1972 parallel zur psychotherapeutischen Erwachsenenabteilung. Die theoretische Orientierung fußte im Wesentlichen auf den Vorstellungen von Annemarie Dührssen (Dührssen 1955), d. h., neben einem neoanalytischen Grundverständnis enthielt die therapeutische Arbeit auch pragmatische und verhaltenstherapeutische Aspekte. Die Räume waren groß, hell und mit verschiedensten Materialen ausgestattet, die für die Behandlung der unterschiedlichsten Störungsformen geeignet erschienen. Die Aufnahmekapazität der Kinderabteilung war beträchtlich: Dr. med. Gisela Handschuh als Oberärztin, 1966 abgelöst durch Dr. med. Gudrun Israel, verh. Tscharntke, Edelgard Köppe als einzige Psychagogin der DDR (Ludwig-Körner 2000), Anne Müller als Diplom-Psychologin mit Erfahrungen aus der stationären Kindereinrichtung aus Potsdam/Fahrland, Erika Schwarz als diplomierte Pädagogische Psychologin sowie jeweils für ein Jahr eine Diplom-Psychologin als Berufsanfängerin standen für Dia­

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gnostik und Therapie zur Verfügung. Die Oberärztinnen hatten eine neoanalytische Aus­ bildung in Westberlin angefangen, die dann durch die Mauer, die konsequente Teilung der Stadt, abrupt unterbunden war. Die klinische Ausbildung von uns Psychologinnen an der Humboldt-Universität umfasste insbesondere eine intensive Persönlichkeits- sowie Intelligenzdiagnostik, Verhaltensbeobachtung in Kindergartenpraktika einschließlich im institutseigenen Kindergarten, Gesprächstherapie sowie später Verhaltenstherapie. Es bestanden an der Humboldt-Universität derzeit keine psychoanalytischen Ausbildungsangebote.

Behandlungsmodus Die Eltern kamen in die kinderpsychotherapeutische Abteilung des HdG mit ihren Kindern von selbst oder durch Überweisung aus anderen Fachabteilungen, von Kinderärzten oder auf Empfehlung von Lehrern und insbesondere auch Kindergärtnerinnen. Der Einzugs­ bereich erstreckte sich auf ganz Ostberlin sowie auf die Randgebiete der Stadt. Somit ergab sich trotz der hohen Aufnahmekapazität eine lange Warteliste. Die Kosten trug die Sozialversicherung. Die Kinder wurden einzeln oder/und in unterschiedlich großen Gruppen von drei bis zwölf Kindern behandelt. Die Dauer der Therapie lag im Ermessen der Therapeuten bzw. der Eltern. Gelegentlich nahmen die Eltern ihre Kinder bei beginnender symptomatischer Besserung aus der Therapie heraus. Die durchschnittliche Therapie dauerte ein halbes Jahr. Die Abrechnung der Leistungen erfolgte nach dem Prinzip der leistungsabhängigen Finanzierung, wie es derzeit bei den Krankenkassen der BRD üblich ist. Diese Abrechnungsform erfolgte auf Betreiben Kurt Höcks sowie des Leiters der Poliklinik Johannisstraße – ausschließlich – in diesen beiden poliklinischen Einrichtungen Ostberlins.

Zur Diagnostik Außer der ärztlich-pädiatrischen Untersuchung durch die Oberärztin erfolgte sowohl eine neurosenpsychologische als auch eine psychodiagnostische Untersuchung. Bei neuropsychiatrischen Fragen (Tics etc.) wurde zur Abklärung der Psychiater der Poliklinik konsultiert. Die psychodiagnostische Untersuchung, von den Psychologen durchgeführt, erfasste insbesondere den psychischen Reifegrad des Kindes, seine Persönlichkeitsentwicklung sowie sein Intelligenzniveau (insbesondere Raven-Test bzw. HAWIK), um z. B. Überforderungssituationen im Elternhaus wie in der Schule abschätzen zu können. Hintergrund der Erziehungsund Bildungssituation waren oft ausgeprägte Kontrollhaltungen elterlicher und staatlicher Institutionen seit frühester Kindheit – als deutsch-preußisches Erbe, fortgeführt in nunmehr zwei totalitären Staatssystemen. Jedoch spielten neben Härte auch die Verwöhnung als neurosenbedingender Faktor eine Rolle, die sich dann konflikthaft bei Anforderungen beim Kindergarten- bzw. Schuleintritt auswirkte. Bis zum 8. Lebensjahr überwogen die Jungen in der psychosomatischen Anfälligkeit (im Verhältnis 2:1!) – sehr häufig mit Jactationen, Bettnässen, Nägelknabbern, Enkopresis, Stottern, Tics; ab der Vorpubertät dann die Mädchen bzw. das weibliche Geschlecht u. a. mit Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Essstörungen und Naschen, Gehemmtheit und auch Aggressivität. Unter den Jungen waren Symp-

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tome des anal-aggressiven Bereiches spezifischer, bei den Mädchen die des oralen und sexuellen Bereiches. Die Erfassung der Symptomatologie führte schließlich zur Entwicklung des BFB (K) und BFB (KK), eines Beschwerdenfragebogens für Kinder und Kleinkinder (Höck, Hess u. Schwarz 1981), der auch bereits dem Kinderarzt Hinweise über die Indikation zur Psychotherapie geben konnte. Die Handanweisung beinhaltet in der Auflistung der Häufigkeit der einzelnen Symptome zugleich eine Fundgrube für vorherrschende neurosenrelevante Symptome für Kinder der DDR und ist als Vergleich für den Morbiditätswandel gut geeignet. Für eine derzeitige Anwendung der Verfahren wäre eine Neustandardisierung, zumindest erneute Eichung erforderlich. Die neurosenpsychologische Diagnostik basierte auf einem neoanalytischen Grundverständnis. Sie erfolgte zum einen explorativ durch die Befragung der Mutter/Eltern, wobei das Kind gleichzeitig im Raum spielen konnte. Zum anderen wurde das Kind mittels spezifischer Testmaterialien untersucht. Eine wesentliche Rolle spielte hierbei der Sceno-Test von Gerhild von Staabs. Oft zeigte das Dargestellte in erstaunlicher Deutlichkeit, wie ein Kind sein Dasein und seine Umwelt erlebt, welche Ängste es hat, aber auch, welche Impulse beherrscht oder verdrängt werden müssen (G. Israel 1969, S. 177).

Zur Therapie Die Spieltherapie war die Methode der Wahl in der Kinderpsychotherapie. »Die heilenden Kräfte im Spiel« von Zullinger (1952) bildeten den Ausgangspunkt, um Entwicklungsstörungen anzugehen, die meist ihren Ausdruck in Spielstörungen und Spielhemmungen fanden. Anne Müller (1969) verwies auf den Gedanken des kindlichen Spielens bereits bei Anna Freud (1927) sowie auf die Ausarbeitung der Spielanalyse bei Melanie Klein (1932), wobei die damalige analytische Deutung in der Therapie als verzichtbar angesehen wurde. Wesentlich war die anfängliche Lockerung von Gehemmtheiten, auf die dann der therapeutische Prozess folgen konnte. In Parallele zur Weiterentwicklung der Gruppenpsychotherapie und der Ausarbeitung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie durch Kurt Höck in der Therapie für Erwachsene (Höck 1976) übertrug Anne Müller das von Peltz und Werner (zit. bei Müller 1969) entwickelte Phasenmodell der Kindertherapie auf die Situation im Haus der Gesundheit. Sie beschrieb die generell im Therapieablauf zu beachtenden Behandlungsschritte und deren Charakteristiken hinsichtlich Kontaktform, Verhalten und zu bevorzugende Spielangebote sowie die zu erwartenden Entwicklungsschritte des Kindes. »Es gehört zu den Aufgaben des Therapeuten, die Spielthemen so zu präsentieren, dass diejenigen, die den therapeutischen Prozess am meisten fördern, aktuell den stärksten Aufforderungscharakter besitzen« (Müller 1969, S. 180). Daraus ergaben sich das allgemeine Therapieprogramm für die Gruppe und das individuelle Programm für das einzelne Kind. Damit wurde auch der Antriebsfreundlichkeit im Prozess Rechnung ge­tragen. Erika Schwarz, die Pädagogische Psychologin, widmete sich vor allem verhaltensgestörten und aggressionsgehemmten Kindern. Painting und Modellieren, Fingermalerei an gekachelten Wänden, Malen und Schmieren mit Hilfe bunter Farben und großer Pinsel oder das Abspritzen der Wände – dies insbesondere bei Enuretikern und Enkopretikern – als Formen

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aktiver Entfaltungs- bzw. Durchsetzungs- und Behauptungstendenzen zeigten grundlegende Behandlungsmöglichkeiten, die zugleich befreienden Spaß machten. »Es muss ein Nachholebedarf befriedigt werden und Hilfe beim Aufbau neuer und angepasster mitmenschlicher Beziehungen gegeben werden« (Schwarz 1969, S. 183). Tischtennisspiel, Wettkämpfe der Jungen untereinander bzw. gegen die versierte Therapeutin trugen spielerisch zu Auseinandersetzungsmöglichkeiten bei. Edelgard Köppe, die erfahrene Psychagogin, imponierte durch ihren großen roten »Mutter«-Sessel. Sie selbst thronte darin und strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, um sich herum das geschäftige Treiben, insbesondere der kleinen und der vorpubertierenden Mädchen. Die Kleinen breiteten alle möglichen Puppensachen vor ihr aus und bearbeiteten in Rollenspielen ihre Schwierigkeiten. Die größeren Mädchen vertrauten sich und ihr auch ihren ersten Liebeskummer an. Probleme der sexuellen Aufklärung, scheue Neugier, Scham durch elterliche Verbote bei der Entdeckung ihres eigenen Körpers, Onaniethemen waren Anforderungen zur Bearbeitung an den Therapeuten. Da kam dann auch manches ernste Gruppengespräch zustande. Dr. med. Gudrun Israel, später verh. Tscharntke, ab 1965 Oberärztin der Abteilung, widmete sich vor allem den kleinen Kindern. Für oral gestörte Kinder, z. B. mit Symptomen wie Naschen, wurde das gemeinsame Kochen zum Erlebnis, Enuretiker und Enkopretiker »durften« im Sandkasten den Sand »anfassen« und dann auch noch mit Wasser vermantschen, was für viele dieser Kinder erst einmal »eklig« war, später aber begeistert umgesetzt wurde. Beim Handpuppenspiel suchte die Therapeutin z. B. als Gretl unter den Kindern sich einen oder einige Spielpartner. Beliebt war das Krokodil, das als aggressivbedrohendes Element ausgewählt wurde und nun dem Kind in einer Spielrolle eigene Aggressivität – schützend oder angreifend – gestattete. Identifikatorisch wurde die Problematik abgearbeitet. Neben der Psychotherapie des Kindes war die Elternarbeit die zweite Säule aller Kindertherapeuten. Sie war verbindlich und Bedingung für die Kinderbehandlung. Wöchentlich saßen dann 20 bis 30 Eltern der jeweiligen Kindertherapeutin im großen Gruppenraum der Erwachsenenabteilung, tauschten ihre Erfahrungen und Probleme aus und diskutierten untereinander und mit dem Therapeuten über Entwicklungsprobleme und Erziehungsfragen (z. B. Trotzverhalten, Umgang mit Taschengeld, elterliche Reglementierungen, Bestrafungen sowie Beziehungsprobleme mit ihren Kindern bzw. ihrer Kinder.). »Eine kleine Elternschule« von Tobias Brocher (1964) war u. a. wichtige Grundlage für diese Arbeit. Es überwogen die Mütter unter den Teilnehmern, aber mancher Vater erlebte hier auch eine gute Gesprächsmöglichkeit für anstehende Fragen; etliche Elternkontakte hielten sich noch lange in die weiteren Jahre hinein.

Schließung der Abteilung 1972 wurde die Abteilung geschlossen. Personelle Probleme, wissenschaftliche Anforderungen, auch die Forderung nach einem neuropsychiatrisch ausgebildeten Kinderarzt, trugen dazu bei. Trotz ihrer Erfolgsbilanz führte diese Diskussion zur Auflösung der Abteilung. Für alle Beteiligten im Nachhinein eine schmerzliche Entscheidung, für die therapiebedürftigen Kinder ein echter Verlust.

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3.7  Beschäftigungstherapie – Positionierung, Wurzeln und Widersprüäche

3.7 Christoph Schwabe: Beschäftigungstherapie – Positionierung, Wurzeln und Widersprüche Wendet man sich dem Thema »Beschäftigungstherapie« unter dem Blickwinkel einer Zuordnung zur Psychotherapie zu, so ist zunächst und übergreifend festzustellen, dass die Sprache als Medium für psychodynamische Prozesse gegenüber anderen (nichtverbalen) Medien eindeutig dominiert. Psychotherapieforschung befasste sich zunächst mit den Inhalten pathologisch relevanter psychodynamischer Prozesse und hat von dieser Plattform aus ihre Konzepte entwickelt. Weitgehend vernachlässigt dabei waren Untersuchungen über die interaktionellen und intrapsychischen Transportmittel und deren Effizienz. Die Psychotherapiewissenschaft ging am Anfang ihres Bestehens von der selbstverständlichen und nicht zu hinterfragenden Hypothese aus, dass die Sprache das mediale Instrumentarium in der Psychotherapie schlechthin sei, sozusagen die via regia. Dagegen wies bereits Jacob L. Moreno darauf hin, dass es »im Jahre 1914 [...] in Wien nicht eine, sondern zwei Antithesen zur Psychoanalyse« gab; »nicht nur die Rebellion der unterdrückten Gruppe gegen das Individuum, sondern auch die Rebellion des unterdrückten Täters gegen das Wort. Am Anfang war die Tat. Es war der zweite Schritt über Freud hinaus, das Psychodrama« (Moreno 1973, S. 14). Wenn hier von nichtsprachlichen Medien die Rede ist, dann betrifft das z. B. Musik, Bewegung, einschließlich der sog. Körpersprache, und alles das, was unter dem Begriff der »Beschäftigungstherapie« subsumiert wird, wobei letztere unter psychotherapeutischem Blickwinkel eine besonders stiefmütterliche Position innehatte und auch heute noch hat. Dies wäre im Weiteren zu hinterfragen und mit Fakten zu belegen. Bezeichnend erscheint in diesem Zusammenhang, dass der Begriff »Beschäftigungstherapie«, genauso wie gleichbedeutende oder in enger Beziehung zu ihm stehende Begriffe, wie Arbeitstherapie, Ergotherapie, Gestaltungstherapie, im 854 Seiten umfassenden »Wörterbuch der Psychotherapie«, herausgegeben von Gerhard Stumm und Alfred Pritz (2000), nicht einmal auftauchen. Sowohl im Westen wie auch im Osten wird das psychotherapeutische Ausgangsdenken in der Beurteilung von Beschäftigungstherapie, so weit dies überhaupt erfolgt, weitgehend von einer tiefenpsychologischen, diagnostisch orientierten Position aus geprägt (Harlfinger 1968; Kohler 1968). Es geht den Vertretern dieser Position weniger um die Einbeziehung von Beschäftigungstherapie in den therapeutischen Prozess als vielmehr um deren diagnostische Nutzung. Die Wurzeln zu ersten beschäftigungstherapeutischen Überlegungen sind in der Psychiatrie zu suchen und liegen dort zum einen in der grundsätzlichen Erkenntnis, dass psychiatrisch Erkrankte nicht ausschließlich durch eine Bettentherapie behandelt werden können, sondern strukturierte Aktivitäten benötigen. Es handelt sich dabei um die Ursprünge der Arbeitstherapie, die mit dem Namen Hermann Simon (1929) verbunden sind. Zum anderen sehen wir ihre Wurzeln in der Tatsache, dass zu Beginn des 20. Jahrhundert einzelne Psychiater begannen, den Bildproduktionen schizophrener Patienten Beachtung zu schenken (Prinzhorn 1923; Bürger-Prinz 1932 u. a.).

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Arbeitstherapie in der Auffassung von Hermann Simon und das sog. Bildern der Schizophrenen haben geradezu gegensätzliche Absichten bzw. Richtungen. Verfolgt die Arbeitstherapie progressive, d. h. nach vorn gerichtete, therapeutische Absichten, so der Umgang mit den Bildproduktionen genau das Gegenteil, nämlich einen retrospektiv diagnostisch gerichteten Blick. Diese Blickrichtung ist natürlich aus der Optik des Arztes zu verstehen, trifft aber aus Sicht der Patienten auf ihre Bildproduktionen nicht zu, denn sie verfolgen mit ihrer Tätigkeit natürlich ganz andere Funktionen als diagnostische. »Die Wurzel allen Übels sah er [Simon] dabei in der Untätigkeit. ›Leben ist Tätigkeit‹, so lautete eines seiner Schlagworte« (zit. n. Harlfinger 1968, S. 95). Ploeger wird wenig später den Aspekt der Milieubeeinflussung mit seinem Konzept der »Therapeutischen Gemeinschaft« unter soziodynamischem Gesichtspunkt aufgreifen und weiterführen und kommt zu der Erkenntnis, dass »Therapeutisches Milieu« vor allem behindert wird durch die eingefahrenen institutionell hierarchischen Verhältnisse (Ploeger 1971, S. 195) in einer Klinikinstitution, wobei therapeutisches Verhalten sich als »abweichendes Verhalten« gegen die »Macht- und Kontrollbefugnis« richtet, die »das institutionelle hierarchische System verleiht« (S. 195). Damit sind die zentralen und eigentlichen Behinderungen angesprochen, die damals in den 1960er Jahren bei der Umsetzung psychotherapeutischen Denkens und vor allem Handelns im Team erkannt und beschrieben wurden. Bereits 1963 greifen Psychiater aus der DDR ähnliche Gedanken auf und formulieren in den »Rodewischer Thesen« entsprechende Forderungen an die eigenen Fachvertreter. Hierbei spielt der spätere Primarius der Psychiatrie an der medizinischen Akademie in Dresden, Ehrig Lange, eine federführende Rolle. Ein Jahr zuvor hatte Lange auf der 6. Tannenfelder Tagung im Rahmen der MedizinischWissenschaftlichen Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie Leipzig in einem Beitrag mit dem Titel »Der ›Arbeitspatient‹ und die Arbeitstherapie« gefordert: »Ärztlich-pflegerisches Denken und Handeln muss verbindlich erfassen: die klinisch-medikamentöse Therapie und die sozial wirksamen Maßnahmen der Heilbetreuung. Arbeitstherapie muss primär den Rehabilitationscharakter erkennen lassen, darf sich nicht nur in einer mehr oder weniger sinnvollen Dauerbeschäftigung von chronisch Kranken erschöpfen« (Lange 1962). Ähnliche grundsätzliche Forderungen werden einige Jahre später wiederum in Thesenform postuliert. Es handelt sich um die sog. »Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft« aus dem Jahre 1974. Diese Postulate, auf wissenschaftlichen Tagungen vorgetragen und in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, waren das eine; die Praxis in den großen psychiatrischen Kliniken war das andere. Längst war die Arbeitstherapie zu einem existentiellen Wirtschaftsfaktor degeneriert, ohne den die Existenz dieser Kliniken gefährdet wurde, so dass die wissenschaftlichen Thesen und Arbeitspapiere wie Predigten in der Wüste verhallten. Bei Arbeitstherapie die ökonomische Komponente zu favorisieren, war übrigens nicht nur ein DDR-Problem. Krüger, Rohde, Veltin und Zumpe (in: Kayser et al. 1973) weisen darauf hin, dass auch in den großen psychiatrischen Kliniken der Bundesrepublik die Arbeitstherapie zum ökonomischer Faktor im Sinne der Aufrechterhaltung des Betriebssystems wurde und diese Zuordnung ständig zu Auseinandersetzungen mit den Vertretern

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3.7  Beschäftigungstherapie – Positionierung, Wurzeln und Widersprüäche

klinisch-therapeutischer Verantwortlichkeiten führte. Noch Anfang der 1980er Jahre – und dies ist nur ein besonders makabres Beispiel – stellte man anlässlich einer Kreistagswahl in der Fachklinik für Psychiatrie und Neurologie Altscherbitz (heute: Sachsen-Anhalt) bei einer großen Zahl von hospitalisierten »Arbeitspatienten« (Lange) fest, dass sie keine Personalausweise mehr besaßen, weil ihre Papiere im Laufe der Zeit mangels Benutzung verschlampt waren. Da die Leitung des Hauses Schwierigkeiten mit der politischen Öffentlichkeit befürchtete – der Personalausweis war auch in der DDR ein notwendiges Dokument, um »wählen« zu dürfen –, wurden diese Patienten einfach entmündigt. Damit hatte man zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Man war das Wahlproblem los, und diese Patienten konnten nun zu Dauerarbeitspatienten gemacht werden! Bevor der Entwicklungsweg der Beschäftigungstherapie und deren Bezug zur Arbeitstherapie weiterverfolgt werden kann, soll zunächst die »zweite Wurzel« der Beschäftigungstherapie, das »Bildern« schizophrener Patienten und dessen Folgen, etwas näher betrachtet werden. Dass psychiatrische Patienten anfingen Bilder zu malen, dürfte zunächst etwas darüber aussagen, dass ihre Lebensaktivität noch nicht erloschen war und auch nicht durch die typische »Bettentherapie« der Psychiatrie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgelöscht werden konnte. Dass Bilder von psychotisch Kranken immer auch etwas über deren Seelenzustand aussagen, ist nicht verwunderlich. Ausschließlich dieser Aspekt begann nun Psychiater, die der Tiefenpsychologie nahestanden, aus diagnostischen Gründen zu interessieren. Und damit fing das Deuten bestimmter Ausdruckselemente in den Bildern der Kranken an, deren »Gestaltungen« man »als Ausdruck unbewusster pathologischer Faktoren auswertete« (Schwabe 1968, S. 77) (vgl. Jung 1950; Heyer 1959; Clauser 1960; Enke u. Ohlmeyer 1960 u. a.). Vor allem oder ausschließlich Pathologisches in Bildern psychisch Kranker sehen zu wollen, dürfte spätestens mit der Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ad absurdum geführt worden sein. Wenn dies nämlich zuträfe, müsste man so gut wie alle Bilder der Surrealisten und anderer Stilrichtungen als pathologisch interpretieren. Man denke an Picasso und dessen Menschendarstellungen. Ich erinnere mich an den Besuch des Gütersloher Psychiaters und Psychoanalytikers Professor Winkler in der Abteilung für Psychotherapie der Leipziger Universität in den 1960er Jahren. Wir saßen zum Fachgespräch in der Runde, als Prof. Winkler die Leiterin des Hauses, Prof. Christa Kohler, fragte: »Machen Sie hier auch Maltherapie?«, und die Chefin aufforderte, man solle einen Stoß von Patientenbildern holen. Als die Bilder vor Prof. Winkler lagen und er Stück für Stück betrachtete, entdeckte er in jedem Bild an unterschiedlichen Stellen ausschließlich sexuelle Symbole. Auch in der DDR war in psychotherapeutischen Kreisen die Lust am Deuten, besonders bei Bildern von Patienten, weit verbreitet. Dazu zwei weitere Negativbeispiele. Bilddeuten hatte spätestens in der Zeit der von Kurt Höck (1976) initiierten und realisierten gruppendynamischen Selbsterfahrung, die eine Vielzahl an jungen Ärzten und Psychologen seit den 1970er Jahren als psychotherapeutische Ausbildungsangebote nutzten, einen weiteren Aufschwung erhalten. Der Grund war, dass Höck in seine Ausbildungskom-

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

munitäten das Bildgestalten innerhalb des Gruppenprozesses von Gesprächsgruppen einbezogen hatte und dadurch viele zukünftige Psychotherapeuten aus ärztlicher und psychologischer Herkunft beeinflusst worden sind. Ein durch die Höck’sche Gruppendynamik ausgebildeter Oberarzt, Facharzt für Psychotherapie, führte in seiner Klinik regelmäßig sog. Bildbesprechungen in der Patientengruppe durch. Da wurden Bilder, die Patienten während des psychotherapeutischen Klinikaufenthaltes gemalt hatten, »besprochen«, d. h. interpretiert. Bei einer Patientin mit einem Partnerkonflikt kam es zu folgender Äußerung des Oberarztes gegenüber der anwesenden Patientin: »Wenn Sie so etwas in Ihrem Bild malen, dann ist es klar, dass Sie sich scheiden lassen müssen.« Als zweites Beispiel sei hier aus einem Brief zitiert, den der Chefarzt einer Psychotherapie-Klinik an eine Kollegin schrieb. Er äußerte sich im Zusammenhang mit der Vorbereitung einer Fachtagung wie folgt: »[...] ich habe von Maltherapie eigentlich bisher keine soliden theoretischen Kenntnisse gehabt. War nur abgestoßen von der pseudoanalytischen, außerdem dominanten Deuterei während der Höck’schen Selbsterfahrung. Das war kein glückliches Kennenlernen, schon gar nicht, weil ich zunächst Minderwertigkeitskomplexe bekam, da ich das alles nicht gesehen hatte, worüber da so munter geschnattert wurde [...]. Ich konnte die Deutungen weder mit Gefühl noch mit Verstand akzeptieren, hielt mich in der Gruppensituation einfach für zu blöd, unwissend und unsensibel. Von diesen schlechten Erfahrungen waren dann auch meine weiteren Beziehungen zur Maltherapie geprägt.« Beschäftigungstherapie wird in Ost wie West zu Beginn der 1960er Jahre als Alternative und/oder Ergänzung zur Arbeitstherapie verstanden. Dabei sind die Unterschiede zwischen Arbeits- und Beschäftigungstherapie relativ schnell und relativ übereinstimmend klar: Beschäftigungstherapie ist im Unterschied zur Arbeitstherapie weniger zielgerichtet hinsichtlich der zu realisierten Tätigkeit; sie ist damit auch weniger zweckgerichtet. Sie sollte nicht streng strukturieren, was Zeitplan, Aufgabengebiet und Leistung betrifft. Beschäftigungstherapie sieht ihren Schwerpunkt in der Entwicklung von Kreativität. Sie sollte mehr Freiraum für Gestaltungsimpulse beinhalten; sie sollte das Milieu der Station positiv beeinflussen, und sie sollte stärker die individuellen Bedürfnisse der einzelnen Patienten berücksichtigen und anregen (vgl. dazu Jentschura 1957, Beeck 1957, Harlfinger 1968, Müller-Hegemann 1961, Wendt 1960, Kohler 1968, Höck 1969, Kayser et al. 1973 u. a.). Offen geblieben aber sind folgende Fragen, und dies teilweise bis zum heutigen Tag: Wie wird Beschäftigungstherapie in eine Stationsorganisation integriert? Wer ist dafür verantwortlich? Wer entscheidet über Teilnahme, Indikation, Kontraindikation, Anfang und Ende? Wer organisiert den beträchtlichen Aufwand an notwendigen Materialien? Wer führt Beschäftigungstherapie mit welcher Qualifikation durch? Wie sieht es mit Kooperation und Supervision aus? Und schließlich: Wie wird die tägliche Durchführung mit den täglich wechselnden Patienten optimal davor bewahrt, sich zu automatisieren, damit sie »therapeutisch« bleiben kann? Wie sieht nun die Praxis der Beschäftigungstherapie in den 1960er Jahren in der DDR aus? Es gab die aufrüttelnden Rodewischer Thesen aus dem Jahre 1963. Es gab einige bekannte Leitfiguren der Psychiatrie und Psychotherapie, die sich über die Notwendigkeit der Realisierung von Beschäftigungstherapie in Büchern geäußert hatten. In der Praxis aber, vor allem der psychiatrischen, auch in den beginnenden kleinen Einrichtungen der Psycho-

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3.7  Beschäftigungstherapie – Positionierung, Wurzeln und Widersprüäche

therapie, waren sowohl Rodewischer Thesen als auch kluge schriftliche Äußerungen zu diesem Thema weit weg, und diese Praxis sah trostlos aus. Es mangelte so gut wie an allem, was notwendig gewesen wäre, um Beschäftigungstherapie aufzubauen. Als ich im September des Jahres 1960 als Musik- und Beschäftigungstherapeut an der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig angestellt wurde, verknüpfte die Klinikleitung damit die Hoffnung, den unhaltbaren Zustand innerhalb der psychiatrischen Abteilung zu verbessern. Hier war noch üblich, als »Beschäftigungstherapie« das Erbsen- und Steinchensortieren auf dem Tisch des Aufenthaltsraumes anzubieten. Das bedeutete: Man kippte eine Schüssel mit Erbsen und Steinen auf den Tisch, um sie von Patienten sortieren zu lassen. Waren sie damit fertig, begann das Spiel von neuem. Nicht weniger kompliziert war die Situation in den großen psychiatrischen Kliniken. Hier dominierte vor allem die Erstarrung in alten hierarchischen Strukturen, die Hospitalisierung von Langzeitpatienten, der Personalmangel, also das verwaltete Elend. Als der erste Oberarzt der Leipziger Klinik, Harro Wendt, zu Beginn der sechziger Jahre als Ärztlicher Direktor das große Neurologisch-psychiatrische Krankenhaus in Uchtspringe/Altmark übernahm, war es eine übermenschlich große Tat, zunächst die schlimmsten Verwahrlosungen von Dauerpatienten zu überwinden und beharrlich milieutherapeutische Grundlagen zu schaffen, auf denen sich dann allmählich Arbeitstherapie, Beschäftigungstherapie sowie andere therapeutische Gruppenarbeit entwickeln konnte. Diese Leistung ist nicht hoch genug einzuschätzen, bedenkt man die damals vorgefundenen Bedingungen. Harro Wendt hatte es verstanden, entsprechend der bis heute geltenden Medizinerhierarchie, die Leitung und Umsetzung eines therapeutischen Prinzips von »oben« nach »unten« zu organisieren, zu realisieren, zu kontrollieren und immer wieder zu stimulieren. Was ihm allerdings nicht gelang, war, sich von einem traditionellen Medizinerdenken zu lösen. Das wäre Voraussetzung dafür gewesen, auch nichtmedizinische Berufsgruppen zu fördern, die ebenfalls Psychotherapie in Kooperation mit medizinischer Psychotherapie hätten betreiben können. Bezeichnend für ein weit verbreitetes eingeengtes Medizinerdenken, das zu diesem Zeitpunkt die Entwicklung interdisziplinären Denkens in der Psychotherapiepraxis, aber auch -forschung, behinderte, wird mit folgender Äußerung des Jenaer »Psychotherapiepapstes«, Gerhard Klumbies, deutlich. Er schreibt, bezogen auf die psychotherapeutische Tätigkeit der Berufsgruppe der Psychologen: »Eine direkte Notwendigkeit zur Mitarbeit akademisch ausgebildeter Psychologen ergibt sich für gewisse psychologische Aspekte der psychotherapeutischen Forschung. Aber die wirkliche Zusammenarbeit [mit dem Arzt] muß gewahrt sein. Der Arzt kann dem Psychologen die Psychotherapie genauso wenig überlassen wie dem Physiker die Physiotherapie oder dem Chemiker die Chemotherapie« (Klumbies 1974, S. 254). Eine völlig andere ärztliche Position nahm Christa Kohler, die ärztliche Leiterin der psychotherapeutischen Abteilung der Karl-Marx-Universität Leipzig ein. Sie setzte von Anfang ihres Wirkens an auf interpersonelle, gleichberechtigte Zusammenarbeit von Medizinern und Nichtmedizinern, von Akademikern und Fachkräften des mittleren medizinischen Personals.

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Bei Kohler gilt Beschäftigungstherapie von jeher als eines der nonverbalen Verfahren der Gruppenpsychotherapie. Dazu stellt sie übergreifend fest: »Die neurotische Persönlichkeit ist in ihren verbalen und nonverbalen Entäußerungsmöglichkeiten eingeschränkt. Unter lerntheoretischem Aspekt müssen demnach psychotherapeutisch gezielte Gruppen für beide Kommunikationsformen geschaffen werden« (Kohler 1968, S. 103). Und sie fährt fort: »Die Aufgabenstellung in einer gruppenpsychotherapeutisch orientierten Beschäftigungstherapie muss so beschaffen sein, dass unablässig der einzelne in das Spannungsfeld gruppendynamischer Vorgänge einbezogen ist, die ihm eine allmähliche Veränderung seines neurotischen Verhaltens ermöglichen« (S. 102 f.). Ein weiterer Gesichtspunkt sollte in der gruppenpsychotherapeutisch orientierten Beschäftigungstherapie nach Kohler und Schwabe von wesentlicher inhaltlicher Bedeutung werden. Es handelt sich um den Therapiefaktor »Aktivierung der ästhetischen Erlebnisfähigkeit« (Schwabe, in: Kohler 1968, S. 139). Hier beruft sich Schwabe auf Mühlberg (1965), der »der ästhetischen Erlebnis- und Erkenntnisfähigkeit [...] als Medium allgemeiner Kommunikation [...] eine eminente soziale Bedeutung« zuweist (Mühlberg 1965, zit. n. Kohler 1968, S. 141). Es deutet sich da bereits der Übergang einer Beschäftigungstherapie in eine Gestaltungstherapie an. In der Tat entwickelte sich in den 1970er Jahren das von Kohler und Schwabe aufgebaute Konzept einer Gestaltungstherapie mit hohen Anforderungen an den Therapeuten. »Welch differenzierte Anforderungen für diese Funktion notwendig ist, soll sich die Beschäftigungstherapie nicht in einer bloßen Handwerkelei erschöpfen, wird klar, wenn wir bedenken, dass der Beschäftigungstherapeut die Möglichkeiten der Entfaltung der ästhetischen Aktivität durch die Interaktion innerhalb der kleinen Gruppe beherrschen muss. Es genügt nicht die Kenntnis über einige handwerkliche Kniffe, Organisationstalent und die Fähigkeit, mit Menschen umgehen zu können [...]. Es gilt [...]dem Patienten zu vermitteln, wie gestalterische Möglichkeiten zu Gestaltungszielen werden. In diesem Sinne ist die Aufgabe des Beschäftigungstherapeuten die einer Mittlerposition. Diese Mittlerfunktion bedeutet Wechselbeziehung zwischen Anregen, Gewährenlassen, Impulsgeben und Selbstgestaltenlassen der Patienten. Sie verlangt von dem Therapeuten eine ›selbstlose‹ Haltung in bezug auf seine eigenschöpferischen Bestrebungen; denn Anregen heißt In-Bewegung-bringen. Die eigene schöpferische Aktivität darf sich nicht hemmend in den Weg der anzuregenden Patienteninitiative stellen« (Schwabe, in: Kohler 1968, S. 143). In welchen Kliniken hätte sich eine so hoch differenzierte und psychotherapeutisch ausgerichtete Beschäftigungstherapie etablieren können, wie sie in der Leipziger Universitätsklinik Standard war? Die Antwort bleibt offen, denn bereits im Jahre 1962 hatte Ursula Katzenstein (Berlin) in Kooperation mit dem Rehabilitationsmediziner Presber durch ihre Nähe zu den ministeriellen und politisch zentralen Stellen ein Berufskonzept für Arbeitstherapie installieren können, das primär auf funktionell-organische Rehabilitation ausgerichtet war. Diese Beschränkung auf funktionell-organische Aspekte war umso verwunderlicher, da der Ehemann von Frau Katzenstein einer der bekanntesten Psychologischen Psychotherapeuten in der DDR war. Mit einer derartig einseitigen Berufsfixierung war beklagenswerterweise der ministerielle Weg für die Realisierung eines Berufsbildes des Gestaltungstherapeuten im psychotherapeutischen Sinn verbaut worden.

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3.8  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR

3.8 Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR 3.8.1 Infrid Tögel: Die »erfolgreiche« und folgenreiche Behandlung des Genossen Dr. H. Der Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik an der Universität Leipzig war von 1952 bis 1964 Dietfried Müller-Hegemann. Er war zugleich Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft im Ministerium für Gesundheitswesen der DDR. Offensichtlich im Zusammenhang mit seinen dadurch guten Beziehungen nach Berlin kamen immer wieder einmal hochrangige Persönlichkeiten aus öffentlichen Funktionen in die Psychotherapie-Abteilung dieser Klinik. So kam 1962 auch Herr Dr. H., leitender Mitarbeiter im Zentralkomitee der SED, als Patient in die Psychotherapie-Abteilung und wurde sowohl vom Klinikdirektor als auch von der Abteilungsärztin sehr freundlich empfangen. Nach relativ kurzer Zeit zeigte sich, dass er im Rahmen der Therapie eine extreme Sonderstellung erwartete – und erhielt. Im Blick auf die an der Abteilung geltenden Behandlungsprinzipien hielt ich das für höchst problematisch und nicht vertretbar. Deshalb habe ich dem Klinikdirektor eine Aufstellung mit 24 Punkten übergeben (deren Durchschlag ich noch habe), in denen die Sonderstellung dieses Patienten aufgeführt wurde. Daraufhin führte D. Müller-Hegemann mit Herrn Dr. H. bei einem ­Spaziergang ein Gespräch – und als Folge davon verließ der Patient am nächsten Tag die Psychotherapie-Abteilung. Da die damalige Leiterin der Psychotherapie-Abteilung sich diesem Patienten gegenüber immer überaus freundlich und entgegenkommend gezeigt hatte, hatten wir Mitarbeiter die recht sichere Vorstellung, dass der Patient Dr. H. von diesem Zeitpunkt an überzeugt war, für alles, was an der Klinik schlecht sei, sei der Klinikdirektor verantwortlich – und alles Gute in der Psychotherapie gehe auf die Abteilungsleiterin zurück. Diese Gegebenheit spielt wahrscheinlich für tiefgreifende Geschehnisse in der Folgezeit eine wesentliche Rolle. Hintergrund: Der erste Leiter der Psychotherapie-Abteilung an dieser Klinik, Harro Wendt, hatte (orientiert an den damals politisch weitgehend durchgesetzten Konzeption Pawlows) die Schlaftherapie methodisch streng durchgeführt: Ruhesuggestionen vom Tonband wurden unterstürzt durch Gaben des Schlafmittels Kalypnon, die in ansteigender Häufigkeit durch Placebos ersetzt wurden. Als dann Dr. Wendt an eine andere Abteilung versetzt worden war, wurde eine Ärztin mit der Leitung der Abteilung betraut. Bald darauf schlug D. Müller-Hegemann vor, das Kalypnon durch das flüssige Kombinationspräparat Kaliumbromat zu ersetzen. Die Abteilungsleiterin ging sehr bereitwillig darauf ein. Bei mehreren Visiten war ich Zeuge, wie Müller-Hegemann nach den Erfahrungen mit dem Kaliumbromat-Präparat fragte und die Abteilungsleiterin stets nahezu begeistert von der guten Anwendbarkeit dieses Medikaments berichtete. Ich selbst hatte (geschult an der kritischen Haltung von H. Wendt) eine deutlich kritischere Einstellung zu diesem Präparat, wagte aber als Psychologe nicht, diese von der Meinung der ärztlichen Abteilungsleiterin so abweichende Auffassung zu äußern. Ein weiterer hochrangiger etwa 60-jähriger Patient aus Berlin kam etwas später zur Behandlung in die Psychotherapie-Abteilung. Relativ kurze Zeit nach der stationären Auf-

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3. Kapitel  |  1960–1969: Beginnende Institutionalisierung

nahme stellte D. Müller-Hegemann bei einer Visite mit großer Betroffenheit eine gravierende Verschlechterung im Gesundheitszustand dieses Patienten fest, woraufhin dieser in die psychiatrische Abteilung verlegt wurde, wo er später verstarb. In dieser Situation habe ich mich mit einem jüngeren ärztlichen Kollegen ausgetauscht, der ebenfalls die Anwendung der Kaliumbromat-Lösung kritisch sah. Wir haben dann D. Müller-Hegemann unsere Bedenken mitgeteilt. Daraufhin hat dieser bei einer zentralen Stelle eine Untersuchung der Vorgänge veranlasst. Als Folge davon kam zunächst eine Kommission des Zentralkomitees der SED (geleitet von Prof. Misgeld, unter den Mitgliedern der Psychiater Prof. Dagobert Müller) an die Leipziger Klinik. Diese Kommission stellt eindeutig fest, dass die Kaliumbromat-Lösung unkritisch und fehlerhaft verabreicht worden war: 1. wurde der Ersatz des wirksamen Präparates durch ein Placebo nicht so systematisch konsequent durchgeführt wie vorher beim Kalypnon durch H. Wendt, und 2. stellte die Kommission fest, dass dieses flüssige Präparat vor der Verabreichung stets hätte geschüttelt werden müssen,was nicht erfolgte. Deshalb erhielten manche Patienten fast nur Lösungsflüssigkeit, andere dieses Präparat in unvertretbar hoher Konzentration, was hirnorganisch verursachte heftige Reaktionen zur Folge hatte. Während diese Kommission in Leipzig war, spielte sich ein mysteriöser Vorgang ab: Es wurden im Namen der Belegschaft der Psychotherapie-Abteilung zwei Telegramme aufgegeben (an den Vorsitzenden des Staatsrates und an Hermann Matern), von denen weder der derzeit leitende Abteilungsarzt noch einer der Stationsärzte oder sonstige Mitarbeiter der Abteilung etwas wussten. Dieser Vorgang ist nie aufgeklärt worden. Später kam dann die Mordkommission der obersten Staatsanwaltschaft der DDR nach Leipzig und untersuchte die Vorgänge. Sowohl der Klinikdirektor als auch die Abteilungsärztin wurden von ihren Funktionen beurlaubt (und nach Abschluss der Untersuchungen beide wieder eingesetzt). Die Auswertung des gesamten Prozesses erfolgte durch den damaligen Gesundheitsminister Sefrin (CDU) vor leitenden Mitarbeitern der Klinik. Durch einen dabei anwesenden ärztlichen Kollegen erfuhr ich, dass meine Aussage bei der Mordkommission (s. die obige Darstellung) in ihr Gegenteil verkehrt worden war und alle Verantwortung dem Klinikdirektor angelastet wurde. Viele Mitarbeiter der Psychotherapie-Abteilung waren überzeugt, dass der Genosse Dr. H. aus dem Zentralkomitee der SED veranlasst hatte, dass die Untersuchungen in diese Richtung gesteuert wurden. Ich habe daraufhin beim Rektor der Universität, Prof. Meyer, vorgesprochen und meine Sicht der Dinge dargelegt, habe dreimal an den untersuchenden Staatsanwalt und je einmal an den Minister für Gesundheitswesen und den Staatssekretär für das Hochschulwesen geschrieben und um Korrektur gebeten – ohne jemals eine Antwort zu erhalten. Mein letztes Schreiben an den Staatsanwalt enthält den Absatz: »Ich erwarte auf diesen Brief keine Antwort. Ich wollte Ihnen nur auf Grund einiger Hinweise verständlich machen, wie es kommen konnte, dass mein Vertrauen zur Arbeitsweise staatlicher Organe erheblich erschüttert worden ist. Ich hielt mich aber für verpflichtet, Ihnen dies mitzuteilen, da ich von diesen für mich so betrüblichen Erfahrungen naturgemäß so schnell nicht frei komme und ich mich gegebenenfalls genötigt fühle, auch an anderer Stelle davon Gebrauch zu machen.« In der Folgezeit entwickelte sich ein heftiger Kampf zwischen der SED-Parteilung der Klinik und dem Klinikdirektor (der Altkommunist war), der schließlich zum Weggang von

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3.8  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR

D. Müller-Hegemann führte. Die Abteilungsärztin habilitierte sich, erhielt eine Professur, wurde Klinikdirektorin und schließlich Dekanin der Medizinischen Fakultät an der KarlMarx-Universität Leipzig.

Anmerkung des Herausgebers (M. G.) Vom Genossen H. und seiner Sonderbehandlung handelt auch die Geschichte von Christoph Schwabe (} Abschnitt 3.8.2). Ich selbst habe mich auf Bitten der Tochter des verstorbenen Patienten Anfang der 1990er Jahre mit dem im vorstehenden Beirag geschilderten traurigen Fall anhand der alten Krankengeschichte sehr intensiv beschäftigt, möchte sie um einige Punkte ergänzen und meine Sicht auf die Vorgänge in jener Klinik, die ich 20 Jahre nach diesen Ereignissen als Abteilungsleiter übernahm, hinzufügen. Die hier sehr schlecht wegkommende Abteilungsleiterin war Christa Kohler, die nach ihrer Wahl zur Dekanin der Medizinischen Fakultät psychisch schwer erkrankte und bereits 1974 nicht mehr arbeiten konnte. Kohler hatte als Tochter eines von den Nazis wegen Wehrkraftzersetzung inhaftierten Pastors hervorragende Kontakte in die Berliner SED-Parteispitze und konnte so der Anzeige Müller-Hegemanns bei der Staatsanwaltschaft entsprechend entgegentreten. Es steht jedenfalls fest, dass Müller-Hegemann die Kaliumbromat-Mixtur von einer Tagung in Bratislava mitgebrachte hatte und somit persönlich an der Verordnung beteiligt war. (Als Klinikdirektor wäre es mir jedenfalls nicht in den Sinn gekommen, die Verantwortung für einen Todesfall an die Oberärztin weiterzureichen.) Genossin Kohler war nicht nur eine politische Rivalin, sondern auch fachliche Gegenspielerin des Genossen Müller-Hegemann, der bekanntlich einer der militantesten Verfechter des Pawlowismus in den 1950er Jahren war, und ich vermute, dass er – in Verkennung seiner eigenen realen Macht – eine Gelegenheit sah, Kohler loszuwerden. Allerdings war seine politische Machtposition schon vor dieser Zeit ins Wanken geraten. Er hatte sich 1957/1958 unter intensivem politischen Beschuss befunden, nachdem ihm vorgeworfen wurde, in seiner Arbeit zur Psychologie des deutschen Faschisten eine »fehlerhafte Konzeption, den Faschismus auch psychologisch erklären zu wollen«, zu verfolgen, und er sich hartnäckig weigerte, seine Vorstellungen zu revidieren (s. a. die Psychotherapiechronik } Abschnitt 2.2). Der Genosse H. allein wäre nach meiner Überzeugung nicht fähig gewesen, einen alten Kommunisten und Widerstandskämpfer von seinem Lehrstuhl zu vertreiben.

3.8.2 Christoph Schwabe: Nicht-Märchengeschichten eines Musiktherapeuten I Die Könige sind abgeschafft Es war Ende der 1950er Jahre. Ich hatte mich nach dem Studium in Leipzig eingerichtet und erprobte mich, weil mir der Staat aus politischen Gründen das berufliche Arbeiten verboten hatte, in den verschiedensten Gewerken als Musikpädagoge, Kantor, Cembalist, Chorleiter,

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Musikkritiker usw. und begann mich dabei wohl zu fühlen. Da kam eine Nachricht aus der gleichen Universität, die mich zuvor nicht arbeiten lassen wollte, allerdings aus einer anderen, der medizinischen, Fakultät. Man baue eine neue Psychotherapie-Klinik auf und suche einen, der die Musiktherapie dort entwickeln könne. Man sei auf mich aufmerksam gemacht worden. Das wunderte mich sehr, erweckte aber auch Neugier. Und so ließ ich mich auf eine Probezeit, um die ich bat, ein. Der oberste Chef der Klinik wollte mich sprechen und wollte mir erklären, was er von mir erwarte. Es war Professor Müller-Hegemann, ein Altkommunist, der offenbar in seiner Jugendzeit auch als Jugendbewegter mit der Gitarre und anderen Jugendfreunden singend durch die Natur gezogen war. Er riet mir, mit den Patienten zu singen, und nannte Kanons, die er noch kannte, u. a. »Froh zu sein bedarf es wenig, und wer froh ist, ist ein König«. Das war eine Zeit, wo die Patienten noch sog. Schlaftherapie bekamen. Und um sie auch ein wenig munter zu machen und allmählich an ihre Konflikte heranzuführen, hatte sich die Klinikleitung gedacht, man sollte bei den Patienten mit einer Art Gruppensingtherapie musiktherapeutisch beginnen. Es war die erste Singstunde in der Karl-Tauchnitz-Straße, so nannten wir auch die legendäre Psychotherapie-Klinik der Leipziger Uni. Sie fand im sog. Ahnensaal statt, einem majestätischen, eichenholzvertäfelten Raum. Die Patienten lagen mehr, als dass sie saßen, in tiefen Sesseln, schlaftrunken, abwartend und misstrauisch dreinblickend. Und ich versuchte – der Schweiß lief mir dabei den Rücken hinunter – mit guter Miene, die Leute aus ihren Sesseln zu holen und zum Singen zu ermuntern. Ich hatte mich zuvor stundenlang vorbereitet, alle Lieder und Kanons, die ich kannte, durchgewälzt und dabei auch den, vom Klinikdirektor vorgeschlagenen Kanon angestimmt. Da platzte mitten hinein in das Anstimmen ein kleiner, griesgrämiger Mann. Was ich mir erlauben tät. Das sei eine politische Provokation. Die Könige seien abgeschafft, und so etwas zu singen, das könne wohl nicht mit rechten Dingen zu gehen. Er werde sich nach meiner Kaderakte erkundigen und dafür sorgen, dass solche Leute wie ich nicht an einer Universität mit dem Namen Karl-Marx tätig sein dürfen. Es war der SED-Kreisvorsitzende von Grimma, den ich da politisch beleidigt hatte und der wegen Dauerkopfschmerzen in der Klinik war. Das war meine erste Musiktherapiestunde in der damaligen Abteilung für Psychotherapie der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig.

Weihnachtsmusik im Juli Es war Mitte der 1960er Jahre. Unsere Klinik hatte schon einen Namen im Lande. Unsere Chefin kämpfte aber immer noch um eine gewisse Anerkennung nicht nur unter den Fachkollegen, sondern vor allem auf politischer Ebene. Sie versuchte das auch – meist erfolgreich –, indem sie besonders gern prominente Persönlichkeiten der Öffentlichkeit als Pa­tienten aufnahm. Und da es keinen Mangel an Leuten mit großem Namen gab, die Psychotherapie benötigten, hatten wir auch keinen Mangel an großen Künstlern, Betriebsdirektoren oder Politikern. Wir, das psychotherapeutische Fußvolk, waren dies also gewohnt, und

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3.8  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR

so saß eben in der Gruppenmusiktherapie beispielsweise der Generalmusikdirektor neben dem Abteilungsleiter, dem Parteisekretär, der Hausfrau, dem Studenten und dem Professor. Da kam ein besonders hohes Tier in die Klinik. Man merkte an der Nervosität der Chefin, dass es ihr besonders an diesem Patienten gelegen war, und so wurden wir in der nächsten Besprechung auch instruiert. Wenn es uns gelänge, diesen Patienten gut zu behandeln, dann hätte die Psychotherapie im Lande eine Zukunft. Der Patient war der stellvertretende Abteilungsleiter im Zentralkomitee der Partei. Er kam wegen Kopfschmerzen, Schlafstörungen und allgemeiner Nervosität. Ein Grundprinzip von Christa Kohler, der »Chefin«, wie wir sie nannten, war, dass alle Patienten neben der Einzelbetreuung die gesamte Standardtherapie mitmachen mussten, also auch die der Musiktherapie. Eine dieser Standardtherapien war die sog. besinnliche Stunde, eine Musiksendung, zu der die Patienten bestimmte (klassische) Musik in die Patientenzimmer überspielt bekamen und sich in dieser Zeit »besinnlich« verhalten sollten. Ich war für die Auswahl dieser Musiksendungen verantwortlich. Die Bedienung der Technik erfolgte durch die Schwestern. Es war an einem heißen Julitag. Ich kam früh in die Klinik und wurde schon an der Haustür von Schwester Else empfangen, die mich mit hochrotem Kopf aufforderte, sofort bei der Chefin zu erscheinen. Die lief im Zimmer wie ein Tiger im Käfig auf und ab und brüllte mich sofort an, wie ich es von ihr weder zuvor noch danach je gehört hatte. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis ich erfuhr, was passiert war. Am Abend zuvor kam als Musik der besinnlichen Stunde Weihnachtsmusik, und bei »Vom Himmel hoch, da komm ich her« war unser Obergenosse ausgerastet und hatte die Klinik sofort unter Protest verlassen. Eine Schwester hatte die Nummer des Tonbandes verwechselt. Ich aber war natürlich der Prellbock. Von diesem Parteioberhaupt konnten wir auch in Zukunft keine Unterstützung erwarten, und besonders die Musiktherapie hatte im ZK der SED keine guten Karten.

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4. Kapitel

1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

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4.1  Überblick

4.1

Michael Geyer: Überblick

Die 1970er Jahre bringen die Psychotherapie und ihre Institutionen voran wie keine andere Zeitspanne in der Existenz der DDR. Die Menschen haben sich im real existierenden Sozialismus mehr oder weniger eingerichtet. Sie möchten allerdings nicht auf eine glückliche Zukunft im fernen Kommunismus warten, sondern die Erfolge ihrer Arbeit heute genießen. Der Kollektivismus der 1950er und 1960er Jahre ist desavouiert durch sein ökonomisches Versagen. Philosophie und Literatur fokussieren plötzlich zum Erstaunen des Volkes das Subjektive, der Begriff der Elite erscheint wieder im Sprachgebrauch. Je mehr der einzelne Mensch an Bedeutung gewinnt, desto weniger lassen sich Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen mit Parolen, ideologischen Zielen und Versprechungen zurückdrängen. Walter Ulbricht, Parteichef der SED und Staatsratsvorsitzender, versteht die Welt nicht mehr, wird zum Rücktritt gezwungen und sein Nachfolger Erich Honecker verspricht, sofort etwas für die Menschen zu tun. Die DDR beginnt, in exzessiver Weise über ihre Verhältnisse zu leben. Die ökonomischen Probleme fordern größere politische Flexibilität. Psychotherapie soll und kann das Leben der Bürger verbessern. Entsprechend schwindet das Misstrauen der Politik gegenüber Psychotherapie und Psychotherapeuten oder macht einem pragmatischeren Umgang Platz. Von größter Bedeutung ist das Scheitern eines Versuches der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED auf der sog. Brandenburger Konferenz 1971, Psychiatrie und Psychotherapie politisch zu instrumentalisieren, indem eine sog. parteiliche Wissenschaft gefordert wird. Die vorwiegend der SED angehörenden Chefs der großen Psychiatriekrankenhäuser weigern sich vehement, an dieser Stelle der Partei zu folgen (s. a. die ausführliche Darstellung in der Psychotherapiechronik). In der Folge wird es keine Sonderstellung dieser Fächer im Kanon der medizinischen Fachgebiete mehr geben, d. h., eine politische Einmischung in fachliche Belange wird nicht mehr versucht. (Das bedeutet nicht, dass die Partei nicht weiter in hohem Maße über ihre Kaderpolitik Einfluss auf die Medizin genommen hätte.) Höck bietet zur großflächigen Versorgung psychotherapiebedürftiger Störungen ein gesundheitspolitisch anspruchsvolles »abgestuftes System der Diagnostik und Behandlung neurotisch funktioneller Störungen« an, in dem Psychotherapie jeweils unterschiedlichen Charakter annimmt: in einer eigenständigen therapeutischen Spezialdisziplin bei der Behandlung von Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, als Bestandteil der Komplextherapie in unterschiedlichen klinischen Fächern (insbesondere Innere Medizin, Psychiatrie, Pä­diatrie, Gynäkologie) und der medizinischen Grundbetreuung. In den 1970er Jahren entstehen in allen Bezirken der DDR nach dem Vorbild der be­stehenden Kliniken in Berlin-Hirschgarten (Haus der Gesundheit), der Uni Leipzig oder Uchtspringe stationäre Psychotherapie-Abteilungen (tatsächlich sind auch die Vorbilder den ersten Kliniken in Freiburg i. Br. oder Tiefenbrunn bei Göttingen nachempfunden). Gleichzeitig wird ein ärztliches und psychologisches Weiterbildungsprogramm installiert, das 1978 in die »Facharztweiterbildung Psychotherapie« einmündet. Insgesamt sind es am Ende 40 Kliniken und Abteilungen mit mehr als 800 Psychotherapie-Krankenhausbetten und teilstationären Plätzen (der westlichen psychosomatischen Rehabilitation ähnliche Einrichtungen gibt es in wenigen Kurkliniken). Die psychotherapeutischen Kliniken und Abteilungen

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

sind in der Mehrzahl in der Psychiatrie oder der Inneren Medizin etabliert, sind jedoch relativ eigenständig und werden in der Regel von einem (seit 1978 eingeführten) Facharzt für Psychotherapie geleitet und besitzen die Ermächtigung zur Weiterbildung in Psychotherapie für Ärzte und Psychologen. An beinahe allen staatlichen Kreispolikliniken etablieren sich psychotherapeutische Behandlungsstellen, bezeichnet als »Psychologische Abteilung« oder »Psychotherapeutische Abteilung« oder »Psychotherapeutische Beratungsstelle«. Die Gesellschaft für Ärztliche ­Psychotherapie hat am Ende der 1970er Jahre ca. 600 psychologische, 600 ärztliche und ca. 50 Mitglieder aus anderen Berufsgruppen. Diese Entwicklung bedarf zweifellos auch der Dezentralisierung. In den 15 Bezirken der DDR entstehen ab 1974 regionale Arbeitsgemeinschaften, um die Ärzte der Grundversorgung direkter mit psychotherapeutischen Grundkursen und Balint-Gruppen zu erreichen. Bis zum Ende der Dekade sind 13 Regionalgesellschaften und Arbeitsgemeinschaften ent­ standen. Diese Entwicklung wird flankiert von den zunehmend professioneller gestalteten Weiterund Fortbildungsangeboten der rasch wachsenden Sektionen und Arbeitsgemeinschaften der GÄP. Ausbildungsgänge in Gesprächspsychotherapie, (psycho)dynamischer Einzel- und Gruppenpsychotherapie, Musik- und Kommunikativer Bewegungstherapie, Autogenem Training und Hypnose, später auch in Verhaltenstherapie, erfreuen sich bei Ärzten wie Psychologen oder Angehörigen der mittleren medizinischen Berufe enormen Zuspruchs. Nachdem 1978 trotz erheblicher Widerstände der Psychiatrie der Facharzt für Psychotherapie eingeführt wird, richten sich alle Anstrengungen auf die Durchsetzung des Fachpsychologen in der Medizin (der 1981 eingeführt wird). Die intensive Beschäftigung mit Veränderungskonzepten und psychotherapeutischer Methodik führt folgerichtig zu Bemühungen auf breiter Front, Anschluss an die westlichen Entwicklungen aufrechtzuerhalten oder herzustellen. Dies gelingt bei Gesprächs­ psychotherapie und Verhaltenstherapie leichter als bei den psychoanalytisch/psychodynamischen Verfahren. Trotz dieser Schwierigkeiten ist Anfang der 1970er Jahre jedoch die Psychodynamische Psychotherapie, in welcher Form auch immer, sowohl im stationären als auch ambulanten Bereich des Gesundheitswesens die meistverbreitete ­Therapierichtung in der DDR. Bezeichnet werden die angewendeten Verfahren als In­tendierte Dynamische oder Dynamische oder Psychodynamische Gruppenpsychotherapie oder dynamische oder dynamisch-interaktionelle Einzeltherapie. Angesichts der allgemeinen gesellschaftlichen Umstände im Ostblock ist dieser verwunderliche Tatbestand nur auf dem Hintergrund spezieller gesellschaftlich-kultureller Entwicklungen in der DDR wie auch durch den Einfluss bestimmter Personen erklärlich (s. a. Geyer und König } Abschnitt 4.5.1).

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4.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1970–1979

4.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1970–1979 1970 18. März: Beginn einer Phase innerdeutscher Entspannung und »neuer Bonner Ostpolitik«. Treffen des Bundeskanzlers Willy Brandt mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Erfurt. Christa Kohler veranstaltet in der Leipziger Universitätsabteilung für Neurosenforschung in der Karl-Tauchnitz-Straße 25 (»KT«) 14-tägig zwischen März und Dezember eine DDRoffene Veranstaltungsreihe »Psychotherapiemethoden«, die sich im ersten Jahr insbesondere mit Grundbegriffen der Psychoanalyse und der nondirektiven Gesprächspsychotherapie nach Rogers/Tausch beschäftigt. 08.–10. Oktober: Interdisziplinäre Arbeitstagung der Gesellschaft für Psychologie und der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR über »Forschungsmethoden und Forschungsergebnisse in der Psychotherapie« mit ersten Tonbanddemonstrationen von Gesprächspsychotherapien und Referaten über Forschungsansätze zur Gesprächspsychotherapie. 15. Oktober: Kurt Höck und Helga Hess nehmen an einer Sitzung der Erfurter Selbsterfahrungsgruppe teil. Daraufhin wird eine Kooperation vereinbart, die dazu führt, dass mehrere Mitglieder der Erfurter Selbsterfahrungsgruppe beim Aufbau der Selbsterfahrungskommunitäten der Sektion Gruppenpsychotherapie mithelfen, Jürgen Ott die vorbereitenden Lehrgänge und späteren Kommunitäten zusammen mit Höck und Hess leitet und sieben Mitglieder zu Trainern der Selbsterfahrungskommunitäten werden. 30. Oktober: Protokoll der Vorstandssitzung der Sektion Autogenes Training und Hypnose: Würdigung des »vor kurzem verstorbenen Begründers des Autogenen Trainings J. H. Schultz«, dessen zweifelhafte Rolle im »Dritten Reich« noch nicht bekannt ist. Nachrufe auf »westliche« Wissenschaftler sind in der DDR bis dato eher unüblich.

1971 Erste postgraduale Ausbildungskurse in Gesprächspsychotherapie, seitdem regelmäßig zwei bis drei Wochenkurse pro Jahr über die Gesellschaften für Psychologie bzw. Ärztliche Psychotherapie der DDR, die Akademie für Ärztliche Fortbildung und die Bezirksakademien. Der Theologe Siegfried Ringhandt setzt sich nach seiner Pensionierung für die Etablierung einer Seelsorge-Ausbildung in der evangelischen Kirche ein. In den 1960er Jahren hatte er als Studentenpfarrer in Berlin-Ost versucht, psychoanalytisches Wissen weiterzugeben und eine eigene Studentenberatung praktiziert (Bernhardt u. Lockot 2000). 08.–09. Februar: Veranstaltet von der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED findet in Brandenburg die aus heutiger Sicht wohl zukunftsentscheidende Konferenz zur gesellschaftlichen Rolle von Psychiatrie und Psychotherapie mit dem Titel »Fragen der ideologischen Situation in den Fachgebieten Psychiatrie/Neurologie und Psychologie« mit 300 Teilnehmern statt. Das in völliger Verkennung der Situation verfolgte Ziel der Parteifüh-

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

rung ist es, die DDR-Psychiatrie und Psychotherapie stärker zu ideologisieren und auch zu politisieren. Es ist zu vermuten, dass es – wäre dies gelungen – die langfristige Absicht der Partei war, die Psychiatrie nach dem sowjetischen Vorbild des politischen Missbrauches der Psychiatrie zu gestalten und die Chefärzte zu Handlangern der staatlichen Exekutive zu machen. Mit direkten persönlichen Angriffen besonders auf psychotherapeutisch tätige Psychiater wie die SED-Mitglieder Müller-Hegemann und Harro Wendt sowie Rundumschlägen gegen die publizistischen Aktivitäten aller DDR-Psychiater wird die Konferenz eröffnet. Insbesondere die angeblich »nicht marxistisch-leninistischen Psychotherapieverfahren« werden angeprangert. Das bei Süß (1998) publizierte Stasiprotokoll des IM Grabowski (ein bekannter Psychotherapeut und späteres Vorstandsmitglied der GÄP) zeigt den geschlossenen Widerstand der vorwiegend der SED angehörenden Hochschullehrer und Chefärzte gegen eine solche Politisierung und Ideologisierung der Psychiatrie. So habe z. B. Harro Wendt auf die Anfrage, ob »die psychotherapeutische Gesellschaft der DDR gedenkt, [sich] mit idealistischen psychotherapeu­tischen Konzepten aus westlichen Ländern auseinanderzusetzen«, in Brandenburg »sinngemäß und fast wörtlich« geantwortet: »Was wirft man uns andauernd diese ganzen politischen Dinge vor. Die Chirurgen beschäftigen sich ja auch nicht mit Politik. Psychotherapie in Ostdeutschland und Westdeutschland ist ja doch das gleiche«. Durch mehrere Teilnehmer wird der schlechte Stand der sowjetischen Psychiatrie als wenig vorbildwürdig angesprochen und die Notwendigkeit einer internationalen, politik- und ideologiefreien psychiatrischen Wissenschaft betont. Explizit wird darauf abgehoben, dass die deutsche Teilung für die medizinische und psychologische Wissenschaft keine Gültigkeit habe (Süß 1998, S. 323–328). Die Parteiführung hat (nicht zuletzt nach Kenntnisnahme des IM-Berichtes) diese Konferenz als Fehlschlag eingestuft und danach nie wieder einen derartigen plumpen Versuch unternommen, Psychiater und Psychotherapeuten ideologisch auf Linie zu bringen, jedenfalls existiert weder in den gesundheitspolitischen noch in den MfS-Unterlagen ein Dokument über weitere Einflussnahmen der Art, Therapiemethoden politisch als missliebig einzuordnen (Süß 1998, S. 327). 13.–15. April: 6. Jahreskongress der GÄP in Magdeburg. Die 1969 gegründeten Sektionen und Arbeitsgemeinschaften präsentieren ihre Arbeitsergebnisse. Wendt (chronische Neurosen), Kohler (Forschung und Praxis bei Autogenem Training und Hypnose) und Müller-Hegemann (Ätiologie und Pathogenese des vorzeitigen Leistungsabfalls) leiten jeweils Plenarsitzungen. Es ist der letzte Auftritt Müller-Hegemanns auf einer DDR-Veranstaltung. Durch glückliche Umstände scheitert der Versuch orthodoxer SED-Mitglieder, die fachliche Initiative einer Gruppe junger Erfurter Psychotherapeuten ideologisch als »Infragestellung der führenden Rolle der SED« zu brandmarken (s. meinen Beitrag zur Erfurter Selbsterfahrungsgruppe } Abschnitt 3.5.5). Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird folgender neuer Vorstand gewählt: 1. Vorsitzende: Kohler, Leipzig; 2. Vorsitzender: Höck, Berlin; 1. Sekretär: Marchand, Ballenstedt; 2. Sekretär: Schaeffer, Jena; Schatzmeister: di Pol, Leipzig; Beauftragter für die internationale Arbeit: Katzenstein, Berlin; ferner: H. R. Böttcher, Jena; H. F. Böttcher, Leipzig; Burkhardt, Dresden; Göllnitz, Rostock; Klumbies, Jena; Lehmann, Neuruppin; Ott, Erfurt; Rösler, Rostock; Seidel, Berlin; Szewczyk, Berlin; Wendt, Uchtspringe.

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14. April: Der Vorstand der GÄP diskutiert erstmalig den Plan, die Interessen der Psychotherapeuten der sozialistischen Länder in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe zu bündeln, um mehr Gewicht im eigenen Lande zu bekommen. April: In Ilfeld/Harz findet der erste Wochenlehrgang »Aktive Gruppenmusiktherapie« der Sektion Musiktherapie in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR unter Leitung von Christoph Schwabe, Leipzig, und Karl Rostock, Rostock, für 24 aktive Teilnehmer statt. Ab 1972 treffen sich in Ostberlin regelmäßig Musiktherapeuten um Christoph Schwabe mit Vertretern der Musiktherapie aus Westberlin (Gertrud Katja Loos, Hans-Peter Reinecke, Harm Willms) zum Gedankenaustausch. Ende April: Müller-Hegemann kehrt von einer Dienstreise nach München nicht zurück und schreibt bald darauf das Buch »Das Mauersyndrom«, das die seelischen Folgen der Berliner Mauer behandelt. Er begründet seine Flucht mit massiven Behinderungen seiner publizistischen Tätigkeit (s. a. die Chronik im 2. Kapitel). 2. Jahreshälfte: Der Vorstand erhält die Erlaubnis und das dazu nötige Devisenkontingent im Budget des Generalsekretariats Medizinisch-Wissenschaftlicher Gesellschaften im Gesundheitsministerium (zunächst in Form von Schweizer Franken), die Mitgliedschaft der GÄP in der »International Federation for Medical Psychotherapy« (IFP) zu bean­ tragen. Diese Gesellschaft stellt in den folgenden Jahrzehnten die einzige strukturelle Verankerung der DDR-Psychotherapie in einem westlichen internationalen fach­ wissenschaftlichen Gremium dar. (Ab 1973 werden in unregelmäßigen Abständen Vorstandsmitglieder der IFP an den Jahreskongressen der GÄP mit internationaler Beteiligung teilnehmen. 1973 wird Kurt Höck Mitglied des Präsidiums, 1987 wird Michael Geyer zum Generalsekretär der IFP gewählt werden.) 27. Juli: Nach Angaben des Gesundheitsministerium habe es keine Schweizer Franken für die Begleichung der Mitgliedsgebühren in der IFP zur Verfügung. Es wird ohne weitere Diskussion bei der deutschen Außenhandelsbank in Ostberlin ein Rubelkonto eingerichtet. Jährlich werden 103, 03 Rubel eingezahlt. Mit dem Guthaben sollen die Vorstandsmitglieder der IFP ihre Aufenthalte im Osten finanzieren, was jedoch nie in Anspruch genommen wird. 29.–30. Oktober: 2. Tagung der Sektion Gruppenpsychotherapie, vermutlich in Berlin. 08.–17. Dezember: Erster l0-tägiger Selbsterfahrungslehrgang der Sektion Gruppenpsychotherapie der GÄP zur Ausbildung in Gruppenpsychotherapie mit 40 Teilnehmern in Bad-Schandau.

1972 Im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin erscheinen: Höck, K., Szewczyk, H. Wendt, H. (Hrsg.), Neurosen. Ätiopathogenese, Diagnostik und Therapie; sowie Helm, J., Frohburg, I. (Hrsg.), Psychotherapieforschung. Fragen – Versuche – Fakten. Im Barth-Verlag Leipzig erscheint das erste Buch über die Kommunikative Bewegungstherapie von Christa Kohler und Anita Kiesel: Bewegungstherapie für funktionelle Störungen und Neurosen. Mit einer Schallplatte.

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Harro Wendt führt an der Bezirksnervenklinik Uchtspringe erstmalig »Problemfallseminare«, eine erste ostdeutsche Version der Balint-Gruppen, durch. 01. September: In Erfurt wird neben den bestehenden stationären Betten die erste tagesklinische Psychotherapie-Abteilung (acht stationäre, zwölf teilstationäre Plätze sowie ganztägige Ambulanz) an der Medizinischen Akademie Erfurt unter Leitung von Michael Geyer eröffnet. Die angewandten Methoden: Intendierte Dynamische Gruppen- und Psychodynamische Einzeltherapie, Autogenes Training, Kommunikative Bewegungsund Konzentrative Entspannungstherapie. 2. Jahreshälfte: An der Nervenklinik der Universität Rostock Gründung der Psychotherapie-Station mit 24 Betten unter Leitung von Frau Dr. Löbe. Die angewandten Methoden: Einzel- und Gruppengespräche in Anlehnung an das Konzept der Gesprächstherapie nach Rogers und Tausch.

1973 15.–16. Februar: 3. Tagung der Sektion Gruppenpsychotherapie in Dresden. 13.–15. März: Erstes Symposium der Psychotherapeuten der sozialistischen Länder in Prag auf Initiative der psychotherapeutischen Sektion der psychiatrischen Gesellschaft der ČSSR. Bestandsaufnahme: DDR, Polen und ČSSR: Entwicklung von Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie und der Therapeutischen Gemeinschaft; Ungarn und Jugoslawien: größerer Einfluss der analytischen Orientierung; Sowjetunion: Neurosenauffassung nach Mjassischtschew. Durch die neugegründete Arbeitsgruppe »Psychotherapie sozialistischer Länder« werden im Dreijahresrhythmus Tagungen ausgerichtet. Die 1976 veröffentlichten Prager Thesen der Psychotherapeuten sozialistischer Länder betonen die Verantwortung der Gesundheitsministerien der Ostblockstaaten für die Entwicklung der Psychotherapie (s. Anhang III.1). 25.–27. April: 7. Jahreskongress der GÄP in Erfurt. 1. Tag (Leiter Seidel): Psychotherapie und Gesellschaft, 2. Tag (Leiter Höck): Integration der Psychotherapie in die Medizin. 3. Tag (Leiter Katzenstein): Neuere Ergebnisse aus Forschung und Praxis. Der Kongress fordert erstmals in aller Deutlichkeit die Integration psychotherapeutischen Denkens und Handelns in die Medizin. Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird folgender neuer Vorstand gewählt: 1. Vorsitzender: Höck, Berlin; 2. Vorsitzende: Katzenstein, ­Berlin; Sekretär: Szewczyk, Berlin; Schatzmeister: di Pol, Leipzig; ferner: H. R. Böttcher, Jena; H. F. Böttcher, Leipzig; Franz, Berlin; Göllnitz, Rostock; Helm, Berlin; König, Berlin; Seidel, Berlin; Wendt, Uchtspringe; Marchand, Ballenstedt; Schaeffer, Jena. Dieser Kongress markiert den Beginn einer systematischen Entwicklung der Spezial- und Querschnittdisziplin Psychotherapie. Im Arbeitsplan des neuen Vorsitzenden sind sowohl die notwendigen Schritte zur Etablierung eines Psychotherapiespezialisten als auch die weitere Entwicklung der Psychotherapie als integrativer Bestandteil der klinischen Medizin und der ärztlichen Grundversorgung konzipiert. Zur Anbahnung letzterer Aktivitäten soll die GÄP regionale Gliederungen erhalten. April: Eine Studienreform des Medizinstudiums führt zur Errichtung von Lehrstühlen für Medizinische Psychologie an einigen Universitäten.

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6. Juli: Der Vorstand beschließt eine Konferenz unter Leitung des 1. Vorsitzenden Höck mit Kollegen, die sich für einzelne Regionen/Bezirke der DDR verantwortlich fühlen. Folgende Personen sind zunächst in der Diskussion: König für Berlin und Frankfurt/Oder, di Pol für Leipzig, Gerhard Schultz für Magdeburg und Potsdam, Schaeffer für Suhl, Erfurt, Gera, Blum für Dresden, Gunia für Rostock, Schwerin und Neubrandenburg. Den betreffenden Kollegen sollen die Mitgliederlisten ihrer Region zu Verfügung gestellt werden. Dies ist der Beginn einer systematischen Regionalarbeit in der DDR. Bis Ende 1976 werden bereits 13 Regionale Arbeitsgemeinschaften ihre Arbeit aufgenommen haben. Höck entwickelt ein »Gestuftes System der Psychodiagnostik und Psychotherapie«. Es sieht für die Psychotherapie den Einsatz vor: als eigenständige therapeutische Spezialdisziplin bei der Behandlung von Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, als Teil einer Komplextherapie bei der Behandlung ausgewählter Störungsformen in unterschiedlichen klinischen Fächern (insbesondere Innere Medizin, Psychiatrie, Pädiatrie, Gynäkologie) und als Querschnittdisziplin in der medizinischen Grundbetreuung im Sinne einer »Medizinischen Psychologie« (insbesondere zur Kompensation psychoreaktiver Störungen, zur Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens, der Optimierung von Arzt-Patient-Beziehungen, zur Vermeidung iatrogener Schädigungen). Auf allen diesen Ebenen schließt psychotherapeutische Arbeit auch psychoprophylaktische und rehabilitative Maßnahmen ein.

1974 Gründung der »Thematischen Arbeitsgemeinschaft Gesprächspsychotherapie« in der Gesellschaft für Psychologie der DDR – ab 1975 auch als »Arbeitsgruppe Gesprächspsychotherapie« in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR und ab 1981 als deren »Sektion Gesprächspsychotherapie« 23.–25. Januar: Internationales Ostsee-Symposium für Klinische Psychologie der Gesellschaften für Psychologie, für ärztliche Psychotherapie sowie für Psychiatrie und Neurologie der DDR in Warnemünde 2.–5. April: Tagung Reinhardsbrunn 13.–25. Mai: Beginn der ersten systematischen »Ausbildungskommunität für Gruppenpsychotherapie« in Klein-Pritz (Mecklenburg) unter Leitung von Kurt Höck, Jürgen Ott und Peter Urban (Prag). 11. Juli: Die im Auftrag des Vorstandes der GÄP gebildete Arbeitsgruppe für die Ausbildung von Ärzten verschiedener klinischer Fachgebiete (König, Kohler, di Pol) erarbeitet eine Empfehlung für die Regionalarbeit: Es soll eine inhaltlich einheitliche Fortbildung für Ärzte verschiedener Fachgebiete konzipiert und erarbeitet werden. Nach einführenden Vorträgen soll Autogenes Training in Kursform vermittelt werden. Darüber hinaus sollen ca. 10-tägige Kurse zur psychosomatisch-psychotherapeutischen Fortbildung nach Möglichkeit regional geplant und durchgeführt werden. Die entsprechenden Inhalte sollten durch die Regionalbeauftragen gemeinsam erarbeitet werden. Noch im gleichen Jahr gründen sich regionale Arbeitsgemeinschaften in Erfurt (Geyer) und Potsdam (Seefeldt), in den folgenden Jahren in allen Bezirken der DDR.

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16. September: Die Vorstandsitzung der GÄP bereitet den 8. Jahreskongress in Magdeburg vor (ursprünglich 1975 geplant, aber wegen organisatorischer Probleme auf 1976 verschoben). Der zweite Tag soll der Fortbildung von Ärzten verschiedener Fachgebiete ­dienen. König schlägt Bildungsetappen von der allgemeinen Information über die Be­fähigung zur Indikationsstellung für Psychotherapie bis hin zu Siebtestdiagnostik, Entspannungs- und verbalen Beeinflussungsmethoden vor. 23.–26. Oktober: Die Sektion Autogenes Training und Hypnose der GÄP führt einen ersten Übungs- und Selbsterfahrungskurs, geleitet von Alfred Katzenstein, durch. 14.–15. November: Arbeitstagung der Sektion Gruppenpsychotherapie in Dresden. Darstellung dynamischer Gesetzmäßigkeiten in der Entwicklung geschlossener Gruppen und sich daraus ableitender methodischer Prinzipien durch Kurt Höck, Referat »Übertragung und Gegenübertragung in der Gruppenpsychotherapie« von Jürgen Ott. November: X. Tagung der Medizinischen Gesellschaft der DDR zum Studium der Lebensbedingungen und der Gesundheit mit 700 Teilnehmern. Thema: »Sexualverhalten und unsere gesellschaftliche Verantwortung«. In der Zeitschrift »Sexualmedizin« (1975, S. 580–585) ist darüber zu lesen: »Der Kongress hat an vielen Indikatoren deutlich werden lassen, dass sich in der DDR gegenwärtig eine Tendenzwende in der Sexualforschung und ihrer praktischen Anwendung vollzieht. Wichtigstes Indiz dafür ist zweifellos, dass nach 25 Jahren DDR solch ein Kongress überhaupt stattfand.« In Rostock wird durch die neue Stationsleitung (Peter Wruck) ambulante Einzel-Langzeittherapie nach neoanalytischem Konzept neben Intendierter Dynamischer Gruppen­ psychotherapie und anderen Verfahren angeboten.

1975 06.–09. Januar: Eine Konferenz der Regionalbeauftragten der GÄP in Bad Freienwalde einigt sich auf ein Lehrprogramm, das »Grundkurs Allgemeine Psychotherapie« genannt wird. Damit wird ein je nach regionalen Gegebenheiten als Block- oder mehrzeitige Veranstaltung durchführbarer Kurs inhaltlich strukturiert, in den auch das Autogene Training integriert werden kann. Es wird eine Redaktionskommission (Behrends, Klumbies, Kruska, Kulawik und Schaeffer) unter Leitung von König zur Ausarbeitung bestimmt (s. a. den Beitrag von Geyer, König und Scheerer } Abschnitt 4.6.1). Gründung der Arbeitsgemeinschaften »Gesprächspsychotherapie« und »Verhaltenstherapie« in der GÄP. 23. Juni: Der Vorstand diskutiert einen Entwurf von König für einen Psychotherapiegrundkurs, der in den entstehenden regionalen Arbeitsgemeinschaften den Ärzten der Grundversorgung vermittelt werden soll. Es erscheint: Hausner, M., Kratochvil, S., Höck, K.: Psychotherapie in Sozialistischen Ländern. Leipzig: VEB Georg Thieme, das die Ergebnisse des Symposium in Prag 1973 enthält (s. o.).

1976 01. Januar: Unter der Leitung von Klaus Weise (Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität Leipzig) wird der Teilbereich »Funktionelle und psychisch bedingte Krank-

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heiten und Störungen« des Forschungsprojektes »Psychonervale Störungen« des Gesundheitsministeriums bis 1980 weitergeführt. Schwerpunkte sind in Leipzig und am Haus der Gesundheit Berlin (Basisversorgung und spezialisierte Psychotherapie) verankert. Juli: Christoph Schwabe verteidigt seine Habilitationsschrift »Methodik der Musiktherapie und deren theoretische Grundlagen« als erste Habilitationsschrift mit einem musiktherapeutischen Thema in Deutschland an der Universität Halle-Wittenberg. 08.–10. November: 8. Jahreskongress der GÄP mit internationaler Beteiligung in Dresden. Thema: Soziodynamische Aspekte in der Psychotherapie. 600 Teilnehmer aus der DDR, Gäste aus Sowjetunion, Polen, ČSSR, Ungarn, Österreich, Westberlin. Grundsatzreferat von Karl Seidel und Helmut Kulawik: »Über das Verhältnis von Unbewusstem und Motivation bei der Festlegung von Therapiekonzepten«, in dem eine stärkere Erforschung des Unbewussten gefordert wird. Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird folgender neuer Vorstand gewählt: 1. Vorsitzender: Katzenstein, Berlin; Stellv. Vors. für Aus- und Weiterbildung: König, Berlin; Stellv. Vors. für Wissenschaft und Forschung: Böttcher, Leipzig; Stellv. Vors. für Information: Peper, Königsbrück; 1. Sekretär: Kulawik, Berlin; 2. Sekretär: Geyer, Erfurt; Schatzmeister: Kriegel, Berlin; ferner: Höck, Berlin; Kleinpeter, Rostock; Szewczyk, Berlin; Thom, Leipzig; Wendt, Uchtspringe. Der Leiter des Diakonischen Qualifizierungszentrums beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirchen, Pfarrer Wilfried Schulz, konzipiert eine Seelsorge-Ausbildung in der Evangelischen Kirche gemeinsam mit Werner Becher und Infrid Tögel. Es erscheinen die Bücher: Helm, J., Rösler, H.-D. u. Szewczyk, H. (Hsgb.) (1976). Klinischpsychologische Forschungen. Ergebnisse und Tendenzen. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften; sowie: Höck, K., König, W.: Neurosenlehre und Psychotherapie. Jena: Fischer-Verlag; sowie die »Fibel für Autogenes Training« von König, di Pol, Schaeffer im selben Verlag.

1977 19. Januar: 1. Sitzung des neugewählten Vorstandes. Ab diesem Zeitpunkt ist M. Geyer Mitglied des Vorstandes und fast bei allen Sitzungen anwesend. (Ich bin durch die Tatsache irritiert, dass bereits vor der Sitzung die SED-Mitglieder des Vorstandes eine interne Vorbesprechung veranstaltet haben. Es stellt sich später heraus, dass dies offenbar der Unterstützung von Katzenstein dient, der auf diese Weise für jeden seiner Vorschläge die Rückendeckung der Parteigruppe besitzt. Ich tausche mich mit Höck und Kulawik darüber aus, dass dies nicht hinnehmbar sei. Es gelingt jedoch erst gegen Ende der Legislaturperiode, diese Praxis zu beenden. Dieser Sachverhalt wird in keinem Protokoll erwähnt.) Der neue Vorsitzende Alfred Katzenstein, dem die Parteiverfahren gegen die Abweichler von der Parteilinie in den 1950er Jahren noch deutlich in den Knochen stecken (persönliche Mitteilung von Katzenstein 1979), ist – nun mit der Verantwortung des Vorsitzes belastet – noch stärker als von ihm gewohnt um politisch-ideologische Korrektheit bemüht. Er legt dem Vorstand seinen Arbeitsplan vor, der entsprechende Aufgaben konzipiert und in dem die Kompatibilität von Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie

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und Psychoanalyse mit dem Marxismus bewertet werden soll. Der Vorstand der GÄP sieht sich dazu nicht imstande und beschließt, Achim Thom, marxistisch-leninistischer Philosoph und Medizinhistoriker an der Karl-Marx-Universität Leipzig, in den Vorstand der Gesellschaft zu kooptieren. Psychotherapeutische Methoden sollen durch ihn gesellschaftspolitisch legitimiert werden. Als aktuelle Themen sollen Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie aus der Sicht marxistischer-leninistischer Philosophie und neue Entwicklungstendenzen des psychoanalytischen Denkens aus der Sicht der marxistisch-leninistischen Persönlichkeitstheorie bearbeitet werden. Unter dem Punkt »Verschiedenes« wird bekanntgegeben, dass Dr. med. Beerholdt aus Leipzig der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie ein Vermächtnis über 3000 Mark vererbt hat. Der Vorstand beschließt, dieses Geld für eventuell zu schaffende Preise der Gesellschaft zu verwenden. Seit diesem Zeitpunkt beschäftigt sich der Vorstand mit der Schaffung einer Medaille bzw. Preises für besondere Leistungen. 10. März: Nach Genehmigung des entsprechendes Antrages vom 10.08.1976 wird als erste Regionalgesellschaft der DDR die »Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Erfurt« gegründet (Vorsitzender Geyer). Sie hat 80 Mitglieder, führt im laufenden Jahr acht Grundkurse für Allgemeinmediziner und zwei Arbeitstagungen sowie mehrere Balint-Gruppen auf Kreisebene durch. Weitere zwölf Regionale Arbeitsgemeinschaften in fast allen Bezirken der DDR werden in den kommenden Jahren in Regionalgesellschaften umgewandelt. 04. Mai: Der für die Regionalarbeit zuständige 2. Sekretär Geyer berichtet an den Vorstand: Seit 1973 haben sich 13 Regionale Arbeitsgemeinschaften auf Bezirksebene gebildet. In diesen werden jeweils ein bis neun Grundkurse pro Jahr durchgeführt und alle veranstalten mindestens eine Tagung pro Jahr. In fast allen Gliederungen werden sog. Problemfallseminare und/oder Balint-Gruppen für Ärzte der Grundversorgung angeboten. Teilweise – besonders bei der Durchführung von Balint-Gruppen und Grundkursen – ist eine weitere Dezentralisierung auf Kreisebene gelungen. 14. September: Vorstandssitzung der GÄP: Achim Thom, Alfred Katzenstein und Harro Wendt referieren zu dem Thema »Neue Entwicklungstendenzen des psychoanalytischen Denkens aus der Sicht marxistisch-leninistischen Theorie der Persönlichkeit. Ist die Psychoanalyse auf dem Weg zu einer wissenschaftlichen Theorie?«. Im Vorstandsprotokoll wird ausgeführt, dass das Referat die Psychoanalyse kritisiert. Nach meinen Aufzeichnungen wird ziemlich offen darüber diskutiert, ob die Zeit bereits reif sei, psychoanalytisch orientierte Psychotherapieverfahren, die bereits angewendet werden, offiziell als solche zu bezeichnen. Katzenstein ist da am vorsichtigsten, auch Harro Wendt ist eher zurückhaltend, während Kulawik keine Bedenken hat. Es bedarf nur eines Beschlusses, der die Mehrheit der Anwesenden gehabt hätte. Katzenstein und Wendt lassen es nicht dazu kommen. Es deutet sich an, dass man zunächst von Thom erwartet, insbesondere diese Methodik ideologisch salonfähig zu machen. 25.–28.Okober: V. Kühlungsborner Arbeitstagung der Klinischen Psychologen unter Leitung von H. D. Rösler mit dem Thema »Theoretische und ideologische Fragen der Klinischen Psychologie«. Es gibt sieben, wenn auch meist außerordentlich kritische Vorträge zu psychoanalytischen Themen. Dennoch stellt die Tagung damit ein Novum dar. Vor-

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tragende sind Jürgen Ott, Klaus Groschek, Alfred Katzenstein, Hans Dieter Schmidt, K. Kugler, M. Fuchs-Kittowski, Hans R. Böttcher. 30. November: Vorstandssitzung der GÄP. Schreiben an das ZK der SED, Abteilung Gesundheitspolitik, mit der Bitte um außerordentliche Facharztanerkennung für 30 hauptamtlich psychotherapeutisch tätige Ärzte. 13. Dezember: Vorstandssitzung der GÄP. Diskussion der Stiftung eines John-RittmeisterPreises. »John Rittmeister war ein antifaschistischer Psychotherapeut, 1898–1943, der von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde« (s. den Beitrag zur John-RittmeisterMedaille im Anhang). Johannes Helm an der Humboldt-Universität zu Berlin verteidigt seine Habilitation zur Gesprächspsychotherapie. Es erscheint: Friedrich, W. (Hrsg.), Kritik der Psychoanalyse und biologistischer Konzep­ tionen. Mit Beiträgen von Lucien Seve, Siegfried Kätzel, Walter Hollitscher und Walter Friedrich. Deutscher Verlag der Wissenschaften Berlin. Aus dem Vorwort: »Obwohl ­psychoanalytische Konzeptionen bürgerliche Sozialwissenschaften durchdrungen haben, überrascht der Mangel an kritischer Literatur zur Psychoanalyse im DDR-Schrifttum.«

1978 10.–11. April: Die Vorsitzenden der 13 regionalen Arbeitsgemeinschaften und Regionalgesellschaften treffen sich zu einer Klausurtagung in Winterstein im Thüringer Wald. Sie stimmen die Inhalte der Grundkurse weiter ab, verständigen sich über die Grundzüge der Balint-Arbeit und verabreden die Zusammenarbeit zwischen den Regionen. 14. April: Nach einem positiven Votum des Vorstandes der GÄP in der Vorstandssitzung am 15.02.1978 bildet sich in Uchtspringe eine Arbeitsgemeinschaft »Psychotherapeutisches Gespräch« innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR mit dem Ziel, eine persönlichkeitszentrierte Einzeltherapie theoretisch und methodisch zu entwickeln, die zusammen mit Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie eine Sektion Einzelpsychotherapie bilden sollte. (Von nun an kommt dieses Anliegen jährlich auf die Tagesordnung, führt allerdings erst 1982 zur Gründung der Sektion Dynamische Einzeltherapie. Eine Sektion »Psychotherapeutisches Gespräch« wird nie gegründet.) 20. April: Vorstandssitzung der GÄP. Es wird der Beschluss gefasst, die Stiftung einer »JohnRittmeister-Medaille« für besondere Verdienste um die Entwicklung der Psychotherapie zu beantragen. Darüber hinaus soll in der nächsten Legislaturperiode ein Preis für besondere wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinischen Psychologie gestiftet werden. Katzenstein informiert den Vorstand, dass Alexander Mette, zu dieser Zeit bereits 80 Jahre alt, der Gesellschaft eine größere Summe (die genaue Summe war nicht zu eruieren, da die Kasssenbücher für den Zeitraum zwischen 1973 und 1980 fehlen) für einen wissenschaftlichen Preis gespendet habe. Er verbindet damit die Forderung, dieser Preis solle nicht mit seinem Namen verbunden werden. Mai: Veröffentlichung der Erstauflage »Regulative Musiktherapie« von Christoph Schwabe.

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Juni: Veröffentlichung der Erstauflage »Methodik der Musiktherapie und deren theoretische Grundlagen« von Christoph Schwabe bei Johann Ambrosius Barth Leipzig. August: Die gesetzliche Regelung des Zweitfacharztes für Psychotherapie ist verabschiedet. Es existiert auch ein Beschluss der Akademie für Ärztliche Fortbildung über die Notwendigkeit eines fünfjährigen postgradualen Studiums der Klinischen Psychologen zum »Fachpsychologen im Gesundheitswesen«. 06. September: Vorstandssitzung der GÄP: Weiterführung der Diskussion der dialektischmaterialistischen Einstellung zur Psychoanalyse. Zu neueren Entwicklungen der therapeutischen Praxis seien Aussagen nur begrenzt möglich, da Informationslücken beständen. Aus dem Protokoll: Die »strenge Freud’sche Bindung ans analytische Setting wird weitgehend verlassen«, wie z. B. in der Familientherapie, analytischen Gruppenpsychotherapie und Kurztherapie. Psychoanalyse in Institutionen führe zur Parteienbildung, was sich in Spannungen in der BRD und Westberlin äußere. »Freudomarxisten« sind scheinbar nicht institutionalisiert und veröffentlichen kaum. Kritik der Psychoanalyse sei »zunächst Kritik des psychoanalytischen Biologismus, Individualismus, Agnostizismus, Irrationalismus, Genetizismus usw. Holzkamp und Mitarbeiter bemühen sich auch um positive Kritik der Psychoanalyse.« 1978–1979 leiten Wilfried Schulz und Infrid Tögel eine Fallbesprechungsgruppe (Problemfallseminar) für Seelsorger der DDR-Kirchen, angelehnt an die Fallbesprechungen von Harro Wendt in Uchtspringe. 21. November: Nach Genehmigung des entsprechendes Antrages vom 03.02.1978 wird als zweite psychotherapeutische Regionalgesellschaft der DDR die »Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Potsdam« gegründet (Vorsitzender Seefeldt, s. a. den Beitrag in diesem Kapitel). In den folgenden zwölf Monaten wird angesichts der Erfüllung aller Kriterien auch die Umwandlung der Arbeitsgemeinschaften der Bezirke Dresden (Vors. Blum), Jena (Vorsitzender Schaeffer), Leipzig (Vors. di Pol), Suhl (Vors. Benkenstein), Berlin (Vors. Eichhorn) und Magdeburg (Vors. G. Schultz) in Regionalgesellschaften für Psychotherapie vom Vorstand gebilligt. 29. November: Die Dachgesellschaft für Klinische Medizin genehmigt die Stiftung der »John-Rittmeister-Medaille«. Die Verleihungsordnung soll jedoch noch in einigen Punkten verändert werden. Es erscheint: Helm, J. (1978). Gesprächspsychotherapie. Forschung – Praxis – Ausbildung (2. Aufl. 1979, 3. Aufl. 1981). Berlin: VEB Verlag der Wissenschaften. 1980 Reprint Darmstadt: Steinkopf. Es erscheint: König, W. (4. Aufl. 1978). Psychologie im Gesundheitswesen. Berlin, ein Fachbuch für die Vermittlung von Grundkenntnissen in Psychologie und Psychotherapie für die Fachschulausbildung des sog. mittleren medizinischen Personals.

1979 19. April: Vorstandssitzung der GÄP. Es geht um die Vorbereitung des nächsten Jahreskongresses in Leipzig, die Konzeption der in Gründung befindlichen AG Weltanschauliche und ethische Probleme der Psychotherapie (Achim Thom), den von Wendt gestellten

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4.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1970–1979

Antrag zur Gründung einer Sektion Einzeltherapie und die zukünftige Struktur und den Namen der Gesellschaft. Es wird nach langer Diskussion beschlossen, die Gründung einer Sektion Einzelpsychotherapie der Mitgliederversammlung auf dem nächsten Jahreskongress vorzuschlagen. Diese Sektion soll drei Arbeitsgemeinschaften enthalten: Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie und Psychodynamische Psychotherapie. Diese Bezeichnungen werden nicht im Protokoll genannt, sondern nur in der Diskussion erörtert (ich selbst war anwesend). Stattdessen ist im Protokoll von Arbeitskreisen Wendt, Dummer und Frohburg die Rede. Zur künftigen Struktur und Namensänderung der GÄP werden drei Vorschläge abgestimmt: Gesellschaft für Psychotherapie und Medizinische Psychologie, Gesellschaft für Psychotherapie und der bisherige Name. Mit großer Mehrheit wird der 2. Vorschlag »Gesellschaft für Psychotherapie der DDR« angenommen. Er soll ebenfalls auf der Mitgliederversammlung zur Abstimmung gebracht werden. Die Liste der zu wählenden neuen Vorstandsmitglieder wird diskutiert. Alfred Katzenstein soll wieder als Vorsitzender kandidieren. Es gibt einen Eklat: Kurt Höck stellt die Eignung Katzensteins, der Psychologe sei, als Vorsitzender in Frage. Er findet es besser, einen Facharzt für Psychotherapie für den Vorsitz kandidieren zu lassen. In großer Erregung stellt Katzenstein diese Bemerkung als antisemitischen Affront dar. Die Anwesenden versuchen zu beschwichtigen und Höck beharrt nicht auf seinem Vorschlag. 06. Juni: Vorstandsitzung der GÄP. Der Vorschlag der Sektionsgründung »Einzeltherapie« wird präzisiert. Jetzt sollen die Arbeitsgemeinschaften, die die Sektion bilden sollen, offiziell folgendermaßen heißen: »Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie und Persönlichkeitszentrierte Psychotherapie«. (Der Vorschlag der Sektionsgründung findet später keine Zustimmung der Mitgliederversammlung und wird nicht wieder aufgegriffen. Eine Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie wird 1981 gegründet.) Nach längerer Diskussion mit Schwabe (Musiktherapie), Wilda-Kiesel (Kommunikative Bewegungstherapie) und Denner (Biblio- und Gestaltungstherapie) wird beschlossen, die Gründung einer Sektion Soziotherapeutische Methoden, bestehend aus Musik-, Bewegungs-, Biblio- und Gestaltungstherapie, der Mitgliederversammlung vorzuschlagen. (Diese Sektionsgründung wird realisiert, wird aber kein Erfolg. Die AG Kommunikative Bewegungstherapie wird später in der Sektion Gruppenpsychotherapie, die AG Konzentrative Entspannung in der Sektion Autogenes Training und Hypnose eine Heimstatt finden.) 11.–13. September: 9. Jahreskongress der GÄP in Leipzig. Leitung Alfred Katzenstein. Thema: Psychotherapie in der Entwicklung. Stiftung der Dr.-John-Rittmeister-GedenkPlakette für besondere Verdienste um die Psychotherapie. Die Medaille wird auf dem Kongress an Eva Rittmeister-Hildebrand, die Witwe Rittmeisters, Alexander Mette, Karl Leonhard, Harro Wendt und Christa Kohler verliehen. Der in DDR Archiven lagernde Stummfilm »Geheimnisse einer Seele« über die Psychoanalyse von G. W. Pabst von 1926, der mit Beratung durch K. Abraham und H. Sachs entstand, wird gezeigt. Auf diesen Film wurde Alfred Katzenstein von Paul Ries, einem amerikanischen Filmhistoriker; aufmerksam gemacht (Bernhardt u. Lockot 2000). Höck verteilt anlässlich des 30. Jahrestages der Gründung der DDR an alle Mitglieder der Gesellschaft eine zweibändige Doku-

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

mentation »30 Jahre Psychotherapie in der DDR«, die u. a. sämtliche psychotherapeutische Publikationen der letzten 30 Jahre enthält. Die GÄP hat 1200 Mitglieder und es gibt in der DDR 40 stationäre psychotherapeutische Einrichtungen mit 800 Betten. Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird folgender neuer Vorstand gewählt: 1. Vorsitzender: Katzenstein, Berlin; Stellv. Vors. für Aus- und Weiterbildung: König, Berlin; Stellv. Vors. für Forschung: Ott, Berlin; Stellv. Vors. für Information: Peper, Königsbrück; 1. Sekretär: Geyer, Erfurt; 2. Sekretär: Jun, Berlin; Schatzmeister: Kriegel, Berlin; ferner: Höck, Berlin; Kleinpeter, Rostock; Seefeldt, Berlin; Thom, Leipzig; Wendt, Uchtspringe. 13. Oktober: Gesundheitsminister Mecklinger verleiht Helga Hess »für ihre wissenschaftlichen Leistungen auf dem Gebiet der Kinderpsychotherapie, insbesondere für die Entwicklung und Standardisierung von Siebtestverfahren zur Neurosendiagnostik« den Rudolf-Virchow-Preis, einen angesehenen Wissenschaftspreis der DDR. 17.–19. Oktober: 3. Internationales Symposium der sozialistischen Länder für Psychotherapie in Leningrad. Thema: Formen und Methoden von Psychotherapie, Ausbildungsfragen, Psychotherapie bei Neurosen, bei Alkoholismus und bei psychiatrischen Patienten. In der evangelischen Kirche beginnt die offizielle Seelsorge-Ausbildung mit Elementen der Gesprächstherapie und tiefenpsychologischen Inhalten, im letzteren Kurs befinden sich insbesondere Schüler von Siegfried Ringhandt. September: Es beginnt ein Forschungsprojekt der »Abteilung für Psychotherapie und ­Neurosenforschung« am Haus der Gesundheit Berlin: Eine vollständige auf Video dokumentierte Therapiegruppe, die mit Intendierter Dynamischer Gruppentherapie behandelt wird, wird von verschiedenen Forschungsansätzen her untersucht (s. die Beiträge über Forschung im HdG }Abschnitte 3.5.1.3, 4.8.1.1 und 5.3.2.2). 16. November: Gründung der AG Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe in der Frauenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg. Zum Leiter wird Paul Franke, Magdeburg, gewählt. Es erscheint: Helm, J., Rösler, H.-D., Szewczyk, H. (Hrsg.) (1979). Klinische Psychologie – Theoretische und ideologische Probleme (2. Aufl. 1981). Berlin: VEB Verlag der Wissenschaften der DDR. Hans Hiebsch und Manfred Vorwerg veröffentlichen im Grundlagenlehrbuchprogramm der DDR das Lehrbuch »Sozialpsychologie«.

4.3 Werner König: Das abgestufte System der Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen Kurt Höck hatte sich in der Diskussion um die Neurosendefinition vor und in Bad Elster 1969 auf die Ätiopathogenese der Neurosen konzentriert und wollte mehr erreichen als eine definitorische Vereinbarung, die nach Klumbies »keine Erkenntnisse, sondern Festlegungen im Interesse der gegenseitigen Verständigung« zum Ziel hat. Ihn bewegte über die Verständigung im Vorstand die Konzeption einer Neurosenlehre, die beim aktuellen Stand des Fachgebietes wissenschaftlich soweit vertretbar und anerkannt ist, dass sie als entscheiden-

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4.3  Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen

der Baustein in Aus-, Weiter- und Fortbildung verwendet werden kann. Sein Interesse war die Verbreitung psychotherapeutischer Kenntnisse zur Verbesserung der Versorgung. Unter dieser seiner Zielstellung hatte er die Diskussion zum Neurosebegriff 1974 im Potsdamer Cecilienhof geleitet. Das Ergebnis war unbefriedigend. Dem war bereits vorausgegangen, dass ich Höck in einem Gespräch bei einer Tagung in Schwerin vorgeschlagen hatte, die unter seiner Leitung im HdG entstandenen und dort vertretenen Auffassungen zur Neurosenlehre und zur Versorgungsstrategie einfach in einem kleinen Buch an die Ärzte der Grundbetreuung heranzutragen. Das sei zu früh und was denn da wohl drinstehen sollte, war seine Entgegnung. Eine halbe Stunde später legte ich ihm eine Gliederung für Höck/König: »Psychotherapie und Neurosenlehre« vor. Er stimmte schnell zu und an diesem Entwurf gab es nur geringfügige Änderungen. Höck war nicht nur voller eigener Ideen, die er durchzusetzen verstand, sondern auch kooperationsbereit und durch andere zu begeistern. Ich hatte gerade vom Haus der Gesundheit zum Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus gewechselt, war aber mehrere Jahre sein Stellvertreter und saß mit ihm im Vorstand der GÄP, so dass mir seine fachlichen Anliegen bestens vertraut waren. Auch hatten wir auf dem Kongress der Gesellschaft 1973 in Erfurt in einem gemeinsamen Vortrag »Aufgaben und Bedeutung der Psychotherapie in der modernen Medizin« ein »abgestuftes diagnostisch-therapeutisches System der Betreuung von Patienten mit funktionellen und neurotischen Erkrankungen« als eine Notwendigkeit genannt, aber noch nicht ausformuliert. Rückblickend lässt sich sagen, dass in diesem Buch die wichtigsten Anliegen Höcks neben der Gruppenpsychotherapie zusammenfassend dargestellt sind. Dieses Büchlein ist sicher keine bemerkenswerte wissenschaftliche Leistung, es traf aber einen bestehenden Bedarf sehr gut und wurde nicht nur von der Grundbetreuung, sondern auch von den tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapeuten interessiert aufgegriffen. Der Kern ist das abgestufte System der Diagnostik und Therapie neurotischer Störungen, aus dem sich die übrigen Inhalte ableiten. Wohl überwiegend aus seiner Erfahrung als Allgemeinmediziner und Gesundheitspolitiker – er war zwei Jahre Bezirksarzt von Berlin – beschäftigte Höck Psychotherapie nicht nur mit ihren ätiologischen und methodischen Problemen, sondern auch mit den Möglichkeiten ihrer breiten Durchsetzung in der Versorgung oder, wie eine damals viel gebrauchte Formulierung lautete, ihrer Integration in die Breite der Medizin. Die Idee, dass eigentlich jeder Arzt elementare psychotherapeutische Kenntnisse brauche, ist nicht sonderlich originell. Das abgestuften System Höcks geht aber weit darüber hinaus und ist in Folgendem bemerkenswert: – Es war aus den praktischen Bedürfnissen abgeleitet und so auf das gegebene Gesundheitssystem abgestimmt, dass es umsetzbar war. – Die enthaltenen fachlichen Anforderungen und Angebote wurden so konzipiert, dass sie sofort angenommen, aufgegriffen und weitergeführt wurden. – Insbesondere gelang es Höck in konsequenter Ableitung aus dieser Idee, den Anstoß zur Schaffung von regionalen Arbeitsgruppen, später Regionalgesellschaften für Psychotherapie zu geben und damit eine breite Umsetzung in die Grundbetreuung zu erreichen, die zugleich eine erhebliche Stärkung der Gesellschaft für Psychotherapie mit sich brachte.

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Ein Ausgangsgedanke Höcks, der später auch bei der Schaffung der psychosomatischen Grundversorgung in der Bundesrepublik eine wichtige Rolle spielt, ist: Sollen die Patienten, die eine psychotherapeutische Behandlung erfahren, nicht nur eine zufällige Auswahl sein, müssen psychogene Störungen in der Grundversorgung erfasst werden und der geeigneten Betreuung zugeführt werden. Die erste Stufe umfasst die Aufgaben in der Grundbetreuung. Höck und König beschreiben diese Aufgaben und die Mittel und Wege dazu: In einer etwa halbstündigen Exploration ist die Entscheidung zu treffen, ob eine psychogene Störung vorliegt und welchen Schweregrad sie hat, um daraus therapeutische Konsequenzen zu ziehen. Die explorative Diagnostik wird durch zwei von Höck und Hess entwickelte Siebtestverfahren unterstützt, den Beschwerdenfragebogen (BFB) und den Verhaltensfragebogen (VFB). Der BFB misst Neurotizismus mit einer Empfindlichkeit von 87 % und einer Spezifität von 82 %. Die Ausfüllung durch den Patienten dauert wenige Minuten, die Auswertung durch Schablone geht sehr schnell und die Interpretation ist einfach. Der VFB ist eine Überprüfung der Aussage des BFB von der Verhaltensseite, enthält aber auch eine Einstellungsskala, die auf Dissimulationen hinweist. Diese Tests kamen der Denkungsart der Ärzte der Grundversorgung in ihrer einfachen Handhabbarkeit, zugleich aber auch Wissenschaftlichkeit, sehr entgegen und trugen deutlich dazu bei, Unsicherheiten und Vorbehalte gegenüber der Psychodiagnostik abzubauen. Die Exploration ist tiefenpsychologisch orientiert. Fachtermini wurden aber bei ihrer methodischen Beschreibung so weit wie möglich vermieden und in einfache Sprache übersetzt. »Kernstück der Neurosendiagnostik« ist die auslösende Situation mit zeitlichem und psychodynamischem Zusammenhang zum Auftritt der Symptomatik. Gelingt es nicht, die auslösende Situation zu eruieren, liegt entweder keine neurotische Störung vor, ist die Beziehung gestört oder die auslösende Situation verdrängt. Es empfiehlt sich eine spätere Nachexploration. Bei starkem Leidensdruck und sicherer somatischer Ausschlussdiagnostik ist zur weiteren Klärung an eine Fachabteilung (zweite Stufe) zu vermitteln. Die schwierige Frage, wie man eine plausible Vorstellung von Neurosen und deren Klassifikation für die Ärzte der Grundbetreuung vermitteln kann, wurde durch die diagnostische Orientierung auf die auslösende Situation relativiert. Wenn sich Patient und Arzt auf eine auslösende Situation einigen können, spricht nichts dagegen, davon ausgehend konfliktzentrierte Gespräche zu führen. Sollte sich zeigen, dass die Schwere der Störung unterschätzt wurde, kann immer noch eine Überweisung in die Fachpsychotherapie erfolgen. Findet sich keine auslösende Situation und ist die Symptomatik nicht bedrohlich, ist gegen einen symptomatischen psychotherapeutischen Behandlungsversuch nichts einzuwenden. Bei starkem Leidensdruck oder bedrohlicher Symptomatik wie beispielweise Anorexie oder fraglicher suizidaler Gefährdung ist zur Fachpsychotherapie zu raten. Immer vorausgesetzt, die somatische Ausschlussdiagnostik ist erfolgt. Dafür sind aber die Ärzte der Grundversorgung gut ausgebildet und tun eher zu viel als zu wenig. Damit war ernsten Folgen für den Patienten durch psychodiagnostische Fehleinschätzungen ausreichend vorgebeugt und es erschien besser, sich mit bescheidenen Kenntnissen um die Diagnostik von Neurosen zu bemühen, als sie somatisch zu etikettieren und dann wirklich falsch zu behandeln.

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4.3  Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen

Bei der Neurosendefinition folgten wir der Vereinbarung von Bad Elster: Neurosen sind erlebnisbedingte Störungen der Person-Umwelt-Beziehung mit psychischer und/oder körperlicher Symptomatik. Bei der Klassifikation wurde von den verursachenden Faktoren ausgegangen. Neurosen entstehen durch den Einfluss von initialen, stabilisierenden, auslösenden und chronifizierenden Bedingungen. Bei primären Fehlentwicklungen überwiegt der Einfluss initialer und stabilisierender Bedingungen, bei den nachhaltigen Affektreaktionen die auslösende Situation und bei sekundären Fehlentwicklungen die Chronifizierung. Diese Neurosenformen werden vielseitig beschrieben, auch ihre Diagnostik. Im Mittelpunkt steht aber die Erfassung ihrer Ätiologie. Die Therapie der ersten Stufe beginnt mit der Behandlungsvereinbarung. Ihre Darstellung geht aus von den entscheidenden Unterschieden zwischen Verordnung und Vereinbarung. In der folgenden Beschreibung von Indikation und Prognose wird versucht, durch Fallbeispiele auch die Kenntnisse über Neurosen und ihre Formen weiter zu vertiefen. Behandlungsmethodisch werden für die erste Stufe angeboten: – Konfliktzentrierte Gespräche, die in ihrer Durchführung, aber auch mit Fehlern und Gefahren beschrieben werden. – Autogenes Training wird ausführlich dargestellt unter besonderer Betonung der therapeutisch effektiven und zeitökonomischen Vermittlung durch verschiedene Gruppenformen in der ambulanten Praxis. – Hypnose mit unterschiedlichen Techniken und ihren Indikationen und Grenzen. – Auch wird darauf hingewiesen, dass Kenntnisse der Gesprächstherapie nach Rogers und Tausch in der Therapie der ersten Stufe eingesetzt werden können wie auch einzelne einfache Verfahren der Verhaltenstherapie und der Individualtherapie Leonhards. Die Darstellung der zweiten Stufe, der ambulanten Fachpsychotherapie, verfolgt zwei Ziele. Explizit geht es um eine Information über die Arbeit in psychotherapeutischen Ambulanzen, die der Arzt der Grundversorgung kennen sollte, um Patienten, denen er diese Fachpsychotherapie empfiehlt, richtig darüber informieren und darauf vorbereiten zu können. Das Kapitel war aber auch darauf ausgelegt, die Kenntnisse über Diagnostik und Therapie der ersten Stufe zu vertiefen. Indem der Arzt der Grundversorgung erfährt, wie es der Fachmann macht, werden ihm Kenntnisse angeboten, die er nicht wissen muss, aber durchaus wissen darf. Indem er dem Fachmann bei der ausführlichen Exploration, bei der Diagnostik der Neurosenstrukturen – hysterisch, zwanghaft, depressiv und schizoid – und seiner ­Einzel- und Gruppenpsychotherapie über die Schulter schaut, darf er sich davon »etwas abgucken«. Die dritte Stufe, die stationäre Psychotherapie, wird nur kurz dargestellt, entsprechend dem expliziten Ziel Stufe zwei. Das Buch endet mit einem Ausblick: »Der dargestellte Vorschlag eines gestuften diagnostisch-therapeutischen Systems ist ein Vorschlag, die in jedem Fall notwendige Einbeziehung von Ärzten anderer Fachgebiete in die Neurosentherapie in realistischer Weise zu lösen. Dazu bedarf es einer breiten Fortbildungsarbeit, die nach heutigen Vorstellungen durch zu schaffende psychotherapeutische Regionalgesellschaften geschehen sollte. Nach informativen Vorträgen sollte den interessierten Fachärzten Gelegenheit gegeben werden, in Kursform die Diagnostik und Therapie der ersten Stufe zu erlernen.

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Der möglichst enge Kontakt zwischen den örtlichen Fachabteilungen und den mit ihnen zusammenarbeitenden Ärzten scheint uns unabhängig von der Form, in der die Fortbildung organisiert ist, eine wichtige Voraussetzung für die fruchtbare Zusammenarbeit. Diese Fortbildungsarbeiten werden umso fruchtbarer sein, je mehr sie den Charakter von Diskussionen und Übungen annehmen, während die reine Information im Selbststudium erfolgen kann. Aus dieser gegenwärtigen Situation ist auch die vorliegenden Einführung zu verstehen.« Die versorgungstrategische Konzeption des abgestuften Systems, der Mut zum Angebot sehr einfacher Darstellungen der Neurosenlehre und diagnostischer und therapeutischer Vorgehensweisen und der gleichzeitige Anstoß der Regionalarbeit der Psychotherapiegesellschaft gaben der weiteren Entwicklung der Psychotherapie in der DDR einen gewaltigen Impuls. Dass die zu vermittelnden Inhalte schnell ergänzt und bereichert wurden und zur Kenntnisvermittlung für die Grundversorgung bald neue und unterschiedliche Wege gefunden wurden, wie in anderen Beiträgen (s. u. a. Geyer et al. } Abschnitt 4.6.1) dargestellt, hat Höck immer mit großer Befriedigung verfolgt. Er hatte ja schließlich dazu im richtigen Moment und in geeigneter Weise den Startschuss gegeben.

4.4

Werner König: Der Weg zum Facharzt für Psychotherapie

Die Idee von einem »Facharzt für Psychotherapie« wurde auf dem ersten Kongress der AÄGP 1926 geboren, eine Vision, die in der Bundesrepublik Deutschland erst 66 Jahre später Wirklichkeit wird. Das hier zu schildernde, von vielen Hindernissen und Enttäuschungen begleitete, aber schließlich erfolgreiche Ringen um diesen Facharzt in der DDR war für die gesamtdeutsche Entwicklung bahnbrechend. Ohne diesen Vorlauf hätte sich wohl kaum der Antrag auf einen Facharzt für Psychotherapeutische Medizin auf dem Ärztetag 1992 durchsetzen lassen.

Harro Wendts mühevolle Suche nach Ziel und Weg Im Dezember 1967 gründet Wendt als Vorsitzender der Gesellschaft für Psychotherapie eine Arbeitsgruppe Weiterbildung, der außer ihm Frau Kohler, Herr König und Herr Schulz angehören. Anfang 1977 gibt er die Bearbeitung dieser Problematik an König als Stellvertretenden Vorsitzenden für Weiterbildung ab und schreibt ihm: »Sie ersehen aus dem Umfang und der Vielfalt des Beschriebenen, wie intensiv die Bemühungen in den letzten 9 Jahren waren [...] Ich wünsche Ihnen bei Ihren Bemühungen mehr Erfolg, als ich hatte. Die Prognose der Bemühungen um die Subspezialisierung schätze ich so ein: Sicher ist es kein Zufall, daß der Brief an Dr. Weber unbeantwortet blieb [Hervorhebung W. K.]. In letzter Zeit sind mir in der Presse einige Artikel aufgefallen [...] in einer der letzten Nummern der ›Für Dich‹ beklagte sich eine Frau auf einer ganzen Seite darüber, daß heute so viel psychologisiert werde, sie selbst habe ein schweres Lebensschicksal gemeistert,

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4.4  Der Weg zum Facharzt für Psychotherapie

ohne daß sie eine Therapie notwendig gehabt habe!! Wir sind also noch weit davon entfernt, Verständnis für unsere Arbeit (außer bei einigen engagierten Ärzten und Psychologen, die merken, daß sie so nicht weiterkommen) zu finden! Mit herzlichen Grüßen [...]« Eine geraffte Schilderung der Erfahrungen, die Wendt in diesen neun Jahren machen musste und eine Skizierung der Widerstände, denen er gegenüberstand oder gegenüber zu stehen glaubte, wird zeigen, welches Dilemma in diesem Zitat verdichtet ist. Im Dezember 1968 legt Wendt eine Ausbildungsordnung für Ärzte in Psychotherapie vor, in die die Meinungen seiner Arbeitsgruppe und des Vorstandes eingehen. Interessanterweise liegt diesem Papier aber auch ein früherer Vorschlag von Kleinsorge und Höck für eine Ausbildung zu einem Facharzt für Psychotherapie zugrunde. Im Entwurf von Kleinsorge und Höck kommt der Begriff »Facharzt für Psychotherapie« zum ersten Mal in den Dokumenten der Gesellschaft für Psychotherapie vor. Er ist nicht datiert, dürfte aber von 1965 stammen. Diese Ausbildungsordnung versucht Wendt »an die zuständigen Stellen« weiterzuleiten. Wendt fasst aber hier schon für die hauptberuflich tätigen Psychotherapeuten nur die Möglichkeit einer Subspezialisierung ins Auge, von einem Facharzt ist nicht die Rede und man fragt sich, warum. Zur Erläuterung: Die Subspezialisierung war eine auf dem Facharzt aufbauende Weiterbildung, die von der Akademie für Ärztliche Fortbildung für Fachärzte aller Gebiete für spezielle Teilaufgaben in Diskussion gebracht worden war wie beispielsweise Gastroenterologie oder Hämatologie in der Inneren Medizin. Daneben wurde noch eine funktions­bezogene Spezialisierung vorgeschlagen, beispielsweise als Anerkennung für eine Qualifizierung in der Auswertung von EKG oder EEG oder ganz umschriebener therapeutischer Methoden. Es muss offen bleiben, ob Wendt nur glaubte, mit der Subspezialisierung wenigstens eine Chance auf eine psychotherapeutische Weiterbildung zu haben, die Forderung nach einem Facharzt aber für nicht durchsetzbar hielt, oder ob daneben auch eine Rolle spielte, dass die Subspezialisierung in der Psychiatrie auf weniger Widerstand stieß. Schließlich war Wendt Psychiater und über die ganze Zeit seiner Bemühungen um eine psychotherapeutische Weiterbildung auch Mitglied im Vorstand der Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie. Im September 1969 schreibt Quandt, Fachvertreter der Psychiatrie an der Akademie für Ärztliche Fortbildung (und damit aus der Sicht der Akademie und des Ministeriums für Gesundheitswesen auch für Psychotherapie zuständig) an Wendt, dass für die Psychotherapie eine Subspezialisierung nicht in Frage käme, allenfalls eine funktionsbezogene Spezialisierung. Im Juni 1970 findet eine Arbeitstagung in der Akademie für Ärztliche Fortbildung statt, an der als Vertreter der Gesellschaft für Psychotherapie Höck teilnimmt. Höck trägt die Notwendigkeit einer Subspezialisierung für die Psychotherapie vor und wird in dieser Forderung von Prof. Winter, Rektor der Akademie, unterstützt. Prof. Quandt, der bei dieser Diskussion nicht im Raum war, teilte später Wendt als Ergebnis der Arbeitstagung mit, dass für die Psychotherapie eine Subspezialisierung nicht möglich sei, insbesondere vom Rektor Prof. Winter abgelehnt werde. Im Juni 1970 stimmt der Vorstand der Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie (in Anwesenheit von Wendt und in Abwesenheit von Quandt) einer Subspezialisierung in Psy-

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

chotherapie zu. In Vorbereitung eines für den 30. Oktober 1970 geplanten »Symposiums zum System der Weiterbildung für Hochschulkader des Gesundheits- und Sozialwesens« schreibt Wendt Mitte Oktober an Höck: »Das Thema Subspezialisierung steht auch noch einmal auf dem Programm des Vorstandes der Psychiatrie-Gesellschaft am 23.10. Wenn die Gesellschaft auch schon beschlossen hatte, sich für die Subspezialisierung einzusetzen, fürchte ich doch, daß unter Anwesenheit von Prof. Quandt und nach den jetzt vorliegenden Kriterien der Akademie für Ärztliche Fortbildung eine andere Auffassung Platz greifen wird, und dass man sich für die funktionsbezogene Spezialisierung aussprechen wird.« Das trat nicht ein, zeigt aber, dass Wendt mit dem Problem wenig optimistisch umging. Auch fällt in seinen Briefen in dieser Sache immer wieder auf, dass er wenig fordernd, sondern eher bescheiden bittstellend auftritt. Ebenfalls in Vorbereitung des genannten Symposiums teilt der Vorsitzende der Gesellschaft für Innere Medizin, Prof. Koelsch, Wendt den Standpunkt seiner Gesellschaft mit: Eine Subspezialisierung in Psychotherapie komme zwar für Internisten, Psychiater aber auch andere Fächer in Frage, aber welche, wäre schwer zu entscheiden. Seine Gesellschaft sei aber der Meinung, dass ein Facharzt die bessere Lösung wäre. Er schlage vor, noch vor dem Symposium eine Beratung von Vertretern der Gesellschaften für Psychotherapie, Innere Medizin und Psychiatrie mit Prof. Winter durchzuführen. In einem getrennten Schreiben vom 19. Oktober 1970 bittet der Sekretär der Gesellschaft für Innere Medizin Wendt, diese Einladung zu übernehmen. Dazu muss man wissen, was damals jeder wusste, dass es so gut wie aussichtslos war, in dieser Situation kurzfristig einen Termin beim Rektor zu bekommen. Das war der Grund, dass die Einladung Wendt »zugeschoben« wurde, wie Klumbies in einem Brief an Wendt feststellt. Auf dem Symposium selbst am 30. Oktober kommt Wendt »aus Zeitgründen« nicht zu Wort. Das veranlasst Höck noch einmal die Ausbildungsvorstellungen der Gesellschaft für Psychotherapie an den Rektor Prof. Winter heranzutragen, und zwar ausführlicher und klarer als in dem vorgesehenen Diskussionsbeitrag von Wendt. Der schriftlich vorbereitete Diskussionsbeitrag endete mit der Formulierung: »Wenn heute nicht entschieden werden kann, welcher Vorschlag für die Psychotherapie dem Ministerium zugeleitet werden soll, bitte ich, diesen Diskussionsbeitrag als Anregung für ein Gespräch zwischen den Vertretern der drei genannten Gesellschaften und der Akademie für Ärztliche Fortbildung zu nehmen.« Bei Höck klingt das Gleiche so: »Es gibt zwischen den Vorständen der Gesellschaften keine Meinungsverschiedenheiten mehr, so daß einer Subspezialisierung in Psychotherapie nichts mehr im Wege stände. Falls jedoch von Seiten der Akademie weiterhin Bedenken bestehen sollten, so wird von den drei Vorständen eine gemeinsame Aussprache mit Ihnen, Magnifizenz, vorgeschlagen [...] Wir meinen, daß die Regelung dieser Frage im Interesse der Versorgung unserer Bevölkerung dringend notwendig ist und daß ohne eine solche Regelung wir ernste Befürchtungen hegen, in Wissenschaft und Praxis erheblich hinter der internationalen Entwicklung zurückzubleiben.« Auf dem Kongress der Gesellschaft für Psychotherapie im April 1971 in Magdeburg wird Kohler an Stelle von Wendt zur Vorsitzenden gewählt. Das war für Wendt eine schwere Ent-

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4.4  Der Weg zum Facharzt für Psychotherapie

täuschung. Wenn er später diesen Wechsel als politisch motiviert hinstellt, so stimmt das nur bedingt. Dass die Entscheidung für Kohler fiel, war sicher wesentlich durch ihre politische Haltung und davon zu erwartende Vorteile für die Gesellschaft bedingt. Dass Wendt abgewählt wurde, lag aber an seinem Leitungsstil. In seiner Klinik war er ein eher autoritärer Chef. Als Vorsitzender des Vorstandes verhielt er sich umständlich, zögerlich und unentschlossen, so dass sich die Sitzungen unnötig hinzogen und Unmut unter den Mitgliedern herrschte. Ein kritisch klärendes Gespräch darüber wäre mit ihm kaum möglich gewesen. Vielleicht hätte die Abwahl auch nicht stattgefunden, wenn er nicht durch eine Autopanne verhindert gewesen wäre und erst eintraf, als Kohler gewählt war. Er hat vermutlich weder erfahren noch verstanden, warum er abgewählt worden war. Man kann sich die Enttäuschung vorstellen, nach den Frustrationen in der Vertretung der Gesellschaft nach außen sich nun auch von seinen Mitstreitern hintergangen zu fühlen. Frau Kohler gründet zudem sofort eine neue Arbeitsgruppe Ausbildung, die sie selbst leitet. Kohler ignoriert auch zunächst die von Wendt vorliegenden Materialien, bis Klumbies sie sehr deutlich darauf hinweist, dass dort anzusetzen ist. Aber bereits im Mai 1972 wird Höck Vorsitzender. Unter seiner Leitung übernimmt wieder Wendt die Arbeitsgruppe Ausbildung, zusammen mit Helm und König. Wendt legt mit dieser Arbeitsgruppe einen neuen Entwurf für die Subspezialisierung vor, auf dessen Grundlage Höck sich als Vorsitzender an den Minister für Gesundheitswesen wendet. Er kann sich darauf beziehen, dass auf dem Kongress der Gesellschaft für Psychotherapie 1973 Prof. Winter eine Subspezialisierung befürwortet hat. Interessant ist dabei, dass Höck, wenn er im Namen des Vorstandes spricht, die Subspezialisierung fordert. In einem Vortrag von Höck und König auf dem Kongress 1973 wie auch in anderen Fachveröffentlichungen Höcks aus dieser Zeit wird aber der Facharzt gefordert und die Subspezialisierung nur als Übergangslösung akzeptiert (»Falls gegen eine Facharztanerkennung weiterhin Bedenken bestehen, müßte stattdessen vorläufig wenigstens eine anerkannte Subspezialisierung möglich sein.«) Diese Diskrepanz erklärt sich vermutlich daraus, dass der inzwischen zu große Vorstand, in dem einige Mitglieder eher bremsen, als die Psychotherapie voranzubringen, nicht auf den Facharzt einzuschwören war. Da Höck sich mit seiner Forderung nach Verkleinerung des Vorstandes nicht durchsetzten kann, kandidiert er auch bei der nächsten Wahl nicht wieder für den Vorsitz und sucht andere Wege, seine Ideen durchzusetzen. Im April 1976 wendet sich Wendt im Namen des Vorstandes, der sich im Februar erneut mit dem Thema befasst hatte, an Dr. Weber, Abteilung Gesundheitspolitik im ZK der SED. Auf diesen Brief bezieht sich das Eingangszitat. Anliegen des Schreibens ist wiederum die Spezialisierung in Psychotherapie, wobei auf Anraten von Höck die Frage Subspezialisierung oder Facharzt offen bleibt. In dem Brief informiert Wendt Dr. Weber über die Ergebnisse der Sitzung des Vorstandes vom 16. Februar 1976 und fährt fort: »Ich bin daher beauftragt worden, in Erinnerung zu bringen, daß die Frage der Behandlung schwerer neurotischer Fehlentwicklungen in der DDR noch ungelöst ist und daß wir im Vergleich zum internationalen Stand der Entwicklung auch in einigen sozialistischen Ländern ins Hintertreffen geraten, wenn eine systematische Qualifizierung geeigneter Kader für eine spezialisierte Psychotherapie nicht bald in Angriff genommen wird. Eine Arbeits-

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

gruppe des Vorstandes unter meiner Leitung wird ein detailliertes Ausbildungsprogramm erarbeiten, dass ich Ihnen nach Beschlussfassung durch den Vorstand zuleiten werde [Hervorhebung W. K.], nicht in der Hoffnung auf eine schnelle Lösung, sondern zunächst als Hinweis auf ein ungelöstes Problem, das uns gesundheitspolitisch immerhin so bedeutsam erscheint, daß wir meinen, auch unsere Partei darüber informieren zu müssen.« Als Wendt im Juli in einer anderen Angelegenheit mit Weber telefoniert, fragt Wendt nach einer Antwort auf diesen Brief und Weber entgegnete zu Wendts Überraschung, dass er auf das angekündigte Material warte. Wendt hatte also Recht, dass es kein Zufall war, dass der Brief unbeantwortet blieb. Nur waren es nicht die Zeichen der Zeit, sondern wohl Wendts Resignation, die zu der Fehlleistung führte, zu vergessen, das von ihm angekündigte Material an Dr. Weber zu schicken. Da er sich diesen Fehler nicht eingestehen wollte, konnte er seine Folgen auch nicht ausräumen. Wie sich später zeigen wird, hätte er vermutlich bei Dr. Weber Verständnis für sein Anliegen gefunden. An Wendts unermüdlichem Einsatz besteht kein Zweifel, auch dass er den zahllosen Frustrationen und Entwürdigungen auf diesem Wege unbeugsam standzuhalten versuchte. Ein offensiver Stratege war er aber nicht. Die Schwierigkeiten, die der Entwicklung und Durchsetzung einer psychotherapeutischen Qualifizierung entgegenstanden, waren erheblich und vielschichtig. Schon ein Konsens innerhalb der Gesellschaft für Psychotherapie, selbst unter den Vorstandsmitgliedern, war nicht einfach zu erreichen. Die Internisten im Vorstand haben den Facharzt viel eher befürwortetet als die Psychiater. Die Psychiater schienen sich von einem Facharzt für Psychotherapie bedroht zu fühlen wie von einer Amputation. Günstig war, dass seit dem Kongress 1969 in Bad Elster im Vorstand Bemühen und Aufgeschlossenheit für die Erarbeitung gemeinsamer Positionen bestand. Offen bleiben muss die schon erwähnte Problematik, ob die lange bestehende Auffassung, eine Subspezialisierung anzustreben, nur von den Durchsetzungschancen gegenüber den übergeordneten Institutionen bestimmt war oder ob die Forderung nach einem Facharzt für Psychotherapie auch innerhalb der Gesellschaft und des Vorstandes damals nicht durchsetzbar war. Das änderte sich mit dem zunehmenden Einfluss junger Psychiater in der Standespolitik, die, unzufrieden mit dem Stand ihres Fachgebietes, sich der Psychotherapie verschrieben hatten. Im Vorstand der Gesellschaft für Psychiatrie bestanden immer Vorbehalte gegenüber einem Facharzt für Psychotherapie. Die Diskussion um den Facharzt war natürlich immer auch überlagert von dem Streit, ob die Psychotherapie in jedes Fachgebiet gehört oder einer Spezialisierung bedarf, eine Problematik, die auch der Durchsetzung des Facharztes in der Bundesrepublik Schwierigkeiten machte. Thure von Uexküll war der prominenteste Gegner des Facharztes aus den eigenen Reihen. In Verbindung mit der Diskussion um Höcks abgestuftes System der psychotherapeutischen Versorgung setzte sich aber unter den Psychotherapeuten der DDR endgültig die Überzeugung durch, dass die Integration psychotherapeutischen Denkens und Handeln in die Breite der Medizin nur zu realisieren ist, wenn sich die Psychotherapie als eigenes Fach etabliert mit Selbständigkeit in Versorgung, Weiterbildung, Forschung und Lehre, um von dort aus in die Breite der Medizin wirken zu können.

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4.4  Der Weg zum Facharzt für Psychotherapie

Neben der Verständigung zwischen den Fachvertretern war nicht eindeutig klar, wem gegenüber die Forderung nach einer psychotherapeutischen Qualifizierung zu stellen sei und wer eigentlich darüber zu entscheiden habe. Im Dezember 1968 reicht Wendt den ersten Entwurf für eine Ausbildungsordnung in Psychotherapie an den Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Klinische Medizin, OMR Dr. Kürzinger, ein und schreibt dazu: »In der Anlage übersende ich Ihnen eine Ausbildungsordnung für Ärzte in Psychotherapie mit der Bitte um Weiterleitung an die zuständige Stelle, ich nehme an, des Ministeriums oder der Deutschen Akademie für Ärztliche Fortbildung.« Natürlich kannte Wendt die Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten der übergeordneten Institutionen. Er wusste aber auch, wie diese Zuständigkeiten hin und her geschoben wurden. Die Akademie für Ärztliche Fortbildung stellte sich oft auf den Standpunkt, dass Entscheidungen nur durch das Ministerium getroffen werden, die Mitarbeiter des Ministeriums meinten aber, nur über differenziert ausgearbeitete Vorlagen entscheiden zu können. Beide Institutionen könnten sich aber nur mit Dingen befassen, die die Billigung der Abteilung Gesundheitswesen des ZK haben. Die Abteilung Gesundheitspolitik trifft aber keine Detailentscheidungen, sondern legt nur die Linie fest. So kann jeder die Bearbeitung eines unliebsamen Problems als zunächst nicht zuständig auf die anderen verschieben, was auch geschah. Deshalb erhoffte man sich im Vorstand eine bessere Chance, wenn der Generalsekretär der Gesellschaft für Klinische Medizin einen Vorgang an die seiner Meinung nach zuständige Stelle weiterleitete. Er hatte mit dem Problem selber kaum zu tun. Man ging davon aus, dass er in höherem Ansehen stand als der Vorsitzende einer randständigen Gesellschaft und weniger leicht mit billigen Vorwänden abgewiesen werden konnte. Man stand jedenfalls wie Kafkas Landvermesser vor verschlossenen Türen, war auf Mutmaßungen angewiesen, was wohl dahinter vorging, und war den Abweisungen gegenüber so gut wie machtlos. Zu dem Spiel gehörte auch, wenn auch jeweils erst nach einer Weile zu durchschauen, dass einzelne Mitarbeiter sich als einflussreicher ausgaben, als sie waren, und Versprechungen machten, die sie nicht einhalten konnten. Bei Quandt dagegen war es umgekehrt, er spielte seinen Einfluss in der Akademie für Ärztliche Fortbildung herunter und versteckte sich hinter dem von ihm beeinflussten Rektor. Auch wurden Zusagen meist nur mündlich gegeben, Ablehnungen lieber schriftlich, weil das Diskussionen ersparte. Diese Schwierigkeiten spielten sich bei vielen Anliegen ab, die an die genannten Institutionen herangetragen wurden. Jedenfalls war Wendt in der Zeit seines Engagements für die Durchsetzung einer Qualifizierung in Psychotherapie solchen Ausweichtaktiken in hohem Maße ausgesetzt.

Die Chance, den Fuß in die Tür zu setzen Im Mai 1977 wurde dem Vorstand von mir als Verantwortlichen für Weiterbilddung vor­ geschlagen, eine Zusatzausbildung in Form einer funktionsbezogenen Spezialisierung, »gleichzeitig aber eine außerordentliche Facharztanerkennung für langjährig leitend tätige Psychotherapeuten« und »auf der Grundlage dieser Erfahrungen ab etwa 1980 eine reguläre Facharztanerkennung zu fordern«.

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Das wurde von der Mehrheit des Vorstandes inhaltlich befürwortet, aber für nicht durchsetzbar angesehen. Wie sich zeigte, war diese Einschätzung falsch. Es fragt sich aber, ob hinter dieser Haltung nicht die Meinung stand, solche Forderungen besser nicht zu stellen. Sie war aber für den Vorstand in dieser Zeit typisch. Wenn einflussreiche Vorstandsmitglieder schon ängstlich waren, sich mit der Forderung eines Facharztes bei der Obrigkeit unbeliebt zu machen – denn das dürfte der wichtigste unter mehreren denkbaren Gründen gewesen sein –, verwundert es nicht, dass sich solche Ängste bei Themen wie der Stellung zur Psychoanalyse oder der Gründung einer Sektion für psychoanalytisch orientierte Einzeltherapie erst recht bemerkbar machten. Es konnte aber schließlich doch durchgesetzt werden, die Forderung nach einem Facharzt im Namen des Vorstandes dem Stellvertreter für Weiterbildung der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK, Dr. Weber, zuzuleiten. Günstige Gelegenheit dazu war die Vorbereitung eines Symposiums »Die Weiterbildung von Ärzten und Zahnärzten in der DDR« im Januar 1978. Da es noch keinen Facharzt gab, wurde die Gesellschaft für Psychotherapie zunächst nicht eingeladen. Unter Verweis auf die vorliegende Problematik gelang König aber die Teilnahme. Zur Diskussion stand u. a. die Thematik eines Zweitfacharztes, die bei den in Frage kommenden Fachgebieten auf eher passive Ablehnung stieß. Dadurch entstand die Situation, dass das Fachgebiet Psychotherapie als einziges Interesse und Bereitschaft für einen Zweitfacharzt bekundete. Wohl um zu vermeiden, dass eine Diskussion über einen Zweitfacharzt Psychotherapie benutzt werden könnte, um von den Fachgebieten abzulenken, mit denen man eigentlich sprechen wollte, wurde das Fachgebiet Psychotherapie abgekoppelt und mir angeboten, die Problematik in gesonderten Gesprächen mit Prof. Winter und Dr. Weber zu beraten. Die Gespräche fanden auch kurzfristig statt. Das mit Prof. Winter war in der üblichen Weise hinhaltend und unergiebig. Das Gespräch am 2. Februar 1978 in der Abteilung Gesundheitspolitik mit Dr. Weber war dagegen überraschend konstruktiv. In dem Gedächtnisprotokoll heißt es: »In dem Gespräch wurde Übereinstimmung darüber getroffen, daß für hauptberuflich tätige Psychotherapeuten eine 2. planmäßige Facharztanerkennung anzustreben sei. Eine Subspezialisierung scheidet bei konsequenter Handhabung aus, da es sich bei einer psychotherapeutischen Qualifizierung nicht um eine Spezialisierung auf einem Teilgebiet einer Facharztdisziplin handelt. Gegen einen Erstfacharzt erheben sich Bedenken: Die ohnehin schwierige Frage der Auswahl wird noch komplizierter. Außerdem sollte eine gründliche klinische Erfahrung gefordert werden, aus der heraus erst die Entscheidung für eine hauptamtliche psychotherapeutische Tätigkeit getroffen werden kann. Für psychotherapeutisch tätige Ärzte, die weiter in ihrer Facharztrichtung arbeiten, ist eine funktionsbezogene Spezialisierung anzustreben (Analogie: Facharzt für Sportmedizin, Sportarzt). Bei voller Übereinstimmung in Bezug auf die fachliche Notwendigkeit konnte keine befriedigende Lösung für die Benennung dieser Qualifizierung gefunden werden. Dr. Weber empfahl, die Ergebnisse dieser Aussprache dem Vorstand der Gesellschaft vorzulegen und ihn sobald wie möglich über dessen Stellungnahme zu informieren. Dr. Weber empfahl weiter, die Meinung des Vorstandes umgehend in der ›humanitas‹ zur Diskussion zu stellen.« Es muss offen bleiben, ob Wendt nicht zwei Jahre früher auf ein ähnliches Verständnis gestoßen wäre, wenn er seine Materialien wie versprochen zugesandt hätte.

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4.4  Der Weg zum Facharzt für Psychotherapie

Ein mit dem Vorstand abgestimmter Beitrag von mir unter dem Titel »Psychotherapie als zweite Fachdisziplin« erschien am 16. März 1978 in der »humanitas«. Auf einer erweiterten Klausurtagung des Vorstandes im April 1978 in Straußberg wurde ein von Ott und mir erarbeitetes Programm für den Zweitfacharzt und ein weiteres für eine Teilspezialisierung vorgelegt, das nach einigen aus der Diskussion erwachsenen Präzisierungen und Ergänzungen bestätigt wurde. Das Bildungsprogramm für den Facharzt von Straußberg musste zwar auf immer erneute Hinweise der Akademie für Ärztliche Fortbildung und des Ministeriums für Gesundheitswesen mehrfach (aber mehr redaktionell als inhaltlich) überarbeitet werden, bis es vom Minister für Gesundheitswesen bestätigt werden konnte. Die im Gesetzblatt vom 25. August 1978 erschienene neue Facharztordnung enthielt auch den Facharzt für Psychotherapie. Mit Wirkung vom 1. Januar 1979 wurden Höck und ich als erste Fachärzte für Psychotherapie anerkannt. Höck wurde zum Vorsitzenden der Zentralen Fachkommission an der Akademie für Ärztliche Fortbildung berufen und damit mit der Durchführung der Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie beauftragt.

Die Umsetzung der Weiterbildung zum Facharzt und zur Zusatzbezeichnung Aus heutiger Sicht würde man denken, dass die offizielle Anerkennung des Facharztes in der Gesellschaft für Psychotherapie als großer Erfolg zu feiern gewesen wäre. Im vierseitigen Protokoll der Vorstandssitzung vom 6. September 1978 wird die Durchsetzung eines Facharztes für Psychotherapie als Punkt 5 unter »Verschiedenes« erwähnt und der Stellvertreter für Weiterbildung autorisiert, die Problematik weiter zu bearbeiten. Eine Erklärung für diese nebensächliche Bewertung ist einmal darin zu suchen, dass maßgebliche Vertreter im Vorstand nicht ernsthaft daran interessiert waren, aber wohl entscheidender, dass die Gesellschaft stark angewachsen und vielseitiger geworden war und ein ängstlicher Vorsitzender nicht imstande war, innerhalb dieser expansiven Entwicklung die richtigen Wertungen zu setzen und die Gesellschaft darüber zu integrieren. Die wirklich inhaltlich weiterführenden Diskussionen fanden jetzt nicht mehr vorwiegend im Vorstand statt, sondern z. B. bei einem Lehrgang für Ausbildungsleiter in Gallentin, wo Höck seine Konzeptionen vorstellte. Im darauf folgenden Sitzungsprotokoll des Vorstandes heißt es: »Der Vorsitzende stellt fest, daß eine Diskussionsgrundlage wie die von Herrn Höck in Gallentin zur Erörterung vorgelegte Konzeption eines umfassenden integrativen Psychotherapiesystems künftig zunächst im Vorstand beraten und beschlossen werden sollte, damit nicht der Eindruck entsteht, daß der Vorstand zu einer Stellungnahme ›geschoben‹ werden muß.« In Gallentin hatte man besser verstanden, was der Facharzt bedeutete, und Höck hatte ein engagierteres Forum gefunden, als es der Vorstand war. Eine weitere Hürde bei der Durchsetzung und inhaltlichen Profilierung des neuen Facharztes, die von der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie, aber offenbar auch mit Unterstützung innerhalb des Vorstandes der Gesellschaft für Psychotherapie aufgebaut wurde, bestand darin, dass eine nochmalige Abstimmung der beiden Gesellschaften zum Fachgebiet Psychotherapie für notwendig erachtet wurde. Vorwand war eine Sitzung des

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Präsidiums der Gesellschaft für Klinische Medizin im November 1978, auf der die Situation der Psychotherapie vorgetragen werden sollte, was alleinige Aufgabe der Gesellschaft für Psychotherapie gewesen wäre. Für beide Seiten wurden Delegationen benannt (Psychiatrie: Göllnitz, Lange, Quandt, Wendt; Szewczyk als federführend; Psychotherapie: Geyer, Höck, Jun, Ott; ich selbst als federführend). Nachdem bereits in einem Vorgespräch zwischen Szweczyk und mir die Kontroversen entschärft werden konnten, wurde auch in dem Gespräch der beiden Delegationen am 3. September 1980 die Position der Psychotherapie in allen wesentlichen Punkten verteidigt. Der Gesellschaft für Klinische Medizin konnten am 28. November 1980 in Leipzig die in den entscheidenden Punkten unbeeinträchtigten Positionen der Gesellschaft für Psychotherapie vorgetragen werden. Damit waren die offiziellen Kontroversen zwischen den beiden Vorständen zum Facharzt für Psychotherapie beendet. Die inoffiziellen gingen weiter. Im Februar 1979 war Höck zum Vorsitzenden der Zentralen Fachkommission für Psychotherapie an der Akademie für Ärztliche Fortbildung berufen worden und schlug als weitere Mitglieder Geyer, Ott, Kulawik, Wendt und mich vor. Prof. Schulze wandte sich aus der Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie an Höck mit dem Vorschlag, an Stelle von Ott besser Prof. Klaus Weise aufzunehmen, was auch erfolgte. Es ist heute schwer nachzuvollziehen, dass selbst der resolute Höck sich solcher Einflussnahmen der Psychiater nicht erwehren konnte. Der Grund dürfte darin zu suchen sein, dass diese Benennungen der Bestätigung der Akademie für Ärztliche Fortbildung bedurften, die sich weiter von Quandt beraten ließ. Die Zentrale Fachkommission (ZFK) war zuständig für die Durchführung der Facharztweiterbildung. Dazu gehörten hauptsächlich die Ausbildung der Weiterbildungsleiter, die theoretische Weiterbildung der Facharztkandidaten und später auch der »Zusatztitler« in Lehrgängen und die Abschlussprüfungen. Wichtigste Grundlage der Arbeit der Zentralen Fachkommission war das Bildungsprogramm für den Facharzt. Als Bildungsziel war darin festgeschrieben: »Die selbständige Ausübung der Psychotherapie mit ihren spezifischen Methoden der Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe vorwiegend von Neurosen, psychosomatischen und anderen wesentlich psychosozial mitbedingten Erkrankungen.« Weiter heißt es: »Der Facharzt für Psychotherapie übernimmt Aufgaben in der medizinischen Betreuung, der Forschung und der Weiterbildung.« Die Mitwirkung in der Forschung wird auch in anderen Formulierungen festgeschrieben. Daraus wurde in der ZFK die Forderung abgeleitet, dass ein Facharzt für Psychotherapie promoviert sein muss. Vom Facharzt für Psychotherapie wird interdisziplinäre Kooperation verlangt. An Verfahren wird die Beherrschung von Einzeltherapie (»in methodischer Variabilität«), Gruppenpsychotherapie, Verhaltenstherapie, Autogenem Training, Hypnose und gründliche Kenntnis der die Psychotherapie ergänzenden Methoden (Arbeitstherapie, Gestaltungstherapie, Bewegungstherapie u. Ä.) gefordert. Methodisch einengende Formulierungen sind dabei vermieden. Die Weiterbildung dauert drei Jahre und ist in zwei dazu zugelassenen Einrichtungen zu absolvieren. Die Weiterbildungsleiter haben nach je halbjähriger Weiterbildung zur Eignung

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4.4  Der Weg zum Facharzt für Psychotherapie

als Facharzt für Psychotherapie Stellung zu nehmen. Das heißt in der Umkehrung: Wer sich zur Prüfung bewerben will, muss nicht nur Zeugnisse über die Tätigkeit, sondern ausdrücklich auch die Erklärung über die persönliche Eignung von zwei Weiterbildungsleitern vorlegen. Bei Zweifel an der Eignung können die Weiterbildungsleiter der ZFK Vorschläge über einen Abbruch oder ergänzenden Weiterbildungen vorlegen, z. B. eine weitere halbjährige Tätigkeit in einer dritten Einrichtung und damit auch der Stellungnahme eines weiteren befugten Leiters zur Eignung des Kandidaten. Neben der praktischen Weiterbildung sind die »erfolgreiche Teilnahme an fachspezifischen Weiterbildungskursen und Veranstaltungen der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR und der Gesellschaft für Psychotherapie« zu erbringen. Dazu gehört insbesondere auch der »Nachweis von Fähigkeit und Bereitschaft zu ausreichender Selbsterkenntnis in dazu geeigneten Veranstaltungen«. Hinter dieser letzten Formulierung verbirgt sich die Gruppenselbsterfahrung. Die genannten Weiterbildungskurse wurden inhaltlich von der ZFK gestaltet und geleitet, organisatorisch und finanziell von der Akademie für Ärztliche Fortbildung getragen. Solche Lehrgänge waren schon vor der Gründung der ZFK durch die Arbeitsgruppe Weiterbildung der Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Akademie für Ärztliche Fortbildung durchgeführt worden, wozu u. a. der genannte Lehrgang für Weiterbildungsleiter in Gallentin gehörte. Es handelte sich in der Regel um einwöchige Internatslehrgänge, die sich mit Neurosenlehre, Behandlungsmethodik, aber auch mit der Forschung im Fachgebiet beschäftigten. Dazu ein Beispiel: Lehrgang für Ärzte in Weiterbildung und Fachärzte für Psychotherapie in Sondershausen vom 23.–27. November 1981 Themen: – Entwicklung der Psychotherapie und Neurosenlehre (Entwicklung der Psychotherapie und Neurosenlehre vor der Psychoanalyse; Grundannahmen der Psychoanalyse und ihre kritische Wertung; die wichtigsten Entwicklungsrichtungen der Psychoanalyse; Filmvorführung: »Geheimnisse einer Seele« mit anschließendem Seminar; Entwicklungsrichtungen der Psychotherapie außerhalb der Psychoanalyse; Entwicklung der Psychotherapie und Neurosenlehre in der DDR und den sozialistischen Ländern) – Psychotherapiebedürftige Krankheitsbilder (Neurosen; die Borderlineproblematik; der Psychopathiebegriff aus heutiger Sicht; psychosomatische Erkrankungen; Sucht, Abhängigkeit, Missbrauch; zur Psychotherapie der Psychosen) – Methoden der Psychotherapie (Psychodynamische Einzeltherapie; Grundlagen der Gruppenpsychotherapie; unterstützende Verfahren der Gruppenpsychotherapie; Grundlagen der Gesprächspsychotherapie nach Rogers; Hypnose und die Rolle der Suggestion; Autogenes Training; Grundlagen der Verhaltenstherapie) – Aus- und Weiterbildung in Psychotherapie (Grundlagen; Anforderungen an jeden ­klinisch tätigen Arzt; Balint-Gruppe und Problemfallseminar; Aufgaben des Facharztes für Psychotherapie; Selbsterfahrung in der psychotherapeutischen Weiterbildung; KoTherapie und Supervision)

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– Organisation der psychotherapeutischen Versorgung (Epidemiologie psychotherapiebedürftiger Erkrankungen; das abgestufte System der psychotherapeutischen Versorgung; stationäre Psychotherapie; ambulante Psychotherapie; Psychotherapie in der Grundversorgung; Integration der Psychotherapie in die Klinische Medizin) Referenten waren überwiegend die Mitglieder der ZFK und weiterbildungsbefugte Fachärzte für Psychotherapie. Die Internatsform mit gemeinsamer Freizeit der Teilnehmer und der Referenten war für die Identitätsbildung der Angehörigen dieses im Aufbruch befindlichen Fachgebietes mehr als ein Nebengewinn. Die in ihren Einrichtungen oft unverstandenen oder auch belächelten Einzelkämpfer suchten in diesen Veranstaltungen den Kontakt untereinander. Die meisten Teilnehmer waren hochengagiert und viele autodidaktisch schon gut vorgebildet. Was sie dringend brauchten, war Rückenstärkung durch die Gemeinschaft Gleichgesinnter. Die Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie wurde durch eine einstündige mündliche Prüfung vor der zentralen Fachkommission abgeschlossen. Sie erfolgte neben der Prüfung der Kenntnisse im Fachgespräch durch die Vorstellung eines Falles anhand von Tonbandaufnahmen der therapeutischen Gespräche. Die Supervisionen in der Weiterbildung wurden in der Regel auch an Tonbandaufnahmen durchgeführt. Wiederholungsprüfungen mit Auflagen für die Zeit bis zur nächsten Prüfung kamen vor, waren aber eher selten. Von der zentralen Fachkommission wurden bis zur Übergabe der Aufgaben an die neu gegründeten Landesärztekammern genau 100 Fachärzte für Psychotherapie anerkannt. Seit dem Gespräch in der Abteilung Gesundheitspolitik war klar, dass es neben dem Facharzt auch eine psychotherapeutische Zusatzqualifizierung für Fachärzte verschiedener Gebiete geben wird, die in ihrem Fachgebiet bleiben. Bei den Diskussionen dazu kristal­ lisierte sich bald die Vorstellung heraus, dass diese Gruppe sich den für das jeweilige Fach­ gebiet eigenen psychotherapeutischen und psychosomatischen Problemen widmen sollten, nicht nur in der Versorgung als Behandler und Konsiliarärzte, sondern auch in der Forschung und Weiterbildung. Dabei ging man davon aus, dass z. B. in Gynäkologie, Der­ matologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, aber auch in der Psychiatrie ganz unterschiedliche Störungen psychotherapeutisch unversorgt waren. Die notwendige Kompetenz zur angemessenen Behandlung dieser Störungen kann weder vom Facharzt für Psychotherapie noch von der psychotherapeutischen Grundbetreuung (eine seit 1975 bestehende und der später in der Bundesrepublik eingeführten psychosomatischen Grundversorgung entsprechende Fortbildung) geleistet werden. Der Facharzt für Psychotherapie kann nicht die spezielle Psychosomatik aller Fachgebiete beherrschen und die Ebene der Psychosoma­tischen Grundversorgung verfügt nicht über die notwendige psychotherapeutische Aus­bildung. Als Bezeichnung für diese Weiterbildung einigte man sich auf Fachspezifische Psychotherapie. Die offizielle Anerkennung einer solchen Weiterbildung wurde aber lange verzögert. Es war vorgesehen, sämtliche Qualifizierungen nach dem Facharzt (Subspezialisierungen und funktionsbezogene Qualifizierungen) für alle Fachgebiete in einer Verordnung unterzubringen. Durch offene Probleme in anderen Gebieten, die mit der psychotherapeutischen Zusatzqualifizierung nichts zu tun hatten, wurde diese Verordnung jahrelang verzögert. Von der ZFK wurde die Zusatzqualifizierung aber in Angriff genommen. So wurde im Februar 1984 der erste einwöchige »Lehrgang für Fachspezifische Psychotherapie« durchge-

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

führt. Die planmäßige Weiterbildung zur Zusatzqualifizierung konnte aber erst 1987 in Angriff genommen werden. Die Weiterbildung zur Fachspezifischen Psychotherapie trat 1986 endlich durch die lange erwartete und immer wieder verzögerte Verordnung in Kraft. Die Richtlinien zur Weiterbildung, die in der DDR Bildungsprogramm hießen, waren denen des Facharztes im Aufbau und den Zielstellungen sehr ähnlich. Die Anforderungen reduzierten sich aber gegenüber denen des Facharztes deutlich durch drei Einschränkungen: die Beschränkung auf die ambulante poliklinische Arbeit, die Beschränkung auf ein Fachgebiet und die dort anzutreffenden Störungen und den Verzicht auf Qualifizierung für wissenschaftliche Arbeit. Vom fachspezifisch psychotherapeutisch Weitergebildeten erwartete man einen Überblick über die wichtigsten Neurosenlehren und psychotherapeutischen Verfahren, vom Facharzt dagegen die kritische Wertung und die Fähigkeit zur Weiterentwicklung. Während der Facharzt die Nosologie und Diagnostik in der Breite des Fachgebietes beherrschen muss, werden für die Fachspezifische Psychotherapie praxisbezogene Kenntnisse zur Erfassung und Behandlung der Störungen im Fachgebiet verlangt. Die Weiterbildung zur fachspezifischen Psychotherapie erfolgt in dreijähriger praktischer Tätigkeit unter Anleitung eines Weiterbildungsleiters, in dessen Einrichtung auch Hospitationen in einem Umfang von durchschnittlich fünf Wochenstunden erfolgen sollen. Es ist die Teilnahme an Weiterbildungslehrgängen vorgesehen, wobei die Zentrale Fachkommission über Inhalt und Umfang der Lehrgänge entscheidet. Die Weiterbildung wird mit einem Kolloquium vor der Zentralen Fachkommission abgeschlossen. Nach der zugrundeliegenden Konzeption hätte die Zahl der Fachärzte verschiedener Gebiete mit Zusatzqualifizierung »Fachspezifische Psychotherapie« größer werden müssen, als die der Fachärzte für Psychotherapie. Durch die bürokratische Verzögerung waren es zur Wende nur 15, die ihre Prüfung abgeschlossen hatten, die Zahl der in Weiterbildung Befindlichen war ein Vielfaches davon. Bemerkenswert bleibt, dass von der Gesellschaft für Psychotherapie der DDR eine Struktur der psychotherapeutischen Weiter- und Fortbildung mit Facharzt für Psychotherapie, fachspezifischer Psychotherapie und psychotherapeutischer Grundbetreuung eingeleitet wurde, die später mit unterschiedlicher zeitlicher Verzögerung auf den drei Ebenen in Form des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin, der Fachgebundenen Psychotherapie und der Psychosomatischen Grundversorgung in der Bundesrepublik ihre Entsprechung fand.

4.5 Die Entwicklung der Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 4.5.1 Michael Geyer und Werner König: Psychodynamische Psycho­ therapie und Psychoanalyse – Psychoanalyse als Selbsthilfe In Zeitraum zwischen 1970 und 1979 wird die Psychodynamische Psychotherapie, in welcher Form auch immer, sowohl im stationären als auch ambulanten Bereich des Gesund-

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

heitswesens die meistverbreitete Therapierichtung. (Parallel dazu etabliert sich ebenfalls ein weiteres humanistisches Verfahren, das dem Subjekt Vorrang gibt, die Gesprächspsychotherapie, während die Verhaltenstherapie eher wenig Zulauf hat.) Dieses Phänomen wirft die Frage auf, warum mit einer solchen Energie versucht wird, zumindest die medizinischen Anwendungsformen der Psychoanalyse in der Praxis abzusichern. Zum einen bedarf die wieder gestiegene Attraktivität psychoanalytischen Denkens nach den rüden und militanten ideologischen Attacken der 1950er Jahre gegen die Psychoanalyse der Begründung. Weiter muss uns beschäftigen, welche gesellschaftspolitischen Entwicklungen den Blick auf das Persönliche und das Innere begünstigen. Zum Dritten ist zu fragen, welche Besonderheiten in der Vermittlung psychoanalytischen Denkens und seiner therapeutischen Anwendung dem gesellschaftlichen Umfeld geschuldet sind, das in dieser Zeit Lebensweise und Kultur beeinflusst.

Das Scheitern der biologistischen Ansätze in der praktischen Psychotherapie In den 1960er Jahren scheitert der in Leipzig von Müller-Hegemann initiierte Versuch einer auf reflexologische Konzepte gestützten »Psychotherapie«. Ursachen sind schlichte Erfolglosigkeit der Methoden, tödliche Nebenwirkungen der sog. Schlaftherapie (} Abschnitt 3.8.1) und Verweigerung der Gefolgschaft bei der Anwendung der Verfahren durch die behandelnden Ärzte und Psychologen. (Allein in einem Herz-Kreislauf-Forschungsinstitut in Berlin-Buch werden Weiterentwicklungen der Pawlow’schen Ansätze noch angewendet.) Dieser Entwicklung wird 1969 in Bad Elster mit der Neurosendefinition der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie Rechnung getragen. In der von Höck und König ausgearbeiteten Form wird der Bezug zu Schultz-Hencke ganz deutlich. Jeder zukünftige Psychotherapeut lernte damals über diese Neurosenlehre Grundlagen der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie sowie die psychodynamischen Grundbegriffe und deren Anwendung in Diagnostik und Therapie. Zu dieser eher fachlichen Entwicklung tritt eine Tendenzwende in der Gesellschaftspolitik.

Die 1970er Jahre – die Zeit der Wiederentdeckung des Subjekts Anfang der 1970er Jahre zwingt insbesondere die ökonomische Situation die Führungsschicht der DDR, dem Subjekt und seinen individuellen kreativen Möglichkeiten wieder mehr Spielraum zu geben. Im Politbüro drängt der neue starke Mann Erich Honecker auf Reformen, um sich als Nachfolger Walter Ulbrichts zu positionieren (den er 1971 ablöst). Er spürt die gewachsenen Bedürfnisse der Bevölkerung, die sich nach dem beschämenden Versagen der DDR-Ökonomie (es gibt nach dem Mauerbau einen Mangel an Grundnahrungsmitteln wie Butter und Kartoffeln, ganz abgesehen von Artikeln des höheren Bedarfs) zunehmend unzufrieden zeigt. Kollektivismus und Gleichmacherei sind offensichtlich nicht geeignet, die wirtschaftliche Situation der DDR zu verbessern. Nach der Verstaatlichung auch des restlichen Privateigentums an Produktionsmitteln ist das Regime der Bevölkerung den Beweis schuldig, dass eine durchgängig sozialistische Planwirtschaft dem einzelnen Menschen etwas bieten kann. Das einmalige Individuum und seine Bedürfnisse geraten

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

stärker in den Fokus der Politik, der Philosophie, der Popmusik, der Malerei, besonders aber der Schriftstellerei (exemplarisch sind hier wohl Christa Wolfs Subjektivismus in »Nachdenken über Christa T.« oder »Kindheitsmuster«).

Die Attraktivität der Selbsterfahrung in der DDR Die Psychotherapeuten suchen nach Konzepten jenseits des historischen Materialismus, mit dem die Marxisten den Menschen und seine Motive beschreiben. Nach den kollektivistischen Exzessen der vergangenen Jahrzehnte verlangt das Ich wieder sein Recht. Es gibt für den Psychotherapeuten in dieser Zeit kaum eine andere Möglichkeit, zu sich und seinen inneren Widersprüchen, Konflikten und Motiven zu gelangen als die Selbsterfahrung in der Kleingruppe. Die von Geyer beschriebene Geschichte der »wilden« Erfurter psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppe (} Abschnitt 3.5.5) ist Ausdruck dieser Sehnsucht nach Zugängen zum eigenen Selbst, die die Plattheit und Oberflächlichkeit der damals üblichen Erklärungsmodelle menschlichen Verhaltens überwinden. In dieser Zeit ist die Gruppe der Ort gleichermaßen von Innerlichkeit wie Solidarität. Als Kurt Höck ein aus der Gruppenanalyse stammendes Konzept der Gruppenselbsterfahrung entwickelt und dafür in Gemeinschaften, die nach einem tschechischen Vorbild »Kommunitäten« genannt werden, Rahmen und Struktur schafft, entsteht unter Einbeziehung der Erfurter Gruppe und anderer damaliger Zentren der Psychotherapie eine Bewegung, der sich die überwiegende Anzahl der praktizierenden jüngeren Psychotherapeuten anschließt. Über diese Entwicklung wird in den Beiträgen von Seidler, Hess, Kruska und anderen ausführlich berichtet. Im Gegensatz zur psychoanalytisch begründeten Einzeltherapie, die immer wieder Ziel ideologischer Attacken war, hat die Höck’sche Gruppenpsychotherapie darüber hinaus den Vorteil, eine neue Begrifflichkeit kreiert zu haben, die kaum auf die Psychoanalyse verweist. Damit kann nach außen hin dokumentiert werden, die Höck’sche Methode sei eine DDR-Erfindung (was sie ja auch ist) und habe eigentlich mit der problematischen Psychoanalyse nichts zu tun. Für Höck stellten die Ideen Schultz-Henckes Zeit seines Lebens die progressivste Strömung der Psychoanalyse dar, und er hatte sich ihre Weiter­entwicklung zum Ziel gesetzt. Die beste Chance dazu sah er in der Gruppenpsychotherapie. Als König bei seinem Eintritt in Höcks Abteilung im HdG (1964) nach einer Lehranalyse fragte, erhielt er die Antwort, dass sie überholt sei. Wie Höck diese Lücke ersetzen wollte und ob er damals schon die Idee einer Gruppenselbsterfahrung hatte, muss offen bleiben. Die Gruppenpsychotherapie war schon immer eine bevorzugte Behandlungsmethode im stationären Sektor der Psychotherapie. In den 1970er Jahren erhält sie ihre Attraktivität in der genannten spezifischen psychodynamischen Form jedoch als Ausbildungskonzept für junge Psychotherapeuten. In der Selbsterfahrungsgruppe lässt der Psychotherapeut den einengenden DDR-Alltag hinter sich, kann im geschützten Raum seine Individualität erfahren und – spezifisch für die von Höck praktizierte Form der Gruppenpsychotherapie – den Aufstand gegen die Autoritäten proben. Diese Erfahrung stiftet Hoffnung auch im politischen Sinne und Heimat gleichermaßen. Eine Möglichkeit der Selbsterfahrung und -erprobung, der sich kaum jemand entziehen will. Der Verrat durch Stasispitzel bleibt zwar im Hinter-

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

grund präsent, aber weitgehend unbeachtet. (Die damals gefühlte Statistik der Verbreitung von IM war vermutlich der realen sehr ähnlich: Bei 1,3 % Stasiinformanten in der Bevölkerung war das Vorkommen eines Informanten in einer Kommunität von 50 Teilnehmern zwar möglich, aber eher nicht wahrscheinlich, was auch durch die Erfahrungen mit konkretem Verrat bestätigt wurde, der nicht so häufig vorkam wie offene Einmischungen verbohrter staatlicher Leiter und Vorgesetzter.) Bereits am Ende dieser Periode wird jedoch auch die Begrenzung des ursprünglichen Konzeptes der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie sichtbar. Wer sich auch nur oberflächlich mit der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie beschäftigt, wird leicht die überragende Bedeutung des Therapeuten in der Durchsetzung von Normen erkennen. Die vom Patienten geforderte Überwindung der Abhängigkeit vom Therapeuten, das zwanghafte Bestehen auf einer aggressiven Auseinandersetzung mit dem Therapeuten in relativ frühen Stadien der Gruppenentwicklung, überhaupt die Über-Ich-Kopflastigkeit der gesamten Methode wurde von uns allerdings schon relativ früh in Frage gestellt. Insbesondere die implizit in der Konzeption enthaltene Ablehnung einer Beschäftigung mit unbewussten regressiven Wünschen und frühen Traumatisierungen eines hilflos übermächtigen Gewalten ausgelieferten Individuums sahen wir schon Mitte der 1970er Jahre kritisch. Entsprechende Veränderungen in Setting und Technik sind denn auch seit 1978 erprobt worden (s. die von Ott, Geyer, Benkenstein, Böttcher u. a. durchgeführten Kommunitäten in Winterstein und Sondershausen). Uns wurde allerdings erst gegen Ende der DDR klar, dass wir nicht nur – wie wir es vordergründig sahen – dem Individuum die Gelegenheit gegeben haben, den Umgang mit Macht zu trainieren. Wir haben natürlich auch das eigentlich anstehende Problem der Auseinandersetzung mit einer autoritären und unerbittlichen Staatsgewalt auf die therapeutische Gruppe verschoben. Dort haben wir dann deren Überwindung dadurch zelebriert, dass wir dem Einzelnen die Chance gaben, die eigene Autoritätsabhängigkeit zu begreifen und scheinbar zu überwinden. Wir als Therapeuten haben uns als zu überwindende Macht angeboten. Offenbar hat es uns geholfen, einen unlösbaren Konflikt zu agieren. Zweifellos konnte diese Art, ein politisches Thema zu psychologisieren, politische Lösungen nicht ersetzen.

Stiefkind Pychodynamische Einzeltherapie Die geschilderte Verbreitung gruppenpsychotherapeutischer Aktivitäten in der DDR der 1970er Jahre darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die psychodynamische Einzeltherapie damals praktisch in allen Ausbildungseinrichtungen betrieben und somit die am häufigsten angewendete Methode ist. Dieser Tatbestand steht im Widerspruch zur Ausbildungspraxis in dieser Methode. Die Ausbildungen in Psychodynamischer Einzeltherapie findet im Gegensatz zur Gruppenausbildung nicht innerhalb einer zentralen Einrichtung, wie sie die Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie darstellt, statt, sondern in Kliniken und Praxen. Allerdings sind die meisten Ausbildungsaktivitäten von einer auffälligen Scheu gekennzeichnet, psychoanalytisches Handeln in offiziellen Konzepten oder Dokumenten, also außerhalb des alltäglichen klinisch-kollegialen Sprachgebrauchs, auch als solches zu bezeichnen. Die Diskrepanz zwi-

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

schen einer verbreiteten psychodynamischen Praxis einerseits und der Tarnung dieser ­Praxis durch öffentliche Distanzierung vom psychoanalytischen Denken andererseits bleibt in diesem Jahrzehnt mehr oder weniger bestehen. Wie bereits beschrieben (} Abschnitt 3.4), werden in dieser Zeit zumindest die Oberbegriffe bei ihrer offiziellen Verwendung häufig getarnt, z. B. »psychoanalytisch« war meist »dynamisch«, später auch »psychodynamisch«. Während an einigen Stellen sehr offen von »psychoanalytisch« gesprochen wird, also in der Leipziger Poliklinik Nord, in der der hochbetagte Alexander Beerholdt seit jeher psychoanalytisch arbeitet, oder in der Klinik Harro Wendts in Uchtspringe, im Haus der Gesundheit Berlin oder im Umfeld der Erfurter psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppe, wird an vielen anderen Stellen das eigene Handeln mit den genannten Tarnbegriffen benannt. Im Allgemeinen ist diese Praxis weit entfernt von einer klassischen Psychoanalyse, aber nahe an den damals als psychoanalytische Kurztherapie publizierten Ansätzen vorwiegend englischer und nordamerikanischer Psychoanalytiker. In der DDR werden vor allem Balint (1973), Beck (1974), Bellak und Small (1965), Luborsky (1953, 1976), Malan (1965) oder Minuchin (1972) gelesen. Wo eine Tarnung erforderlich ist, gibt es meistens auch etwas, was getarnt werden soll. Betrachten wir die Situation der Psychotherapie in der DDR Anfang der 1970er Jahre, ist das Getarnte die hinter der psychotherapeutischen Praxis, aber auch der Praxis der Selbsterfahrung, stehende psychoanalytische Weltsicht, das psychoanalytische Menschenbild. Schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wird keineswegs mehr verheimlicht, dass dem praktischen Handeln die psychoanalytische Psychotherapie Pate gestanden hat. Nur vom zugrundeliegenden Menschenbild oder einzelnen Teilen des Theoriegebäudes der Psychoanalyse muss man sich abgrenzen. Der Aufsatz von König »Zur Notwendigkeit der Beschäftigung mit der Psychoanalyse ...« im 1971 erscheinenden Buch »Neurosen« (Höck, Szewczyk u. Wendt 1971), das im Wesentlichen die auf dem Bad-Elster-Kongress 1969 erreichten Positionen dokumentiert, gibt die strategische Linie einer in der Praxis angewendeten, jedoch theoretisch-methodologisch an die Verhältnisse angepassten psychoanalytisch orientierten Psychotherapie vor. Bezeichnet werden die angewendeten Verfahren nun als dynamische oder psychodynamische oder später auch Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie oder Dynamische Einzeltherapie. Gleichzeitig ist ein großer Teil der psychotherapeutisch tätigen Mitglieder der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in der Vorstellung befangen, dass psychoanalytisches Denken und Handeln irgendwie subversiv sei. Diese Überzeugung bekommt immer wieder Nahrung durch ideologische Debatten vorwiegend in psychiatrischen Kliniken, deren Chef- oder Oberärzte politische Bedenken gegen psychodynamisches Denken ins Spiel bringen.

Widerstände gegen die Institutionalisierung der Psychodynamischen Einzelpsychotherapie Trotz aller Fortschritte in der praktischen Aneignung psychoanalytisch begründeter Methoden gelingt es in den 1970er Jahren nicht, eine zentrale Ausbildungsform wie die der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie zu schaffen. Wir sind beide in dieser Zeit im Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie mit immer wiederkehrenden Diskussionen

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

der Gründung einer Sektion »Analytische« oder wenigstens »Psychodynamische Psychotherapie« konfrontiert. Immer scheitert eine Gründung an Bedenken, die aus heutiger Sicht kaum noch verständlich sind. Es sind einerseits die Ängste der in den 1950er Jahren politisch traumatisierten älteren Kollegen wie Katzenstein und Wendt, die letztlich die vorhandenen Möglichkeiten nicht wahrnehmen, und andererseits ist es die Wahrnehmung von uns Jüngeren, die Ängste der Älteren hätten eine reale Basis. Aber darüber mehr im 5. Kapitel. Jedenfalls bildet sich nach einem positiven Votum des Vorstandes der GÄP in der Vorstandssitzung am 15. Februar 1978 in Uchtspringe eine Arbeitsgemeinschaft »Psychotherapeutisches Gespräch« innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR mit dem Ziel, eine persönlichkeitszentrierte Einzeltherapie theoretisch und methodisch zu entwickeln, die zusammen mit Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie eine Sektion Einzelpsychotherapie bilden soll.

4.5.2 Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie – Sektionsgeschichte und Entwicklung des Ausbildungssystems der Kommunitäten in den 1970er Jahren 4.5.2.1 Helga Hess: Die Gründung der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie und die Ausbildung in Gruppenselbsterfahrung Sektionsgründung und Sektionsarbeit Die Zeit war reif! Aufgrund der vielfältigen Aktivitäten auf dem Gebiet der Gruppenpsychotherapie war die Bildung einer Sektion für die weitere Arbeit unabdingbar geworden. In der Mitgliederversammlung des Jahreskongresses 1969 der GÄP wurde beschlossen, eine ­Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie unter der Leitung Höcks ins Leben zu rufen, die eine Plattform für den Austausch und die Zusammenarbeit bezüglich gruppenpsychotherapeutischer Entwicklung darstellte. Am 12. Dezember 1969 fand im Haus der Gesundheit die konstituierende Sitzung der Sektion und die erste Arbeitstagung statt (35 Mitglieder, 20 Gäste). Der erste Vorstand wurde gewählt: 1. Vorsitzender: Höck, 2. Vorsitzender: Tögel (Uchtspringe), Sekretär: Burkhardt (Dresden), Schatzmeister: H. F. Böttcher (Leipzig). Kurt Höck (1981a) schreibt zehn Jahre später über die bis dahin geleistete Arbeit: »Die Sektion führte in ein- bis zweijährigem Rhythmus Arbeitstagungen durch. Diese haben inzwischen den Charakter mittelgroßer Kongresse angenommen [...] und sich zunehmenden Interesses und Beachtung erfreut. Neben der sehr einfachen und dennoch ausgezeichneten organisatorischen Vorbereitung und Durchführung [...] ist dies vor allem auf die abwechslungsreiche und sehr aktuelle Gestaltung und das zunehmende wissenschaftliche Niveau dieser Tagungen zurückzuführen« (Höck 1981a, S. 8). Zu den einzelnen Arbeitstagungen führt er aus: »Zur ersten Arbeitstagung 1969 in Berlin trafen sich ca. 50 Mitglieder. Neben Fragen der Methodik, Auswahl und Indikationskriterien wurden bereits erste Verlaufsuntersuchungen [...] vorgestellt. Auf der 3. Arbeitstagung 1973 in Dresden wurden bereits von Vertretern aus drei Arbeitskreisen (Berlin, Leipzig und Uchtspringe) eine Art zusammenfassende Über-

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sicht, eine Begriffserklärung und Definition einzelner Aspekte des Geschehens, wie z. B. Interaktion, Interpretation, Identifikation, Projektion usw., vorgetragen, die dann in erweiterter Form unter dem Titel ›Gruppenpsychotherapie – Einführung und Aspekte‹ zur ersten Buchpublikation dieses Arbeitsgebietes führte [Höck 1976]. Auf der 4. Arbeitstagung 1974 – wiederum in Dresden – wurden vor allem die Grundzüge der inzwischen entwickelten Konzeption einer dynamischen Gruppenpsychotherapie vorgestellt und anhand von Tonbandvorführungen und -protokollen durch Mitarbeiter des HdG demonstriert und erläutert. Zugleich wurde diese Thematik benutzt, um – unter Verwendung von Erfahrungen aus Mailand – durch die Aufgliederung in kleinere Diskussionsgruppen die Teilnehmer umfassender in den Tagungsprozess einzubeziehen und damit eine neue Qualität der Kongressgestaltung zu erreichen. Dieses Prinzip wurde auch für die weiteren Arbeitstagungen beibehalten und bewirkte eine zunehmende Aktivierung und Mitarbeit der Teilnehmer.« Und weiter: »Die 5. Arbeitstagung 1977 in Dresden war einerseits gekennzeichnet durch den Versuch, Arbeits- und Forschungsergebnisse aus der Sozialpsychologie der DDR (Vorwerg u. Mitarb.) in die Gruppenpsychotherapie zu integrieren, andererseits durch eine spannungsreiche Kontroverse mit dem Leipziger Arbeitskreis [Weise, Thom] im Hinblick auf die Grundannahme der dynamischen Gruppenpsychotherapie. Dadurch wurde letztlich die eindeutige Abgrenzung der dynamischen Gruppenpsychotherapie gegenüber anderen Formen der Gruppenbehandlung vorangetrieben. Zugleich ergab sich damit die Notwendigkeit, die Konzeption der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie als eigenständige und spezifische Methode persönlichkeitszentrierter Psychotherapie zu formulieren und auszuarbeiten. Die erfolgreiche Verteidigung dieser Konzeption erfolgte dann als Promotion B [Habilitation 1977 von Kurt Höck] auf dem Gebiet der Psychotherapie in der DDR im Frühjahr 1977 in Berlin. Damit wurden zwangsläufig stärkere Impulse zur Intensivierung der Gruppenpsychotherapieforschung ausgelöst, die vor allem im Rahmen des Forschungsprojektes ›Psychonervale Störungen und Krankheiten‹ in Kooperation mit dem Bechterew-Institut in Leningrad aufgenommen wurden. Über erste Ergebnisse einer derartigen systematischen Forschungsarbeit konnte u. a. auf der 6. Arbeitstagung im Herbst 1979 in Gera berichtet werden« (Höck 1980, S. 6 f.). Nach diesen sechs Arbeitstagungen fand nun im Oktober 1981 ein zweites Symposium für Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung in Leipzig unter dem Titel »Dynamische Gruppenpsychotherapie in Theorie, Forschung und Ausbildung« statt. Neben den DDR-Gruppentherapeuten nahmen Kollegen aus Schweden, Polen, Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei, Westdeutschland und Bulgarien teil. Insbesondere wurden Aspekte wie Individuum und Gruppe (Wendt, Kulawik, Boethius, Göth), weitere Gruppenformen wie Großgruppe, Problemfallseminare, Therapeutische Gemeinschaft (Ott, Ploeger, Maaz, Ehle) sowie Ausbildungsfragen (Geyer, Tringer) diskutiert. Die Referate wurden in der Schriftenreihe des Hauses der Gesundheit veröffentlicht (Höck 1981b, 1981c). Die 7. Ar­beitstagung 1986 schließlich in Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) bezeichnet Seidler (2003) als »Höhepunkt der Ära Höck, aber auch [als] ihren Abschluss«, zumal Höck hiernach aus seinem aktiven Arbeitsleben, auch aus dem Vorsitz der Sektion, ausschied. Auf dieser Arbeitstagung wurde jedoch reiche Ernte hinsichtlich der jahrelangen gruppenpsychotherapeutischen Arbeit, der Entwicklungen in Theorie, Ausbildung und For-

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schungen eingebracht: Über Untersuchungsergebnisse zu Problemen der Emotion und des affektiven Geschehens im Gruppenprozess wurde berichtet, weiterhin über Methoden und Modifikationen der Gruppenselbsterfahrung, der Kommunikativen Bewegungstherapie nach Wilda-Kiesel, der Erfassung ergänzender Therapieverfahren wie Arbeitstherapie oder Komplextherapie, insbesondere aber auch zu Modifikationen der Gruppenpsychotherapie im Hinblick auf unterschiedliche Patientengruppen (Hess u. Höck 1988). Dennoch fand noch einmal anlässlich des 70. Geburtstages von Kurt Höck ein drittes Symposium der ­Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung vom 25. bis 27. September 1990 in Berlin statt (} Abschnitt 5.10.4). Dies bildete zugleich den Nachkongress des 3. Europäischen Kongresses für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik in Budapest und stellte den Abschluss der bisherigen Sektionsarbeit dar. Unter dem Thema »Die Bedeutung der Gruppe in der Entwicklung des Menschen – Theoretische Ansätze – Empirische Projekte – Therapeutische Zugänge« vereinigte diese Veranstaltung in eindrucksvoller Weise 113 Referenten von Ost und West. Gruppenpsychotherapeutische Sichtweisen wurden unter der Erweiterung lebensgeschichtlicher Beziehungsformen und deren Problematik angeschaut. Brisant gestaltete sich die Thematik, da der Kongress unmittelbar vor dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Wiedervereinigung Deutschlands, stattfand. Die aktuelle politische Situation war bei allen Themen als gesellschaftlich-kultureller Aspekt lebensgeschichtlicher Betrachtung sehr wesentlich präsent. Gleichzeitig war dieser lebendige Kongress ein beredtes Zeugnis der psychotherapeutischen Intentionen von Kurt Höck. Die Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie wurde mit ihren Arbeitstagungen von Kurt Höck als Vorstandsvorsitzendem geführt. Die Mitgliederzahl wuchs von anfänglich 50 Mitgliedern auf schließlich 800 an. Nach dem Ausscheiden von Höck übernahm ich von 1987 bis 1991 den Vorsitz der Sektion, 1991 dann Heinz Benkenstein. Die Sektion wählte in Anlehnung an den DAGG »trotzig« (Seidler 2003, S. 25) den Namen: Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG). Der DADG setzte sich zugleich intensiv mit theoretischen und praktischen Fragen der bisherigen Konzeption, insbesondere des Intendierens auseinander (Seidler u. Misselwitz 2001). Die Integration als Sektion in den DAGG erfolgte im Jahre 2000 unter Vorsitz des jüngeren Stephan Heyne. Inzwischen wurde die Vereinigung der drei gruppenanalytischen orientierten Sektionen des DAGG einschließlich der Sektion IDG zu einer Gesellschaft vorgenommen.

Die Selbsterfahrungsgruppen und Kommunitäten Die Arbeitstagungen bildeten eine entscheidende Säule in der Sektionsarbeit. Sie stellten eine charakteristische Verbindung von Theorie und Praxis, Information und wissenschaftlicher Auseinandersetzung unter breiter Einbeziehung der Teilnehmer dar. Als eine zweite Säule erwies sich die Bildung von Selbsterfahrungsgruppen und Kommunitäten. Sie bildeten eine Ergänzung des theoretisch-methodischen Aspektes zur Gruppenpsychotherapie, ihre systematische Durchführung diente vor allem der Ausbildung von Gruppenpsychotherapeuten. Ihr Beginn liegt nahezu zeitgleich mit der Bildung der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie.

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Dabei verstand sich die Gruppenselbsterfahrung in der DDR insgesamt durchaus als eine Selbsterfahrungsbewegung. Christoph Seidler gibt die Aufbruchsstimmung wieder: »Wer in der DDR als Psychotherapeut was auf sich hält, kommt. Nicht, wie heute, um Scheine zu sammeln, die ihm Abrechnungsmöglichkeiten sichern. Nein, in dieser Zeit sind wir eine Gemeinde, die bereit ist, Widerspruch anzumelden und auszutragen, die Partei des Verdrängt-Aggressiven zu nehmen, sich mit den Vertretern der Organmedizin, der mit Gesprächstherapie sanft verharmlosenden oder per Verhaltenstherapie manipulativen akademischen Psychologie auseinanderzusetzen. Eine eigene Sektion wird gegründet, große Tagungen werden begeistert abgehalten« (Seidler 2001, S. 71).

Vorformen und Trainerauswahl Ausgehend von den persönlichen Erfahrungen von Höck in Lindau, Erfahrungen mit ­präformierten Selbsterfahrungsgruppen in Erfurt unter Ott (Ott u. Geyer 1972; Geyer 2000), in Berlin unter Höck, in Uchtspringe unter Wendt sowie Auswertung der Literatur fand im Dezember 1971 der erste zehntägige Internatslehrgang mit ca. 40 Teilnehmern unter Kurt Höck in Bad Schandau statt. Die Gruppenleiter waren erfahrene Psychotherapeuten, die die bisherigen gruppenpsychotherapeutischen Zentren vertraten. Jede Gruppe hatte ein eigenes Tagesprogramm, neben dem Gruppengespräch wurde Autogenes Training durchgeführt, weiterhin »Gymnastik« (unter A. Wilda-Kiesel) und »Musik« (unter C. Schwabe). Abends fand – bereits als Vorform der späteren Großgruppe – eine Hausgruppe statt, jetzt noch inhaltlich gestaltet mit Konfliktspiel, Wahl der Hauseltern (in Anlehnung an das bifokale Modell von Enke aus der Ulmer Klinik), zu Beginn des Seminars eine Einführungssitzung, Diskussion und am Ende eine Gesamtauswertung. Eine testdiagnostische Abschlusseinschätzung – die spätere B-Skala, die Gruppenbewertungsskala von H. F. Böttcher und Ott (s. Hess 1996b) – wurde hier von Böttcher als Selbst- und Fremdeinschätzung durch die weiteren Gruppenmitglieder konzipiert und eingeführt. Die Auswertung dieses ersten gruppenpsychotherapeutischen Selbsterfahrungsseminars sowie die weiteren Erkundungen mittels ausschließlicher Gruppenleiterseminare, später Trainerseminare genannt, z. B. in Werbellinsee, eines weiteren Selbsterfahrungsseminars in Berggießhübel, hier erstmalig mit Trainerpaaren (so Werner Blum/H. F. Böttcher, Dresden, Johanna Linsener/Jürgen Ott Berlin, Klaus-Peter Müller/InfridTögel, Ballenstedt und Uchtspringe) zweier Marathonsitzungen, davon eine über 17 Stunden unter Leitung von Höck und Ott in Stecklenberg, brachten weitere Erfahrungen über die Möglichkeiten und Grenzen dieser Ausbildungsform. Insbesondere in den anfänglichen Trainerseminaren waren die Fragen einer Trainereignung von Teilnehmern zu erkunden, die in der weiteren Zukunft als Gruppenleiter bzw. Ko-Leiter fungieren sollten. Hier waren vor allem die Stabilität sowie soziale Kompetenz der Trainerkandidaten wichtig. Bei der Zusammenführung der unterschiedlichen Selbsterfahrungskreise – insbesondere Berlin, Leipzig, Uchtspringe – zeigten sich die in der Literatur wiederholt diskutierten Probleme: das Problem des Gruppenleiters, der zugleich Vorgesetzter ist (Berlin), das Problem rivalisierender Kollegen einer Institution (Leipzig, Berlin), die Anspruchshaltung und Diskussion hinsichtlich der Methodenintegration (Kleingruppe, Großgruppe, Marathongruppe, Kommunikative Bewegungstherapie,

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Musiktherapie, Gestaltungstherapie, Diagnostik) bzw. die Gewichtung im Hinblick auf die Gestaltung des Selbsterfahrungsverlaufs. Die Konflikte und Spannungen waren teils erheblich, die Erfahrungen betrafen auch psychosomatische Reaktionen sowie einzelne psychische Desintegrationen. Im Ergebnis dieser ersten Seminare wurde das Eignungsprofil zukünftiger Trainer klarer, auf die Musiktherapie wurde in diesem Ausbildungsrahmen verzichtet, ebenso erwiesen sich Marathonsitzungen als wenig nützlich. Eine Art abschließende Trainernominierung für die nächste Kommunität erfolgte durch die Zusammenfassung potentieller Gruppenleiter in der sog. Gruppe V (fünf) innerhalb der ersten Ausbildungskommunität unter Leitung von Kurt Höck und Jürgen Ott im Zeitraum von 1974 bis 1976. Für die Selbsterfahrung als Trainer geeignete Personen zeigten charakteristischerweise eine große Ich-Stabilität im Sinne regressiver Abwehr (hoher K- und hoher ES-Wert im MMPI).

Kommunitätsstruktur, zeitlicher Verlauf Auf der Basis der geschilderten Vorerfahrungen kristallisierte sich schließlich eine Ausbildungsstruktur heraus, die sog. Kommunität, die durch eine spezifische Form und einen spezifischen Inhalt charakterisiert war. Vier bis fünf Kleingruppen von je zwölf Mitgliedern, männlich und weiblich je zur Hälfte, bildeten mit ihren Trainern eine Kommunität, das Trainerpaar waren späterhin in der Regel ebenfalls ein Mann und eine Frau. Die Trainer bildeten gemeinsam mit der Kommunikativen Bewegungstherapeutin die Trainergruppe. Kurt Höck, später auch Jürgen Ott und Waldemar Gunia fungierten als Leiter bzw. Supervisor. Die Trainer waren von Beruf psychotherapeutisch tätige Ärzte oder Psychologische Psychotherapeuten, die Teilnehmer psychotherapeutisch interessierte oder bereits tätige Ärzte aller Fachrichtungen, Psychologen, später auch Krankenschwestern bzw. Kommunikative Bewegungstherapeuten. Diese Struktur erwies sich dann in der folgenden Periode als arbeitsfähig und belastbar. Die Unterbringung aller Teilnehmer und der Trainer erfolgte langjährig in Klein-Pritz, einem ehemaligen kleinen Gutshof, sowie in den angrenzenden kleinen Knüppelholzbaracken, gelegen an einem Mecklenburger See in einer Landschaft voller üppiger Natur. Zum Gutshof führte eine Kastanienallee, hinter dem Haus blühte im Mai eine knorrige, schiefe Magnolie in voller Pracht, die alten riesigen Bäume, insbesondere die majestätische Blutbuche, entfalteten ihr Blätterdach. Die Unterbringung erfolgte in Mehrbettzimmern, das Essen wurde im großen Speiseraum gemeinsam an den jeweiligen Gruppentischen eingenommen. Die Seminare fanden jeweils für zehn Tage im Mai oder auch im Oktober statt. Die Tage begannen morgens mit einer Stunde Kommunikativer Bewegungstherapie sowie 90 Minuten Kleingruppe. Hiernach folgte die Gestaltungstherapie oder die Diagnostik – zeitweilig in der Sonne im Freien an großen Tischen. Während dieser Zeit tagte das Trainerteam zur Trainerbesprechung bzw. Supervision durch den Leiter. Über Mittag erfolgte eine lange ­Mittagpause – individuell nutzbar – z. B. auch zum Baden, im Herbst auch zum Pilze- oder Kastaniensammeln. Um 16 Uhr fand eine zweite Kleingruppensitzung von wiederum 90 Minuten statt. Um 20 Uhr tagte – ebenfalls für 90 Minuten – die Großgruppe, an der alle teilnahmen. Sie wurde geleitet durch den Leiter und einen Trainer, späterhin eine weibliche

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Trainerin. In das erwartungsvolle, etwas spannungsgeladene Schweigen der abendlichen Großgruppe hinein stimmten des Öfteren die Nachtigallen ihren klagend-sehnsüchtigen und dann schmetternden Gesang an. Dieser war später auch auf den Tonbändern zu hören, die sowohl in den Kleingruppen als auch den Großgruppen mitliefen. Am Ende der Kommunität fand eine Gesamtauswertung statt. Hier wurde auch die von der Psychologin und einer zeitweilig unterstützenden Studentin ausgewertete Begleitdiagnostik präsentiert und gemeinsam diskutiert. Die Kommunität schloss jeweils mit einem Abschiedsabend ab, der von den Gruppenmitgliedern gestaltet wurde. Eine Kommunität dauerte jeweils über drei Jahre, d. h., sie fand jeweils dreimal zehn Tage im Jahresabstand statt und häufig zwischenzeitlich vierteljährlich an einem entsprechenden Wochenende. Kurt Höck führte zum Teil gemeinsam bzw. im Wechsel mit Jürgen Ott diese Form der Kommunitäten von 1974 bis zum Jahre 1986 durch. Dabei leitete Höck die Kommunitäten I, II, III, V, VII sowie die Katamnesewoche über sieben Kommunitäten im Jahre 1986. Jürgen Ott leitete die Kommunitäten IV und VI. Es erfolgte Ende der 1980er Jahre eine weitere Aufteilung der Ausbildung in Gruppenselbsterfahrung durch die »Fürstentümer« Mecklenburg unter Waldemar Gunia in Schwerin, unter Roger Kirchner in Brandenburg sowie unter Leitung von Margit Venner in Thüringen. Mit dem Aussteigen von Kurt Höck aus der Psychotherapie sowie dem Weggang von Jürgen Ott nach Düsseldorf übernahm Heinz Benkenstein aus Hildburghausen die Tradition der Kommunitäten (} Abschnitt 6.5.3).

Modifikationen Im Rahmen der Kommunitäten wurde zugleich versucht, Erfahrungen von ausländischen Psychotherapeuten einzubringen, so von Herrn Urban aus Prag, der vor allem psychodramatische Aspekte einbrachte und den Ausdruck Kommunität aus der Tschechoslowakei ­mitbrachte, sowie von György Hidas aus Ungarn, der durch Gruppenphantasien stärker an analytische Aspekte anknüpfte. Eine Besonderheit stellte auch die internationale, deutschsprechende Gruppe im Rahmen der III. Kommunität dar. Dies griff später in Sofia Czeslaw Czabala auf und gründete gemeinsam mit mir ebenfalls eine internationale, jetzt jedoch englisch sprechende Selbsterfahrungsgruppe. Weitere Modifikationen stellten noch Versuche dar, im Rahmen einer Kommunität geschlechtshomogene Gruppen zusammenzustellen. Auch wurde zeitweilig eine Selbsterfahrungsgruppe als eine weitere therapeutische Gruppe – integriert in den klinischen Alltag der Klinik Hirschgarten – geführt (Ecke u. a. 1988, S. 38–52.). Eine interessante Dokumentation seines Erlebens solch einer Selbsterfahrungsgruppe hat John Erpenbeck in seinem Buch »Gruppenpsychotherapie« (1989) wiedergegeben. Werner Blum und H. F. Böttcher (1988) berichten ebenfalls über eine regionale Psychotherapie-Ausbildung mit gruppendynamisch geführten Intensivgruppen in Dresden.

4.5.2.2 Wolfgang Kruska: Kommunitäten oder »Lassen Sie sich ein, Widerstand ist zwecklos!« Der Widerstand in der Therapie, in der Lehranalyse oder in der Gruppenselbsterfahrung (GSE) kann als Hindernis oder als ein Schlüssel zum Verständnis betrachtet werden. Freud

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sah noch in »Hemmung, Symptom und Angst« (1925) den Widerstand als etwas Hinderliches an, setzte sich aber differenziert damit auseinander: »Wir haben uns früher einmal klargemacht, dass der Widerstand, den wir in der Analyse zu überwinden haben, vom Ich geleistet wird, das an seinen Gegenbesetzungen festhält [...]. Bei weiterer Vertiefung merken wir vielmehr, dass wir fünf Arten des Widerstandes zu bekämpfen haben, die von drei Seiten herstammen, nämlich vom Ich, vom Es und vom Über-Ich, wobei sich das Ich als Quelle von drei in ihrer Dynamik unterschiedlichen Formen erweist [...] Verdrängungswiderstand [...] Übertragungswiderstand [...] und der vom Krankheitsgewinn ausgehende [...] Die vierte Art des Widerstands, den des Es, haben wir eben für die Notwendigkeit des Durcharbeitens verantwortlich gemacht [Wiederholungszwang]. Der fünfte Widerstand, der des Über-Ichs, der zuletzt erkannte, dunkelste, aber nicht immer schwächste, scheint dem Schuldbewusstsein oder Strafbedürfnis zu entstammen« (Freud, 1925/1999, S. 189 ff.). Der Zusammenhang zwischen Widerstand und Abwehr als dem weitergehenden Begriff (Widerstand bezieht sich ja ursprünglich nur auf eine therapeutische Situation innerhalb der Psychoanalyse) ist in den folgenden Jahren intensiv diskutiert worden, z. B. von J. Sandler und anderen (Sandler et al. 1971). Reich hat dem Widerstand eine andere Bedeutung, eine Schlüsselfunktion zugewiesen. »Charakterpanzerung« ist ein Schlagwort geworden, jetzt eher gewesen. In einigen psychoanalytischen Wörterbüchern taucht der Begriff »Widerstand« überhaupt nicht mehr auf. Der »Charakterpanzer« ist Ergebnis eines Wechselspiels zwischen innen und außen, eine innere Bildung zum Schutz vor den Verletzungen durch das Außen, aber auch zur Regulierung der dämonischen Kräfte des Innen. Das Hauptmotiv dieser Bildung ist Angst. Nun ist die Angst in und vor der Welt kein spezifisch psychoanalytisches, sondern ein uraltes menschliches und religiöses Thema. Allerdings ist eine Neurosenentstehung ohne den Faktor Angst überhaupt nicht denkbar. Freud leitete die Angst (wie das Obige über den Widerstand in »Hemmung, Symptom und Angst«) sehr differenziert her: »Es entsteht die Frage, warum nicht alle Angstreaktionen neurotische sind, warum wir so viele als normal anerkennen; endlich verlangt der Unterschied von Realangst und neurotischer Angst nach gründlicher Würdigung [...]. Unser Fortschritt bestand in dem Rückgreifen auf die Situation der Gefahr [...]. Was ist der Kern, die Bedeutung der Gefahrsituation? Offenbar die Einschätzung unserer Stärke im Vergleich zu ihrer Größe, das Zugeständnis unserer Hilflosigkeit gegen sie, der materiellen Hilflosigkeit im Falle der Realgefahr, der psychischen Hilflosigkeit im Falle der Triebgefahr. Unser Urteil wird dabei von wirklich gemachten Erfahrungen geleitet werden [...] Heißen wir eine solche Situation von Hilflosigkeit eine traumatische; wir haben dann guten Grund, die traumatische Situation von der Gefahrsituation zu trennen. Es ist ein wichtiger Fortschritt in unserer Selbstbewahrung, wenn eine solche traumatische Situation von Hilflosigkeit nicht abgewartet, sondern vorhergesehen erwartet wird. Die Situation, in der die Bedingung für solche Erwartung enthalten ist, heiße die Gefahrsituation. In ihr wird das Angstsignal gegeben. Dies will besagen, ich erwarte, dass sich eine Situation von Hilflosigkeit ergeben wird oder die gegenwärtige Situation erinnert mich an eines der früher erfahrenen traumatischen Erlebnisse. Daher antizipiere ich dieses Trauma, will mich benehmen, als ob es schon da wäre, solange noch Zeit ist, es abzuwenden« (Freud 1925/1999, S. 179 ff.).

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Die Grundformen der Angst, die Fritz Riemann nennt, dürften sich allerdings – wenn auch in verdünnter, abgemilderter, bewusstseinsnäherer oder bewusster Form und damit nicht symptombildend – bei jedermann finden. Angst ist auch ein organismischer Vorgang und gehört zu allem Lebendigen. Falls ein Pantoffeltierchen Gefühle hätte, dürften wir die vergebliche Heftigkeit seines Entfernungsversuchs von einer lebensfeindlichen Substanz am Glasstab als Ausdruck seiner Angst interpretieren. Es schwimmt um sein Leben. Angst vor und daraus resultierender Widerstand gegen etwas, was als feindselig, schädlich, im unerwünschten Sinne beeinflussend, ja zerstörerisch angesehen oder als solches antizipiert wird, gehört zur Selbstbewahrung des Ich. Es ist für Therapeuten und vor allem ihre Patienten wesentlich und sogar lebenserhaltend, dass sie die Quellen ihrer eigenen Ängste kennenlernen und die Zweckmäßigkeit ihrer eigenen erworbenen Panzerung überprüfen, im Idealfall sogar verändern. Die Quantität und die Qualität der eigenen Angst und die zusätzlich in der Übertragung intendierte durch den Patienten werden die Freiheitsgrade bestimmen, zu denen man in Beziehungen fähig ist oder ob man von innen oder außen etwas zu treiben getrieben wird. Das ist genau das Agieren in der therapeutischen Situation, dass man zu etwas getrieben wird, ohne zu wissen warum. Eine solche Überprüfungssituation ist die Lehranalyse, eine solche Überprüfungssituation ist die GSE, die unter manchen Aspekten sogar wirksamer ist, weil in ihr regressive Prozesse viel intensiver und ungefilterter ablaufen. (Ich will mich bei der ausführlichen Darstellung der Gruppendynamik in diesem Band an dieser Stelle nicht auf deren Wirkfaktoren einlassen.) Kollektive Widerstände und die des Einzelnen (Slavson zählt 14 Widerstandsformen in der Gruppenpsychotherapie auf) und Angstphänomene bestimmen auch die zeitweilige Affekt- und Gefühlslage des Teilnehmers an der GSE. Der Freud’schen Darstellung folgend wollen wir betrachten, woher sie kommen. Das Wesentliche war bei Freud die Antizipierung einer Gefahrensituation, deren Quelle die Ohnmachtserfahrung in oder gegenüber einer traumatischen Situation ist. Im Verlauf der GSE gerät der Teilnehmer in einen in der Intensität schwankenden, aber sich immer stärker ausprägenden regressiven Sog, verbunden mit einer hochgradigen affektiven Beunruhigung, von der wir annehmen, dass sie Hauptwirkfaktor nicht nur in Gruppenprozessen, sondern in Therapien überhaupt darstellt. Versuche, sich diesem Sog zu entziehen, bleiben frustran. Das erlebende Ich ist diesen Prozessen ausgesetzt, ja unterworfen, und das vernünftige, das beobachtende, das analysierende Ich (Greenson) hat Schwerarbeit zu leisten. Mit Klassifikation, Sinn und Wert regressiver Prozesse hat sich M. Balint in Diskussionen mit den Freud’schen Annahmen zur Regression ausführlich beschäftigt. Balint fügt den von Freud schon erarbeiteten vier Funktionen (Abwehrmechanismus, Faktoren der Pathogenese, Widerstandsformen und wichtige Bündnispartner in der Therapie) eine weitere hinzu, Regression als eine spezifische Form der Übertragung im Dienste des Widerstands, und hebt den vierten Aspekt Freuds, Regression als Bündnispartner in der Therapie, besonders hervor. Mir scheint wichtig zu betonen, dass Regression in einer Beziehungskonstellation wie in der Gruppenselbsterfahrung immer nur ein Teil der gesamten Abwehrformationen ist. Zu Beginn ist sie mit reiferen Abwehrformen vergesellschaftet, wie Projektion, Identifizierung und Rationalisierung. Beim Fortschreiten der Regression treten immer stärker sog. unreife

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Abwehrvorgänge hinzu oder hervor wie projektive Identifizierung und auf der tiefsten Ebene sogar Spaltungsprozesse. Widerstand ist zwecklos. Die GSE unterscheidet von der Einzelanalyse oder Lehranalyse, dass das erlebende Ich im Grunde keine Pausen hat. Der Einzelpatient geht nach Hause in sein Büro oder zu seiner Familie und wird nicht nur gezwungenermaßen, sondern auch gern dem vernünftigen erwachsenen Ich seine Funktionen, die ja durchaus auch sinn- und lustvoll sein können, zugestehen, eine Alternative, die es im Rahmen der GSE in einem stationären Setting nur marginal gibt (das teilt sie mit therapieverdichtenden stationären Behandlungen). Warum sollte man aber auch überhaupt Widerstand leisten wollen bei einer doch so sinnvollen und eingesehen nützlichen Angelegenheit?! Theoretisch könnte man auf die seelischen Beharrungskräfte verweisen. Meine Erfahrung sagt mir allerdings, dass es sehr wichtige äußere Faktoren sind, die, über das eigene Mitgebrachte hinaus, dafür zuständig sind, wie Gruppenselbsterfahrung abläuft und wie viel man von ihr profitieren kann. Ich habe an drei sog. Kommunitäten teilgenommen, an der ersten 1970, der ersten in der DDR überhaupt. Sie fand in Bad Schandau statt. Leiter der Kommunität waren K. Höck und J. Burkhardt. Mir ist noch in guter Erinnerung, wie einige, heute sehr prominente, Psychotherapeuten, allerdings 40 Jahre jünger, die Großgruppe mit der Frage ausfüllten, wer denn nun mit der Beschaffung der Getränke zu betrauen sei. Die Kleingruppenarbeit, mein Trainer war J. Ott, war intensiv und durchaus auch ernsthaft berührend. Über dem ganzen Unternehmen lag wohl für die meisten Teilnehmer – vielleicht nicht unbedingt für Leiter und Trainer – eine Atmosphäre der Leichtigkeit. Wohl war auch hier die Elternthematik (vaterlose Söhne und Töchter) ziemlich bedeutend, aber unter dem Aspekt des Mangels an auch väterlicher Liebe, nicht so sehr unter dem Aspekt von Macht. Ich fuhr mit dem Eindruck nach Hause, etwas Gutes, Berührendes und Erhellendes erfahren zu haben. Kleinianisch könnte man sagen: Teilnehmer, Gruppe und Kommunität hatten die schizoid-paranoide Ebene nur tangiert, nicht wirklich erreicht. Nun wird das Erleben einer Selbsterfahrung von Person zu Person verschieden sein vom Grad der Affizierung, aber auch von der Tiefe der regressiven Prozesse her. Seit der zweiten Kommunität, an der ich teilnahm – es war die erste systematische Kommunität, die über mehrere Jahre (1974–1977), jeweils im Mai zehn Tage und im Intervall während eines verlängerten Wochenendes durchgeführt wurde –, hat mein vernünftiges Ich beobachten können oder müssen, wie mein erlebendes Ich in die paranoid-schizoide Position geriet. Das vernünftige Ich hatte Mühe, den Bildern von Isolation und Verfolgung standzuhalten. Ich denke, dafür gab es durchaus auch Anlässe – nicht Gründe, die liegen immer in einem selbst. Kommunitätsleiter waren Kurt Höck und der leider früh verstorbene Jürgen Ott. De facto gab es ein heftig rivalisierendes Triumvirat an der Spitze. Die Trainer waren durch einen 24-stündigen Großgruppenmarathon ausgesucht worden. Unter den acht Trainern war nur eine Frau, die nach der ersten Kommunitätsrunde nicht mehr wiederkam. Die nicht genommenen Kandidaten, quasi die »Offiziersanwärter«, wurden in einer Sondergruppe, die dann von Höck und Urban geleitet wurde, zusammengefasst. Dazu gab es vier weitere »normale«, gemischtgeschlechtliche Gruppen mit durchschnittlich zehn Teilnehmern. Unter den Teilnehmern herrschte ein hoher Bekanntheitsgrad, sogar mit mehrstufigen dienstlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Besonders betroffen waren die Teilnehmer aus dem Haus der

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Gesundheit Berlin, die sich entsprechend schwertaten, und es wohl auch den anderen schwermachten. Insgesamt herrschte, zumindest in der ersten Runde, eine Atmosphäre von Konkurrenz und Renommieren vor, die mich selbstverständlich nicht ausließ. Natürlich gab es auch positive Aspekte, interessante Erfahrungen und Begegnungen, besonders in der Halt gebenden Kleingruppe. Obwohl die Trainer durchaus vernünftige und sensible Leute waren, in der Kleingruppe verlässlich und kompetent, so wirkten sie als Trainergruppe von der Atmosphäre genau so affiziert wie die Teilnehmer. Die Spaltungsprozesse, hier erwachsene, verantwortungsbewusste Leute, dort rivalisierende, auftrumpfende Jünglinge, hatten offenbar auch vor ihnen nicht Halt gemacht (auch hier in unterschiedlicher Intensität). Am meisten ängstigend war für mich aber noch nicht einmal die Großgruppe, sondern die Durchführung des Psychodramas, das nicht in der Intimität der Kleingruppe, sondern in der Großgruppe stattfand, was dazu führte, dass es fünf bis zehn Teilnehmer und 40 bis 45 Zuschauer gab, wie es mir schien ein Akt der Manipulation und des Vorführens (den hysterische Strukturen vielleicht auch genossen), der möglichst im Schlafzimmer des darstellenden Teilnehmers zu enden hatte. Ich geriet immer stärker in eine Spirale von Wut und Angst und wurde immer ungewisser, ob ich meinen Gefühlen und Maßstäben überhaupt trauen könne. Nachdem ich nach einigen Tagen für ein, zwei Stunden davon überzeugt war, dass mir sowieso alle nur ans Fell wollten und hinter dem Ganzen Höck, Urban, die SED und vielleicht auch der KGB stecken könnten und dass sowieso bald die Russen wiederkämen, obsiegte das vernünftige Ich. Ich sah, dass ich nicht in Banden lag, sondern in einem selbstgewebten Spinnennetz, das ich selbst zu zerreißen imstande war, was dann auch symbolisch geschah. Ich war wohl kurz auf den Boden der schizoid-paranoiden Position durchgesackt, in einem Prozess, der einen wie auf einer Rodelbahn oder auf einer Wasserrutsche immer schneller nach unten treibt. Die Zeile aus Friedrich Schillers Ballade »Der Taucher« »[...] da unten aber ist’s fürchterlich [...]« hat seitdem für mich eine ganz neue Bedeutung. Zumindest in dieser ersten Phase der Kommunität ging es, Spiegelbild der Gesellschaft, in der wir lebten, im Kern um Macht, um Einfluss, um »Größe« – wovon auch immer. Die nächsten Runden der Kommunität verliefen »ruhiger, normaler«, nicht so aufgeheizt und brachten schließlich ein befriedigendes und versöhnliches Ende, sicher ein Ergebnis der Emanzipation der Trainergruppe und schließlich der Kleingruppen. Mit etwas Abstand, und nachdem es mir gelungen war, meine Gefühle zu sortieren, fand ich den Zugang und die Verbindung zwischen Großgruppe, Psychodrama und meiner aggressiv abgewehrten Angst. Freud hat recht: Ohnmächtig der Manipulation und der Beschämung ausgesetzt zu sein und in dieser Ohnmacht unter die Stiefel vermeintlich strammer Krieger zu geraten, dürfte das Hauptmotiv meiner Angst und meiner Abwehrmanöver gewesen sein. Gleichzeitig war mir sehr wohl bewusst, dass diese »furchtbaren« Krieger nicht oder nicht viel anders waren – als ich selbst. Die wichtigste Kommunität für mich war allerdings die fünfte Kommunität, in der ich Trainer war. In ihr habe ich die besondere Bedeutung der inneren Prozesse im Trainer bzw. Therapeuten nicht nur verstanden, sondern auch begriffen. In meiner Arbeit zum Kipprozess habe ich versucht darzustellen, dass zwei Teilaspekte die Seinsweise des Gruppentherapeuten konstituieren: zum einen, dass er Therapeut bzw. Trainer und damit privilegiertes Objekt der in der Gruppe vielfältigen Übertragungsgefühle ist, die in der tieferen Regression

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der Gruppe sehr häufig als projektive Identifikation ablaufen, zum anderen, dass er als Gruppenmitglied nolens volens einer unter vielen ist, zwar in einer durch Privilegierung besonderen Position, aber Subjekt unter Subjekten, und dass er die einzelnen Ebenen der zentralen Beziehungswünsche und der sie abwehrenden Ängste und Widerstandsbildungen genauso durchläuft wie jedes andere Gruppenmitglied auch. Und dazu muss er ständig zwischen eigenen authentischen, Gegenübertragungs- und Übertragungsgefühlen differenzieren. Ansonsten war es eine Kommunität, deren schwierige Trainerbesetzung die Arbeit ungeheuer anstrengend machte und uns Trainer und auch den Kommunitätsleiter K. Höck an den Rand, manche Teilnehmer auch über den Rand der psychischen Belastbarkeit brachte. In dieser Situation kam uns die eigene Erfahrung sehr zugute. Sicher wird C. Seidler auch auf manche Aspekte dieser Kommunität besonders eingehen, die andererseits auch ganz interessante Konstellationen mit sich brachte. Bei den späteren Kommunitäten (Geyer, Benkenstein) wurde wesentlich durchdachter vorgegangen. Widerstand ist zwecklos. Man kann regressiven Prozessen in Lehranalyse und Gruppenselbsterfahrung aus dem Weg gehen, indem man diese gar nicht erst macht. Wenn man sich in eine dieser Formen einlässt, ist man auch durch die dynamisch regressiven Prozesse involviert. Wie weit es Analytikern und Lehranalytikern bewusst ist, dass sie Teil dieser Prozesse sind und sich daraus enorme Verständnis- und Veränderungschancen ergeben, wird bei jedermann verschieden, von Erfahrung und Ausrichtung abhängig sein. Affektive Prozesse in Gruppen sind nicht vorwiegend furchtbar. Sie sind lebendig und belebend, progressiv und bereichernd. Und Widerstand ist keine Äußerungsform des Todestriebes; dass das Lebendige ins Unlebendige zurückkehren muss, heißt m. E. nicht, dass es danach strebt.

4.5.2.3 Helga Hess und Ernst Wachter: Die internationale Selbsterfahrungsgruppe von Kurt Höck und Jürgen Ott Sie waren sich wohl selten näher als in ihren gemeinsamen Gruppen, der warmherzige, verstehende Jürgen Ott und der charmant provozierende Kurt Höck. Und so verteilten sie auch ihre Rollen, Jürgen Ott als Gruppenmutter in der Ko-Funktion, Kurt Höck als der Vater oder auch eher respektierlich genannter Papa. Die internationale Gruppe war voll integriert in den normalen Ablauf der gesamten Kommunität III (1977–1979), an der sie als fünfte Gruppe teilnahmen. Die Verständigungssprache war entsprechend Deutsch. Die Teilnehmer kamen aus Polen, aus Ungarn, aus Bulgarien, aus Litauen und Grusinien (damals noch UdSSR), aus der damaligen Tschechoslowakai sowie aus der DDR. Die insgesamt 15 Mitglieder, sieben Frauen und acht Männer, waren überwiegend Ärzte, zumeist Psychiater, weiterhin drei Psychologen. Die Motivation von Kurt Höck für eine derartige Gruppe waren das Kennenlernen und die Verständigung einer psychotherapeutischen Generation über die Ländergrenzen hinweg, die fachliche gruppenpsychotherapeutische Erfahrung, auch zukünftig möglicherweise gegenseitiger fachlicher Austausch und Zusammenarbeit. Bis auf eine Frau blieb die Gruppe über drei Jahre bestehen. Danach zeigte sich eine rege Mobilität: Die beiden Tschechoslowaken gingen nach Australien und nach England, der Grusinier ging nach Frankreich, die Bulgarin blieb in Deutschland.

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Bereits beim ersten Treffen entstand eine lebhafte Dynamik, die aufgrund der sprachlichen Vereinfachung des Ausdrucks teilweise zugleich recht erheiternd war. Auf diese Weise erfolgte auch eine erste »Entmachtung« des Trainers durch den Grusinier, der mit den meisten sprachlichen Schwierigkeiten und seiner sonoren Stimme gleichzeitig zu der konkretesten Kommunikation beitrug. Die beiden weiteren Kommunitätstreffen verliefen für die Gruppe konstruktiv, wobei vor allem die konkreten Begegnungen der internationalen Gruppe abends in der Großgruppe zwischen allen Teilnehmern recht fruchtbar, anregend und bereichernd waren. Das Besondere dieser Gruppe war, dass nach der dreijährigen Kommunitätsarbeit 1979 die Mitglieder sich (bis auf die »Auswanderer«) bis zur Wende 1989 weiter trafen. Dies geschah entweder parallel zu größeren Tagungen, vorzugsweise jedoch jeweils am Ort eines Mitglieds, um so neben der Gruppenarbeit das spezifische Arbeitsfeld des Gastgebers kennenzulernen. Sehr interessant war der Besuch bei Gáspár Tákách, der nahe Budapest ein Dorf kreierte, das – unter dem Schutz des Arztes und der Sozialarbeiter – trockene Alkoholiker mit ihren Familien ansiedelte. Sie arbeiteten auf einer großen Apfelplantage. In der Budapester Klinik fanden zuvor Entgiftung, Akupunktur und zugleich Gruppenarbeit statt. Dana Galiene – als wissenschaftliche Mitarbieterin, heute Professorin – führte durch die alte Universität in Vilnius. Alexander Alekseitschikas demonstrierte in Vilnius die Gruppenarbeit mit litauischen Patienten. Ernst Wachter in Haldensleben zeigte seine PsychotherapieAbteilung mit 20 Betten und integrativem Stationsablauf. Höhepunkt dieser Treffen war eine von Ernst Wachter unter der Schirmherrschaft dreier Regionaler Gesellschaften von Sachsen-Anhalt organisierte »Internationale Arbeitstagung« vom 9. bis 14. Juni 1987 in Haldensleben, die von der Gruppe gestaltet wurde. Jedes Mitglied trug ein auch wissenschaftlich anspruchsvolles Referat über die eigene Tätigkeit vor, die unter dem Motto der »Integration der Gruppenarbeit in die Medizin« verstanden werden konnte. Sie dokumentierten eindrucksvoll die Nützlichkeit dieser internationalen Selbsterfahrung. Sie spiegelten das Engagement und die weitere sehr produktive individuelle Entwicklung der Gruppenmitglieder wider, einschließlich des Erlangens verantwortlicher Positionen (Professuren, Klinikleiter, Abteilungsleiter, Übernahme von Aus- und Weiterbildung im Fachgebiet), verbunden mit der Erarbeitung von Behandlungskonzeptionen und entsprechend großem Nutzen für die medizinische Versorgung in ihren Ländern. Der Austausch der Gruppenmitglieder war insgesamt sehr befruchtend, anregend kritisch und von gegenseitigem Wohlwollen getragen. Nach der Ausreise von Jürgen Ott nach Westdeutschland 1985 trat ich an die Stelle einer Ko-Trainerin, wobei diese spezielle Positionierung längst in den Hintergrund getreten war. Nach dieser Tagung in Haldensleben 1987 nahm Kurt Höck an weiteren Treffen auch nicht mehr teil. Ein Teil der Gruppe traf sich jedoch weiterhin bis zur Wendezeit. Die letzte Sitzung fand im Oktober 1989 auf einem schlossartigen Gutshof in Polen statt. Außer einer sehr komfortablen Unterkunft in altem historischen Stil – große Gesindeküche, Jagdzimmer, Prinzessbett mit Baldachin etc., ein Ort wie der Sitz des Barons, von dem aus meine Familie (H. H.) die Flucht im Planwagen 1945 angetreten hatte – hingen wir alle an einem kleinen Radiosender – mit viel Sorge und Befürchtungen: um Solidarnoćś in Polen, um die Reaktion in Ungarn, auch um Vilnius und Litauen, Angst, was in Berlin geschieht, mit dem Sohn in der Armee. Es war eine emotional angespannte Situation – für viele von uns eine Wiederholung der Kriegs-

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ängste, die Flucht aus Schlesien. Ebenso Urzula, sie war eine in Polen gebliebene Deutsche, Alexander war gebürtig aus Minsk, also kein Litauer, Barbara war in Solidarnoćś integriert. Von Gorbatschow hörten wir die Worte: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Es wurde nicht geschossen, wir atmeten auf. Wir fuhren zurück in unsere Länder, uns erwarteten ungewisse Aufgaben. Ein nächstes Mal trafen wir uns als Arbeitskollegen anlässlich des 3. Symposiums der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie Ende September 1990 in Berlin. Diese Tagung stellte von den Gruppenmitgliedern zugleich eine Hommage an Kurt Höck dar. Nahezu alle waren gekommen, sie leiteten entweder einen Workshop, eine Arbeitsgruppe oder hielten einen Vortrag. Es war ein schönes Gefühl, an der Schwelle zur deutschen Vereinigung, an der Schwelle zu einer Neuordnung der Welt unter Freunden zu sein.

4.5.2.4 Helga Hess: Die Forschung zur Gruppenpsychotherapie und Selbsterfahrung Forschung als drittes Bein der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie sollte die Lehr- und Lernbarkeit untermauern bzw. für die tägliche Handhabung ein brauchbares Werkzeug erarbeiten. So wurden von den Mitarbeitern sehr viele, teils sehr mühevolle Untersuchungen durchgeführt, um diese Methode zu belegen. Theorie und Forschung sind voneinander abhängig und von der Einbettung in Gesamtzusammenhänge. Deren Veränderung lässt immer wieder neue Sichtweisen hervortreten. Es sind mehrere Wurzeln, die ihren Einfluss auf die Umsetzung der Theorie Höcks bzw. auf die Methodenentwicklung geltend machen: die Sozialpsychologie mit der Einstellungstheorie (Usnadse-Schule) sowie der Tätigkeitstheorie. Die Weiterentwicklung durch Hans Hiebsch, Manfred und Gisela Vorwerg erfolgte in den Instituten in Jena und Leipzig. In weiteren Leipziger Einrichtungen waren es vor allem Dieter Feldes und H. F. Böttcher, die sich mit Forschungsfragen auseinandersetzten. Einen großen Einfluss hatte die Kleingruppenforschung, die für uns vor allem durch Heigl-Evers mit der Begriffsdefinition z. B. der Aktion, des Ziels und des Gegners für die Betrachtung des Gruppenprozesses nahegebracht wurde. Hierzu gehört auch die Forschungsabteilung von Helmut Enke in Stuttgart, deren Hauptanwalt für die Gruppenpsychotherapie Volker Tschuschke wurde. Sehr wesentlich waren die Überlegungen und Erkundungen der Rangdynamik und Rollenbeschreibung von Raoul Schindler, Wien. Sie bildeten die Grundlage für das bei uns entwickelte nahezu obligatorische Soziogramm in der Gruppenarbeit. Darüber hinaus wurden internationale Kontakte vor allem zu den Budapester Kollegen (Hidas, Szönyi, Harmatta), zur Psychotherapie-Abteilung von Stefan Leder in Warschau, zum Bechterew-Institut in Leningrad mit den Kollegen Kawarsarski und Galina Issurina gepflegt. Sie wirkten befruchtend auf unsere wissenschaftliche Arbeit. Der Forschungsansatz, d. h. die Umsetzung in eine psychometrische Abbildung des Gruppengeschehens, ist in Höck (1982), außerdem in den jeweiligen Dissertationen zur Gruppenpsychotherapie explizit dargelegt (Höck 1977, Froese 1973, Hess 1986a, 2006). Er geht vom biopsychosozialen Aspekt des Menschen aus, von der Therapie in, mit und durch die Gruppe, von der Entwicklung einer Gruppendynamik zu einer arbeitsfähigen Gruppe, in deren Rahmen dann die individuellen Konflikte bearbeitet werden. In der Gruppentheorie von Höck wurde der Aspekt eines Kippvorganges von der Vorarbeitsphase in eine

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Arbeitsphase von verschiedenen Seiten problematisiert. Hidas sprach von Knotenpunkten an den Übergängen von den Phasen, d. h., ein Kippprozess wurde nicht faforisiert. Interessant ist, dass sowohl Annelise Heigl-Evers als auch Annemarie Dührssen viel eher auf eine Therapieform mit dem Prinzip Antwort einschwenkten, während Ardjomandi als auch Höck – zwar in entgegengesetzterweise – eine aggressive Auseinandersetzung durch Interpretation verhinderten bzw. anheizten. Hier scheint mir auch ein geschlechtsspezifischer Einfluss von Gruppenführung vorhanden zu sein. Spezifische Aussagen zum Kippprozess finden sich bei Kruska (2001), Ermlich (1980), Kirchner (1980), Maaz (1988) sowie in konkreten Untersuchungen von Maaz und Schliwa (1988) sowie Seidler (1984) und bei Froese (1982). In den Jahren 1970 bis 1979 wurden Verfahren zur Erfassung der Gruppenpsychotherapie vor allem entwickelt, erkundet und auf ihre Relevanz überprüft. Es handelt sich um folgende Verfahren:

Das Soziogramm nach Hess und Höck Auf der Basis der Ausführungen von R. Schindler (1960) und Heigl-Evers (1967a) zu den soziometrischen Positionen in einer Gruppe ging es uns darum, die Strukturiertheit von Gruppen psychometrisch zu erfassen. Über erste Erfahrungen konnten wir 1969 sowie 1970 berichten (Hess, 1969, Hess 1970). Auf Anregung von C. Posthoff und H. F. Böttcher (1982), die das Maß der elektiven Entropie zur Erfassung von Strukturierung einsetzten, ermittelten Lenz, Hess und Höck (1973) anhand einer Überprüfung unterschiedlicher Frageschemata eine Soziogrammform, die als Soziogramm von Höck und Hess Eingang in den täglichen Gruppenalltag – quasi als Fieberkurve – zur Orientierung für den Psychotherapeuten fand. Die Beschreibungsaspekte dieser Positionen versuchten wir einerseits nach den Kategorien von Anziehung und Abstoßung, Sympathie und Antipathie – in Morenos Sinne als affektive Grundvoraussetzungen für Beziehung überhaupt – zu definieren, andererseits in Kategorien der Tätigkeitsbeschreibung wie Einflussnahme, Realitäts- bzw. Zielbezug und Widerspruch. Es konnten die Gruppenpositionen des Alpha, Omega, der Gammas, des Beta über Gruppenwahlen ermittelt werden, zugleich auch noch eine weitere Position, des in seiner Aktivität ambivalent Wahrgenommenen, Umstrittenen und damit für die Gruppe zugleich ein Irritator, ein Provokateur – in der Politik zeitweise personifiziert durch Thilo Sarrazin –, der die Alpha-Omega-Zentrierung labilisiert und damit die weitere Gruppendynamik vorantreibt. Er ist durch höchste eigene Affektwerte ausgewiesen. In dieser Position ist jedoch – auch für ihn – keine Bearbeitung eigener Problematik möglich. Er ist in dieser für ihn risikobehafteten Situation ungeschützt, auch somatisch gefährdet (Hess 1996a). Die Erfassung der soziometrischen Positionen ermöglicht eine Orientierung bezüglich des überwiegend emotional-affektiven Zustandes der Gruppe, sie bildet die gruppendynamischen Beziehungsmuster zwischen den Gruppenmitgliedern ab. Von Froese (1982) stammt eine erste umfassende Untersuchung mittels des Soziogramms an zehn Patientengruppen über jeweils 33 Sitzungen. Es wurden Ergebnisse zum Gruppenverlauf, insbesondere zur Abbildung des Kippvorganges, von der Vorarbeitsphase zur Arbeitsphase und zu den Korrelationen zwischen Sprechhäufigkeit und sozialem Status vorgelegt. Es konnten drei Konfigurationstypen ermittelt und erste Kriterien für die individuelle Entwicklung defi-

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niert werden. Meine Soziogrammuntersuchungen definieren – ebenfalls wie die psychophysiologischen Untersuchungen (Hess 1990) – insbesondere die selbstreflektierende, analysierende Position im Hauptpersonenstatus (Hess 1985).

Das Polaritätenprofil von Feldes (1976) Dieses – dem Stuttgarter Bogen vergleichbare – Instrumentarium gestattet eine über die Statuserfassung hinaus mehrdimensionale Erfassung der Entwicklung des Gruppenprozesses bzw. der Beziehungen der einzelnen Personen zueinander. Es bildet die Dimensionen Potenz, Valenz und Erregung ab. Sein Einsatz wurde sowohl in der Einzeldiagnostik zur Erfassung interaktioneller Bezüge (Selbstbild, Fremdbild, Idealbild etc.), in der Paardiagnostik als auch in der Gruppendiagnostik – hier im Verlauf und in der Effektivität – eingesetzt. Mit diesem Verfahren (in der Kurzform) überprüften Kneschke und ich (Hess u. Kneschke 1982) bei 21 Gruppen die Relation zwischen Individuum, Gruppe und Therapeut im zeitlichen Verlauf. Es wurden äußerst interessante Aussagen zur Gegenübertragung des Therapeuten und entsprechendem Gruppenverlauf ermittelt (Hess 1986a).

Die Interaktions-Prozess-Analyse nach Bales Das Verfahren von Bales, die überarbeitete IPA, versucht – ähnlich wie das Polaritäten­­pro­fil, das SYMLOG-Verfahren oder der IIP in der Persönlichkeitsdiagnostik – den immer wieder – in entsprechenden Untersuchungen – erkundeten dreidimensionalen sozialen Raum, hier in den Dimensionen Up-Down, Positiv-Negativ, Forward-Backward, zu erfassen. Froese überprüfte das sprachanalytische Verfahren und setzte es vor allem zum Vergleich der interpersonalen Beziehung im sozialpsychologischen Training und der Gruppenpsychotherapie im Rahmen seiner Dissertation (Froese 1981a) ein. Höck und ich konnten im Rahmen von Untersuchungen zur Selbsterfahrung mittels Projektion dieser Abbildungsebene (U-D, P-N, F-B) auf soziometrische Positionen (Alpha, Beta, Omega etc.) diese in ihrer sozialen Gerichtetheit näher ausleuchten.

Die Hill-Interaktionsmethode Angeregt durch die ungarischen Kollegen erprobten und überprüften wir die Hill-Interak­ tionsmatrix für unsere Fragestellungen (Höck u. Hess 1979). Sie erfasst Sprachkategorien, diese zum einen unterteilt nach inhaltlichen Kategorien (Allgemeines, Gruppe, Persönliches, Beziehung), zum anderen nach Arbeitsstil-Kategorien (reaktiv, konventionell, assertiv, spekulativ, konfrontativ). Diese Kategorien charakterisieren die Gruppe im Hinblick auf ihr Arbeitsniveau als Vorarbeit oder Arbeit. Hierbei war das recht aufwendige Hill-Verfahren der Act-by-act-Auswertung vorbehalten, während die HIM-G-Form sich für die globale Einschätzung einer Gruppenstunde durch Rater eignete. Dieses Verfahren lässt sehr differenzierte Untersuchungen zu, erfordert aber eine Interraterübereinstimmung bzw. eine Normierung, die wir anhand von 21 Gruppen bei ca. 1000 Stundeneinschätzungen für das HIMG-Verfahren vornahmen. Für das HIM-G-Verfahren entwickelte ich einen programmierten

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Kurs, mit dem einerseits die Kollegen in den Selbsterfahrungsseminaren und andererseits auch die Schwestern in der stationären Psychotherapie-Abteilung trainiert wurden. Die Kenntnis des HIM-G-Verfahrens gestattet dem Therapeuten eine größere Durchsicht, einen klaren Überblick über die Beurteilung des Gesprächsniveaus, auf dem sich die Gruppe befindet, insbesondere aber, ob man als Therapeut das sprachliche Gruppenniveau – d. h. den erreichten Kommunikationsstand – absenkt oder fördert. Mit der Hill-Methode arbeiteten vor allem ich (Hess 1986a) und Kneschke (in Höck 1984) in Folgeuntersuchungen.

Das Fokalkonfliktmodell von Stock-Whitacker und Liebemann in der Modifikation von Ecke und Schwarz (1982) Während das Bales-Kategoriensystem auch von einem dynamischen Ansatz im Sinne von Widerspruchserfassung und Lösungen ausgeht, hat das Fokalkonfliktmodell durch die Erfassung latenter Inhalte einen stärker analytischen Bezug. Es enthält als Konfliktmodell die Spannung zwischen beunruhigenden Tendenzen (Impuls, Wunsch) und reaktiven Tendenzen (als entgegengesetzte Furcht) sowie den daraus resultierenden Lösungsanteil unterschiedlicher Akzeptanz, d. h. gegebenenfalls eine weitere Widerspruchsdynamik. Christa Ecke und Erika Schwarz haben diesen qualitativen Ansatz zur Erfassung der Gruppen­dynamik näher analysiert und 14 Konfliktkategorien beschrieben. Damit kommen sie bereits der Erfassung von Abwehrvorgängen und den latenten Inhalten affektiver Prozesse näher. Dieses Verfahren wurde ebenfalls bei der Videostudie (} Abschnitt 4.8.1.1 von Hess) eingesetzt.

Forschungen in der Gruppenselbsterfahrung (SE) Gegenüber den Forschungen in der Gruppenpsychotherapie bei neurotischen Patienten verschiebt sich der Schwerpunkt der SE-Forschung auf die Frage zunehmender beruflicher Kompetenz als Gruppentherapeut. Da in der Psychotherapie der Therapeut selbst das wesentliche Instrument darstellt, stellt sich die Frage, welche persönlichen Eigenschaften und Motivationen vorhanden sein bzw. gefördert werden müssen, um Therapiegruppen effektiv zu leiten. Hierzu gehört auch – im Unterschied zu anderen medizinischen Disziplinen – die eigene Erfahrung als Gruppenmitglied, um Einfühlung zu gewährleisten und für Spiegelung zur Verfügung zu stehen. Damit unterscheiden sich beide Gruppierungen in ihrer »Therapie«motivation. Dennoch eignen sich Verfahren der Gruppenprozessforschung zur Untersuchung. Drei Zielstellungen diente der Einsatz von diagnostischen Verfahren in der SE: dem Kennenlernen verschiedener Persönlichkeits-, Gruppen- und Effektivitätsmessinstrumente; der persönlichen Erfahrung beim Einsatz dieser Erfahrung hinsichtlich Umfang, Inhalt, Zumutbarkeit u. Ä.; und der wissenschaftlichen Erfassung. In der SE wie auch bei weiteren Untersuchungen im Therapieverlauf spielte die Erfassung der Ausgangssituation sowie der Effektivität neben den gruppendynamischen Verfahren eine unumstrittene Rolle. (Zu den einzelnen Verfahren s. unter Höck u. Hess 1981 sowie Hess u. Höck 1988.) Von den Teilnehmern der SE-Seminare als auch den Teilnehmern der Vorformen der Kommunitäten wurden katamnestisch anhand der persönlichen Einschätzungen vor allem

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positive Aussagen gemacht in Richtung des Erlangens größerer Sensibilität für eigene und fremde Einstellungen und Verhaltensweisen, größerer Einsicht in Beziehungen zu anderen sowie mehr Transparenz in Gruppenprozessen (Hess u. Höck 1988, S. 73). Damit zeigte sich die angestrebte Motivation zur Durchführung von Selbsterfahrungsseminaren im Wesentlichen erst einmal bestätigt. In Auswertung der zahlreichen testpsychologischen und Fragebogenerhebungen kommen wir, Höck und Hess, zu folgenden Einschätzungen: Die SE-Gruppen wurden von dem größten Teil der Teilnehmer als persönlichkeitsfördernd angesehen, es sind positive Veränderungen von Einstellungen im affektiven Erleben, in der Selbstbewertung und im sozialen Raum wahrscheinlich. Diese Veränderungen scheinen jedoch spezifisch und eingegrenzt im Hinblick auf größere Reflexion motivationaler Aspekte und somit größerer Toleranz in sozialen Beziehungen. Scheinbar weniger beeinflusst sind volitive Aspekt, Aspekte der Eigenständigkeit und Autonomie der Persönlichkeit. Es kristallisieren sich im Vergleich zu anderen Ausbildungsformen spezifische Stile im Therapieverständnis heraus. Die SE schlägt sich nur bei gut der Hälfte der Teilnehmer in einer psychotherapeutischen Karriere nieder, d. h. in Form von Übernahme von Verantwortlichkeiten in den Bereichen Therapie, Ausbildung und Lehre. Männer und Frauen profitieren insgesamt unterschiedlich von dieser Form der Selbsterfahrung. Bei Frauen hat die Risikofreudigkeit und Spontaneität im Vergleich zu einer weiblichen Kontrollgruppe zugenommen, bei Männern die Einfühlung: Sie bewerten eigene Gefühle realistischer, nehmen die eigene Rolle am Arbeitsplatz bewusst wahr, sind kreativ, Probleme am Arbeitplatz nehmen ab. Ein Vergleich von 260 SE-Teilnehmern aus Klein-Pritz mit 524 SE-Teilnehmern aus der BRD von Maul und Kiefner (1985) zeigt eine signifikante Änderung im Hinblick auf den motivationalen und sozial-kooperativen Bereich in unserer Stichprobe. Sie betreffen Wahrnehmen, Bewerten, Geltenlassen, Ertragen, Verständigen – vorzugsweise Einstellungen, die sowohl im Hinblick auf die Familie als auch am Arbeitsplatz zur Geltung kommen. Keine Unterscheidung der Stichproben fand sich in der Veränderung von Aussagen, die aktives Handeln und die dazugehörigen Strategien – Entscheiden, Abgrenzen, Kontrollieren, Steuern, Leiten – einschließen.22

4.5.3 Gesprächspsychotherapie 4.5.3.1 Inge Frohburg: Gesprächspsychotherapie I: Die universitären Gründerjahre Die Gesprächspsychotherapie hat in der DDR – ebenso wie in der (alten) Bundesrepublik Deutschland und zuvor in den USA – ihren Weg in die klinische Praxis über die Universitäten und da vorrangig über die akademische Psychologie gefunden. 22 Alle persönlichen Testdaten, auch die Tonabandmanuskripte, wurden sieben Jahre nach der Wende und Auflösung des IfPN aus Datenschutzgründen von mir vernichtet. Die Tonbandmanuskripte der Gruppe V, Kommunität I, waren im Besitz von J. Ott, der 2003 verstarb.

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

»Heimstatt« der Gesprächspsychotherapie in der DDR ist die Humboldt-Universität zu ­Berlin.23 Mitte der 1960er Jahre begannen die damals im Lehrbereich Klinische Psychologie der Sektion Psychologie täti­gen Mitarbeiter, ihre Ausbildungs- und Forschungsarbeit neu auszu­richten. Das hing mit der 1963 erfolgten Spezialisierung des Universitätsstudiums in der Fachrichtung Psychologie zusammen: Es sollten nicht mehr universell einsetzbare Diplom-Psychologen, sondern stärker praxisbezogen Diplom-Psychologen verschiedener Fachrichtungen24 – u. a. der Klinischen Psychologie – ausgebildet werden. Damit waren neue Anforderungen insbesondere im Hinblick auf die klinisch-psychologische Diagnostik und Therapie, vorrangig die ­Psychotherapie, verbun­den. In diesem Zusammenhang haben sich die damaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter des Lehrbereichs Klinische Psychologie, Dr. rer. nat. Johannes Helm (geb. 1927) der Gesprächspsychotherapie und Dr. rer. nat. Jürgen Mehl (1928–1995) sowie Dr. med. et rer. nat. Heinz-Ewald Strauß (geb. 1933) der Verhaltenstherapie zugewandt. Johannes Helm hat nach vielen Vorarbeiten im Dezember 1968 aus und mit Studenten eine kleine Arbeits- und Forschungsgruppe gebildet, der ich anfangs als Forschungsstudentin und später als Mitarbeiterin des Lehrbereiches Klinische Psychologie angehörte und die ich nach seinem Ausscheiden von 1986 bis zu meiner Pensionierung 2003 weitergeführt habe. In dieser »Initiativgemeinschaft« haben wir uns die theoretischen Grundlagen der Gesprächspsychotherapie angeeignet und uns zugleich eine praktische gesprächspsychotherapeutische Basiskompetenz erarbeitet. Für dieses – durch die gegebenen politischen Bedingungen erzwungene – rein autodidaktische Vorgehen wurden jeweils privat »irgendwie« Fachbücher »aus dem Westen« beschafft und aus diesen sehr mühsam und zeitaufwendig umfangreiche handschriftliche Auszüge angefertigt, ausgetauscht und intensiv diskutiert. Die »Praxiserprobung« erfolgte im Rahmen unserer Ambulatoriumstätigkeit (s. nachfolgenden Unterabschnitt »Universitäre Gesprächspsychotherapie-Praxis«). Wichtig und hilfreich waren dabei Tonbandaufnahmen von Gesprächspsychotherapien, die wir von dem Professoren-Ehepaar Annemarie und Reinhard Tausch von der Universität Hamburg25 erhalten hatten. Das ermöglichte uns, 23 Die seit 1949 so genannte Humboldt-Universität zu Berlin (HUB) war die größte Universität der DDR. Sie wurde 1809 auf Initiative des preußischen Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt gegründet und nahm 1810 als Berliner Universität ihren Lehrbetrieb auf. 1948 spaltete sich im Zusammenhang mit den politischen Ost-West-Konflikten der Nachkriegszeit die Freie Universität ab. – Das von Carl Stumpf eingerichtete psychologische Institut an der HUB besteht seit 1900 und gehört seit 1946 zur MathematischNaturwissenschaftlichen Fakultät. Es war in den 1960er Jahren die einzige Ausbildungsstätte für Klinische Psychologen. Jährlich wurden 15, später 30 Studierende immatrikuliert. 24 Die Fachrichtung Arbeitspsychologie wurde an der Technischen Universität Dresden, Sozialpsychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Arbeits- und Ingenieurpsychologie ebenfalls an der HumboldtUniversität zu Berlin vertreten, Klinische Psychologie ab 1974 auch an der Karl-Marx-Universität Leipzig. 25 Reinhard Tausch (geb. 1921) und seine Ehefrau Anne-Marie Tausch (1925–1983) haben die von Carl Rogers in den USA seit Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte »client-centered therapy« als »Gesprächspsychotherapie« in Deutschland bekannt gemacht. Reinhard Tausch erhielt 1991 für seine Verdienste um die angewandte Psychologie die Hugo-Münsterberg-Medaille des Berufsverbandes Deutscher Psycho­ logen und 2002 in Würdigung seiner wissenschaftlichen Leistungen für das Gemeinwohl das Bundes­ verdienstkreuz 1. Klasse.

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an bereits vorhandenen Erfahrungen teilzuhaben, Vorbilder zu erkennen und auch unseren eigenen (persönlichen) Stil zu entwickeln.26

Warum Gesprächspsychotherapie? Für den Anschluss an die Gesprächspsychotherapie sprachen vorrangig drei Gründe, die zunächst ihre universitäre »Zulassung« ermöglichen und dann auch weiterhin ihre Entwicklung in der DDR bestimmen sollten: – Für die Gesprächspsychotherapie sprach zunächst der humanistische und emanzipatorische Ideengehalt dieses psychotherapeutischen Verfahrens und die daraus resultierende therapeutische Zielstellung und Behandlungsmethodik. Wir waren überzeugt von der Grundannahme, dass das Erleben und Verhal­ten eines Menschen in einer konkreten Situation von seiner subjektiv wahrgenommenen Realität bestimmt wird. Und wir teilten die Überzeugung, dass jeder Mensch das Recht auf individuelle Selbstverwirklichung und zugleich das Potenzial zu ihrer Realisierung hat. Wesentlich für die geforderte gesellschaftspolitische Legitimierung und damit die universitäre Etablierung eines ursprünglich einer »bürgerlichen Ideologie« verhafteten Psychotherapieverfahrens wie der Gesprächspsychotherapie war, dass Johannes Helm in Zusammenarbeit mit dem Leipziger Philosophen und Medizinhistoriker Prof. Dr. Achim Thom27 nachgewiesen hat, dass ihre Zielsetzungen den »Leitkategorien«, d. h. den Idealen und Utopien des »sozialistischen Menschenbildes« entsprechen. Diese Merkmale bezogen sich auf die bewusste und individuell planende und kontrollierende Tätigkeitsregulation, auf die schöpferisch-aktive Umweltauseinandersetzung und -gestaltung des Menschen sowie auf seine Soziabilität im Sinne kritischer Integration und Kooperation in und mit privaten und gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen (Helm u. Thom in Helm, Mehl, Kasielke u. Strauss 1976; Helm 1978; Thom in Helm, Rösler u. Szewczyk 1979 sowie Ministerrat der DDR 1983 unter Ausbildungs- und Erziehungsziel). – Für die Gesprächspsychotherapie sprach im Weiteren ein wissenschaftstheoretischer Grund, nämlich ihre klare empirische Programmatik. Therapieerfolge sollten nicht nur behauptet, sondern bewiesen und zugleich aus veränderungswirksamen Bedingungen des Therapieprozesses erklärt werden (können). Damit schien zugleich eine pro­duktive Alternative zu den weit verbreiteten – besonders aus dem psychoanalytischen Erbe stammenden – spekulativen Theorien in der Psychotherapie gegeben und auch die Chance, sich mit entsprechenden Forschungsarbeiten erfolgreich in die akademische Psychologie integrieren zu können. – Für die Gesprächspsychotherapie sprach darüber hinaus ein ganz pragmatischer Grund. Sie bot aufgrund vieler seit den 1940er Jahren durchgeführter wissenschaftlicher Untersuchungen und insbesondere durch die umfangreichen prozessbezogenen Effektivitäts26 Zur kritischen Reflexion theoretischer Positionen der Gesprächspsychotherapie und Konsequenzen für die praktische Tätigkeit s. Frohburg 1990c. 27 Achim Thom (1935–2010) war seit 1977 Mitarbeiter und von 1982 bis 1995 Direktor des Karl-SudhoffInstituts für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften der Karl-Marx-Universität Leipzig.

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

forschungen ein beachtliches Potential an Kenntnissen über psychotherapeutisch wirksame Bedingungen und Strategien. Auf der Grundlage dieses Wissensbestandes schienen weiterführende Forschungsarbeiten gleichermaßen sinnvoll wie Erfolg versprechend. Zugleich ermöglichte die Gesprächspsychotherapie aufgrund ihres methodischen Ansatzes eine Therapie-Ausbildung, die auf handlungsrelevante und in ihrer Wirksamkeit geprüfte Konzepte und Anleitungen zurückgreifen konnte und die damit ihrerseits auch in ihrer Effektivität bzw. Effizienz kontrollierbar wurde.

Universitäre Gesprächspsychotherapie-Praxis Autodidakten waren wir in unserer Berliner Gruppe nicht nur bei der Erarbeitung der theoretischen Grundlagen der Gesprächspsychotherapie, sondern auch bei der Entwicklung unserer gesprächspsychotherapeutischen Behandlungskompetenzen und damit bei der Gestaltung unserer praktischen klinischen Arbeit. Radikales »Learning by doing«! Bereits 1969 haben wir begonnen und sind in zunehmendem Umfang dazu übergegangen, Patienten im Ambulatorium des Lehrbereiches Klinische Psychologie auch gesprächspsychotherapeutisch zu behandeln. Diese Gesprächspsychotherapien waren – zum Schutz der Patienten und zwecks (Weiter-)Entwicklung unserer eigenen Fähigkeiten – selbstverständlich von Anfang an mit den notwendigen (kollegialen) Tonbandkontrollen und mit entsprechenden Supervisionen verbunden. Die Einrichtung klinisch-psychologischer Ambulanzen war an den Psychologischen Instituten deutscher Universitäten mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden (vgl. Tausch 1992/2001). Deshalb – und weil uns unser Ambulatorium den Einstieg in die Gesprächs­ psychotherapie, ihre Rezeption und Förderung ermöglicht bzw. wesentlich erleichtert hat – wird im Folgenden etwas ausführlicher auf das Ambulatorium des Lehrbereichs Klinische Psychologie eingegangen, auch – oder weil – es inzwischen eine »historische Dimension« angenommen hat und manches des damals Gewohnten angesichts der Bedingungen der heutigen »Massen-Universitäten« mit enorm gestiegenen Immatrikulationszahlen nahezu utopisch erscheint. Das zur Humboldt-Universität gehörende Ambulatorium des Instituts für Psychologie besteht seit über 50 Jahren. Seine Gründung als »Poliklinik« geht auf den ersten Ordinarius der Nachkriegszeit, Professor Kurt Gottschaldt, zurück28. Bereits von ihm sind für die Funktion des Ambulatoriums wichtige Prämissen gesetzt worden, die seine Arbeit auch in den folgenden Jahrzehnten bestimmt haben – in der Umsetzung zeitbedingt mit unterschiedli-

28 Kurt Gottschaldt (1902–1991), einer der wichtigsten Vertreter der Gestaltpsychologie und besonders durch seine Zwillingsforschungen bekannt, wurde nach der Wiedereröffnung der Berliner Universität 1946 Direktor des Psychologischen Instituts. Er knüpft an experimentalpsychologische Traditionen an, baute das Institut zu einer leistungsfähigen Institution aus und richtet zwischen 1956 und 1961 fachrichtungsspezifische Lehrbereiche ein (u. a. für Klinische Psychologie), die die Grundlage für eine ab 1963 spezialisierte Diplom-Ausbildung waren. Gottschaldt folgte 1962 einem Ruf an die Universität Göttingen.

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chen Schwerpunkten29 und in persona getragen von Prof. Dr. Hans Szewczyk30, später von dem am Lehrbereich Klinische Psychologie tätigen Arzt und Psychologen Prof. Dr. HeinzEwald Strauß (geb. 1933) und zeitweilig auch von mir. Das Ambulatorium diente in erster Linie der Integration von Theorie und Praxis in der universitären Ausbildung. Das bedeutete einmal, dass die Lehrenden immer auch im Ambulatorium selbst praktisch tätig waren – diagnostisch, beratend und psychotherapeutisch. Diese Praxisnähe ist unseren Lehrveranstaltungen durchweg gut bekommen. Und sie hatte eine enge Zusammenarbeit der Lehrbeauftragten im Klinischen Bereich zur Folge – sonst hätten weder die Lehre noch die praktische und die wissenschaftliche Arbeit inhaltlich aufeinander bezogen geleistet werden können. Das Ambulatorium bot den Studierenden zudem die Chance, bereits während ihres Studiums erste Erfahrungen in der eigenen Arbeit mit Patienten zu sammeln. Beispielsweise gehörte die Realisierung diagnostischer Aufgaben­ stellungen – und zwar bei Patienten im Erwachsenen- ebenso wie im Kindes- und Jugendalter – zu den »Standardanforderungen« unserer Ausbildung. Diese während des Studiums gesammelten praktischen »Erst-Erfahrungen« haben nicht nur bei mir als ehemaliger Studentin des Instituts bleibende positive Erinnerungen hinterlassen. Die inhaltliche Arbeit des Ambulatoriums wurde durch den Umstand bestimmt, dass es mit einem umfangreichen Aufgabenspektrum in kommunale Versorgungsstrukturen eingebunden war und so auf breiter Basis eine wechselseitige Verknüpfung von Praxisanforderungen und universitären Ausbildungs- und Forschungsanliegen gewährleisten konnte. Unser Ambulatorium war zu keiner Zeit (nur) eine universitäre Studentenberatungsstelle oder (nur) eine (bestimmten Fragestellungen oder personengebundenen Interessen dienende) Forschungsinstanz. 1971 erlangte es den Status einer »Stadtambulanz«, und ab 1984 zählte es in dieser Eigenschaft zum ambulanten Versorgungsbereich der Charité, dem medizinischen Sektor der Humboldt-Universität. Gleichwohl sind wir wie jede Universitätseinrichtung nicht nur daran interessiert gewesen, vorliegende psychodiagnostische und psychotherapeutische Methoden lediglich anzuwenden, sondern wir wollten auch an deren Evaluation und Weiterentwicklung mitarbeiten – was uns, wie u. a. die Ergebnisse aus den auf die Gesprächspsychotherapie bezogenen Forschungsuntersuchungen zeigen, in der Zusammenarbeit mit unseren Studenten auch gelungen ist. 29 ������������������������������������������������������������������������������������������������� In den 1950er Jahren bildeten forensisch-psychologische Begutachtungen (Untersuchungen zur Glaubwürdigkeit kindlicher Zeugen, forensisch-psychologische Gutachten, erziehungspsychologische und -rechtliche Fragestellungen besonders im Zusammenhang mit Ehescheidungen, Sorgerechts-Gutachten und sog. Reife- bzw. Entwicklungsuntersuchungen) den Schwerpunkt der Ambulatoriumstätigkeit, in der Folgezeit vor allem Kinderpsychotherapie und Elternberatung bei Fragen der Schulfähigkeit sowie der Hilfs- und Sonderschulbedürftigkeit, speziellen Leistungsstörungen (LRS und Agrammatismus) und ­klinisch relevanten Auffälligkeiten (Essstörungen, Schlafstörungen, Enuresis, Enkopresis usw.). 30 Hans Szewczyk (1923–1994) studierte Medizin und Psychologie, war Assistent am Psychologischen Institut bei Prof. Gottschaldt und habilitierte sich bei Prof. Dr. Leonard an der Nervenklinik der Charité. Er hatte von 1974 bis zu seiner Emeritierung 1988 den Lehrstuhl für Forensische Psychiatrie inne und war zugleich Leiter des Lehrbereichs Medizinische Psychologie im Bereich Medizin (Charité) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Gemeinsam mit dem Lehrstuhlvertreter für Klinische Psychologie des Bereiches Medizin der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Prof. Dr. sc. nat. Hans-Dieter Rösler, hat er das einzige in der DDR 1987 im VEB Verlag Volk und Gesundheit erschienene Lehrbuch »Medizinische Psychologie« verfasst.

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Zu den Grundsätzen der Ambulatoriumsarbeit gehörte für uns selbstverständlich auch die Verbindung von klinisch-psychologischen und medizinischen Inhalten und Aufgabenstellungen und damit die für unsere klinische = heilkundliche Tätigkeit a priori notwendige und jederzeit unproblematische, zum Teil konsiliarische Kooperation von Psychologen und (Fach-)Ärzten.31

Aus- und Weiterbildung Der Ausbildung in Gesprächspsychotherapie haben wir von Berlin aus von Anfang an große Aufmerksamkeit gewidmet – und zwar sowohl in der Ausbildung von Studierenden als auch der von bereits in der klinischen Praxis tätigen Kollegen. Gesprächspsychotherapie wurde somit seit Ende der 1960er Jahre in zunehmendem Umfang (begehrter) Bestandteil sowohl der universitären32 als auch der postgradualen Ausbildung. Die Ausbildung erfolgte nach dem an der Humboldt-Universität entwickelten »Berliner Ausbildungsprogramm für Gesprächspsychotherapie«, das als curriculare Bestandteile kenntnisvermittelnde, fertigkeitsbezogene und einstellungsbildende Ausbildungsteile (= Theorie, Verhaltenstraining und Selbsterfahrung) integriert verbindet (s. Abbildung 1). Das Programm wurde in seinen Grundzügen 1971 konzipiert (Helm 1978), erfahrungsbezogen weiterentwickelt und sowohl hinsichtlich der Sinnhaftigkeit, der Notwendigkeit und des Nutzens einzelner methodischer Bestandteile als auch in seiner Gesamteffektivität ausbildungsbegleitend mit guten Ergebnissen überprüft.33 Konzeptionelle Überlegungen und empirische Untersuchungen zur formativen und summativen Evaluation dieses Ausbildungsprogramms bildeten den Inhalt meiner eigenen Habilitation im Jahre 1985 (Frohburg 1988).

31 ��������������������������������������������������������������������������������������������������� Sicher ist die Abgrenzung zwischen ärztlicher und psychologischer Handlungskompetenz in der Psychotherapie nicht unproblematisch, und die eigenverantwortliche heilkundliche Tätigkeit Klinischer Psychologen kann im Arbeitsalltag zu nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten führen. Es gab in der DDR jedoch keine diskriminierende Einordnung Psychologischer Psychotherapeuten in den Status eines Heilpraktikers und grundsätzlich auch keine finanzielle Differenzierung zwischen ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten. 32 Über die Ausbildungsanfänge der Gesprächspsychotherapie in der DDR reflektiert aus der Sicht einer beteiligten Studentin Henriette Petersen (} Abschnitt 4.5.3.2). 33 Das »Berliner Ausbildungsprogramm für Gesprächspsychotherapie« war von 1992–1995 neben Verhaltenstherapie und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie Bestandteil einer verfahrensübergreifenden Ausbildung, die vom Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) getragen und in diesen Jahren in Kooperation mit der Humboldt-Universität realisiert wurde (Frohburg, Nitz u. Schiller 1994), dann aber nach Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes und seiner Festlegung auf »Psychotherapie-Richtlinienverfahren« aufgegeben worden ist.

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Ausbildungsziele – fachwissenschaftliche Begründung und ethisch-philosophische Reflexion der Ausbildungsinhalte – Fundierung (selektiver und adaptiver) Indikationsentscheidungen und der gesprächspsychothera­ peutischen Handlungspragmatik durch  allgemeines Basiswissen in den Grundlagenfächern der Psychologie, Psychopathologie, Psycho­ diagnostik und Psychotherapie,  spezielles gesprächspsychotherapeutisches Wissen (personzentrierte Entwicklungs- und Persönlichkeitstheorie, Störungs- und Veränderungs­theorie, Indikations-, Prozess- und Veränderungs­diagnostik, Rahmen- und Organisationsbedingungen gesprächspsychotherapeutischer Praxis Ausbildungsmethodik Vorlesungen, Seminare, angeleitete Literaturstudien, Diskussionen u. a. Theoretische Ausbildung Theoretische Kompetenz

GT GT-Verhaltenstraining

Verhaltenskompetenz

Personale Kompetenz

GT-bezogene Selbsterfahrung

Ausbildungsziele

Ausbildungsziele

Erreichen eines mindestens mittleren Grades an gesprächspsychotherapeutischer Basis­ kompetenz bei bedingungsabhängig flexiblem Einsatz unterschiedlicher patientzentrierter Handlungskomponenten

 Erkennen individueller Möglichkeiten und

Ausbildungsmethodik

Ausbildungsmethodik

 Wahrnehmungs- und Differenzierungstraining

 Kontrolle des Verhaltens in Übungs- und

zur Beurteilung gesprächspsychothera­peutisch relevanter Patienten- und Thera­peutenmerk­ male (insb. Selbstexploration, Experiencing, Verbalisierung emotionaler Erlebensinhalte, Akzeptierung/emotionale Zuwendung, Selbstkongruenz und Selbst­einbringung)  Verhaltenstraining z. T. unter Verwendung von speziellen Übungsmaterialien  Übungsgespräche in unterschiedlichen Settings (Dyaden, Gruppengespräche)  Angeleitete und kontrollierte (supervidierte) Praxis

Gruppengesprächen, anforderungsbezogene Selbst- und Fremdeinschätzungen, TonbandDiskussionen  „Blitzlicht“ zur Wahrnehmung eigenen situationsbedingten Erlebens und Verhaltens  Übungen zur Wahrnehmung eigenen Erlebens und Verhaltens in sog. kritischen Behandlungssituationen und zur darauf bezogenen Selbsteinbringung  Bearbeiten von „Problemlisten“  Vergleich von Selbst-, vermuteten und realen Fremdeinschätzungen

Grenzen bei der Realisierung gesprächs­ psychotherapeutischer Basiskompetenz und unterschiedlicher patientzentrierter Handlungskomponenten  Reflexion der damit verbundenen Wert­ konzepte bzw. inter- und intrapersonellen Einstellungen

Abbildung 1: GT-Ausbildungsprogramm (schematisierte Übersicht; leicht verändert aus Frohburg 1988)

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

In den Ausbildungskursen machten wir übrigens sowohl bei den Studenten als auch bei den Praktikern die Erfahrung, dass sie sich vielfach auf die Gesprächspsychotherapie bezogene Literatur »aus dem Westen« beschafft hatten. Über das »Wie« hat man nicht gesprochen.34 Grundsätzlich möglich, aber außerordentlich schwierig und ungeheuer zeitaufwendig war im Übrigen das Beschaffen von »West-Literatur« über die Fernleihe der Universitätsbibliothek. Die Wartezeiten für die bestellte Literatur waren oft länger als die Bearbeitungszeiten, die beispielsweise für eine Diplomarbeit oder auch für eine Dissertation (noch) zur Verfügung standen. Im universitären Psychologiestudium gehörte eine Grundausbildung in Gesprächspsychotherapie bereits 1970 obligatorisch zur klinisch-psychologischen Fachausbildung der Studierenden in der damals nur an der Humboldt-Universität zu Berlin und ab 1974 auch an der Universität Leipzig vertretenen Fachrichtung Klinische Psychologie. Sie war verbunden mit sehr umfangreichen theoretischen und praxisbezogenen Lehrangeboten in Psychopathologie, Psychosomatik und klinisch-psychologischer Diagnostik sowie mit verfahrensübergreifenden und weiteren verfahrensspezifischen Lehrangeboten – jeweils bezogen auf das Kindes-, Jugendlichen- und Erwachsenenalter. Für speziell an der Gesprächspsychotherapie interessierte Studenten gab es fakultative Vertiefungs- und Forschungsmöglichkeiten. Veranstaltungen zur postgradualen Aus- und Weiterbildung in Gesprächspsychotherapie wurden seit Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich angeboten und durchgeführt – und zwar in unterschiedlichen Qualifikationsprojekten, die von der Gesellschaft für Psychologie der DDR bzw. der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, den Bezirksakademien des Gesundheits- und Sozialwesens und in besonderem Maße von der Akademie für Ärztliche Fortbildung getragen wurden. Letztere war als selbständige staatliche Ausbildungseinrichtung ab 1981 Trägerin der facharztanalogen Ausbildung zum »Fachpsychologen der Medizin« (s. Rösler et al. in diesem Band). In die postgraduale Ausbildung der Akademie für Ärztliche Fortbildung war die Gesprächspsychotherapie fest integriert. Eine gesprächspsychotherapeutische Grundausbildung war obligatorisch für die Aufnahme, Aufbaukurse wahlobligatorische Bestandteile des Ausbildungscurriculums, gesprächspsychotherapeutisch orientierte stationäre Einrichtungen standen auf der Liste der für die praktische Ausbildung und Supervision anerkannten und vertraglich gebundenen Ausbildungskliniken und Gesprächspsychotherapeuten waren in den prüfungsberechtigen Fachkommissionen vertreten. 34 Einen anschaulichen Bericht über die »Lese-Stunden« gibt Heidemarie Dorst in einem Interview mit Dr. Angela Schorr: »Die Möglichkeit, nach außen zu gehen und sich an der Ursprungsstelle neuer Therapieverfahren kundig zu machen, bestand ja nicht. [...] Viele Entwicklungen mussten so aus eigener Kraft in der DDR wiederholt werden. Ganz deutlich merkt man es an der Rezeption der Gesprächstherapie und der Verhaltenstherapie. Sofort, als die ersten Veröffentlichungen über diese Techniken da waren, haben wir uns damit befasst. Ein Buch von Carl Rogers hatte ich einmal zwei Nächte lang, dann musste ich es ausgelesen haben. Mir hatte es jemand geborgt, der es sich wiederum von jemand anderem ausgeborgt hatte, dem man gar nicht erzählen durfte, dass er es mir auch geliehen hat. [...] Später kamen dann die Bücher von Tausch. Aber es ging im Grunde alles unter der Hand. [...] Kopien gab es damals nur selten; vieles haben wir noch excerpiert« (In: Das große Risiko der Selbsterforschung, von eigener Kraft getragen. Ein Gespräch mit Heidemarie Dorst über ihre Erfahrungen als Psychologin in der DDR. Report Psychologie Mai 1990, S. 35–40).

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Dass die postgraduale Ausbildung an der Akademie für Ärztliche Fortbildung in jedem Fall ein Diplom in (Klinischer) Psychologie oder Medizin voraussetzte und berufsbegleitend erfolgte, bedeutet zugleich, dass die Gesprächspsychotherapie-Ausbildung immer auch mit praktischer Krankenbehandlung verbunden und Gesprächspsychotherapie auch durch diese Ausbildungsbedingungen ebenso wie durch die Praxisbedingungen in das Sozial- und Gesundheitswesen der DDR integriert war. Für die unmittelbar praxisbezogene Ausbildung war ein Zeitfonds von 2 x 30 Stunden in der universitären Ausbildung bzw. 3 x 40 Stunden im Rahmen der postgradualen Ausbildung vorgesehen. Diese relativ geringe Stundenanzahl mag heute manchem verwunderlich erscheinen. Sie resultiert aus den damals für die DDR gültigen Ausbildungsbedingungen in Klinischer Psychologie: Die Grundlagen und wesentlichen theoretischen Inhalte auch der Gesprächspsychotherapie wurden jeweils bezogen auf das Erwachsenen- sowie Kinder- und Jugendalter in den Fächern Psychopathologie, Psychiatrie, Neurologie, Psychotherapie, Beratung, Rehabilitation, Psychosomatik, Psychodiagnostik (einschließlich klinisch-psychologische Differentialdiagnostik), Medizinische Psychologie und Methodenlehre vermittelt (Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen 1983 unter 2.4. Fachrichtung Klinische Psychologie). Die Kurse dienten dementsprechend dem gesprächspsychotherapeutischen »Verhaltenstraining« und der darauf bezogenen Selbstreflexion (»Selbsterfahrung«). Gearbeitet wurde in Gruppen von maximal zehn Teilnehmern, in der Regel mit einem Ausbilder – gelegentlich, und dann meist zwecks Qualifizierung weiterer Ausbilder, auch mit einem zweiten Ko-Ausbilder. Die Bestätigung der Ausbilder-Qualifikation oblag der Gesellschaft für Psychologie der DDR und setzte gute theoretische Kenntnisse, umfangreiche praktische Erfahrungen mit Gesprächspsychotherapie in unterschiedlichen klinischen Anwendungsbereichen sowie didaktische Fähigkeiten zur Strukturierung von Lern- und Gruppenprozessen voraus. Insgesamt gab es in der DDR ca. 20 aktive Ausbilder für Gesprächspsychotherapie. Spezielle Lehrmaterialien wurden von Helm und mir (Helm u. Frohburg 1986; Frohburg 1990a 1990b) erarbeitet. Seit 1980 gab es die postgradualen Buckower Ausbildungskurse zur Gesprächspsychotherapie. Buckow liegt 60 km entfernt von Berlin in der Märkischen Schweiz, und unsere Veranstaltungen fanden in dem von dem Ehepaar Dugge ungemein freundlich und engagiert geleiteten (der Evangelischen Kirche gehörenden) »Haus Wilhelmshöhe« statt (das seit 2005 wegen mangelnder Auslastung geschlossenen ist). Sie wurden jährlich ein- bis zweimal für jeweils fünf Tage und vier Gruppen durchgeführt und erfreuten sich – wie ihre Vorgänger und anderenorts durchgeführte Lehrgänge – einer regen Nachfrage, waren bei Kursleitern und Ausbildungsteilnehmern gleichermaßen beliebt und zeichneten sich durch eine sehr offene kommunikationsfreudige und -intensive Atmosphäre und ein produktives Lern- und Arbeitsklima aus. Die Teilnahme an den Ausbildungskursen erfolgte in der Regel im Rahmen eines »Dienstreise-Auftrages« und wurde von den jeweiligen Arbeitsstellen der Teilnehmer bezahlt. Eine besonders auf- und anregende Begebenheit war der Diskurs, zu dem wir 1978 mit den Hauptvertretern der DDR-Tiefenpsychologen in einem Camp im mecklenburgischen Gallentin am Westufer des Schweriner Sees zusammengekommen sind – unsererseits in der Hoffnung und mit der Absicht, gesprächspsychotherapeutische Positionen und Verhaltensweisen deut-

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

lich und erlebbar zu machen. Der Hintergrund dieser Veranstaltung war, dass die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie als (neues) eigenständiges psychotherapeutisches Verfahren selbstverständlich auch in der DDR nicht im »Selbstlauf« erfolgte und von den Vertretern insbesondere der tradierten und zu dieser Zeit in der DDR dominierenden Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie mit einem gewissen Argwohn betrachtet wurde. In fachlicher Hinsicht zu widerlegen war insbesondere die Auffassung, dass das »gesprächspsychotherapeutische Basisverhalten« eine (nur) beziehungsstiftende Grundfunktion in jedem psychotherapeutischen Gespräch hat, aber dann durch die eigentlich veränderungswirksamen (tiefenpsychologischen oder verhaltenstherapeutischen) Interventionen ergänzt werden müsse. Bei dieser Zusammenkunft haben sicher alle Beteiligten viel(es) gelernt – für die beteiligten Gesprächspsychotherapeuten war das ohne Zweifel ihre »Meisterprüfung« (Bodnar 1992).

Forschungsarbeit Parallel zu der Beschäftigung mit dem vorliegenden Wissen aus dem (internationalen) Fundus der Gesprächspsychotherapie und mit der Entwicklung eigener gesprächspsychotherapeutischer Praxisfertigkeiten wurde in der universitären Berliner Arbeitsgruppe sehr frühzeitig auch mit speziellen Forschungsarbeiten begonnen. Bereits im Sommer 1970 hat Beate Jülisch aus dieser Gruppe ihre Diplomarbeit über »Zusammenhänge von Selbst­exploration und Veränderungen im Entscheidungsverhalten von Patienten« verteidigt – das war die erste empirisch fundierte Forschungsarbeit zur Gesprächspsychotherapie in der DDR. Später wurden zur Forschungsthema­tik »Gesprächspsychotherapie« jährlich zwei bis drei Diplomarbeiten geschrieben und insgesamt fünf Dissertationen sowie zwei Habilitationsarbeiten verteidigt (s. Tabelle 1). Die Habilitationsschrift von Johannes Helm, die auf den gesamten Komplex der Forschung, Praxis und Ausbildung in der Gesprächspsychotherapie Bezug nimmt und die in ihrem empirischen Teil weitgehend auf studentischen Forschungsarbeiten beruht, wurde als Buch veröffentlicht (Helm 1978) und hat auch in der BRD viel Anerkennung erfahren, was sich u. a. darin zeigt, dass es von einem westdeutschen Verlag erneut aufgelegt wurde. Tabelle 1: Universitäre Qualifizierungsarbeiten aus dem Bereich der Gesprächspsychotherapie Dissertationen zur Gesprächspsychotherapie 1975 Frohburg, Inge: Indikation zur Gesprächspsychotherapie 1982 Jülisch, Beate: Untersuchungen zur Prädiktion von Veränderungen durch Gesprächspsychotherapie 1987 Wyrwich, Hartmut: Untersuchungen zur Analyse des verbalen Therapeutenverhaltens und seiner Effekte in der Gesprächspsychotherapie 1984 Bodnar, Ilona: Zu differentiellen Aspekten der Effektivität der Gesprächspsychotherapie- Ausbildung 1990 Jacob, André: Konfrontation in der Gesprächspsychotherapie Habilitationen zur Gesprächspsychotherapie 1977 Helm, Johannes: Gesprächspsychotherapie. Forschung – Praxis – Ausbildung 1985 Frohburg, Inge: Psychotherapie-Ausbildung. Beitrag zur wissenschaftlichen Begründung von Zielstellungen, Inhalten und Methoden

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Über die universitäre Forschung hinausgehend gab es in den 1970er Jahren beginnend und zunehmend in den 1980er Jahren verschiedentlich Forschungsarbeiten zur Gesprächs­ psychotherapie in Zusammenarbeit mit und teilweise auch außerhalb der Uni­versität im Sinne einer »kontrollierten Praxis« (vgl. Frohburg 1983; Frohburg, di Pol, Thomas u. Weise 1986). Grundsätzliches Anliegen der auf die Gesprächspsychotherapie ausgerichteten Forschungsarbeiten war, zur Erweiterung des Wissens über die Bedingungen erfolgreicher Therapien beizutragen. Mit dieser Zielrichtung wollten wir mit einem relativ breiten Fragenspektrum differenziertere Erkenntnisse zu den Indikationsbedingungen, über effektive Handlungsregeln des Therapeuten und über Veränderungsprozesse der Patienten erarbeiten. Nicht zuletzt und in besonderem Maße verbanden wir mit unserer Forschungsarbeit den Anspruch, praxisrelevante, hand­lungsbezogene Ausbildungsprogramme zu entwickeln. Mit diesen Zielstellungen wurden Forschungsuntersu­chungen zur Gesprächspsychotherapie zu einem relativ breit gefächerten Themenspektrum durch­geführt, dessen Schwerpunkte in Tabelle 2 zusammengestellt sind. Tabelle 2: Forschungsarbeiten zur Gesprächspsychotherapie (1970–1990) Forschungen zur Gesprächspsychotherapie § Erfassungsmethodik von Prozess- und Erfolgsmerkmalen §  Komponenten- und Interaktionsanalysen zur Selbstexploration des Patienten (insbesondere nach problemklärenden Aspekten) §  Wirkungsweise unterschiedlicher gesprächspsychotherapeutischer Prozessmerkmale (u.  a. kognitive Merkmale des Patienten- bzw. Therapeutenverhaltens, Selbstkongruenz/Selbsteinbrin­gung sowie Konfronta­tionsverhalten des Therapeuten) §  Differentielle, später auch adaptive Indikationsrelevanz prätherapeutischer und prozessdiagnostischer Daten § Nachweis gesprächspsychotherapeutisch induzierter Veränderungen & Zusammenfassungen und Ergebnisse u. a. in Helm u. Frohburg 1972, Helm, Kasielke u. Mehl 1974, Helm, Kasielke, Mehl u. Strauss 1976, Helm 1978, Helm, Rösler u. Szewczyk 1976, Frohburg 1983, Frohburg u. Schönian 1989 Forschungen zur Gruppen-Gesprächspsychotherapie §  Indikationsfragen und Anwendungsaspekte bei unterschiedlichen Patientengruppen einschließlich Fragen der Methodenkombination (besonders unter erlebensaktivierendem Aspekt) § Gruppenprozessmerkmale und -effekte & Zusammenfassungen und Ergebnisse u. a. in Helm, Kasielke, Mehl u. Strauss 1976, Helm, Rösler u. Szewczyk 1976, Frohburg 1983, Frohburg, di Pol, Thomas u. Weise 1986, Ködel u. Frohburg 1988, Ködel 1990 Ausbildungsforschung § Konkretisierung von Ausbildungszielen im Verhaltens- und Einstellungsbereich unter Bezug auf entsprechende »Ausgangs­analysen« §  Auswahl geeigneter Ausbildungsmethoden (u. a. Effizienz und Angemessenheit von Beurteilungs­training, Papier-Bleistift­-Übungen, Dyaden, Rollenspielen, Modell-Lernen) §  Kontrolle von formativen und summativen Ausbildungseffekten und ihrer Determinan­ten (u. a. Ausgangsfähigkeiten, Praxiserfahrung, soziale Einstel­lungen der Ausbildungskandidaten) & Zusammenfassung und Ergebnisse u. a. in Helm 1978, Helm Rösler u Szewczyk 1976, Helm u. Frohburg 1980, Frohburg 1988

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

Insgesamt war der Umfang unserer Forschungsarbeiten zur Gesprächspsychotherapie gemessen mit internationalen Maßstäben eher bescheiden, verglichen mit anderen in der DDR vertretenen Psychotherapierichtungen und in Anbetracht unserer geringen personellen und materiellen Kapazitäten jedoch beachtlich – zumal wenn man in Rechnung stellt, dass an DDR-Universitäten und speziell dem Psychologischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin kognitionspsychologisch orientierte Grundlagenforschung einen bevorzugten Stellenwert hatte. Die Finanzierung der Forschungsarbeiten erfolgte wie üblich über die Universität aus den zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln. Seit 1969 waren auch die klinisch-psychologischen Forschungsvorhaben des Lehrbereichs Klinische Psychologie und damit von Anfang an auch die Forschungen zu Gesprächspsychotherapie eingebunden in und damit finanziell unterstützt durch ein Forschungsprojekt des Ministeriums für Gesundheitswesen der DDR zum Themenkomplex »Psychonervale Störungen«. Die Bedeutung der Forschungsaktivitäten zur Gesprächspsychotherapie geht über das wissenschaftliche In­teresse hinaus und hatte eine nicht zu unterschätzende wissen­schafts­ strategi­sche und berufspolitische Bedeutung: Dass die Gesprächspsychotherapie ihren Platz in der Psychotherapie der DDR gefunden hat und als etablierte, wis­senschaftlich begründete Behandlungsmethode im Gesundheitswesen anerkannt wurde, verdankt sie nicht unwesentlich auch ihren Forschungsaktivitäten und der daraus folgenden Verankerung im universitären und postgradualen Ausbildungsbereich.

Institutionalisierung Die zunehmende Verbreitung und Anerkennung der Gesprächspsychotherapie in der Praxis des Gesund­heits- und Sozialwesens der DDR fand ihre organisatorische Entsprechung in der Anglie­derung an die zuständigen Fachgesellschaften: Seit 1974 hatten die Gesprächstherapeuten – ebenso wie die Verhaltenstherapeuten als zweiter der von den Klinischen Psychologen geprägten Psychotherapierichtung – den Status einer »Thematischen Arbeitsgemeinschaft« in der Sektion Klinische Psychologie der Gesell­schaft für Psychologie der DDR, die seit 1975 zugleich die Thematische Arbeitsgruppe Gesprächspsychotherapie bzw. seit 1981 die Sektion Gesprächspsychotherapie in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (ab 1989 Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der DDR) bildete. Die Vertretung in beiden Gesellschaften erfolgte durch einen gemeinsamen Vorstand. Die Mitgliedschaft in diesen Fachgesellschaften bedeutete zu­nächst und allgemein die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie als Psychotherapieverfahren, das einen nennenswerten Beitrag zur Realisierung der fachlich begründeten und staatlich sanktionierten bzw. geför­derten psychosozialen Versorgungsaufgaben zu leisten vermag. Die Fachgesellschaften boten (auch organisatorisch) die Möglich­keit zu Kontakten mit allen ihren Mitgliedern und Gliederungen und damit auch eine Chance zur – auch aus meiner heutigen Sicht unbedingt notwendigen und erstrebenswerten – Zusammenarbeit mit Vertretern anderer (psychologischen) Fachgebiete, Therapierichtungen und Berufsgruppen. Sie ermöglicht den Gesprächspsychotherapeuten die aktive und/oder partizipierende Beteiligung

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

an den von den Gesellschaften getragenen wissenschaftlichen Veranstaltungen und erlaubte zudem, Veranstaltungen zur Gesprächspsychotherapie unter die Trägerschaft dieser Gesellschaften zu stellen. Diese vielfältigen Möglichkeiten sind allerdings aus den verschiedensten Gründen nicht optimal genutzt worden: So ist die Profilierung der Psychotherapie als Anwendungsgebiet der Psychologie und damit die Verbindung zu den psychologischen Grundlagenfächern auch in der DDR nur ansatzweise gelungen. Und eine über pragmatische Ansätze hinausgehende »Integration der Psychotherapieverfahren« (was immer darunter zu verstehen ist!?) wurde – damals wie heute – mehr proklamiert als theoretisch begründet und praktisch umgesetzt. Durch die beschriebenen Organisationsstrukturen bedingt existierte in der DDR keine selbständige Mitgliederorganisation der Gesprächspsychotherapeuten wie sie u. a. die 1970 gegründete Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e. V. (GwG) in der alten Bundesrepublik Deutschland darstellt.

Kongress- und Tagungsbeiträge Auf den psychologischen und medizinischen Fachtagungen der 1970er Jahre sind zunehmend häufiger Beiträge zur Psychotherapie als Gesamt-Fachgebiet zu verzeichnen. Sie galten zunächst allgemein der Entwicklung der Psychotherapie in der DDR und ihrem Verhältnis zur Klinischen Psychologie bzw. unterschiedlichen Disziplinen der Medizin. Thematisiert wurden ihre wissenschaftlichen Grundlagen und mögliche Forschungszugänge zu Fragen ihrer Indikation und ihrer Wirksamkeit. Ziel war, »einen Beitrag zur wissenschaftlichen Forschungsplanung in der Psychotherapie zu leisten«, die »angesichts der Notwendigkeit, die Effektivität psychotherapeutischer Verfahren zu erhöhen bzw. spekulative Anteile zu verringern und damit letztlich zur Senkung des Krankenstandes beizutragen, gerechtfertigt ist« (Kurzfassungen der Plenarvorträge und Symposien des 2. Kongresses der Gesellschaft für Psychologie der DDR 1968, S. 27). Die sich auch in der DDR entwickelnde Gesprächpsychotherapie wurde erstmalig (schon!) 1970 in Kühlungsborn auf einer interdisziplinären Arbeitstagung über »Forschungsmethoden und Forschungsergebnisse in der Psychotherapie« einer breiteren Fachöffentlichkeit vorgestellt. Inhaltlich ging es insbesondere um Grundsatzprobleme der Psychotherapieforschung, um Veränderungsmessung und um die Analyse verbaler Interaktionen zwecks Objektivierung von Therapieverläufen (Veröffentlichung der Tagungsbeiträge in Helm u. Frohburg 1972).35 Auf dieser Tagung in Kühlungsborn haben die »Berliner Gesprächspsychotherapeuten« zum ersten Mal – welch ungewohnte Herausforderung und welch Wagnis! – Tonbandaufzeichnungen aus ihrer gesprächspsychotherapeutischen Praxis vorgespielt und an konkreten

35 Diese Veranstaltung hat die Teilnehmerin Helga Schubert zu einer sehr launigen Kurzgeschichte inspiriert, die unter dem Titel »Die Tagung« in ihren Geschichten »Lauter Leben« 1975 im Aufbau-Verlag Berlin veröffentlicht wurde.

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

Beispielen aus realen Therapiesituationen Möglichkeiten ihrer Analyse aufgezeigt. Unsere Aufnahme- und Wiedergabegeräte hatten damals ein Format von ca. 45 x 30 x 20 cm und die zur Wiedergabe erforderlichen Tonsäulen waren riesig – ziemlich viel Ladung für einen kleinen »Trabant« auf der Fahrt von Berlin zum Ostseebad Kühlungsborn. In den folgenden Jahren haben sich Gesprächspsychotherapeuten aktiv an sehr vielen wissenschaftlichen Veranstaltungen beteiligt, u. a. 1976 erstmalig und dann regelmäßig auch an den Kongressen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Ein Überblick ist in Tabelle 3 enthalten.

Tabelle 3: Beteiligung von Gesprächspsychotherapeuten an wissenschaftlichen Veranstaltungen (Kongresse, Tagungen, Symposien u. a.) 1970–1979 Kongresse der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (GÄP) §  VII. Kongress 25.–27.04.1973 in Erfurt »Psychotherapie und Gesellschaft, Integration der Psychotherapie in die Medizin und neuere Ergebnisse aus Forschung und Praxis«  n Klinische Psychologie und Psychotherapie (H. R. Böttcher u. Szewczyk) Teil I/13–15. In: Kongressmaterialien (Hrsg. v. Seidel, Höck u. Katzenstein) § VIII. Kongress 08.–10.11.1976 in Dresden »Soziodynamische Aspekte in der Psychotherapie« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Zur Analyse effektiver Merkmale in psychotherapeutischen Gesprächen (Helm) n Zur Diagnostik von Dimensionen psychotherapeutisch bedingter Veränderungen (Frohburg) n Psychosoziale Prozesse und Klassifikation psychischer Erkrankungen (K. Weise) n Diagnostik interpersoneller Beziehungen und sozial relevanter Eigenschaften (H. R. Böttcher) § IX. Kongress 11.–13.09.1979 in Leipzig »Psychotherapie in der Entwicklung« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Ein Handlungsmodell für partnerschaftliches Verhalten in der Einzel- und Gruppenarbeit in der Psychiatrie (Mann u. K. Weise) n Zur Entwicklung und Begründung gesprächspsychotherapeutischer Verhaltensregeln (Helm) n Erfahrungen mit partnerschaftlich orientierter Gruppengesprächsführung (D. Feldes u. Michalak) n Zum Selbstverständnis des Psychotherapeuten in einem partnerschaftlich orientierten Therapiekonzept (H. Weise u. K. Weise) n Einstellung von Psychotherapeuten zu wesentlichen Merkmalen gesprächstherapeutischen Basisverhaltens (Frohburg) Kongresse der Gesellschaft für Psychologie der DDR (GfPs) § 2. Kongress 23.–29.06.1968 in Berlin Beiträge zur Gesprächspsychotherapie im Symposium »Psychologische Forschungsprobleme in der Psychotherapie« (Helm u. H.-R. Böttcher) n Allgemeine und methodologische Probleme in der Psychotherapie (Helm) n Gültigkeit psychotherapeutischer Hypothesen unter dem Aspekt entwicklungspsychologischer Ergebnisse (Schmidt) n Über die Prüfung psychoanalytischer Hypothesen (H.-R. Böttcher) n Die Bestimmung von Variablen des therapeutischen Prozesses in ihrer Beziehung zur Verhaltens­ änderung (Kasielke) n Das Problem der Erfolgskriterien und ihre Messung (Strauss) § 3. Kongress 15.–18.05.1972 in Erfurt Beiträge zur Gesprächspsychotherapie im Symposium »Klinisch-psychologische Persönlichkeitsdiagnostik« (H. R. Böttcher u. Kasielke) n Psychodiagnostische Methoden zur Veränderungsmessung (Frohburg) n Die Entscheidungs-Q-Sortierung als Methode der Neurosendiagnostik (Wolfram) § 5. Kongress 07.–09.02.1979 in Berlin Beiträge zur Gesprächspsychotherapie im Symposium »Gruppentherapie« n Gesprächspsychotherapie in der Gruppe (Helm) n Konzepte der Gesprächspsychotherapie mit Ehepaaren und forschungsmetho­ dische Möglichkeiten (H. R. Böttcher)

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung Diverse Fachtagungen in der DDR §  Interdisziplinäre Arbeitstagung der Sektionen Klinische Psychologie der GÄP und der GfPs 08.– 10.10.1970 in Kühlungsborn »Forschungsmethoden und Forschungsergebnisse in der Psychotherapie« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Psychotherapeutische Gespräche als Gegenstand der Forschung (Helm) n Die Verwendbarkeit psychodiagnostischer Methoden zur Veränderungsmessung in der Psychotherapie (Frohburg) n Erkundungsuntersuchungen zum Problem der Klassifikation neurotischer Störungen als Grundlage von Veränderungsmessungen in der Psychotherapie (Kasielke u. Frohburg) n Ermittlung und Verwertung von Gesprächsmerkmalen bei Psychotherapeuten und Patienten (Helm) n Analyse von Merkmalen der »Selbstexploration« von Patienten (Jülisch) n Analyse der verbalen Therapeutenaktivität (Frohburg u. Helm) §  Internationales Ostsee-Symposium für Klinische Psychologie der GÄP, GfPs und GNP 23.–25.01.1974 in Warnemünde Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Wirkung und Messung der Selbstexploration in psychotherapeutischen Gesprächen (Frohburg u. Helm) n Ergebnisse und Prozesse der Gesprächspsychotherapie bei 550 Klienten und 110 Gesprächspsychotherapeuten (Tausch, BDR) n Zur Erforschung des Gesprächs in der Gruppenpsychotherapie (H. R. Böttcher) n Erforschung einiger Variablen im Prozess der Gruppenpsychotherapie (Kratochvil, CSSR) n Probleme des Trainings von psychotherapeutischen Gesprächen (Helm u. Frohburg) §  5. Arbeitstagung der Sektionen Klinische Psychologie der GÄP und der GfPs sowie der Sektion Medizinische Psychologie der GNP 25.–28.10.1977 in Kühlungsborn »Theoretische und ideologische Probleme der Klinischen Psychologie« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Psychopathologie – Symptomatik oder Interaktion (Weise) n Das Problem der sozialen Determiniertheit psychopathologischer Entwicklungen aus der Sicht der marxistisch-leninistischen Persönlichkeitstheorie – methodologische und sozialpolitische Aspekte (Thom) n Selbstverwirklichung als Therapieziel? (Helm) n Diagnostik von »Selbstverwirklichung« (Frohburg) §  Internationales Symposium des Lehrbereichs Klinische Psychologie der Sektion Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin 07.–09.06.1979 in Berlin »Forschungen zur Psychodiagnostik und Psychotherapie psychischer Fehlentwicklungen« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Prozessindikation in der Gesprächspsychotherapie (Helm) n Indikationsrelevanz selbst- und fremdbezogener Informationen von Patienten in GT-Anfangs­ gesprächen (Jülisch) n Forschungen zur Ausbildung von Gesprächspsychotherapeuten (Frohburg)

Inhaltlich bezogen sich die Beiträge dieses Jahrzehnts – ebenso wie die ihnen oft zugrundeliegenden Forschungsarbeiten – auf Konzepte und methodische Möglichkeiten – zur Erfassung von indikationsrelevanten Patientenmerkmalen, – von veränderungsbedeutsamen Merkmalen des gesprächspsychotherapeutischen Prozesses und – von gesprächspsychotherapeutisch induzierten Veränderungen in der Symptomatik bzw. im Erleben und Verhalten des Patienten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir das Internationale Ostsee-Symposium für Klinische Psychologie, das 1974 in Warnemünde stattfand und dessen Beiträge aus der psychopathologischen, psychodiagnostischen und psychotherapeutischen (dabei auch aus der gesprächspsychotherapeutischen) Forschung zusammengefasst von Helm, Rösler und Szewczyk (1976) publiziert wurden. Tagungsort war das noble Interhotel »Neptun«, in dem man von jedem Gästezimmer auf die Ostsee sehen konnte und das mit seiner himmelwärts zu öffnenden »Sternenbar« ein wunderschönes Ambiente für den bei Kongressen und Tagungen obligatorischen Gesell-

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

schaftsabend bot. Noch beeindruckender war aber die Anwesenheit des Verhaltenstherapeuten Frederick Kanfer36 von der University Illinois und der Gesprächspsychotherapeuten Anne-Marie und Reinhard Tausch von der Universität Hamburg. Tauschs hatten nicht nur ihre Vortragsmanuskripte mitgebracht, sondern auch einige Tafeln Schokolade und Gummibärchen für die daheimgebliebenen Kinder der Referenten aus dem Osten. (Ich habe mich noch oft gefragt, ob auch diese Geste Eingang in die inoffiziellen Tagungsberichte gefunden hat.)

Rück-Besinnung Die »Entdeckung« der Gesprächspsychotherapie war für viele Klinische Psychologen und Psychotherapeuten in der DDR mit viel Enthusiasmus, mit sowohl fachlich als auch persönlich begründeter Sympathie und Begeisterung verbunden. An ihrer Aneignung, Umsetzung und Verbreitung wurde vielerorts mit großem Elan, mit Leidenschaft und Hingabe, mit beachtenswertem Engagement und mit spür- und sichtbarem Erfolg gearbeitet. »Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben« (Hermann Hesse in seinem Gedicht »Stufen«).

4.5.3.2 Henriette Petersen: Das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist ... – Persönliche Reflexionen über die Ausbildungsanfänge der Gesprächspsychotherapie in der DDR37 Im September 1970 wurde für das vierte Studienjahr im Schwerpunkt Klinische Psychologie ein Seminar angeboten, das meinem Leben eine grundlegende Richtung geben sollte. Das konnte ich nicht ahnen, als ich – Studentin der Psychologie an der Humboldt Universität zu Berlin (Ost) – damals das Seminar wählte – übrigens eines der wenigen Studienangebote, die überhaupt zu wählen waren, denn die meisten Vorlesungen und Seminare waren stundenplanmäßig vorgegeben und stillschweigend, jedoch streng in den Konsequenzen, wurde auch die Anwesenheit registriert. Unser Dozent, Johannes Helm, führte eine kleine Gruppe interessierter Studierender in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach des Instituts in der Oranienburger Straße 18 in die Grundlagen des klientenzentrierten Konzeptes ein. Wir schrieben eifrig mit, denn Fotokopien gab es nicht, ebenso wenig das deutsche Standardwerk von Reinhard Tausch »Gesprächspsychotherapie«. Zum besseren Verständnis hörten wir ein Tonband (auch Kassettenrecorder standen damals in der DDR noch nicht zur Verfügung) mit einer gesprächspsychotherapeutischen Behandlungsstunde, in der Reinhard Tausch Psychotherapeut war (wie dieses Tonband über die streng kontrollierte Grenze zu

36 Frederick H. Kanfer (1925–2002) leistete mit der Entwicklung der Selbstmanagment-Therapie einen bedeutsamen Betrag zur kognitiven Verhaltenstherapie und begründete zusammen mit G. A. Saslow das SORKC-Modell der modernen Verhaltensanalyse. 37 Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Herausgeber. Erstdruck in: Inghard Langer (Hrsg.): Menschlichkeit und Wissenschaft. Festschrift zum 80. Geburtstag von Reinhard Tausch. GwG-Verlag, Köln, 2001, S. 107–111.

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Johannes Helm gelangen konnte, wird wohl ein Geheimnis bleiben). Schließlich begannen wir die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte zu üben. Zunächst erfolgte ein Diskriminationstraining, in dem wir schriftlich festgehaltene Therapeuten-Klienten-Dialoge beurteilten. Im anschließenden Verhaltenstraining hatten wir in schriftlich fixierten Therapiegesprächen (die Therapeutenpassagen waren ausgespart) auf die Patientenäußerungen schriftlich im Sinne des klientenzentrierten Konzeptes zu reagieren. Danach erfolgte ein intensiver Austausch über die jeweiligen Therapeutenäußerungen, um so zu einer Übereinstimmung zu finden (übrigens: Diese »Trockenübungen« gehören seit Jahren zur Basis des von mir angebotenen Seminars »Theorie und Praxis der Gesprächsführung und Gesprächspsychotherapie« am Fachbereich Psychologie der Universität Hamburg). Die Atmosphäre im Seminar, die fast familiären Charakter annahm, war von großer gegenseitiger Wertschätzung geprägt. Diese entsprang Johannes Helms respektvoller Haltung uns gegenüber – keine Selbstverständlichkeit an der stark leistungsorientierten und hierarchisch strukturierten Universität. Was aber war in diesem Seminar für mich das wirklich tiefgreifend Faszinierende? Was entdeckte ich, was mich so berührte, dass es mich beruflich ganz und gar prägte? Man muss sich ein streng naturwissenschaftliches Psychologiestudium vorstellen, eingebettet in ein Gesellschaftssystem, in dem Individualität nur im Rahmen der erlaubten herrschenden marxistischen Doktrin möglich war. Und dieser Rahmen setzte enge Grenzen! Zu eigenen – nicht nur politischen – Auffassungen und Ausdrucksmöglichkeiten zu gelangen, sich z. B. den Zwangsmitgliedschaften in den sozialistischen Kinder- und Jugendorganisationen zu verweigern, zog in der Regel verheerende Folgen nach sich: Berufliche Perspektiven wurden unabhängig von Begabungen und Neigungen verbaut, es folgten staatssichernde Beargwöhnung und Isolierung. Wenn es mir dennoch gelungen war, meinen Weg unabhängig von der sozialistischen Jugendpolitik zu gehen (Konfirmation statt Jugendweihe, Junge Gemeinde statt FDJ), sogar einen Studienplatz zu erhalten (eine an ein Wunder grenzende Ausnahme von der Regel), so blieb doch das beängstigende Wissen, jederzeit in Ungnade fallen zu können und deshalb diplomatisch und bedacht mit der Entwicklung und dem Ausdruck eigener Individualität umgehen zu müssen. In diesem Klima geistiger und seelischer Einengung lernte ich das klientenzentrierte Konzept und die drei Grundhaltungen, die im therapeutischen Prozess wirksam sind, kennen. Dass es erlaubt – ja, wünschenswert war, zumindestens im therapeutischen Setting diejenige sein zu dürfen, die man war, erlebte ich wie eine Befreiung. Es gab also eine Therapieform, die Menschen nicht nach einem Bilde formen wollte, sondern die nichts anderes intendierte, als dass Menschen zu ihrer eigenen Authentizität finden! Das habe ich als unglaublich befreienden Vorgang wahrgenommen! Ich habe zwar versucht – in einem repressiven Lebensklima – meine Individualität zu entfalten, aber es gab ja kaum Vorbilder dafür, und zu ausgeprägter Authentizität (im politischen wie im privaten Bereich) wurde bestenfalls misstraut und schlimmstenfalls fiel sie der breiten Palette staatlicher Sanktionen anheim. Dass ich meine eigenen Überzeugungen lebte, fand häufig das Missfallen meines gesellschaftlichen Umfeldes – war ich mutig, wurde ich als »staatsfeindlich« denunziert, hatte ich einen »Liebsten im Westen«, galt dies nahezu als Staatsverrat, und die Exmatrikulation drohte. Für ein Forschungsstudium (die Möglichkeit,

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

am Psychologischen Institut mit einem kleinen Gehalt zu promovieren um eventuell anschließend eine Universitätslaufbahn zu beginnen) durfte ich nun nicht mehr vorgeschlagen werden. Es fehlte auch nicht an nahen und wohlgesonnenen Menschen, die mir um meines zukünftigen beruflichen Fortkommens willen rieten, doch mehr Kompromisse zu schließen, so dass ich gerade aus dem Freundes- oder Familienkreis heraus verunsichert wurde, ob ich so sein durfte, wie ich mich ausdrücken wollte. Ich will nicht verschweigen, dass auch das in der DDR gelebte Christentum sein Scherflein zu dieser Verunsicherung beitrug. Zwar bot die Kirche offene Entfaltungsmöglichkeiten (u. a. die Chance der Meinungsfreiheit) und lebte wirkliche demokratische Strukturen. Das protestantische Umfeld, in dem ich mich engagierte, zeigte sich jedoch eher streng und fordernd, so als gäbe es einen allgemein menschlichen Wesenskern, der von Natur aus böse sei und entsprechend »domestiziert« werden müsse. In diesem Spannungsfeld – hier die »allseitig entfaltete sozialistische Persönlichkeit«, die erklärtes Staatsziel war (welche vielleicht den gestutzten Buchsbaumhecken eines französischen Gartens des 18. Jahrhunderts entsprachen – wobei ich mich bei den französischen Gärten gleich entschuldigen möchte), und dort der »sündige Mensch«, der lebenslang daran arbeiten musste, sein »sündiges Wesen« zu bekämpfen – in diesem Spannungsfeld musste mir das klientenzentrierte Konzept wie eine Oase in der Wüste erscheinen! Es war die Erlaubnis, meiner Authentizität Ausdruck zu verleihen! Und der Begründer dieser Therapieform – Carl Rogers – sowie Reinhard Tausch in Hamburg, der dieses für mich so befreiende Konzept nach Deutschland gebracht hatte, waren ja nicht irgendwelche versponnenen »bürgerlichen Philosophen«, sondern ernstzunehmende Wissenschaftler, die durch zahlreiche empirische Untersuchungen die heilende Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie nachgewiesen hatten, so überzeugend nachgewiesen hatten, dass dies Verfahren in den Forschungs- und Lehrkanon des Psychologischen Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin aufgenommen wurde. Das faszinierte mich auch: eine Therapieform, die lehr- und erlernbar war, die systematisch erforscht wurde und werden konnte und real wirksam war. Die Wissenschaftlichkeit des klientenzentrierten Konzeptes begeisterte mich nicht nur, weil ich selbst streng wissenschaftlich ausgebildet war, sondern weil sie gewissermaßen die »Eintrittskarte« war, dieses Konzept ganz annehmen zu dürfen – so, als ob es einer objektiven Erlaubnis bedurfte und nicht nur meiner persönlichen – möglicherweise zu subjektiven – Faszination. Das zugrundeliegende Menschenbild (welches nie im Seminar diskutiert, nur stillschweigend hingenommen wurde) war es ja, was mich zutiefst ansprach und das wie ein Licht in der Dunkelheit erschien – diese grundlegende Bejahung des inneren Wesens des Menschen – das Fehlen einer Doktrin, wie der Mensch sei bzw. zu sein habe. Im geistig-seelischen »Vorschriftenwald« begeisterte mich diese grandiose Freiheit, und ich erinnerte mich noch nach Jahrzehnten an dieses beglückende Gefühl, als Václav Havel am 24. April 1997 in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag sagte: »Freiheit im tiefsten Sinne des Wor­tes bedeutet jedoch mehr, als ohne Rückhalt zu sagen, was ich denke. Freiheit bedeutet auch, dass ich den anderen sehe, mich in seine Lage hineinzuversetzen, in seine Erfahrungen hineinzufühlen und seine Seele hineinzuschauen vermag und imstande bin, durch

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einfühlsames Begreifen von alledem meine Freiheit auszuweiten. Denn was ist das gegen­ seitige Verständnis anderes als die Ausweitung der Freiheit und die Vertiefung der Wahrheit?« Es interessierte mich damals (wie heute) nicht, dass die Gesprächspsychotherapie »nur« eine Therapiemethode für »psychisch gestörte Menschen« (Kohler 1974) sein sollte – ich begriff, dass das humanistische Menschenbild nicht nur seelisch verletzte oder erkrankte Menschen, sondern auch mich meinte. Ich verstand damals intuitiv, was ich viele Jahre später, als ich selbst längst in Hamburg mein Psychotherapiestudium beendet hatte und als Gesprächspsychotherapeutin tätig war, in Michael Endes Buch »Momo« fand: »Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Momo konnte so zuhören, dass dumme Leute plötzlich auf sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Sie konnte einfach so zuhören, dass Ratlose und Unentschlossene auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass sich Schüchterne plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging und erzählte alles der kleinen Momo, dann wurde ihm noch während er redete auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihm, genauso wie er war unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und das er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!« Diese Art des wertungsfreien, ganz ungeteilten intensiven Zuhörens galt mir als Bejahung meiner Individualität und als Befreiung fremdbestimmender Vorschriften, wie ich zu sein hätte – seien die Vorschriften auch noch so gut gemeint. Obwohl ich damals noch gar nicht die Möglichkeit erhielt (es gab keine Rollenspiele), die Wirkung der Gesprächspsychotherapie unmittelbar zu erfahren, so war das Kennenlernen des Konzeptes an sich schon so grundlegend »erlösend« wie beschrieben. Reinhard Tausch und Johannes Helm haben Ende der 1960er Jahre Kontakt gefunden; gemeinsam mit Inge Frohburg begann am Berliner Institut eine fruchtbare Lehr- und Forschungstätigkeit und das institutseigene Ambulatorium bot Gesprächspsychotherapie für Einzelne und Gruppen an. Dass dies geschehen konnte, kann kaum genug gewürdigt werden. Ich bin überzeugt, dass auf diese Weise noch viele Menschen in der DDR – ob erkrankt oder nicht – heilsam und heilend erfahren durften, »das Selbst zu sein, das man in Wahrheit ist«. (Dieser berühmte, Rogers zugeschriebene Satz, wurde in Wirklichkeit von dem bekannten dänischen Theologen, Schriftsteller und Philosophen Søren Kierkegaard, 1813–1855, in seinem Buch »Die Krankheit zum Tode« – 1849, auf deutsch 1924 – formuliert.)

4.5.4 Ilona Stoiber: Verhaltenstherapie 1970–1979 Die Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie in dieser Zeit ist besonders dem DiplomPsychologen Dr. Werner Dummer zu verdanken, der als Nestor der Verhaltenstherapie der

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DDR gilt (Dummer 1992: Grußwort zum DGVT-Kongress, Berlin). Er machte sich bereits ab 1964 in Neuruppin mit seinen Fallbeispielen bekannt. Zunächst arbeiteten die Kollegen und Kolleginnen einzeln und autodidaktisch und, wie sie sagen, auch in Anlehnung an Leonhards Individualtherapie. Insbesondere Hans-Georg Schmiescheck entwickelte die Individualtherapie an der Charité Berlin weiter. Die wissenschaftlichen Grundlagen für die Anwendung der Verhaltenstherapie wurden selbstverständlich während des Studiums der Psychologie erworben. Es waren die verschiedenen Lerntheorien, die Methoden der klassischen und operanten Konditionierung einschließlich der Experimente Pawlows. H.-J. Eysenck war in diesen Jahren ebenfalls mit der »Einführung in die moderne Verhaltenstherapie« bekannt geworden und gelesen. Als sich die Arbeitsgemeinschaft Verhaltenstherapie im Jahre 1974 sowohl im Rahmen der Gesellschaft für Psychologie der DDR als auch der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR organisierte, waren Werner Dummer (Berlin-Buch), Jürgen Mehl (Humboldt-Universität Berlin), Ivo Strauß (Humboldt-Universität Berlin) und Hans-Georg Schmiescheck (Charité Berlin) die wesentlichen Initiatoren. Die Zahl der Mitglieder und Interessierten wuchs in den folgenden Jahren kontinuierlich. Ich zitiere Dummer: »Wir waren von der Wissenschaftlichkeit, Praxisrelevanz und Effektivität verhaltenstherapeutischer Methoden überzeugt und wollten deshalb eine entsprechende Aus- und Weiterbildung auf den Weg bringen.« Grundlage für die ersten eigenen Arbeiten war die Unterstützung aus der Bundesrepublik Deutschlands: – westdeutsche Kollegen schickten oder brachten auf privatem Wege Fachbücher und ­Sonderdrucke; – Redaktionssekretäre unserer wissenschaftlichen Zeitschriften besorgten von den Verlagen Rezensionsexemplare; – der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) sandte über zwölf Jahre die Zeitschrift »Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis« kostenlos. Dummer fasste seine Arbeitsweise nach 40-jähriger Praxis zusammen: »Durch welches methodische Zusammenspiel kann ich es bei diesem Patienten, also seiner Persönlichkeitsstruktur und gegenwärtigen Situation, schaffen, dass er sich selbst optimal dazu motiviert, auf einem ihm gemäßen Wege das gemeinsam zu bestimmende Therapieziel zu erreichen? Ob die Verhaltenstherapie in diesem Zusammenspiel zeitweise die Rolle der ersten Geige, der Posaune oder der Pikkoloflöte übernimmt, wäre für mich unwichtig. Entscheidend ist – wie beim Orchester –, dass der Dirigent weiß, wem er zum richtigen Zeitpunkt den Einsatz gibt. Das setzt voraus, dass er die Partitur wie das gesamte Instrumentarium gut kennt und einige Instrumente auch als Spieler gut beherrscht.« Die Therapeuten der 1970er Jahre waren in der DDR dadurch geprägt, die psychotherapeutische Arbeit intensivieren und differenzieren zu wollen und dabei alles aufzugreifen, was dazu hilfreich sein könnte und zu der persönlichen Einstellung passte. Mit Einzeltherapie beginnend wurden mehr und mehr verhaltenstherapeutische Prinzipien in die Gruppenarbeit eingeführt. Die Auseinandersetzung mit den Prinzipien prägte die Therapeutenpersönlichkeit sicherlich nicht einheitlich, aber auf jeden Fall hilfreich für den persönlichen Erfolg bzw. für die Sicherheit des Therapeuten in seiner täglichen Praxis.

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4.5.5 Katathymes Bilderleben. Heinz Hennig und Erdmuthe Fikentscher: Zum Aufbau einer Arbeitsgruppe für Katathymes Bilderleben (KB) und die Verbreitung der Methode Obwohl in der DDR, wie in allen autoritären Systemen, hinterfragende Psychotherapiemethoden tiefenpsychologisch bzw. psychoanalytischer Orientierung nicht erwünscht waren bzw. nicht gefördert wurden, brachten die späten 1960er Jahre einen spürbaren Einsatz führender Psychotherapeuten (z. B. Höck, Wendt) für psychodynamische Interventionen. Hiervon partizipierten zunächst überwiegend gruppentherapeutisch orientierte psychodynamische Arbeitskreise innerhalb der damaligen Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Rasch verbreitete sich vorrangig die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie nach Höck (1967a, 1967b) sowohl mit Ausbildungsangeboten als auch in der klinischen Versorgung. Gefragt und gefördert wurden bis dahin Verfahren, die nach Meinung der Obrigkeit Anpassung und Ideologiegläubigkeit zu garantieren schienen, das waren seinerzeit in erster Linie die von Pawlow hergeleitete Verhaltenstherapie und Suggestivverfahren (in Sonderheit Hypnose). Diese Methoden verdankten ihr staatliches Wohlwollen den für sie meist positiven Beurteilungen besonders in der sowjetischen Fachpresse sowie ihrer nach Meinung der Parteiideologen hinreichenden Kompatibilität mit dem marxistisch-leninistischen Menschenbild. Daher verdanken wir, wie der überwiegende Teil psychodynamisch arbeitender Fachkollegen in jener Zeit, den gruppendynamisch orientierten Selbsterfahrungsgruppen der Arbeitsgruppe von Kurt Höck (seinerzeit Kommunitäten genannt) wesentliche Einblicke in psychodynamische Prozesse. Just in diesem Zeitraum lasen wir erstmals zwei Publikationen von Leuner zum experimentellen KB (1955a) und zur Symbolkonfrontation, in denen die Anfänge des KB beschrieben werden. Hier wurde ein psychoanalytisch orientiertes Vorgehen vorgestellt, das Imaginationen als psychodynamisches Arbeitsinstrument nutzt. Also begannen wir mit einer kleinen Gruppe von Psychologen und Ärzten an der damaligen Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Universität in Halle/Saale mit ersten vorsichtigen Versuchen, uns die Methode des KB zu erarbeiten und in die psychotherapeutische Praxis zu integrieren (Hennig 1993). Beabsichtigt war, die Persönlichkeit mit ihren Konflikten als Individuum in das Zentrum psychotherapeutischen Denkens und Handels zu stellen. Neben dem prosperierenden gruppendynamischen Vorgehen sollte ein tiefenpsychologischpsychoanalytisch orientiertes Werkzeug als Einzeltherapie eingeführt werden, das gleichzeitig die Möglichkeit bietet, psychoanalytisches Gedankengut in die psychotherapeutische Ausbildung zu implantieren. Das passte zwar nicht unbedingt in das staatlich verordnete Ideologiekonzept, dennoch erhofften wir uns nicht nur eine Erweiterung des methodischen Therapieinstrumentariums, sondern darüber hinaus, dass zumindest fachpolitisch (vielleicht auch ein wenig gesellschaftspolitisch) vermehrt tiefenpsychologische Konzepte verinnerlicht und damit in Diskussionen eingebracht werden konnten. Das KB als psychotherapeutisches Verfahren war seinerzeit in der DDR kaum bekannt. Lediglich Klumbies (1974, S. 159 f.) erwähnt das KB als »Experimentelles Katathymen Bild-Erleben« nach Leuner. Er beschreibt hier ein ausschließlich suggestives Vorgehen, ohne die tiefenpsychologisch analytische Orientierung der Methode überhaupt zu erwähnen.

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Wir setzen von Beginn unserer Beschäftigung mit dem KB an auf konsequente Beziehungsarbeit. So haben wir u. a. das von Leuner (1969, 1970) zumindest in seinen früheren Arbeiten betonte Prinzip der Vermeidung der Übertragungsneurose durch eine Projektionsneurose sehr bald vernachlässigt (Hennig 1980). Das Jahrzehnt zwischen 1970 und 1980 wurde mit intensiver Selbsterfahrung und klinisch-psychotherapeutischer Arbeit durch jene kleine Gruppe von Psychologen und Ärzten an der Halleschen Universitätsnervenklinik (UNK) gefüllt. Rasch weitete sich der Teilnehmerkreis unter den damals an der Klinik tätigen Kollegen aus. Darüber hinaus schlossen sich in zunehmendem Maße in den Gesundheitseinrichtungen des damaligen Bezirkes Halle/Saale psychotherapeutisch tätige Fachkollegen unserem Kreis an. Das für die gesamte Arbeit notwendige theoretische Wissen eigneten wir uns zunächst durch das Studium der im deutschen Sprachraum publizierten Literatur zum KB an. Zeitschriftenpublikationen wurden durch Sonderdruckanforderungen von unseren Kollegen im damals westlichen Ausland erbeten und diese wurden uns in reichlichem Umfang insbesondere von den Autoren aus der BRD und Österreich zugesandt. Neben einzelnen Bücherspenden über noch gesamtdeutsch agierenden wissenschaftlichen Institutionen (z. B. die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle/Saale) wurde von uns auch die Möglichkeit genutzt, Fachliteratur z. B. westdeutscher Autoren in den wissenschaftlichen Beiträgen der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu rezensieren. Schließlich gab es zumindest in wissenschaftlichen Institutsbibliotheken der Universitäten ein erhebliches Potential an älterer psychoanalytisch orientierter Literatur, die wir bereits als Studenten, erst recht als Assistenten nahezu verschlungen haben. Getreu dem Junktim zwischen Forschen und Heilen jedweder analytisch orientierten Therapiekonzepte (Thomä u. Kächele 1986) wurde parallel zur Fortbildung alsbald mit der Patientenbehandlung begonnen und damit auch die entsprechende Supervision (zunächst vor allem als gruppeninterne Intervision auf den Krankenstationen) eingeführt. Das KB wurde von uns sowohl bei stationär behandelten Patienten als auch im ambulanten Bereich angewandt. Die jeweiligen Therapieeffekte dienten zugleich der Überprüfung unseres therapeutischen Vorgehens mit dem KB, in bescheidenem Umfang legten wir hiermit bereits erste Ergebnisse zur Behandlung mit dem KB als analytisch orientiertes Imaginationsverfahren vor (Hennig 1976, 1978b). Obgleich die Publikationen dieser ersten klinischen Behandlungsberichte vorerst zurückhaltend erfolgten, war zu beachten, dass tiefenpsychologische Konzepte dieser Art weniger in die offizielle Staatsdoktrin hineinpassten und die öffentliche Identifikation mit einem relativ neuen analytisch orientierten Therapiekonzept, das noch dazu aus dem westdeutschen Raum übernommen wurde, suspekt erschien und nicht nur von staatlicher Seite misstrauisch beobachtet wurde. Dennoch folgten sehr bald Beiträge auf entsprechenden Tagungen, wobei das KB zunächst oftmals als Imaginationstherapie umschrieben wurde. Dieses Vorgehen war allerdings in jener Zeit nicht nur dem Vermeiden oder Minimieren ideologischer Komplikationen gezeitigt, sondern diente auch einer gewissen Selbstfindung im Umgang mit dem KB. Im Zeitraum von 1970–1979 finden sich dann auch kontinuierlich unterschiedliche Vortragsthemen, die sowohl auf eigenen Kliniktagungen als auch auf zentralen Kongressen oder Fortbildungsveranstaltungen referiert wurden (Hennig u. Voigt 1973, Hennig 1975, 1977,

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1978a, 1979). Die überwiegend aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie stammenden Publikationen sind dem Umstand geschuldet, dass hier seinerzeit für eine systematische und in gewissem Umfang evaluierbare Arbeit mit dem KB besonders günstige Bedingungen vorlagen. Immerhin wurde das KB durch diese Tagungspublikationen in den psychotherapeutischen Einrichtungen der DDR deutlich bekannter über den Kollegenkreis der Region Halle hinaus. Es erschienen in diesem Zeitraum auch erste eigene Publikationen zur Arbeit mit dem KB in renommierten Zeitschriften (Hennig u. Dober 1974, Hennig 1978b), eine weitere Arbeit konnte nach einigen Querelen mit den Universitätsgremien in einer westdeutschen Zeitschrift erscheinen (Hennig 1976). Die erste Arbeitsgruppe in Halle entwickelte sich rasch über die Grenzen der Universitätsnervenklinik hinaus, blieb jedoch vorerst eine recht informelle Vereinigung, die offiziell weniger zur Kenntnis genommen, jedoch aufmerksam beobachtet wurde. Erste Fortbildungskurse, die in der Regel auf einen Dienstreiseauftrag durch den Arbeitgeber der Teilnehmer (in der Regel Kliniken oder Polikliniken) und damit kostenlos über eine Woche hin erfolgten, fanden zunächst im Bezirk Halle statt. Hier waren in der Regel die regionalen Arbeitsgruppen der Gesellschaften für Ärztliche Psychotherapie oder der Psychologie (Klinische Psychologen) die Veranstalter, die zunächst den Rahmen für diese Fortbildungen schufen. Die systematische Erweiterung des Arbeitskreises erfolgte sehr bald über eine Vielzahl von Interessentengruppen in fast allen Bezirken der DDR und in Berlin (Ost). Der Kreis derjenigen Psychotherapeuten in der DDR, die sich intensiver mit dem KB zu beschäftigen begannen, umfasste schließlich einen beträchtlichen Teil der Berufsgruppe. Als Voraussetzungen für die Teilnahme an diesen ersten Einführungskursen in die Arbeit mit dem KB galten auch hier neben einer abgeschlossenen psychologischen bzw. medizinischen Ausbildung hinreichende theoretische und klinisch-praktische psychotherapeutische Weiterbildungserfahrungen. Ohnehin brachten die meisten Kursteilnehmer sowohl psychodynamisch (zumeist gruppenbezogen) orientierte als auch verhaltenstherapeutische und gesprächstherapeutische Vorkenntnisse in die Gruppenarbeit mit dem KB ein. Die strikte Anwendungstrennung, wie sie in heutigen Richtlinienvorgaben vorgeschrieben sind, war in der psychotherapeutischen Praxis des Gesundheitswesens der DDR nicht üblich, eher dominierten zumeist pragmatisch-integrative Ansätze, wobei gelegentlich auch suggestiv therapeutische Elemente einbezogen wurden. Methodenübergreifend standen von Beginn der Fortbildungskurse mit dem KB an die Besonderheiten der Gestaltung einer therapeutischen Arbeitsbeziehung mit Imaginationen im Vordergrund. Inhaltlich enthielten diese Kurse daher zum einen theoretische Einführungen in die Spezifik der Arbeit mit KB unter psychodynamischen Aspekten, wobei vorrangig Publikationen von Leuner (1970, 1978) genutzt wurden. Zum anderen bildeten selbsterfahrungsorientierte Einzeltherapie in der Gruppe als auch das Gruppen-KB selbst den zweiten Schwerpunkt dieser ersten Intensivseminare. In diesem Zusammenhang erfolgte auch eine Einführung in die wesentlichen tiefenpsychologischen Konzepte (in Sonderheit der Psychoanalyse und der analytischen Therapie nach C. G. Jung), um ein gemeinsames Terminologieverständnis herzustellen. Daneben wurden die theoretischen und praktischen Voraussetzungen, die die Kursteilnehmer aus ihren eigenen

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Erfahrungen mit anderen methodischen Konzepten mitbrachten, genutzt und auf ihre Kompatibilität mit der Tagtraumatik hin überprüft, zumal auch die unterschiedlichen Verfahren eigene methodische Ansätze über Nutzung von therapeutischen Imaginationen verfügen (Hennig 1986, 1993). Aus der Arbeitsgruppe für KB an der Universität in Halle und einigen hochmotivierten Kollegen aus unterschiedlichen Regionen formierte sich schließlich eine Kerngruppe, die späterhin den Stamm einer hinreichend qualifizierten Lehrtherapeuten- bzw. Dozentenschaft bildete und zum Teil bis heute bildet. Hierzu gehören neben den Autoren u. a. Dr. Jürgen Günther, Dipl.-Psych. Armin Morich, Dr. Wolfram Rosendahl, Dr. Bernhard Schmitt, Wolf Hempel (FA für Psychiatrie und Neurologie), Dr. Rainer Gunkel, Dipl.-Psych. Barbara Irmer, Ingrid Emmerich, Dr. Renate Hochauf, Dr. Holger Männel, Dr. Günther Ehlers, Dr. Elisabeth Richter-Heinrich, Dipl.-Psych. Holger Fietzke Dipl.-Psych. Barbara Andrzejak. Sehr bald wurde in diesem Jahrzehnt versucht, mit den Arbeitsgemeinschaften für KB in der damaligen BRD und in Österreich Kontakt aufzunehmen. Ein solches Unterfangen war prinzipiell kompliziert und staatlicherseits nicht nur unerwünscht, sondern auch wegen möglicher Sanktionen nicht ungefährlich. Für unsere noch im Entstehen begriffene, vorerst weiterhin informelle Arbeitsgruppe wären fatale Folgen zu erwarten gewesen, zumal wir zu dieser Zeit keinerlei offizielle Kontakte nutzen konnten. Immerhin konnten über schriftliche und telefonische Kontakte Informationen ausgetauscht werden. Diese inoffiziellen Kontakte signalisierten den westlichen Gesellschaften für KB zumindest unsere Existenz und hatten zur Folge, dass wir über zugesandte Tagungs- und Kongresseinladungen und deren Inhalte einen Einblick in die Entwicklungswege und Problemstellungen der Internationalen Gesellschaft für KB (IGKB) bekamen. Dieser Informationsaustausch war relativ unkompliziert möglich, weil die Einbettung der Arbeitsgruppe für KB in die Psychotherapie- bzw. Psychiatrieforschung der UNK sorgfältig beachtet wurde. Damit konnte die in akademischen Einrichtungen eher weniger restriktive Einfuhr von Fachliteratur in die DDR genutzt werden, d. h., mit einer festen Integration des KB im universitären Raum war ein gewisser Freiraum vor möglichen politischen Übergriffen gegeben. Hinzu kam uns sicherlich zugute, dass der nicht ohne weiteres verständliche Name des Verfahrens »Katathymes Bilderleben« von den zuständigen Kontrollorganen kaum als politisch brisant gedeutet werden konnte, zumal der Adressat stets als Mitarbeiter einer psychiatrischen Universitätsklinik identifizierbar war. Am Ende dieses Jahrzehnts war jedenfalls eine kompetente Arbeitsgruppe entstanden und das KB breitete sich zumindest von seinem Bekanntheitsgrad her kontinuierlich aus. Nunmehr wurden erste curriculare Entwürfe ausgearbeitet sowie »strategische« Überlegungen angestellt. Das Ideenprojekt war: die Gründung einer eigenen Sektion innerhalb der damaligen Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (GäP), der späteren Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der DDR (GPPMP). Hierfür waren curriculare Überlegungen für eine eigene Ausbildungskonzeption, die sowohl den Vorgaben von Leuner als auch eigenen Therapietraditionen aus der DDR gerecht wurden, notwendig. Damit sollte die Kompatibilität der Ausbildung und der klinischen Arbeit mit den Ansätzen der Arbeitsgruppen in der BRD hergestellt werden. Persönliche Kontakte

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mit den Arbeitsgemeinschaften in Göttingen und Österreich über den bisherigen Informationsaustausch in Form von Publikationen wurden angedacht und vorsichtig vorbereitet. Immerhin war es in dieser gesellschaftspolitisch und fachpolitisch brisanten Situation gelungen, die Einführung einer tiefenpsychologisch fundierten bzw. psychoanalytisch orientierten Psychotherapiemethode (die sich in dieser Weise auch zu erkennen gab) in der Praxis vorzubereiten. Gelegentliche misstrauische Anfragen von unterschiedlicher Seite an den damaligen Direktor der Halle’schen Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie, Herrn Prof. Rennert (persönliche Mitteilungen), wurden von diesem stets ausweichend oder verharmlosend beantwortet. Insbesondere in seiner Funktion als Vizepräsident der Akademie für Naturforscher Leopoldina in Halle, die auch in der DDR hoch angesehen war, stellte er sich stets schützend vor uns. Diesen Schutzraum nutzten wir zum einen, um die Effektivität der therapeutischen Arbeit mit dem KB selbst hinreichend auszuloten. Zum anderen befürchteten wir ideologische bzw. fachideologische oder auch hiermit verbundene persönliche Rivalitätsreaktionen, die in der DDR unter bestimmten Umständen das Ende aller dieser Unternehmungen nach sich gezogen haben könnten. Tatsächlich erwies sich dann unsere Position in den folgenden Diskussionen wesentlich stabiler, nachdem die Anzahl der am KB interessierten Kollegen deutlich prosperierte (Hennig 2007).

4.5.6 Musiktherapie. Christoph Schwabe und Axel Reinhardt: Die Weiterentwicklung der Musiktherapie und ihre Integrationsbemühungen in die psychotherapeutische Praxis sowie ihre Organisationsformen in den Jahren von 1970–1979 In den 1960er Jahren hatte sich die Musiktherapie in der Leipziger Psychotherapie-Klinik der Universität zu einem festen Bestandteil entwickeln können (vgl. dazu } Abschnitt 3.5.2.4) Durch Veröffentlichungen und durch Tagungen war sie weit über den regionalen Rahmen hinaus bekannt geworden. Das war auch die Zeit, in der in anderen Bezirken der DDR Psychotherapieeinrichtungen aufgebaut wurden. Aus diesen neuen klinischen Einrichtungen kam der Wunsch, nicht nur das Leipziger Psychotherapiekonzept zu übernehmen, sondern ebenso die dort entwickelte Musiktherapie. Das führte folgerichtig zu der Frage nach entsprechend zu qualifizierenden Mitarbeitern. Im Abschnitt 4.5.6.2 soll darauf näher eingegangen werden.

4.5.6.1 Christoph Schwabe: Die Entwicklung der Musiktherapie zu einem schulenübergreifenden Konzept – Beweggründe, Auseinandersetzungen, Positionierungen Das Konzept eines musiktherapeutischen Methodensystems (Schwabe 1969), das innerhalb der Leipziger Universitäts-Psychotherapieklinik in den Jahren zwischen 1960 und 1969 entwickelt wurde, zeichnete sich durch seinen ausgeprägten Integrationscharakter in ein psychotherapeutisches Gesamtkonzept (Kohler 1968) aus.

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Damit hatten die musiktherapeutischen Methoden einen gezielten, mehr oder weniger begrenzten Wirkungsgrad und konnten psychotherapeutische Absichten in Abstimmung mit dem Gesamt des psychotherapeutischen Handelns wirkungsvoll unterstützen. Das »mehr oder weniger« bedeutet dabei die Unterscheidung zwischen spezifischen, d. h. klar umrissenen therapeutischen Absichten und unspezifischen Absichten im Sinne von Handlungsangeboten, die für die einzelnen Patienten unterschiedliche, von der individuellen Konstellation abhängige Wirkungen hatten. Zu dieser Unterscheidung führte ich 1967 die Begriffe »gerichtete« und »ungerichtete« musiktherapeutische Methoden ein. Eine der gerichteten musiktherapeutischen Methoden war beispielsweise die Reaktive Einzelmusiktherapie (Schwabe 1969, 1971), eine der ungerichteten Methoden z. B. die Gruppensingtherapie, die als Basistherapie für alle Patienten gleichermaßen galt (Schwabe 1964, 1966, 1967, 1969, 1971). Die enge Integration musiktherapeutischen Handelns in ein psychotherapeutisches Gesamtkonzepts setzte natürlich eine ebenso enge Zusammenarbeit der einzelnen Fachvertreter im psychotherapeutischen Team voraus. Dies war in der Klinik auch über viele Jahre hin der Fall. Ein solcher Arbeitsstil bedeutete u. a. die ständige Bereitschaft, gegenseitige Nähe konstruktiv zu bewältigen, einschließlich der Bewältigung der dabei nicht auszuschließenden zwischenmenschlichen Spannungen. Die Folge der Integration musiktherapeutischen Handelns in das Gesamtkonzept war allerdings auch eine unmittelbare Abhängigkeit dieses Handelns von allen anderen, ebenfalls integrierten psychotherapeutischen Handlungsformen. Diese Tatsache war zur damaligen Zeit so selbstverständlich, dass es keinen Grund dafür gab, über mögliche Konsequenzen nachzudenken, falls der hohe Grad an eingeforderter integrativer Zusammenarbeit einmal wegfallen könnte. Als allerdings die Chefin der Klinik, Professor Christa Kohler, schwer erkrankte, geriet das Klinikschiff in große Seenot. Die klare Leitungshand fiel weg, und damit verloren zunächst langsam, dann aber in immer rascherem Tempo, die Handlungsvereinbarungen der engen, gegenseitigen und informativen Zusammenarbeit an Gewicht. Sie lockerten sich und gerieten zunehmend zu formalen Gesprächsrunden, die nichts mehr mit den einstmals differenzierten und mit Tiefgang geführten differentialdiagnostischen Klärungsgesprächen zu tun hatten, in denen um diffizile therapeutische Ansätze gerungen wurde. Eine weitere Belastung des Arbeitsklimas in den beginnenden 1970er Jahren bedeutete die Tatsache, dass der Chef der psychiatrischen Universitätsklinik zum kommissarischen Leiter der Psychotherapie-Klinik wurde. Für ihn galt die Klinik für Psychotherapie und Neurosenforschung als eine Art »Luxusklinik« (O-Ton des Psychiatriechefs). Sein ausschließliches Interesse galt der Psychiatrie. So bestanden in der Mitte der 1970er Jahre ernsthafte Überlegungen, die Grundstruktur der Psychotherapie-Klinik aufzulösen und in das geplante stadtteilbezogene sozialpsychiatrische Projektkonzept einzubinden. Das hätte zur Folge gehabt, dass aus der Spezialklinik eine Einrichtung für neurologisch-psychiatrische Grundversorgung gemacht worden wäre. Zunehmend konnten die musiktherapeutischen Methoden unter den eingetretenen Arbeitsbedingungen nicht mehr realisiert werden, weil es die Voraussetzungen einer engen kooperativen Zusammenarbeit nicht mehr gab und weil es nicht mehr gewährleistet war,

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dass durch Musiktherapie mobilisierte emotionale Prozesse in der nachfolgenden Gesprächstherapie bearbeitet bzw. abgefangen wurden. Die Folge war, dass Musiktherapie zunehmend zu einer Beschäftigung mit Musik entartete und in diesem Zusammenhang aus dem Arbeitsfeld der Klinik herausgedrängt wurde. In der Mitte der 1970er Jahre gab es die kuriose Situation, dass die musiktherapeutischen Standards, die ich selbst entwickelt hatte und die inzwischen in anderen Kliniken von meinen Kollegen, die ich selbst ausgebildet hatte, erfolgreich angewendet wurden, in der eigenen aber Klinik nicht mehr durchführbar waren. Dieses Geschehen war damals als Betroffener schwer zu verstehen und noch schwerer zu verkraften. Heute, aus der Sicht des Geschichtsschreibers dieser Ereignisse, die mehr als drei Dezennien zurückliegen, lässt sich feststellen, dass die Veränderungen, die sich in den 1970er Jahren in der Leipziger Psychotherapie-Klinik ereigneten, den Nährboden für eine Weiterentwicklung der Musiktherapie bildeten, die sie schließlich mit ziemlicher Konsequenz und Kontinuität zu dem führte, was sie heute ist: ein schulenübergreifendes Konzept, das sich aufgrund seiner theoretischen und methodisch-didaktischen Invarianten und der daraus folgenden Flexibilität bei der Umsetzung in den unterschiedlichsten Praxiszusammenhängen bewährt hat. Im Weiteren soll es um die Entwicklungsschritte gehen, die schließlich zur gegenwärtigen Position der Musiktherapie geführt haben. Im Rückblick lassen sich dabei drei Etappen benennen, die als wesentliche Stationen dieses Prozesses zu gelten haben. Die erste Etappe ist festzumachen an der Veröffentlichung der »Methodik der Musiktherapie und deren theoretischen Grundlagen«. Die erste Auflage dieser Buchveröffentlichung erfolgte im Jahre 1978 in dem altehrwürdigen Leipziger Wissenschaftsverlag Johann Ambrosius Barth. Ihr folgten sehr rasch zwei weitere; eine vierte Auflage war für das Jahr 1989 geplant und sollte im Jahr 1990 erscheinen. Da der Verlag in diesem Jahr allerdings als Folge der vehement gewordenen »Vereinigungsturbulenzen« von einem westdeutschen Unternehmen »aufgekauft« und damit lahmgelegt wurde, kam diese vierte Auflage nicht zustande. Der Buchveröffentlichung über die Methodik der Musiktherapie lag eine Habilitationsschrift des Autors zugrunde, die er an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Jahre 1976 verteidigt hatte. Dies war im Übrigen die erste deutsche Habilitationsschrift mit einer Thematik zur Musiktherapie. Daraus lässt sich entnehmen, dass ich mich durch die katastrophalen klinischen Arbeitsbedingungen, die inzwischen in der Leipziger Psychotherapie-Klinik eingetreten waren, nicht entmutigen ließ. Der Schwerpunkt meiner Tätigkeit verlagerte sich vielmehr zu Beginn der 1970er Jahre von der praktischen klinisch-musiktherapeutischen Arbeit hin zur wissenschaftlich-theoretischen Analyse der Musiktherapie mit entsprechenden Schlussfolgerungen für methodisch-didaktische Konsequenzen. Darüber hinaus nahm die Weiterbildungstätigkeit einen immer breiteren Raum ein, wie im nachfolgenden Kapitel dargestellt werden soll. Ein wesentliches Anliegen der Methodik war es, ihren Gegenstand, die Musiktherapie, nicht primär vom Standpunkt einer rein anwendungsbezogenen (»praktizistischen«) Sicht aus zu beschreiben, wie es in zahlreichen Publikationen bundesdeutscher Autoren üblich war, sondern zunächst eine Metaebene zu finden, von der aus methodologische Zusammenhänge darstellbar werden konnten. Eine dieser Metaebenen war die Begriffsfindung des »Hand-

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

lungsprinzips« bzw. der psychotherapeutischen Handlungsprinzipien, die gemeinsam den unterschiedlichsten psychotherapeutischen Verfahren zugrunde liegen (Schwabe, 1978, S. 75). Damit war die erste und wesentliche Etappe für ein schulenübergreifendes, barriereauflösendes Denken und Handeln gegeben. Nach dem gleichen Grundsatz analysierte ich die musiktherapeutischen Methoden, wobei hier noch eine weitere methodologische Ebene hinzukam. Das war die der therapeutischen »Handlungsansätze« (Schwabe 1978, S. 163 ff.). In diesem Zusammenhang gilt die strikte Unterscheidung von phänomenologischen und didaktischen Sachverhalten als ein Aspekt, der hier zum ersten Mal schriftlich erfasst wurde. Phänomenologisches Denken richtet sich auf die Analyse und die Beschreibung bzw. Erfassung des Gegenstands selbst, z. B. auf die spezifischen Ausgangsbedingungen eines pathologischen Geschehens als Ausgangsbasis eines therapeutischen Prozesses. Hingegen bedeutet didaktisches Denken die Festlegung der operationalen Vorgänge im Prozess, einschließlich der dabei bevorzugten bzw. ausgeschlossenen strategischen und didaktischen Variablen, die für die jeweiligen Handlungsvollzüge als maßgeblich gelten. Die formulierten Handlungsprinzipien stellen in diesem Zusammenhang die in Frage kommenden Strategien dar, mit denen ein therapeutisch indiziertes Handeln am effektivsten zu realisieren ist. Das war eine bisher nicht bekannte und praktizierte Denkweise zumindest im Bereich der Musiktherapie, die in ihrer Logik so manchen Praktiker überforderte, die aber nicht nur in der DDR, sondern auch in der alten Bundesrepublik und im Ausland Resonanz fand und die die Musiktherapie aus dem Dunstkreis einer zweifelhaften subjektiv-emotional ideologisierenden Mystik befreite (vgl. Geck 1973). Nach dem Abschluss dieses Projekts »Methodik« nahm ich mir vor, musiktherapeutische Methoden, die sich unter verschiedenen psychotherapeutischen Rahmenbedingungen als besonders gut anwendbar erwiesen hatten, im Einzelnen darzustellen. Das betraf zunächst die Regulative Musiktherapie und einige Jahre später die Aktive Gruppenmusiktherapie. Das bedeutete, nicht nur das Wesen eines Handlungsvollzugs zu beschreiben, sondern in gleichem Maße das didaktische Instrumentarium darzustellen, mit dem bestimmte therapeutische Absichten im Prozess realisiert werden konnten. Dies schloss die Beschreibung genauer Indikationen bzw. Kontraindikationen und auch sog. Nichtindikationen ein. Natürlich waren für eine solche umfangreiche und detaillierte Darstellung die grundlegenden Aussagen der Methodik eine wesentliche Orientierung. Die zweite Etappe der Entwicklung eines schulenübergreifenden musiktherapeutischen Konzepts ist verbunden mit der Veröffentlichung des Buches »Aktive Gruppenmusiktherapie für erwachsene Patienten«. Das Mauskript dieses Buches wurde zwischen den Jahren 1976 und 1979 geschrieben. Die Veröffentlichung erfolgte aus berufspolitischen Gründen erst im Jahr 1983. In diesem Buch werden nicht nur die vier Methoden der Aktiven Gruppenmusiktherapie, die ich in den letzten 20 Jahren entwickelt hatte, dargestellt; vielmehr geht es auch um eine Analyse der Gruppenpsychotherapieentwicklung in der Zeit zwischen 1960 und 1980, wobei ich den unterschiedlichen Charakter von Gruppen als soziales Interaktionsfeld analysiere und beschreibe. Neben der Beschreibung der methodisch-didaktischen Prinzipien der Aktiven Gruppenmusiktherapie im Kontext unterschiedlicher Klinikbedingungen, der Beschreibung des Handlungsrepertoires des Therapeuten sowie der spezifischen Handlungsmittel musikthera-

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peutischer Tätigkeit ist das Kernstück dieser Abhandlung der »Entwurf eines Kausalitätsprinzips der Gruppenpsychotherapie« (Schwabe 1983, S. 24–33). Hier fasse ich die phänomenologischen Bedingungen sowie die methodisch-didaktischen Regeln musiktherapeutischen Handelns erstmals schulenübergreifend zu einem Bedingungsgefüge zusammen, das als Handhabung die Voraussetzungen und die Handlungsstrategien für psychotherapeutisches Handeln im Allgemeinen und für musiktherapeutisches Handeln im Besonderen zum Gegenstand hat. Die Handhabung der hier dialektisch aufeinander abgestimmten Bedingungen und Regeln bietet die Gewähr, dass musiktherapeutisches Handeln einerseits eine einheitliche konzeptionelle Basis behält, d. h. eine invariante Basis hat, andererseits aber unter Berücksichtigung dieser Invarianten flexibel innerhalb der vorgegebenen Rahmenbedingungen handlungsfähig bleibt. Dieses Regelwerk, das in der Buchveröffentlichung von 1983 erstmals als »Entwurf« für die Umsetzung der Methoden der Aktiven Gruppenmusiktherapie beschrieben wurde, hat inzwischen seine Bewährungsprobe auf vielfache Weise nicht nur in der klinisch psychotherapeutischen Praxis bestanden, sondern es ist zur erweiterten Grundlage für mein musiktherapeutisches Konzept geworden, das heute vertreten und gelehrt wird (Schwabe u. Reinhardt 2006, Schwabe u. Haase 2008). Die dritte Etappe der Konzeptionsentwicklung des schulenübergreifenden musiktherapeutischen Konzepts reicht zeitlich hinein in die Gegenwart. Da dieser Darstellungsabschnitt sich auf die 1970er Jahre beschränken soll, wird das, was zu dieser dritten Etappe zu sagen ist, nur skizzenhaft erfolgen. Die dritte Etappe hat ihren Ursprung wiederum in einer Katastrophe. Es handelt sich um den Zusammenbruch der für das Gesundheitswesen der DDR bisher geltenden Strukturen, wobei insbesondere die psychotherapeutischen Leistungen in den Polikliniken betroffen waren und hier wiederum besonders alles das, was vor allem von Psychologischen Psychotherapeuten an musiktherapeutischen Anwendungen bisher erfolgreich praktiziert wurde. Die Angleichung an die bundesdeutschen Regelungen hinsichtlich psychotherapeutisch anerkannter und nicht anerkannter Leistungen traf die bisher praktizierten musiktherapeutischen Leistungen mit voller Konsequenz. Sie wurden nicht mehr kassenärztlich getragen. Damit brach die Musiktherapie, die sich vor allem im ambulanten und im klinisch-medizinischen Sektor ereignet hatte, zusammen. Dem stand ein immer größer werdender Bedarf an Musiktherapie im Bereich der sozialen Betreuung und der Behindertenarbeit gegenüber. Die Folge war, dass wir die vorhandenen und bewährten Anwendungsformen von Musiktherapie auf ihre Anwendungsfähigkeit im erweiterten Sektor außerklinischer Belange überprüfen mussten. Und da bewahrheitete sich die Flexibilität dieses inzwischen gewachsenen musiktherapeutischen Konzepts, das bei strikter Anwendung der im Kausalitätsprinzip (Schwabe u. Reinhardt 2006) entwickelten Grundsätze eine Erweiterung der Anwendungsfelder in die vielfältigen Bereiche sozialer Betreuungsarbeit ohne Bruch ermöglichte. Inzwischen scheint sich auch die Situation in den klinischen Anwendungsdisziplinen wieder zu erholen, und es eröffnen sich unter veränderten Voraussetzungen neue Anwendungsfelder für Musiktherapie.

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

Entwicklung bedeutet, auf veränderte Rahmenbedingungen so zu reagieren, dass lebendiges Handeln-Können möglich bleibt. Das haben wir mit dem seit über 50 Jahren exis­ tierenden Musiktherapiekonzept bewiesen. Im Rückblick zeigt sich, dass es persönliche, ­institutionelle sowie gesellschaftliche Katastrophen waren, die Weiterentwicklungen bewirkten.

4.5.6.2 Christoph Schwabe und Axel Reinhardt: Der Aufbau und die Institutionalisierung musiktherapeutischer Aus- und Weiterbildungs­ angebote unter den realen Bedingungen der DDR-Situation Nach der sehr erfolgreichen Durchführung einer ersten internationalen Tagung zur Musiktherapie unter der Thematik: »Musiktherapie – Theorie und Methodik«, die im Frühjahr 1969 in Leipzig unter Leitung von Christa Kohler von der Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung der Psychiatrischen Universitätsklinik Leipzig veranstaltet wurde, war es offensichtlich, dass die Musiktherapieentwicklung, die von Leipzig aus erfolgt war, inzwischen eine führende Position nicht nur in der ehemaligen DDR, sondern über ihre Grenzen hinaus innehatte. Deshalb war es nicht verwunderlich, dass auch das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR dieses Ereignis zur Kenntnis genommen hatte. In diesem Zusammenhang richtete der damals stellvertretende Minister für Gesundheitswesen der DDR, Mecklinger, einen schriftlichen Antrag an den Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR mit der Bitte, ein Konzept für ein Berufsbild »Musiktherapie« zu erarbeiten. Ein solches Konzept wurde dann in Leipzig erarbeitet und an den Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie zur Weiterleitung an den Minister übergeben. Es bleibt bis heute schwer nachvollziehbar, dass der damalige Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR offenbar kein Interesse an der Realisierung dieses Projekts zeigte, so dass diese günstige Möglichkeit der Installierung eines solchen Berufsbildes im Sande verlief. Dieses Berufskonzept sah vor, einen Musiktherapeuten mit Fachschulausbildung, vergleichbar dem der Physio- oder Ergotherapeuten, zu entwickeln sowie in besonderen Fällen die Möglichkeit einer zusätzlichen Hochschulqualifikation zu ermöglichen. Dieses Berufskonzept halten wir auch zum heutigen Zeitpunkt noch für das einzig reale. Dass es zum damaligen (günstigen) Zeitpunkt, zumal durch Verzögerungen aus den führenden Reihen der Psychotherapeuten, nicht realisiert wurde, ist tragisch, zumal es heute trotz der enormen Entwicklung, die das Fach Musiktherapie in den letzten Dezennien erreicht hat, kaum möglich sein dürfte, dieses Versäumnis wiedergutzumachen. Die wissenschaftlichen Gesellschaften hatten in der ansonsten zentralistisch ausgerichteten DDR im Allgemeinen einen relativ weiten Spielraum, so auch die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Dieser Aktionsrahmen differenzierte sich noch durch die im Jahre 1969 erfolgte Gründung von Sektionen innerhalb der Gesellschaft, die zunächst für einzelne methodische Fachrichtungen der Psychotherapie vorgesehen waren. Christa Kohler, als Vertreterin der ärztlichen Psychotherapie, hatte sich vehement dafür eingesetzt, auch eine Sektion Musiktherapie zu installieren, und das gelang auch.

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Diese Sektionen entwickelten sich sehr rasch zu Zentren für spezifische Weiterbildungsaktivitäten. Zugleich aber auch entfalteten die Sektionen eine vielfältige wissenschaftliche Arbeit, koordinierten wissenschaftliche Veranstaltungen und sorgten somit für eine enge Kooperation der einzelnen Fachvertreter. Gleiches ist von der Sektion Musiktherapie zu berichten, die innerhalb der 20 Jahre ihres Bestehens u. a. mehr als acht wissenschaftliche Tagungen, teilweise mit internationaler Beteiligung, organisierte. Das Hauptbetätigungsgebiet aber war der Aufbau, die Organisation und Durchführung von Weiterbildungsveranstaltungen, die als Wochenlehrgänge für interessierte Kolleginnen und Kollegen angeboten und durchgeführt wurden. Auch hier gab es einen relativ großen Freiraum hinsichtlich der Gestaltungs- und Durchführungsbedingungen nicht zuletzt auch durch den Gesamtvorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, der den einzelnen Sektionen hinsichtlich der Weiterbildungsformen und der -inhalte einen selbstverantwortlichen Rahmen bot. Das hatte durchaus Vorteile. Die Realisierung der Weiterbildungsaktivitäten erfolgte mit einem auf das Wesentliche reduzierten bürokratischen Aufwand. Sie waren höchst kostengünstig, weil es für die Dozenten und Lehrtherapeuten keine Honorare, sondern höchstens kleine Aufwandsentschädigungen gab. Kostengünstig war auch die Nutzung von gewerkschaftseigenen Ferienhäusern in den Jahreszeiten ohne Feriengäste. Vorteilhaft war auch, dass es keine größeren Schwierigkeiten gab, die Lehrgangsteilnehmer über den Zeitraum einer ganzen Woche zur Weiterbildung freizustellen. Der relativ große Freizügigkeitsrahmen, der innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche ­Psychotherapie hinsichtlich der Weiterbildungsaktivitäten innerhalb der Sektionen bestand, hatte allerdings auch seine Schattenseiten, die spätestens in den 1980er Jahren gra­ vierend deutlich wurden. Aus der Sicht der verantwortlichen Musiktherapeuten fehlte es an kooperativer Aufmerksamkeit und entsprechenden Impulsen hinsichtlich des Aufbaus von Weiterbildungsangeboten für psychotherapeutische Basiskenntnisse (vgl. Schwabe } Abschnitt 5.3.7 und Reinhardt 1985), die man vom Gesamtvorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie hätte erwarten müssen. Hier wurde nach unserer Ansicht eine Chance verspielt, Psychotherapiekenntnisse an diejenigen Berufsgruppen innerhalb der psychotherapeutischen Teamarbeit zu vermitteln, die Psychotherapie als Musik-, als Bewegungs-, als Gestaltungstherapie praktizierten. So blieb diese Aufgabe den einzelnen Sektionsaktivitäten überlassen. Damit war beispielsweise die Sektion Musiktherapie, allein gelassen gegenüber den wachsenden Anforderungen aus der medizinischen Praxis, überfordert (Reinhardt 1985). Überforderung erfolgte in zweierlei Richtung: Zum einen war es nicht möglich, den Lehrgangskandidaten, die immer zahlreicher wurden, die eigentlich notwendige psychotherapeutische Basisausbildung anzubieten; zum anderen nahm die Zahl an Interessenten, die eine berufsausgerichtete Ausbildung zum Musiktherapeuten wünschten, immer mehr zu, und diese Aufgabe konnte über den Weg von Lehrgängen und Hospitationsangeboten in Kliniken, in denen Musiktherapie durchgeführt wurde, nicht realisiert werden. So befanden sich die Verantwortlichen der Sektion Musiktherapie in der Klemme einer ausweglosen Situation, zumal die Hilferufe an den Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie ohne Resonanz blieben (vgl. Schwabe oben).

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

Trotzdem hatte sich im Laufe der 1970er Jahre das Lehrgangsgeschehen in einer beachtlichen Weise entwickelt. Es bezog sich zunehmend und in der zweiten Hälfte dann ausschließlich, auf Methodenvermittlung, und dies mit einem sehr hohen Anteil an Selbsterfahrung. Das verdeutlicht die Aussage von Axel Reinhardt aus dem Jahre 1985 am Beispiel der Regulativen Musiktherapie: »Der Grundlehrgang für Regulative Musiktherapie dient vorwiegend der Vermittlung individueller Erfahrungen mit dem Prinzip der RMT [Regulative Musiktherapie]. Dieser Prozess trägt Selbsterfahrungscharakter: der Tagesplan umfasst in der Regel vier Trainingsstunden, eine seminaristisch orientierte Lehrstunde und schließlich eine sowohl sachbezogene als auch subjektbezogene Gruppenstunde, in der beispielsweise auch gruppendynamische Vorgänge behandelt werden. Der Aufbaulehrgang ist auf das Training des methodisch-didaktischen Therapeutenverhaltens in RMT-Gruppen gerichtet. Dieses Anliegen wird so realisiert, dass die einzelnen Teilnehmer in der Trainingsgruppe selbst als Gruppenleiter agieren und ihr Leiterverhalten in anschließenden Feedbackgruppen einer differenzierten Reflexion unterzogen wird. Auch im Aufbaulehrgang finden theoretische Seminare sowie tägliche Gesprächsrunden statt. Damit wird das Anliegen dieser Lehrgänge deutlich, nämlich die Einheit zwischen erlebnisspezifischer und sachspezifischer Vermittlung in der RMT-Ausbildung« (Reinhardt 1985, S. 8). Durch eine zunehmende Anzahl an methodenspezifischen Ausbildungslehrgängen, die die Kapazität der Ausbilder in den 1980er Jahren an Grenzen des Zumutbaren führte, gelang es, eine Vielzahl von psychotherapeutisch tätigen Psychologen, Ärzten, Physiotherapeuten, Schwestern und hauptberuflich tätigen Musiktherapeuten mit musiktherapeutischen Methoden vertraut zu machen.

4.5.6.3 Wolfgang Goldhan: Vom Anfang der Musiktherapie im Wilhelm-Griesinger-Krankenhaus (WGK) Berlin Harmlos fing es an, vor einem halben Jahrhundert. Es gab damals noch eine alte Ber­liner Tradition: der musikalisch-literarische Salon. Wer über eine große Altberliner Wohnung verfügte, hatte darin zentral gelegen einen Musiksalon mit einem Flügel. Hier fand man sich zwanglos – aber ausgewählt – regelmäßig zusammen, und man war daher sicher, dass die manchmal brisanten Gespräche auch in dieser Runde blieben. Eines Tages sprach mich hierbei Professor Müller-Hegemann an, ob ich mir vorstellen könnte in seinem Krankenhaus musiktherapeutisch tätig zu werden. Ich hatte keine Ahnung von Musiktherapie und war etwas verwirrt, warum er gerade mir diese Frage stellte. Möglicherweise gefiel ihm meine damalige feste Überzeugung, die ich auch vehement vertrat und praktisch lebte, dass Musik die Welt und die Menschen bessern könne. Kurze Zeit darauf lud er mich zu einem Rundgang in das Krankenhaus ein. Bis dahin hatte ich noch nie eine psychiatrisch-neurologische Klinik von innen gesehen, und nun gleich alles von Jugendpsychiatrie bis Gerontologie. Damals gab es einen großen Schlafsaal, man glaubte durch Schlaftherapie bestimmte psychische Störungen heilen zu können, vergleichbar vielleicht dem heutigen künstlichen Koma. Und hier war es das einzige Mal, dass

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

ein Chef eine Idee zur Musiktherapie äußerte. Also, wenn die Patienten wieder mobilisiert werden sollten, könne man da nicht Musik einsetzen? Es ist heute schwer vorstellbar: Aber es gab weder ein Lehrbuch noch wissenschaftliche Artikel zur Theorie oder Methodik der Musiktherapie, es gab auch noch kein Internet, wo man sich schnell informieren konnte, und Xerox war auch noch unbekannt – wir exzerpierten noch alles eigenhändig. Auch später war der Zugang zu spezieller Fachliteratur mit großen Hindernissen verbunden, wir mussten uns also »was einfallen lassen«, »Und so musste ich original werden« (Georg August Griesinger 1810 in seiner Haydn-Biographie). Das war jedoch an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Eine davon war die schöpferische Freiheit, und die war selbst für eine solche Orchidee wie die Musiktherapie im bunten Garten an der Wuhle gegeben dank der Denkweise der meisten Chefs, die fast alle selbst hochmusikalisch waren. Das war keineswegs so selbstverständlich, die Psychotherapie galt zeitweise in dem psychiatrischen Großkrankenhaus als Luxustherapie. Eine weitere Voraussetzung war die selbstverständliche kollektive Arbeitsweise, die Fluktuation war äußerst gering, wir kannten uns sehr genau und wussten unsere Zuverlässigkeit hoch zu schätzen. »Haifischbecken« in der Psychotherapie war uns ein Fremdwort. Das Eingebundensein in ein einheitliches Therapiekonzept wurde nach dem 1. September 1973 mit der neuen Leitung durch Chefarzt Werner König zielstrebig systematisiert und machte uns aufgrund unserer bisherigen Arbeitsweise auch wenig Probleme. Neuerungen, wie die geschlossene Gruppe förderten den Informationsfluss zwischen den Therapeuten, so wie die Abstimmung zwischen den einzelnen Therapieformen, wie kommunikative Bewegungstherapie, Gestaltungstherapie, Tanztherapie und die heute abgeschaffte Arbeitstherapie. Besonders die zum Teil künstlerisch intendierten Therapieformen trugen zu dem guten Ruf bei Berliner Künstlern bei, dass sie sich in der Psychotherapie zeitweise aus der Schusslinie bringen konnten und unbehelligt blieben, dank auch unserer absoluten Verschwiegenheit und des inneren Zusammenhalts. Musiktherapie konnte Erfolge bei Musikern (z. B. bei Schlaganfällen, bestimmten Kopfschmerzen, die Bläser mit zu hohem Anblasedruck erleiden konnten) erzielen. Es begann ein Experimentierfeld im Zusammenwirken mit Psychologen und Physiotherapeuten, um die Verbindung von Musik mit Bewegung bei psychiatrischen Krankheitsbildern, Verbindung zwecks Verstärkerwirkung mit Autogenem Training bei unterschiedlichen Diagnosen herauszufinden. Von Anfang an strebten wir nach einer interdisziplinären Zusammenarbeit, wozu ein so großes Krankenhaus sehr gute Voraussetzungen bot. Auf solche Weise entwickelten wir einige Spezialverfahren, die sich herumsprachen und zum charakteristischen Bild der Einrichtung beitrugen. Wir legten großen Wert auf die Weitervermittlung unserer praktischen Erfahrungen mit Lehrgängen, Tagungen und Fortbildungen. Dazu hatte das WGK natürlich beste räumliche und organisatorische Voraussetzungen und war sich der fachlichen Beratung und Unterstützung des Leiters der Psychotherapeutischen Klinik sicher. Ende der 1970er Jahre wurde ein Optimum mit drei Häusern zu je zehn Patienten und unterschiedlichem Profil erreicht. Inzwischen hatten sich in einigen Kliniken Zentren für bestimmte musiktherapeutische Verfahren herausgebildet, genannt seien u. a. Leipzig, Rostock, Uchtspringe. Die psychotherapeutische Klinik des WGK hatte in dem angestrebten System ihren festen und spezifischen Platz.

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

Wenngleich nicht Gegenstand dieses Aufsatzes muss ich sehr kurz noch auf einen wichtigen Umstand wenigstens hinweisen, weil er mit zur Profilierung der Musiktherapie im WGK beigetragen hat. Es gab nur wenige Musiktherapeuten in der DDR, und wir kannten gegenseitig unsere Arbeit genau, wir waren nicht immer einhelliger Meinung, sondern ebenso kritisch. Aber das Verhältnis der Musiktherapeuten untereinander war stets von Toleranz und Achtung geprägt, und wir lernten viel voneinander an Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen. Es sollte Platz für jeden in der Herberge sein. Mir kam es darauf an, das Fach freizuhalten von falschen Hoffnungen und gefährlicher Nähe zu esoterischen Absonderlichkeiten. Musik wirkt eben nicht per se, sondern nur in einem bestimmten medizinischen und sozialen Bedingungsgefüge, wie es im WGK üblich war. Es war nicht nur eine Frage der Indikation, sondern auch der Kontraindikation von Musik, was nicht jedem einleuchtete. Ich verstand, dass nicht immer das benannte therapeutische Mittel (Musik, Bewegung, Farbe, Ton oder anderes Gestaltungsmaterial) eine erwünschte Wirkung hervorbringt, sondern dass oft auch der Therapeut als Persönlichkeit selbst das Therapeutikum darstellt. Solche Denkgewohnheit hatte ich schon während meines Studiums der Kommunikationswissenschaften, Psycholinguistik und Phonetik zu schätzen gelernt und konnte dieses Wissen und Können jetzt in die praktische Musiktherapie einbringen. Nicht praxisrelevante theoretische Lehrgebäude waren meine Sache nicht. Und mit solchen meinen Grundauffassungen passte ich gut in das offene, zielstrebig und kritisch geführte Kollektiv der Psychotherapeutischen Klinik jener Jahre.

4.5.7 Kommunikative Bewegungstherapie 4.5.7.1 Anita Wilda-Kiesel: Von der Bewegungstherapie bei funktionellen Störungen und Neurosen zur Kommunikativen Bewegungstherapie und zur Konzentrativen Entspannung Die Ergebnisse ihrer bisherigen Erfahrungen mit einer neurosenspezifischen Bewegungstherapie im Rahmen der Kommunikativen Psychotherapie legten C. Kohler und ich in einer gemeinsamen Monographie dar, die wir »Bewegungstherapie bei funktionellen Störungen und Neurosen« nannten und der eine Schallplatte mit einer Lockerungs- und Schwunggymnastik (Kiesel) beigelegt war (Kohler u. Kiesel 1972). Wir beschrieben darin das Wesen der Neurose sowie psychotherapeutische Behandlungsmethoden und die Bewegungstherapie unter kommunikativem Aspekt. Ausführlich wurden Besonderheiten der Beziehungen zwischen Krankengymnastin und Patient, spezielle Vorgehensweisen in der Einzelbewegungstherapie, die Konzentrative Entspannung und die Anfänge der Kommunikativen Bewegungstherapie beschrieben. Eine große Anzahl von praktischen Beispielen für die Gestaltung von Übungsstunden veranschaulichte den damaligen Stand der Therapie. Viele Übungen trugen noch gymnastischen Charakter. Sie wurden jedoch als Partnerübungen mit kleinen Gymnastikgeräten wie Bällen, Keulen, Seilen und Stäben durchgeführt. Es gab aber schon das freie Gehen im Raum, freie Partnerwahl und Hinweise auf Vertrauensübungen, Führen und Geführtwerden und auch Mut und Risikobereitschaft sind Themen. Eine klare Struktur

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

für die Steigerung der Anforderungen, wie sie sich aus dem Gruppenprozess ergeben, hatte noch keine Bedeutung. Während Ende der 1970er Jahre die Kommunikative Psychotherapie als Bezeichnung für diese Therapieform nicht mehr benutzt wurde, setzte sich für die Bewegungstherapie der Begriff »Kommunikative Bewegungstherapie« (KomBth) durch. 1969 entschloss ich mich zu einem externen Studium an der deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK) in Leipzig. Obwohl ich eine Familie und zwei kleine Kinder hatte, wollte ich die Belastungen auf mich nehmen, da mir klar geworden war, dass ich ohne einen Hochschulabschluss meine Methode nicht nachdrücklich vertreten konnte. Mit großer Unterstützung meiner Familie konnte ich 1973 mein Studium in der Studienrichtung Sportwissenschaft mit dem akademischen Grad eines Diplomsportlehrers abschließen. In meiner Diplomarbeit konnte ich die Konzentrative Entspannung mit ihren Wirkfaktoren untersuchen. Da die Untersuchungen jedoch im Hochleistungssport mit Schwimmern durchgeführt wurden und diese die Methode in den folgenden Jahren in ihren Trainingsvorbereitungen für internationale Wettkämpfe anwendeten, kam die Arbeit unter Verschluss, d. h., sie konnte nicht veröffentlicht werden. Das Institut für Weiterbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte, Potsdam, ermöglichte es mir dennoch, die wesentlichen Ergebnisse aus den Untersuchungen darzustellen und sie ohne Hinweis auf die Diplomarbeit in einer Broschüre als Relaxationsmethode für die Physiotherapie zu beschreiben (Kiesel 1977). In meinem Vorwort zur dritten Auflage 1987 schreibe ich: »Die vorliegende Arbeit ist als eine theoretische Unterstützung für alle die Physiotherapeuten gedacht, die die Konzentrative Entspannung an sich selbst erfahren haben und die wesentliche Kenntnisse über die therapeutische Anwendung, insbesondere über die Prinzipien der Steigerung bzw. der systematischen Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit des Körpers und über die Therapeut-Patient-Beziehung in der Einzel- und Gruppentherapie erworben haben. Die subtile, verantwortungsvolle Arbeit des Therapeuten ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Vermittlung der Körpererfahrung an den Patienten.« 1993 wurde eine überarbeitete Version des Lehrmaterials bei Lau-Ausbildungssysteme, Reinbek, veröffentlicht. Die Kommunikative Bewegungstherapie erhielt in den 1970er Jahren weitere wichtige Anregungen. Unter Kohler gab es an der Klinik für Psychotherapie regelmäßige interne Kolloquien, die sich vorrangig mit psychoanalytischer Literatur beschäftigten und die für alle Therapeuten eine beträchtliche Erweiterung ihres Wissens und neue Therapiesichten brachten. Seit 1971 nahmen regelmäßig auch Michael Geyer und Jürgen Ott aus Erfurt an diesen Veranstaltungen teil. Sie arbeiteten in der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt und hatten an ihrer Klinik eine Selbsterfahrungsgruppe gegründet, die als die Erfurter Gruppe in die Psychotherapiegeschichte der DDR einging (Ott u. Geyer 1972). Aus den Kontakten mit der Leipziger Klinik ergab sich eine Einladung an Christa Kohler, Hermann F. Böttcher, Christoph Schwabe und mich, an dieser Gruppe teilzunehmen. Bis auf Kohler nahmen »die Leipziger« die Einladung an. Im Unterschied zu den Kolloquien in Leipzig, wo alle Themen rational abgehandelt wurden, konnten die drei Leipziger jetzt tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie in der Gruppe am eigenen Leib erfahren. Bald blieb es nicht nur beim Gruppengespräch, sie erprobten ihre handlungsorientierten Metho-

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

den, z. B. die Regulative Musiktherapie, von Christoph Schwabe entwickelt, und die Kommunikativen Bewegungstherapie. So konnten Schwabe und ich an uns selbst feststellen, was wir von unseren Patienten erwarteten und was wir ihnen zumuteten. Diese emotionalen Erfahrungen haben das Therapieverständnis aller Teilnehmer ganz sicher intensiv geprägt. Fast alle Mitglieder der Gruppe, Jürgen Ott, Michael Geyer, Hermann Fried Böttcher, Hans-Joachim Maaz, Christoph Schwabe und ich, haben sich während ihres Berufslebens in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und in ihren Sektionen maßgeblich engagiert und in der Aus- und Weiterbildung ihre Kenntnisse und Erfahrungen weitergegeben, wobei sie stets auf die Selbsterfahrung der Lernenden großen Wert legten. Bis heute kann ich mir eine Fortbildung in Kommunikativer Bewegungstherapie nicht ohne eine intensive Selbsterfahrung, verbunden mit einer ausführlichen Reflexion des Gruppengeschehens und des Erlebens und Verhaltens der Gruppenmitglieder, vorstellen. Aus meiner Sicht können die auf diese Weise ausgebildeten Bewegungstherapeuten nur so die notwendige Empathie für die Gruppe als Ganzes und für den Einzelnen entwickeln. Ein Meilenstein für die weitere Entwicklung der Kommunikativen Bewegungstherapie war meine Teilnahme an der Fortbildung in Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, den Kommunitäten, die der Chefarzt des Hauses der Gesundheit, Berlin, Kurt Höck, plante und durchführte. Im Herbst 1971 kam er nach Leipzig, um mit Christa Kohler über eine Teilnahme ihrer Mitarbeiter, H. F. Böttcher, C. Schwabe und mich, an einem ersten gruppentherapeutischen Seminar zu sprechen. Ich erinnere mich genau, wie ich zu Kohler gerufen wurde und K. Höck mich meine bewegungstherapeutische Arbeit schildern ließ. Im Dezember 1971 fand das 1. Seminar in Bad Schandau statt, die drei Leipziger waren dabei und von nun an begleitete die Kommunikative Bewegungstherapie die weiteren Seminare in Berggiesshübel, Werbellinsee und Stecklenberg, die alle der Vorbereitung der Ausbildungskommunitäten in Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie dienten, die im Mai 1974 in Klein-Pritz in Mecklenburg-Vorpommern begannen. Die erste »Ausbildungskommunität« startete mit fünf Gruppen zu je acht Teilnehmern und zwei Gruppenleitern. Ich wurde Mitglied der Gruppe V, die von Kurt Höck und Jürgen Ott geleitet wurde. Dies empfand ich als große Auszeichnung, denn ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keinen Hochschulabschluss, als Physiotherapeutin gehörte ich zum »mittleren medizinischen Personal«. Die Fortbildung war für Ärzte und Psychologen vorgesehen. Kurt Höck gab jedoch Fachschwestern, Musiktherapeuten und Fachphysiotherapeutinnen die Möglichkeit, an den Intendierten Dynamischen Selbsterfahrungsgruppen teilzunehmen, um sie im Rahmen ihrer Arbeitsbereiche für die Therapie zu qualifizieren. Er erreichte damit, dass alle im therapeutischen Team arbeitenden Kollegen ähnliche Erfahrungen machen konnten und so ein gemeinsames Therapieverständnis entwickelten. In der zweiten Kommunität nahmen die zwei Fachphysiotherapeutinnen Brigitte Rieckhoff, Schwerin, und Helga Schulz, Greifswald, teil, die mit mir die Bewegungstherapie in den Gruppen nach einer morgendlichen Absprache durchführten. Weitere Physiotherapeutinnen nahmen an den folgenden Kommunitäten teil. Diese Gemeinsamkeit der Fortbildung von Ärzten, Psychologen und mittleren medizinischen Personal war eine Besonderheit der ostdeutschen Weiterbildung.

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Welche Bedeutung hatte meine Teilnahme an der Ausbildung in Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie für die Kommunikative Bewegungstherapie? Das therapeutische Konzept, nach dem in den Kommunitäten gearbeitet wurde, unterschied sich von dem der Leipziger Klinik deutlich. Höck postulierte einige für seine Konzeption charakteristische Thesen. Sie betreffen die Charakteristik und das Verständnis des Phasenverlaufs, das zielorientierte, intendierte Therapeutenverhalten und den qualitativen Umschlag von der Vorarbeits- zur Arbeitsphase im Rahmen des sog. Kippprozesses, d. h. über die Auseinandersetzung mit den Therapeuten. Hiermit verlagerte sich zugleich die Interaktionsebene vom anfänglichen »hic et nunc« zur stärkeren Einbeziehung und Bearbeitung des »dort und damals« bzw. »dort und dann« in der Arbeitsphase« (Höck 1981b, S. 13–34). In den ersten drei Kommunitäten führte ich Kommunikative Bewegungstherapie in geschlossenen Gruppen durch. In Leipzig wurde dagegen mit halboffenen Gruppen gearbeitet. Die Gruppenmitglieder waren zudem keine neurotischen Patienten, sondern Therapeuten. So ergab sich die Möglichkeit, die in den Patientengruppen gesammelten Erfahrungen auf ihre Wirksamkeit in anderen Gruppen zu überprüfen. In den Kommunitäten waren die Förderung der Sensibilität für das eigene Erleben und Verhalten und die Wahrnehmung der nonverbalen zwischenmenschlichen Beziehungen Ziel der Bewegungstherapie. Weiterhin sollten die unbewussten Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander im Handlungsbereich erlebt werden können und rationale Bezüge auf ihre Echtheit überprüft werden. Während der Arbeit fanden sich viele neue Übungsangebote, die ich bald zu Aufgabenstellungen zusammenfasste, z. B. zum Kennenlernen, zur Integration und Kooperation, zur Entscheidung, zum Vertrauen, zur Auseinandersetzung und zur bewussten Reflexion der während des Übens entstehenden Gefühle. Ab der zweiten Kommunität, wo ich nur die Bewegungstherapie durchführte und in den Gruppen hospitieren konnte, festigte sich meine Annahme, dass es für die Kommunikative Bewegungstherapie in gleicher Weise Ent­ wicklungsphasen gibt wie im Intendierten Dynamischen Gruppengespräch. Auch wurde mir die Bedeutung des Therapeutenverhaltens in den einzelnen Therapiephasen deutlich. Neue Aspekte des Verhaltens war z. B. Abwarten und Raumgeben, Zulassen und Geschehenlassen. In den Kommunitäten begann ich auch mit der Reflexion des Erlebten im Rahmen der Bewegungstherapie. Zuerst waren es Verdeutlichungen über die Handlung, die Gestik und die Mimik, später wurde das Sprechen über das Hier und Jetzt erprobt. Schon damals war klar: Die Bewegungshandlung bleibt das Primäre in einer Gruppenbewegungstherapie, aufsteigende konflikthafte Zusammenhänge gehören zur Bearbeitung in das Gruppengespräch. Die weitere Entwicklung der Kommunikativen Bewegungstherapie basierte eindeutig auf den in den Kommunitäten erworbenen Erfahrungen. Es fanden sich immer neue Übungen für die einzelnen Aufgabenstellungen, sie wurden ergänzt, z. B. mit Übungen zum Abschied in der Gruppe und mit soziodynamischen Übungen. In den folgenden Jahren sind die Aufgabenstellungen in ihren Anforderungen an den Patienten den einzelnen Phasen der Therapie zugeordnet worden. 1975 stellte ich meine Methode auf Einladung von Kratochvil während einer Tagung der Psychotherapeuten der ČSSR in Luhacevice vor. Dort lernte ich Hana Junova kennen, die in

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

der Nachfolge von Knobloch die Psychogymnastik vertrat. Intensive fachliche Gespräche führten zur gegenseitigen Bereicherung der Methoden, z. B. übernahm Junova von mir Übungen aus den Aufgabenstellungen und ich übernahm von Junova die soziodynamischen Übungsangebote. Auf Einladung von Hidas, Ungarn, war ich Mitglied der DDR-Delegation zur Psychotherapie-Konferenz 1976 in Nyiregyhaza, wo ich mit einem Film und Vortrag die Kommunikative Bewegungstherapie darstellen konnte.

4.5.7.2 Anita Wilda-Kiesel: Die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungs­ therapie in der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie Die Geschichte der Arbeitsgruppe beginnt am 19. April 1977 mit einem Brief, den ich an den damaligen Vorsitzenden der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, Herrn Professor Dr. phil. Katzenstein, schrieb. In diesem Brief berichte ich von der Entwicklung der Methode der Kommunikativen Bewegungstherapie und ihrer Integration in die Psychotherapie. Ich beziehe mich auf die Bereitschaft des Leiters der Sektion Gruppenpsychotherapie in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, Herrn OMR Dr. Kurt Höck, eine Arbeitsgruppe unter meiner Leitung in die Sektion aufzunehmen. Ein Passus im Statut der Gesellschaft ermöglicht die Aufnahme von nichtärztlichen Therapeuten, die in der Psychotherapie arbeiten. Ehe der Brief geschrieben wurde, hatten die Fachphysiotherapeuten ihre zweite Arbeitstagung im Rahmen der AG Physiotherapeuten in der Gesellschaft für Orthopädie in Stendal durchgeführt und dort diesen Antrag beschlossen. Dass die Gesellschaft für Orthopädie den Physiotherapeuten die Möglichkeit gab, unter ihrem Dach eine Arbeitsgruppe mit einer selbständigen Leitung zu bilden, war Anfang der 1970er Jahre ein Novum. Im Ergebnis kam es zu einem regen wissenschaftlichen und praktischen Austausch zwischen Ärzten und Physiotherapeuten. In dieser Arbeitsgruppe konnten sich alle Physiotherapeuten der DDR zu fachlichen Fragen äußern, Vorträge hören und über ihr Fachgebiet halten und sie konnten sich über neue Behandlungsmethoden und ihre speziellen Erfahrungen austauschen. Ein erstes Treffen der Fachphysiotherapeuten für Neurosen und funktionelle Störungen hatte in diesem Rahmen 1975 in Leipzig stattgefunden. Die zweite Arbeitstagung dieser Fachphysiotherapeuten fand unabhängig von einer Tagung der Gesellschaft für Orthopädie, Fachgruppe Physiotherapie, Anfang April 1977 in Stendal statt, stand aber unter der Schirmherrschaft der Gesellschaft für Orthopädie. Zwölf Kolleginnen von den etwa 50 Teilnehmern, die in psychotherapeutischen Kliniken und Ambulanzen arbeiteten, wollten sich intensiver mit der Methode beschäftigen und sie voranbringen. Sie suchten nach einer Möglichkeit, das in ähnlicher Weise zu tun, wie die Physiotherapeuten in der Gesellschaft für Orthopädie. Sie nahmen Kontakt zur Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie auf, weil sie alle mit psychisch Kranken arbeiteten und ihre Kontaktpersonen im beruflichen Bereich die Psychotherapeuten, Psychiater und Klinischen Psychologen waren. Aus heutiger Sicht ist es nahezu unglaublich, dass Physiotherapeuten die Vorstellung und den Wunsch hatten, in die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie aufgenommen zu werden, und dass diese Gesellschaft auch bereit war, sie aufzunehmen und mit ihnen zu kooperieren.

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Aber die Kommunikative Bewegungstherapie hatte sich in den psychotherapeutischen Einrichtungen der DDR zu einem festen Bestandteil der angewandten Therapien entwickelt. Die Kooperation mit den Ärzten und Psychologen der Kliniken funktionierte, weil die meisten in ihrer beruflichen Qualifikation die Methode in einer Selbsterfahrung erlebt hatten. Außerdem ermöglichte die klare Konzeption der Kommunikativen Bewegungstherapie, nach der die Fachphysiotherapeuten die Gruppenbewegungstherapie und die Gesprächstherapeuten das Gruppengespräch durchführten, eine gute Zusammenarbeit der Therapeuten, sie konkurrierten nicht miteinander. In meinem Brief mit der Bitte um Aufnahme der Arbeitsgruppe in die Gesellschaft, den ich an den Vorsitzenden Herrn Prof. Dr. Katzenstein richtete, nenne ich die Aufgaben und Ziele, die sich die künftige Arbeitsgruppe stellte. Zitat aus dem Brief: »Die Arbeitsgruppe sieht ihre Aufgaben darin, sich eine gemeinsame Grundlage für die Kommunikative Bewegungstherapie zu erarbeiten, die Methode weiterzuentwickeln und Erfahrungen im Gruppentherapeutenverhalten im Rahmen der Therapie zu sammeln. In der Perspektive sollen Kolleginnen der Arbeitsgruppe befähigt werden, die Methode selbst an Physiotherapeuten weiterzugeben, also zu lehren.« Schon im Mai erhielt ich eine Antwort. Prof. Katzenstein teilte mir schriftlich mit, »dass der Vorstand auf seiner Sitzung am 4. Mai 1977 den Antrag zur Bildung einer Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie zugestimmt hat«. Die kleine Gruppe der Erstmitglieder bestand aus 16 Fachphysiotherapeutinnen. Sie trafen sich im Dezember 1977 zum ersten Mal in Leipzig. Als Diskussionsgrundlage hatte ich die Aufgaben und Ziele künftiger Arbeit zusammengestellt. An erster Stelle stand das gemeinsame Lernen mit und an der Methode, wobei die Erfahrungen des Verlaufes der Therapie in Phasen, die Steigerungsmöglichkeiten und das Erleben und Verhalten während der Übungsangebote besonders beachtet werden sollten. Erst in der zweiten Etappe wollte sich die Gruppe mit dem Therapeutenverhalten und mit theoretischen Problemen wie der Ätiologie, Pathogenese und der Therapie von Neurosen ganz allgemein beschäftigen. Es wurde ein Vorstand gewählt, den ich 25 Jahre leitete. Ende 1978 habe ich die Klinik für Psychotherapie der Universität Leipzig verlassen, um an der Medizinischen Berufsfachschule der Universität, Fachrichtung Physiotherapie, als Lehrerin zu arbeiten. Dennoch war ich mit meinem Herzen immer bei der Kommunikativen Bewegungstherapie und so beschrieb ich in den nächsten vier Jahren die Methode in einer Monographie (Wilda-Kiesel 1987). Dieses Buch bildete die Grundlage meiner Promotion an der Sektion Psychologie der Universität Leipzig, die ich im Rahmen einer außerplanmäßigen Aspirantur mit dem Abschluss einer Hauptprüfung und der Promotion beendete. In der Arbeitsgruppe gab es jährlich eine Zusammenkunft der Mitglieder über zwei Tage. Es wurden neue Übungen in Selbsterfahrung ausprobiert und theoretische Fragen zur Körperarbeit und zu psychischen Erkrankungen besprochen. Jürgen Ott, Kurt Höck und Werner König, später auch Volker Kielstein und Waldemar Gunia, stellten der Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie Therapieräume in ihren Kliniken zur Verfügung und waren Referenten und Diskussionspartner. In den Zusammenkünften des Vorstandes wurden die Aktivitäten der AG in der Sektion Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie geplant. Seit der Mitgliedschaft in der Sek-

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tion war die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie auf deren Tagungen präsent und demonstrierte dort, meist in mehreren Gruppen und immer zu zweit, die Methode, mit den sich ständig erweiternden und vertiefenden praktischen und theoretischen Erkennt­ nissen.

4.5.7.3 Wilda-Kiesel: Der Fachphysiotherapeut für funktionelle Störungen und Neurosen Zu einer ersten Weiterbildung zum Thema Bewegungstherapie bei funktionellen Störungen und Neurosen hatte 1968 die Abteilung für Psychotherapie der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik am Universitätsklinikum Leipzig eingeladen. Zielgruppe waren die Krankengymnastinnen aus den Neurologisch-Psychiatrischen Kliniken des Leipziger Raumes, aus Dresden und Berlin. Ich wollte meine praktischen Erfahrungen weitergeben, C. Kohler und H. F. Böttcher, die Ärztin und der Psychologe, planten und übernahmen den theoretischen Teil der fünftägigen Weiterbildungsveranstaltung. Die Weiterbildung war sehr erfolgreich, sie wurde wiederholt und es kamen immer mehr Interessenten. Eine Kooperation mit dem Institut für Weiterbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte und der dort für die Krankengymnasten/Physiotherapeuten zuständigen Kollegin, Frau Brigitte Zeibig, bewirkte, dass an der Klinik eine Konzeption erarbeitet wurde, die, ähnlich wie bei den Krankenschwestern zur Fortbildung einer Fachschwester, zu einem Fachphysiotherapeuten führen sollte. Im Juli 1972 wurde das Konzept vom Ministerium für Gesundheitswesen bestätigt, die »Rahmenausbildungsunterlage für die Aus- und Weiterbildung« der Physiotherapeuten lag vor. Ab sofort konnten sich Physiotherapeuten auf diesem Gebiet zum Fachphysiotherapeuten für funktionelle Störungen und Neurosen qualifizieren. Die Umsetzung der Fortbildung oblag der Bezirksakademie für Gesundheit und Soziales im Bezirk Leipzig. Im Zurückschauen wird deutlich, dass dieser Vorgang wohl einmalig in Deutschland und darüber hinaus war, denn nach der Qualifizierung erfolgten die berufliche Anerkennung und eine höhere Gehaltseinstufung der Fachphysiotherapeuten. Interessant ist sicher die Stundentafel bzw. die Gesamtstundenübersicht von 267 Stunden. Davon waren für den berufstheoretischen Unterricht 116 Stunden vorgesehen, die sich aufgliederten in 22 Stunden Psychotherapie und Neurosenlehre, 20 Stunden spezielle Psychologie und 34 Stunden gruppentherapeutische Verfahren (Bewegungstherapie: 20; Musiktherapie 10; Gestaltende und Arbeitstherapie: 4 Stunden). Einzeltherapeutische Verfahren, wie Einzelgespräch, Autogenes Training und Einzelbewegungstherapie, waren mit 30 Stunden ausgeschrieben und für Bewegungslehre waren 10 Stunden einzuplanen. Der allgemein bildende Unterricht, darunter fiel die Staatsbürgerkunde, betrug 20 Stunden. Der berufspraktische Unterricht sah 131 Stunden vor. Davon für gruppentherapeutische Verfahren 111 Stunden, die sich in 30 Stunden Rhythmische Bewegungstherapie, 40 Stunden Kommunikative Bewegungstherapie, 12 Stunden Tänzerische Bewegungstherapie, 10 Stunden Musiktherapie, 5 Stunden Gestaltende und Arbeitstherapie sowie 14 Stunden Spiele gliederten. Für Einzeltherapie mit der Konzentrativen Entspannung waren 10 und für ausgewählte Einzeltherapie, wie z. B. bei Gangstörungen, waren ebenfalls 10 Stunden einzuplanen.

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Die ersten Dozenten waren die Fachkräfte aus der Klinik für Neurologie und Psychiatrie, Abteilung Psychotherapie der Universität Leipzig. Jährlich kamen mindestens 30 Physiotherapeuten zur Fortbildung, so dass bis zum Ende der DDR etwa 600 Physiotherapeuten qualifiziert waren. Sie arbeiteten in den Kliniken für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie der DDR, aber auch in Ambulanzen und in Kur- und Rehabilitationseinrichtungen, wo sie Gruppentherapie unter psychosozialem Aspekt durchführten und die Konzentrative Entspannung in Gruppen anboten.

4.5.8 Autogenes Training und Hypnose 4.5.8.1 Wolf-Rainer Krause: Hypnose und Autogenes Training 1945–1979 Teil I Unmittelbar nach dem Krieg beginnt Hellmuth Kleinsorge (1920–2001) an der Medizinischen Klinik der Universität Jena mit der Hypnose zu experimentieren. Als Schüler von Ernst Speer (1899–1964), dem Begründer der Lindauer Psychotherapiewochen, und Internist erhält er auch den Lehrauftrag für Psychotherapie, publiziert zunächst allein zur Behandlung des Kardiospasmus mit Hypnose, wird bereits 1949 habilitiert und es beginnt eine sehr segens- und ertragreiche Zusammenarbeit mit Gerhard Klumbies (*1919), ebenfalls einem Internisten. Unter dem Titel »Suggestion und Hypnose im Lichte der Lehre I. P. Pawlow« (1849– 1936) erschien 1951 zu Zeiten größter Papierknappheit und schwieriger Genehmigungsverfahren, überhaupt zu drucken, von Konstantin Platonow (1877–1969) ein populärwissenschaftlicher Abriss. Die Broschüre umfasste 56 Seiten und war bereits 1946 und 1947 in der Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung erschienen. Sie diente der weiteren Verbreitung der Lehren Pawlows. Im Vorwort wurde auf den hohen Entwicklungsstand der sowjetischen Medizin hingewiesen, die erst das richtige Verständnis der Erscheinungen der Hypnose ermöglicht hätten. Nach einer kurzen Darstellung der Geschichte der Hypnose werden die Ausführungen von Pawlow zum Schlaf propagiert und seine Lehre vom zweiten Signalsystem, das in Einheit mit dem ersten wirkt. Es folgen schließlich Falldarstellungen für die Wirkung und der Hinweis auf Tausende von schmerzfreien Geburten. Den Ausführungen, die Suggestion und Hypnose gehörten als wissenschaftliche Behandlungsmethoden unbedingt zu den Kompetenzen des psycho-neurologischen Spezialisten, kann man sicher auch heute noch zustimmen, ebenso, dass jeder Arzt, wenn er diese Methode erlernt hat, sie auf seinem speziellen Gebiet bei entsprechender Vorbereitung anwenden könne. Der Übergang zu propagandistischen Ausführungen ist fließend, dass »nur durch das Aufblühen der Wissenschaft in der UdSSR und dank der Leistungen I. P. Pawlows [...] die Hypnose eine wahrhaft wissenschaftliche Begründung erhielt«. Klumbies (1952) stellt erstmalig die Ablationshypnose vor. Zunächst hatte er herausgearbeitet, dass die Hypnose nicht eine Leistung des Hypnotiseurs, sondern des Hypnotisierten

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sei. Sie tritt auf eine bestimmte Reizsituation hin reflexartig ein. Die Auslösung kann erlernt werden und durch entsprechende Maßnahmen kann der unbedingte zu einem bedingten Reflex umgestaltet werden. Mit der Ablationshypnose ist die Hypnose ohne Hypnotiseur die kunstgerechte Weiterführung einer Hpynosebehandlung. Vorangegangen waren Unter­ suchungen, die therapeutische Hypnose mittels Telefon, Schallplatte und Tonband fortzu­ setzen. Offensichtlich auf Anregung des vorgenannten Beitrages berichtet Wolfgang Rudolph (1955) aus der gleichen Klinik über einen Fall schwerster organisch bedingter Schmerzzustände, der nach zwei vergeblichen neurochirurgischen Operationen und sieben Jahren Morphingebrauch durch die Ablationshypnose nach Klumbies schmerz- und morphinfrei wurde. Ab 1956 publiziert J. H. Schultz in Gemeinschaft mit Speer und Heyer die »Vierteljahresschrift für aktive Psychotherapie«. Im Wissenschaftlichen Beirat werden 32 Namen aufgeführt, vornehmlich aus dem deutschen Sprachraum, aber auch aus dem europäischen Ausland. Aus der seinerzeitigen DDR waren es Kleinsorge, damals bereits Direktor der Medizinischen Universitätspoliklinik Jena, und mit dem auffälligen Titel »Chefnervenarzt« Dr. H. Stoltenhoff, Nervenklinik Arnsdorf (bei Dresden). Die Zeitschrift schien hauptsächlich dem Anliegen der weiteren Propagierung des Autogenen Trainings zu dienen. J. H. Schultz (1956) weist in seinem Vorwort zur neunten Auflage seines Autogenen Trainings auf eine Arbeit von Hans Marchand (1956) über den Einfluss der Wärmeübung im Oberbauch und ihren Einfluss auf Blutzucker und Leukozyten hin. Es sei zu signifikanten Veränderungen im Blutbild und Blutzucker nach autogener (hypnotischer) Hyperämisierung der »Durchwärmung der Leber« gekommen. Dies sei die exakte Beweisführung der von ihm bereits 1932 in der ersten Auflage geäußerten Vermutung, dass es möglich sei, durch autogene Änderung der Durchblutung die Tätigkeit von Hormonal- oder Stoffwechselzentren zu beeinflussen. Dietfried Müller-Hegemann (1910–1989) stellt in seiner »Psychotherapie – ein Leitfaden für Ärzte und Studierende« (1957) umfassend die Hypnose und das Autogene Training dar, weist natürlich als zeitweiliges Mitglied der staatlichen Pawlow-Kommission ausführlich auf die Lehren Pawlows hin. In jener Zeit sind auch besonders erwähnenswert die von Kleinsorge und später von Klumbies geleiteten Fortbildungskurse in der Psychotherapie, in denen immer wieder über Autogenes Training, Hypnose und Ablationshypnose berichtet wurde. Harro Wendt (1959) führt aus, dass, lange bevor es eine systematische Psychotherapie gegeben habe, die Hypnosephänomene längst bekannt gewesen seien. Doch sei die Hypnose nicht immer nur eine ärztliche Behandlungsmaßnahme gewesen. Es sei immer noch zu betonen, dass die Hypnotherapie aus dem Stadium der Scharlatanerie nun längst heraus sei. Für die DDR-Psychotherapie, insbesondere für Hypnose und Autogenes Training, dürfte das 1959 erstaunlicherweise im Urban & Schwarzenberg Verlag München/Berlin erschienene Werk »Psychotherapie in Klinik und Praxis« von herausragender Wichtigkeit sein. Im Vorwort wird von Kleinsorge und Klumbies auf die Alma mater Jenensis hingewiesen, die als Hochburg des deutschen Humanismus und der Abstammungslehre für eine leib-seelische Betrachtung des Menschen eine ausnehmend gewichtige Tradition habe. U. a. hätten an ihr J. H. Schultz und Speer gewirkt, und die Autoren könnten bereits auf eine 14-jährige

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Erfahrung verweisen, welche sie in ihren jährlich stattfindenden Psychotherapiekursen gesammelt hätten. Sie sehen in ihrer eigenen Arbeit, dass eine strenge Trennung zwischen psychotherapeutischer und internistischer Arbeit nicht möglich sei. Die beiden Autoren waren zum damaligen Zeitpunkt Direktor bzw. Oberarzt der Medizinischen Universitätspoliklinik für Innere und Nervenkrankheiten. Gerade für die damaligen Verhältnisse war dann die Autorenschaft eine riesige Aufgabe. So wurde aus 7000 vorliegenden Arbeiten schließlich ein Literaturverzeichnis von 2267 Quellen ohne die heutigen computergestützten Möglichkeiten ausgewertet und zusammengestellt. Die weitere Geschichte dieses Grundlagenwerkes, das noch in mehreren Auflagen und wechselnder Autorenschaft und bei einem DDR-Verlag erschien (s. a. } Abschnitt 1.5.1), ist ein Stück deutsch-deutscher Teilungsgeschichte. Zum Autogenen Training wurde in den 1950er Jahren im Vergleich zur Hypnose wenig publiziert. Burmeister (1956) berichtet über einen Fall der Diagnosefindung einer Pankreatitis durch frühzeitiges Erleben einer schmerzhaften Head’schen Zone im Autogenen Training und wies darauf hin, dass durch das intensive Hineinhorchen mittels Autogenem Training in den eigenen Organismus die sonst durch das Alltags- und Umwelterlebnis überdeckten Empfindungen frühzeitig wahrgenommen werden. Müller-Hegemann (1956) zeigt auf, dass sich in seiner Klinik, besonders der psychotherapeutischen Abteilung, das Autogene Training auch in Form des Gruppentrainings bewährt habe. Er plädiert für einige Modifikationen, u. a. »Gesichtsmuskeln sind entspannt, noch vor der letzten Übung Stirn ist ein wenig kühl« einzusetzen. Auch setzt er Hauttemperaturmessgeräte und eine Federwaage zur Objektivierung der Wärme- und Schwereübung ein, Grundgedanken, die zur späteren Anwendung vom Biofeedback-gestützten Autogenen Training führten. Die obligatorischen Hinweise auf Pawlow fehlen auch in dieser Arbeit selbstredend nicht. Richard Heidrich, zu dieser Zeit Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie in der Medizinischen Akademie Erfurt, setzt sich 1959 sowohl für das Autogene Training als auch die Hypnose in Lehre und Praxis ein. Er schildert z. B. den Einsatz bei Alkoholikern. Mit der Hypnosetherapie könne man schließlich auch magenresizierte und lungenkranke Patienten behandeln. Wegen der Nebenwirkungsfreiheit sei die Hypnosetherapie der Antabus-Therapie überlegen. Er erwähnt, dass er seit Anfang der 1950er Jahre als Mitarbeiter der Charité regelmäßig Vorlesungen für die Studenten zum Autogenen Training und zur Hypnose mit theoretischen und praktischen Anteilen realisiert habe.

Teil II Der Bau der Mauer am 13. August 1961 und vor allem das damit verbundene Ausreiseverbot auch für hochkarätige Wissenschaftler führten zum Abbruch des persönlichen Austausches der Hypnotherapeuten aus Ost und West. Dieser war gerade über die persönlichen Kontakte von J. H. Schultz (Westberlin), Speer (Bodensee), Klumbies und Kleinsorge (DDR), die sich offensichtlich schon aus ihrer gemeinsamen Jenaer Zeit kannten, besonders über die regelmäßige Teilnahme an der Lindauer Psychotherapiewoche, gegeben. Der ungarische Hypnotherapeut Franz Völgyesi widmet 1962 seine Arbeit »Grundbegriffe und Konklusionen aufgrund einer fast 50-jährigen hypnotherapeutischen Praxis« Ale-

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xander Mette zum 65. Geburtstag. In seiner Zusammenfassung greift er fast reflexartig Freudisten und Neofreudisten an und verweist auf den konkret wissenschaftlichen Inhalt im Sinne der Lehre Pawlows. Auch heute noch unterstützenswert dürfte seine Forderung sein, dass in allen Fachrichtungen die Grundkenntnisse der »großen« und der »kleinen« Psychotherapie vorhanden sein sollten. Auf der Tagung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie am 28. und 29. November 1962 in Leipzig kamen u. a. zur Hypnose zu Wort: Horvey und Hoskovec (Prag), Zikmund (Bratislava, Prag), Klumbies, Kleinsorge, Wendt, Funke, Hinz (DDR), Petrov (Sofia), Letzterer mit einer Arbeit zur Hypnotherapie bei stomatologischen Erkrankungen, die meiner Meinung nach bei späteren (auch eigenen) Arbeiten zu wenig beachtet wurde. Erst im Herbst 1964 kann Müller-Hegemann die Beiträge ausführlich publizieren. In seinem Vorwort verweist er darauf, dass, verglichen mit anderen Ländern, wo wissenschaftliche Hypnose-Zeitschriften einen großen Kreis von Ärzten über die Fortschritte auf diesem Gebiet informieren wie in Amerika und England, die Entwicklung der Hypnose-Forschung in Deutschland nicht voll befriedigend sei. H. A. F. Schulze (1963) widmete eine Arbeit Oskar Vogt, dem Begründer des »wissenschaftlichen Hypnotismus in Deutschland«. Er geht darauf ein, dass Vogt, an Forel und die französischen Hypnotismusforscher des 19. Jahrhunderts anknüpfend, die Hypnoselehre in Deutschland auf eine höhere Ebene geführt habe. Er zeigt die wesentlichen Fortschritte auf, aber auch die Grenzen der Anschauung Bernheims und der einem vulgärmaterialistischen Denken der Vor-Pawlow-Ära verhafteten empirischen Forschung. Die Thematik wurde später mehrfach aufgegriffen. Im populären Bereich bekannt wurde Oskar Vogt durch Tilman Spenglers Buch »Lenins Hirn«. Alfred Katzenstein (1906–2000) hielt 1964 in der Medizinischen Poliklinik der Friedrich-Schiller-Universität Jena einen grundlegenden Vortrag zur Aufzeichnung elektrobio­ logischer Daten als Methode zur Ermittlung individueller Unterschiede in der Hypnose. Der aus dem amerikanischen Exil zurückgekommene Wissenschaftler deutsch-jüdischer Herkunft wurde im weiteren Verlauf für die Entwicklung von Hypnose und Autogenem Training in der DDR wichtig. Die Jenaer klinische Forschung erhielt durch seine mit ­Psychologen und Ärzten besetzte große Forschungsgruppe in Berlin-Buch anregende Konkurrenz. Vladimir Gheorghiu (1926–2010), seinerzeit noch in seiner rumänischen Heimat forschend, publizierte zur Individualität hypnotischer Phänomene. Mit diesem äußerst agilen und polyglotten Wissenschaftler, der später in der Bundesrepublik wirkte, hatte ich über Jahrzehnte einen fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch. 1968 ging Christa Kohler im 12. Kapitel ihres Lehrbuches »Kommunikative Psychotherapie« unter dem Titel »Andere Methoden der psychotherapeutischen Einzelbehandlung« auf die Hypnose ein. Im Jahre 1969 konnte sich Karl-Heinz Liebner, mein späterer Doktorvater, zum Thema »Wesen und Indikation von Fremd- und Selbsthypnose« an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg habilitieren. Auch er hob die wesentliche Rolle des affektiven Faktors beim Suggestionsgeschehen hervor und wies darauf hin, dass beim hypnotisierten Patienten verdrängte psychische Inhalte eruiert werden können, die im Wachzustand der Amnesie verfallen bleiben.

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1961 erscheint erstmalig von Kleinsorge und Klumbies ein Büchlein mit dem etwas irreführenden Namen »Technik der Relaxation«. Im Vorwort verweisen die Autoren darauf, dass auf Wunsch des Georg-Thieme-Verlages Stuttgart, der eine Verwechslung mit dem Werk von J. H. Schultz befürchtete, die Bezeichnung »Autogenes Training« im Titel ihres Buches entgegenkommenderweise vermieden wurde. Die Methode des Autogenen Trainings in Kombination mit anderen Heilmaßnahmen wurde ausführlich vorgestellt und sich auch noch einmal mit den Vorwürfen gegen die Autoren Klumbies und Kleinsorge wegen einer »Mechanisierung der Psychotherapie« auseinandergesetzt. Die dem Buch beigefügte Schallplatte fand ich in öffentlichen Bibliotheken häufig nicht mehr vor, weil sie offensichtlich besonders begehrt war. Äußerlich sehr ähnlich erscheint im gleichen Jahr von den beiden Autoren (Kleinsorge u. Klumbies 1961b) noch die »Technik der Hypnose für Ärzte«, ebenfalls mit einer Schallplatte versehen. Beiden Büchern waren weitere Auflagen vergönnt. Müller-Hegemann und Christa Kohler-Hoppe berichten 1962 über neuere Erfahrungen mit dem Autogenen Training, einer erweiterten Fassung eines Vortrages, den sie unmittelbar vor dem Mauerbau noch in Montreal halten konnten. Sie verwiesen darauf, dass sie in der Leipziger Universitätsklinik 2000 Patienten mit dieser Methode behandelt und Erfahrungen aus sieben weiteren stationären und ambulanten Einrichtungen der DDR mit herangezogen hätten. Sie kamen zu dem Schluss, dass das Autogene Training als eine sehr Erfolg ver­ sprechende Methode übender Psychotherapie bezeichnet werden könne, die sich vielseitig mit anderen psycho- und somatotherapeutischen Methoden kombinieren lasse. Gerhard Schaeffer (1963) berichtete über suggestive und übende Verfahren bei der Behandlung ­psychosomatischer Erkrankungen. Er blieb dieser Thematik über seine Habilitation hinaus treu. In Jena wurde zunehmend unter alleiniger Federführung von Klumbies zur Thematik weiter geforscht. Stellvertretend seien zwei Promotionen erwähnt: Günther Eberhardt: »Behandlung der Hypertonie mit Autogenem Training« und Heidrun Klinger: »Behandlung des Asthma bronchiale mit Autogenem Training«. Anlässlich des 80. Geburtstages von J. H. Schultz publiziert 1964 der Deutsch-Kanadier Wolfgang Luthe ein Werk mit 50 Autoren, das offensichtlich als Hinweis auf die nunmehrige Internationalität der Methode bereits im Titel mehrsprachig ist. Die DDR ist mit den Autoren Schaeffer: »Autogenes Training in einer medizinischen Poliklinik« und Müller-Hegemann: »Bemerkungen zur klinischen Anwendung des Autogenen Trainings in Mitteldeutschland« vertreten. Ende der 1960er Jahre verweist Werner König auf die seinerzeit noch wenig genutzten Möglichkeiten des Autogenen Trainings in der Rehabilitation.

Teil III Seit Beginn der 1970er Jahre dominierte in der Suggestionsforschung die Berliner Forschungsgruppe um Katzenstein am Zentralinstitut für Herz-Kreislauf-Regulationsforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR. Er bringt 1971 ein broschiertes preisgünstiges Buch zur Hypnose und deren aktuellen Probleme in Theorie, Experiment und Klinik her-

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aus. Dazu hatte er 28 Fachwissenschaftler weltweit vereinigen können, auffällig viele aus den USA, dagegen nur zwei aus der BRD. Das Literaturverzeichnis umfasst 555 Quellen. Das 1978 publizierte Werk »Suggestion und Hypnose in der psychotherapeutischen Praxis« hatte den im Titel suggerierten Praxisbezug. Es kommen die erfahrenen Hypnoselehrer Klumbies, König, Schaeffer und Wendt zu Wort, aber auch weitere Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR. Auffällig ist, dass diesmal kein BRD-Autor vertreten ist. Aus den USA ist die Deutsch-Amerikanerin Beata Jencks (1994) mit einer Arbeit beteiligt. Sie hatte einen der bewährten Hypnosekurse in der DDR besucht. Nach Aufgabe ihrer Praxis Ende der 1980er Jahre übereignete sie mir ihre wissenschaftliche Bibliothek und publizierte mit mir gemeinsam. Die Hypnosekurse wurden nunmehr von der Sektion Autogenes Training und Hypnose organisiert, wobei auch hier Katzenstein uneigennützig komplette amerikanische Hypnosetests und Arbeiten zum einen ins Deutsche übersetzte und zum anderen mit seinen damals schon vorhandenen Möglichkeiten für die Kursteilnehmer vervielfältigen ließ. Für die Kurse bestand in der Regel eine Wartezeit und Gerhard di Pol verfasste im Auftrag des Vorstandes 1978 klare Indikationen zum einen für die Hypnose, die nur in Ausnahmefällen und nur gezielt eingesetzt werden sollte, zum anderen gebrauchte er für das Autogene Training den Begriff des Basistherapieverfahrens mit Siebfunktionen bei allen Neuroseformen. Beim ersten Symposium sozialistischer Länder über Psychotherapie 1973 wurde mehrfach auf die Ablationshypnose von Klumbies hingewiesen (Hausner et al. 1975). In den 1970er Jahren wurde reichlich zum Thema Autogenes Training publiziert. Eine Arbeitsgruppe aus der Zweiten Medizinischen Klinik der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg konnte ihre Ergebnisse zu kreislaufanalytischen Untersuchungen während der Herzübung des Autogenen Trainings publizieren wie auch Claus Drunkenmölle und Walter Lantzsch 1973 in der Schweiz. Sowohl für Therapeuten und Patienten von besonderer Wichtigkeit war, dass der Gustav Fischer Verlag Jena in wiederholten Auflagen die Fibel für das Autogene Training unter der Autorenschaft von König, di Pol, Schaeffer in vielen Auflagen herausbrachte, und dies zu dem Spottpreis von 2 Mark. Auch dies führte mit Sicherheit zur weiteren Verbreitung der Methode, zumal Höck 1978 in einer äußerst ­wohlwollenden Rezension darauf verweist, dass das Autogene Training (AT) in der DDR das am häufigsten angewandte psychotherapeutische Behandlungsverfahren sei. Er erwähnt auch, dass die erste Auflage der Broschüre bereits bei Erscheinen vergriffen war. »Jeder Arzt, der AT-Kurse leitet, aber auch jeder, der seinen Patienten zum Autogenen Training rät oder überweist, sollte diese Broschüre kennen und sie seinen Patienten empfehlen.« Von denselben Autoren erscheint 1979 mit einem Geleitwort von Klumbies »Das Autogene Training – ein Grundriss«. Die Autoren weisen darauf hin, dass die 1969 gegründete Sektion Autogenes Training und Hypnose nun über 180 Mitglieder hat, welche sich der Aufgabe stellen, Forschung, Ausbildung und Anwendung dieser Behandlungsmethode zu koordi­ nieren. 1979 konnte ich (Krause 1983, 1984) an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Neurologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die Dissertation A (Promotion) zum Thema »Beeinflussung von Lernleistungen durch Hypnose und Suggestion unter besonderer Berücksichtigung des Autogenen Trainings« verteidigen.

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

4.5.8.2 Hans-Joachim Maaz: Der Kampf zwischen autoritärer oder dynamischer Beziehung – am Beispiel der Hypnoseausbildung Von der Sektion Autogenes Training und Hypnose der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR wurden seit 1974 Fortbildungslehrgänge in Hypnose durchgeführt: 1974 in Bernburg, 1975 in Dessau und 1976 in Eisenach. In Gruppen von 12 bis 14 Teilnehmern wurde die Technik der Einzel- und Gruppenhypnose in verschiedenen methodischen Varianten untereinander geübt. Die Ausbildungs- und Gruppenleiter waren Prof. Katzenstein, Frau Kriegel, Frau Sitte, Herr Richter (alle Berlin), Herr Marchand (Ballenstedt), Herr Maaz (damals Beeskow). Es war damals aufgefallen, dass die Hypnosetechniken gut erlernt wurden, aber Hypnotherapie wenig in die psychotherapeutische Praxis übernommen wurde. Es zeigte sich, dass die mit der Hypnose verbundenen Probleme der Arzt-Patient-Beziehung, der ÜbertragungsGegenübertragungs-Dynamik und die konflikthaften Bedürfnisse der Therapeuten (z. B. Autoritäts- und Machtbedürfnisse) in den Kursstunden nicht ausreichend aufgezeigt und geklärt werden konnten. Daraus entstand der Wunsch vieler Teilnehmer, die Kurse weniger bezogen auf Hypnosetechnik durchzuführen, sondern mehr beziehungsdynamisch nach dem Modell von Balint-Gruppen zu gestalten. Parallel zu dieser Entwicklung erfuhr ich als Vorstandsmitglied der Sektion Autogenes Training und Hypnose durch Prof. Katzenstein, dass es von Seiten des Gesundheitsministeriums der DDR ein Interesse gäbe – dem Vorbild Sowjetunion folgend –, die Hypnosetherapie in der DDR weiter auszubauen. Ich war über diese Information einigermaßen beunruhigt durch den Verdacht, dass eine suggestive Methode der Psychotherapie vor allem auch zur Manipulation von Menschen missbraucht werden könnte. Das wollte ich unbedingt verhindern. Als ein Kursleiter für den nächsten Hypnosekurs gesucht wurde, bewarb ich mich um diese Funktion mit der Absicht, den beziehungsdynamischen Aspekt der Hypnose ganz in den Mittelpunkt zu stellen und den magisch-suggestiven Nimbus der Methode zu ernüchtern. Die von mir von 1981 bis 1984 geleiteten Hypnosekurse wurden unter besonderer Berücksichtigung der Therapeut-Patient-Beziehung durchgeführt. Dabei musste der schwelende Konflikt zwischen den »Technikern« und den »Dynamikern« unter den Teilnehmern aufbrechen. In der Psychotherapie der DDR war die Hypnotherapie praktisch zum Brennpunkt eines zentralen Konfliktes der DDR-Gesellschaft geworden, der zwischen dem überall vorherrschenden autoritär-repressiven Syndrom und einem beziehungsdynamisch orientierten Verständnis sozialer Strukturen bestand, aber nicht offen oder gar öffentlich ausgetragen werden konnte. So gab es immer auch Psychotherapeuten, die Macht und Bedeutung in ihrer therapeutischen Funktion selbstwertstabilisierend ausleben wollten, und eine anwachsende Zahl von Kolleginnen und Kollegen, die für ihr persönliches Leben wie für die therapeutische Arbeit Freiräume suchten, in denen sich dynamische Beziehungen unter Berücksichtigung auch unbewusster Prozesse entfalten konnten und damit ein offeneres, ehrlicheres, authentischeres Leben ermöglicht werden konnte. Nach meinem Verständnis hatte Psychotherapie in der DDR immer die Chance, für die individuelle Gesundheit wie für das soziale Zusammenleben freiheitlichere Beziehungsformen zu unterstützen, was natürlich nicht von allen Psychotherapeuten geteilt wurde.

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

Während eines Hypnosetherapie-Lehrganges in Winterstein (Thüringer Wald) kam es dann auch zu einer Krise, die bei aller ernsthaften Problematik im Verlauf auch recht amüsant war: Als übungsweise an hypnotisch verursachter Katalepsie eines Armes gearbeitet wurde, kam es in einer Gruppe zu einem Zwischenfall, indem die eingeleitete Starre des Armes nicht mehr zu desuggerieren war und der bemitleidenswerte Kollege einige Zeit mit steifem Arm herumlaufen musste, weil auch den herbeigerufenen Hypnotherapie-Experten die Zurücknahme der Starresuggestion nicht gelang. Erst als ich die abgelaufene Beziehungsdynamik zwischen Hypnotiseur und Hypnotisand mit der Gruppe analysieren konnte, wurde der Arm wieder weich und normal beweglich. Damit war der ausagierte tiefere Kurskonflikt ins Bewusstsein gebracht und konnte mit dem Bekenntnis zur Beziehungsdynamik aufgelöst werden. Das führte u. a. auch zum Bruch im Gruppenleiter-Team, so dass z. B. Marchand seine Mitarbeit aufkündigte und den Lehrgang verließ. Im Zuge dieses nun offen ausgetragenen Methodenkonfliktes konnten die Interessen, der Hypnotherapie in der DDR einen besonderen Stellenwert beizumessen, nicht mehr weiter verfolgt und verwirklicht werden. Die Hypnotherapie konnte nun als eine psychotherapeutische Methode für seltene Fälle mit spezifischen Indikationen realitätsgerecht eingeordnet werden und hatte doch auch wesentlich mit beitragen können, ein beziehungsdynamisches – also analytisch orientiertes Verständnis – in der Psychotherapie zu befördern.

4.5.9 Christoph Schwabe: Von der Beschäftigungstherapie zur Gestaltungstherapie – Entwicklungslinien, das »Heilhilfspersonal« und andere Kuriositäten 1970–1979 Mit dem Konzept, das Kohler 1968 mit der Veröffentlichung der »Kommunikativen Psychotherapie« auch für eine gruppenpsychotherapeutisch ausgerichtete Beschäftigungstherapie vorgelegt hatte, waren Maßstäbe für die Gestaltung einer Beschäftigungstherapie als nonverbale Gruppenpsychotherapie gesetzt worden. Jedoch konnte sich dieses anspruchsvolle Konzept im breiteren Maße nicht durchsetzen, weil dafür außerhalb der Leipziger Psychotherapie-Klinik die Voraussetzungen, für eine ­solche Chance der Erweiterung psychotherapeutischen Handelns in ein objektbezogenes Handeln, fehlten. Neben der nichtvorhandenen Einsicht bei führenden Vertretern der ­Psychotherapie fehlten darüber hinaus die personellen Voraussetzungen. Es gab auch in den begonnenen 1970er Jahren eine permanente Personalnot auf allen Gebieten, obwohl die ­Partei- und Staatsführung der DDR gehofft hatte, durch den Mauerbau 1961 die Flucht­ bewegung aus der DDR und damit das Aussterben ganzer Berufsgruppen vermindern zu können. Es ist heute wohl kaum noch zu klären, ob dies der eigentliche Grund für das Nichtzustandekommen eines notwendigen Berufszweiges war oder ob der nicht vorhandene Wille führender und einflussreicher Psychotherapeuten zur Stagnation in dieser Entwicklung beitrug. Harro Wendt beispielsweise gab sich damals in seiner Uchtspringer Großklinik damit zufrieden, ehemalige Patienten für die Übernahme entsprechender therapeutischer Aufgaben einzustellen. Ihm blieb aus praktischen Gründen auch keine andere Wahl; es sei denn,

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

man hätte das Problem an seiner tatsächlichen konzeptionellen Wurzel gepackt. Zu einer solchen Entscheidung allerdings war niemand, auch nicht Harro Wendt, bereit. Obwohl am Psychotherapiezentrum der Leipziger Universität in der Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung – so nannte sich das Zentrum inzwischen – durch die Erkrankung der Leiterin Christa Kohler die entscheidende Stütze weggebrochen war, ging zumindest theoretisch die konzeptionelle Entwicklung der Beschäftigungstherapie, einschließlich ihrer kontextuellen Bedingungen, weiter (Schwabe 1978, 1983). Zu Beginn der 1970er Jahre führte Schwabe in Übereinstimmung mit Kohler anstelle des Begriffs »Beschäftigungstherapie« aus zwingenden inhaltlichen Gründen den Begriff »Gestaltungstherapie« in das Methodenrepertoire der »Kommunikativen Psychotherapie« (Kohler 1968) ein. Das, was sich im Laufe der 1960er Jahre entwickelt hatte, wurde immer mehr gekennzeichnet durch Merkmale des individuellen Gestaltens in der Gruppe und war damit nicht mehr nur Beschäftigung im herkömmlichen Sinne. Das bedeutete auch, dass nunmehr Bildgestalten mit zum Bestandteil einer gruppenpsychotherapeutischen Gestaltungstherapie gehörte. In diesem Zusammenhang beschrieb ich erstmals »die Korrektur pathologisch bedingter Erlebniseinschränkung im Sinne einer Wiedergewinnung oder Neuentwicklung von Interessen, insbesondere der ästhetischen Erlebnis- und Genussfähigkeit« als eines der Psychotherapieziele (Schwabe, 1978, S. 189). Damit wurden Gestaltungsprozesse, einschließlich bildhafter Gestaltungsprozesse, erstmals aus einem vorwiegend oder sogar ausschließlich diagnostisch ausgerichteten Blickwinkel herausgenommen und deren therapeutische Potenzen ernst genommen. Im Frühjahr 1979 führte die Sektion Musiktherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR ihre 7. Arbeitstagung zum Thema »Erlebnis- und Genussfähigkeit als ein Therapieziel der Musiktherapie« in Leipzig durch. Mit dieser Tagung war beabsichtigt, dieses Thema grundsätzlich wissenschaftlich sowohl von psychologischer als auch von gesellschaftswissenschaftlicher Seite her zu bearbeiten. Bei der Eröffnung stellte ich zur damaligen Situation u. a. Folgendes fest: »Wir hatten damit gerechnet, daß diese Thematik ein ›heißes Eisen‹ werden wird, weil sie bisher nur ungenügend zum Gegenstand theoretischer Auseinandersetzung gemacht wurde. Dies trifft unseres Erachtens ebenso auf die marxistisch-leninistische Kulturtheorie zu wie auch auf den Bereich der Psychotherapie. Dies steht im Widerspruch zur Bedeutung, die diese Thematik in der praktischen psychotherapeutischen Arbeit einnimmt. Wir waren uns darüber im Klaren, daß unser Gegenstand nur sinnvoll im Vorfeld der Tagung diskutiert werden kann, wenn wir dazu Vertreter der Gesellschaftswissenschaften, speziell der Kulturtheorie, sowie Vertreter der allgemeinen und der klinischen Psychologie und selbstverständlich auch der Psychotherapie in diese Diskussion mit einbeziehen. Wir erwarteten ein interdisziplinäres Gespräch, das – über ein Jahr geführt – manche offene Frage hätte behandeln können. Was wir jedoch erlebten, hat uns verwundert. Wir wandten uns an die Kulturtheoretiker, um von ihnen Hinweise über den gesellschaftlichen Kontext unserer Thematik zu erfahren. Wir bekamen zwar bestätigt, daß es sich hier um ein hochinteressantes und hochaktuelles Thema handele, das aber zur Zeit nicht bearbeitet werden könnte. Wir wandten uns an die

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4.5  Methoden und Sektionen in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie

Psychologen und bekamen die Antwort, daß die ›vagen und komplexen persönlichkeitspsychologischen Konstrukte Erlebnis- und Genussfähigkeit sich einer operational-experimentellen Untersuchung entziehen und deshalb nicht Forschungsgegenstand sein können‹« (Schwabe 1979b, unveröffentlicht). Wie sich im Nachhinein zeigte, wurde diese Thematik im gesellschaftspolitischen Sinn als gefährlich und explosiv eingeschätzt, weil man eine Diskussion über die sozialistische Leistungspersönlichkeit und deren gesundheitsgefährdende Lebensbedingungen ebenso wie eine kritische Diskussion über Prinzipien des sozialistischen Menschenbildes befürchtete. Und man hatte durchaus Recht; denn genau auf diese Problematik zielte unser Anliegen und unser psychotherapeutisches Konzept der Gestaltungstherapie überhaupt. Die Kulturtheoretiker der DDR, die von uns angeschrieben worden waren, hatten sich untereinander darüber verständigt, dass sie nicht das Risiko eingehen werden, auf unserer Tagung zu sprechen. Es gab zwei Ausnahmen, die dennoch auftraten, äußerst vorsichtig, aber sehr klar. Das waren Dr. sc. phil. K. G. Lehmann, Dozent an der Sektion Kultur- und Kunstwissenschaft der Karl-Marx-Universität Leipzig, der über das Thema: »Wertvorstellung und Wertgenuss als ästhetische Komponenten der Persönlichkeitsentwicklung« sprach, und Dr. phil. C. Herber, Oberassistentin an derselben Sektion, die zum Thema: »Zum Problem der Kompensationsfunktion der Künste« referierte. Beide hatten das DDR-weite Absagenkomplott durchbrochen – dies war mutig und gefährlich zugleich. Harro Wendt hatte schon sehr früh den Begriff vom »Heilhilfspersonal« erfunden (1959 erstmals veröffentlicht). »Die Ausbildung des Heilhilfspersonals als verlängerter Arm des Arztes trägt wesentlich dazu bei, eine Heilatmosphäre zu schaffen, die ja den besonderen Vorteil der stationären Behandlung gegenüber der ambulanten Psychotherapie hat« (Wendt, in: Redetzky u. Thiele 1959, S. 136). Wie und wo die Ausbildung dieses Heilhilfspersonals erfolgen soll, verrät Wendt allerdings nicht, und das wird ihm wohl auch selbst nicht klar gewesen sein. Zugleich bleibt offen, welche Position dieses Heilhilfspersonal innerhalb eines medizinisch-therapeutischen Systems einnehmen sollte. Damit ist wiederum die grundsätzlich offene Frage angesprochen, dass auf Seiten führender ärztlicher Psychotherapeuten von einer beruflichen Spezies gesprochen wird, die es gar nicht gibt und deren Realisierung eigentlich nicht angestrebt wird. Zu einem späteren Zeitpunkt spricht Wendt von »sog. Hilfsmethoden der Psychotherapie« (Wendt 1971, S. 156), die durch das Heilhilfspersonal zu bewältigen seien. Wendt verbindet mit diesen Hilfsmethoden Tätigkeiten wie »Gymnastik, Sport, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Musiktherapie, Zeichnen und Malen, Theaterspiel, Psychodrama, Pantomime, Märchenspiel, Marionetten- und Handpuppenspiel sowie gezielte Übungstherapie« (S. 156 f.). Das »Heilhilfspersonal« rekrutierte sich in den 1970er Jahren in den meisten Kliniken aus ehemaligen Patienten. Für die Musiktherapie waren dies Menschen mit Interesse am Singen, für die Beschäftigungstherapie mit Interesse am Basteln. Klaus Weise, der Ordinarius für Psychiatrie an der Leipziger Universität, bevorzugte nach eigenen Angaben lieber Hausfrauen als Fachleute, weil sie, wie er meinte, in der Regel für sein sog. partnerschaftliches sozialpsychiatrisches Konzept am besten geeignet seien! In Berlin war Kurt Höck, und hier war auch das Zentrum der Gesprächspsychotherapieforschung der DDR, letzteres vertreten durch Johannes Helm und später Inge Frohburg. Die

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Gesprächspsychotherapie nach Rogers und Tausch entsprach den Kriterien der Leipziger Psychologen, die eine Beschäftigung mit dem »vagen und viel zu komplexen persönlichkeitspsychologischen Konstrukt ästhetische Erlebnis- und Genussfähigkeit« 1979 abgelehnt hatten. Die Gesprächspsychotherapie war operational und experimentell erfassbar. Sie konnte auf einfache lineare Operationen fixiert werden, die den dazu notwendigen Untersuchungsinstrumentarien entsprachen. Das war natürlich mit den komplexen Handlungsangeboten einer gruppenpsychotherapeutisch ausgerichteten Gestaltungstherapie nicht möglich. Aus Sicht der Psychologen aber konnte nicht sein, was sich ihrem Untersuchungshorizont entzog. Es bleibt die Frage, ob sich damit nicht die Psyche bzw. das Leben selbst den Psychologen entzog, weil das sich manchmal nicht nach den Untersuchungsregeln der experimentellen Psychologie richtet. Aus den genannten Gründen hatte natürlich die Gesprächspsychotherapie als Konzept für die Belange einer nonverbalen Psychotherapie, wie das nun einmal die Gestaltungstherapie ist, keine Relevanz. Die Gesprächspsychotherapie erlangte aber in der Psychotherapieentwicklung der DDR neben der gruppendynamisch orientierten Psychotherapie nach Höck in den 1970er Jahren eine zunehmende Bedeutung. Für die an dieser Stelle vorgenommene historische Betrachtung ist nur von Wichtigkeit, was Höck an Einfluss auf die Entwicklung gestaltungs- bzw. beschäftigungstherapeutischer Belange nahm. In seinem Buch »Gruppenpsychotherapie«, veröffentlicht 1976, nimmt Höck eine Art Standortbestimmung vor, was Gruppenpsychotherapie und was Gruppentherapie sei. Diese Unterteilung gewinnt auch Bedeutung, wenn es um die Zuordnung von Beschäftigungs- bzw. Gestaltungstherapie geht. Darum ist sie in unserem Zusammenhang wichtig. Im Übrigen ist der Versuch einer solchen Unterteilung nicht neu. Bereits Teirich hatte im Jahre 1959 ähnliche Versuche unternommen, und in neuerer Zeit versuchen Musiktherapeuten diese Unterteilung auf die Musiktherapie anzuwenden und sprechen bei solcher Musiktherapie, die sie für besonders »psychotherapeutisch« halten, von »Musikpsycho­ therapie«! In einem Beitrag, der nie zu einer Veröffentlichung kam, nahm ich 1976 kritisch dazu Stellung. Höck hat auf diesen, ihm von mir persönlich zugeschickten, Beitrag durchaus freundlich, doch auch mit Unverständnis reagiert. In dem Papier heißt es u. a.: »Höck greift, wie auch andere DDR-Vertreter der Psychotherapie, die von Teirich im Jahre 1959 vorgenommene Unterteilung psychotherapeutischer Verfahren in sog. ›Gruppentherapie‹ und sog. ›Gruppenpsychotherapie‹ erneut auf. Die hier vorgenommene Abgrenzung von Verfahren, die der Psychotherapie zuzuordnen sind, wirft die Frage auf, was entsprechend der von Höck vertretenen Termini ›Gruppentherapie‹ gegenüber ›Gruppenpsychotherapie‹ sei« (Schwabe 1976). Höck äußert sich in diesem Zusammenhang wie folgt: »Wir würden daher unter Gruppentherapie allgemein die gruppenmäßige Anwendung von Verfahren und Methoden zur psychophysischen Beeinflussung des Menschen verstehen« (Höck 1976, S. 13). Diese Definition kann keinesfalls als eine Abgrenzung zur »eigentlichen« Psychotherapie gelten, zumal im Weiteren für Höck einfache Adjektive ausreichen, um »Behandlungsmethoden« im Sinne der Höck’schen »Gruppentherapie« näher zu charakterisieren. Höck nimmt folgende Einteilung nach Behandlungsformen und Behandlungsmethoden vor (1976, S. 14):

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Die Behandlungsmethode 1. »Suggestiv« umfasst Gruppenhypnose, Gruppen-AT, Regulative Musiktherapie (!), Relaxationsverfahren; 2. »Informativ« umfasst Gruppenvorträge, themenzentrierte Gesprächsgruppen, Gesprächspsychotherapie, Leitertraining. 3. »Aktivierend«: Arbeitstherapie, Gesprächstherapie, Hausgruppen, Sport- und Spielgruppen, aktive Gruppenmusiktherapie, Gruppengymnastik. 4. »Agierend«: Symboldrama, Pantomime, Märchenspiel, Puppenspiel, Psychodrama, Konfliktspiel. 5. »Dynamisch«: Gruppenanalyse, Psychoanalyse, Gruppenpsychotherapie, Balint-Gruppen, Dynamische Gruppenpsychotherapie, Sensitivitytraining, Selbsterfahrungsgruppen. Eine solche Unterteilung, wie sie hier von Höck vorgenommen wurde, entbehrt jeglicher wissenschaftlicher Grundlage und simplifiziert Sachverhalte mit entsprechenden Auswirkungen auf die psychotherapeutische Praxis. Man könnte sagen, das hier Zusammengestellte ist die Auffassung eines Autors, und dabei bleibt es. Dabei blieb es aber leider nicht; denn aufgrund des großen Einflusses, den dieser Autor auf das Psychotherapieverständnis in den 1970er und folgenden Jahren in der DDR hatte, haben sich an solchen Äußerungen viele zukünftige Psychotherapeuten orientiert. Das hatte zur Folge, dass die Wirkungen der durch Höck so benannten »Gruppentherapien« in der konkreten psychotherapeutischen Praxis zu häufig unterschätzt wurden, dass die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Teils der Psychotherapie nicht ins notwendige Blickfeld kam und dass das »Heilhilfspersonal« (Wendt), dem man weitgehend diesen Bereich der Psychotherapie überließ, nicht die nötige Aufmerksamkeit, auch bezüglich entsprechender beruflicher Qualifizierungsmaßnahmen, erhielt. Nicht die Gruppenbeschäftigungstherapie oder -gestaltungstherapie, schon gar nicht die Gruppenmusiktherapie, jedoch die Kommunikative Bewegungstherapie nach Wilda-Kiesel (1987) bekam von Kurt Höck das Prädikat, von der »Gruppentherapie« zur »Gruppenpsychotherapie« aufzusteigen. Und in der Tat verdient dieses Verfahren dieses Prädikat aufgrund seiner spezifischen psychotherapeutischen Merkmale, die hier im Einzelnen nicht benannt werden müssen. Es gibt jedoch keinerlei wissenschaftliche Begründung dafür, weshalb allein dieses Verfahren im Konzept von Kurt Höck als »psychotherapeutisch« eingestuft wird, die übrigen aber nur als »gruppentherapeutisch«. Aufgrund ihrer Qualität und der Tatsache, dass dieses Verfahren zu den Standardmethoden der Höck’schen Ausbildungskommunitäten gehörte, wurde Kommunikative Bewegungstherapie nach Wilda-Kiesel in den 1970er und 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Psychotherapiepraxis der DDR weithin bekannt und ist es bis zum heutigen Tag. Das kann man von anderen nonverbalen Verfahren der Gruppenpsychotherapie, einschließlich der Gestaltungstherapie, nicht sagen. Zur gleichen Zeit, in der Kurt Höck in Berlin sein gruppendynamisches Konzept entwickelte, erfolgte in Leipzig in der psychiatrischen Universitätsklinik unter dem Ordinarius Klaus Weise der Aufbau eines sog. partnerschaftlichen Behandlungskonzepts nach Rogers und Tausch. Grundlagen dafür sahen die Verantwortlichen in den Prinzipien der »therapeutischen Gemeinschaft« nach Ploeger (1972). Das bedeutete im Einzelnen zunächst den radikalen Versuch, die traditionellen hierarchischen Machtverhältnisse der alten Psychiatrie aufzulösen und eine Art Partnerschaft zwischen Therapeuten, Pflegepersonal und Patienten herzustellen.

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»Die Partnerschaft zwischen Arzt und Patient offenbart sich in der gleichberechtigten Zusammenarbeit« (Weise u. Petermann 1976, S. 144). Eine Art Zwangsdemokratisierung in einer erstarrten Psychiatrie, das konnte nicht gehen und schon gar nicht zu einer »therapeutischen Gemeinschaft« im Sinne Ploegers führen, weil es sich hierbei ja um ein höchst subtiles, immer wieder gefährdetes und um ein immer neue psychodynamische Bearbeitung verlangendes Gebilde handelte. Das sieht in der Sichtweise von Hannelore Weise und Harald Petermann allerdings etwas anders aus: »Patientenrat und Vollversammlung repräsentieren in unserer Klinik die Patientenselbstverwaltung und sind wichtige Möglichkeiten stabiler, therapeutisch effektiver Gruppenbildungen [...]. Die Gruppe der Patienten wird zum Partner bei der Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen in der Klinik« (Weise u. Petermann 1976, S. 147). Was in der »Leipziger Partnerschaft« vor allem dominierte, war ein, der Vielfalt an unterschiedlichen Patientengruppen geschuldetes, Chaos, was dazu führte, dass ein ehemaliger Kindergärtner als eine Art Koordinator der Gruppenvielfalt eingesetzt wurde. Dieser bekam aber durch sein Amt zwangsläufig eine beherrschende Funktion, die wiederum Spannungen auslöste. Eine quantitativ dominierende Rolle nimmt in diesem Behandlungsrahmen die Beschäftigungstherapie ein, bei der einige in der Psychotherapie-Klinik von Kohler entwickelte Prinzipien Eingang gefunden haben. »Sie findet täglich zwei Stunden statt, bearbeitet wird einfaches Material. Jede Gruppe wird von einem Therapeuten angeleitet. Der Patient kann sich die Gruppe auswählen« (Albert, Eisengräber u. Albert 1976, S. 171). »Maltherapie« wird in diesem Gesamtkonzept als besonderes Angebot geführt. »Themen werden meist vorgegeben (»meine Familie«, »Konflikt«). Die Bilder werden im Anschluss diskutiert; hinsichtlich konflikthafter Erlebnisinhalte, die von den Patienten in dem Zusammenhang angesprochen werden, wird auf die Gesprächsgruppen verwiesen« (S. 173). Dieses gesamte Gruppenkonzept versteht sich bei Weise nicht als Psychotherapie, sondern als Soziotherapie. Worin der Unterschied zwischen beiden im Einzelnen besteht, bleibt unklar (S. 170). Die Geschichte der Gestaltungstherapie ist nicht nur die tragisch zu nennende Geschichte einer verkannten und damit unterentwickelt gebliebenen Psychotherapieform. Sie ist auch die Geschichte einer unterentwickelten Akzeptanzqualität unterschiedlicher Berufsvertreter innerhalb eines nach wie vor hierarchisch ausgerichteten medizinischen Berufsbildes. Es hätte eines Mediziners von der Qualität und Weitsicht beispielsweise eines Moreno bedurft, um die Bedeutung dieser hochpotenten, ressourcenorientierten Psychotherapieform als wichtigen Bestandteil einer komplexen Psychotherapie zu erkennen und aufzubauen, wobei möglicherweise dann eine Chance bestanden hätte, dass medizinische Psychotherapeuten die psychotherapierelevanten Qualitäten einer solchen tätigkeitsorientierten Psychotherapie für sich und ihr psychotherapeutisches Handeln entdecken.

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4.6  Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und Gesellschaft für Psychologie

4.6 Regionalarbeit der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und der Gesellschaft für Psychologie 4.6.1 Michael Geyer, Werner König und Sigmar Scheerer: Die Arbeit der Regionalgesellschaften – Der Aufbau der Psychosomatischen Grundbetreuung und der regionalen Balint-Arbeit Der 7. Jahreskongress der GÄP 1973 in Erfurt widmet erstmalig einen ganzen Tag dem Thema »Integration der Psychotherapie in die Medizin«. Kurt Höck, der diesen Tag leitet, hält gemeinsam mit König einen Vortrag zu »Aufgaben und Bedeutung der Psychotherapie in der modernen Medizin«. Hier wird erstmals sein »abgestuftes System der Psychodia­ gnostik und Psychotherapie« genannt, das bald danach differenziert ausformuliert wird (} Abschnitt 4.3). Psychotherapie ist im Rahmen dieses Themas nicht als eigenständige therapeutische Spezialdisziplin bei der Behandlung von Neurosen und Persönlichkeitsstörungen gemeint, sondern als Querschnittdisziplin der gesamten Medizin. Als solche ist sie einerseits als Teil einer Komplextherapie bei der Behandlung ausgewählter Störungsformen in unterschiedlichen klinischen Fächern (z. B. Innere Medizin, Psychiatrie, Pädiatrie, Gynäkologie) konzipiert, andererseits soll sie in der medizinischen Grundversorgung (bzw. -betreuung) zur Kompensation psychoreaktiver Störungen, zur Beeinflussung des Gesundheitsverhaltens, zur Optimierung von Arzt-Patient-Beziehungen, zur Vermeidung iatrogener Schädigungen etc. beitragen (auf allen diesen Ebenen schließt psychotherapeutische Arbeit auch psychoprophylaktische und rehabilitative Maßnahmen ein). Um diesen Integrationsprozess voranzutreiben, müssen die kaum vorhandenen regionalen Strukturen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie ausgebaut werden, da nur auf diese Weise die an der Grundversorgung beteiligten klinischen Fächer großflächig beeinflusst werden können. Gleichzeitig wird 1973 in der ärztlichen Ausbildung an den Hochschulen das Fach »Medizinische Psychologie« im heute verstandenen Sinne ausdrücklich mit dem Ziel der Verbesserung der Patient-Arzt-Beziehung neu eingeführt (da die Psychiatrie, die bis dahin diese Themen im Lehrplan hatte, im Hinblick auf die Integration psychosozialer Aspekte in die somatische Medizin versagt hat). Insofern liegt die neue Strategie der GÄP als Weiterführung der im Studium gelegten Grundlagen in der ärztlichen Fortbildung auch im besonderen Interesse der führenden Gesundheitspolitiker der DDR. Als Beginn der systematischen Regionalarbeit der GÄP kann der Beschluss des Vorstandes einige Monate nach dem genannten Kongress – am 6. Juli 1973 – gesehen werden, die für bestimmte Regionen verantwortlichen Kollegen zu einer Konferenz unter Leitung des 1. Vorsitzenden einzuladen. Folgende Personen sind zunächst in der Diskussion: König für Berlin und Frankfurt, di Pol für Leipzig, G. Schultz für Magdeburg und Potsdam, Schaeffer für Suhl, Erfurt, Gera, Blum für Dresden, Gunia für Rostock, Schwerin und Neubrandenburg. Den Vorstandsprotokollen ist über diese Konferenz nichts zu entnehmen. Am 2. November 1973 fand eine erste Beratung mit den genannten Leitern der regionalen Arbeitsgruppen unter Leitung von Höck statt. An erster Stelle ihrer Aufgaben stand »die

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

systematische Aus- und Weiterbildung von Ärzten aller Fachgebiete, vor allem Betriebsärzten und Fachärzten für Allgemeinmedizin in den Grundlagen der Psychotherapie«. Die im Auftrag des Vorstandes der GÄP gebildete Arbeitsgruppe für die Ausbildung von Ärzten verschiedener klinischer Fachgebiete (König, Kohler, di Pol) erarbeitet in einer Zusammenkunft am 11. Juli 1974 eine Empfehlung für die Regionalarbeit: Es soll eine inhaltlich einheitliche Fortbildung für Ärzte verschiedener Fachgebiete konzipiert und erarbeitet werden. Neben Vorträgen zur allgemeinen Information über Psychotherapie und Psychosomatik soll die weithin bereits bekannte Entspannungsmethode des Autogenen Trainings in Kursform angeboten werden. Kernstück des Angebotes sollen jedoch zehntägige Kurse zur psychosomatisch-psychotherapeutischen Fortbildung bilden, die nach Möglichkeit bereits auf Bezirks- und Kreisebene durchgeführt werden sollen. Die Arbeitsgruppe empfiehlt ausdrücklich die Beteiligung von Regionalbeauftragen an der Erarbeitung der Inhalte derartiger Grundkurse. Dieses Konzept setzt in allen Regionen erstaunliche Initiativen in Gang. Die Regionalarbeit beginnt in Form von Kursen für Autogenes Training und Unterweisungen im ärztlichen Gespräch noch vor der Erarbeitung verbindlicher Grundkursmaterialien. Eine Konferenz der Regionalbeauftragten der GÄP in Bad Freienwalde vom 6.–9. Januar 1975 einigt sich auf ein Lehrprogramm, das »Grundkurs Allgemeine Psychotherapie« genannt wird. Damit wird ein je nach regionalen Gegebenheiten als Blockoder mehrzeitige Veranstaltung durchführbarer Kurs inhaltlich strukturiert, in den auch das Autogene Training integriert werden kann. Es wird eine Redaktionskommission (Behrends, Klumbies, Kruska, Kulawik und Schaeffer) unter Leitung von König zur Ausarbeitung bestimmt. Noch im gleichen Jahr beginnen erste Fortbildungen auf der Grundlage des erarbeiteten Bildungsmaterials und es gründen sich regionale Arbeitsgemeinschaften in den Bezirken Erfurt und Potsdam, in den folgenden Jahren auch in den übrigen Bezirken der DDR. Dieser Initiative ist ein beträchtliches Wachstum der GÄP zu verdanken. Zum Beispiel steigt im Bezirk Erfurt die Mitgliederzahl von 24 (1974) auf 80 Ende 1976. Bis dahin isoliert arbeitende ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten sehen sinnvolle Möglichkeiten, in ihrem Umfeld aktiv zu werden Damit sind Voraussetzungen geschaffen, den Allgemeinmedizinern und Internisten, die in dieser Zeit die Zielgruppen der Regionalarbeit bilden, die Grundkurse wohnortnah auf Kreisebene anzubieten. Die Struktur des staatlichen Gesundheitswesens erleichtert die intensivere Ausbildung besonders interessierter Kollegen, die nun – nach Absolvierung eines Grundkurses – in großer Zahl in den wenigen psychotherapeutischen Spezialeinrichtungen hospitieren, ihre erworbenen Kenntnisse sowohl in der eigenen Arbeit umsetzen, sie aber auch in die psychosomatische Fortbildung einbringen. Bereits im August 1976 stellt die Erfurter Regionale Arbeitsgemeinschaft einen Antrag an den Vorstand, der am 10. März 1977 zur Gründung der ersten »Regionalgesellschaft für Psychotherapie« des Bezirkes Erfurt führt (Vorsitzender Geyer). Sie hat 80 Mitglieder, führt im laufenden Jahr acht Grundkurse für Allgemeinmediziner und zwei Arbeitstagungen sowie mehrere Balint-Gruppen auf Kreisebene durch. Der für die Regionalarbeit zuständige 2. Sekretär des Vorstandes Geyer berichtet 20. April 1977 dem Vorstand: »Seit 1973 haben sich 13 Regionale Arbeitsgemeinschaften auf Bezirksebene gebildet. In diesen werden jeweils zwischen 1 und 9 Grundkurse pro Jahr durchgeführt und alle veranstalten mindestens eine Tagung

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4.6  Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und Gesellschaft für Psychologie

pro Jahr. In fast allen Gliederungen werden sog. Problemfallseminare oder Balint-Gruppen für Ärzte der Grundversorgung angeboten. Teilweise – besonders bei der Durchführung von Balint-Gruppen und Grundkursen – ist eine weitere Dezentralisierung auf Kreisebene gelungen.« Als zweite psychotherapeutische Regionalgesellschaft der DDR wird am 21. November 1978 die »Regionalgesellschaft für Psychotherapie des Bezirkes Potsdam« gegründet (Vorsitzender Seefeldt, s. a. den Beitrag in diesem Kapitel). In den folgenden zwölf Monaten wird angesichts der Erfüllung aller Kriterien auch die Umwandlung der Arbeitsgemeinschaften der Bezirke Dresden (Vors. Blum), Jena (Vors. Schaeffer), Leipzig (Vors. di Pol), Suhl (Vors. Benkenstein), Berlin (Vors. Eichhorn) und Magdeburg (Vors. Schultz) in Regionalgesellschaften für Psychotherapie vom Vorstand gebilligt. Damit hat sich in nur sechs Jahren die Psychotherapie an der Basis der Medizin etabliert. Die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie hat in diesem Zeitraum ihre Mitgliederzahl auf 1200 verfünffacht. Damals reflektieren die Beteiligten nicht ausreichend, dass dieses Angebot der Regionalgesellschaften nicht nur die Bedürfnisse der Ärzte (und Psychologen) nach höherer fachlicher Kompetenz bei der Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung befriedigt. Die Kleingruppenarbeit an der Basis bietet auch für die Kolleginnen und Kollegen eine politikferne Nische mitten in der DDR-Gesellschaft, die ansonsten versucht, mit ihrer politischen Einflussnahme in alle Räume vorzudringen. Insofern kann das ursprüngliche Konzept der GÄP, die psychotherapeutische Basisausbildung der Ärzte in Studium und Facharztweiterbildung anzusiedeln (d. h. die Grundkursarbeit als irgendwann überflüssige Übergangslösung zu betrachten), nicht gelingen. Ott, Geyer und Böttcher (1980) fassen in einer Übersicht das diesbezügliche [ideal konzipierte, die Verf.] Bildungssystem der DDR Ende der 1970er Jahre folgendermaßen zusammen: »Das derzeitig in der DDR-Medizin praktizierte Modell der Vermittlung medizinpsychologisch-psychotherapeutischer Kenntnisse, Einstellungen und Fertigkeiten sieht einen differenzierten Bildungsweg vor. Er nimmt seinen Ausgangspunkt vom Lehrgebiet ›Medizinische Psychologie‹ im 3. Studienjahr, verzweigt sich noch während des Studiums in die Fächer der klinischen Medizin bzw. ihrer fachspezifischen (allgemeinpsychotherapeutischen) Ansätze, verläuft nach dem Studium über die medizinpsychologischen und psychotherapeutischen Ziele der Facharztweiterbildung und endet entweder in der staatlichen Qualifikation in fachspezifischer Psychotherapie einer klinischen Disziplin [Zusatzbezeichnung Psychotherapie] oder – seit 1978 – in der speziellen Psychotherapie des Psychotherapiefacharztes.« Hier wird noch darauf gesetzt, dass die psychotherapeutisch-psychosomatischen Bildungsinhalte in die Facharztweiterbildung der klinischen Fächer integriert werden könnten, was zu diesem Zeitpunkt zwar in Ansätzen in der Allgemeinmedizin und Inneren Medizin, insgesamt aber nur unzureichend gelungen ist. Anfang der 1980er Jahre wird deutlich, dass das von der GÄP konzipierte Konzept der psychosomatisch-psychotherapeutischen Fort­ bildung der Ärzte der Grundversorgung nicht von einer neustrukturierten Facharztweiterbildung der klinischen Fächer abgelöst werden wird, sondern als dringend notwendige Ergänzung zur Facharztweiterbildung – also als Fortbildung – ausgebaut werden muss. Entsprechend anspruchsvoller muss also diese Arbeit gedacht werden. Vom 10.–11. April 1978 treffen sich die Vorsitzenden der 13 regionalen Arbeitsgemeinschaften und Regionalgesell-

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schaften zu einer »Konferenz der Fortbilder« in Winterstein im Thüringer Wald. Sie nehmen eine erste Revision der Grundkursmaterialien vor, verständigen sich über die Grundzüge der Balint-Arbeit (s. u.) und verabreden die Zusammenarbeit zwischen den Regionen. Ab 1979 ergänzt ein von Geyer, Blatz und Linzer (1979a) entwickeltes strukturiertes Trainingsprogramm »Ärztliches Basisverhalten« (Geyer u. Blatz 1982) die seminaristische Grundkurs- und die Balint-Arbeit. Insbesondere die Balint-Arbeit und das Trainingsprogramm »Ärztliches Basisverhalten« erhöhen aufgrund ihrer Handlungsnähe die Attrakivität der Grundkurse für Fortbilder wie Teilnehmer. Bis zur nächsten Revision der Grundkursinhalte 1985 werden 3000 Ärzte der Grundversorgung fortgebildet.

Spezifische Konzepte der Balint-Arbeit in der DDR Die Balint-Arbeit in der DDR hat ihre Wurzeln vornehmlich in sog. Problemfallseminaren und psychodynamischen Selbsterfahrungsgruppen (Höck, 1978b). Angesichts der Besonderheiten der Rezeption der Balint-Arbeit in der DDR insbesondere durch Harro Wendt (Tögel 1973) und den gruppendynamischen Erfahrungshintergrund der meisten BalintGruppenleiter war es notwendig, Abgrenzungen einerseits zwischen Problemfallseminar und Balint-Gruppe, andererseits zwischen Selbsterfahrungsgruppe und Balint-Gruppe vorzunehmen. Die o. g. Winterstein-Konferenz (Tögel u. Maaz 1978), die die psychodynamische Grundlage der von einigen Akteuren noch »Problemfallseminare« genannten Gruppen klarstellte, gilt als Beginn eines langdauernden Auseinandersetzungsprozesses über die ­Balint-Arbeit in der DDR. In Winterstein stand zunächst die Abgrenzung vom Problemfallseminar im Vordergrund. Wendt (Uchtspringe) hatte 1973 mit der Durchführung von Problemfallseminaren begonnen. Vorwiegend jüngere, psychotherapeutisch interessierte, aber relativ unerfahrene Kollegen suchten eine Möglichkeit, sich im medizinisch-psychologischen Denken zu schulen. Die Problemfallseminare wurden überwiegend leiterzentriert geführt, indem ein erfahrener Psychotherapeut durch Hinweise, Erläuterungen und Ratschläge neue Sichtweisen bei der Behandlung schwieriger Fälle eröffnete, Fragen beantwortete und psychosoziales Denken und Handeln lehrte. Tögel (1983) schreibt dazu: »Je nach Lage der mit dem vorgetragenen Fall verbundenen Problematik können diagnostische Fragen, Indikationsprobleme, Fragen des Behandlungskonzeptes oder der Methodik im Vordergrund stehen. Die Verwendung von Tonbandaufzeichnungen therapeutischer Gespräche kann außerdem zur Schulung in der Methodik der Gesprächsführung dienen. Im Zentrum der Bearbeitung steht aber (ähnlich wie bei Balint) die Begegnung zwischen Therapeut und Patient. Dabei kann es z. B. um die Realisierung von Therapeutenvariablen (Rogers) oder um Fragen der ÜbertragungGegenübertragung gehen.« Die Teilnehmer dieser Seminare erwarteten vor allem Beratung und Supervision bei problematischen Behandlungsfällen. Das Setting dieser Seminare in Form von Wochenendveranstaltungen in größeren Abständen und bei wechselnder Zusammensetzung und unterschiedlicher Motivation der Teilnehmer erlaubte kaum tiefere psychodynamische Erfahrungen und Bearbeitung der Patient-Therapeut-Beziehung bzw. der Widerspiegelung dieser Beziehung im Seminar. Als Zielstellung für diese Seminare formuliert Wendt (zit. bei Höck 1988): »Das Problemfallseminar soll dem Therapeuten, der mit

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einem Problemfall nicht weiterkommt, die Möglichkeit bieten, alle Fragen zu stellen, die er hat. Die Seminarteilnehmer sind gehalten, ihre Meinung zu äußern, bevor der Dozent redet. Die Teilnehmer sollen lernen, den existentiellen Bezug einer Störung hintergründig zu erfassen, an Stelle der weitgehend üblichen kausalen Ableitung von vordergründigen Lebensschwierigkeiten.« Seinerzeit verständigten sich die Teilnehmer der Winterstein-Konferenz darauf, dass im Vergleich zu Balint-Gruppen Problemfallseminare durch ein hohes Ausmaß an Leiterzentrierung gekennzeichnet sind, keine explizite Nutzung typisch psychoanalytischer Techniken (z. B. freie Assoziation, Deutungen) und eine geringe Nutzung gruppendynamischer Prozesse vornehmen, aber ein breiteres Spektrum von Themen, insbesondere die medizinische Sachebene betreffend, zulassen. Als allgemeine theoretische Grundposition einigten sich die Teilnehmer darauf, dass Problempatienten dadurch zum Problem werden, dass der Therapeut die psychosoziale Dimension des Krankseins nicht oder nur partiell beachtet oder erfasst, weil er ausschließlich organmedizinisch denkt und handelt und/oder weil er selbst die relevanten psychosozialen Aspekte aufgrund eigener unbewältigter Problematik abwehrt (eigene »blinde Flecke«). Auf dieser Grundlage wurden zunächst die dann zunehmend als »Balint-Gruppen« bezeichneten Seminare durchgeführt. Aus heutiger Sicht kann jedoch weder von einer einheitlich theoretischen noch methodischen Gruppenarbeit gesprochen werden. Dieser Umstand war auch allen Akteuren bewusst und führte in den 1980er Jahren zu mehreren Klausurtagungen, die eine weitere Verständigung über alle Aspekte der Balint-Arbeit zum Ziel hatten (s. a. } Abschnitt 5.8).

4.6.2 Hermann F. Böttcher und Dorothea Roloff: Regionale Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Dresden von 1975–1990 Der Anstoß zur Bildung regionaler Arbeitsgruppen bzw. Gesellschaften kam vom Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, der im September 1975 Werner Blum, Internist und Psychotherapeut, leitender Arzt der Abteilung für Psychotherapie der Medizinischen Klinik Dresden-Weißer Hirsch beauftragte, mit den 96 Mitgliedern der Gesellschaft im Bezirk Dresden eine regionale Arbeitsgruppe zu bilden. Dieses Anliegen traf auf das Bedürfnis der Mitglieder und auch anderer an der Psychotherapie Interessierter nach mehr Information, Weiterbildung, Erfahrungsaustausch und stärkeren Zusammenhalt im Territorium. Erklärtes Ziel war die Integration von Psychotherapie und Medizinischer Psychologie in die stationäre und ambulante Versorgung. Das stellt die wichtigste Ebene des dreistufigen integrierten Systems der psychotherapeutischen Versorgung in der DDR dar, das der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP) erarbeitet hatte. In einer Arbeitsordnung für die regionalen Untergliederungen der Gesellschaft waren eine systematische Vermittlung eines psychotherapeutischen Minimums, die regelmäßige Durchführung von Fortbildungs- und Diskussionsabenden sowie die kontinuierliche Vertiefung der fachlichen Qualifikation der psychotherapeutisch tätigen Mitglieder vorgesehen. Darüber hinaus sollten Verbindungen zu anderen wissenschaftlichen Gesellschaften (Innere

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Medizin, Allgemeinmedizin und Psychiatrie) und zu staatlichen Institutionen (Kreisärzte, Bezirksarzt, Krankenhausdirektoren) aufgenommen werden. Diese Inhalte und Ziele wurden mündlich durch Mitglieder des Vorstandes oder durch Rundbriefe und zu Mitgliederversammlungen auf den Jahreskongressen der Gesellschaft mitgeteilt. Mit dieser Orientierung war das Signal für eine Intensivierung besonders der regionalen Weiterbildung gegeben, denn es hatten schon einzelne erfahrene Psychotherapeuten im Territorium mit der Durchführung von Problemfallseminaren (Blum, Peper, Zschornack) und von Grundkursen begonnen, in denen auf der Basis eines von der GÄP erarbeiteten Materials in zehn Doppelstunden die Grundzüge der Neurosenlehre, des psychotherapeutischen Basisverhaltens, einfacher Siebtests und – als gut handhabbares Therapieverfahren – das Autogene Training vermittelt wurden (Dresden: seit 1975 drei Kurse von Roloff; Görlitz/ Zittau: 1977 Knappe,Wiele, Peper; Pirna: 1978 Zschornack). Sie wurden von Anfang an von Ärzten, Psychologen und anderen beruflich Interessierten, Mitgliedern und Nichtmitgliedern, besucht. Organisation und Finanzierung wurden von der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens Dresden auch in den folgenden Jahren bis 1989 übernommen und die Weiterbildungsveranstaltungen der Regionalgesellschaft für Psychotherapie in den Jahresprogrammen veröffentlicht. Vorausgegangen war ein Gespräch von Ernst Peper, Vorstandsmitglied der GÄP und Vertreter der regionalen Arbeitsgruppe für Psychotherapie, im Januar 1978 mit dem Bezirksarzt, der Unterstützung bei der Entwicklung der Psychotherapie im Bezirk Dresden zusagte und als Schwerpunkte für die Zeit von 1980 bis 1985 die Fachgebiete Psychiatrie und Psychosomatische Medizin nannte. Bereits Anfang 1976 fanden regionale Zusammenkünfte der Fachkollegen in Dresden statt, die sich im Juni zu einer Arbeitstagung mit Vorstellungen zur Verbesserung der ambulanten psychotherapeutischen Behandlung von Patienten mit funktionellen und neurotischen Störungen und zur praxiswirksamen psychotherapeutischen Weiterbildung weiter für die Regionalarbeit vorbereiteten. Im April 1978 konstituierte sich die Regionale Arbeitsgruppe der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Dresden in einer Fortbildungsveranstaltung mit zehn Fachvorträgen und der Wahl eines Vorstandes (Werner Blum, Dorothea Roloff, Wolfgang Wenke), der die Gründung der Regionalgesellschaft für Psychotherapie des Bezirkes Dresden vorbereitete, die am 21. April 1979 im Klinikum DresdenWeißer Hirsch stattfand. In schweigender Übereinkunft entfiel das Attribut »ärztlich« im Namen der Regionalgesellschaft, ohne dass es darüber eine Diskussion gegeben hatte – vielleicht als Zeichen eines unbewussten Wunsches, die Klinischen Psychologen als zugehörig anzusehen und ihnen einen gleichberechtigten Status zuzuerkennen. In den ersten Vorstand wurden vier Ärzte gewählt (ein Internist und drei Neuropsychiater: Werner Blum als Vorsitzender, Friedemann Ficker, Ernst Peper, Dorothea Roloff) sowie zwei Psychologen (Hermann F. Böttcher, Wolfgang Wenke). Im Bezirk Dresden hatten wir zu diesem Zeitpunkt 96 Mitglieder, davon 52 Ärzte und 36 Psychologen, sowie acht Mit­ glieder anderer Berufsgruppen. 1981 waren wir bereits 140 und 1989 167 Mitglieder mit 68 Ärzten und 82 Psychologen. Unter den Ärzten stellten die Neuropsychiater die Hälfte, Allgemeinmediziner und Internisten jeweils 20 %, den Rest andere Fachgebiete. Der Mitgliedsbeitrag betrug 25.– M für Erstmitglieder, 10.– M für Zweitmitglieder; an den Kosten der Regionalveranstaltungen beteiligten sich neben den Mitgliedern die Gesamtgesellschaft

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für Psychotherapie, die Bezirksakademie für Gesundheits- und Sozialwesen sowie die jeweiligen Einrichtungen, in denen die Mitglieder angestellt waren.

Die Kreisbeauftragten Eine der ersten strukturellen Maßnahmen der neu gegründeten Regionalgesellschaft war es, die vorhandenen Interessen und Aktivitäten der Mitglieder in allen Kreisen des Bezirkes zu erfassen. Mittels selbsterarbeiteter Fragespiegel versuchten wir, administrative Struk­ turen, angewandte Methoden, behandelte Patientengruppen, Ausbildungsstand und Weiterbildungsaktivitäten (Grundkurse, Problemfallseminare u. Ä.) unserer Mitglieder zu erfassen und sie in den folgenden Jahren immer wieder zu aktualisieren. Es galt, unter den tätigen Kollegen sog. Kreisbeauftragte zu gewinnen, die bereit waren, Verantwortung für die Entwicklung in ihrem Kreis zu übernehmen: Zusammenkünfte, Grundkurse und Problem­ fallseminare zu organisieren und Verbindung zum Kreisarzt herzustellen. Sehr bald waren 14 Ärzte und vier Psychologen sehr engagiert als Kreisbeauftragte tätig (Ärzte: Dietze, Eymann, Kirchner, Klaus, Knappe, Peper, Reichelt, Reimann, Tausche, Tscharntke, Weber, Wichmann, Zielonka, Zschornack; Psychologen: Reimann, Wenke, Wiele, Wolf). Sie berichteten regelmäßig ausführlich in erweiterten Vorstandssitzungen bis zur Auflösung der Regionalgesellschaft im Jahre 1990 über den Stand in ihrem Territorium. Wie nicht anders zu erwarten, hing der Erfolg dieser Kreisbeauftragten weniger vom Berufsbild (Arzt oder Psychologe), sondern von der jeweiligen Persönlichkeit ab, auf die regional sehr unterschiedliche Situation mit Durchsetzungsfähigkeit und Integrationsvermögen reagieren zu können. Durch die Berichte war eine ständige Verbindung zwischen dem Vorstand und den Kreisbeauftragten gegeben. Es entstand ein vielfältiges Bild mit befriedigenden Ergebnissen bei der Durchführung von Grundkursen, Fallseminaren, AT-Ausbildungsgruppen, Interessengruppen für Verhaltenstherapie und Psychodiagnostik, der Einführung bisher nicht verwendeter Methoden in die Patientenbehandlung am eigenen Arbeitsplatz wie dynamische Gruppentherapie, Ehepaartherapie, Musiktherapie, Spieltherapie, aber auch der Erfahrung von Begrenzungen des Engagements durch fehlende Mittel und personelle ­Ressourcen, durch Desinteresse und Ignoranz. Trotz der seit 1982 steigenden Zahl angestellter Psychologen in den Jahren von 1985 bis 1987 wurde zunehmend deutlich, dass für ­Dresden eine psychotherapeutische Tagesklinik und eine Fachpoliklinik für Psychotherapie fehlen (in Leipzig vorhanden!), die ambulanten psychotherapeutischen Behandlungs­möglichkeiten in der Stadt und in den Kreisen nicht ausreichen, der Aufbau psychotherapeutischer Abteilungen in den Fachkliniken Arnsdorf, Großschweidnitz, Görlitz dringend notwendig wäre. Das vollständige Fehlen einer ambulanten und stationären Psychotherapie für Jugendliche im gesamten Bezirk Dresden wurde 1987 zwar als Notstand bezeichnet, eine Abhilfe war aber in den Planungen der staatlichen Institutionen nicht vorgesehen. Mit der Regionalgesellschaft für Psychiatrie und Neurologie gab es über Jahre hinweg, besonders 1982 und 1987, den Versuch einer Abstimmung eines gemeinsamen Verständnisses der Psychotherapie-Entwicklung im Bezirk Dresden. Hinderlich dabei war die Entscheidung der Klinik für Psychiatrie der Universität Dresden, keine eigene Abteilung für Psycho-

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therapie schaffen zu wollen. Im Entwicklungskonzept für die Neuropsychiatrie, das 1983 Bezirksarzt und Kreisarzt unterzeichneten, war die Psychotherapie institutionell fast nicht vertreten; es wurde deutlich, dass es nicht gelungen war, die Interessen der Neuropsychiater mit den Anliegen der Psychotherapeuten in Übereinstimmung zu bringen. Auch war es trotz wiederholter Bemühungen nicht möglich, neben dem Beratenden Psychiater einen beratenden Psychotherapeuten beim Bezirksarzt zu etablieren.

Die Jahrestagungen Nach der Gründungsversammlung 1979 fanden jährlich Tagungen (insgesamt zwölf) mit Themen aus den unmittelbaren Arbeitsgebieten der Mitglieder statt. Sie wurden von 80 bis 160 Teilnehmern besucht. Für ca. 70 Psychologen bestand eine Mitgliedschaft in den beiden Regionalgesellschaften für Psychotherapie und für Klinische Psychologie. Themen und Besonderheiten der Jahrestagungen waren: 1980: »Psychotherapeutische Aspekte bei der Behandlung alkoholkranker und suizidgefährdeter Patienten« (sechs Vorträge) 1981: »Psychotherapie in Gruppen« (neun Vorträge) 1982: »Verhaltenstherapie in der Praxis« (neun Vorträge); Mitgliederversammlung und Wahl eines neuen Vorstandes 1983: »Psychotherapie und Familie« (sieben Vorträge) 1984: »Musik- und Gestaltungstherapie als Bestandteile komplexer Psychotherapie« (sieben Vorträge) 1985: »Theoretische und praktische Probleme der psychosomatischen Medizin – Versuch einer regionalen Bestandsaufnahme« (18 Vorträge); gemeinsame Tagung mit der Regionalen Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie des Bezirkes Dresden 1986: »Medizinische Psychologie im Umgang mit den Patienten« (zehn Vorträge) 1987: »Problempatienten und Problemsituationen im ärztlichen Alltag« (13 Vorträge) 1988: »Das ärztliche Gespräch« (zwölf Vorträge und drei Gesprächsgruppen); gemeinsame Tagung mit der Regionalgesellschaft für Allgemeinmedizin 1989: »Angst und Psychotherapie« (neun Vorträge und ein Programm der Volkskunstbühne Dresden zum Thema »Mut zur Angst«); Mitgliederversammlung und Wahl eines neuen Vorstandes 1990: »Psychotherapeutische Probleme in der Organmedizin« (neun Vorträge und drei Arbeitsgruppen) Vor der 12. Jahrestagung (30. Mai 1990) als letzter Tagung der Regionalgesellschaft markierte eine Vortragsveranstaltung am 10. Mai 1990, von beiden Regionalgesellschaften vorbereitet, mit Carl Nedelmann, Michael-Balint-Institut Hamburg, die Nutzung der neuen Begegnungsmöglichkeiten mit den westdeutschen Fachkollegen. Er sprach zum Thema: »Die Entwicklung der Psychoanalyse in der Bundesrepublik Deutschland«. Zeitlich vorausgegangen war im Februar 1988 ein Seminar zur Transaktionsanalyse mit zwei Westberliner Psychologen und im Mai 1988 der Beginn der Psychodrama-Ausbildung in Dresden mit Jochen Gneist aus München.

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Am 17. Dezember 1990 beschloss der Vorstand die Auflösung der Regionalgesellschaft für Psychotherapie des Bezirkes Dresden in der Erwartung, dass der Teil »psychotherapeutische Weiterbildung« der Regionalarbeit von einem neu gegründeten Verein, dem Sächsischen Weiterbildungskreis für Psychotherapie, übernommen werden kann. Die bisherige gemeinsame Vertretung aller Psychotherapeuten in berufspolitischen Fragen ging dabei fast ganz verloren; einige Ärzte und Psychologen fanden sich im Berufsverband der Vertragspsychotherapeuten (bvvp Sachsen e. V.) mit Regionalgliederungen zusammen. Schon vor der Gründung der Regionalgesellschaft äußerten die späteren Kreisbeauftragten den dringenden Wunsch nach psychotherapeutischer Weiterbildung, möglichst als Wochenlehrgang, in dem die Vermittlung von Kenntnissen und psychotherapeutischen Fertigkeiten eher durch Selbsterleben als durch theoretische Vorträge erfolgen sollte. So begann die Entwicklung einer gruppendynamisch akzentuierten Weiterbildungskonzeption durch Werner Blum und Hermann F. Böttcher, die beide eine eigene Ausbildung in Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie absolviert hatten und in den Kom­ munitäten der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie als Ausbilder tätig waren. Sie konzipierten als die Leiter der beiden Regionalgesellschaften für Psychotherapie und für Klinische Psychologie die psychotherapeutische Weiterbildung in Intensivkursen für Psychotherapie I und II für Ärzte und Psychologen nach gruppendynamischen Prinzipien. Das Ziel war nicht die Vermittlung einzelner Therapiemethoden, sondern die Herausbildung eines psychotherapeutischen Verständnisses, Denkens und Verhaltens, welches das Reflektieren der eigenen persönlichen Bedingungen für die psychotherapeutische Tätigkeit einschließt. Spezielle Ziele waren: die bewusste Gestaltung der Therapeut-Patient-Beziehung auf der sozial-emotionalen und der Sachebene in Diagnostik und Therapie; das Selbsterleben verschiedener psychotherapeutischer Methoden und Strategien; die Entwicklung persönlicher Beziehungen der Kollegen untereinander zur effektiveren Zu­sammenarbeit im Territorium bei der Behandlung gemeinsamer Patienten (z. B. Arzt und Psychologe). Die Realisierung erfolgte in zwei Wochenkursen mit jeweils 40 Weiterbildungsstunden in zwei Gruppen mit je zwölf Teilnehmern, geleitet von zwei Trainerpaaren (Werner Blum und Dorothea Roloff, Hermann Böttcher und Sabine Sturm). In einer über die Jahre von 1980 bis 1988 stabilen Ausbildergruppe waren außerdem tätig: Marianne Kaltenbach, Ulrike Kitzbichler, Maria Rittmeister, Volker Bräunsdorf; Horst Schulze als Bewegungstherapeut, Axel Reinhardt als Musiktherapeut, Ortwin Klemm als Verhaltenstherapeut. Teilnehmer der Kurse waren Ärzte aller Fachrichtungen, Psychologen und Facharztkandidaten für Psychiatrie und Neurologie; für letztere war die Teilnahme am Intensivkurs I seit 1983 in den Bezirken Dresden und Cottbus obligatorisch. Das Programm umfasste psychotherapeutisches Basisverhalten (Autor: Michael Geyer), Kommunikative Bewegungstherapie, Musiktherapie, Maltherapie, Gruppengespräch und Autogenes Training im Intensivkurs Psychotherapie I und zur Vertiefung im Kurs II die Methodik der vertieften Exploration, das Selbstsicherheitstraining und die Großgruppe neben den Inhalten wie im Kurs I. Innerhalb von neun Jahren nahmen an den Kursen, die organisatorisch von der Bezirksakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Dresden getragen wurden, insgesamt 222 Ärzte und Psychologen teil.

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4.6.3 Hermann F. Böttcher und Gert Leuschner: Die Regionale Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie der Sektion Klinische Psychologie der Gesellschaft für Psychologie des Bezirkes Dresden Der Vorstand der Sektion Klinische Psychologie der Gesellschaft für Psychologie der DDR gab Ende der 1970er Jahre den Impuls, in allen Bezirken der DDR regionale Arbeitsgemeinschaften zu gründen. Basis dafür waren eine große Anzahl Klinischer Psychologen in der Gesellschaft für Psychologie und das Anliegen, ihre fachliche Kompetenz zu stärken. So erfolgte am 9. November 1979 mit einem Fachvortrag vom Vorsitzenden der Sektion Klinische Psychologie, Prof. Dr. Hans-Dieter Rösler, vor 70 Klinischen Psychologen im Festsaal der Klinik Dresden-Weißer Hirsch die Gründung der Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie des Bezirkes Dresden (RAG). Als Vorsitzender wurde auf Antrag der Dresdner Kollegen dem Statut der Gesellschaft für Psychologie entsprechend vom Vorstand der Sektion Klinische Psychologie Hermann F. Böttcher eingesetzt; mit den erfahrenen Dresdner Psychologen Maria Rittmeister, Gert Leuschner und Manfred Illing konnte sofort ein Vorstand tätig werden, der über viele Jahre die Regionalarbeit organisierte und verantwortete. Die Rahmenbedingungen der Gesellschaft für Psychologie der DDR waren für die Regionalarbeit weit gesteckt. Für eigene Initiativen des Vorstandes und der Mitglieder bestand ein großer Spielraum. Regionale Aktivitäten wurden im Interesse der Entwicklung einer Klinischen Psychologie und Psychotherapie in der Regel anerkannt und bestätigt. Charakteristisch für die territoriale Ausgangssituation war eine große Gruppe von Psychologen mit starken Weiterbildungsbedürfnissen in Klinischer Psychologie und Psychotherapie sowie großer Bereitschaft zur eigenen, konstruktiven Mitarbeit. Außerdem bestand eine 1976 gegründete Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Dresden, in der bereits viele Psychologen Mitglieder waren. Vor der Gründung der RAG fand sich schon eine Arbeitsgruppe der im Erwachsenenbereich tätigen Psychologen zusammen. Sie trafen sich in Kliniken und Polikliniken, wo jeder am eigenen Arbeitsplatz den übrigen Kollegen seine Arbeit mit den verschiedenen Problemen und Schwierigkeiten in offener und ganz individueller Weise vorstellte. In Form »klinisch-psychologischer Werkstattgespräche« entwickelte sich ein fachlicher Erfahrungsaustausch mit Verständnis für den Anderen, gegenseitiger Unterstützung bei der Beschaffung diagnostischer Materialien und Fachliteratur, Hilfe bei persönlichen Schwierigkeiten – eine vertrauensvolle Kollegialität, die eine Grundlage dafür war, dass in den folgenden Jahren eine gemeinsame Weiterbildung in der Arbeitsgruppe, in den Intensivkursen für Psychotherapie, in Problemfallseminaren möglich wurde. Nach der Gründungsveranstaltung bildeten sich drei Arbeitsgruppen, welche sich nach inhaltlich-klinischen und territorialen Betreuungsschwerpunkten organisierten: »Erwachsene im Bereich Dresden«, »Kinder und Jugendliche im Bereich Dresden« und »Psychologen im Bereich Ostsachsen (Großschweidnitz)«. Es entstanden durch Spezifizierung und Lokalisierung gute Voraussetzungen für den internen fachlichen und persönlichen Austausch. Die Treffen der Arbeitsgruppen nach jährlich aufgestellten Themenplänen bildeten für die Organisationsstruktur der RAG eine erste Arbeitsebene. Die Durchführung von Jahres-

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tagungen stellte eine zweite Arbeitsebene dar. Eine dritte Arbeitsebene umfasste die Aktivitäten zur gemeinsamen Weiterbildung mit den an Psychotherapie interessierten Ärzten in Intensivkursen für Psychotherapie I und II, die von 1980 bis 1990 jährlich im zeitlichen Umfang von jeweils einer Woche in Kooperation mit der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Dresden durchgeführt wurden. Alle Aktivitäten der RAG erfolgten unter den Leitlinien Entwicklung der Kollegialität, fachliche Weiterbildung, Vertiefung des beruflichen Selbstverständnisses als Klinischer Psychologe und besondere Aufmerksamkeit für die Zusammenarbeit mit den Ärzten, die unsere Kooperationspartner in der täglichen klinischen Arbeit sind. Damit wurde nicht nur bei den Psychologen das Verständnis für ärztliches Tun geschärft, sondern auch Ärzte erfuhren differenziert, wie Psychologen arbeiten. Es ist wohl eine Besonderheit, dass es damals gut gelang, standespolitische Differenzen im Interesse einer kollegialen Zusammenarbeit im Gesundheitswesen auszugleichen. Träger der fachlichen Weiterbildung waren in besonderer Weise die drei Arbeitsgruppen, die seit der Gründung der RAG ein eigenes fachspezifisches Profil entwickelten und ihre Aktivitäten mit eigener Leitung selbständig gestalteten. So konnten sie auch mit dem innerhalb der Gruppe gewachsenen Vertrauen ihre Arbeitsbeziehungen verbessern. Das war für uns ein hoffnungsvoller Ansatz für eine neue Art, Verantwortung zu übernehmen, sich mit eigenen Anliegen auseinanderzusetzen. Die Arbeitsgruppen trafen sich in der Regel einmal monatlich; die Rückerinnerung an die besprochenen Themen zeigt eine breit gefächerte Fülle von Themen aus den Bereichen Diagnostik, Psychopathologie, Beratung, Prophylaxe, Psychotherapie mit einer großen Teilnehmerzahl zwischen 30 und 70 Psychologen. Die jährlichen Arbeitstagungen mit insgesamt elf Veranstaltungen von 1979 bis 1990 zeichnen sich dadurch aus, dass die Vorträge von den Mitgliedern der RAG nach dem eigenen Vermögen gehalten wurden, die Mitglieder des Vorstandes und die Leiter der Arbeitsgruppen die Tagungsleitung übernahmen und die Arbeitstagung nach eigenen Vorstellungen und Konzepten in eigener Verantwortung gestalten konnten. So wurden es echte Arbeitstagungen, auf denen unsere Anliegen bestimmend waren. Beispiele für Themen der Jahrestagungen: »Probleme der Psychodiagnostik«, »Psychologische Beratung«, »Interpersonelle Dynamik und Gruppendynamik in Weiterbildung und Therapie«, »Probleme der Psychosomatischen Medizin«, »Der Klinische Psychologe in Psychiatrie und Neurologie«, »Tätigkeitsfelder und Grenzbereiche in der kinderpsychologischen Praxis«, »Psychologische Tätigkeit als theoriegeleitetes Handeln«, »Bilanz und Perspektiven der Klinischen Psychologie«. Die fünfte Jahrestagung 1984 mit dem Thema »Zum beruflichen Selbstverständnis des Klinischen Psychologen« war auch aus heutiger Sicht ein herausragender Höhepunkt im Spektrum aller Aktivitäten der Regionalarbeit. 14 Kollegen aus repräsentativen Praxisbereichen (Kliniken, Polikliniken, Beratungsstellen) berichteten sehr persönlich und offen über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu praktischen Problemen ihrer klinischen Tätigkeit, zu den Möglichkeiten einer Kooperation mit den medizinischen Fachrichtungen, zur Notwendigkeit von weiteren fachlichen Qualifizierungen, zum gesellschaftlichen Auftrag und zur Verantwortlichkeit des Klinischen Psychologen in der Gesellschaft. Sie reflektierten in einer

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nicht alltäglichen Weise die Möglichkeiten und die Grenzen des eigenen psychologischen Wirkens so, wie es bisher in der fachlich-kollegialen Öffentlichkeit nicht erfolgt war. So konnten viele jüngere Kollegen, die vom Studium an der Technischen Universität Dresden bzw. aus anderen Tätigkeitsfeldern in die klinisch-praktische Tätigkeit von Medizin und Psychotherapie gekommen waren, an der Selbstbestimmung von erfahrenen Kollegen partizipieren. Es konnte deutlich gemacht werden, wie wir als Klinische Psychologen und Psychotherapeuten immer wieder herausgefordert sind, unser Selbstverständnis und unsere Selbstbestimmung in Frage zu stellen, zu verändern und neu zu gestalten. Die dritte Arbeitsebene der Regionalarbeit war die von beiden Gesellschaften gemeinsam gestaltete psychotherapeutische Weiterbildung von Ärzten und Psychologen von 1980 bis 1990 in von erfahrenen Psychotherapeuten gruppendynamisch geführten Intensivkursen Psychotherapie I und II mit jeweils 40 Ausbildungsstunden in einer Woche. Die Selbsterfahrung in der Begegnung von Ärzten und Psychologen, die an allen Kursen gleichanteilig teilnahmen, fand in einer Atmosphäre von kollegialer Offenheit und persönlicher Nähe statt, in der kein Platz war für standespolitische Differenzen. Die personelle Situation der Klinischen Psychologie im Bezirk Dresden spiegelt sich in einigen Daten wider. So wuchs die Anzahl der Mitglieder der RAG von 70 Psychologen 1980 auf 190 Psychologen 1990. Eine detaillierte Analyse im Jahre 1987 mit 170 Psychologen ergab 71 % Frauen, 29 % Männer. 91 Kollegen waren im Dresdner Stadtgebiet, 79 Kollegen im Bezirk Dresden-Land angestellt, davon 56 % im Erwachsenenbereich. Die fachliche Herkunft war bei 45 % die Arbeitspsychologie, bei 33 % die Klinische Psychologie, bei 12 % die Pädagogische Psychologie, bei 10 % die Sozialpsychologie. 39 % waren Fachpsychologen der Medizin, 18 % hatten die Fachausbildung begonnen. Ambulant waren 73 % tätig (Polikliniken, Beratungsstellen), stationär 27 % (Fachkliniken für Psychiatrie und Neurologie, Abteilungen für Psychotherapie). Mit der 11. Jahrestagung am 12.10.1990 fand die letzte Veranstaltung der Regionalen Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie des Bezirkes Dresden statt. Der Erstautor als Vorsitzender seit der Gründung vor elf Jahren hatte nach Bilanz und Ausblick zu formulieren: »Die Gesellschaft für Psychologie der DDR hat ihren Zweck erfüllt und löst sich per 31.12.1990 auf.« Das war schon eine bewegende Stunde. Im gleichen Festsaal, in dem vor elf Jahren eine Neugründung ihren Anfang nahm, fand nun ein Abschluss statt. Entsprechend der aktuellen Situation in unserem Lande, die sich in unserer täglichen Arbeit widerspiegelte, hatten wir als Tagungsthema »Psychologische Krisenintervention« gewählt und zwei Gastreferenten aus der Bundesrepublik eingeladen – ein Zeichen für Künftiges? Die anwesenden Kollegen fragten sich wohl, welche Selbstbestimmung und welches Selbstverständnis jetzt von uns gefragt sind. Das Ende als einen neuen Anfang zu betrachten – welch eine Herausforderung an die Entwicklungsfähigkeit unserer Identität! Neue andere gesellschaftliche Verhältnisse stellten auch für den Klinischen Psychologen neue unbekannte Anforderungen, sich als Psychologischer Psychotherapeut mit Approbation für noch unbekannte Fachabschlüsse in analytischer Psychotherapie, tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie oder Verhaltenstherapie zu entscheiden, sich auf das Risiko einer selbständigen Tätigkeit einzulassen, von einer Kassenärztlichen Vereinigung vertreten zu werden ... Heute, nach 20 Jahren, schließen die Autoren den Rückblick mit »Finis coronat opus« (Ovid).

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4.6  Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und Gesellschaft für Psychologie

4.6.4 Sigmar Scheerer: Regionalarbeit der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR im Bezirk Frankfurt/Oder Vorgeschichte und Gründung Angesichts der fehlenden psychotherapeutischen Infrastruktur kam die regionale Arbeit im Bezirk Frankfurt/Oder später in Gang als in den besser versorgten Gebieten. Eine bereits 1973 aktive Arbeitsgruppe für Psychotherapie Berlin-Frankfurt/Oder blieb beschränkt auf die Durchführung wissenschaftlicher Fortbildungsabende im Hörsaal der Charité-Nervenklinik. Eine gemeinsame Tagung von Allgemeinmedizinern und Psychotherapeuten (1976) in einem ausgewogenem Verhältnis der Vortragenden aus Berlin und dem Bezirk Frankfurt/ Oder zum Rahmenthema »Psychotherapie in der Allgemeinmedizin« brachte die Regionalarbeit auch in Frankfurt/Oder in Gang, zumal die Anzahl psychotherapeutisch interessierter und tätiger Kollegen aller Fachgebiete deutlich anwuchs. So konnte 1978 auf einer Arbeits­ tagung in Beeskow auf Initiative von Maaz und Scheerer eine eigenständige regionale Arbeitsgruppe Psychotherapie im Bezirk Frankfurt/Oder (RAG) gegründet werden. Es gab nachhaltige Kontaktbemühungen mit der Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ein Vorstandsmitglied – Scheerer – war auch im Vorstand der Bezirksgesellschaft), aber auch mit den Neuropsychiatern und der Gruppe der Psychologen, die in den Krankenhäusern, Polikliniken und Beratungsstellen tätig waren. Nach zweijähriger intensiver Breitenarbeit, in der die Mitgliederzahl auf 50 erhöht wurde, wurde 1980 die regionale Arbeitsgruppe in die Regionalgesellschaft Psychotherapie (RG) umgewandelt. Die größere Zahl der Mitglieder kam aus der Allgemeinmedizin, weiterhin aus der Neuropsychiatrie, der Frauenheilkunde, Klinischen Psychologie, aber auch aus den Reihen der medizinischen Fachberufe (Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Fürsorgerinnen).

Die Breitenarbeit Die Grundkurse wurden in das Programm der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens aufgenommen. Nachdem die Seminare anfangs in 14-tägigem Abstand regional angeboten wurden, erfolgte seit 1978/1979 die Kursarbeit in dreitägigen Wochenendtreffen vorwiegend in kirchlichen Schulungs- und Erholungseinrichtungen unter Klausurbedingungen. Die Wahl dieser Einrichtungen war den dortigen guten Arbeitsmöglichkeiten geschuldet. Die anfänglich eingeführten Problemfallseminare (leiterzentrierte Gruppensupervision mit Verwendung von Patientenunterlagen und Tonbandmitschnitten) wandelten sich 1979/1980 in Balint-Gruppenarbeit um, mit freier Fallvorstellung und psychodynamischer Gruppenarbeit. Dabei wurde experimentiert: fachhomogene Zusammensetzung (Allgemeinmediziner), Balint-Gruppenarbeit mit wechselnder Leitung und Ko-Leitung, kontinuierliche Balint-Arbeit an wechselnden Orten (der territorialen Streuung der Praxisorte geschuldet). Besonders durch dreijährige Balint-Gruppenarbeit mit rotierender Leitung und Ko-Leitung und gegenseitiger Supervision in etwa 60 Doppelstunden wurden Grundlagen zur Balint-Gruppenleiter-Weiterbildung geschaffen. Große Bedeutung bekamen vierteljährliche Fortbildungsabende in einer gemeindenahen psychiatrischen stationären Einrichtung

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

mit Lesungen, in denen die vor der Wende nicht unmittelbar zugängliche Literatur (Jürg Willi, Sigmund Freud, E. Fromm, W. Schmidbauer u. a.) vorgestellt wurde. Des Weiteren wurden Therapiekonzepte wie Gruppenpsychotherapie, Psychodynamische Einzelpsychotherapie, Gestalt- und Körperarbeit u. a. vorgestellt und kritisch diskutiert. Die inhaltliche Gestaltung der Grundkurse erfuhr seit etwa 1980 Erweiterungen mit Einbeziehung medizinpsychologischer und psychosomatischer Inhalte (Coping, chronisches Kranksein, Krisensituationen, Familiendynamik), wodurch den realen Bedürfnissen in der klinischen Praxis über den Neurosenrahmen hinaus genüge getan wurde. In der Festlegung der Thematik für die jährlich stattfindenden wissenschaftlichen Tagungen seit 1978 lässt sich deutlich die Entwicklung der primär neurosenpsychologisch zentrierten Thematik auf globalere psychosoziale Themen und Grenzbereiche der Psychotherapie ablesen.

»Zusammenarbeit« mit dem Bezirksarzt Mit dem Hauptziel, die psychotherapeutische Fort- und Weiterbildung in der ärztlich-psychosozial-psychosomatischen Grundversorgung zu entwickeln, fand der Vorstand schnellen Zugang zum Fort- und Weiterbildungsprogramm der Bezirksakademie des Gesundheitsund Sozialwesens, die dem Bezirksarzt direkt unterstellt war. Als Arbeitsorte der von der Regionalgesellschaft organisierten Kurse und Seminare boten sich vorwiegend Erholungseinrichtungen der Inneren Mission wegen guter Arbeitsbedingungen für die Wochenendseminare an. Diese wurden gut angenommen. Offensichtlich im Zusammenhang mit einem Positionswechsel im Rat des Bezirkes Frankfurt/Oder in der Fachabteilung für Gesundheits- und Sozialwesen geriet die RG in »Ungnade« beim stellvertretenden Bezirksarzt ob der Arbeit in kirchlichen Einrichtungen. O-Ton des stellvertretenden Bezirksarztes: »Herr Scheerer, solange Ihre Gesellschaft die Fort- und Weiterbildungsarbeit in kirchlichen Einrichtungen durchführt, werden Sie damit nicht in das Bezirksakademie-Programm aufgenommen.« (Nach der Wende stellte dieser »Kollege« als Pharmareferent Entblähungsmittel dem damals so Gescholtenen vor, tragischkomisch. Ein Hinweis zur Vergangenheitsbewältigung mit einem Artikel von mir in den »Sozial-psychiatrischen Informationen« 3/90 unter dem Titel »Wo blieb die psychosoziale Medizin in der DDR?« beendete jäh den Kontakt.) Der Fort- und Weiterbildungsarbeit der Bezirksgesellschaft tat die o. g. Restriktion keinen Abbruch. Die Kursteilnehmer, die nun Teilnahmegebühren entrichten mussten (Veranstaltungen der Bezirksakademie waren gebührenfrei), waren offensichtlich noch mehr an der Teilnahme motiviert. Nach jetzigen Erkenntnissen gerieten der damalige Vorsitzende und damit die RG unter Observation des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). 1985 in einer Einrichtung der Inneren Mission durchgeführte Kurse und eine Vorstandssitzung wurden als Treffen der evangelischen Kirche ausgemacht. In einer von mir mitgeleiteten Balint-Gruppe befand sich eine Inoffizielle Mitarbeiterin (eine Landärztin), die uns vermutlich wegen eines Ausreiseantrages einer Teilnehmerin observierte. Die psychotherapeutische Basisarbeit schien ideologisch und sicherheitsmäßig Misstrauen und Vorbehalte auszulösen. Auch sog. staatliche Leiter – Vorgesetzte der an psychotherapeutisch-psychosomatischer Fort- und Weiterbildung interessierten Kollegen – behin-

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4.6  Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und Gesellschaft für Psychologie

derten massiv oder verdeckt diese Arbeit: Vorenthaltung von Dienstreisen, Aufforderung zur Urlaubsbeantragung und Verweigerung der Freistellung, da angeblich der Versorgungsauftrag der jeweiligen Einrichtung gefährdet war. Das Misstrauen hatte eine reale Basis: psychotherapeutisch-psychosomatische Fort- und Weiterbildung im psychodynamischen Setting hat den Aspekt eines emanzipatorischen Gegenmilieus gegen Machtausübung und rigide pure »somatische« Medizin. Die Kompetenz für die psychotherapeutische Versorgung auf Bezirksebene wurde bis zur Wende dem Bezirkspsychiater zugestanden, der einem Bezirksfachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie vorstand, in dem Psychotherapie trotz vielfacher Bemühungen »von unten« über Jahrzehnte keinen Fuß fassen konnte. Auf der Kreisebene, also näher an der Basis, konnten jedoch auch positive Einstellungen und Förderungen beobachtet und vorgefunden werden.

Zusammenarbeit mit der GÄP Die Bezirksgesellschaft für Psychotherapie Frankfurt/Oder war wie die anderen Regionalgesellschaften (RG) als Gliederung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie mit ihrer Arbeit dem Vorstand der Dachgesellschaft berichts- und rechenschaftspflichtig. Die Vorsitzenden der RG gehörten neben den Verantwortlichen der Sektionen und Arbeitsgemeinschaften dem erweiterten Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie an, in bemerkenswert demokratischen Strukturen wurden Autonomie und Eigenständigkeit gewährleistet. Ohne konzeptionelle Einflussnahme vom Vorstand wurden von einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft wissenschaftliche Arbeiten publiziert und auf den Jahrestagungen zur Diskussion gestellt: Autogenes Training in der Grundbetreuung, psychosoziale Aspekte der Arbeitsunfähigkeit, psychosoziale Aspekte des chronischen Krankseins, Einstellungs- und Verhaltensänderungen durch psychotherapeutische und medizinpsychologische Fort- und Weiterbildung, Einzel- und Gruppenpsychotherapie als Bestandteil fachspezifischer Psychotherapie, Dynamik der Schwestern-Patient-Beziehung.

Regionale Zusammenarbeit Als potentielle Partner regionaler Zusammenarbeit standen die Bezirksgesellschaft für Allgemeinmedizin, die regionale Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie sowie die Gesellschaft für Neurologie/Psychiatrie Berlin/Frankfurt/Oder zur Disposition. Mit der Bezirksgesellschaft für Allgemeinmedizin gab es durch die Doppelmitgliedschaft in beiden RG intensive Kontakte, die auch zu konstruktiver Zusammenarbeit führten. Höhepunkt war ein Seminar »Neurosenlehre, Medizinische Psychologie, Psychosomatik und Psychotherapie« für die Weiterbilder und Mitglieder der Bezirksfachkommission Allgemeinmedizin 1983 in Eisenhüttenstadt. Facharztkandidaten für Allgemeinmedizin wurde fakultativ, aber dringend ans Herz gelegt, die Grund- und Aufbaukurse zu belegen. Ende der 1980er Jahre wurde es sogar obligatorisch. Die Einbeziehung der RG in die Arbeit und das Programm der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens hatte zwei Gesichter, einmal Aufnahme der Grundkurse und Aufbaukurse, dann wiederum »Rausschmiss« aus fadenscheinigen ideologischen Grün-

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

den. Die Zusammenarbeit mit den RG Potsdam und Cottbus erfolgte durch Referentenaustausch an den wissenschaftlichen Tagungen und speziell mit den Potsdamer Kollegen durch gegenseitige Supervision in der Gruppenarbeit. Daneben wurden auch Kooperationsbeziehungen zu Kollegen des Lehrstuhls Medizinische Psychologie der Charité hinsichtlich der Supervision der Grund- und Aufbaukurse gepflegt. Naheliegend schien die Zusammenarbeit mit der Regionalen Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie. Fachliche und offensichtlich ideologische Differenzen konnten nicht überwunden werden. Hier psychodynamische, da gesprächstherapeutische (humanwissenschaftliche) und verhaltenstherapeutische Konzepte als fachlicher Hintergrund, unterlegt durch große Systemnähe Verantwortlicher der RAG Klinische Psychologie. Die Bezirksleitung der SED war nahe.

Publikationen Zum 65. Geburtstag von Kurt Höck wurde im Eigenverlag ein Sammelband zu o. g. Thematik zusammengestellt. Kurioserweise erfolgte der Druck von 100 Exemplaren in einer Druckerei der Nationalen Volksarmee, gegen das Honorar einer Flasche Schnaps – natürlich ohne offizielle Druckgenehmigung. Publikationen im »Westen« wurden staatlicherseits möglichst unterbunden. Ein schwedischer allgemeinmedizinischer Kollege, den ich 1986 auf dem »Balint-Gedächtnis-Kongress in Budapest kennenlernte, schlug ein Projekt vor, Tagebücher von Hausärzten über den allgemeinmedizinischen Alltag in verschiedenen europäischen Ländern (Belgien, Großbritannien, DDR, Schweden) zusammenzustellen. Daraus entstand eine Arbeit in der schwedischen Hausarzt-Zeitschrift »Allmän Medicin«. Die Autoren wurden explizit nicht genannt aus Rücksicht auf meine Bitte als DDR-Autor. Das Angebot des Springer-Verlages an mich, in der Buchreihe »Die Balint-Gruppe in Klinik und Praxis« mitzuarbeiten, konnte nach Antrag auf Genehmigung und dessen Ablehnung durch den Bezirksarzt nicht angenommen werden.

Das Ende der Regionalgesellschaft 1989 fand die letzte Tagung der Regionalgesellschaft ausgerechnet am Tag der Maueröffnung vom 9.–10. November 1989 in Frankfurt/Oder unter dem anspruchsvollen Thema »Die Frau als Therapeutin, Partnerin und Patientin« statt. Die RG Frankfurt/Oder und Potsdam lösten sich auf und gründeten die Brandenburgische Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie, die noch besteht. Die Cottbusser Kollegen gründeten aus der RG die Lausitzer Gesellschaft für Psychotherapie, die sich jedoch inzwischen aufgelöst hat. Aus den Fort- und Weiterbildungsaktivitäten in den drei Bezirken wurde 1990 die Brandenburgische Akademie für Psychosoziale Medizin gebildet, die sich später in Brandenburgische Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie (BATAP) umnannte und als anerkanntes Weiterbildungsinstitut etabliert ist.

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4.6  Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und Gesellschaft für Psychologie

4.6.5 Infrid Tögel: Balint-Arbeit und Versuch einer Selbsterfahrungsgruppe in Uchtspringe Balint-/Problemfallseminar Etwa um 1970 begann Harro Wendt in Uchtspringe mit der Arbeit in einer Balint-Gruppe. Eingeladen wurden alle Kollegen, die einmal in Uchtspringe hospitiert hatten. Aber die Gruppe stand auch allen anderen interessierten Kollegen offen. Die Treffen fanden in Abständen von etwa vier bis acht Wochen statt. In der Regel kamen etwa acht bis zwölf Teilnehmer zusammen. Natürlich kamen Kollegen aus der Umgebung (Gardelegen, Stendal, Salzwedel, Magdeburg). Als wie fruchtbar diese Gruppen erlebt wurden, zeigte sich darin, dass regelmäßig auch entfernt wohnende Kollegen anreisten (Schwerin, Leipzig, Jena, Dresden). Prof. Wendt änderte bald den Titel dieser Treffen in »Problemfallseminare«, weil nicht nur die Beziehung zwischen Therapeut und Patient zur Sprache kommen sollte, sondern auch diagnostische Erwägungen ihren Platz haben sollten. Dies entsprach offensichtlich seinem klinisch-diagnostischen Interesse (und hatte für die Teilnehmer das positive Ergebnis, dass Einengungen des diagnostischen Blicks überwunden werden konnten). Die Treffen liefen in der klassischen Weise ab, dass Kollegen problematische Behandlungsverläufe darstellten und dann in der Gruppe darüber gesprochen wurde. Prof. Wendt hatte stets einen erfahrenen Kollegen als Ko-Leiter dabei. Natürlich hatte er die Leitung. Seine Aufmerksamkeit war stärker auf den Fall gerichtet, der Ko-Leiter hatte stärker die Gruppendynamik im Auge. Es war (wie bekannt) immer wieder eindrucksvoll zu erleben, wie sich die Dynamik des Patienten oder die Dynamik der therapeutischen Beziehung in der Gruppe widerspiegelte. Wendt drängte darauf, dass jeweils auch eine Gesprächsaufzeichnung (also damals auf Tonband) vorgestellt wurde. Das war in sehr vielen Fällen interessant und hilfreich. Eingeschränkte oder unangemessene Wahrnehmungen des jeweiligen Therapeuten wurden oft drastisch sichtbar. So konnte auf der Aufzeichnung ein Patient von der Gruppe völlig anders erlebt werden, als ihn der Therapeut geschildert hatte. Oder der Therapeut hatte seine Haltung dem Patienten gegenüber völlig anders dargestellt, als die Gruppe dies wahrnahm. Oder auch die Dynamik zwischen Therapeut und Patient konnte sich in der Gesprächsaufzeichnung ganz anders zeigen, als der vorstellende Therapeut sie erlebt und dargestellt hatte. Das hat für alle Teilnehmer viel Gewinn erbracht, zugleich auch die Bedeutung einer Gesprächsaufzeichnung für die Selbstkontrolle erkennen lassen. Diese Balint-Gruppen (»Problemfallseminare«) hat Wendt bis zu seiner Emeritierung weitergeführt. Das Interesse der Teilnehmer daran ließ nie nach.

Versuch einer Selbsterfahrungsgruppe in Uchtspringe Als in den 1970er Jahren die Selbsterfahrungsgruppen aufkamen, unternahm Prof. Wendt auch einen Versuch mit einer solchen Gruppe. Aber er ging wohl zu »mutig« oder »voraussetzungslos« an dieses Unterfangen heran. Die Gruppe kam einmal wöchentlich zusammen – und zwar in seinem Dienstzimmer. Teilnehmer waren alle Mitarbeiter der Psychotherapie-Abteilung – angefangen von ihm als

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Chefarzt bis hin zu allen Schwestern (die allerdings in die Therapie auf der Station stets mit einbezogen waren). Offenbar um das Autoritätsgefälle etwas zu vermindern, sollten nacheinander alle Teilnehmer einmal die Leitung übernehmen. Dieser Versuch scheiterte schon bald. Außer ihm übernahmen nur die beiden dienstältesten Mitarbeiter der Abteilung einigermaßen gekonnt die Leitung; schon jüngere Kollegen fühlten sich hoffnungslos überfordert und bewältigten diese Aufgabe nicht. Der Herausforderung, in diesem Rahmen Selbstaussagen zu machen, stand die Scheu der Mehrheit der Teilnehmer gegenüber, löste bei vielen bei dem vorhandenen Autoritätsgefälle einen emotionalen Druck aus und war wohl für alle Krankenschwestern eine Überforderung. Die Hoffnung Wendts, durch das formale Arrangement der Leitung die Autoritätsschwelle zu senken, hat sich als Illusion erwiesen (er war zugleich Chefarzt der Abteilung und Ärztlicher Direktor des Krankenhauses!). Als dann die Stationsschwester dekompensierte und erkrankte (sie fiel für etwa ein viertel Jahr aus), brach Prof. Wendt das Experiment ab. Für die ärztlichen und psychologischen Teilnehmer war jedoch die Erkenntnis wichtig, welche sozialen Voraussetzungen (keine Verquickung mit dienstlichen Beziehungen, kein zu großes Autoritätsgefälle) für das Gelingen einer Selbsterfahrungsgruppe erforderlich sind.

4.7 Gisela Ehle: Zur Entwicklung des Lehrgebietes »Medizinische Psychologie« an den Medizinischen Hochschulen der DDR und sein Platz im gestuften integrativen Psychotherapiesystem Psychosoziale Einflüsse auf Verursachung, Behandlung und Verlauf von Erkrankungen wurden in den Theoriegebäuden der Heilkunde unterschiedlich gewichtet, in der ärztlichen Ausbildung kaum systematisch, eher über Vorbildwirkung des Lehrers vermittelt. Die rasante Entwicklung der naturwissenschaftlichen Grundlagen der Medizin und ihre Differenzierung in Spezialdisziplinen bergen die Gefahr, im Kranken das leidende Subjekt zu übersehen. Ein Paradigmenwandel hin zu einer humanwissenschaftlich orientierten Medizin beginnt bei der ärztlichen Ausbildung.

Hochschulausbildung Seit seinen Anfängen war das Gesundheitswesen in der DDR auf die Beeinflussung sozialer Erkrankungsursachen durch ein sich breit entwickelndes Betriebsgesundheitswesen, Jugendgesundheits- und Mütterschutz und die Betonung der Prävention fokussiert, dagegen wurden Erforschung und Beeinflussung individueller psychischer Ursachen eher vernachlässigt. An den Hochschulen waren anfangs Sozialhygiene und Arbeitsmedizin die einzigen sozialwissen­schaftlich orientierten Fächer und hatten um ihre Anerkennung zu kämpfen.

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4.7  Entwicklung des Lehrgebietes »Medizinische Psychologie«

1955 bildeten 30 Psychologen eine AG Psychologen im Gesund­heitswesen, aus der sich die Sektionen Klinische Psychologie in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP) und Medizinische Psychologie (MP) in der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie (GfPN) entwickelten. Neben der Vertretung berufsständiger Interessen verfolgten sie das Anliegen, MP im akademischen Unterricht zu etablieren sowie den methodischen und wissenschaftlichen Erfahrungs­austausch zu fördern und die Verbindung zur internationalen Entwicklung zu sichern. 1957 widmete sich eine Tagung in Leipzig der Arbeit der Psychologen in medizinischen Einrichtungen (Tagungsbericht 1957). Das Studium müsse praxisnäher auf Anforderungen in Polikliniken und Nervenkliniken vorbereiten. Psychotherapie (außer mit Kindern) sowie psychologische Zuwendung zu körperlich Kranken waren damals noch ein rein ärztliches Feld. Die in den 1950er Jahren fakultativ an einigen Hochschulen für Medizin- und Stomatologiestudenten von Ärzten wie von Psychologen gelesene MP verstand sich als eine Propädeutik für die Psychopathologievorlesungen. Seit 1964/65 waren im 4. Semester 30 Stunden Vorlesung obligatorisch für Medizin- und Zahnmedizinstudenten. »Psychologisches Grundlagenwissen stand aber zu sehr im Vordergrund, so dass die Bedürfnisse der medizinischen Praxis weitgehend vernachlässigt wurden« (Szewczyk 1981, S. 589). Durch die Ausbildungsund Erziehungskonzeption 1970 wurde stärker auf das medizinische Anwendungsfeld orientiert, seit 1969 waren die Lehrinhalte mit dem Pflichtfach Soziologie abgestimmt, welches im 6. Semester gehört und ebenfalls mit einer benoteten Belegarbeit abgeschlossen wurde. 1972 kam für Mediziner im 5. Semester eine Einführung in die Klinische Psychologie hinzu, welche in Psychiatrie geprüft werden sollte. Mitte der 1970er gründete sich ein ständiges Gremium der Hochschullehrer aus interessierten psychiatrischen Ordinarien und den Lehrstuhlinhabern für Klinische Psychologie H. Regel (Magdeburg) und H. Rösler (Rostock). Zusammen mit dem Vorstand der GÄP vertraten sie den Forderungskatalog zur besseren institutionellen Etablierung der »PsychoFächer« an den Hochschulen. Ab 1977 wurde eine anspruchsvolle weitere Hochschulreform wirksam. Sie forderte zu ausgewählten Syndromen im 5. Studienjahr interdisziplinäre Komplexvorlesungen, z. B. sollten Internist, Pathophysiologe, Psychotherapeut, Sozialmediziner sich mit dem Pharmakologen und Pathologen zum Komplex Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Stress absprechen. Dieser moderne Ansatz ließ sich nur selten gut umsetzen (Zeitaufwand, Rivalitäten). Trotz geisteswissenschaftlicher »Einschübe«, wie Vorlesungen in marxistischer Philosophie, Politischer Ökonomie und Ethik, blieb man von einem humanwissenschaftlich orientierten Paradigma weit entfernt. Als Gewinn ist zu betrachten, dass MP mit 45 Stunden nun im klinischen Studienabschnitt etabliert wurde, nachteilig jedoch, dass nur 15 Stunden Psychotherapie im Rahmen der Psychiatrievorlesung und wenige Seminare vorgesehen waren. Eine eigenständige Psychosomatik war nicht angedacht. Ob dies wegen der politischen Ablehnung des analytischen Hintergrundes oder aufgrund des Widerstandes von Hochschullehrern der traditionellen Fächer so war, ist schwer nachzuvollziehen. Medizinische Soziologie ging als Pflichtfach verlustig und wurde in die SozialhygieneVorlesung integriert. Zahnmediziner hörten im 5. Studienjahr 30 Stunden Psychologie.

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Der größte Mangel war indes, dass es keine materielle Basis für das neue Fach gab, es fehlten Mitarbeiter und Literatur. Die Aufgaben wurden von Mitarbeitern der Nervenkliniken erfüllt, unterstützt von Psychologen anderer Kliniken für die Durchführung der Seminare in Berlin und Halle/Saale. In Jena lag der Schwerpunkt der Arbeit bei den Kollegen der Psychosomatikabteilung in der Inneren Klinik, in Rostock und Magdeburg bei den Lehrbereichen für Klinische Psychologie in den Nervenkliniken. Es gab auch Zusammenarbeit für Vorlesungen mit den Sektionen für Psychologie in Berlin und Jena. 1980 vertrat die Sektion Medizinische Psychologie den Standpunkt: »Andererseits scheint die Gründung eigener Institute ohne klinisches Hinterland dem Gegenstand des Faches als nicht angemessen. Der medizinische Psychologe kann nicht nur in einem theoretischen Institut tätig sein, da sein Gebiet, wie kein anderes, sich der Begegnung und der Auseinandersetzung mit dem Patienten widmet. Diese Klinik braucht aber keine neuropsychiatrische Klinik zu sein« (Szewczyk 1981, S. 594). Gefordert wurden Dozenturen/Lehrstühle mit selbständigen Abteilungen bzw. Umwandlung der bestehenden Lehrstühle für Klinische in Medizinische Psychologie. Jedoch nur in Berlin und Leipzig wurden aus dem Bestand der Nervenkliniken eigenständige Lehrbereiche mit zwei oder drei Mitarbeitern geschaffen, in Berlin 1987 dann der erste Lehrstuhl. In Halle, Leipzig, Erfurt, Dresden und Rostock entstanden Dozenturen, besetzt entweder mit Ärzten oder mit Psychologen. Da alle Lehrenden in die klinische Arbeit eingebunden waren, kannten sie die Herausforderungen, welche sich in der Begegnung mit somatisch Kranken oder Sterbenden auftun, welche Dynamik die Arzt-Schwester-Patient-Beziehung entwickeln kann und welchen Einfluss Hierarchien in einer Klinik/Poliklinik auf Diagnosestellung und Krankheitsverlauf haben können. Auf diesem Hintergrund gestalteten Psychologen aus der Inneren Klinik, Onkologie, Gynäkologie, Pädiatrie praxisnahe Seminare. Durch ihren täglichen Kontakt gelang es, somatisch Erkrankte als Gesprächspartner im Seminar oder für Unter­suchungen zur Diplomarbeit zu gewinnen. Themenkomplexe im Rahmen der »Allgemeinen Krankheitslehre in der Grundstudienrichtung Medizin« waren: – Biopsychosoziales Krankheitsmodell, psychologische Anforderungen in der ärztlichen Tätigkeit; – Erlebnisbedingungen des Patienten, u. a. Wahrnehmung, Angst, Motivation, Gedächtnis, Lernen; – Arzt-Schwester-Patient-Beziehung in verschiedenen Praxisfeldern, Altersstufen; – ärztliche Gesprächsführung, Psychodiagnostik, Beobachtungsfehler; – wichtige Gebiete der Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie und Psychopathologie; – der Patient in der Krankheit. Rösler und Scewczyk konnten wegen langer Zeit im Verlag erst 1978 ihr Lehrbuch herausbringen, welches im deutschsprachigen Raum Verbreitung fand. Von Geyer (1985) und Fischer (1989) stammen ergänzende Bücher. MP verstand sich nicht nur als Ausbildungsfach, sondern als ein Grundlagenfach der Medizin mit integrativem Charakter. Beispiele für die Zusammenarbeit mit der GÄP ist ein

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4.7  Entwicklung des Lehrgebietes »Medizinische Psychologie«

»Material zu Basisverhalten in der ärztlichen Gesprächsführung« (Geyer 1979) mit modifizierten Basisvariablen von Rogers und Handlungsvariablen »Einfluss medizinischer Maßnahmen auf das Arzt-Patient-Verhältnis« und »iatrogene Beeinflussung der Lebensbedingungen«, welche sowohl Studenten als auch Ärzte in den Grundkursen nutzten und weiterentwickelten. Da sich die Studenten aus einem festen Seminarverband bereits kannten, konnten sie relativ angst- und schamarm über persönliche Erfahrungen sprechen (fast alle hatten ein praktisches Jahr im Krankenhaus absolviert) und bei Rollenspielen agieren. Die Lehrinhalte wurden als hilfreich für ihre Gespräche mit Patienten und zum Verständnis eigenen Verhaltens erlebt (Kuhn 1992). Studentenvertreter schlugen für eine geplante Stu­ dienreform 1992 eine fortlaufende psychologisch-psychotherapeutische Ausbildung vo 3. bis 6. Studienjahr vor (David u. Müller 1989). Seit 1982 galten einheitliche Lehrprogramme. In der Grundstudienrichtung Stomatologie mit folgenden Thenkomplexen: – psychologische Aufgaben und Probleme der stomatologischen Tätigkeit; – für Zahnärzte wesentliche Gebiete der Persönlichkeits­psychologie; – psychosomatische und neurotische Störungsbilder, Angst und Schmerz; – die Zahnarzt-Helferin-Patient-Beziehung, Besonderheiten einzelner Patientengruppen (Kinder, Prothesenträger, chronisch Kranke, Behinderte, Krebspatienten); – Gesundheitserziehung, Beratung; – Psychodiagnostik für den Stomatologen; – Gesprächsführung und psychologische Therapien (Progressive Muskelrelaxation, Prinzipien der Verhaltenstherapie). Im 5. Studienjahr haben die zukünftigen Zahnärzte zwar Problembewusstsein, jedoch sind gefestigte Einstellungen vordergründig auf handwerkliche Perfektion ausgerichtet. Gerade diese Diskrepanz zwischen Patientenbedürfnissen nach Zuwendung und technizistischem Angebot hätte in Seminaren reflektiert werden müssen. In den Diskussionen zur für 1992 anstehenden Studienreform wünschten Lehrkörper wie Studenten seminaristische Anteile und Vorverlegung in das 4. Studienjahr (David u. Müller 1989). In Leipzig und Berlin gab es interdisziplinäre Vorlesungen und gemeinsame Diplo­ mandenbe­treuung. Durch die III. Hochschulreform wurde auch für die medizinischen Berufe ab 1971 (ab 1977 obligatorisch) ein Diplom eingeführt. Während des klinischen Abschnittes war eine experimentelle oder klinisch-empirische Arbeit zu erstellen, welche von zwei Gutachtern beurteilt wurde und zum Studienabschluss zu verteidigen war. Sie nahm nicht selten den Umfang an, den früher die etwas »dünnen« medizinischen Dissertationen hatten. Das Diplom war Voraussetzung für eine spätere Dissertation, welche nun erst während der Facharztausbildung erfolgen sollte. Es ging also darum, den wissenschaftlichen Wert eines Dr. med. zu erhöhen. Durch solche Diplomarbeiten vertieften sich pro Jahr acht bis zehn zukünftige Ärzte pro Hochschule in psychologische Themen. Einige wurden später Mediatoren in ihren Fach­gebieten oder erwarben die Spezialisierung zum fachbezogenen Psychotherapeuten, manchen begegne ich noch heute in Balint-Gruppen. In der Durchführung der Examen waren die Hochschulen frei und konnten in den 14 Jahren experimentieren. Mündliche Examen waren die Regel, aber es wurde auch mit

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Multiple-choice-Fragen (Rostock), mit Klausuren oder aber mit einem Praktikumsauftrag (Berlin) für die Famulatur nach dem 3. Studienjahr (z. B. bei einem stationären Patienten Krankheitsverarbeitung und soziale Einflüsse während des gesamten Aufenthaltes dokumentieren oder Zahnarztgesprächsführung) gearbeitet. Ein Westberliner Student, der 1991 an die Ostberliner Charité wechselte, beschreibt seine Erfahrungen: »Bereits während des Studiums verdichtet sich hier der Eindruck einer mir ungewohnt weitgehenden Kongruenz von Studium, späterer ärztlichen Tätigkeit und Prüfung. Das curriculare Studium ist integrierter Bestandteil der Prüfungsvor­bereitung! Kaum trau ich’s mir zu sagen: Es hat Spaß gemacht« (Böhm, 1993, S. 264). Ausgehend vom Themenkatalog der Medizinerausbildung wurde an der Berliner Charité ab 1982 für den zweijährigen Studiengang Diplomkrankenpflege ein 75-stündiges Curriculum entwickelt. Jährlich 30 erfahrene (leitende) Krankenpfleger und -schwestern brachten hoch motiviert ihre berufsspezifische Sicht auf den Medizinbetrieb ein und veranlassten uns, die Triade Patient-Schwester-Arzt differenzierter zu betrachten und uns den psychologischen Anforderungen krankenpflegerischer Tätigkeit aufmerksamer zuzuwenden. Aus den Diskussionen mit ihnen, ihren Diplomarbeiten, entwickelten Ehle und Petzold (1987) Lehrbriefe. Für die medizinischen Fachschulen hatte König (1978) bereits ein Lehrbuch herausgegeben. Studentische Ausbildung und Facharztweiterbildung wurden in der DDR als ein zusammenhängender Prozess angesehen. An der Akademie für Ärztliche Fortbildung wurden psychologische Bildungsinhalte für die Facharztausbildung erarbeitet, deren Aufnahme in die Standards zuerst in der Nervenheilkunde, Allgemeinmedizin, Inneren Medizin, später auch Gynäkologie, Pädiatrie und Onkologie gelang. Besonders einer AG in der Gesellschaft für Allgemeinmedizin gelang medizinpsychologische Weiterbildung (Basiskurse, Problemfallseminare, Balint-Gruppen) breitenwirksam, einige dieser Kollegen unterstützten die studentische Lehre.

Standortbestimmung – Forschung und wissenschaftliches Leben Neben medizinischer Betreuung und Lehre blieb nur wenig Zeit für empirische Versorgungsforschung, welche ohne die Diplomanden und Doktoranden so auch nicht zu leisten gewesen wäre. Entsprechend weit gefächert waren die Themen – von Psychodiagnostik, Coping (Dorn 1989) über ethisch-philosophische Aussagen bis zu Gesprächsführung für Operationsvorbereitung und die Betreuung Sterbender. Vom Lehrbereich an der Berliner Charité wurden die Sammelbände »Medizinpsychologie in der ärztlichen Praxis« (Szewczyk 1988) und »Angewandte Medizinische Psychologie« (Szewczyk 1989) herausgegeben. Diese Arbeiten aus medizinpsychologischen Praxisfeldern waren selten theoriegeleitet, spiegelten eher unsere interdisziplinäre Zusammenarbeit wider. Die notwendige wissenschaftstheoretisch-methodologische Fundierung mussten die Psychologischen Institute an den Universitäten in Leipzig, Berlin und Jena leisten. Von dort kamen wichtige theoriegeleitete Beiträge, u. a. zur Persönlichkeitspsychologie somatisch Erkrankter (Schröder u. Gutke 1989), Gesundheitspsychologie (Scheuch u. Schröder 1990), zur Psychodiagnostik und Risikoforschung (Teichmann, Meyer-Probst u. Roether 1991), zur

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4.7  Entwicklung des Lehrgebietes »Medizinische Psychologie«

psychologischen Intervention (Mladek 1990). Der Lehrbereich Klinische Psychologie am Institut für Psychologie der Universität Leipzig entwickelte seinen Forschungsschwerpunkt von Kranksein hin zum Gesundheitsverhalten und zur Prävention, publizierte zwischen 1983 und 1990 in acht Heften »Beiträge zur Theorie und Praxis der Medizinischen Psychologie«. 1971 veranstalteten die drei Sektionen ein erstes Symposium mit internationaler Beteiligung in Halle »Medizinische Psychologie heute«, auf dem sie sich eigenständig gaben. Neben standardisierten Testverfahren wurden bereits erste Ergebnisse psychologischer Untersuchungen zur Krankheitsverarbeitung vorgestellt. Versorgungsforschung und theoretische Ausführungen, z. B. zur Stress- und Bewältigungsforschung, bestimmten auch die fünf Arbeitstagungen in Ahrenshoop (ab 1980 alle zwei bis drei Jahre), an welchen interessierte Zahnärzte, Soziologen, Psychologen und Ärzte aus klinischen Fächern teilnahmen. Dabei wurde deutlich, dass aus der Psychotherapie stammen­de Konzepte, wie das Abwehrkonzept, oder Tests ohne Spezifizierung oder Adaptation nicht auf körperlich Kranke übertragen werden können. Auch in den Jahrestagungen der 15 Regionalgesellschaften für Psychotherapie bestimmten medizinpsychologische Themen ab der 1980er Jahre nicht selten ein Programm. 1984 wurde in Erfurt ein Kongress mit internationaler Beteiligung »Zur Psychologie des Patienten« und 1988 in Berlin »Entwicklungslinien der Medizinischen Psychologie« vom Berliner Lehrbereich ausgerichtet. In jenem Jahr hatte ein durch das Ministerium für Gesundheitswesen initiiertes »Sommer­felder Kolloquium« den Paradigmenwechsel und ein bewusstes Einbeziehen der personalen und sozialen Dimension in die medizinische Praxis und Aus- und Weiterbildung angemahnt, deshalb hielt der Minister den Eröffnungsvortrag und versprach eine Förderung der Fächer, welche zum Paradigmenwechsel beitragen. Diskutiert wurden die Gegenstandsbestimmung und das Verhältnis der zwei Fachschaften, welche in dem interdisziplinären Arbeitsfeld kooperieren. Viele erfolgreiche Beispiele wurden gebracht, aber auch subjektive und objektive Schwierigkeiten benannt. Im selben Jahr konnte auf dem Psychotherapie-Kongress eine Wissenschaftskonzeption vorgetragen werden (Ehle et al. 1990), worin unser Fach seinen Platz innerhalb der »PsychoFächer« absteckte. Sie wurde von den beiden zuständigen Ministerien akzeptiert. Danach wird Medizinische Psychologie von der wissenschaftlichen Gegenstandsklassifikation her als eine angewandte psychologische Disziplin, vom Handlungsfeld her aber als der Medizin zugehörig aufgefasst. Sie ist damit ein Teilgebiet medizinischer Wissenschaft, in das auch ursprünglich nichtpsychologische Erkenntnisanteile integriert sind, z. B. aus der Soziologie, Psychosomatik, Ethik, Epidemiologie, Stressforschung, Immunologie, Kommunikationsforschung. Das Praxisfeld ist nicht die Tätigkeit des Klinischen Psychologen im traditionellen Sinne, sondern die volle Breite medizinischer Betreuungsleistungen in allen Fächern, beginnend bei der Prophylaxe, hinführend bis zur Rehabilitation und der Betreuung chronisch Kranker und Sterbender. Das von der Mutterdisziplin bereitgestellte Wissen und deren Methodologie haben Medizinpsychologen, das können auch Ärzte sein, auf der Grundlage der Anforderungen des medizinischen Feldes anzuwenden, zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Da

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

die Zielstellung eine Verbesserung der medizinischen Betreuungspraxis ist, steht die Qualifikation der Ausführenden, nämlich der Ärzte, Schwestern und Klinischen Psychologen, im Zentrum der Tätigkeit. Somit entwickeln Psychologen und Ärzte das Fach als interdisziplinäres Arbeits- und Forschungsfeld auf der Basis ihrer jeweils fachspezifischen Voraussetzungen kooperierend. 1988 waren bereits mehr als 50 % der Klinischen Psychologen nicht mehr in der Psychiatrie tätig, die Hochschulen hatten begonnen, sie auf das breitere Tätigkeitsfeld vorzubereiten, seit 1981 konnten sie ein berufsbegleitendes Zusatzstudium zum »Fachpsychologen der Medizin« absolvieren. Als die Wissenschaftskonzeption im November 1989 endlich von beiden Ministerien positiv beschieden wurde, lösten diese sich bald danach auf. Es wurden alle Entscheidungen an die neu zu bildenden Länder weitergereicht und bisherige Ausbildungsstrukturen, wie die Akademie für Ärztliche Fortbildung, abgewickelt. Die wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR lösten sich auf, schlossen sich an oder vereinigten sich mit entsprechenden der BRD.

Ausklang 1981 hatte Szewczyk erstmals Verbindung zur Gesellschaft für Medizinische Psychologie (GMP) aufgenommen und eine Zusammenarbeit begann, sehr eingeschränkt durch strenge Reise- und Kontaktbegrenzungen. 1984 sprach Jörn Scheer als erster westdeutscher Kollege auf unserem Erfurter Kongress über seine Untersuchungen auf einer Intensivstation. Anregend, leider schwer zu erhalten, waren für uns die Lehrbücher, welche psychologische Konzepte in das neue Arbeitsfeld transportierten und Einfluss auf die Gestaltung der Prüfungen nach dem Multiple-choice-Prinzip hatten. Erst ab 1986 durften vereinzelt Kollegen aus Hochschulen auch an Kongressen der GMP teilnehmen. Nach meiner Erfahrung trafen sich dort Medizinpsychologen und Doktoranden, kaum Ärzte oder Psychologen aus der Praxis. Dies erlebte ich als deutlichen Unterschied zu unserer Arbeit. Für mich als Ärztin war die stringente Psychologensprache eine Herausforderung und ich fragte mich, wie wohl die Außenwirkung in die Medizin sei. Die GMP verstand sich damals mehr als ein Ausbildungsfach für Medizinstudenten, hat inzwischen aber auch an vielen Universitäten Anteil an klinischer Tätigkeit über Konsultationen und Supervision. An unserer letzten Arbeitstagung in Ahrenshoop November 1990 nahm der erweiterte Vorstand der GMP teil und lud zum Gegenbesuch nach Ulm ein. Vorbereitet durch persönliche Kontakte und Besuche in verschiedenen Universitäten, wurde während einer gemeinsamen Arbeitstagung in der Charité in Berlin im Mai 1991 die Vereinigung proklamiert zur nun Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie (DGMP). Ab 1993 galt dann die Ärztliche Approbationsordnung auch im Beitrittsgebiet, unser Fach wurde in die Vorklinik zurückgezwungen und für Stomatologen nicht mehr Pflicht. Die Lehrinhalte wurden wieder an psychologischem Grundlagenwissen orientiert, welches mit dem Multiple-choice-Verfahren geprüft wurde. Aus versicherungsrechtlichen und Datenschutzgründen wurden der Zugang zu Patienten und die Zusammenarbeit mit Klinikern komplizierter, so dass eine Anwendungsforschung neu überdacht werden musste.

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4.8  Psychotherapie-Abteilungen in Versorgung und Forschung

Der Studiengang Diplom-Krankenpflege wurde 1996 abgewickelt, damit entfällt eine institutionalisierte medizinpsychologische Weiterbildungsmöglichkeit des leitenden Pflegepersonals. Eindeutig verbessert hat sich durch die einsetzende Institutionalisierung die Personalsituation und materielle Ausstattung sowie das Lehrbuchangebot. An allen Universitäten entstanden Institute, auf deren Lehrstühle Psychologen berufen wurden. Forschung findet nicht mehr neben der Lehre statt, sondern es sind anspruchsvolle klinisch eingebundene Projekte oder Grundlagenforschung. Dadurch konnte sich die Stellung des Fachgebietes im Kanon der vorklinischen Fächer festigen und es konnte Beiträge zum humanwissenschaftlichen Paradigma der Medizin liefern.

4.8 Die weitere Entwicklung ambulanter, stationärer und tagesklinischer Psychotherapie-Abteilungen in Versorgung und Forschung 4.8.1 Das Haus der Gesundheit Berlin in den 1970er Jahren 4.8.1.1 Helga Hess: Die Herausbildung eines Institutes für Psychotherapie und Neurosenforschung (IfPN) mit Integration der Ambulanz, Klinik und Forschung Im Berliner Stadtbezirk Mitte, am Alexanderplatz, steht ein heute eher unscheinbares fünfgeschössiges Haus, das Haus der Gesundheit. Vom »großen Gruppenraum« im 5. Stock konnte man die Silhouette des Roten Rathauses sehen. Hier fanden – im Raum nebenan – unter den mehr oder weniger strengen Blicken der Bilder von Freud, Schultz-Hencke und Pawlow – die Dienstbesprechungen statt. Dieser fünfte Stock wirkt von hier aus wie eine Kommandobrücke eines großen Schiffes. Anfangs umfasste diese Etage als psychotherapeutische Abteilung die Ambulanz. In den 1970er Jahren entwickelte sich dieser 5. Stock zum Hauptsitz des Institutes für Psychotherapie und Neurosenforschung: Ambulanz, Klinik Hirschgarten und eine Forschungsabteilung gehörten dazu; weiterhin die praktische Ausbildung von Ärzten zum Facharzt für Psychotherapie sowie von Psychologen zum Fachpsychologen der Medizin. Zeitweilig waren es 19 »Hochschulkader«. Das Institut verstand sich als integratives Projekt: Diagnostik und Therapie wurden beforscht, ambulante und stationäre Therapie gingen ineinander über, Ärzte und Psychologen wechselten ihre Arbeitsorte und -tätigkeiten zwischen der Ambulanz, der Klinik oder auch Forschung bzw. waren in allen drei Bereichen zu Hause. Die Herausbildung dieses Institutes war von den offiziellen Strukturen her gar nicht möglich: Angebunden an eine poliklinische Abteilung (Stadtbezirks Mitte) war eine Klinik eines anderen Stadtbezirkes (Stadtbezirk Köpenick) und integriert in beides war eine Forschungsabteilung auf Hochschulniveau. Es war von Kurt Höck ein Husarenstück oder wie

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Christoph Seidler es mehrfach charakterisierte, dies war das Stück Ganove in Kurt Höck. Er machte das Unmögliche möglich aufgrund seiner »Vision«, seiner Hartnäckigkeit und Zähigkeit, auch aufgrund seiner relativen Angstfreiheit gegenüber staatlichen Stellen. Er war Leiter des Institutes bis zum Jahre 1987. Danach übernahm Christoph Seidler das Institut bis zu seiner Auflösung im Jahre 1991. Oberärzte waren: Johannes Burkhardt, Werner König, Uwe Keßling, Wolfgang Kruska, Monika Kneschke, Christoph Seidler. Sie waren zeitweilig auch Oberärzte im stationären Bereich und gründeten später zumeist eigene Psychotherapie-Abteilungen. Langjährig als klinische Psychologen gehörten, Helga Petzold, Gerdi Zeller und ich selbst als klinische Psychologen dazu, sowie Michael Froese und Christa Ecke, die als Sozialpsychologen aus Jena kamen. Eine wichtige Wurzel war Ehrig Wartegg. Über den Beginn, Struktur und Arbeitsweise der Abteilung berichteten ausführlich Kruska (1979) sowie Seidler et al. (1989).

Die ambulante Abteilung Wöchentlich hatte das IfPN ca. 50 Neuaufnahmen, d. h. jährlich über 2500 Patienten zu versorgen. Sie kamen aus allen Stadtbezirken von Großberlin. Es zeigte sich, dass ca. 80 der Patienten mittels sog. kleiner Psychotherapie behandelt werden konnten, 20 bedurften einer spezielleren Psychotherapie. Alle Patienten wurden nach der E I (Exploration I) in der wöchentlichen Oberarztvisite als Fallbericht vorgestellt. Die diagnostische Zuordnung erfolgte nach der Definition und Klassifikation der Neurosen (s. König, das abgestufte System). Die therapeutische Zuordnung erfolgte nach symptomzentrierter oder persönlichkeitszentrierter (tiefenpsychologischer) Therapie entsprechend dem abgestuften System der Diagnostik und Therapie neurotisch-funktioneller Störungen (siehe König). D. h., zugleich nach der E I erfolgte gegebenenfalls eine E II, vertiefte Diagnostik (LUF, 470-F-Test) und biographische Exploration einschließlich Pathobiogramm nach di Pol. In der Ambulanz erfolgte einerseits eine symptomzentrierte Therapie, d. h. die Behandlung mit Autogenem Training und einigen Einzelgesprächen, dann jedoch die Durch­ führung von Spezialgruppen sowie die Vor- und Nachbehandlung mit persönlichkeitszentrierter – intendierter dynamischer – Gruppenpsychotherapie. Einzelgespräche fanden im Rahmen diagnostischer Abklärung, bei spezifischen Problemsituationen bzw. nach erfolgter Gruppenpsychotherapie statt. Die AT-Gruppen bestanden aus bis zu 25 Patienten, wurden relativ klassisch nach J. H. Schultz durchgeführt. Zur »Pawlow-Zeit« erfolgte eine Lautsprecherbeschallung, jetzt jedoch schließlich ein lautloses, gemeinsames Üben, Erklärung psycho-physischer Zusammenhänge, Diskussion, Beispiele und jeweils Rückmeldung über Erfolge und Misserfolge. Es entstanden meist eine gute Gruppenatmosphäre und Therapiemotivation, so dass bereits hier auch die primären Gruppenwirkmechanismen zum Tragen kamen. Autogenes Training stellte zugleich – im Sinne der Einsatzbereitschaft und Motivation – eine Siebfunktion für weiterführende belastende persönlichkeitszentrierte Gruppenpsychotherapie dar. Da das Autogene Training sowohl in der psychotherapeutischen Grundversorgung als auch im Haus der Gesundheit bei dem überwiegenden Teil der Patienten eine große Rolle

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4.8  Psychotherapie-Abteilungen in Versorgung und Forschung

spielte, widmete sich Werner König speziellen Fragen, die mit dieser Methode zusammenhingen. Bereits in den 1960er Jahren diskutierte er die Frage der Methodenkompatibilität z. B. im Rahmen analytisch orientierter Gruppenpsychotherapie (König 1967), widmete sich 1973 dem Problem des Autogenen Trainings in offenen gestuften Gruppen (König 1973). Gemeinsam mit G. di Pol und G. Schaeffer gab er ein Buch zum Autogenen Training einschließlich einer Patientenfibel heraus (1979). Weiterführend behandelte König die Frage der Indikation zur Hypnotherapie (1978). Weitere Untersuchungen erfolgten in den 1980er Jahren durch Eckert (1987), Eckert und Katzberg (1987) Eckert, Katzberg und Müller (1987). In Letzterer wurde mittels Pfadanalyse sehr differenziert den Wirkbedingungen des Autogenen Trainings nachgegangen. Katzberg, Müller, Neumann, Siedt und Seidler verglichen entspannungsorientierte Psychotherapiemethoden (1987).

Persönlichkeitszentrierte Therapie Für diese Patienten erfolgte eine vertiefte, biographische Exploration, eine E II von zwei Stunden Dauer. Während anfangs – vor Eröffnung der Klinik 1964 – ausschließlich ambulante Gruppen wie auch analytische Einzelsitzungen durchgeführt wurden, wurden jetzt die Patienten für eine stationäre Gruppenpsychotherapie im Rahmen des ambulant-stationärambulanten Fließsystems vorbereitet. Alle zwei Wochen wurde in der Ambulanz eine neue Gruppe für die stationäre Behandlung in Berlin-Hirschgarten zusammengestellt, d. h., 12 bis 14 Patienten wurden aus ca. 100 Neuanmeldungen für diese Behandlung herausgefiltert und für diese Therapieform motiviert. Dabei übernahm in der Regel der Psychologe oder Arzt, der sich jeweils zwei aufeinanderfolgende Gruppen zusammenstellte, die Explorationen, um den zu behandelnden Patienten von Beginn an zu kennen und ihn bis zum Ende der Behandlung (d. h. auch während und nach der stationären Therapie) zu begleiten. Jeder Therapeut ging mit zwei Gruppen – zeitversetzt um 14 Tage – in die Klinik, d. h., er war im Jahr acht Wochen dort tätig, arbeitete ein Jahr lang mit diesen Gruppen dann in der Ambulanz, wöchentlich je eine Sitzung von 90 Minuten. Neben diesen Gruppen hatte jeder eine etwa vielfache Anzahl von Patienten im Rahmen der symptomzentrierten Therapie zu versorgen, d. h., Gruppen mit Autogenem Training, Einzelgespräche zu führen und sich Forschungsaufgaben zu widmen.

Spezialgruppen In den 1970er Jahren wurde das ambulante Therapieangebot erweitert, indem weitere »moderne« Gruppenverfahren überprüft und zum Teil eingeführt wurden. Dies betraf die Gesprächstherapie (Petzold), verschiedenen Formen der Verhaltenstherapie (Zeller) sowie die Paartherapie (Schwarz, Kruska, Ecke). Reine Frauengruppen wurden durch Ecke, ­Kneschke und mich durchgeführt (s. a. } Abschnitt 4.11). Dies entsprach einerseits dem Frauenüberschuss in der Klientel, andererseits der Frage der gesellschaftlichen Veränderung der Rolle der Frau. Speziell mit der Leitung von Jugendlichengruppen, d. h. jungen Erwachsenen, beschäftigte sich Seidler (} Abschnitt 4.8.1.2). Diese Gruppen wurden zugleich meist beforscht.

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Die ambulanten Vorbereitungsgruppen für stationäre Psychotherapie Vier Wochen bevor ein Therapeut mit seinen Patienten in die Klinik »zog«, arbeitete er mit seiner zukünftigen Gruppe bereits ambulant. Dies entsprach inhaltlich der Anwärmphase im Therapieverlauf. Vor Beginn der stationären Therapie sprangen durchschnittlich ein bis zwei Patienten noch »aus dem Boot«, während der Therapie noch ein Patient pro Gruppe.

Die ambulante Nachbehandlung Sie begann im Anschluss an die sechswöchige stationäre Therapie weiterhin in geschlossener Gruppenform bei demselben Therapeuten. Wie wir zeigen konnten (Hess 2001, Keßling 1981), erfolgte durch dieses weitere Jahr ein Transfer des Erreichten in den sozialen Raum. Gegenseitige Erfahrungen aus der Klinik bildeten oftmals ein anschauliches Modell für Schwierigkeiten im Alltagsleben und konnten daher häufig einen bildhaften bzw. symbolhaften Schlüssel bei wiederauftretenden Schwierigkeiten geben. Der testdiagnostisch erfasste Therapiegewinn unmittelbar nach dem sechswöchigen Aufenthalt verbesserte sich erheblich nach dieser ambulanten Erprobungs- bzw. Bewährungszeit.

Die Ausbildung in der Ambulanz Die Ausbildung zum Facharzt für Psychotherapie bzw. Psychologischen Psychotherapeuten erfolgte unter Supervision eines Ausbildungsleiters vorzugsweise durch Hospitation – z. B. bei Explorationen, im Autogenen Training, in der Psychodiagnostik; weiterhin durch Einführung in die Rolle eines Ko-Therapeuten in der Gruppenpsychotherapie sowie durch eigene supervidierte Tätigkeit mit jeweils anschließender Auswertung. Theoretische Kenntnisse erwarben die Kandidaten auf entsprechenden Weiterbildungstagungen und Ausbildungsseminaren. Dieser Ausbildung parallel bzw. vorangehend verlief die Ausbildung in Selbsterfahrungsgruppen.

Die psychotherapeutische Klinik Berlin-Hirschgarten Die Klinik lag südöstlich in Berlin im Stadtbezirk Berlin-Hirschgarten in der Wißler Straße 19 an der Spree. Es war eine Villa, ursprünglich wohl von der UFA, zu deren Instandsetzung 1964 sowohl wir Mitarbeiter der Psychotherapie als auch die Verwaltung der gesamten Poliklinik selbst noch etliche Steine geklopft haben. Dafür hatten die Patienten einen wunderbaren großen Speiseraum erhalten mit Blick auf die Spree, ein Steg lud zum Schauen, Verweilen und Träumen ein. Ein Gartenhaus enthielt im Parterre den großen Raum für Gestaltungs- und Bastelarbeiten, im ersten Stock die zwei Gruppenräume. Im Haupthaus befand sich Küche, Speisesaal, ein weiterer Gruppenraum mit einer Einwegscheibe für Hospitanten, Sekretariat und ein Dienstzimmer. Die Schlafräume für die Patienten waren Einbis Vier-Bett-Zimmer, sie befanden sich in den oberen Stockwerken. Das Grundstück lag recht romantisch, hatte seitlich eine künstliche Grotte, vor der in den Anfangszeiten Märchen unter Anleitung von Dr. Gudrun Israel gespielt wurden. In der Mitte der Wiese stand

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4.8  Psychotherapie-Abteilungen in Versorgung und Forschung

ein Springbrunnen. Am gesamten Ambiente hätte sogar ein C. G. Jung seine »Freud« gehabt. Das von Kurt Höck gesuchte und gefundene Grundstück entsprach durchaus seinem »Traum«, den »Ferien vom Ich« von Paul Keller, das für ihn bei der Gestaltung der Klinik Pate stand. Es war groß genug, damit außer den Gruppengesprächen Platz für Tätigkeiten da war, für die Arbeitstherapie mit der Anlage eines Gartens, für den Sport, für die Errichtung einer Kegelbahn, Platz für die Gestaltungstherapie. Für die Kommunikative Bewegungstherapie wurde später noch eine große Baracke aufgestellt.

Die Therapeutische Gemeinschaft Die Klinik enthielt 28–30 Betten. Die Belegung erfolgte durch drei Gruppen, geschlechtsund überwiegend altersgemischt, die in jeweiligem zeitlichem Abstand von 14 Tagen aufgenommen wurden. Die Gruppenpsychotherapie fand täglich einschließlich sonnabends für 60 Minuten statt. Die Klinik wurde nach dem Prinzip der Therapeutischen Gemeinschaft nach Enke mit seinem bipolaren Ansatz geleitet, d. h., administrative und therapeutische Aufgaben wurden getrennt. Es gab eine Hausordnung mit festen Regeln. An diese hatten sich sowohl Mitarbeiter als auch Patienten zu halten. Das Organ der Therapeutischen Gemeinschaft war die strukturierte Großgruppe, die einmal wöchentlich mit allen Klinikangehörigen (Patienten und Personal) tagte. Leiter der Großgruppe war ein gewählter Patient sowie ein gewählter Patienten-Stellvertreter. In dieser strukturierten Großgruppe fand eine Auswertung aller drei – ebenfalls innerhalb der einzelnen Gruppe gewählter – Gruppensprecher statt hinsichtlich der Entwicklung der Gruppe und der Einzelnen mit anschließender freier Diskussion. Es wurde auch eine Beurteilung über die Therapeuten abgegeben. Disziplinverstöße (aller) wurden in diesem Gremium verhandelt. Die Leitung der verantwortlichen Positionen war bewusst flexibel gestaltet. Neben dieser strukturellen Großgruppe fand wöchentlich einmal eine unstrukturierte Großgruppensitzung von 90 Minuten Dauer statt. An dieser nahmen nur die drei Gruppen und ihre Therapeuten teil. Sie erfolgte nach den bekannten Prinzipien unstrukturierter Großgruppen und diente vorzugsweise der Begegnung der drei Gruppen untereinander.

Die Therapien Die stationäre Psychotherapie war einem biopsychosozialen Verständnis des Menschen und seiner Störungen verpflichtet. Sie ruhte daher auf mehreren Säulen, die vorzugsweise den psychischen, dann aber auch den sozialen Aspekt berücksichtigten. Dabei lag ein wesentliches Augenmerk auf dem Begriff der Tätigkeit, die sich sowohl als intrapsychischer Vorgang, dann aber auch als interaktioneller Vorgang der Subjekt-Objekt-Vermittlung verstand. Dies betraf vorzugsweise Vorgänge in der Gruppenpsychotherapie mit seiner verbalen Äußerungsform, nachfolgend die Kommunikative Bewegungstherapie mit ihrer nonverbalen Möglichkeit eines »Selbstverständnisses« emotionaler Erlebnisweisen, die Regulative Musiktherapie mit ihrer unterschiedlichen affektiven Berührung, die Arbeitstherapie mit dem Aspekt der Verdinglichung interaktionellen Tuns, dies zugleich als motorischer Handlung, ähnlich dem Sport mit seinen verschiedenen Facetten.

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Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie war Kernstück der Therapie, deren Handschrift Kurt Höck trägt. Er postulierte für seine Konzeption charakteristische Thesen (Höck 1977, 1981a). Sie betreffen die Charakteristik und das Verständnis des Phasenverlaufs, das zielorientierte (intendierte) Therapeutenverhalten und den qualitativen Umschlag von der Vorarbeits- zur Arbeitsphase im Rahmen des sog. Kippprozesses, d. h. über die Auseinandersetzung mit dem Therapeuten. Hiermit verlagert sich zugleich die Interaktionsebene vom anfänglich bevorzugten »hic et nunc« zur stärkeren Einbeziehung und Bearbeitung des »dort und damals« bzw. »dort und dann« in der Arbeitsphase. Die »Ergänzungsmethoden« zur Gruppenpsychotherapie umfassen im motorischen Handlungsvollzug zugleich auch einen biologischen Aspekt in unterschiedlichem Ausmaß. Konzeptionell wurden die Methoden so eingesetzt, dass sie den Therapieprozess intensivieren, d. h. sich gegenseitig ergänzen. Auch hier erfolgten entsprechende Untersuchungen z. B. von Petzold hinsichtlich der Musiktherapie (Petzold 1982), Höck (1969) und Kneschke (1988) hinsichtlich der Arbeitstherapie, so dass der phasische Gruppenverlauf zielgerichtet unterstützt werden konnte. Während die Kommunikative Bewegungstherapie und auch die Musiktherapie hinsichtlich ihrer psychotherapeutischen Potenzen und Einsatzmöglichkeiten sehr eingehend untersucht waren, war derzeit die Aufbereitung der Arbeitstherapie als sinnliche Tätigkeit m. E. methodisch und praktisch erst unzureichend ausgearbeitet. Es gibt aus der Tätigkeitstheorie von Leontjew einen wichtigen Hinweis, den der Subjekt-Objekt-Vermittlung durch Tätigkeit (Busse 1979, S. 83), wonach Bezogenheit sich über das gemeinsame Tun herausbildet. Der sinnlich-motorische Austauschprozess sei es zugleich, der uns forme. Zwei Psychotherapeutinnen haben diesen Aspekt auch therapeutisch aufgegriffen: Gretl Derbolowski berichtete auf dem 1. Symposium für Gruppenpsychotherapie 1966 über die (Material-)Bemächtigungstherapie (1967) und auch bei Hanna E. Schumann und W. Schumann (1989) klingt dieser Aspekt der Verdinglichung im Konzept Integrativer Methodik (KIM) mit an. In der Klinik Hirschgarten wurde auch die Arbeitstherapie entsprechend den Phasen der Gruppenentwicklung gestaltet, um auch kommunikative Verzerrungen und Störungen zu beachten bzw. zu behandeln. K. Höck und M. Kneschke (Kneschke 1988) erarbeiteten einen Katalog zur Analyse der Tätigkeiten sowie eine Ratingskala zur metrischen Einschätzung der Arbeitstätigkeiten durch die Patienten. Hierbei spielten neben der Erfassung kreativer Aspekte Gesichtspunkte der Arbeitspsychologie eine Rolle. Insgesamt sei durch die Form der Arbeitstherapie die beim Neurotiker mangelhaft vorhandene Aktivität gefördert worden, die notwendige Eigenständigkeit im Sinne bewusster Verantwortung anstelle der neurotischen Umweltabhängigkeit unterstützt bzw. durch Kooperationsanforderungen der Gruppenmitglieder untereinander vor allem auch die notwendige Umweltbezogenheit begünstigt. Anliegen der sechswöchigen stationären Therapie war es, Patienten einer jeweiligen Gruppe über die verschiedenen Entwicklungsphasen zu einer kohäsiven, arbeitsfähigen Gruppe zusammenzuführen, um dann in, mit und durch die Gruppe und deren Tätigkeit die Fehlhaltungen, Fehleinstellungen etc. zu bearbeiten und zu verändern. Die Gruppe sollte zugleich befähigt werden, gemeinsam mit dem Therapeuten ein Jahr lang ambulant weiterarbeiten zu können. Mit der wechselseitigen Durchdringung der einzelnen biopsycho-

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4.8  Psychotherapie-Abteilungen in Versorgung und Forschung

so­zialen Therapieebenen in der Klinik Hirschgarten befasste sich insbesondere M. Kneschke (1991).

Visiten, Abendgestaltungen, Besonderheiten Zur Therapieordnung gehörte, dass die Patienten einen unsystematischen, »emotionalen« Lebenslauf schrieben und täglich Tagebuch führten. In dieses Tagebuch waren auch ihre Träume, Gedanken, Gefühle einzutragen. Die Tagebücher wurden frühmorgens abgegeben und lagen den Mitarbeitern am Morgen vor und wurden gelesen. Anfangs malten die Patienten ihre Träume. Der Chefarzt der Klinik führte wöchentlich einmal eine Visite in der Klinik durch, bei der er sich die Zeichnungen der Träume – jeweils am Bett jedes Patienten – in dessen stehender Gegenwart – ansah. So war auch immer ein individueller Kontakt möglich. In späterer Zeit wurde diese Visitenform abgelöst durch die Teilnahme des Chefarztes an den drei Kleingruppensitzungen sowie an der Großgruppe. In den ersten Jahren der Klinik Hirschgarten fanden durch das Engagement von Dr. med. Gudrun Israel Singeabende bzw. Tanzabende zum Erlernen des Tanzens für die Patienten statt. Bemerkenswert und nicht nur diagnostisch aufschlussreich waren die von ihr veranstalteten Märchenspiele im Rahmen der Gruppenarbeit. Späterhin wurde dies abgelöst durch das Handpuppenspiel in Anlehnung an Lehmann aus der Klinik in Neubrandenburg, Während beim Handpuppenspiel noch ein Übergangsobjekt dazwischengeschaltet wurde, erfolgte beim abendlichen Konfliktspiel ein direktes Agieren zwischen meist zwei, manchmal auch mehreren Personen. Die Gestaltung der Abende lag zum großen Teil in den Händen der einzelnen Gruppen. Jede Gruppe konnte hier den Inhalt der Abendveranstaltung festlegen. Kurzurlaube fanden zu Feiertagen statt bzw. gegen Ende der Therapie für einzelne Pa­tienten zur Klärung bestimmter häuslicher Fragen. Zu Silvester wurden die Patienten – zu ihrem eigenen Schutz – nicht beurlaubt. Der Abschluss der stationären Behandlung wurde im Rahmen der unterschiedlichen Therapien vorbereitet. Hier spielte insbesondere auch die Kommunikative Bewegungstherapie eine wichtige Rolle. Sehr wichtig, kooperativ und klärend waren die täglichen Teambesprechungen aller Mitarbeiter unter dem jeweiligen Oberarzt, so dass fachliche Kompetenzprobleme abgefangen werden konnten. Dadurch konnten vor allem immer wieder sich einstellende Splittingphänomene im Team aufgrund der Spiegelfunktion der Gruppenentwicklung bearbeitet werden.

Die Forschung des Institutes Die Forschung des Institutes wurde durch die Eingliederung in das Projekt des Ministeriums für Gesundheitswesen »Psychonervale Störungen und Krankheiten« zunehmend zielgerichtet betrieben. Ab 1972 wurde ich Oberassistentin der Forschung und damit verantwortlich für die Projektarbeit und – unter Federführung von Kurt Höck – für die Betreuung von Diplomarbeiten und meisten Dissertationen. Die Abteilung wurde zur Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung. Unter Einbeziehung der Klinik ernannte Höck ab1980 den

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Gesamtkomplex zum Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung – Berlin (IfPN). Nach der Erlangung einer Dozentur an der Akademie für Fortbildung von Kurt Höck im Jahre 1978 wurden in der Folgezeit sieben medizinische Diplomarbeiten sowie neun medizinische Doktorarbeiten auf dem Gebiet der Psychotherapie betreut. Innerhalb der Abteilung bzw. des Institutes entstanden neben zahlreichen Veröffentlichungen weitere sechs Dissertationen (Hess 1976; Froese 1981b; Keßling 1981; Kirchner 1981; Doehler 1990) sowie drei Habilitationsarbeiten (Promotion B) (Höck 1977; Hess 1986; Seidler 1990). Die Entwicklung und die Forschung des IfPN ist nicht ohne den ständigen Austausch sowohl im Sinne von Ost-West-Kontakten als auch innerhalb der sozialistischen Länder denkbar. Enke und ich (Hess u. Enke 2006; Hess 2007) berichten hierüber, sie spielen insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung der Gruppenpsychotherapie eine Rolle. Schwerpunkt der Forschung in den 1970er Jahren bildeten auf der Basis der Vorarbeiten in den 1960er Jahren die beiden Forschungsprojekte: 1969–1975: Themenkomplex: Funktionelle und psychisch bedingte Störungen im Krankengut des ambulanten Gesundheitswesens, Projektleitung: Prof. Karl Leonhard, Prof. Wünsche, Prof. Kohler. 1976–1980: Themenkomplex: Erprobung in der Basisversorgung und Aufbau einer spezialisierten Psychotherapie, Projektleitung: Prof. Dr. Weise. Neben den in den Forschungsprojekten verankerten Themen beschäftigte sich die Abteilung entsprechend mit theoretischen Fragen (Froese), mit der Mitarbeit an einer Herzinfarktstudie (Hess) an der Charité (unter Prof. Dutz), weiterhin mit Untersuchungen zum Heuschnupfen (Hess), epidemiologischen Untersuchungen (Hess 1980), mit Arbeitsunfähigkeit (Hess u. Kasten) sowie Untersuchungen zur Sexualität und Schwangerschaft (Hess u. Höck).

Zu den Ergebnissen dieser Periode – Forschung im Rahmen der Basisversorgung und speziellen Psychotherapie – Entwicklung von Screeningverfahren der Neurosendiagnostik Der Beschwerdenfragebogen (BFB) von Höck und Hess basierte auf einer Symptom- bzw. Beschwerdensammlung aller fachärztlichen Abteilungen (einschließlich Zahnärzte) der Poliklinik Haus der Gesundheit, die auf ihre Neuroserelevanz überprüft wurden. Er wurde nach allen teststatistischen Kriterien an über 2500 Personen entwickelt und enthält drei ­Ausführungen, eine sehr praktikable Ja-Nein-Version für unspezifische Fachabteilungen, eine skalierte Form für Psychotherapie-Abteilungen und eine offene Form für individuellen ­Einsatz. Der BFB-A eignete sich zugleich sehr gut als übersichtliche Basisdokumentation insbesondere für den praktischen Arzt und Facharzt, bei denen meist der Erstkontakt mit Patienten überhaupt erfolgt. Aus dieser relativ umfassenden Beschwerdendokumentation ergab sich für den Arzt auch eine gute Zusammenschau über Beschwerden unterschiedlichster Organbereiche. Der BFB war in der DDR durch seine Praktikabilität sehr verbreitet. So erfolgte der praktische Einsatz an über 30.000 und mehr Patienten bzw. Personen. Durch die

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Veränderung des Krankengutes seit nunmehr 40 Jahren wurden die jetzt oft dominanten Essstörungen nicht erfasst. Literaturangaben zum Einsatz des BFB finden sich unter Höck, Hess 1982 sowie Hess 1986. Der Verhaltensfragebogen (VFB) von Höck und Hess ergänzte den BFB um Reflexionen über Verhalten, Empfinden und Erlebnisweisen. Er entstand in Anlehnung an den MMQ bzw. MPI von Eysenck, besteht aus 72 kurzen Fragen, darunter zwölf sog. Lügenitems (im Sinne sozialer Erwünschtheit) und dementsprechend einer Korrekturskala. Die Fragen sind mit »Ja« oder »Nein« anzukreuzen. Auch hier sind umfangreiche Stichproben von insgesamt über 3000 Personen unterschiedlichster Facharztbereiche zur Testkonstruktion herangezogen worden. Die Anwendung beider Verfahren, des BFB und des VFB, erhöht die Screeningmöglichkeit. Diese Bögen, insbesondere der Beschwerdenfragebogen, diente in seiner zugleich übersichtlichen Symptomerfassung als Basis für umfangreiche epidemiologische Erhebungen verschiedenster Arztbereiche, Bevölkerungsstichproben (z. B. in der Stadt Schwedt), in Großbetrieben, im Kur- und Bäderwesen, für langjährige Saunapatienten. Somit konnten Aussagen zur Morbidität neurotisch-funktioneller Störungen gemacht werden (Hess 1980). Gemeinsam mit Schulze wurde eine Untersuchung an Fluglotsen unter arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten vorgenommen. Es wurden Bandarbeiterinnen (Schumacher) und Lehrer (Bunge) hinsichtlich ihrer beruflichen Gefährdungen hiermit erfasst. Auch innerhalb klinischer Stichproben leisteten die Verfahren eine gute Differenzierung und wiesen vor allem darauf hin, dass unter den Kurpatienten ein deutlicher Anteil neurotisch auffällig ist, dass daher die Kureinweisung fehlindiziert war bzw. eine zusätzliche Psychotherapie notwendig erscheint (Erbe, Hess). Auch der Beschwerdenfragebogen für Kinder und Kleinkinder (BFB-K und KK) von Höck, Hess und Schwarz zeigt sich als nützlich für die Ermittlung von schulischen Problemkindern (s. Hess u. a. Kinderabteilung HdG in diesem Band).

Differentielle Persönlichkeitsdiagnostik – Der 470-F-Test, eine verkürzte und adaptierte Form des MMPI-Saarbrücken Dieser Fragebogen spielte – trotz zunehmender Kritik aufgrund seiner eigenschaftszentrierten, auf Kraepelin’scher Theorie fußender Ausarbeitung – eine wesentliche Rolle bei der strukturellen Persönlichkeitsdiagnostik. Als 470-F-Test ermittelten wir neben den klinischen Standardskalen weitere im Testhandbuch angegebenen Skalen (Angst [A], Abhängigkeit [Dy], Emotionale Labilität [Em], Führungseigenschaften [Lp] sowie Alexithymie) und eichten sie an unserer Stichprobe. Des Weiteren entwickelten wir zwei neue Skalen, eine Skala zur Abschätzung des Ausmaßes der neurotischen Störung überhaupt, die GN oder Globalneurose-Skala (Hess, Höck u. Küstner 1976) sowie eine Skala zur Differentialdiagnostik sexueller Einstellungs- und Verhaltensweisen bei Frauen, die H0-Skala (Hess 1989). Die Faktorenstruktur ergab für unsere Klientel vier Faktoren: emotionales Defizit (in der Kindheit), narzisstische Kompensation, nonkonformistisches Verhalten und destruktive Aggressivität. Diese vier Faktoren trennten unterschiedlich zwischen heterosexuell erlebnisfähigen Frauen, frigiden Frauen sowie latent und schließlich manifest homosexuellen Frauen.

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Außer diesen direkten Testskalenentwicklungen und -überprüfungen wurde der 470-F-Test auf seine Eignung zu Verlaufs- und Effektivitätsuntersuchungen eingesetzt, sowohl in klinischen Stichproben z. B. bei Asthma- und Ekzempatienten als auch in der Neurosentherapie.

Forschungen zur Gruppenpsychotherapie Sie bildeten die Hauptinhalte der Forschung in den 1980er Jahren. In ihnen spiegelte sich die Integration des mehrdimensionalen gruppenpsychotherapeutischen Behandlungsansatzes des Institutes wider, der die Bestandteile von Ausgangssituation – Therapieprozess und Ergebnis, dies auch hinsichtlich unterschiedlichster Patientenpopulationen – umfasst (} Abschnitte 4.5.2.4 und 4.8.1.3).

Weitere Institutsentwicklung Das Institut wurde bis 1987 von Kurt Höck geleitet. Hiernach übernahm Christoph Seidler als Arzt die Einrichtung, war Chefarzt und gleichzeitig Oberarzt der Ambulanz. Die Herausbildung dieses Institutes war strukturell insofern problematisch, als es an eine Poliklinik angeschlossen war. In dieser Form hatten wir nach der Wende keine Überlebenschance. Bemühungen, alle drei Teile, die Ambulanz, die stationäre Abteilung oder/und die Forschungsgruppe zu erhalten, scheiterten. Nach dem Weggang von Kurt Höck und seiner »Obhut« kam die Oberärztin der Klinik Hirschgarten wegen zunehmender politischer Gespräche in den Gruppen in Ängste um ihre Position. So vertraute sie sich (und einige Patienten) der Stasi an. Nach der Wende outete sie sich und ging vorerst nach Westdeutschland. Einige Prozesse sowie existentielle Krankheiten sind ein bitterer Preis für ihre Haltung. Die Klinik wurde nach anfänglichen Hoffnungen durch intensive Bemühungen der Aufrechterhaltung durch Wolfgang Kruska, sie in den Stadtbezirk Köpenick einzugliedern, geschlossen. Auch die Forschungsabteilung wurde trotz meiner Bemühungen zur Eingliederung in andere Institutionen sowie Anträgen auf Forschungsgelder der DFG in München ebenfalls aufgelöst. Christoph Seidler ließ sich mit einigen Kollegen aus der Ambulanz schließlich in der Invalidenstraße nieder. Hier bauten sie unter seiner Leitung ein Ausbildungsinstitut (APB) auf. Das Institut hat umfangreiche Ausbildungsaufgaben übernommen und bildet zum Teil die Fortsetzung des IfPN.

4.8.1.2 Christoph Seidler: Das stationär-ambulante Fließsystem am Beispiel der Jugendlichengruppen in den Jahren 1978 bis 1991 Vorbemerkung In den letzten Jahren wird von Krankenkassenvertretern, Gesundheitspolitikern und Ärzten zunehmend eine ambulant-stationäre Verzahnung der Versorgung gefordert, nicht zuletzt um Kosten zu senken. In der Realität gibt es aber nur selten eine funktionierende Versor-

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gung über die Grenzen der stationären und ambulanten Systeme hinweg. Der Beitrag will Argumente für eine solche Verzahnung liefern, auch wenn die hier vorgestellten Ergebnisse aus dem planwirtschaftlich gelenkten Gesundheitssystem der DDR stammen. Gründe sind ausschlaggebend, das Beispiel von Jugendlichengruppen vorzustellen: 1. Die Gruppenarbeit mit Jugendlichen im System der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie ist ungewöhnlich gut elaboriert und evaluiert. 2. Diese Jugendlichen sind oft so schwer gestört, dass sie langfristige Therapieprozesse benötigen. Diese werden aber, da die Beziehungsunfähigkeit ihre zentrale Pathologie darstellt, nur dann möglich, wenn ausreichend kohäsive Kräfte freigesetzt werden, wie dies wiederum bei Jugendlichen in Gruppen und mit diesem Verfahren möglich ist. 3. In jenen Jahren gab es eine funktionierende Psychotherapie sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Für Adoleszente im Alter von 17 bis 22 Jahre gab es das nicht. Deswegen wurde diese Therapiestrategie entwickelt. Ich habe Anfang der 1970er Jahre, zunächst als Ko-Therapeut der Psychagogin Erika Schwarz, begonnen, mit Jugendlichengruppen zu arbeiten. Die ausschließlich ambulanten Gruppen waren offen und die Therapieergebnisse nicht so schlecht, aber die Teilnahme der Patientinnen und Patienten unregelmäßig. Die meist schüchternen und sprachscheuen Jugendlichen waren zwar regelmäßig anwesend, entwickelten sich aber sehr langsam, die anderen, mehr hysterisch oder narzisstisch Strukturierten nutzten die Gelegenheit zur Selbstdarstellung und blieben dann wochenlang weg. Das waren Gründe, die Jugendlichengruppen in das stationär-ambulante Fließsystem, das es bereits für erwachsene NeurosePatienten gab, einzufügen. Diese Therapieform wurde bis zur Schließung der stationären Abteilung am Haus der Gesundheit in Ostberlin 1991 praktiziert. Seitdem wird die ambulante Arbeit mit Erwachsenen- und Jugendlichengruppen wieder ähnlich wie Anfang der 1970er Jahre durchgeführt mit letztlich wenig befriedigenden Ergebnissen für Therapeuten und Patienten. Zunächst geht es um das ambulant-stationäre Organisations­system, da das damals favorisierte Phasenkonzept diesen sehr substantiellen organisatorischen Hintergrund hat: Die »Anwärmphase« findet in der Ambulanz statt, »Abhängigkeits-«, »Aktivierungs-« und beginnende »Arbeitsphase« im stationären Settings, die »Arbeitsphase« insgesamt dann ­wieder in der Ambulanz. Für den Gruppenbildungsprozess ist das klinische Setting be­sonders geeignet, weil vielfältige Begegnungsmöglichkeiten und Beziehungsangebote kohäsive Kräfte entfalten, die auch dann noch halten, wenn krisenhafte Zuspitzungen von Konflikten auftreten, die ja regelhaft sind.

Das Organisationssystem im Haus der Gesundheit Alle Patienten kamen von sich aus oder wurden überwiesen und zunächst grundsätzlich in der Ambulanz untersucht. Der Erstkontakt fand grundsätzlich mit einem Arzt statt, der auch soma­tisch und psychiatrisch differentialdiagnostisch untersuchte und eine vorläufige Dia­ gnose und Indikation stellte. Die weitere neurosenpsychologische Exploration folgte in min-

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destens zwei weiteren Sitzungen. Der Gruppenleiter stellte die geschlosse­nen Gruppen zusammen, die zunächst als »Überleitungsgruppen« ambulant vier Wochen lang zwei Stunden pro Woche mit ihrem Therapeuten, ihren Gruppenmitgliedern, der Therapieorganisation und den Arbeitsprinzipien der Gruppenpsychotherapie theoretisch und durch eigenes »Probehandeln« vertraut gemacht werden sollten (Anwärmphase). Während dieser vier Wochen hatten Therapeuten und Patienten noch einmal Gelegenheit, die Behandlungsvereinbarung zu überprüfen. Die geschlossenen Gruppen gingen danach für sechs Wochen mit ihrem Therapeuten in die Klinik und wurden danach ein weiteres Jahr ambulant weitergeführt.

Die Indikation für die Jugendlichengruppen Die ursprüngliche Indikation für homogene Gruppen (missglückte Partnerschaft, gestörte Berufsfindung, Konflikte in der Herkunftsfamilie) wurde später nicht mehr so streng gestellt, so dass zwei bis drei Adoleszentengruppen pro Jahr durchgeführt werden konnten. Um dem komplizierten Bedingungs- und Beziehungsgefüge in den Herkunftsfamilien diagnostisch und therapeutisch näher zu kommen, wurde versucht, die Familie nach folgendem Kon­zept einzubeziehen, und das war eine wesentliche Neuerung: In der Phase der ambulanten Diagnostik und in der Anwärmphase der Gruppe wurde mit den Familienangehöri­gen (und immer mit dem Patienten) ein ein- bis zweistündiges Gespräch geführt, das vorwiegend diagnostischen Zwecken diente, aber auch dem Vertrautwerden der Familie mit dem Therapeuten im Sinne der Anwärmphase. In der Arbeitsphase – meistens am fünften Wochenende des stationären Therapieteils – fand ein gemeinsamer Gesprächsnachmittag mit der Gruppe und den Familienange­hörigen statt, der thematisch auf die Erwartungen nach der stationären Therapie zentriert war, um gegenseitigen Ent­täuschungen zuvorzukommen. Dieses Vorgehen intendierte auch die Gesprächsinhalte in den Gruppenstunden. Der Versuch einer dritten Gesprächsrunde während der ambulanten Therapiezeit wurde wieder fallengelassen, da nur einzelne Familien erschienen – zumeist die mit einem Bin­ dungsmodus.

Zielsetzungen der Jugendlichengruppen Bei der Therapie in der Adoleszenz gewinnt ein Ziel besondere Bedeutung: »Die wesentliche Hilfe sollte immer darin bestehen, dem Heranwachsenden zu helfen, die Adoleszenz in einer Art und Weise zu vollenden, die ihm in seinem Leben eine Chancengleichheit mit dem unbehinderten Altersgenossen eröffnet« (Zauner 1984, S. 6). »Der Bruch im Entwicklungspro­zess ist die eigentliche Pathologie« (Laufer 1988). Mit diesem Entwicklungsprozess meint die Psychoanalyse die psychischen Aufgaben: »Trauer um den Verlust der Kindheit, die Akzeptation und den Gebrauch des sexuell reifen Körpers, die Integration verschiedener Selbstbilder, die Übernahme der Verantwortung für aggressive Akte« (Bürgin 1988, S. 65). »Der Jugendliche ist nicht mehr Kind, er ist noch nicht Er­wachsener. Er braucht in dieser Lebensphase die Identität eines Adoleszenten. Reifungskrisen sollen weder dramatisiert

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noch abgestoppt, noch unterdrückt werden. Es geht nicht darum, den Jugendlichen rasch aus der Adoleszenz herauszuführen, ihm Lösungen aufzuzwingen, sondern ihm die Möglichkeit zu multiplen Identifikationen zu geben. Diese sollen ihm erlauben, sein neues Selbst kreativ aufzubauen. Die Adoleszenz soll nicht nur eine Phase sein mit Blick zurück (Überwindung der Kindheit) und Blick vorwärts (Erwachsenwerden), sondern als ein eigener, spezifischer Zeitabschnitt gelten, der als solcher einen vollen Inhalt und Wert besitzt. Die Grundfrage der Reifungskrise kann schließlich so formuliert werden: Wie kann man dem Jugendlichen ­helfen, ein Adoleszenter im Adoleszentenalter zu sein« (Brettschart 1988, S. 62). Weg und Ziel in der Psychotherapie ist es aber, die den Ent­wicklungsabbruch begleitende Isolierung (»Beziehungsnotstand«, Bürgin 1988) zu überwinden. Die Nicht- und Fehlbewältigung von Schwellensituationen in der Adoleszenz als qualitativ neuartige soziale Anforderungen und Möglichkeiten (Seidler 1985) hat aber immer zugleich soziale Konsequenzen. Diese Dimension, die bei der referierten Betrachtung zu kurz kommt, hat auch Konsequenzen für Diagnostik und Therapie: Die aktuellen interpersonellen Vorgänge innerhalb der Gruppe und in der Realität sind bei Adoleszenten viel stärker akzentuiert – auch als Zugangsweg zu den intrapsychischen Prozessen – als die biographisch ableitbaren Zugänge. Dementsprechend ist in Adoleszentengruppen die reale und aktuelle Beziehungsebene stärker zu verhandeln als die puberale, ödipale und frühkindliche. Die Dialektik von Eigenständigkeit, Selbstsicherheit und Umweltbezogenheit (Höck 1981a) hat in der Therapie – auch als Therapieziel – besonders die letzte Dimension zum Inhalt. Damit muss der Therapeut stärker »als aktives, reales Gegenüber« verfügbar sein. Mithin wird die reale soziale Bewährung im Sinne der Gestaltung der Anforderungs- und Möglichkeitsfelder auch zu einem unmittelbaren Therapieziel.

Besonderheiten des Gruppenpsychotherapieprozesses bei Adoleszenten Altershomogene Gruppen Bei den sprachungeübten Jugendlichen muss das Verhältnis von Verbalisieren und Agieren neu abgestimmt werden. Dazu gehört die Integration agierender und nonverbaler Therapieverfahren, als auch die Einbeziehung des Agierens innerhalb des Zusammenlebens im Gesamtsetting. Bereits in der Anwärmphase, spätestens bei Eintritt in die Klinik, sind die Gruppen von ansteckender Begeisterung, die sich wohl mit dem Herauslösen aus der neurotischen Ausnahmesituation oder der narzisstischen Isolation erklärt. Fast gleichzeitig beginnt eine omegazentrierte Pseudostrukturierung, es setzt sich die Außenseiter- oder Prügelknabenstrategie, die bei dieser Klientel so häufig ist, zunächst auch noch in der Therapie fort. Mit der folgenden Enttäuschung und Labilisierung nehmen diese Entwicklungen eher noch bis zur Omega-Auflösung während der optimalen Regression zu (wenn die gemeinsame emo­tionale Bezugsebene als Hintergrund für die unterschiedlichen Aktionen aller Gruppenteilnehmer vorstellbar ist) oder erst während des Kippprozesses (wenn der »wahre« Außenseiter in dem Therapeuten identifiziert wird).

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Die Abhängigkeitsphase geht häufig durch ein Stadium von Gegenabhängigkeit und Abwehr von Verlustängsten durch Agieren, das während des gesamten Prozesses stärker und lau­ter als in anderen Gruppen stattfindet, aber insbesondere die Aktivierungsphase prägt: sturer Trotz, demonstrative Ordnungsverletzungen, glatte Verweigerung können Therapeuten so ohnmächtig-wütend machen, dass sie reagieren, wie Eltern und Erzieher immer reagiert haben: ohne Verständnis für die dahinter liegende Not, mit Einengungen und Sanktionen, die ohne Wirkung bleiben. Auf diese Weise wird zwar die Depotenzierung der Therapeuten offenbar, aber die Gruppe hat damit noch immer keine andere Qualität als etwa oppositionelle informelle Gruppen oder Gangs. Dieses Durchgangsstadium ist bei allen Gruppen zu finden. Ohne Ko-Therapie und Supervision und ohne Konzeption ist dieses Arrangement kaum auflösbar. Das Ergebnis ist dann nur Chaos, aber keine Therapie. Die sukzessive Integration des Therapeuten gleicht einer Wiederannäherungskrise, die über gegenseitiges Verstehen austariert wird. Während der Arbeitsphase sind Rückfälle häufig und kündigen Themenwechsel an. Annäherungs- und Distanzierungsprozesse wie alle anderen Strukturierungsprozesse sind von hohem Tempo und geringer Konstanz. Die Trennungsarbeit bringt schmerzliche und wütend-enttäuschte Bilanzierungen, aber auch viel Begeisterung und Hoffnung. Die Klinik bleibt in der Gruppenerinnerung lange eine wunderbare Heimstatt. Die Trauer über die Trennung ist sehr tief.

Altersheterogene Gruppen Die typische Arrangementbildung in der Vorarbeitsphase ist eine andere: Eltern-Kind-Kollusionen sowohl mit »artigem« als auch »unartigem« Kind, Lehrer-Schüler-Verhältnisse, »Schmusekatze«-, »Sorgenkind«-, aber auch »Revoluzzer«-Positionen sind sehr häufig. All diese Vorgänge sind interaktionell im Sinne von Rollen und Rollenzuweisung. Das Problem ist nicht ihre Existenz – diese kann eine Reihe von Bedürfnissen mobilisieren –, sondern ihre Fixierung, die dann eine Zementierung dieses einen Beziehungsangebots darstellt. Diese Beobachtungen führten zum Konzept der homogenen Adoleszentengruppen: Von Vorteil könnte sein, dass Überdynamisierungen wie in homogenen Gruppen nicht vorkommen. Der Anteil einzelner Adoleszenter am Gruppenbildungsprozess ist gering, die »Stunde der Jugend« kommt in der relativ späten Arbeitsphase, dann mit kritischer, wahrhaftiger Be­standsaufnahme oder auch persönlicher Therapiearbeit. Diese Stunden sind zumeist sehr produktiv und befriedigend.

Ambulanter Therapieteil der altershomogenen Adoleszentengruppen Der ambulante Therapieteil ist für Adoleszentengruppen von wesentlicher Bedeutung. Die Konfrontation mit der Außenwelt verläuft zum Teil sehr dramatisch. Es ist immer mit kritischen Zuspitzungen zu rechnen. Das alles gilt auch dann, wenn die Chancen des stationären Teils gut genutzt werden konnten. Eigentlich befinden sich die Gruppen in der Arbeitsphase,

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aber Risiken, Konflikte, Wagnisse und Bedrohungen aller Art sind laufend Inhalt der Gruppenstunden und stellen Geduld, Zuversicht, Engagement und emotionale Verfügbarkeit des Therapeuten auf harte und schmerzliche Proben. Der ambulante Therapieteil war für ein Jahr konzipiert mit wöchentlich zwei Stunden (90 Minuten). Die Teilnahmebedin­gungen waren dabei sehr unterschiedlich. Einige männliche Gruppenmitglieder gingen zum Wehrdienst, andere zogen um. Schichtdienst und Überstunden machten die Teilnahme in der Praxis schwer, immer wieder wurden Terminverhandlungen erforderlich, einschließlich Verlegung der Gruppenstunden auf das Wochenende. Allein aus diesen äußeren Gründen war die Gruppenarbeit häufig nicht kontinuierlich, obwohl genau das angezielt wurde. Aktuelle Konflikte und Dekompensationen aller Art führten auch zu Einzelkonsultationen. Vor diesem Hin­tergrund soll der Versuch gemacht werden, regelhaft auftreten­de Prozesse und Inhalte zu beschreiben, die für Adoleszentengruppen als typisch angesehen werden können. Diese Phänomene gibt es zwar auch bei Erwachsenen-Patienten-Gruppen und dann meist bei Ich-schwachen Patienten. Sie sind dort aber längst nicht so häufig und von wesentlich geringerer Ausprägung.

Transferkrisen – Der kritische Übergang vom stationären zum ambulanten Therapieteil Dass dieser Übergang regelhaft kritisch verläuft, hat seine Ursachen sowohl in den neuen Anforderungen außerhalb der Gruppe als auch in der Veränderung des Settings selbst. Die in der Gruppe gewachsenen Normen des Zusammenlebens kollidieren auf mehrfache Weise mit den außerhalb gelebten in Familie, Beruf und Gesellschaft und müssen damit erneut überprüft, ausgehan­delt, erweitert oder auch verworfen werden. Die Fähigkeiten zu aktiv verändernder An- und Einpassung mit oder ohne vorheriger Lösung von primären Bezugsgruppen und -personen werden existentiell auf die Probe gestellt oder überhaupt erst an­geeignet. Dieser Prozess wird von Irrtümern und Niederlagen begleitet. Da das Sicherheit gebende und beziehungsstiftende – und in dieser Hinsicht auch verwöhnende – klinische Setting fehlt, wirken sich diese individuellen Enttäuschungen häufig als entmutigende Rückschläge in der Arbeit der ganzen Gruppe aus. Das gilt insbesondere für den Beginn der ambulanten Therapiezeit. Diese Niederlagen müssen auf ihren Realitätsgehalt und die Motivzusammenhänge hin bilanziert werden, auch um neue Motivation zu erreichen. Die Bearbeitungen der Enttäu­schungen aller Art und der übergroßen Enttäuschbarkeit ziehen sich jedoch durch die gesamte Therapiezeit.

Rückschläge Neben den genannten Gründen können eine Reihe von »äußeren« Ereignissen zu Rück­ fällen führen: fehlgeschlagene Gesprächsversuche mit Bezugs- und Konfliktpartnern; Ab­lehnungen von Qualifizierungsbemühungen, Studienplätzen, Wohnungsanträgen, Arbeitslosigkeit, Abschied einzelner Gruppenmitglieder, Verlust von Freunden und Liebes-

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partnern, Scheidung der Eltern oder etwa der Tod von Angehörigen. Es gibt aber auch viele »innere« Gründe für Rückschläge: Wiederholungszwänge, wobei die Psychodynamik einzelner die ganze Gruppendynamik verändert; dazu gehören auch Gegenübertragungsreaktionen des Therapeuten. Die Rückschläge selbst geschehen jeweils in Form von Rückgriffen auf »sichere«, frühere Gruppenstrukturen und -prozesse, die im Wiederholen und Durcharbeiten auch ihre the­ rapeutische Chance haben. Die Gruppengeschichte bzw. die Geschichte der Einzelnen in und mit der Gruppe ist dabei ein hilfreiches heuristisches Medium, Struktur- und Prozessfixie­rungen aufzulösen und auch den Zugang in individuelle Ent­wicklungs­be­ dingungen und spezifische Übertragungsmuster vs. Beziehungsangebote zu erhellen. Andererseits sind Rückfäl­le häufig von einer Intensivierung des informellen Gruppenle­bens als zweiter Bezugsebene begleitet.

Das informelle Gruppenleben Das informelle Gruppenleben hat bei diesen Gruppen oft den Charakter gelebter Freundschaftsgruppen mit allen entspre­chenden Möglichkeiten: gegenseitige Hilfe bei Wohnungssu­ che und Renovierungsarbeiten, gegenseitige Besuche bei Schwierigkeiten, gemeinsame Ausflüge, Feiern, Urlaubsreisen, Konzertbesuche – für viele Gruppenmitglieder die erste funk­tionierende Bezugsgruppe in ihrem Leben. Auch diese Ereig­nisse bestimmen den Inhalt der Gruppenstunden, insbesondere bei Konflikten. Ein Teil der Therapieabbrecher blieb Mitglied dieser informellen Gruppen. Anfängliche Versuche des Therapeuten, auf Abstinenz der Gruppenmitglieder untereinander außerhalb der Gruppenstunden zu bestehen, führten eher zu Geheimhaltungen und damit zu einem problematischen Doppelleben der Gruppenmitglieder, so dass diese Vorgänge der Öffentlichkeit der Therapiegruppenstunden entzogen blieben. Da das informelle Gruppenleben aber ein Feld für das Ausagieren darstellt, das es therapeutisch aufzuarbeiten gilt, muss die Gruppenstunde als Fenster für diese zweite Bezugsebene offen bleiben. Auch an den informellen Gruppenaktivitäten ist die Teilnahme unregelmäßig und nach Interesse verschieden, so dass die Probleme von Subgruppenbildungen, Außenseiterpositionen und Paarbildungen auftauchen wie auch Überlappungen mit anderen Gleichaltrigengruppen. Die Kompliziertheit dieser Prozesse soll anhand einer Fallvignette verdeutlicht werden: Kai arbeitet als Ordner in einem Vergnügungspark und verdient dabei außerordentlich viel. Nach Schließung des Parks gibt es regelmäßige Feiern, bei denen Geld für Alkohol im Übermaß ausgegeben wird. Mehrere Gruppenmitglieder sind gelegentlich dabei, darunter auch Freia. Sie lässt sich, auch angetrunken, mit einem der Ordner ein. Kai und Freia thematisieren das schuldbeladen in der Gruppe. Therapeut und Gruppe bemühen sich um die Aufarbeitung, dabei geht es um Freiheit, Selbsttreue und Würde. In der nächsten Stunde berichten beide, eher kokett als schuldbeladen, miteinander geschlafen zu haben, auch deswegen, weil das vom Therapeuten »untersagt« worden sei. Das stimmt zwar nicht expressis verbis, jedoch von seiner Tendenz her durchaus. Danach wird die moralische Integrität und Kompetenz des Therapeuten in Frage gestellt. Nachdem er

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versucht, seine Bedenken und Sorgen erneut zu begründen, stellen beide fest, dass sie nicht dachten, »dass er sich so einen Kopf um sie machen« würde. Diese Intimbeziehung war fortan kein Thema mehr.

Das Wunderland Klinikgemeinschaft Der stationäre Teil der Behandlung wird im Lauf des ambulan­ten Abschnitts zunehmend verklärt. Gelegentlich haben Gruppenstunden den Charakter von Klassentreffen. Unter dem Motto »Weißt du noch?« werden häufig Spitzbübereien, Verstöße aller Art, die bis dahin verschwiegen wurden, zu Ruhmestaten und bestandenen Mutproben. Dabei trat häufig eine »Polkastimmung mit Girlanden« (so ein Patient) auf. Gelegentlich mussten ambulante Gruppenstunden aus organisatorischen Gründen in der Klinik stattfinden. Die Hoffnungen, es könnte so sein »wie damals«, wurden zwar durchweg enttäuscht, insbesondere weil damals andere Patienten in der Klinik weilten. Diese Treffen entzauberten die eigene Klinikzeit jedoch nicht. Möglicherweise handelt es sich bei dieser Saga um eine Metapher für die einst erworbene, aber ständig bedrohte und deswegen beschworene Gruppenkohäsion.

Transfer in die Herkunftsfamilien Neben den neugewonnenen Fähigkeiten zu aggressiv-emotio­nalen Auseinandersetzungen, die die ursprünglich erstarrte Familiendynamik durchaus wieder in Fluss bringen kann, ergeben sich eine Reihe regelhaft auftretender kritischer Zuspitzungen: Die Auseinandersetzungen mit dem Therapeuten »verwöhnen« die Gruppenmitglieder auf eine Art, die nicht die der Eltern sein muss. Die im Prozess der Regression auftauchenden, zunächst den Eltern­ imagos geltenden Erinnerungen und Phantasien werden zum Gegenstand innerfamiliärer Auseinandersetzungen, die an der aktuellen Realität weit vorbeigehen und die Familie extrem überforden können. Emotionale Annäherungen und Wiederannäherungen gelingen häufig nur um den Preis des Rückfalls des Patienten in Infantilität mit meist komplementären elterlichen Reaktionen, was oft ein erneutes aggressives Aufbegehren zur Folge hat. Die entstehende Gruppenidee von der Selbständigkeit und Unabhängigkeit als Freisein von den Eltern führt bei fast allen Gruppenmitgliedern dazu, dass sie sich innerhalb des ambulanten Jahres eine eigene Wohnung »organisierten«, was aber Patienten und Familien auch überfordert hat. Analoge Prozesse spielen sich oft auch in und mit den anderen ursprünglichen Bezugsgruppen und -personen ab, die seinerzeit auch deswegen gefahrvoll waren, weil sie eine politische Di­mension bekamen.

Ruhe vor dem Sturm – der bevorstehende Themenniveauwechsel In einer Gruppe kam es bereits in der ersten Nacht nach der stationären Aufnahme zu vier Intimpartnerschaften, die sich rasch wieder auflösten. Sexuelle Praktiken, einschließlich homosexueller und inzestuöser Vorkommnisse, wurden sehr zeitig thematisiert.

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In der ambulanten Zeit verebbte die Aktivität zunächst in Form wiederholter, zunehmend gekonnter Beziehungsklärung und dann in Schweigen. Schließlich brachte ein bis dahin relativ unbeachteter Mann seine Probleme mit Liebe und Partnerschaft zur Sprache. Erst jetzt konnten diese Themen in einer Atmosphäre der Zuneigung zwischen Männern und Frauen verhandelt werden. Die Grenzen von Scham und Schuld sind jeweils individuell, aber offensichtlich bei Adoleszenten andere als bei Erwachsenen. Bei Erwachsenen werden oft zunächst die Partnerschafts­probleme vor den sexuellen Problemen thematisiert. Das betrifft aber nicht nur diesen Problemkreis, sondern auch Familiengeschichten, die als Schande erlebt werden (»Wir galten als dreckige Familie«) bis hin zu Symptomen, deren sich geschämt wird, weil sie als »verrückt« gelten könnten, wie Zwangsgedanken und -handlungen. Parasuizidale Erlebnisse dagegen tauchten sehr zeitig auf und gingen wegen ihrer weiten Verbreitung manchmal sogar in die erwähnte »Polkastimmung« über – als Ausdruck der Er­leichterung, der Relativierung der Ausnahmesituation, aber na­türlich auch aus Abwehrgründen.

Agieren oder Leben auf Probe Unschwer sind viele Aktionen der Gruppenmitglieder innerhalb und außerhalb der Gruppe als Agieren erkennbar. Die Unschärfe dieses Begriffs und auch die ihm innewoh­nende Minderschätzung kritisiert schon Balint (1970). Bion (1973, S. 207) weist auf die »experimentelle« Funktion des Agierens hin. »Agiert« in diesem mehrdeutigen Wortsinn wird innerhalb und außerhalb der Therapiegruppe. Entsprechend kehrt sich das Vorgehen Freuds nach dem Motto Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten oder auch Schwidders (1969) Erkennen, Erleben, Durcharbeiten um in Erleben, Erinnern/Erkennen, Durcharbeiten. Auch von daher werden höhere Chancen und Risiken, aber auch die Transferkrisen erklärbar. »Agiert« in diesem Sinne werden nicht nur neurotischen Wiederholungszwängen unterliegende Beziehungsmuster, sondern auch im Gruppenkonsens (oder auch -dissens) entwickelte (Teil-)Erkenntnisse und vorläufige Wahrheiten und Urteile. Möglicherweise auch aus dieser Quelle ist das in dieser Phase ständig appellierte Verantwortungsgefühl des Therapeuten gespeist, das seinerseits zu mehr oder weniger bewusstem Mitagieren veranlassen kann. Insbesondere, wenn dadurch Freiräume eingeengt werden, können genau diese Grenzziehungen zu bevorzugten Experimentierfeldern werden. Ab wann der Begriff »Agieren« überhaupt seine Kritikwürdigkeit verliert – und das ist fraglos der Fall –, ist letztlich auch vom Gefüge der Normen und Grenzen des Therapeuten abhängig, wie auch von seiner Fähigkeit »Reinszenierungen« wahr­zunehmen. Im Übrigen ist das »Leben auf Probe« ja immer auch das Leben selbst.

Abbruchverhalten Über die Bedeutung des Abbruchverhaltens resümiert Seiffge-Krenke: »Vorausgesetzt, man akzeptiert die globalen Effektmaße, das Fehlen von Kontrollgruppen und die mangelhafte Erhebung der Therapieerfolgsvariablen aus der Sicht aller Beteiligten, scheinen sich alle

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4.8  Psychotherapie-Abteilungen in Versorgung und Forschung

Behandlungskonzepte für Jugendliche in gewissem Umfang bewährt zu haben. Es sollte jedoch bedenklich stimmen, dass zugleich – häufig in den gleichen Veröffentlichungen – von hohen Therapieabbruchquoten die Rede ist (z. B. 66 % in der frühen, 46 % in der späten Adoleszenz, 13 % bei Erwachsenen)« (1986, S. 179). Ein wesentliches Gütekriterium zur Beurteilung der Therapie ist mithin die Abbrecherquote. Bei den zu erwartenden jugendtypischen Schwierigkeiten, sich auf langfristige (auch therapeutische) Beziehungen einzulassen, ist die Abbruchquote insgesamt überraschend gering und entspricht zunächst den für Gruppenpatienten angegebenen Quoten: 6 % gelten als außerordentlich niedrig und werden wohl nur bei stationärer Psychotherapie erreicht (Eckert et al. 1985). Bei ambulanter Gruppenbehandlung schwanken die Raten zwischen 17 % (Koran u. Costell 1973) und 57 % (Nash et al. 1957). Ob es sich dabei um einen Reflex auf die DDR-Wirklichkeit handelte, in der das Leben in Freundschaftsgruppen eine wesentliche Lebensform darstellte, oder um eine altersspezifische Lebensform der Peergroups, muss offen bleiben. Spätadoleszente Patienten brachen bei dem beschriebenen Setting nicht häufiger ab als Erwachsene. In altershomogenen Gruppen ist die Abbrecherquote mit 11 % viel niedriger als in der Literatur verzeichnet.Voraussetzung ist allerdings, dass sie vorher eine statio­näre Therapie mit dem gleichen Therapeuten durchlaufen haben. Unter Beachtung des relativ ausgewogenen Therapieergebnisses am Ende der Gesamttherapie wird die Bedeutung von Setting und Therapieorganisation deutlich: Die Behandlung Spätadoleszenter in homogenen Gruppen und mit personeller Therapiekonstanz im Rahmen einer engen Verzahnung von ambulanter und stationärer Therapie (»ambulant-stationäres Fließsystem«) geht mit einer so niedrigen Abbruchrate einher, dass diese Form der Behandlung auch für das inzwischen gesamtdeutsche Versor­gungssystem zu empfehlen ist. Dabei sollten kassenrechtliche und andere Finanzierungsprobleme zurücktreten.

Macht, Autorität, Täterschaft – eine ideologiekritische Perspektive Die vorstehenden Mitteilungen stammen aus den Jahren 1989 bis 1994, also aus einer Zeit, in der die IDG in der Krise steckte, in die sie auch gehörte. Jedoch geriet sie damals auch in Minderschätzung, was eine wissenschaftliche Betrachtung unmöglich machte. Im Abstand der Jahre und dem Zuwachs an (Selbst-)Erfahrungen mit anderen Gruppenkonzepten erscheinen auch Inhalte der damaligen IDG-Konzeption bei der Arbeit mit »frühgestörten« Jugendlichen überlegenswert, nicht nur die Organisationsform. Das betrifft insbesondere die Konzeption von Gruppenleitung. Im kriegs- und nazitraumatisierten Deutschland geht bei der Abwehr der kollektiven Schuld die Unterscheidung von Macht und Autorität verloren und alle Macht wird als Missbrauch gedeutet. So entsteht der Zwang, sich vor einer Täterposition zu schützen. Und so entsteht auch die Illusion eines machtfreien Gruppenraumes als Ideologie. Aber: Gerade bei Adoleszenten, ob nun frühgestört oder nicht, gehört zu der Rahmensetzung oft auch eine sehr persönliche Grenzsetzung. Und hier kann die IDG ihren Erfahrungsschatz gewinnbringend einbringen. Heilen (vorwiegend implizit) und Forschen (vorwiegend explizit) stellen über weite Strecken einen Gegensatz dar. Wenn Forscher Heiler kritisieren (und umgekehrt), liegt Kränkung näher als gegenseitige Befruchtung, auch wenn die Heiler forschen (und umgekehrt).

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Ein anderes Dilemma bedarf ebenfalls der Diskussion, nicht nur im Osten: Die Hierarchie im Forscherteam – die Leitung hatte der Chef des Instituts – behindert strukturell die Mentalisierung, weil die wertfreie analytische Situation immer in Gefahr ist.

4.8.2 Psychotherapie an Universitätsklinika und Medizinischen Hochschulen (Leipzig – Halle – Erfurt) 1970–1980 4.8.2.1 Günter Plöttner: Psychotherapie in der »KT« 1970–1980 Die Psychotherapie-Abteilung der Universität Leipzig wurde von 1960 an von Christa Kohler geleitet, die ein Konzept entwickelte, das von ihr als »Kommunikative Psychotherapie« (1968a) bezeichnet wurde. Sie ging davon aus, dass bei neurotischen Störungen Einschränkungen in der Ausübung persönlicher kommunikativer Funktionen vorliegen, die Folge der neurotischen Entwicklung sind. Somit diente das entwicklungsgeschichtlich bedingte und individuell verfestigte soziale Bedürfnis nach Kommunikation als Bezugssystem bei der Anwendung individueller und gruppentherapeutischer Verfahren, die konfliktorientiert und persönlichkeitszentriert eingesetzt wurden. In dem von Kohler entwickelten Konzept der Kommunikativen Psychotherapie waren neoanalytische, kommunikationstheoretische, logotherapeutische und kunsttherapeutische Ansätze integriert. Dieses für die damaligen Verhältnisse außerordentlich moderne und zukunftweisende Konzept wurde in wesentlicher Weise konzeptualisiert und mitgetragen von Fried Böttcher. Anita Kiesel entwickelte damals die Kommunikative Bewegungstherapie und führte die Konzentrative Entspannung ein (Kohler u. Kiesel 1972), die eine retrospektive und ein prospektive Phase unterschied, wobei in der retrospektiven Phase die individuellen Entwicklungsbedingungen neurotischen Fehlverhaltens erarbeitet und in der prospektiven Phase sozial angemessene Verhaltensweisen eingeübt wurden. Christoph Schwabe gab der Musiktherapie eine theoretische und methodologische Grundlage. Dies hatte eine enorme Ausstrahlung für die DDR-Psychotherapie. In Kohlers theoretischen Beiträgen wurden grundsätzliche Fragen der Psychiatrie und Psychotherapie behandelt (Kohler 1972, 1974). Dies regte die Diskussion insbesondere im Hinblick auf die Relativierung Pawlow’scher Positionen an, die damals noch erheblichen Einfluss hatten. Durch Weiterbildungsveranstaltungen, wie z. B. wissenschaftliche Kolloquien, an denen Vertreter aus allen Teilen des Landes mit Vorträgen über die verschiedensten Psychotherapie­ methoden teilnahmen, Hospitationen anderer Kollegen in der Abteilung, Entwicklung eines dreistufigen Psychoprophylaxe-Programms für das Betriebsgesundheitswesen u. a. wurde die Psychotherapie-Abteilung über die Leipziger Universität hinaus wirksam. Unter Kohlers Leitung wurden auch wissenschaftliche Beziehungen zu PsychotherapieInstitutionen in der damaligen Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Österreich und Italien hergestellt. Eine besondere Kooperation bestand mit dem Bechterew-Institut im damaligen Leningrad.

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Seit Bestehen der Leipziger Abteilung, sie war unter Kohler ein selbständiges Institut und nach ihrem Weggang 1973 wurde sie wieder eine zwar selbständige Abteilung, jedoch unter der kommissarischen Leitung der psychiatrischen Klinik durch Prof. Dr. Klaus Weise, ist die weitere Entwicklung der Psychotherapie sowohl in Leipzig als auch überhaupt im Lande nur in der Wechselwirkung zwischen den einzelnen Psychotherapie-Abteilungen sowie der Gesellschaft für Psychotherapie zu sehen. Nach Kohlers krankheitsbedingem Ausscheiden führte Dr. med. H. J. Wild die Klinik von 1973 bis 1975. Unter dem Kohler’schen Konzept der kommunikativen Psychotherapie, wobei das Zusammenwirken der o. g. verbalen und nonverbalen therapeutischen Interventionen im Mittelpunkt stand, wurden vor allem die tiefenpsychologisch-analytischen und sozialpsychologischen Anteile in Einzel- und Gruppensituationen in der Therapie ausgebaut und für eine auf den einzelnen Patienten ausgerichtete therapeutische Grundhaltung zusammengefasst. Neben der analytischen Fallarbeit wurden indikationsentsprechend verhaltenstherapeutische und suggestive Methoden angewendet und auch der soziale Bereich (Patientenklub im Rahmen der Patientenselbstverwaltung sowie Selbsthilfegruppen) in das therapeutische Handeln einbezogen. Seit 1975 wurde die Abteilung unter Klaus Weises Psychiatrie-Ordinat von Helmut Starke geleitet. Daraus leitete sich im Rahmen der medizinischen Betreuung eine bestimmte Stellung und Funktion ab. Die Ableitung war integriert in ein sektorisiertes psychiatrisches Versorgungssystem, das u. a. folgende sozialpsychiatrische Organisationsprinzipien berücksichtigte: lebensraumnahe Versorgung, allgemeine Verfügbarkeit, Kontinuität der Betreuung und interdisziplinäre Arbeitsorganisation. Die Einengung in der Formulierung damals gebräuchlicher Psychotherapie-Definitionen – »Psychotherapie heißt [...] seelische Behandlung, wobei Therapie sich immer auf [...] ärztliche Behandlung bezieht« (Wyss 1971) – wurde nicht als gerechtfertigt gehalten, da sie weder die Einbeziehung der sozialen Umwelt noch die sowohl eigenverantwortliche als auch methodisch exakte Handhabung der Psychotherapie durch klinische Psychologen oder auch die Beteiligung anderer Mitarbeiter am therapeutischen Prozess berücksichtigte. Es bestand die Auffassung, der Realität näher zu kommen, wenn unter Psychotherapie die Behandlung von Kranken unter Verwendung psychologischer, psychopathologischer und sozialpsychiatrischer Erkenntnisse und Methoden verstanden werde (Höck u. König 1976). Diese Psychotherapie-Definition implizierte von vornherein Integration. Sie stehe mit ihrem Methodeninventar und ihren Erkenntnissen allen medizinischen Fachrichtungen zur Verfügung, womit sie folgerichtig eine Querschnittdisziplin der Medizin darstelle. Es wurde die Einstellung vertreten, dass analog der Komplexität der Lebenssituation hilfesuchender Patienten natürlich auch das Therapiegeschehen komplex sein musste. Die therapeutischen Maßnahmen wurden in der Klinik nicht nur von der Symptomatik des Patienten her bestimmt, sondern sie berücksichtigten auch seine Lebenssituation. Die daraus abgeleiteten Therapieziele waren somit nicht nur Beseitigung (oder Verminderung) der Symptomatik und Korrektur von Fehlhaltungen, sondern auch soziale Kompetenzerhöhung des Patienten, seiner Fähigkeit also, soziale Situationen zu bewältigen, sich im Leben zurechtzufinden, nicht selten auch mit Herbeiführung konkreter Veränderungen in den Lebensverhältnissen, Bezugspersonen u. a. m. des Patienten.

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Das therapeutische Arbeiten mit den Patienten erfolgte auf der Grundlage des Konzeptes der (klientenzentrierten) Gesprächspsychotherapie (Rogers 1973; Helm 1978). Die Begründung war, dass die hohe Effektivität durch zahlreiche empirische Untersuchungen nachgewiesen sei und insbesondere hinsichtlich des aktiven Handelns der Persönlichkeit und der sich dabei vollziehenden Selbstverwirklichung am ehesten entspräche. Die von Starke und Feldes in ihrer Gesprächspsychotherapie-Ausbildung 1973 bei Helm und Frohburg erworbenen Kenntnisse flossen in das Therapiekonzept der Leipziger Psychotherapie-Abteilung ein. Diesem patientenzentrierten Konzept gemäß wurden alle Therapeuten angehalten, die drei wesentlichen Basisvariablen in hohem Maße zu berücksichtigen: – Echtheit, d. h., sich nicht hinter einer professionellen Haltung zu verbergen, sondern sich als lebendige Persönlichkeit in der therapeutischen Beziehung einzubringen. – Positive Wertschätzung und emotionale Wärme, d. h., den Patienten engagiert und ohne besitzergreifende Tendenzen zu akzeptieren. – Präzises einfühlendens Verstehen, d. h., sich zu bemühen, die Erlebnisweisen des Patienten so wahrzunehmen, als ob es die eigenen wären. Durch die Weiterbildung einiger Mitarbeiter der Klinik (Kiesel, Schwabe, Böttcher) 1974 in analytischen Selbsterfahrungsgruppen flossen dynamisch-intendierte Anteile zuerst vor allem in die Bewegungs- und Musiktherapie ein. Die anfänglich unbesprochene Gegensätzlichkeit therapeutischer Auffassungen und Vorgehensweisen führte zu Verunsicherungen von Therapeuten und Patienten und zu Spannungen im Team. Im Sinne der therapeutischen Basisvariablen und nach den Prinzipien der Therapeutischen Gemeinschaft wurde weiter gearbeitet, ohne eine klärende Auseinandersetzung führen zu können. Die dabei immer wieder auftretenden Schwierigkeiten wurden durch kontinuierliche praxisrelevante Weiterbildungsmaßnahmen aller Mitarbeiter allmählich zu überwinden versucht. Aber erst mit der Teilnahme der Therapeuten der Einrichtung an den Kommunitätsangeboten durch das Haus der Gesundheit Berlin (Höck) von 1977 bis 1979 kam es nach längerer Auseinandersetzung über die geeignete Therapiemethode zu einer Harmonisierung des therapeutischen Geschehens. Auf der Grundlage der therapeutischen Basisvariablen wurde die Therapie stärker nach tiefenpsychologisch-analytischen Aspekten ausgerichtet, wobei nach differenzierter Indikationsstellung auch andere Therapiemethoden zur Anwendung kamen im Sinne einer schon integrierten Psychotherapie. Dazu diente auch eine zunehmend differenzierte Diagnostik. Bei dem sich fortlaufend erweiternden Therapieprogramm der Abteilung wurde den Einzel- und Gruppengesprächen unter o. g. Gesichtspunkten die weitaus größte Bedeutung beigemessen. Die Visiten erfolgten in Form der Gruppenvisiten. Als günstigste Möglichkeit der Verantwortungsübertragung auf die Patienten wurden in der Therapeutischen Gemeinschaft der Patientenrat und die Hausgruppe (Hausparlament) als Großgruppe unter Ein­ beziehung aller Patienten und Mitarbeiter betrachtet. Die anderen therapeutischen Verfahren, wie z. B. Autogenes Training, Progressive Muskelrelaxation, Konzentrative Entspannung, Ruhesuggestion und besinnliche Stunde über Tonband, Kommunikative Bewegung, Musiktherapie, Gestaltungs- und Arbeitstherapie, Maltherapie, verhaltenstherapeutische Programme, Rollenspiel, Gymnastik- und Fitnessübungen sowie Hypnose und Katathymes

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Bilderleben, ließen sich nahtlos im Sinne einer integrativen Psychotherapie mit tiefenpsychologisch-analytischer Grundlage unter Wahrung der Basisvariablen der Gesprächspsychotherapie in dieses Psychotherapiekonzept einfügen. Sie stellten sinnvolle Erweiterungen der therapeutischen Möglichkeiten dar, die letztlich die Intensität des therapeutischen Einwirkens auf die Patienten erhöhen. Die Psychotherapie-Abteilung hatte dabei außer den spezifischen Leistungen, die sie für die Therapie neurotisch-funktioneller und psychosomatischer Erkrankungen erbrachte, weitere Aufgabenbereiche in Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie Forschung (Epidemiologie, Therapieziele, Therapieprozess u. a. m.). Sie verstand sich darüber hinaus als Bestandteil eines integrierten psychiatrischen Versorgungssystems auf modernem Niveau, in dem Psychotherapie ein wichtiges und wirkungsvolles Instrument psychiatrischer Komplextherapie darstellte.

4.8.2.2 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Psychotherapie an der Universitätsnervenklinik Halle/Saale 1970–1979 Teil I – Erdmuthe Fikentscher: Psychotherapie bei Patienten im Erwachsenenalter Der Behandlungsrahmen auf der Psychotherapie-Station der Universitätsnervenklinik Halle änderte sich zu Beginn der 1970er Jahre durch direktorale Entscheidungen. Die frühere Möglichkeit einer mehrmonatigen stationären Behandlung wurde aus Kostengründen zugunsten einer geschlossenen Gruppenaufnahme mit sechs-, später acht- bis neunwöchigem Behandlungsgang aufgegeben. Zunächst stand für dieses äußere Behandlungssetting noch kein gruppendynamisches Behandlungskonzept zur Verfügung. Zusätzlich erschwerend war der halbjährige Wechsel der Stationsführung durch junge Assistenzärzte unter oberärztlicher Leitung von Karl-Heinz Liebner. Mit meiner (E. F.) Übernahme der Station änderte sich dieser Modus im Sinne einer Spezialisierungsmöglichkeit durch langfristigen Einsatz der ärztlichen Mitarbeiter. Die tiefenpsychologisch orientierte Gruppentherapie in der DDR wurde seit dem ersten internationalen Symposium über Gruppenpsychotherapie 1966 in Berlin besonders von Kurt Höck (1981a) als Methode der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie entwickelt. Sie galt damals in der DDR als optimale Methode zur Behandlung von Neurosen, vor allem in Gestalt psychischer Fehlentwicklungen, wobei das Hauptaugenmerk mehr auf interaktionellen Prozessen als auf der Bearbeitung von intrapsychischen Konfliktfeldern lag. In den 1970er Jahren stand hinter der Bezeichnung »Intendiert« noch ein gezieltes Hinführen des Patienten in ein vorgegebenes Kommunikationsmuster, was den Erfahrungen der Menschen in der DDR entsprach, die in festen Gruppen von Kindergarten über Schule, Berufsausbildung und selbst Freizeit entsprechend gesellschaftspolitischen Vorstellungen leben sollten. Die Intendierte Dynamische Gruppentherapie wurde systematisch allen psychotherapeutisch interessierten Ausbildungskandidaten vermittelt, besonders in Selbsterfahrungskursen und durch Hospitation am Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung im Haus der Gesundheit (ich selbst war dort zehn Monate zur Ausbildung, E. F.), wobei eine methodische Weiterentwicklung auch im psychodynamischen Sinne in der fruchtbaren Aus-

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einandersetzung mit Kritikern, zu denen wir uns in Halle durchaus zählten, stattfand (bei einer Teambesprechung eines von Kurt Höck als Modellfall vorgesehenen Behandlungsverlaufs einer von von mir [E. F.] geführten Gruppe vorwiegend depressiver Patientinnen äußerte er: »So kann man es auch gut machen«). Diese gruppentherapeutische Behandlungsform war ab Mitte der 1970er Jahre wesentlicher Behandlungsbaustein auf der Psychotherapie-Station der Universitätsklinik für Psychiatrie und Neurologie in Halle. Als weitere stationäre Einrichtung gab es in Halle noch am Bezirkskrankenhaus eine internistisch-psychotherapeutisch arbeitende Abteilung, geleitet von Chefarzt Dr. Hans-Walter Crodel, die allerdings wenig Möglichkeiten zum Austausch wegen anderer methodischer Ausrichtung bot. Mit zunehmender kritischer Reflexion wurde uns deutlich, dass die Überbetonung gruppentherapeutischer Behandlungen vielen Patienten nicht gerecht werden konnte. So bemühten sich zunächst relativ kleine Arbeitsgruppen, eine auf tiefenpsychologischer Erkenntnis beruhende Einzeltherapie zu entwickeln. An der Universitätsnervenklinik Halle fand dies in anregender und gleichberechtigter Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Psychologen statt und bezog auch Kollegen aus den städtischen Polikliniken ein. Vom leitenden Psychologen Heinz Hennig angeregt, erarbeiteten wir uns vor allem die therapeutischen Möglichkeiten des Katathymen Bilderlebens (} Abschnitt 4.5.5). Da es Ende der 1970er Jahre in der DDR gelang, den Facharzt für Psychotherapie gegenüber staatlichen Stellen durchzusetzen, sahen wir ihn als Möglichkeit an, Psychotherapie methodenübergreifend und als integratives und interdisziplinäres Fach in die Medizin einzuführen. Unsere Bemühungen blieben allerdings an der Halleschen Universität wegen der geringen Mitarbeiterzahl insgesamt im bescheidenen Rahmen. Als methodisches Inventar wurden neben den genannten Vorgehensweisen auch Gesprächstherapie und Varianten der Verhaltenstherapie eingesetzt. Sehr wichtig waren die zusätzlichen Therapien in Form der Kommunikativen und Konzentrativen Bewegungstherapie, Musik-, Gestaltungs- und Maltherapie, wobei letztere Helmut Rennert sehr am Herzen gelegen hatte. Gegenüber unserem praktischen Wirken waren die Möglichkeiten in Lehre und Forschung deutlich eingeschränkter. Eine eigenständige Vorlesung zur Vermittlung von psychotherapeutischem und psychosomatischem Grundlagenwissen fand keinen Eingang in die medizinische Studienordnung, wie es in der Bundesrepublik durchgesetzt werden konnte. Lediglich einige Aspekte (z. B. Arzt-Patienten-Beziehung, ärztliche Gesprächsführung sowie Krankheitsbewältigung) wurden eingebunden in Psychiatrievorlesungen und in die Vorlesung »Medizinische Psychologie«. Die Forschungsaufgaben erstreckten sich von sexualwissenschaftlichen Themen (Fikentscher, Liebner u. Adam 1976, 1977, 1978; Liebner u. Fikentscher 1976, 1978), speziellen Fragen psychotherapeutischer Behandlungstechniken (Fikentscher u. Liebner 1979, Krause u. a. 1978, Kühne u. Grünes 1979, Rennert 1979) – einschließlich des Katathymen Bilderlebens –, Veränderung des Riech- und Schmeckverhaltens durch Psychotherapie (Fikentscher u. a. 1980), Bearbeitung von ethischen und psychosozialen Grundfragen der ärztlichen Tätigkeit – auch unter dem Aspekt der studentischen Ausbildung – bis hin zu umfassenden Untersuchungen von Pädagogen hinsichtlich Entstehungsbedingungen von psychischen Störungen. Die beschränkten Veröffentlichungsmöglichkeiten (auch Veröffentlichungsverbot bei einzelnen Themen) haben eine weiter ausstrahlende wissenschaftliche Wirkung verhindert.

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Gleichzeitig gab es in der lange Jahre (bis Ende der 1960er Jahre) sehr eigenständigen Fakultät eine zunehmende politische Ausrichtung im Sinne der SED-Vorgaben, wodurch die Stellung des damaligen Klinikdirektors immer schwieriger wurde. Einen gewissen Schutz gab Helmut Rennert die Mitgliedschaft und dann Vizepräsidentschaft in der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina, die ihren Sitz in Halle hat und sich über die Jahrhunderte immer wieder eine Eigenständigkeit bewahrte. Deren Bibliothek, zahlreiche wissenschaftliche Vorträge und besonders die Jahrestagungen mit vielen Nobelpreisträgern haben uns zahlreiche, anregende Möglichkeiten und Höhepunkte (z. B. spezielle Treffen für Studenten und junge Wissenschaftler mit Carl Friedrich von Weizsäcker in der Leopoldina und im kirchlichen Raum) gebracht.

Teil II – Heinz Hennig: Psychotherapeutische Ansätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Die 1968 von H. Rennert begründete Kinder- und Jugendpsychiatrische Station an der Halle’schen Universitätsnervenklinik wurde vom damaligen Oberarzt Dr. sc. med. Bernhard Dober und mir als eine überwiegend psychotherapeutisch konzipierte Einrichtung geführt. Die psychotherapeutische Orientierung schloss mit einem integrativen Ansatz die seinerzeit in der DDR möglichen psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungsangebote ein. Recht pragmatisch nutzten wir, abhängig von der Persönlichkeit und der Symptomatik der Patienten im Kindes- und Jugendalter (Hennig 1968), im klinischen Alltag ein eher multimodal angelegtes Interventionsmodell. Dabei dominierte in der Regel ein tiefenpsychologisch-psychodynamischer Denkansatz die Interpretation der jeweiligen Symptomatik. Trotz mancher sehr unorthodoxer Kombinationen bestimmter Verfahren oder Methoden (z. B. tiefenpsychologischer Arbeit mit Verhaltenstherapie, Hypno- oder Suggestionstherapie, Familientherapie etc.) ging der psychodynamische Akzent im Umgang mit den unterschiedlichen methodischen Ansätzen nicht verloren. Die seinerzeit international üblichen tiefenpsychologisch-analytischen Entwicklungslinien ließen sich den wesentlichen Fachzeitschriften entnehmen, die zumindest an den Universitätskliniken in der DDR erreichbar waren. Übrigens entwickelten sich aus den reichlich versandten Sonderdruckanforderungen an deutschsprachige Fachkollegen in Österreich, der Schweiz und insbesondere in der alten BRD nicht selten lebhafte Briefkontakte über den Eisernen Vorhang hinweg, die späterhin oftmals in so manchen persönliche Begegnungen mündeten. Relativ schnell entwickelte sich die Kinder- und Jugendpsychiatrische Station mit ihrem Konzept zu einem regionalen Zentrum tiefenpsychologisch-psychodynamischer Ausrichtung und zunehmender überregionaler Ausstrahlung. Eine Anzahl Publikationen in den entsprechenden Fachzeitschriften sowohl in der DDR als auch der BRD spiegeln auch den klinisch-wissenschaftlichen Hintergrund der Interventionsansätze (Hennig et al. 1972; Hennig et al. 1973; Hennig 1976a, 1976b, 1977, 1978a, 1978b; Hennig u. Rennert 1979a; Hennig 1979). Die zunächst durch das vorwiegend kindliche Patientengut bestimmten Therapieansätze verlagerten sich im Verlauf des Jahrzehnts zum Jugend- und Jungerwachsenenalter hin. Ins-

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gesamt überwiegen nahezu durchgehend Angstsyndrome unterschiedlicher Art in der klinischen Forschung, was sich in einigen überregionalen Arbeitstagungen widerspiegelt. Hier seien beispielhaft die Arbeitstagungen »Pathologische Angst und Phobien im Kindesalter« (April 1975) und »Angstsyndrome – Entstehung, Einordnung und Behandlung« (Juni 1978) erwähnt. Die psychotherapeutische Konzeption der Kinder- und Jugendpsychiatrie profilierte sich im Verlauf des Jahrzehnts zusehends in eine psychodynamische Richtung. Die integrative Grundkonzeption eines pragmatischen und wenn möglich individuell gestalteten Vorgehens wurde beibehalten. Zunehmend dominierten imaginative Therapieansätze, insbesondere das Katathyme Bilderleben (KB) sowohl als Einzel- wie als Gruppenbehandlung, im Interventionsgeschehen. Ferner soll nicht unerwähnt bleiben, dass von diesem Arbeitsumfeld nicht wenige Impulse zur psychodynamischen Versorgung im regionalen Umfeld ausgingen (Hennig 1971; Hennig u. Gunkel 1980).

4.8.2.3 Michael Geyer: Stationäre, ambulante und tagesklinische Psycho­ therapie an der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt38 Nicht zuletzt durch die Aktivitäten der Erfurter Selbsterfahrungsgruppe (} Abschnitt 3.5.5) ist 1970 an der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt ein Klima entstanden, in dem die Gründung einer Spezialabteilung für Psychotherapie in der Leitungskonferenz der Klinik in den Blick gerät. Bis 1968 werden psychotherapiebedürftige Patienten sowohl stationär als auch ambulant gleichsam allgemeinpsychiatrisch mitversorgt. Die Kinderstation ist von jeher pädagogisch-psychotherapeutisch ausgerichtet. Es gibt spezielle Ansätze der Enuresisbehandlung und der Therapie der Chorea minor. Die Frauenstation hält ein Acht-BettZimmer speziell für solche Patientinnen vor, die bevorzugt Einzelgespräche erhalten. Auch in der Männerstation gibt es Unterbringungsmöglichkeiten außerhalb des kleinen und großen Wachsaals. Solche Patienten werden traditionell von den drei Psychologen der Frauen-, Männer- und Kinderstation mitbehandelt. Auch in der ambulanten Versorgung gibt es psychotherapeutische Ansätze. Die Klinik unterhält eine neuropsychiatrische Poliklinik, in der alle Ärzte jeweils mindestens einen halben Tag pro Woche Patienten aus einem Einzugsbereich, der weite Teile Thüringens umfasste, neurologisch und psychiatrisch diagnostizieren und behandeln. Einzelne Patienten werden auch hier mit Autogenem Training, Hypnose und in Einzelgesprächen behandelt. Mit der Bildung der o. g. Erfurter Selbsterfahrungsgruppe gibt es seit 1968 mehrere Ärzte, die sich für diese Patientengruppe interessieren und zunehmend methodisch fundierte Einzel- und Gruppengespräche anbieten. Der Initiator der Gruppe – Jürgen Ott (1938–2003) – ist 1969 Stationsarzt und ich selbst (*1943) Assistenzarzt der Kinderabteilung. Gemeinsam mit der Kinderpsychologin Karin Schneemann (*1930) führen wir die symptomhomogene Gruppenpsychotherapie bei 12- bis 16-jährigen Kindern und Jugendlichen ein, die in Fachkreisen Aufmerksamkeit findet (Ott, Geyer u. Schneemann 1972). 38 Eine ausführliche Beschreibung der Struktur der Klinik, des therapeutischen Klimas und des Klinikdi­ rektors Richard Heidrich findet sich in meinem Beitrag über die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe (} Abschnitt 3.5.5).

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Ab 1969 behandelt der Autor auch erwachsene Patienten in drei bis fünf ambulanten Gruppen pro Woche nach den Sprechzeiten spätnachmittags im Warteraum der Poliklinik, die unter Angst-, Zwangs-, depressiven und Zwangsstörungen leiden. Die Situation ist überaus unbefriedigend, da einerseits viele Patienten wegen der begrenzten therapeutischen Kapazität abgewiesen werden müssen und die räumlichen Verhältnisse ungenügend sind. Ohne funktionierende klinische Strukturen scheinen die Probleme nicht lösbar. Beispiele erfolgreicher stationärer Psychotherapie gibt es in Deutschland zu diesem Zeitpunkt nicht nur in Westdeutschland, wenn auch für uns damals Kliniken wie Tiefenbrunn oder Freiberg die eigentlichen Vorbilder stationärer Psychotherapie sind. Zwischen Mai und August 1970 hospitierte ich in der damals schon bekannten stationären Psychotherapie-Abteilung des Hauses der Gesundheit Berlin-Hirschgarten und lernte die Therapie geschlossener Gruppen nach dem damals entstehenden Höck’schen Modell der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie kennen. Danach – inzwischen arbeite ich auf der psychiatrischen Frauenstation – gestattet der Oberarzt der Frauenstation ab März 1971 die Einrichtung einer stationären Psychotherapiegruppe nach diesem Modell, das mit der in Leipzig entwickelten Kommunikativen Bewegungs- und Musiktherapie, Gestaltungstherapie und Konzentrativen Enspannung kombiniert wird. Diese Aktivitäten werden durch Zuweisung einer erfahrenen Krankenschwester und ergotherapeutischer und physiotherapeutischer Kapazität durch Klinikleitung und Klinikumsvorstand unterstützt. Trotz erheblicher Widerstände einiger älterer Kollegen (s. a. Abnschnitt 3.5.5 zur Erfurter Selbsterfahrungsgruppe) scheint zu diesem Zeitpunkt die Psychotherapie integrativer Bestandteil der psychiatrischen Frauenstation und der poliklinischen Arbeit. Allerdings sind die Bedingungen für diese Therapieform räumlich und personell wenig günstig und nach Absolvierung der Facharztprüfung Ende 1971 darf ich einen Antrag auf Gründung einer Spezialabteilung für Psychotherapie an den zuständigen Prorektor der Medizinischen Akademie Erfurt, Gerhard Wessel (*1930; später bis zur Emeritierung Ordinarius für Innere Medizin, Universität Jena) richten, der als Rheumatologe der Psychotherapie gegenüber aufgeschlossen ist. Gleichzeitig beginnt eine außerordentlich fruchtbare wissenschaftliche Kooperation mit der Abteilung für Präventive Kardiologie der Medizinischen Akademie (Leiter: Joachim Knappe, späterer Rektor der Medizinischen Akademie). Ich beteilige mich an einer prospektiven präventiv-kardiologischen WHO-Interventionsstudie und kann ca. 1500 Männer hinsichtlich psychosomatischer Risikofaktoren charakterisieren und gruppentherapeutische Präventivprogramme an gefährdeten Gruppen anwenden. Dank dieser Zusammenarbeit, die einige Jahre später zur Habilitation führt, wird das Projekt Psychotherapeutische Spezialabteilung auch durch den Prorektor für Forschung unterstützt. Am 1. Mai 1972 schließlich bekomme ich die Zusage der Hochschulleitung, dass eine Psychotherapeutische Spezialabteilung eingerichtet werden kann. Nach Monaten der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten wird der Nervenklinik in einem großen Geschäftshaus im Zentrum der Stadt – der Bahnhofstraße 5a – die zweite Etage mit fünf großen Behandlungsräumen, Dienstzimmer, Küche und Sanitärtrakt zugewiesen. Gleichzeitig werden drei zusätzliche wissenschaftliche Mitarbeiterstellen (zusätzlich zum Leiter ein Facharzt und zwei Psychologen), zwei Planstellen für Krankenschwestern und eine Reinigungskraft in Aussicht gestellt. Darüber hinaus verpflichtet sich die Klinik, jeweils eine halbe Ergothe-

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rapie- und Physiotherapiestelle der Abteilung zur Verfügung zu stellen, Personen, die bereits seit geraumer Zeit mit mir zusammengearbeitet hatten. Von Anfang an ist klar, dass innerhalb dieser Räume Patienten nicht stationär untergebracht werden können. Die Klinik stellt zu diesem Zweck bis zu zwölf Betten zur Verfügung (tatsächlich waren es schließlich acht Betten, die sicher zur Verfügung standen). Allerdings sollten alle psychotherapeutischen Aktivitäten ausschließlich außerhalb der Klinik stattfinden. Noch sind die Räume nicht nutzbar. Wer die Knappheit an Handwerksleistungen in der DDR miterlebt hat, wird nachvollziehen, dass es Monate dauert, bis die ersten Patienten dort empfangen werden können. Im Herbst 1972 könnten die Räume für alle Aktivitäten der Spezialabteilung genutzt werden, allerdings fehlt eine moderne Heizung, die die in den Räumen befindlichen Kachelöfen überflüssig macht. Das offizielle Antragsverfahren der Hochschulleitung auf Zuweisung einer Heizanlage ist nicht erfolgreich und alles soll sich noch mindestens um ein weiteres Jahr verzögern. Noch vor Einbruch des Winters gelingt Abhilfe durch »Beziehungen«. Eine Ärztin der Nervenklinik kennt einen Redakteur der Lokalpresse, der wiederum Beziehungen zur entsprechenden Handelsorganisation hat. Auf diese Weise wird eine Gasheizung für die Behandlungsräume organisiert, so dass die Einrichtung voll funktionstüchtig wird. Der Andrang auf das erste ambulante Psychotherapie-Angebot in einer Stadt mit 200.000 Ein­wohnern ist enorm. Im ersten Jahr erhalten wir 1500 Überweisungen. Das groteske Missverhältnis zu unseren Ressourcen verlangt nach neuen Lösungen. Das Team nimmt die Herausforderung an, sucht sich Anregungen für die Lösung der praktischen Probleme in der Literatur und in den bereits funktionierenden, jedoch in völlig anderen Umfeldern befindlichen, stationären Psychotherapie-Abteilungen. Eine teilstationäre, tagesklinische Psychotherapie gibt es bis dato nicht, aber angesichts fehlender stationärer Betten liegt es nahe, solche Strukturen zu erfinden. Das Team ist bemerkenswert innovativ und es entsteht eine »Indikationspyramide« für unterschiedliche Patientenbedürfnisse. Die Basis dieser Pyramide besteht in einem Beschwerdenfragebogen-Screening: Praktisch alle Patienten werden nach Feststellung eines entsprechenden Beschwerdengrades und einem kurzen Aufnahmegespräch in eine Autogene-Training-Gruppe eingegliedert, von denen täglich mehrere von allen Teammitgliedern einschließlich der besonders dafür ausgebildeten zwei Schwestern angeboten werden. Bis zu zehn Gruppen pro Woche sind in den ersten Jahren notwendig, um dem Ansturm der Patienten zu begegnen. Durch diese Gruppen müssen mehr als 60 % der Patienten zunächst abschließend versorgt werden. Die zweite Ebene der Pyramiden wird von Patienten gebildet, denen nicht mit einem Entspannungsverfahren, allerdings mit einer Gruppenpsychotherapie geholfen werden kann. Die leichteren Fälle werden entweder in eine ambulante Gruppentherapie mit wöchentlich einer eineinhalbstündigen Sitzung (bei wenigen Einzelgesprächen) eingegliedert, die schwereren kommen auf Wartelisten für eine tagesklinische psychotherapeutische Intensivtherapie. Die Spitze der Pyramide stellt die Indikation für eine Einzelgesprächstherapie dar. Es bleiben allerdings wenige Patienten, denen nur durch eine Einzelgesprächstherapie geholfen werden kann. Das Therapieprogramm entwickelt sich in den folgenden Jahren kontinuierlich weiter. Dieses Programm ist identisch mit dem stationären Intensivprogramm, das seit der Existenz

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eigener Räume auch in diesen stattfindet, so dass stationäre und tagesklinische Patienten gemeinsam innerhalb eines Settings und in einer Gruppe (mit maximal zwölf Mitgliedern) behandelt werden können. Diese Patienten werden sorgfältig diagnostiziert. Es wird eine Baseline- und Prätest-Diagnostik mit einem klassischen biographischen Interview, dem Beschwerdenfragebogen nach Höck und Hess, MMPI, Raven, FPI, später Gießen-Test und individuell bezogenen Testverfahren durchgeführt. Die jeweilige Gruppe wird geschlossen über acht Wochen geführt, so dass im Fokus der Behandlung die jeweilige Position des einzelnen Patienten im gruppendynamischen Prozess steht. Das Therapieprogramm besteht aus täglichen Gruppengesprächen an fünf Wochentagen, täglicher Kommunikativer Bewegungstherapie oder Konzentrativer Entspannung sowie Gestaltungstherapie, zwei Mal wöchentlich Musiktherapie sowie individuellen sportlichen Angeboten zur körperlichen Konditionierung. Pro Patient werden einschließlich der Erst- und Abschlussinterviews sieben individuelle Gespräche im Verlauf der Behandlung geführt. Auf den im Gruppenprozess befindlichen Patienten ist auch die prozessbegleitende Diagnostik gerichtet: Nach jedem Gruppengespräch wird das am Haus der Gesundheit entwickelte Soziogramm (} Abschnitt 4.5.2.4) erhoben, außerdem werden täglich Angstmessungen mit dem Emotionalitätsinventar »EMI« (Ulrich, Ulrich-deMuynk), die Messung der emotionalen Distanz der Gruppenmitglieder (Ott, Böttcher, Geyer) und wöchentlich ein selbstentwickeltes Therapiemotivationsrating durchgeführt. Am Ende der Therapie steht eine »Erfolgs-Post-Messung« mit den o. g. Verfahren. Die Abteilung erarbeitet sich in den ersten zwei Jahren nicht zuletzt durch ihre wissenschaftliche Arbeitsweise und den Nachweis guter Besserungen und Heilungen der ihr anvertrauten Patienten einen Ruf, der weit über Thüringen hinausgeht. Das anfänglich aus einem ärztlichen Leiter, einem weiteren psychiatrischen und psychotherapeutisch ausgebildeten Facharzt, zwei Psychologen, zwei therapeutisch einsetzbaren Schwestern sowie Teilzeitphysio- und Gestaltungstherapeutin bestehende Team enthält bald Verstärkung durch ständig zwei bis drei psychologische und ärztliche Hospitanten aus den angrenzenden mitteldeutschen Regionen, die von ihren Arbeitsstellen halbjährlich oder ganzjährig zur Ausbildung an die Abteilung delegiert werden, sowie studentische psychologische Praktikanten. Diese Abteilung – bald »Bahnhofstraße« genannt –wird zum Kristallisationspunkt aller psychotherapeutischen Fort- und Weiterbildungsaktivitäten des damaligen Bezirkes Erfurt und Zentrum der Öffentlichkeitsarbeit über Presse, Radio und Fernsehen. Nach der von mir – inzwischen 2. Sekretär des Vorstandes der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie – unternommenen Gründung der Regionalgesellschaft Erfurt, die rasch über 100 Mitglieder hat, werden sämtliche regionale und in Thüringen stattfindende überregionale Tagungen und Kongresse durch die Mitarbeiter der »Bahnhofstraße« organisiert. Viele ehemalige Hospitanten gründen psychotherapeutische Abteilungen an ihren Arbeitsstellen, meist Kreispolikliniken oder Kreiskrankenhäuser. Zehn bis zwölf Jahre später – Mitte der 1980er Jahre – befinden sich bereits an fast allen poliklinischen Einrichtungen des Bezirkes meist durch Psychologen betriebene Psychotherapie-Abteilungen (z. B. Renate Schilling, Wolfgang Fiedler u. a.). Die Forschungskooperation mit der Präventivkardiologie bringt die Mitarbeiter in ständigen Kontakt mit der somatischen Medizin und es entsteht ein eher informeller psychoso-

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matischer Konsiliardienst für die Innere Medizin der Medizinischen Akademie. 1974 wurde ich ständiger Konsiliarius des Katholischen Krankenhauses Erfurt, eines Allgemeinkrankenhauses mit ca. 400 Betten. Durch einen dort tätigen internistischen Kollegen, der in der »Bahnhofstraße« hospitiert hat, wird dort Ende der 1970er Jahre eine Abteilung für internistische Psychosomatik mit 15 bis 20 Betten eingerichtet, die bis zur ihrer Übernahme durch die dortige Psychiatrie im Jahre 2003 besteht. Der innovative Teamgeist hielt sich über die Zeit. Er wird auch in einem Bericht eines psychologischen Mitarbeiters deutlich, den dieser über seine Zeit nach 1978 in dieser Abteilung als Bestandteil seiner Internet-Vita publiziert hat (Ehrhardt 2001). Hier ein kurzer Ausschnitt: »Meine Tätigkeit als Psychotherapeut war eine der schönsten Zeiten in meinem Leben. Die Abteilung, in der ich von 1978 bis 1985 arbeitete, war die psychotherapeutische Abteilung der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt, Bahnhofstraße 5a. Diese Adresse war eine berühmte Adresse. Nicht nur weil wir Ausbildungseinrichtung für medizinische und Psychologische Psychotherapeuten waren und demzufolge immer mindestens 2 bis 3 Ausbildungskandidaten bei uns arbeiteten, [...] sondern [...] auch wegen der gelebten Teamqualität und [...] therapeutischen Gemeinschaft. Wir galten in der DDR [...] als eine der Top-Adressen für effektive Psychotherapie [...]. Zu uns wurden alle Patienten überwiesen, die andere nicht gesund bekamen. Wir standen unter dem Druck und der Herausforderung, das zu schaffen, wo andere versagten. Am schönsten war es, wenn wir bei Kaffee oder Tee zusammen saßen und die Ergebnisse unsere Arbeit auswerteten. Dabei ging es genauso darum, warum etwas funktioniert hatte, als auch, warum etwas nicht funktionieren konnte [...]. Es war lebendigste und effektivste Kommunikation in Reinkultur [...]. Allerdings habe ich in dieser Zeit gelernt, alles, aber auch alles, was ein Therapeut an Interventionen loslässt, auf der Meta-Ebene von Ursache, Ziel und Wirkung zu reflektieren. Was haben wir in diesen sieben Jahren nicht alles nebenbei an Kongressen, Symposien und Tagungen organisiert [...]«. An dieser Abteilung entstehen innerhalb von zehn Jahren meine Habilitation, Vorarbeiten zu zwei Büchern (Geyer 1985, 1989), fünf Dissertationen, 14 Diplomarbeiten, 22 wissenschaftliche Originalarbeiten (u. a. Geyer 1981; Geyer u. Klahre 1981; Geyer et al. 1974, 1975a, 1975b, 1976, 1979b), zehn Buchbeiträge und 124 Vorträge. Nach meiner Berufung an die Universität Leipzig 1983 wird Dieter Vogler, langjähriger Stellvertreter des Abteilungsleiters, mein Nachfolger. Er stellt bereits ein Jahr später einen Ausreiseantrag und verlässt 1985 die DDR. Die Abteilung wird 1988 durch den Nachfolger Richards Heidrichs im Direktorat der Nervenklinik seit 1985, den Neurologen Gerhard Reichel, einen der Stasi nahestehenden SED-Genossen (s. meine Stasiakte), geschlossen.

4.8.3 Inge Brüll: Die Psychotherapie-Abteilung des Klinikums Berlin-Buch Unsere Klinik in Berlin-Buch war ein selbständiger Chefarztbereich in einem Klinikum mit einer Kapazität von etwa 4000 Betten, der die meiste Zeit seines Bestehens von U. Kießling, einem ehemaligen Mitarbeiter Höcks, geleitet wurde. Den 46 Patienten der Klinik standen drei Ärzte für Psychotherapeutische Medizin, fünf Psychologen, zwei Bewegungstherapeu-

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ten, je ein Ergotherapeuten und Musiktherapeuten, drei Schwestern sowie studentische Psychologiepraktikanten zur Verfügung. Der Nachtdienst war mit dem der Neurologie oder der Gerichtspsychiatrie verbunden. Alle Therapeuten hatten eine Selbsterfahrung in der Methode der Intendierten Dynamischen Gruppenselbsterfahrung durchlaufen und waren psychodynamisch orientiert. Für die meisten klinischen Fachgebiete, die im Klinikum Buch vertreten waren, standen darüber hinaus jeweils klinische Psychologen zur Verfügung, die in diesen Kliniken angestellt waren und vorwiegend in Gesprächspsychotherapie ausgebildet waren. Unserer Klinik hatte zwei Abteilungen, die Abteilung für Gruppentherapie und die für Einzeltherapie. In der Gruppentherapieabteilung wurden strukturell weniger gestörte, relativ Ich-stabile Patienten in drei geschlossenen Gruppen nach der Methode der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie behandelt. Einer Gruppe von zwölf Patienten stand jeweils ein Therapeutenpaar zur Verfügung. Es gab täglich eine therapeutische Kleingruppe und eine Großgruppe, zwei Mal wöchentlich Kommunikative Bewegungstherapie und aktive und rezeptive Musiktherapie, wöchentlich Kunsttherapie, Psychodrama und Ergo­ therapie. Das strenge Prinzip des Verweisens in der Gruppe auf das Hier und Jetzt machte es einfacher, die realen sozialen und weltanschaulichen Unterschiede im Therapeutenteam und auch bei den Gruppenmitgliedern zu überwinden. So konnte neben dem Professor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften die LPG-Landfrau und daneben vielleicht ein religiöser Sektierer sitzen. Mit dem Abstand von heute betrachtet war unser therapeutisches Ziel sicher doppelbödig. Indem die Patienten eine flexiblere Abwehr entwickelten, wurden sie insgesamt anpassungsfähiger. Gleichzeitig haben wir die Gruppenteilnehmer im Zusammenhang mit dem sog. Kippprozess unentwegt zu Minirevolten ermutigt und sie damit auf den Umbruch vorbereitet. In der Abteilung Einzeltherapie-Abteilung wurde mit einer offenen Gruppe (maximal 18 Patienten) gearbeitet. In diese Gruppe kamen strukturell schwerer gestörte, auch ältere und psychosomatische Patienten mit schweren körperlichen Krankheiten, die internistisch mitbehandelt werden mussten. Hier kam der Vorteil des Zweitfacharztes für Psychotherapie auf der Grundlage z. B. eines Erstfacharztes für Innere Medizin zum Tragen. Die Patienten erhielten mit dem Aufnahmegespräch einen Bezugstherapeuten, der mindestens zweimal wöchentlich und bei Bedarf für Einzelgespräche zu Verfügung stand. In den täglichen Gruppengesprächen nahmen das Therapeutenpaar wechselseitig Leitungs- und Ko-Leitungsfunktion wahr, so dass für jeden Patienten »sein« Bezugstherapeut in der Hierarchie gleichrangig blieb. Im Umgang mit Kranken und Schwerkranken zeigten sich uns unsere Möglichkeiten und Grenzen. Die Vernetzung mit den anderen Fachbereichen durch die konsiliarische Tätigkeit brachte uns Kliniker aneinander näher. Wir sahen unsere Grenzen als Ärzte und Therapeuten und brauchten einander. Neben diesem Austausch nahe am Patienten hatte sich seit Mitte der 1980er Jahre eine dann über Jahrzehnte etablierte Balint-Gruppe im Klinikum gebildet, in der interessierte Kollegen psychodynamische Zusammenhänge im Kontext der Arzt-Patient-Beziehung diskutieren konnten.

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Nach der Wende Anfang der 1990er Jahre veränderte sich die Landschaft des Klinikums. Die Klinik für Psychotherapie löste sich in der psychiatrischen Klinik auf. Trotzdem konnten noch zwölf Tagungen der Deutschen Balint-Gesellschaft im Klinikum stattfinden – ein Zeichen der Kontinuität unseres Wirkens.

4.8.4 Ambulante und tagesklinische Psychotherapieeinrichtungen in Sachsen und Sachsen-Anhalt 4.8.4.1 Gerhard di Pol: Von der psychotherapeutischen Abteilung der Poliklinik Nord zur Fachpoliklinik für Psychotherapie der Stadt Leipzig – Eine Entwicklung über drei Jahrzehnte Alexander Beerholdt hatte in unermüdlichen Verhandlungen mit den Behörden am 1. Mai 1951 eine »Abteilung für Psychotherapie« an der Großpoliklinik Nord in Leipzig gegründet, die von der Sozialversicherung finanziert wurde (} Abschnitt 1.4.3). Im Laufe der Zeit konnte Beerholdt die Abteilung personell und räumlich ausbauen. 1968, bei der Übergabe der Abteilungsleitung an seinen Nachfolger, bestand die Abteilung neben Beerholdt als Leiter aus zwei Psychologen in Vollzeit-, zwei Psychologen in Teilzeitbeschäftigung und einer Aufnahmekraft. Beerholdt behandelte ausschließlich mit Psychoanalyse und analytisch orientierten Einzelgesprächen. Seine Mitarbeiter führten auch fremdsuggestiv unterstütztes Autogenes Training in Großgruppen und einzeln durch. Gerade durch die letztgenannte Therapie war die Abteilung in erster Linie in Leipzig bekannt. Dr. Beerholdt wurde auch nach seiner Pensionierung in der Poliklinik weiterbeschäftigt, war – wie schon in der gesamten Zeitspanne als ärztlicher Leiter dieser Abteilung – auch in seinem späten Ruhestand bis zu seinem Tod 1976 ausschließlich psychoanalytisch tätig. Im Jahre 1969 übernahm Gerhard di Pol, der auf mehrjährige psychotherapeutische Erfahrungen an der Universität Leipzig zurückblicken konnte, die Leitung der psychotherapeutischen Abteilung der Poliklinik Nord Leipzig. Durch die Einstellung weiterer Psychologen gelangen schon 1969 eine erhebliche Kapazitätserweiterung, die Einführung von Gruppengesprächen und die Umstellung der Vermittlung des Autogenen Trainings als autosuggestive Methode. Bald folgte eine Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten durch die Anstellung einer Physiotherapeutin und eines Musiktherapeuten. Ab 1972 verstärkte ein zweiter Facharzt für Psychiatrie mit psychotherapeutischen Vorkenntnissen das Team. Nach intensiven Diskussionen und dem Erproben verschiedener Therapiekonzepte erfolgte mit Unterstützung der Sektion Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin und der Psychiatrischen Klinik der Universität Leipzig die grundsätzliche Orientierung auf die Ge­sprächstherapie Rogers’, von Anfang an in Kombination mit Kommunikativer Bewegungstherapie, Konzentrativer Entspannung, Regulativer Musiktherapie und Gestaltungstherapie. Mehr ließen die begrenzten räumlichen Möglichkeiten nicht zu. Trotz der personellen und räumlichen Erweiterungen blieben die weiterhin langen Wartezeiten für die Behandlung und die Beschränkung auf ausschließlich ambulante Therapie letztendlich unbefriedigend.

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Nach Auswertung der bisherigen Erfahrungen und Hospitationen in stationären Einrichtungen schien uns in einer Großstadt wie Leipzig mit guten Verkehrsverbindungen die Kombination von ambulanter und tagesklinischer Behandlung als optimale Lösung, auch weil dabei die therapiebedingten Veränderungen der Patienten von der Familie und dem sonstigen, sozialen Umfeld sozusagen miterlebt werden konnten. Der damalige Kreisarzt stand erfreulicherweise einer bedarfsbedingten Erweiterung durchaus positiv gegenüber, was 1980 zur Gründung der eigenständigen Fachpoliklinik für Psychotherapie führte. Die notwendigen Voraussetzungen schaffte die Übergabe eines eigenen Hauses, das nach Rekonstruktion am 2. Juli 1981 von den Mitarbeitern in Besitz genommen werden konnte. Dem folgten eine deutliche personelle Erweiterung und eine neue Struktur mit den Abteilungen Ambulanz, Tagesklinik und Psychoprophylaxe mit jeweils eigenen Leitern. Auf der Grundlage früherer Überlegungen und Erfahrungen wurde ein eigenständiges Therapiekonzept auf gesprächstherapeutischer Grundlage unter Integration erlebensaktivierender Methoden (Interaktionsübungen, Rollenspiele, verhaltenszentrierte und kognitiv-orientierte Übungen, außerdem die schon bei der ambulanten Therapie ein­gesetzten Begleittherapien) entwickelt – die von uns so genannte »integrative Gesprächs­psychotherapie« –, vorwiegend zum Einsatz in Gruppen (»Therapie durch die Gruppe«). Theorie und Umsetzung dieses Konzeptes, das also mehr war als eine Methodenkombination, wurden ausführlich im Tagungsband der zweiten wissenschaftlichen Tagung der Sektion Gesprächspsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (1986) dar­gestellt. An der Erarbeitung dieses Konzeptes hatten zwei Psychologen der Einrichtung, Dr. Jürgen Hauschild und Dr. Sigrun Müller, einen so herausragenden Anteil, dass sie stellvertretend für alle Mitarbeiter genannt seien. Organisatorisch folgten einer ambulanten Vordiagnostik ein Einführungsgespräch und eine achtwöchige tagesklinische Gruppenpsychotherapie, anschließend ein Mal wöchentlich eine ambulante Gruppenpsychotherapie für ein Jahr, zwischenzeitlich noch eine einwöchige tagesklinische Gruppentherapie mit vollem Programm. Den Abschluss bildete ein »Intensivtag«, bei dem die Patienten auch eine verbale und schriftliche Einschätzung von Therapieverlauf und -erfolg abgaben. Therapieverlauf und -erfolg wurden therapiebegleitend durch standardisierte und in der Einrichtung entwickelte Psychodiagnostik erfasst. Über die Ergebnisse wurde ebenfalls auf o.g. Tagung berichtet. Um das Verständnis der Angehörigen für unser Vergehen und die zu erwartenden Veränderungen des Patienten zu fördern, wurden auch diese vor Therapiebeginn zu einem Vortrag eingeladen. Unabhängig von dieser Psychotherapie führte die Abteilung Psychoprophylaxe (Leiter: Dipl.-Psych. Rainer Härtwig) ein psychodynamisch ausgerichtetes Training stark belasteter Führungskräfte (vorwiegend aus Betrieben) durch, um ihnen bessere Bewältigungsstrategien zu vermitteln, aber auch eine bessere Kenntnis der eigenen Persönlichkeit zu ermöglichen. Daneben gab es Raucherentwöhnungskurse und es wurde ein sehr erfolgreiches »Telefon des Vertrauens« aufgebaut, das in veränderter Form auch heute noch besteht. Die Fachpoliklinik war aufgrund ihres differenzierten therapeutischen Angebotes auch als Ausbildungseinrichtung anerkannt. Das »Aus« kam mit der Wende und dem Fehlen einer Trägerorganisation, die die Einrichtung in der vorliegenden Form übernehmen wollte.

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Aus einer Ambulanz mit vier Therapeuten und einer Aufnahmekraft war in den zwei Jahrzehnten vor der Wiedervereinigung eine der größten Psychotherapieeinrichtung der DDR mit drei Abteilungen, 16 therapeutisch tätigen Ärzten und Psychologen, sieben weiteren Mitarbeitern und einem erfolgreichen therapeutischen Konzept geworden.

4.8.4.2 Gerlinde Weise: Ambulante psychotherapeutische Komplextherapie am Modell einer Magdeburger poliklinischen Einrichtung – Zur Ent­ stehungsgeschichte und Struktur der ambulanten psychotherapeutischen Behandlungsform im Rahmen der Organisation der Polikliniken39 In Magdeburg gab es während der DDR-Zeit entsprechend der Stadtteile Mitte, Nord, West und Südost zunächst drei und ab 1974 vier Städtische Polikliniken. 1971 gab es u. a. an der damaligen Poliklinik Mitte-Nord, ab 1974 Poliklinik Mitte, eine Abteilung für Neurologie und Psychiatrie mit zwei Fachärztinnen für Neurologie und Psychiatrie und einem Psychologen, der bei Patienten mit neurotischen und psychosomatischen Störungen die psychischen Hintergründe abklärte und auch therapeutische Gespräche und Autogenes Training durchführte. Der Chefarzt der Poliklinik Mitte, Dr. med. Rudolf Hattwich, erkannte die Notwendigkeit, das Angebot für die Behandlung von funktionellen, neurotischen und psychosomatischen Störungen zu erweitern, und stellte im Mai 1974 die Fachärztin für Neurologie-Psychiatrie, Dr. med. Zs. Matzke, ein. Frau Matzke hatte bereits Psychotherapieerfahrung, die sie bei Prof. H. Wendt im Fachkrankenhaus Uchtspringe erworben hatte. Damit wurde die Abteilung für Psychotherapie der Poliklinik Mitte Magdeburg gegründet. Der Psychologe wurde nun dieser Abteilung zugeordnet. Die Sprechstundenschwester war ausgebildete Physiotherapeutin und qualifizierte sich zur Fachphysiotherapeutin zur Prophylaxe und Physiotherapie funktioneller Störungen und Neurosen, erlernte bei Frau Wilda-Kiesel die Methoden der Kommunikativen Bewegungstherapie und der Konzentrativen Entspannung sowie das Autogene Training. Diese Methoden konnten den Patienten neben der analytisch orientierten oder Dynamischen Einzelpsychotherapie, die die Ärztin leistete, als Ergänzung, teilweise auch als alleinige Therapie nach einer entsprechenden Diagnostik durch die biographische Anamnese und ergänzende Siebtests (BFB und VFB nach Höck und Hess, dem modifizierten MMPI und dem FPI) angeboten werden. Die Ausbildung zur Gruppenpsychotherapie erfolgte in den Kommunitäten bei Dr. med. Kurt Höck.

Die Komplextherapie Ab 1975 wurde neben der Einzeltherapie auch mit der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie nach Höck als Komplextherapie in Kombination mit Kommunikativer Bewegungstherapie und Maltherapie begonnen. Die Therapiegruppen wurden als geschlos39 Für die Zuarbeit danke ich Frau Dr. phil. Waltraud Groscheck, Psychologische Psychotherapeutin, jetzt tätig in der Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik im Städtischen Klinikum Magdeburg, und Herrn Dr. phil. Wulfhard von Grüner, Musikpädagoge, Musikwissenschaftler und Musiktherapeut, jetzt im Ruhestand.

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sene Gruppen über ein Jahr geführt. Die Gruppenstärke betrug zwölf bis maximal 15 Teilnehmer. Die Gruppenpsychotherapie begann mit einer »tagesklinischen« oder »Intensivphase«, d. h., in den ersten zwei Wochen waren die Patienten täglich von 8 bis 16 Uhr, sie waren in der Zeit arbeitsunfähig geschrieben, in der Abteilung. Am ersten Tag wurde nochmals eine entsprechende Diagnostik, die aus heutiger Sicht der Qualitätskontrolle diente, durchgeführt, die Patienten bekamen die Hausaufgabe, einen Lebenslauf zu schreiben und täglich Tagebuch über das in der Therapie Erlebte, über das Befinden und über die Schlafqualität zu führen. Täglich gab es zwei Gruppensitzungen, eine Sitzung Kommunikative Bewegungstherapie, eine Stunde Maltherapie mit anschließender gemeinsamer Auswertung. Nach jeder Sitzung wurden von den Patienten Soziogramme ausgefüllt, die gemeinsam vom Therapeuten, Ko-Therapeuten und der Bewegungstherapeutin ausgewertet wurden, für jeden Patienten wurde eine »Kurve« angefertigt, um den Verlauf der Therapie einschätzen zu können. Einzelsitzungen wurden während der Gruppentherapie nur in Ausnahmefällen gewährt. Nach der Intensivphase traf sich die Gruppe wöchentlich zu 90-minütigen Gruppensitzungen mit anschließendem Auswerten der Soziogramme. Nach einem halben Jahr wurde erneut eine tagesklinische Phase von einer Woche und nach einem weiteren halben Jahr als Abschluss nochmals eine tagesklinische Intensivphase angeschlossen. Nach jeder Intensivphase wurden diagnostische Tests und Einschätzungen für jeden Patienten zur Verlaufskontrolle bzw. Qualitätssicherung vorgenommen. Die Zusammensetzung der Gruppen war geschlechtlich gemischt, das Alter lag zwischen 20 und 60 Jahren mit den unterschiedlichsten Diagnosen, von reaktiver Depression über Phobien, Partnerschafts- und Arbeitsplatzkonflikten, frühen Störungen etc.

Personelle Veränderungen, Methoden- und Aufgabenerweiterungen Im zweiten Halbjahr 1975 hospitierte ich in der Psychotherapie-Abteilung der damaligen Poliklinik Mitte (ich befand mich in der Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin). Ich hatte in meiner allgemeinmedizinischen Arbeit die Erfahrung gemacht, dass es viele Patienten mit psychosomatischen Störungen gab, und wollte über mögliche Ursachen und Therapiemöglichkeiten etwas erfahren. Im Anschluss an meine Hospitationszeit arbeitete ich in der Psychotherapie-Abteilung in den Abendstunden und in meiner Freizeit als Ko-Therapeutin. 1976 erweiterte sich das Therapeutenteam, das bis dahin aus einer ärztlichen Psycho­ therapeutin, einem Psychologischen Psychotherapeuten, einer Fachphysiotherapeutin, ­zeitweise zwei Gast-Ko-Therapeuten, einer Halbtagssekretärin und einer Sprechstundenschwester bestand, durch den Musiktherapeuten Dr. W. von Grüner, der seine Musiktherapie-Ausbildung bei Dr. C. Schwabe erhalten hatte. Damit gab es eine ideale Besetzung von Fachkräften in der Psychotherapie-Abteilung und ausreichende Räume für alle Formen der Psychotherapie waren ebenfalls vorhanden. Aktive und Regulative Musiktherapie sowie Instrumentalimprovisation wurden somit auch fester Bestandteil der komplexen Gruppen­ psychotherapie. Regulative Musiktherapie wurde auch als Ergänzung zur Einzelpsychotherapie oder als alleiniges Verfahren zur Entspannung und besseren Konfliktbewältigung bei den verschie-

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densten psychosomatischen Erkrankungen und bei Patienten nach Herzinfarkt eingesetzt. Eine Singegruppe zur Kommunikationsförderung in den Abendstunden wurde ebenfalls angeboten. Gemeinsam mit Hebammen aus der Frauenklinik der damaligen Medizinischen Akademie Magdeburg und der Schwangerenberatung der Poliklinik Mitte wurde ein Projekt »Psychoprophylaxe für Schwangerschaft und Geburt mittels Konzentrativer Entspannung und Elementen der Regulativen Musiktherapie« entwickelt. Eine Zusammenarbeit des Musiktherapeuten gab es mit der neurologischen Abteilung zur Behandlung von Parkinsonpatienten und mit den Kinder- und Schulpsychologen zur Behandlung verhaltensgestörter Kinder. Ab 1979 ergaben sich einige personelle Veränderungen: Frau Dr. Matzke verließ im Mai 1979 Magdeburg, und ich übernahm die Abteilung, 1981 wechselte der Psychologische Psychotherapeut nach Gardelegen, Frau Dr. W. Groscheck kam als Psychologische Psychotherapeutin von der Universität Jena in die Abteilung, 1984 ging die Fachphysiotherapeutin in die Medizinische Akademie, die Nachfolgerin erlernte die Konzentrative Entspannung, die Kommunikative Bewegungstherapie führten in den Gruppentherapien die ärztliche oder Psychologische Psychotherapeutin durch. Neben der Einzelpsychotherapie waren die Gruppenpsychotherapie wie oben beschrieben mit zwei bis drei Gruppen fester Bestandteil der Psychotherapie-Abteilung, weiterhin drei bis vier Gruppen Autogenes Training, drei bis vier Gruppen Konzentrative Entspannung, zwei Gruppen Regulative Musiktherapie, eine Singegruppe und die Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen. 1988 wurde Frau Dr. Groscheck von der Abteilung Gesundheitswesen der Stadt Magdeburg die Aufgabe übertragen, das »Telefon des Vertrauens« aufzubauen, das bereits in Berlin und Leipzig etabliert war. Die Abteilung Psychotherapie konnte die Arbeit mit veränderter personeller Besetzung bis Oktober 1989 fortführen. Die Psychologische Psychotherapeutin und ab 1986 tätige Musiktherapeutin hatten Ausreiseanträge in die BRD gestellt und sind kurz vor der Maueröffnung (Ende Oktober 1989) ausgereist, damit war eine Gruppenpsychotherapie in der bewährten Form mit Therapeut oder Therapeutin und Ko-Therapeut bzw. Ko-Therapeutin nicht mehr möglich. Ich habe die Abteilung mit dem Spektrum Einzelpsychotherapie, Autogenes Training und Konzentrative Entspannung bis zum 31. März 1991 weitergeführt. Ab 1. April 1991 habe ich mich mit einer Praxis für Psychotherapie niedergelassen.

Bewertungen aus heutiger Sicht In den 1970er und 1980er Jahren hatten wir ohne den ökonomischen Zwang beinahe ideale Voraussetzungen in personeller Besetzung. Ausreichend Räume, jedoch in einem schlechten Zustand und schwer beheizbar, waren vorhanden. Es gab ein breites Angebot an Therapiemöglichkeiten. Unsere Therapiefreiheit war riesig, waren wir doch unabhängig von Genehmigungen durch die Krankenkassen. Das Literaturangebot war eingeschränkt, vieles war für uns nicht zugänglich. Die Fortbildungsmöglichkeiten waren nicht so zahlreich, die Qualität war jedoch sehr gut. Die Kosten

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waren erschwinglich und wurden häufig sogar von den Einrichtungen, in denen wir angestellt waren, erstattet. Der kollegiale Austausch war leichter als heute. Wir konnten uns mehr Zeit für Fallbesprechungen bzw. Supervisionen nehmen, ohne befürchten zu müssen, dass es finanzielle Verluste nach sich zog.

4.8.4.3 Dorothea Roloff: Psychotherapie in der Grundversorgung – Mein Weg zur Psychotherapie und deren Einführung in der Poliklinik Blasewitz in Dresden Nach dem Facharztabschluss für Neurologie und Psychiatrie 1973 schuf ich mir in der Poliklinik Blasewitz meinen Platz (oder meine Nische) als Psychotherapeutin und konnte unbehelligt so tätig sein, wie ich es für mein ärztliches Handeln richtig fand. Ich konnte die Entwicklung der Psychotherapie im Bezirk voranbringen und meine Überzeugungen und mein Wissen bei der psychotherapeutischen Ausbildung an ärztliche und psychologische Kollegen weitergeben.

Was bestimmte die ärztliche Tätigkeit in einer Poliklinik? In den 1960er Jahren folgte auf das sechsjährige Studium und das Pflichtassistenzjahr ein allgemeinmedizinisches Jahr, das ich 1965 in der Poliklinik Blasewitz/Dresden absolvierte. Nach der erlangten Approbation wurde ich fest angestellt und in der Folgezeit verschiedenen allgemeinmedizinischen Außenstellen zugeteilt. Bei 48 Wochenarbeitsstunden gehörten zwei Zwölf-Stunden-Tage dazu, Hausbesuche waren Pflicht, kleine Chirurgie und gynäkologische Untersuchungen waren damals möglich, arbeitsunfähige Patienten mussten bei der Ärztekommission vorgestellt werden, Berufsunfähigkeits- und Rentengutachten waren zu erstellen, notwendige Überweisungen zu Fachärzten und stationäre Einweisungen waren unproblematisch, ebenso die Überweisung zum Nervenarzt bei Anfallsleiden und akuten Psychosen (damals gab es in ganz Dresden zwei niedergelassene Nervenärzte, Dr. Geuder und Dr. Mann). Diagnosen wie Neurosen, Phobien, Persönlichkeitsstörungen oder Posttraumatisches Belastungssyndrom kamen damals im ärztlichen Alltag nicht vor, sie tarnten sich hinter ihrem psychosomatischen Symptombild. Das oberste Prinzip in der ambulanten Tätigkeit war, dass alle Patienten »drankommen« müssen, dass mittags und abends das Wartezimmer wieder leer sein muss, Hausbesuche erledigt und Rezeptwünsche abgearbeitet sein müssen. Mein festes Gehalt war unabhängig von der Qualität der geleisteten Arbeit, nur die Menge der Patienten musste bewältigt werden. Die Konsultationszahlen waren, insbesondere in Vertretungszeiten, er­drückend. Formal gab es auch in der Allgemeinmedizin ein Bestellsystem, aber jeder, der rechtzeitig da war, konnte bleiben. Ich spüre heute noch den Druck angesichts des wachsenden Stapels an Kartentaschen auf meinem Schreibtisch. Es mag seltsam anmuten, aber auch dieser Druck aktivierte meine psychosoziale Wahrnehmung und mein psychotherapeutisches Interesse. Als 1969 die Facharztausbildung auch für den Praktischen Arzt Pflicht wurde, wechselte ich meinem Interesse entsprechend in die Neurologie-Psychiatrie-Aus­ bildung.

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Wie habe ich Psychotherapie in der DDR erlernt? Schon als Schülerin und Studentin hatte ich, wie jeder Interessierte in der DDR, genug Gelegenheit, mich mit dem Zusammenhang von Krankheit und Erlebnisverarbeitung und auch mit dem Problem des Arzt-Patienten-Verhältnisses auseinanderzusetzen. Mir teilte sich nicht nur der Widerstand der Gesellschaftswissenschaftler, sondern auch der der etablierten Mediziner und des Lehrkörpers der Universität gegen diese Denkweise mit. So löste z. B. 1960 in Jena ein Vortrag »Der Kranke und seine Krankheit« von Prof. Brednow heftige Kontroversen aus. Mit einem Gefühl, das wohl dem der 68er in der BRD vergleichbar gewesen sein mag, nahmen wir jungen Studenten 1961 in der Nervenklinik Rodewisch den neuen Geist in der Psychiatrie auf, der 1962/63 zu den Rodewischer Thesen und bereits ab 1963 in der Psychiatrischen Klinik in Dresden und in einzelnen psychiatrischen Großkrankenhäusern zur Entfernung der Gitter führte. Ich sah darin die Anerkennung des naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Prinzips in der Psychiatrie und die Achtung vor dem kranken Menschen. Dieser Aufbruch führte mich, wie viele andere damals, in die Ausbildung zu Prof. E. Lange in Dresden. Seine Forderung, belastende Kindheitserfahrungen als mögliche Ursache für spätere krankheitswertige psychiatrische Störungen nicht nur anzuerkennen und sie zu explorieren, sondern diesen Zusammenhang auch schlüssig zu beweisen, prägte meine Auffassung auch für die Psychotherapie. Dieses Denken fand ich während meiner Ausbildungszeit in Uchtspringe bei Prof. H. Wendt und Dr. I. Tögel wieder, hier angewandt auf das große Feld der erlebnisbedingten Störungen. Entscheidende Fragen, die zu beantworten waren: Warum dekompensiert dieser Mensch, warum jetzt, warum mit dieser Symptomatik und mit welchen positiven wie negativen Folgen? Warum wird ein Symptom beibehalten? Wirksame Psychotherapie (von Analyse sprachen wir nicht) verlangt diesen Nachweis von Ursache und Wirkung. In den Problemfallseminaren rangen Ärzte und Psychologen gemeinsam um Psychodynamik, Übertragung und Gegenübertragung anhand der vorgestellten Fälle. Wendt empfahl aber auch, zunächst immer die ökonomischste Therapie anzuwenden, vor allem bezogen auf Lebenszeit und -umstände des Patienten, mit dem die für ihn erreichbaren Ziele abzustecken sind. Wenn die eigentlich indizierte Tiefenpsychologie oder Verhaltenstherapie seitens des Patienten nicht realisierbar ist, kann auch eine medikamentöse Therapie eine sinnvolle Zwischenlösung sein. Mit Eintritt in die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1970 wurden bei Weiterbildungen und Tagungen meine Erfahrungen und Erkenntnisse bestätigt und mit Fachwissen untermauert. Als ambulant gut einsetzbare Methoden erlernte ich die Regulative Musiktherapie (RMT), das Arbeiten mit Träumen und Imaginationen, Kommunikative Bewegungstherapie, Malen nach Musik, therapeutischen Umgang mit Puppen und andere Verfahren. In allen diesen Veranstaltungen waren Ärzte und Psychologen gleichberechtigt als Lernende und Lehrende beteiligt. Anliegen dieser Fachgesellschaft war auch, psychotherapeutische Grundkenntnisse in allen medizinischen Bereichen zu etablieren und jeden Arzt zur Anwendung des psychotherapeutischen Minimums zu befähigen. Mit handhabbaren Methoden, sinnvollen Handlungsstrategien und gefestigtem Grundwissen ausgerüstet, konnte ich unabhängig von jedweder Ideologie sowohl in einer sozialis-

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tischen Poliklinik als auch später unter den Bedingungen der Richtlinien-Psychotherapie gut arbeiten.

Wie konnte ich Psychotherapie in die Grundversorgung einführen? In der Poliklinik unterlag ich als Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie ebenso wie zuvor als Praktische Ärztin in erster Linie dem Diktat der »Fallzahlen«. Nach meinen Aufzeichnungen für 1976–1978 verdoppelten sich in der für ca. 80.000 Einwohner zuständigen Nerven­ abteilung die Konsultationszahlen (neue und Wiedervorstellungen) nahezu von 2550 auf 4900 pro Quartal. Diese waren von zwei, später drei ärztlichen Kollegen ohne Warteliste zu bewältigen. Ich hatte ca. 20 Patienten pro Tag, darunter täglich vier neue (das sind Erstüberweisungen und die ersten Wiedervorstellungen im Quartal), mit 60 Minuten für Neue, 15 Minuten für weitere Konsultation. Zeit für längere Einzelgespräche von 30 bis 60 Minuten fand ich durch die Gruppenarbeit. Bei 80 % der Erstüberweisungen hielt ich Psychotherapie für angebracht. Ich stellte folgende Diagnosen: 50 % sekundäre Fehlentwicklung (chronifizierende und chronifizierte Störungen), 15 % primäre Fehlentwicklungen (Persönlichkeits­ störungen), 35 % nachhaltige Reaktionen (Posttraumatisches Belastungssyndrom u. Ä.). Statistiken zu Medikamentenverbrauch, Arbeitunfähigkeiten, Einweisungen, Invalidisierungen und Berufsunfähigkeiten wurden zwar quartalsweise erfasst, aber damals so wenig gewichtet wie heute. Bei meiner Arbeitsweise sahen diese Zahlen sehr günstig aus. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Vermeidung von Chronifizierungen. Ich wollte durch gezielten Einsatz psychotherapeutischer Methoden dem Krankheitsgeschehen gerechter werden und in jeder Hinsicht ökonomischer arbeiten. Sofort nach Abschluss der Facharztausbildung 1974 begann ich mit dem Autogenen Training (AT) in offenen Gruppen, was durchaus anfangs persönliche Überwindung kostete. Ich hatte das Autogene Training zwar selbst in der echt »autogenen« Form bei dem Dipl.-Psych. Jürgen Winkler in der Medizinischen Akademie Dresden erlernt, Selbsterfahrung damit auch in der fremdsuggestiven, also eigentlich nicht autogenen Form gesammelt und theoretische Grundkenntnisse über bedingte Reflexe bis hin zur Ablationshypnose von Kleinsorge, aber das aktive Vermitteln an Patienten hatte mich keiner gelehrt. Mich haben weder ärztliche noch andere Einrichtungen dabei gefördert, gefordert oder gehindert. Anzufangen war für mich eine ganz persönliche Entscheidung und hatte mit Ideologie nichts zu tun. In den 1970er Jahren arbeiteten in Dresden im ambulanten Bereich meines Wissens nur zwei Psychologen, in der Poliklinik der Technischen Universität und der Ärztliche Direktor der Poliklinik Blasewitz, mit AT-Gruppen. Ob und in welcher Form darüber hinaus Psychotherapie in psychiatrischen, gynäkologischen oder internistischen Abteilungen der verschiedenen Polikliniken angewandt wurde, weiß ich nicht, da sie nicht gesondert ausgewiesen wurde. Durch die AT-Gruppen gingen fast alle meine Patienten, auch endogen depressive, außerhalb der Phasen. Jeder sollte mit dieser doch recht einfach zu erlernenden Methode ein Mittel an die Hand bekommen, überschießende Affekte, gleich welcher Ursache, abzubauen, seine Kräfte einzuteilen bzw. seine vegetativen Reaktionen aktiv beeinflussen zu können. Jeder sollte die ganz eigene Erfahrung machen: »Ich kann etwas tun«. Das Autogene Training habe ich mit wachsender Erfahrung inhaltlich ausgebaut und bei Bedarf mit Einzelge-

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sprächen kombiniert, so dass das Gros meiner Patienten beschwerdefrei oder deutlich gebessert abschloss. Von den verbliebenen Patienten, nahm ich einen Teil in die geschlossenen RMT-Gruppen, in denen ich auf die Psychodynamik zwischen Patient und Musik zentrierte, um dem Patienten seinen subjektiven Anteil an einer Beziehung erfahrbar zu machen. Ich nutzte auch dynamische Situationen unter den Patienten oder mir gegenüber therapeutisch. Kurze Zeit konnte ich auch mit Dr. Werner Blum, dem langjährigen Leiter der PsychotherapieKlinik Weißer Hirsch in Dresden, zusammen ambulante dynamische Gruppen durchführen. Den kleinen Teil an Patienten, der aus verschiedenen Gründen nicht gruppenfähig war, nahm ich in zum Teil lang angelegte Einzeltherapie, auch auf der Couch, mit ein bis zwei Wochenstunden (tiefenpsychologische bzw. analytische Psychotherapie). Wie ich bei Prof. Wendt gelernt hatte, sah ich Psychotherapie vorwiegend als eine ambulante Behandlung an. So wies ich nur dann Patienten zur stationären Behandlung ein, wenn sie unbedingt aus einem Schadmilieu herausgenommen werden mussten, also eher unabhängig von der Schwere einer Störung. Eine Vielzahl von stationären Langzeitbehandlungen, Invalidisierungen und Berufsunfähigkeiten ließ sich durch differenzierte Psychotherapie vermeiden. Solange ich die nötigen Zahlen brachte, nahm niemand auf die Therapie Einfluss – auch keine Psychotherapie-Richtlinien. So kombinierte ich auch verschiedene Methoden, abhängig von der aktuellen Entwicklungsphase im therapeutischen Prozess. Zur Selbstkontrolle fanden sich später Kollegen in Problemfallseminaren unter Leitung von Dr. I. Tögel zusammen. Gezielte Katamnesen kamen nicht zustande und es gab keinen finanziellen Anreiz dafür, Patienten nach Abschluss der Therapie nur zur Kontrolle zu bestellen. Es dürfte aber als Erfolg zu werten sein, wenn sie nicht wiederkamen, denn sie waren an die Orts-Poliklinik gebunden. Katamneseerhebungen habe ich bei den Teilnehmern der Grundkurse »Psychotherapie und Neurosenlehre« gemacht, mit ermutigendem Ergebnis: Nach ein bis zwei Jahren wendeten alle das Autogene Training zum Eigenbedarf an, ein gutes Drittel setzte es bei eigenen Patienten ein (obwohl das keine finanziellen Vorteile hatte) und zwei Drittel fühlten sich beim Umgang mit erlebnisbedingten Störungen sicherer. Für meine Arbeit war es sicherlich hilfreich, dass der Ärztliche Direktor, der Internist Dr. J. Bernhardt, ehemaliger Oberarzt bei Dr. Born, selbst der Psyche Raum gab und bereits Anfang der 1970er Jahre, als das noch nicht üblich war, Psychotherapie in seiner Poliklinik als solche benannte. Wie er mir bei einem Gespräch sagte, erfuhr er dadurch aber weder Druck noch Ärger. Er förderte mich durch bezahlte Freistellungen zu Weiterbildungen, als Lernende und als Lehrende, und er beauftragte mich bereits 1976 mit der kursmäßigen Vermittlung der Grundlagen der Psychotherapie und Neurosenlehre (entspricht dem heutigen Kurs »Psychosomatische Grundversorgung«) und des Autogenen Trainings an die interessierten Ärzte aller Fachgebiete unserer Poliklinik, denen er die Teilnahme auch persönlich nahelegte. Auch für meine aktive Mitarbeit in der Regionalgesellschaft unter dem Dach der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (} Abschnitt 4.6.2) bekam ich die notwendigen Freistellungen. Einige Grauzonen und Misserfolge will ich erwähnen: Ich kann nicht ausschließen, dass meine Kartentaschen ohne mein Wissen von »Dienststellen« eingesehen wurden, wirklich brisante Äußerungen schrieb ich natürlich nicht auf. Ich hatte ausreichend Patienten, deren

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Störungen sich in gesellschaftlichen Konflikten niederschlugen. Während Psychotherapie in der eigenen Abteilung unproblematisch war, konnten Pläne zur Ausweitung, wie Einstellung und Zusammenarbeit mit einem Psychologen oder tagesklinische Psychotherapie, erst viel später oder gar nicht realisiert werden. Mein 1976 ausgearbeitetes Entwicklungskonzept für die Psychotherapie in der Stadt Dresden verlor sich bereits auf Stadtbezirksebene in Schubladen. Da die Entwicklung meines Erachtens sowieso nicht aufzuhalten war und Proteste kaum Erfolg versprachen, habe ich mich darauf beschränkt, das Mögliche weiterzumachen. Mit meiner Arbeitsweise habe ich für mich persönlich ein relativ hohes Maß an subjektiver Zufriedenheit und die Überzeugung erreicht, indikationsgerecht therapiert und mich von dem Druck der Patientenzahlen befreit zu haben. Mir selbst habe ich bewiesen, dass die scheinbar so zeitaufwendige Psychotherapie in Wahrheit nicht nur medizinisch richtig, deshalb auch ideologieunabhängig betreibbar und auch zeitökonomisch ist.

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Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten

4.9.1 Klaus Weise und Sabine Gollek: Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie Teil I: Klaus Weise: Psychosoziales Krankheitsverständnis und Psychiatriereform Die Verarbeitung der Euthanasieverbrechen, Erkenntnisse phänomenologischer und psychoanalytischer Behandlung in der Psychiatrie, sozialmedizinische Forschungen und die Entwicklung der Gemeindepsychiatrie haben die Irrelevanz des medizinischen Krankheitsverständnisses und die Bedeutung psychosozialer Zusammenhänge für Entstehung und Verlauf psychischer Störungen deutlich gemacht. Daraus ergibt sich die Forderung nach einer Alternative zum medizinischen Krankheitsverständnis, die dem psychisch Kranken Menschenwürde und Selbstbestimmung gibt, einem anthropologischen Krankheitsverständnis, das den Patienten als Person und Subjekt mit seinen Erfahrungen und im Kontext von Biographie und Lebenssituation in den Mittelpunkt stellt. Von den 1950er bis zu den 1990er Jahren war dieses Problem Inhalt der wissenschaftlichen Arbeit der psychiatrischen Universitätsklinik in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, Prof. A. Thom. Anknüpfungspunkte für diese psychosoziale Reform der psychiatrischen Theorie waren, ähnlich wie in der BRD, die Erkenntnisse der phänomenologischen Psychiatrie der BRD und der Schweiz, die anthropologische Psychiatrie von J. Zutt und C. Kulenkampff (1963), die Daseinsanalyse von L. Binswanger (1955), später auch die Psychoanalyse (Benedetti 1954). Sie waren in der DDR kaum bekannt und abgelehnt, obwohl sie auch in eine marxistische Perspektive einzuordnen sind (Weise u. Thom 1966; Wulff 1995). Das bedeutete einen Paradigmenwechsel, psychische Störungen zu verstehen nicht nur als Störungen der Hirntätigkeit, sondern als besondere Formen sinnbezogener seelischer Erfahrungen, sie ernst zu

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nehmen, als Botschaften des Patienten, als Ausdruck verborgener Sehnsüchte, unerfüllter Wünsche, von Ängsten und Hoffnungen. Psychosen sind unter diesem Aspekt krisenhafte Abwandlungen des menschlichen Daseins, ein anthropologisches Problem. Ansatz dazu war vor allem das Verständnis von Psychopathologie nicht als klinisches Fach, sondern als Subdisziplin der Psychologie, deren Integration in die Psychiatrie. Psychologie war für uns gleichbedeutend mit subjektorientiert, ein Irrtum, der mir erst allmählich im Rahmen der Zusammenarbeit mit Klinischen Psychologen bewusst wurde. Die traditionelle Psychologie ist zwar nicht naturwissenschaftlich im Sinne des Biologischen orientiert wie Medizin, aber naturwissenschaftlich im Methodischen, d. h. analytisch, quantifizierend, eine Psychologie ohne Seele. Das bedeutet auch Ausblendung des Subjekts, die Verfremdung der Erfahrungen des Patienten, seine Verobjektivierung, »die ihn besser und tiefer beherrscht als die alte Versklavung durch die Unvernunft« (Foucault 1969). Sie bleibt unter der für den Patienten und damit auch für uns wesentlichen subjektiven Dimension. Wissenschaftlich fortgeschrittenste Alternative ist die kritische Psychologie von K. Holzkamp, 1985, die aber jenseits unserer Kompetenz lag. Wir suchten nach einem Ausweg aus dieser Situation und fanden ihn in der klientenzentrierten Gesprächspsychotherapie von C. Rogers (1973) als theoretischem Konzept und als Basistherapie. Ähnlich wie die phänomenologischen Richtungen und die kritische Psychologie stellt sie die Erfahrungen, das innere Bezugssystem des Betroffenen, die Welt in seiner Perspektive in den Mittelpunkt, Psychologie vom Subjektstandpunkt. Die Veränderung der Perspektive, hin zu einem anthropologischen, sich auf die authentischen subjektiven Erfahrungen des Betroffenen gründenden Krankheitsverständnis, das den Betroffenen als Person ernst nimmt, war für uns die erste Stufe der sozialpsychiatrischen Psychiatriereform, eigentlich die primäre und grundlegende. Damit folgten wir dem Vorbild der westdeutschen Psychiatriereform. Mit diesen Vorstellungen stieß ich auf heftigen Widerstand in der DDR Psychiatrie. Es kam zu einer Auseinandersetzung auch an der Klinik mit dem Chef, Prof. Dr. Müller-Hegemann, über die Theorie der Psychiatrie, ihr Krankheitsverständnis und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für den Umgang mit Patienten, die bis heute aktuell ist. Unsere Auffassungen wurden als »existentialistisch« bezeichnet (Weise 1965, 1967; Müller-Hegemann 1961, 1967). Dabei spielte damals neben der einseitig somatisch naturwissenschaftlichen Kraepelin’schen Nosologie, die die deutsche Psychiatrie beherrschte, der im Rahmen des Stalinismus ideologisch aufgeheizte Pawlow-Boom eine wesentliche Rolle. Ein anthropologisches Krankheitsverständnis konnte sich bis heute auch in der BRD nicht gegen das traditionelle, biologische Krankheitsverständnis von E. Kraepelin durchsetzen, das vor allem mit den modernen Diagnosesystemen ICD-10, den DSM-Varianten, den neurochemischen Forschungsergebnissen und der Psychopharmakotherapie seine dominierende Rolle gefestigt hat.

Persönlichkeitszentrierte Psychotherapie als Hauptbehandlungsstrategie anstelle von medikamentöser Therapie Aus diesem theoretischen Konzept ergab sich grundlegender Veränderungsbedarf der diagnostischen und therapeutischen Praxis. Erste und wichtigste Aufgabe war die Integration von Psychotherapie in das Behandlungsprogramm, nicht nur als Methode, sondern als über-

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greifende Perspektive der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen, auch der Psychosen nach dem Motto »der Psychiater ist substantiell Psychotherapeut oder er ist keiner« (Kisker 1988), eine Entwicklung, die auch von den Patienten und ihren Organisationen vertreten wird. Die Hinwendung zum und die Respektierung des Patienten als Subjekt und als Konsequenz daraus die Entwicklung persönlichkeitsorientierter Psychotherapie in der Psychiatrie waren damals das primäre, wesentliche und integrative Anliegen der sozialpsychiatrischen Theorie und Praxis. Sozialpsychiatrie ohne Psychotherapie, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend technokratisch entwickelt, bleibt immer ein Fragment, weil das Wesentliche, der Betroffene als Subjekt, ausgeblendet wird. Deshalb habe ich mich auch mit der Einordnung als Vertreter der Sozialpsychiatrie nie so recht identifizieren können. Die Integration von Psychotherapie in die Psychiatrie war in der DDR ein Problem, nicht nur wegen der erwähnten theoretischen Bedingungen, sondern auch wegen der strikten Trennung von Psychiatrie und Psychotherapie als Fachdisziplinen mit eigenen institutionellen Strukturen, Stationen und Abteilungen und streng getrennten medizinisch wissenschaftlichen Gesellschaften. Psychotherapie, vor allem die Freud’sche Psychoanalyse, wurde von den meisten Psychiatern damals noch in die Nähe von Scharlatanerie eingeordnet. Psychiatrie verstand sich als rein somatisch orientierte Disziplin, zuständig für Psychosen als körperlich begründbare Krankheiten. Ob Neurosen und ähnliche Störungen zur Psychiatrie gehören und ob sie überhaupt als Krankheiten zu bewerten seien, war lange Zeit strittig, ernst genommen wurden sie nicht. Psychiatrische Abteilungen boten kaum Ausbildungsmöglichkeiten für persönlichkeitsorientierte Psychotherapieformen. Wenn überhaupt, gab es verhaltenstherapeutische Angebote, Entspannungsverfahren, supportive Psychotherapie. persönlichkeits- und konfliktorientierte Psychotherapie waren das Monopol der psychotherapeutischen Abteilungen, sie beschränkten die Indikation auf Neurosen und Persönlichkeitsstörungen. Damit waren die Kompetenz- und Machtbereiche abgesteckt und wurden streng bewahrt, Grenzüberschreitungen sanktioniert, interdisziplinäre Kooperation gab es kaum. Unser Krankheitsverständnis, Psychosen als seelische Krisen zu sehen, erforderte eine konflikt- und personzentrierte Psychotherapie, weil nur damit die Person des Betroffenen mit ihrer Geschichte und ihren realen Beziehungen zur Verarbeitung und Bewältigung der Psychose einbezogen werden kann. Ziel war die Kommunikation über persönlichen Inhalt und Sinn der psychotischen Erfahrungen, der Halluzinationen, des Wahns etc., um zu einem gemeinsamen Bezugssystem für die Welt des Betroffenen und unsere Welt zukommen. Wir knüpften enge Beziehungen zu den wichtigsten anerkannten psychotherapeutischen Einrichtungen der DDR und delegierten Mitarbeiter zur Ausbildung dorthin. Im Haus der Gesundheit in Berlin hatte zum einen Dr. Höck (1976) die am meisten verbreitete Psychotherapieschule der DDR aufgebaut, die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, eine Variante der Freud’schen bzw. Schultz-Hencke’schen Psychoanalyse. Zum anderen arbeitete in Berlin am Psychologischen Institut der Humboldt-Universität die Forschungsgruppe von Prof. Helm (1978), der die Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers übernommen und in der DDR entsprechende Ausbildungs- und Forschungsprogramme etabliert hatte. Die Intendierte Dynamische Gruppentherapie von K. Höck war für uns wichtig, weil sie den Akzent auf Selbsterfahrung und Gruppenarbeit legte. Sie erschien mir aber, wie die

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Psychoanalyse generell, für unsere Aufgaben in der Psychiatrie nicht geeignet. Grund war nicht die unsinnige Tabuisierung von Freud und der Psychoanalyse in der DDR. Bestimmend für meine Haltung zur Psychoanalyse war die Kritik von K. Jaspers (1946), seine Charakteristik analytischen Vorgehens als »entlarvende Psychologie«. Besonders für Patienten der Psychiatrie mit ihrer ausgeprägten Verletzlichkeit – nicht nur mit der Diagnose Schizophrenie – erschien mir eine solche »entlarvende Behandlung«, die dem Therapeuten eine dominierende Stellung als Experten gibt, nicht geeignet. Hinzu kam, dass das interpretative Vorgehen in der Intendierten Dynamischen Therapie besonders invasiv, verletzend war, selbst für neurotische Störungen nicht unproblematisch. Wünschenswert war mir für unsere Belange der von K. Jaspers genannte Gegensatz zur entlarvenden, eine verstehende, erhellende Psychologie auf der Basis der Phänomenologie. Dem am nächsten kam die schon erwähnte personzentrierte Gesprächspsychotherapie von Carl Rogers, die mich von vornherein überzeugte durch ihren humanwissenschaftlichen Inhalt, ihre Nähe zur Phänomenologie und ihre soziale Orientierung.

Warum personzentrierte Psychotherapie (C. Rogers)? Mir erschien die Gesprächspsychotherapie analog zur kritischen Psychologie als eine Psychotherapie vom Subjektstandpunkt, bei der die Struktur des Psychischen, die subjektiven Erfahrungen, die innere Erlebniswelt des Betroffenen voll erhalten bleiben. Sie erschien mir besonders geeignet für unsere Aufgaben im Rahmen der psychiatrischen Regelversorgung, d. h. für alle Formen psychischer Störungen, auch für Menschen mit der Diagnose Schizophrenie, für Sucht- und psychische Alterserkrankungen. Sie hatte m. E. am konsequentesten unter den psychotherapeutischen Richtungen die kopernikanische Wende vollzogen, den Paradigmenwechsel von einer therapeutenzentrierten, technisch-methodischen, vergegenständlichenden Perspektive zu einer person- oder subjektzentrierten Sicht. Sie befreit, im Gegensatz zu allen anderen psychotherapeutischen Richtungen, auch der Psychoanalyse, den Patienten aus der Objektrolle und orientiert mit dem Roger’schen Konzept der Selbstaktualisierung auf Potenzen und Ressourcen des Betroffenen im Rahmen einer teilnehmenden Beziehung, in einem intersubjektiven Verständigungsrahmen. Sie überwindet so den Charakter einer Herrschafts- und Kontrollwissenschaft und wird damit dem emanzipatorischen Anspruch der Sozialpsychiatrie und der Psychiatrieerfahrenen-Szene, Prinzipien moderner Sozialpsychiatrie wie Empowerment, Ressourcenorientierung u. a. gerecht. In der Gesprächstherapie geht es darum, was der Patient kundtun will. Die Entwicklung des therapeutischen Prozesses wird wesentlich vom Patienten, nicht, wie üblich, vom Therapeuten bestimmt. In den Mittelpunkt rückt das subjektive Erleben, die Einzigartigkeit des menschlichen Schicksals, die Selbst- und Weltsicht des Menschen. Gesprächspsychotherapie orientiert sich nicht an überindividuellen Symptomen oder Störungen und deren Beseitigung durch regel- und prinzipiengeleitete technisch methodische Interventionen. Es geht vielmehr um das, was Kern psychiatrischer Arbeit sein soll, den Aufbau einer verständnisorientierten menschlichen Beziehung, die die Persönlichkeitsentwicklung und das Bewältigungspotential des Betroffenen fördert. Diese Beziehung ist gekennzeichnet durch die

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Rogers’schen Therapiedimensionen Empathie, Akzeptanz und Echtheit. Das wird oft missverstanden als allgemeine, von jedem »guten« Therapeuten realisierte Haltung (s. die Debatte zur »neuen Einfachheit« in der DGSP). Tatsächlich ist es eine besondere, in meinen Augen die schwierigste Form der Spezialisierung des therapeutischen Vorgehens, ausgerichtet auf den individuellen Menschen. Es geht primär nicht um wissenschaftliche Analyse der Störung durch den Therapeuten, sondern um Respektierung und Wertschätzung des Betroffenen auch in seinem Anderssein, die es ihm erleichtert, sich selbst anzunehmen, den Glauben an sich selbst wiederzufinden als Voraussetzung für kritische Reflexion und positive Veränderung, für die Wiedererlangung der Fähigkeit, sein Leben zu kontrollieren. Die Hoffnung auf Erfolg und Veränderung gründet sich erst in zweiter Linie auf therapeutische Techniken, sondern vor allem auf den Patienten, seine Selbstaktualisierungstendenz, auf Selbstbestimmung und persönliche Ressourcen. Der Patient ist nicht mehr Objekt therapeutischer Fürsorge, sondern Subjekt, wird als Experte seiner seelischen Probleme, auch seiner Psychose, ernst genommen, der Therapeut ist Facilitator der Entwicklung des Betroffenen. Er fördert sie durch einfühlsame, warmherzige Zuwendung. Gesprächstherapie strebt, anstelle der im wissenschaftlichen, auch im medizinischen Betrieb üblichen Ich-Es-Beziehung eine Ich-Du-Beziehung im Sinne von Martin Buber (1984) an. Gesprächstherapie als methodisch hoch differenziertes Verfahren wurde in Berlin am Psychologischen Institut der Humboldt-Universität als spezielle individuelle therapeutische Methode für ausgewählte Gruppen von Neurosen angewandt. Unser Versorgungsprofil erforderte die Entwicklung psychotherapeutischer Behandlungsformen, vor allem von Gruppentherapien für akute und chronische Psychosen, Suchten, psychiatrische Alterserkrankungen u. a. Außerdem brauchten wir ein Fortbildungskonzept für psychotherapeutische Basiskompetenz für die Arbeit mit psychisch Kranken, in das alle Berufsgruppen der Psychiatrie einbezogen werden konnten mit dem Ziel der Demokratisierung, eines Mitspracherechts aller, auch des Hilfspersonals und der Patienten, die Veränderung des therapeutischen Milieus in Richtung auf eine therapeutische Gemeinschaft. Besonders gefördert wurde unsere Entwicklung in den 1970er Jahren durch Frido Mann, Psychologe, Gesprächspsychotherapietrainer aus der BRD, der längere Zeit an der Klinik arbeitete. Wir waren auf ihn aufmerksam geworden, weil er eine Variante der Rogers’schen Gesprächstherapie publiziert hatte, die besonders für unsere Aufgaben geeignet schien. Wesentlich waren eine stärkere Betonung der aktiven Rolle des Therapeuten in Form von Selbsteinbringung, der realen sozialen Lebensbedingungen als Determinanten internaler Inhalte und von Sachklärung und Sachlösung (F. Mann 1981). Dieses Psychotherapiekonzept war auch Gegenstand seiner Habilitation an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Es erwies sich als flexibel für die verschiedensten Störungen, orientiert nicht auf Diagnosen, sondern auf den individuellen Menschen. Es bewährte sich sowohl als spezielle psychotherapeutische Methode in der Einzel- und Gruppentherapie wie auch als Basisqualifizierung für den alltäglichen Umgang mit den Patienten. Es fand Interesse in vielen anderen Kliniken und Ambulanzen der DDR, deren Mitarbeiter von uns trainiert wurden. Das hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt. Damit vollzog sich die theoretisch geforderte Veränderung des Krankheitsverständnisses und des Menschenbilds. Im alltäglichen Handeln stand nicht mehr die Krankheit mit Diag-

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nose und klinischen Symptomen im Vordergrund, sondern die Person des Patienten mit ihren Problemen. Wir haben damals lange und heftig diskutiert, ob es nicht notwendig sei, Diagnosen ganz abzuschaffen, wegen ihrer entindividualisierenden und stigmatisierenden Wirkung, weil sie den humanitären Zugang zum Patienten, die personale Beziehung blockieren. Am deutlichsten wird das in der Kritik der Psychiatrieerfahrenen-Szene an der psychiatrischen Diagnostik, die von der Psychiatrie ungenügend zur Kenntnis genommen wurde (Kempker u. Kerstin 1991). Wir sind nicht bis zur Abschaffung der Diagnostik gegangen, zum einen weil unsere Psychiatrie so noch mehr aus dem medizinischen Kontext herausgefallen wäre, zum anderen weil Diagnosen für eine Reihe von Fragestellungen notwendig sind: für die Verständigung mit anderen medizinischen Disziplinen, mit Krankenkassen, für Epidemiologie, Psychopharmakotherapie, Versorgungsforschung u. a. Diagnosen und Symptome wurden aber bei allen Fragen, die die psychosoziale Dimension betreffen, den Umgang mit den Patienten, der Psycho- und Soziogenese, von Psycho- und Soziotherapie, sozialer Rehabilitation bewusst ausgeblendet. Die zum Leidwesen der Patienten bis dahin dominierenden somatischen Behandlungsmethoden, Elektroschock- und Psychopharmakotherapie, rückten an zweite Stelle.

Umstellung der klinischen Praxis In den 1960er Jahren wurden bei der Umgestaltung der Klinik wesentliche Veränderungen realisiert: An die Stelle von Ärzten wurden vermehrt Psychologen eingestellt mit erweiterter Funktion, nicht als »Testknechte« wie damals üblich, sondern Ärzten gleichberechtigt mit therapeutischer Funktion und dem Ziel der Entwicklung eines multidisziplinären Verständnisses von Psychosen. Die Veränderung des therapeutischen Milieus ermöglichte als Wichtigstes die Reduzierung von Zwang und Gewalt, die Öffnung der Stationen, Entfernung der Gitter, Aufhebung der Geschlechtertrennung, Abschaffung der Anstaltskleidung und der Isolierzellen, die in Zwei-Bett-Zimmer umfunktioniert wurden. Die individuelle therapeutische Beziehung, die Arztvisite wurden durch psychotherapeutische Gruppen und Gruppenvisite ergänzt, in der die Patienten gegenüber der üblichen arztzentrierten Visite aufgewertet und ihre therapeutischen Potentiale genutzt wurden. Verschiedene soziotherapeutische Gruppen (Musik, Pantomime, Physiotherapie, Sport, Tanz u. a.) ergänzten die Arbeitstherapie, zur stationären Behandlung kam eine integrierte Tages- und Nachtklinik. Es gab regelmäßig gemeinsame Feste, Spiel-, Sport- und kulturelle Veranstaltungen, Urlaubsreisen u. a., die wesentlich die Kontakte zwischen Personal und Patienten förderten. Bei diesen Veranstaltungen gab es kaum hierarchische Schranken. Ich habe sie selbst erlebt nicht als »Therapie« in der Rolle des Psychiaters, sondern wie gesellige Veranstaltungen außerhalb der ­Klinik im sozialen Alltag und davon genauso profitiert wie die Patienten. Die Beziehungen zu Pa­tienten verloren an Professionalität und näherten sich dem Charakter von Freundschaften. Sie überdauerten oft den Rahmen der Therapie und blieben zum Teil lebenslang er­halten, ein Zeichen, dass es sich nicht nur um äußerliche Ähnlichkeiten handelt. Durch Elemente der Patientenselbstverwaltung wie Patientenrat, Patientensprecher, vielfältige Gruppenarbeit u. a. wurde die soziale Position der Patienten gestärkt, ihre Mitarbeit und

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Mitverantwortung bei der Gestaltung des Lebens in der Klinik wurden gefördert. Die Mitglieder des Patientenrates hatten auch die Funktion eines Empfangskomitees, sie begrüßten neue Patienten, sprachen mit ihnen und führten sie in das Leben der Klinik ein. Das hatte Vorteile gegenüber der üblichen Aufnahmeprozedur durch Pflegepersonal oder Ärzte. Die Aufnahme in einer psychiatrischen Klinik ist sehr oft ein seelisches Trauma, ein Schock für den Patienten, das konnte so gemildert werden. Wichtig waren auch die Einbeziehung der Angehörigen in das therapeutische Konzept und die Berücksichtigung ihres Krankheitsverständnisses, das sich vom psychiatrischen und von dem der Betroffenen unterscheidet. So wurde Psychotherapie in die psychiatrische Arbeit integriert und die Klinik als Ausbildungseinrichtung für Psychotherapie anerkannt. Mit der Übernahme der Pflichtversorgung für einen Leipziger Stadtbezirk mit ca. 100.000 Einwohnern 1975 im Rahmen der Sektorisierung der psychiatrischen Versorgung konnte die Eignung des psychotherapeutisch orientierten Behandlungsmodells für die psychiatrische Regelversorgung gezeigt werden. Um nach außen wirksamer zu werden, gründete ich in den 1980er Jahren in Absprache mit den wissenschaftlichen Fachgesellschaften eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Psychotherapie in der Psychiatrie«, die allerdings wenig Anklang fand und in den Stürmen der Wende unterging. Doch müssen auch hier einseitige Positionen vermieden werden, was uns sicher nicht immer gelang. Das medizinische Krankheitsverständnis, seelisches Leiden als Hirnfunktionsstörung zu definieren, hat auch seine Berechtigung als ein Teil der Wahrheit, der biologischen Natur des Menschen. Es ist unter Umständen für den Patienten leichter zu ertragen als das unbestimmt Bedrohliche der Psychose als seelische Krise. Von Patienten hörte ich Äußerungen wie: »Man weiß dann, was man hat, und kennt den Weg zur Heilung, die ärztliche Behandlung, vor allem die Psychopharmaka.« Dieser Weg befreit den Betroffenen von Verantwortung, die der Therapeut für ihn übernimmt, er ist im Grunde eine Verdrängung, ein Abwehrmechanismus, der unter Umständen akzeptiert werden muss. Ein ähnlicher Mechanismus wirkt bei den Angehörigen, die deshalb auf das medizinische Modell schwören. Es enthebt auch Angehörige davon, über eigene Anteile an der Störung und Veränderungen ihrer Beziehungen nachzudenken. Die gleiche Wirkung auf Angehörige und Patienten haben die Neuroleptika durch ihre dominierende Stellung im psychiatrischen Therapiekonzept, sie betonen die Rolle der Psychiater, ihren Monopolanspruch auf Therapie. Hinzu kommen ihre oft erheblichen Nebenwirkungen, die die Fähigkeiten des Betroffenen zur Selbsthilfe zusätzlich beeinträchtigen. Der Weg zur Aufarbeitung der Psychose ist damit verstellt. Voraussetzung dieses Vorgehens ist, dass die Entscheidung verantwortlich vom Patienten selbst getroffen wird, sie sollte ihm nicht im Rahmen eines medizinischen Modells als kausale Behandlungsmöglichkeit durch ärztliche Autorität aufoktroyiert werden, wie das heute üblich ist. Nichts einzuwenden ist gegen Neuroleptika, wenn sie in niedriger Dosierung im Konsens mit dem Patienten im Rahmen eines psychotherapeutischen Behandlungskonzepts eingesetzt werden, um die Überschwemmung des Betroffenen mit psychotischen Erfahrungen zu überwinden, die eine Kommunikation über ihre Inhalte behindert. Wir versuchten alles, um die Dosierung der Psychopharmakabehandlung zu reduzieren.

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Außenwirksamkeit unseres Konzepts Auf breiten Widerstand stieß die Integration einer personzentrierten anthropologischen Perspektive und einer entsprechenden Psychotherapie sowohl auf Seiten der Psychiater als auch Psychotherapeuten. Der Mythos von der rein somatischen Verursachung und der mangelnden Eignung psychotischer, besonders schizophrener Störungen für persönlichkeitsorientierte Psychotherapie ist, trotz zahlloser Gegenbeweise, bis heute lebendig. Vor allem Psychiater wehrten sich gegen die Integration der Psychotherapie, wie mir scheint aus Sorge, für einen wesentlichen Bereich Inkompetenz anzuerkennen und Macht und Kompetenz an Vertreter einer anderen Disziplin abgeben zu müssen. Später, in den 1980er Jahren, wurde auch in der Psychiatrie stärker Psychotherapie akzeptiert, allerdings vor allem verhaltenstherapeutische Programme, Psychoedukation u. Ä., die ohne Zweifel nützlich sind. Sie bewegten sich aber, und das hat sich bis heute kaum geändert, im Rahmen des medizinischen Modells. Es bleibt bei der Verobjektivierung des Patienten, der Definitionsmacht des Therapeuten und der Expertenkultur der Psychiatrie. Deren Hauptanliegen scheint mir zu sein, den Betroffenen über das medizinische Krankheitskonzept, über Psychosen als Stoffwechselstörungen des Gehirns und die Notwendigkeit somatischer, vor allem psychopharmakologischer Therapie zu belehren und Möglichkeiten der Früherkennung zu fördern. Gefordert wird die strikte Compliance der Betroffenen, d. h. ihre Unterordnung unter die ärztliche Autorität und die Anerkennung des medizinischen Krankheitskonzepts der Psychosen. Diese Deutung der psychischen Störung ist von dem subjektiven Krankheitskonzept, den existentiellen Erfahrungen der Betroffenen in der Psychose weit entfernt. In diesem krassen Widerspruch zwischen psychiatrischem Krankheitsverständnis und dem Erleben der Patienten, in einem inadäquaten Behandlungsangebot liegt die wesentliche Ursache für die unbefriedigende Compliance und die Unzufriedenheit der Betroffenen mit der Psychiatrie, die sich am deutlichsten in antipsychiatrischen Tendenzen zeigt, im Widerstand gegen diagnostische Etikettierungen und einseitige Behandlung mit Psychopharmaka, in hohen Therapieabbruchquoten.

Teil II: Sabine Gollek: Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie – eine persönliche und praktische Erfahrung Als ich 1988 als Psychologin an die Psychiatrische Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig kam, war ich doch etwas verwundert und erstaunt. Selbst gerade akademisch geschult, voller wissenschaftlicher Theorien, aber auch mit großem Interesse an einer therapeutischen Tätigkeit, fiel mir sofort der gelassene und zugleich wertschätzende Umgang mit der Abnormität auf. Schwestern, Ärzte, Therapeuten begegneten den Patienten informell und locker auch außerhalb der Therapien und doch schimmerte immer eine gewisse Strukturiertheit im Kontakt hindurch. Was mir zunächst untherapeutisch, unkonventionell und unangebracht vorkam – schließlich hatte doch der Therapeut das Sagen zu haben und die »Marschrichtung« anzugeben –, wurde mir beim Eintauchen in die Materie doch zunehmend sympathischer.

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4.9  Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten

Viele Patienten, wenn auch nicht alle, wirkten selbstbewusst und getrauten sich, die Vorgänge auf den Stationen und in den Therapien zu hinterfragen. Die angesprochenen Therapeutinnen und Therapeuten nahmen dies ernst und setzten sich damit auseinander und ermutigten gleichzeitig die Patienten zu dem individuell jeweils möglichst emanzipierten Verhalten. Mit großer Offenheit, aber auch angemessener Zurücknahme realisierten viele von ihnen ein adäquates, dem Patienten nützliches Nähe-Distanz-Verhältnis. Also keine »Verbrüderungen« oder kumpelhaftes Verhalten oder, im Gegenteil, dominantes Anleiten mit dem Alleinanspruch des besser wissenden Fachmannes bzw. der besser wissenden Fachfrau, sondern partnerschaftliche, respektvolle Kommunikation auf Augenhöhe, in der auch der Patient im Rahmen seiner Möglichkeiten Verantwortung für seinen Genesungsprozess im engeren Sinne, für seine persönliche Entwicklung im weiteren Sinne übernehmen konnte. Selbst bei schwerstkranken Patienten, die unter einer chronisch progredient verlaufenden Schizophrenie mit häufigen Rezidiven und heftigen akuten Episoden litten, wurde nach Ressourcen und Möglichkeiten der Selbstverwirklichung, z. B. im künstlerischen oder im handwerklichen Bereich gesucht. Nach und nach erkannte ich, wie anders und für die Verhältnisse einer allgemein praktizierten klassisch-medizinischen Versorgung ungewöhnlich die Arbeitsweise in dieser Klinik war. Dies ging nicht ohne persönliche Verunsicherungen einher. Es bedeutete, vermeintlich allgemeingültige wissenschaftstheoretische Positionen, die dem gängigem naturwissenschaftlichem Paradigma in der Medizin und der Psychologie folgten, zu hinterfragen, theoriegeleitete subjektwissenschaftliche Positionen in Anwendung zu bringen und diese an der Individualität des Patienten zu brechen. Dies ging mit einer intensiven Zeit der persönlichen Selbsterfahrung und -auseinandersetzung mit der Rolle als Therapeutin, aber auch als individuelle Person in der Interaktion mit den mir anvertrauten Patienten mit sehr unterschiedlichen psychiatrischen Krankheitsbildern einher. Die Grundlage dieses sich mir nach und nach erschließenden besonderen Kontaktes bildete das humanistische Menschenbild, das von der großen Masse der Mitarbeiter der Klinik vertreten wurde. Es kam eine Humanistische Psychotherapie zur Anwendung, welche ihre philosophischen Wurzeln im Existentialismus hat. Einige wichtige Vertreter dieser philosophischen Strömung sind Karl Jaspers, Martin Heidegger und Ludwig Binswanger. Es geht um die Suche jenseits von gesellschaftlich vorgegebenen Normen und Rollen sowie Funktionszuweisungen nach dem individuellen Menschen in seiner ursprünglichen Existenz. Sinn- und Seinsfragen werden in zeitlicher Dimension gesehen, d. h., dass der Mensch sich immer auf dem Weg einer ständigen Selbstentwicklung und Selbstfindung befindet. Es gibt keine allgemeingültigen absoluten Regeln und Lösungen, sondern nur individuell gültige Antworten. Das Menschenbild der Humanistischen Psychologie beinhaltet folgende zentrale Grundannahmen: 1. Autonomie und soziale Interdependenz: Der nach Autonomie strebende Mensch entwickelt und realisiert ein aktives Selbst, bereit, im sozialen Kontext Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. 2. Selbstverwirklichung: Viele primäre Bedürfnisse des Menschen und deren Befriedigung lassen sich durch Erklärungsansätze der Psychoanalyse und des Behaviorismus deuten

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und ableiten. Jedoch sind diese nicht erschöpfend, da sich der Mensch in seiner organismischen Einheit aktiv, lebendig und schöpferisch in stetiger Anpassung an seine individuellen Umweltanforderungen realisiert. Es müssen zusätzliche Kräfte des Wachstums, der Weiterentwicklung und der Selbstaktualisierung angenommen werden. 3. Ziel- und Sinnorientierung: Humanistische Wertvorstellungen wie Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenwürde determinieren zusammen mit materiellen Grundlagen menschlichen Seins das Handeln. Handlungen sind somit sinnstrukturierend und zielorientiert. 4. Ganzheit: Die Einheit von Leib, Geist und Seele des Menschen lässt auf ein spezielles Verständnis der Wechselwirkung körperlicher und psychischer Prozesse schließen. Die Beachtung und Bewertung dieses Zusammenhanges ist nützlich z. B. für das Verstehen psychosomatischer oder funktioneller psychischer Beschwerden. Die Möglichkeiten der Gesprächspsychotherapie bzw. des personenzentrierten Arbeitens in der Psychiatrie werden eindrücklich aufgezeigt. Vor allem das Prinzip der »Hilfe zur Selbsthilfe« dominiert das in der medizinischen Versorgung allgemein gängige Prinzip der Fremdhilfe, welches die Verantwortung und die Aktivität des Patienten weitgehend ausschließt (Weise u. Weise 1981).

Wie ist dieser Anspruch in die Realität umgesetzt worden? Es zeigte sich, dass die Realisierung der allseits bekannten klassischen Basisvariablen der Gesprächspsychotherapie nach Rogers (1973) – Empathie – Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte des Patienten, – Akzeptanz – nicht an Bedingungen gebundene Wertschätzung des Patienten, – Kongruenz – Transparenz und Stimmigkeit des Therapeuten im Kontakt mit den Pa-­ tienten nicht hinreichend war. Aufgrund empirischer Erfahrung im Kontakt mit ambulanten und stationären Patienten in der psychiatrischen Grundversorgung zeigte sich, dass ein streng patientenzentriertes Vorgehen allein häufig nicht ausreichend war. Dies äußerte sich laut Weise und Weise (1981) bei ausgeprägtem Widerstand und Abwehrmechanismen des Patienten, z. B. bei Schizophrenien und Suchtkranken, in ihrer psychischen und sozialen Entwicklung schwer gestörten Patienten, ausgeprägt depressivem suizidalem Verhalten. Es stellte sich heraus, dass allein empathisches Verhalten hier nicht effektiv war und manchmal zur Verstärkung der psychischen Störung bzw. des therapeutischen Widerstandes führte. In Übereinstimmung mit Sander (1976) kamen Weise und Weise (1981) zu der Auffassung, dass es sich bei den Basisvariablen im Sinne des Allgemeinanspruches um ganz allgemeine interaktionelle Bedingungen handelt, die der Persönlichkeitsentwicklung generell und der Auseinandersetzung mit Problemen und Konfliktsituationen förderlich sind. Die Erfahrungen über die Wirksamkeit bzw. die Unwirksamkeit der Gesprächspsy­ chotherapie bei bestimmten Patientengruppen sollten nicht zur Delegation des betroffenen Patienten an andere Therapeuten oder therapeutische Einrichtungen, andere psychotherapeutische Methoden oder gar zum Therapieabbruch führen. Vielmehr sollten auftretende

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4.9  Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten

therapeutische Widerstände zu mehr Auseinandersetzung, therapeutischer Flexibilität und zum Abbau möglicher eigener Kommunikationsbarrieren anleiten. Einen wichtigen Fortschritt in der Weiterentwicklung des Anwendungskonzepts brachte die stärkere Einbeziehung der Variable Selbsteinbringung (oder Ich-Botschaft, vgl. Gordon 1972). Darunter ist »ein aktives Sich-Transparentmachen des Psychotherapeuten, in dem dieser sein eigenes Fühlen und Erleben mitteilt [...] mit der strikten Einengung, dass diese Informationen nur auf die therapeutische Situation bezogen bleiben« (Helm 1981) zu verstehen. Zu einer zusätzlichen Erweiterung des Basiskonzeptes der Gesprächspsychotherapie führte die Beachtung der Forderung von Jaeggi, die 1980 in ihrem Vortrag auf dem 22. Internationalem Kongress für Psychologie in Leipzig Folgendes problematisierte: »Die Gefahren einer erlebnisorientierten Psychotherapie sehe ich dort, wo über der Konzentration auf den persönlichen Sinn in agnostischer Weise vergessen wird, auch die objektive Bedeutung zu reflektieren. In der Praxis kann dies bedeuten, dass ich als Therapeut mir prinzipiell jede Form des expliziten Urteils erspare, alles für richtig erkläre und nur das subjektive Evidenzgefühl des Einzelnen für den einzigen Maßstab erkläre.« Sie rief dazu auf, den Patienten nicht mit seinen subjektiven Gefühlen allein zu lassen und ihm bei der Suche nach der objektiven Bedeutung von Sachverhalten zu helfen. Somit hat der Therapeut auch ein »Stück rationale Erklärung« zu leisten.

Die Erweiterung des Konzeptes Die Erweiterung des ursprünglichen Konzeptes der Gesprächspsychotherapie in der Psychiatrie erfolge durch die Implementierung des Handlungsmodells von Frido Mann (1979, 1981), der von 1978 bis 1979 an der Klinik für Psychiatrie der Karl-Marx-Universität Leipzig tätig war und hier seine Habilitation verfasste. Das Handlungsmodell für Konfliktlösungen nach Frido Mann bewegt sich im Dreieck von Empathie, Selbsteinbringung und Sachinformation. Es handelt sich um die Erweiterung des ursprünglich patientenzentrierten Konzeptes um das Prinzip der sozialen Determination psychischen Geschehens zu einer partnerschaftlichen Arbeitsbeziehung, in der der Patient den Therapeuten als eigenständige Person und Partner auf Augenhöhe erfährt (Pfeiffer 1976). Dabei agiert der Therapeut nicht nur als eigenständiges Individuum, sondern macht sich auch als Vertreter institutioneller und gesellschaftlicher Normen und Werte transparent. So ist es der Therapeut, der in der Behandlungssituation die Regeln des Stationslebens, das Behandlungskonzept der Klinik im engeren Sinne und der medizinischen wie beruflichen Rehabilitation poststationär im weiteren Sinne vertritt und dem Patienten nahebringen muss. Er wird zum Katalysator aktueller gesellschaftlicher sozialpolitischer Einflüsse, z. B. durch die Vorgaben der Krankenkassen und der gesetzlichen Gegebenheiten der Integration psychisch Kranker in die Gesellschaft. Das Konzept der personenzentrierten psychotherapeutischen Arbeit an der Klinik für Psychiatrie der Karl-Marx-Universität Leipzig beinhaltete somit nach Weise und Weise (1981) folgende Weiterentwicklung: – die Selbsteinbringung des Therapeuten, der seine gefühlsmäßige Bewertung der des Pa-­ tienten gegenüberstellt;

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– die Erweiterung der Empathie zur »sozialen Empathie« (Mann 1981), wobei es um die Einbeziehung soziostruktureller Determinanten internaler Inhalte geht; – die Integration von Sachklärung und Sachlösung zur Analyse der konkreten sozialen Situation des Patienten im Krankenhaus bzw. in seinem sozialen Umfeld (Mann 1980). Damit erfuhr die Vorstellung Rogers (1973), dass der Mensch ein autonomes Individuum sei, das sich allein aufgrund seiner Selbstaktualisierungstendenz entwickelt und auf das äußere und soziale Einflüsse »sekundäre Wertsysteme« vorwiegend störend bzw. hemmend einwirken, eine theoretisch-konzeptionelle Überwindung.

Die Umsetzung der erweiterten Konzeption in der Praxis An der Klinik für Psychiatrie der Karl-Marx-Universität Leipzig erfolgte die Behandlung der ihr anvertrauten Patienten im Rahmen eines multiprofessionellen psychosoziotherapeutischen Programmes, das den Erfordernissen einer adäquaten Psychopharmakologie als auch einer modernen und die Ressourcen der Patienten förderlichen Sozio- und Psychotherapie verpflichtet war. Es fanden Einzel- als auch Gruppenpsychotherapien statt, wobei alle the­ rapeutischen Prozesse mit der Betonung der Eigenverantwortlichkeit und Aktivität der Pa-­ tienten entsprechend dem Grundprinzip der gemeindenahen Psychiatrie – Hilfe zur Selbsthilfe – verliefen (Rank et al. 1986). Eine besonders wichtige Rolle spielte dabei die kontinuierliche psychotherapeutische Weiterbildung. Die Mitarbeiter aller Berufsgruppen absolvierten und absolvieren bis heute an der Klinik einen Grundkurs der Gesprächspsychotherapie, dessen Ziel der Erwerb und die Konditionierung des psychotherapeutischen Basisverhaltens ist. Das Kursprogramm gliedert sich in folgende Einheiten: – Seminar zu theoretischen Grundlagen der Konzeption von Carl Rogers; – Diskriminationstraining schriftlicher und vom Tonband vorgegebener Patientenäußerungen anhand einer fünfstufigen Skala zur didaktischen Gesprächsanalyse, dessen Zielstellung die Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte des Patienten ist; – Übungen zur Wahrnehmung und zum Ausdruck eigener Gefühle im therapeutischen Prozess (Selbsteinbringung/Ich-Botschaft) anhand von Tonbandbeispielen in der Dyade; – Mündliche Gesprächsübungen mit Tonbandanalyse in konkreten therapeutischen Situationen in dyadischer Beziehung und in der Gruppe;. – Einsatz des Videofeedbacks zum Training ausgewählter therapeutischer Situationen. Im Zentrum steht somit das Training der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte zur Auflösung von Inkongruenzen auf emotionaler, kognitiver und Verhaltens-(physiologischer) Ebene beim Patienten sowie das Training von Konfliktlösungen bei der Bewältigung der psychischen Erkrankung und im interpersonellen Kontakt. Emotionale Erlebnisinhalte zu erfassen bedeutet die sensible Wahrnehmung von Zielen, Wünschen, Hoffnungen eines Menschen, seiner gefühlsmäßigen Stellungnahmen und Bewertungen der Umwelt, der Bewertungen eigenen Verhaltens und Erlebens (nicht das

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Verhalten an sich) sowie sämtlicher Selbstbildschilderungen (»so bin ich, so will ich sein«) des Patienten durch den Therapeuten. In der täglichen therapeutischen Arbeit erfolgt somit eine interkollegiale therapiebegleitende Supervision, die sich in den regelmäßig stattfindenden Team- und Gruppenvisiten anbietet. Dort nehmen an der Seite der Patienten Mitarbeiter aller Fachbereiche (Ärzte, ­Psychologen, Ergo- und Physiotherapeuten, Schwestern, Pfleger, Sozialtherapeuten) teil. In kollegialer Weise erfahren die Mitarbeiter untereinander Bestätigung, Korrektur und Er­weiterung ihres personenzentrierten Arbeitens. Die Reflexion des Patienten aus den unterschiedlichen Wahrnehmungsfeldern (in der Ergotherapie, beim Sport, im informellen Kontakt im Stationsleben, im unmittelbaren psychotherapeutischen und psychiatrischen Kontakt, in der Triade mit den Angehörigen und Freunden) gestaltet die Arbeit mit ihm individuell, authentisch und lebensnah. Sie ist an den persönlichen Erfordernissen und Bedürfnissen im Genesungsprozess im engeren und der persönlichen Weiterentwicklung im weiteren Sinne ausgerichtet. Bis heute erweist sich dieser Weiterbildungsansatz und die Anwendung des klientenzentrierten Psychotherapieansatzes als Basisverhalten psychotherapeutischer Interventionen als sehr bewährt in der psychiatrischen und psychotherapeutischen Praxis der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig. Er ermöglicht die Kombination mit verhaltenstherapeutischen, systemischen und auch tiefenpsychologischen Interventionen, ganz ausgerichtet auf die individuellen therapeutischen Erfordernisse des Patienten. Er wirkt sich unmittelbar auf die Atmosphäre auf den Stationen und in der Ambulanz aus. Viele Patienten erwähnen bei ihrer Entlassung das wertschätzende, förderliche und arbeitskooperative Klima und heben diesen Unterschied im Vergleich zu anderen Kliniken, an denen sie sich behandeln ließen, ausdrücklich hervor. Dies ermuntert sowohl mich als auch meine Kollegen, den wissenschaftlich anerkannten Ansatz der personenzentrierten Psychotherapie weiterhin in der Lehre zu verbreiten und in der alltäglichen Praxis anzuwenden.

4.9.2 Margit Venner: Psychotherapie in der Inneren Medizin Nachdem der Psychiater Johann Christian Heinroth im Jahre 1818 den Begriff der psychosomatischen Medizin geprägt hatte, waren es S. Freud mit seiner Konversionstheorie und vor allem bedeutende Internisten, wie Gustav von Bergmann, Ludolph von Krehl und Viktor von Weizsäcker, die versucht hatten, körpermedizinische Befunde mit Sinnfragen seelischgeistigen Existierens in Verbindung zu bringen und dieses Denken für die Diagnostik und Therapie ihrer Patienten nutzbar zu machen. Die psychosomatische Medizin hat sich aus den klinischen Fächern heraus zu einem eigenen Fachgebiet entwickelt, das dann wieder in die klinischen Fächer reintegriert werden musste. Das lässt sich anhand der Entwicklung der »Abteilung Internistische Psychotherapie« in der Klinik »Innere Medizin« der Friedrich-Schiller-Universität Jena gut darstellen. Anfang der 1950er Jahre wurde eine Abteilung für Psychotherapie in der Medizinischen Universitätspoliklinik der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Hellmuth Kleinsorge

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und Gerhard Klumbies gegründet. Diese Abteilung hat sich zunehmend profiliert und einen eigenen Behandlungsansatz für Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen entwickelt. Die Abteilung erhielt etwa Ende der 1950er Jahre eigene Räumlichkeiten außerhalb der Inneren Klinik. 1984 wurde die Abteilung wieder in eigene Räumlichkeiten innerhalb der Inneren Kliniken zurückverlegt. Dieser räumlichen Reintegration versuchten wir eine inhaltliche anzuschließen. In der Anfangsphase der Jenaer Psychotherapie-Abteilung wurden vorwiegend supportive Methoden in Form von Hypnosen, Autogenem Training und psychagogischen Gesprächen praktiziert. Das erwies sich bald als unzureichend. Deshalb entwickelten wir etwa ab Anfang der 1970er Jahre einen Behandlungsansatz, der die Nachreifung der Persönlichkeit der psychosomatisch Kranken fördern sollte. Ziel war der Aufbau zuverlässiger Ich-Funktionen, die eine Stärkung des Selbstvertrauens, eine verbesserte Fähigkeit zur Rivalität und zu mehr sozialer Kompetenz verhelfen sollten. Diese psychische Nachreifung ist Voraussetzung für eine Besserung der psychosomatischen Erkrankung. Dadurch lernt der Patient, die Erkrankung als Ausdruck seiner spezifischen Lebensschwierigkeiten zu akzeptieren, als Alarmsignal für eine gestörte emotionale Balance zu verstehen und individuell angemessene Bewältigungsmechanismen zu entwickeln. Die Behandlung erfolgte ambulant und stationär, einzel- und gruppentherapeutisch. Von der Methodik her handelte es sich um eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Es wurden aber auch suggestive Verfahren wie Autogenes Training, Hypnose und Katathymes Bilderleben ebenso wie verhaltenstherapeutische und körperorientierte Techniken eingesetzt. Die Behandler waren Ärzte oder Psychologen. Daneben erfüllten wir in den Inneren Kliniken und auch anderen Fachkliniken folgende Aufgaben: Konsiliardienste, Liaisondienste, psychotherapeutische Aus- und Weiterbildung und die studentische Ausbildung im Fach Medizinische Psychologie mit Vorlesungen, Seminaren und fakultativen Veranstaltungen. Wir hatten große Freiheiten, dieses Fach klinisch und praktisch auszugestalten. 1990 übernahmen wir dann das Lehrfach Psychosomatik/Psychotherapie. Den Konsiliardienst praktizierten wir nach drei verschiedenen Strategien: – die häufigste Form war die psychodiagnostische und/oder psychotherapeutische Intervention direkt am Patienten. Das konnte eine Krisenintervention sein oder eine meist supportive psychotherapeutische Mitbehandlung oder die Übernahme des Patienten nach abgeschlossener somatischer Diagnostik und Therapie in unsere stationäre Behandlung; – psychologische Beratung der Ärzte bei Problemfällen; – der teamorientierte Ansatz bestand in der Beratung des gesamten Behandlerteams, wenn Störungen der Arzt-Schwester-Patient-Beziehung die klinische Behandlung negativ beeinflussten. Wir haben den Konsiliardienst genutzt, um mit den Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch zu kommen und die Bedeutung psychosozialer Faktoren für den Krankheits- und Heilungsprozess stärker ins Blickfeld zu rücken. Gleichzeitig hat uns diese Form der Zusammenarbeit vor einseitigem und elitärem psychotherapeutischen Denken bewahrt. Im Liaisondienst führten wir regelmäßig für und mit bestimmten Abteilungen psychotherapeutische Aktivitäten durch. So ging aus der Zusammenarbeit mit der onkologischen

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Abteilung eine Selbsthilfegruppe mit professioneller Begleitung für Tumorpatienten und deren Angehörige hervor. Zum Liaisondienst gehörte auch die Balint-Gruppenarbeit mit den Angehörigen des medizinischen Personals, z. B. der Dialyseabteilung und der hepatologisch-onkologischen Abteilung. Außerdem gehörte in den Bereich der Liaisonarbeit die Mitbehandlung von Patienten in vital bedrohlichen Zuständen, wie z. B. bei einem extremen Colitisschub oder einem extremen Mangelzustand bei einer Anorexia nervosa oder einer Knochenmarkstransplantation. Die Patienten wurden in diesen Fällen auf einer internistischen Station aufgenommen und versorgt und von unserer Abteilung intensiv psychotherapeutisch begleitet. Die Patienten der Abteilung der internistischen Psychotherapie litten unter psychosomatischen Erkrankungen. Dazu gehörten sowohl Patienten mit Funktionsstörungen, wie z. B. Herzfunktionsstörungen, Dysphonien, Kopfschmerzen usw., als auch Patienten mit den klassischen Psychosomatosen, wie Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Asthma bronchiale, essentielle Hypertonie und Essstörungen (Anorexia nervosa, Adipositas und Bulimia nervosa). Bei der Behandlung dieser Patienten wurden drei Phasen unterschieden: 1. die ambulante Vorbereitungsphase, 2. die stationäre Gruppenpsychotherapie, 3. die ambulante Dispensaire-Betreuung. Zu 1. In der ambulanten Vorbereitungsphase mussten die Indikation zur stationären Gruppenpsychotherapie geprüft und die Voraussetzungen dafür beim Patienten entwickelt werden. Dazu gehören: – die Sicherung der Diagnose »psychosomatisch krank«, – ein Minimalkonsens zwischen Patient und Therapeut über die Psychogenese der Erkrankung und das anzustrebende Behandlungsziel, – ein für die Therapieanforderungen ausreichender körperlicher Zustand. Zu 2. Es wurden acht bis zehn Patienten für eine geschlossene Gruppe stationär aufgenommen. Für diesen Zeitraum vereinbarten wir mit den Patienten den Verzicht auf Besuchszeiten, Beurlaubungen und auf telefonische Kontakte. Briefkontakte wurden als bewährtes Mittel favorisiert. Eine verbindliche Hausordnung sicherte nicht nur den organisatorischen Ablauf, sondern auch die Möglichkeit, sich in den psychotherapeutischen Prozess, d. h. in die Regression hineinzubegeben. Das Herzstück der stationären Behandlungsphase war das tägliche (außer sonntags) Gruppengespräch. Dazu kamen zwei Stunden Kommunikative Bewegungstherapie pro Woche, Maltherapie und Autogenes Training. Da unser »Jenaer Modell« auf eine 24-Stunden-Gruppenpsychotherapie abzielte, gestaltete die Therapiegruppe ihre Nachmittags- und Abendprogramme selbst nach einem in der Hausgruppe mit den Therapeuten abgestimmten Programm. Darin nahmen Wandern, sportliche Aktivitäten und Schwimmen als Mittel zur Steigerung der körperlichen Belastbarkeit einen breiten Raum ein. Die zum Teil körperlich schwer beeinträchtigten Patienten konnten so eine neue Beziehung zum Körper und dessen Leistungsfähigkeit entwickeln. Diese Art des Gruppenlebens ermöglichte es den Patienten auch, Varianten einer sinnerfüllten Tagesgestaltung kennenzulernen.

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Die Gruppen waren symptom-, geschlechts-, altersheterogen und auch heterogen bezüglich der sozialen Struktur. Die Gruppenleitung erfolgte durch ein Therapeutenpaar. Im Laufe einer solchen stationären Gruppenpsychotherapie tritt die körperliche Symptomatik in ihrer Wichtigkeit zurück, hat aber noch als Ausdruck emotionaler Abläufe ihre Bedeutung. Mit dem Autogenen Training gaben wir den Patienten ein Mittel zur selbständigen Symptombeeinflussung in die Hand. Bisher kannten sie dafür nur die medikamentöse Therapie. Sachinformationen zur Krankheit und zur Verwendung von Medikamenten gehörten mit in die Abschlussphase. Die soziale Reintegration der Patienten in der Abschlussphase der stationären Behandlung geschah gestuft und schaffte so den Übergang in die ambulante Dispensaire-Betreuung. Zu 3. Damit der psychosomatisch Kranke die in der stationären Therapie gewissermaßen im Experiment gewonnenen Erfahrungen in seine eigene Realität umzusetzen lernt, bedarf er sowohl der Hilfe seines Psychotherapeuten als auch der Hilfe seines Hausarztes und seiner wichtigsten Bezugspersonen. Die in Gang gesetzte Persönlichkeitsnachreifung sollte fortgesetzt und stabilisiert werden. Die Patientengruppen wurden nach 15 Wochen und nach einem Jahr erneut für eine Woche stationär aufgenommen. Die Behandlung der psychosomatisch Kranken geschah also auf zwei Ebenen: – der Persönlichkeitsnachreifung, die sich im Gelingen der sozialen Integration im fami­ liären und beruflichen Bereich und dem Abbau der Rolle als »chronisch Kranker« äußerte, und – der vegetativen Regulation. Beide Ebenen beeinflussen sich wechselseitig. Zur Veranschaulichung sei hier ein exemplarischer Fall dargestellt. Die 33-jährigen Patientin mit einer Colitis ulcerosa ist in der Zeit der gesellschaftlichen Wende erkrankt. Sie ist ledig, lebt alleine in einer eigenen Wohnung und hat keine Kinder. Sie wurde uns nach der stationären Behandlung eines akuten Schubes der Colitis ulcerosa im Jahr 1992 zur stationären psychotherapeutischen Behandlung überwiesen. Die Patientin befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem reduzierten Ernährungs- und Kräftezustand und am Beginn einer Remissionsphase. Das Therapieanliegen der Patientin bestand in dem Wunsch »besser mit der Erkrankung umgehen und leben zu lernen«. Zur Lebensgeschichte der Patientin: Sie ist das zweitgeborene Kind von sechs Geschwistern. Sie war nach dem erstgeborenen Bruder die älteste Tochter ihrer Eltern. Desolate Familienverhältnisse (eine enge Folge der Geschwisterrreihe, ein früher Mangel an emotionaler Zuwendung bei bestehendem Alkoholismus der Mutter, ständig wechselnde Partnerschaften der Mutter, dauerhafte Strukturlosigkeit innerhalb der Familie, körperliche Misshandlung und sexueller Missbrauch der Patientin durch den Stiefvater (vom neunten Lebensjahr an) führten zu einer frühen psychischen Entwicklungsstörung mit Ich-strukturellen Defekten. Den Mangel an Liebe und Zuwendung durch die Eltern versuchte die Patientin im Laufe ihres Lebens durch eine intensive Fürsorge um die jüngeren Geschwister und das Erlangen von Anerkennung über gute schulische und sportliche Leistungen zu kompensieren. Schon bald bekam das Gesellschafts- und Schulsystem der DDR für die Patientin eine strukturell und familiär ersatzgebende Funktion. Die klaren Regeln, die Förderung von

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Gemeinschaft und Gemeinschaftssinn, die Führung durch Pionier- und FDJ-Gruppenleiter gaben der Patientin die Sicherheit und Orientierung, die sie in ihrer Familie vermissen musste. Die staatlichen Organisationen fungierten als phantasierte gute Objekte. Über ihr Engagement in den Organisationen und die Übernahme von Aufgaben und Leitungsfunktionen bekam die Patientin das Gefühl, geliebt, anerkannt und gebraucht zu werden, aber auch den Eindruck, selbst bestimmen zu können. Durchfälle und Erbrechen waren in der Kinder- und Jugendzeit der Patientin immer in Zeiten extremer familiärer Krisen oder in Prüfungssituationen (gekoppelt an Versagensängste und Ängsten vor Verlassenheit) aufgetreten. Mit der gesellschaftlichen Wende in Deutschland kam es dann für die Patientin zu massiven Objektverlusten. Die strukturgebenden staatlichen Organisationen waren in Auflösung begriffen, die Bedeutung dieser Organisationen verlor in der Bevölkerung völlig an Gewicht, wurde kritisch diskutiert und entwertet. Die Patientin verlor gleichfalls eine von ihr sehr aktiv ausgefüllte Leitungsfunktion und ihren nach einem Fachholschulstudium in Aussicht gestellten Arbeitsplatz. Im zeitlichen Zusammenhang mit diesen Destabilisierungen bekam die Patientin im November 1990 den ersten Schub der Colitis ulcerosa. Mit dem Scheitern aller Versuche, in dem neuen gesellschaftlichen Umfeld einen Anfang zu finden, entwickelte sich der chronisch rezidivierende Verlauf der Colitis. In dieser Zeit wurde der Hausarzt zur einzigen verlässlichen Kontaktperson und so zum von der Patientin dringend benötigten stabilen guten Objekt. Die frustrierende soziale Situation verarbeitete die Patientin depressiv über Abwehrmechanismen wie Autoagression und Autodestruktion. Das spontane Äußern von wütenden und traurigen Affekten war der Patientin im Sinne der Alexithymie nicht möglich. So wirkte sie im Erstgespräch emotional leblos, stumm, scheinbar gleichgültig und gelassen. Die soziale Destabilisierung überforderte das Bewältigungspotential der Patientin ganz offensichtlich. Eine adäquate Kontaktaufnahme zu Bezugspersonen in ihrem näheren Umfeld und die realitätsgerechte Wahrnehmung der aktuellen Konflikte waren der Patientin zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. Sie befand sich in einem Zustand des inneren und äußeren Rückzuges und der sozialen Isolation. Eine stabile Beziehung zur Herkunftsfamilie existierte nicht. Selbstwertzweifel, Körperbild und Schemastörungen und eine gestörte weibliche Identität verhinderten neue soziale Kontakte. Ein Weiterleben war für die Patientin in dieser Situation nur dadurch möglich, dass die massiven Verluste durch den Beginn der Erkrankung abgewehrt wurden. In der Rolle als Kranke ergab sich für die Patientin die einzige scheinbare Erweiterung ihrer Lebensmöglichkeiten. Die Bedeutung der stabilen Beziehung der Patientin zu ihrem Hausarzt soll an dieser Stelle besonders hervorgehoben werden. Colitis-Patienten halten ihren Behandlern aus dem Bedürfnis nach Abhängigkeit, Zuwendung und Versorgung oftmals eine lebenslängliche Treue. Diese Wünsche nach Stabilität und Geborgenheit sollten im Rahmen der Arzt-Pa­ tient-Beziehung Berücksichtigung finden. An eine siebenwöchige stationäre Gruppenpsychotherapie wurde während einer tiefenpsychologisch fundierten Langzeit-Einzelgesprächstherapie der begonnene Prozess der Erarbeitung des Zusammenhanges zwischen körperlichen Beschwerden und innerpsychischen Konflikten unter Berücksichtigung der Lebensgeschichte der Patientin fortgesetzt. Während der psychothe-

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rapeutischen Behandlung kam es in psychischen Krisensituationen zur Manifestation einzelner Symptome (Durchfall, Erbrechen, Kopfschmerz), aber zu keinem erneuten Rezidiv der Colitis ulcerosa. Die Patientin hat inzwischen ihr soziales Beziehungsgefüge erweitert, ist Mitglied einer Colitis-ulcerosa-Selbsthilfegruppe, hat dort mit der Übernahme von Verantwortung Anerkennung und neue soziale Kontakte sowie Kompensationsmöglichkeiten für erlebte Mangelsituationen gefunden. Die Patientin ist wieder berufstätig und strebt auch hier eine Weiterbildung und eine leitende Funktion an. Sie konnte lernen, zu eigenen Wünschen und Bedürfnissen zu stehen und diese nach außen zu vertreten. Störungen im Selbstwertgefühl und im weiblichen Selbstbild bestehen noch immer und sind u. a. weiterhin Thema der fortlaufenden Psychotherapie.

4.9.3 Paul Franke und Arndt Ludwig: Psychosomatische Gynäkologie – Die Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe Vorgeschichte Der erste Anstoß für die spätere Gründung dieser Arbeitsgemeinschaft erfolgte während der ersten Selbsterfahrungskommunität 1974 in Klein-Pritz. Während eines Gespräches, das Kurt Höck mit Paul Franke führte, erzählte Höck, dass er von einem Verlag den Auftrag für ein Buch über die Rolle der Psychotherapie in der modernen Gynäkologie (Höck 1973) bekommen hatte. Der gesamte psychotherapeutische Teil sei natürlich kein Problem für ihn gewesen, aber den Bereich der Psychosomatischen Gynäkologie habe er selbst nur aus der Literatur zusammenstellen können; da gebe es in der DDR überhaupt nichts, die Frauenärzte hätten diesen Bereich bislang unbearbeitet gelassen. Diese Feststellung war absolut zutreffend. Nachdem die Psychosomatische Gynäkologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Deutschland – auch aufgrund des Einflusses der Psychoanalyse – eine gewisse Blüte erfuhr, brach diese hoffnungsvolle Entwicklung mit der Machtübernahme des Nationalsozialismus ab. Während nach dem Krieg in der Bundesrepublik wieder eine Rückbesinnung auf die Psychosomatik und die Psychoanalyse erfolgte, blieb solches in der DDR aus, wie schon andernorts geschildert. Psychosomatik und psychoanalytisches Denken – ja sogar schon die entsprechenden Begriffe – waren während des Stalinismus unter Verdikt gestellt, dass auch nach Stalins Tod noch lange befolgt wurde. Psychosomatisch-gynäkologische Fachbücher waren lediglich in westdeutschen Verlagen (Condrau 1965; Prill 1964; Roemer 1953) herausgegeben worden und waren daher bei den ostdeutschen Frauenärzten kaum bekannt. In der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR gab es lediglich zwei Bereiche, wo die Psychologie eine randständige Rolle spielte. Die eine Gruppe war die Sexualmedizin, wofür vor allem Lykke Aresin (Universitäts-Frauenklinik Leipzig) stand, die andere Gruppe war die Sektion Soziale Gynäkologie, die sich aber in erster Linie mit den Auswirkungen der Berufstätigkeit auf den weiblichen Organismus beschäftigte, kaum mit psychologischen Fragestellungen. Die Anregung Kurt Höcks, dass sich die Frauenärzte nun langsam selbst um die Integration der Psychotherapie in die Gynäkologie bemühen sollten, fiel auf fruchtbaren Boden. In

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den folgen Jahren erschienen erste psychosomatische Veröffentlichungen über Sterilität, Unterleibsschmerzen und Störungen in der Frühschwangerschaft (Franke 1978; Herold 1978; Knorre 1978). Das blieb nicht ohne Folgen: Im Mai 1978 gab es – erstmals in der DDR – auf dem VII. Gynäkologenkongress der DDR in Dresden 1978 eine unter Leitung von Lykke Aresin eine Sitzung unter der Überschrift »Psychotherapeutische Aspekte in der Gynäkologie und Geburtshilfe« mit insgesamt 13 Beiträgen. Der Boden für die psychosomatische Saat schien also doch vorhanden zu sein und wie die Publikumsbeteiligung zeigte, reichlicher als erwartet. Das machte Mut und Paul Franke rief daher zum Abschluss der Veranstaltung zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe auf mit der Bitte, dass Interessenten dafür sich bei ihm melden könnten. Der Erfolg dieses Aufrufes war nicht so überwältigend wie erhofft. Es meldeten sich lediglich sieben Kollegen im Laufe der folgenden Monate. Trotzdem wurde zu einer Gründungsversammlung an der Frauenklinik der damaligen Medizinischen Akademie Magdeburg eingeladen. Die angemeldeten Frauenärzte – eine Kollegin hatte sich nicht gemeldet – trafen sich bis auf einen, dessen Chef, ein Ordinarius (!), ihm die Teilnahme untersagt hatte, am 16. November 1979 in Magdeburg zu einem gemeinsamen Gedankenaustausch und gründeten im Anschluss daran die »Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe«. Diese sechs Frauenärzte waren (in alphabetischer Reihenfolge): Eberhard Bäßler (Berlin), Paul Franke (Magdeburg), Hans-Rüdiger Hamann (Halle/Saale ), Roger Kirchner Cottbus/Berlin), Peter Knorre (Frankfurt/Oder) und Arndt Ludwig (Zwickau). Auf dieser konstituierenden Sitzung wurde ein Arbeitsprogramm erstellt und Paul Franke zum Vorsitzenden der AG gewählt. Erwähnt werden sollte aber auch, dass der Gastgeber dieser Sitzung, Prof. Dr. med. Gerhard Lindemann, Direktor der Frauenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg, das Treffen wohlwollend förderte. Das Protokoll verwies auf die bestehenden Mängel psychosomatischen Handelns und Forschens im Bereich der Gynäkologie und darauf, dass lediglich an der Medizinischen Akademie Magdeburg eine fakultative Vorlesungsreihe über die Psychosomatische Gynäkologie im Medizinstudium existiert. Es verwies weiter auf Untersuchungen von Hess in Berlin und Franke und Wagner in Magdeburg, wonach im gynäkologischen Patientengut zu 20 bis 30 % Patientinnen mit psychosomatischen und neurotischen Störungen enthalten waren. Außerdem wurde erwähnt, dass für den kommenden Fünfjahrplan (1981–1985) der DDR die Erkennung und Behandlung psychischer Störungen als ein Schwerpunkt festgeschrieben war. Die AG stellte sich das Ziel, diesen Mängeln auf zwei Wegen zu begegnen: erstens durch eigene Forschungen und Vorträge eine Verbreitung der Psychosomatik und Psychotherapie zu erreichen und zweitens durch die Unterweisung weiterer Frauenärztinnen und Frauenärzte in psychodiagnostischen und psychotherapeutischen Kenntnissen das Wissen über psychosomatische Zusammenhänge in ihrem Fachgebiet zu verbreiten. Man vereinbarte ferner, sich zweimal jährlich auf Wochenendsitzungen zum wissenschaftlichen Gedankenaustausch zu treffen.

Die ersten Jahre (1979–1984) Von Beginn an war den Mitgliedern der AG klar, dass sie eine interdisziplinäre Arbeit leisten würden, d. h. sowohl bei den Frauenärzten wie bei den Psychotherapeuten beheimatet sein

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müssten. Bald nach der Gründung schrieb deshalb Paul Franke an die Vorsitzenden der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR (damaliger Vorsitzender Prof. Dr. Sarembe, Dresden) und der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (damaliger Vorsitzender Prof. Dr. Katzenstein, Berlin) mit der Bitte, die AG als Arbeitsgemeinschaft der jeweiligen Gesellschaft anzuerkennen. Der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie antwortete zur Freude der Mitglieder der AG sehr bald, dass er auf seiner Sitzung am 13. März 1980 »selbstverständlich die Entwicklung und Profilierung psychotherapeutischer Methoden« in der Frauenheilkunde »wohlwollend betrachtet« und zustimme, dass sich eine »zeitweilige Arbeitsgruppe mit Herrn Dr. med. P. Franke als Leiter in der Gesellschaft konstituiert«. Nach zwei Jahren solle dann aufgrund der Berichterstattung der AG über deren weitere Bezeichnung und Perspektive beraten werden. Ganz anders der Vorstand der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR: Er lud Paul Franke und seinen Klinikdirektor Prof. Lindemann erst zum 5. Juni 1980 zu einer Vorstandssitzung nach Berlin ein, wo Paul Franke das Anliegen der AG und ihre Pläne zwar vortragen, aber dann an der anschließenden Diskussion zu diesem Punkt nicht teilnehmen durfte. Prof. Lindemann informierte ihn dann darüber, dass die Meinungsbildung im Vorstand eher negativ verlief. Man störte sich vor allem daran, dass hier eine »Initiative von unten« erfolgte, und mokierte sich darüber, dass von den Mitgliedern der AG keiner habilitiert oder sogar Professor war! Der übliche Weg sei, dass der Vorstand ein Problem oder einen Mangel erkenne und von sich aus dafür eine Arbeitsgemeinschaft berufe. Die Arbeitsgemeinschaft Soziale Gynäkologie der Gesellschaft wurde damit beauftragt, sich der Antragsteller anzunehmen, worüber wir als AG keinesfalls glücklich waren, da die Soziale Gynäkologie sich in erster Linie mit sozial- und arbeitshygienischen Problemen der Frauengesundheit beschäftigte. Die mangelnde Sympathie füreinander beruhte wohl auch auf Gegenseitigkeit, denn eine Aufforderung zur Mitarbeit erreichte unsere AG erst im Januar 1981! Ein Interesse an der psychotherapeutisch-psychosomatischen Arbeit gab es in diesem Kreis nicht, so dass sich unsere Teilnahme dort auf ein oder zwei Sitzungen insgesamt beschränkte und es eigentlich nie eine tatsächliche Mitarbeit in dieser AG Soziale Gynäkologie gab. Zwischenzeitlich wurde 1978 in der DDR der »Facharzt für Psychotherapie« geschaffen. Im Gegensatz zu den anderen Fachärzten – und auch dem heutigen »Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« – hatte er zwei Besonderheiten: Zum einen konnte er ausschließlich als Zweitfacharzt erworben werden, setzte also die Qualifikation in einem anderen Facharztbereich voraus, zum anderen musste die Befähigung zur wissenschaftlichen Arbeit in Gestalt einer Promotion nachgewiesen sein. Mit Wirkung vom 1. Dezember 1980 wurde Paul Franke nach erfolgreichem Kolloquium als erster Frauenarzt der DDR (zwei weitere Kollegen, Roger Kirchner und Arndt Ludwig, sollten ihm noch folgen) auch Facharzt für Psychotherapie. Das hatte zur Folge, dass Prof. Lindemann ihm die Möglichkeit eröffnete, an der Frauenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg 1981 einen »Arbeitsbereich für Psychosomatische Gynäkologie« zu begründen – die erste Abteilung dieser Art an einer Frauenklinik der DDR. Auch wurde eine zweijährlich stattfindende fakultative – aber dennoch gut besuchte – Vorlesungsreihe »Psychosomatik in der Gynäkologie und Geburtshilfe« an der Medizinischen Akademie Magdeburg begründet – ebenfalls

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ein Novum in der DDR. Diese Ereignisse waren als positive Zeichen auch für die Arbeitsgruppe von Bedeutung. Inzwischen traf sich die Arbeitsgruppe zweimal jährlich zu Wochenendtagungen in Berlin, Bagenz bei Cottbus oder in Stangengrün (Vogtland). Schon zum ersten Arbeitsgruppentreffen in Berlin (April 1980) kamen neue Mitglieder (Klaus Herold), darunter auch die Frauenärztinnen Roswitha Paech und Roswitha Wirsig. Die Wochenendtagungen folgten einem straffen Programm, in dem die Mitglieder sich über Themen psychotherapeutischer Methoden, der Psychodiagnostik, der internationalen Literatur und der eigenen Forschungen und Untersuchungen informierten und diese diskutierten. Auch wurde eine regelmäßige Balint-Gruppenarbeit durchgeführt – die wir in dem damaligen Sprachgebrauch in der DDR aber noch als »Problemfallseminar« bezeichneten. Diese Treffen waren sehr intensiv, wobei sich die überschaubare Anzahl der Mitglieder durchaus als Vorteil erwies. Gleichzeitig bildeten diese gegenseitigen Unterweisungen die Basis für die späteren Grund- und Aufbaukurse für Psychosomatik und Psychotherapie in der Frauenheilkunde, die schon damals die heutige Qualifikation in der Psychosomatischen Grundversorgung vorwegnahm. Ein weiteres Merkmal, das ich unbedingt als Vorteil einschätze, war die feste Bindung der AG an die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, die die AG relativ strikte psychotherapeutische Positionen einnehmen ließ. Bald traten die Mitglieder der AG auch regelmäßig als Referenten auf den gynäkologischen und psychotherapeutischen Tagungen der jeweiligen Regionalgesellschaften in Erscheinung, was auch vereinzelt neue Mitglieder zur Folge hatte. Diese Basisarbeit hatte durchaus positive Auswirkungen: Die Arbeitsgruppe und ihre Mitglieder wurden bei den wissenschaftlichen Gesellschaften bekannt – und das im guten Sinne. Es folgten bald erste Einladungen für Vorträge auf Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen wie z. B. auf dem internationalen Symposium der Gesellschaft für Perinatale Medizin der DDR in Halle/Saale 1983 oder die Gestaltung eines ganzen Tages auf einem Wochenlehrgang für Psychotherapie der Akademie für Ärztliche Fortbildung im gleichen Jahr durch unsere AG. Wie schon oben erwähnt, sah die Wirtschaftsplanung des Fünfjahrplanes der DDR 1981– 1985 vor, dass die Erforschung und Behandlung psychonervaler Störungen im Gesundheitswesen ein besonderer Schwerpunkt werden sollte. Das hatte zur Folge, dass es in diesen Jahren ein zentrales Forschungsprojekt »Psychonervale Störungen« gab, in dem der Arbeitsbereich Psychosomatische Gynäkologie der Medizinischen Akademie Magdeburg mit der Aufgabe »Psychosomatische gynäkologische und geburtshilfliche Störungen« in dem größeren Kapitel »Psychotherapieforschung« eingebunden war. In diesen fünf Jahren wurden fünf Forschungsprojekte erfolgreich bearbeitet, woraus auch drei Diplomarbeiten und drei Promotionen zu psychosomatisch-gynäkologischen Themen erfolgreich verteidigt werden konnten. Das alles hatte zur Folge, dass 1983 die »zeitweilige« AG als ständige Arbeitsgruppe der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie anerkannt wurde. Inzwischen hatte die AG zwölf Mitglieder und war durch das erfolgreiche Auftreten in der medizinischen Öffentlichkeit deutlich selbstbewusster geworden. Die Ergebnisse der Untersuchungen an den verschiedenen Kliniken und Polikliniken waren so reichhaltig, dass die AG auf ihrer 8. Wochenendsitzung im März 1983 beschloss, im Herbst 1984 in Magdeburg eine erste öffentliche Tagung durchzuführen.

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Das 1. Symposium 1984 in Magdeburg Wir wussten, als wir diesen Beschluss eine Tagung zu planen und durchzuführen fassten, noch nicht, was auf uns zu kam. Diese Ahnungslosigkeit war ein Vorteil, so dass wir uns, durch keinerlei Bedenken angekränkelt, an die Arbeit machten. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe zeichnete ein gewisser trotziger Pioniergeist aus. Dass die gynäkologische Fachgesellschaft sie nicht als eigenständige AG anerkannt hatte, hatte uns nicht entmutigt, sondern eher entschlossener gemacht. Dazu kam, dass wir uns als die zu Unrecht zu wenig anerkannten Träger einer für die Frauenheilkunde neuen und wichtigen Theorie und Therapiemethode sahen und mit fast missionarischem Eifer alles dafür tun wollten, die Psychotherapie in die traditionelle Frauenheilkunde zu integrieren. Wir fühlten uns durchaus als etwas Besonderes und – in einem gewissen Sinne – in der Opposition. An dieser Stelle ist eine kleine Abschweifung wichtig, die aber mit dem Erfolg des 1. Symposiums untrennbar verbunden ist. 1983 erschien von Christa Wolf das Buch »Kassan­dra – vier Vorlesungen und eine Erzählung«, in dem Frauenschicksale und feministische Probleme bearbeitet wurden. Eine Besonderheit war, dass die Ausgabe in der DDR des Aufbau-Verlages (Wolf 1983a) deutlich gekennzeichnete Kürzungen enthielt, während zu gleicher Zeit das Werk im westdeutschen Luchterhand-Verlag (Wolf 1983b) vollständig erschienen war. In den Jahren zuvor war die Autorin ja bei den Oberen der SED in Ungnade gefallen. Sowohl vom Thema her, aber auch wegen der lächerlichen Streichungen und der besonderen Rolle Christa Wolfs waren wir fasziniert von der Schriftstellerin und ihrem Werk. Und so kamen wir auf die vermessene Idee, im Januar 1984 Christa Wolf zu bitten, auf unserer Tagung einen Festvortrag zu halten, ohne große Hoffnung auf einen positiven Bescheid. Umso größer war die Überraschung, als sie im Februar 1984 Paul Franke antwortete und schrieb: »Sie werden lachen – ich nehme Ihr Angebot an. Psychosomatische Gynäkologie interessiert mich seit langem.« Aber sie wusste auch sehr gut um ihren damaligen Stand in der DDR und schrieb deshalb dem Autor schon im März 1984: »Überlegen Sie noch einmal genau, ob es – jenseits Ihres Wunsches, an dem ich nicht zweifle – für Ihre Gesellschaft günstig ist, wenn ich dort spreche. Ihr Brief hat mir mögliche Gefährdungspunkte bewusst gemacht, an die ich vorher nicht gedacht hatte und die allein schon an meinen Namen geknüpft sein würden, unabhängig davon, was ich sagen würde. Es könnte doch sein, dass im jetzigen Stadium dieser sowieso gefährdeten Gesellschaft jede zusätzliche Erschütterung vermieden werden sollte.« Und sie schrieb am Schluss des Briefes: »Fast möchte ich Ihnen abraten, mich für Ihre Tagung zu nehmen.« Diese Bedenken waren berechtigter, als wir es damals wahrhaben wollten. Das bekamen wir drei Wochen vor unserem 1. Symposium zu spüren. Inzwischen hatte sich in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR und auch für uns einiges zum Besseren verändert. Michael Geyer war der neue Vorsitzende der Gesellschaft nach Katzenstein und mit ihm ein Vertreter psychoanalytischen Gedankengutes. Durch seine Initiative dem Vorstand der Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe gegenüber wurden wir durch eine Übereinkunft beider Vorstände zu einer beiden Gesellschaften zugehörigen »interdisziplinären Arbeitsgruppe«, was aber in der ersten Zeit praktisch nichts an den mehr als lockeren Bezie-

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hungen zu der gynäkologischen Gesellschaft veränderte. Er organisierte auch das Internationale Psychotherapie-Symposion vom 10.–12. Oktober 1984 in Dresden, auf dem – was damals noch selten war – auch Psychotherapeuten aus verschiedenen westlichen Ländern teilnahmen. Ich erwähne das deshalb, weil er zu Beginn dieser Tagung aufgeregt und verärgert auf mich zu kam und sagte: »Was macht Ihr da für Sachen, die Wolf als Festrednerin einzuladen. Das gibt erheblichen Ärger. Du sollst nachher gleich zu Rohland kommen, er will dich sprechen!« Lothar Rohland war der Direktor des Generalsekretariats der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR in Berlin und ein mächtiger Mann. Er war der Beauftragte der SED-Führung und des Staatssicherheitsdienstes zur politischen Überwachung aller medizinischen Gesellschaften, gewissermaßen ihr »Politoffizier«. Ordinarien fürchteten und hofierten ihn. Er entschied maßgeblich darüber, ob jemand für einen Vorstandsplatz politisch »geeignet« war und für viele noch wichtiger: wer zu einem Kongress in das westliche Ausland fahren durfte! Rohland musterte mich nur kurz und sagte: »Sie haben für die Tagung in Magdeburg die wissenschaftliche Leitung? Ob Christa Wolf dort auftreten wird, ist noch fraglich. Kommen Sie nächste Woche in das Generalsekretariat zu mir.« Wir waren wie vor den Kopf geschlagen. Das knapp drei Wochen vor unserer Tagung. Die Programme waren doch längst gedruckt und verschickt, weit über 150 Teilnehmer hatten sich schon angemeldet! War jetzt alles in Frage gestellt? Am 16. Oktober1984 reiste ich also voll Bangen in Berlin an. Rohland empfing mich höflich und fragte mich, was wir uns eigentlich dabei gedacht hätten, Frau Wolf zu einem Festvortrag einzuladen. Insgeheim wunderte mich nur eines: Wieso wurde ich erst jetzt, knapp drei Wochen vor der Tagung, vor diese Frage gestellt? Hatte die politische Obrigkeit und vor allem die Stasi nichts von unserer Planung und der Verabredung mit ihr mitbekommen? Hatten sie erst jetzt, nach der Versendung unseres Programms davon Wind bekommen? Wie dem auch sei, ich erklärte also, dass ich auf mehreren gynäkologischen Kongressen erlebt hatte, dass Kunstgeschichtler, Philosophen und auch Schriftsteller einen Eröffnungs- oder Festvortrag gehalten und Bezüge zu unserem Fachgebiet hergestellt hätten und führte dazu Beispiele an. Rohland hörte sich das alles ohne eine Erwiderung an. Er sagte nur: »Sie werden in den nächsten Tagen von mir hören. Bis dahin kein Wort über dieses Gespräch zu Frau Wolf!« Damit war ich entlassen – und fuhr entgegen der Weisung mit der nächsten S-Bahn in die Friedrichstraße zur Wohnung von Christa Wolf und erzählte ihr von diesen aktuellen Misshelligkeiten. Offensichtlich waren ihre Bedenken aus ihrem Brief damals nicht unbegründet gewesen. Trotzdem oder vielleicht auch deswegen erhielt ich zwei Tage später den Anruf von Rohland mit der Mitteilung, dass die Tagung mit Christa Wolf stattfinden könne. Wir – unsere Arbeitsgruppe war ja über alles informiert – waren alle sehr erleichtert. Die Tagung wurde ein großer Erfolg. Statt der ca. 150 angemeldeten Teilnehmer waren es – auch infolge der Ärzte aus der Region – fast 250! Es ist uns durchaus bewusst, dass wir diese große Resonanz auch Christa Wolf zu verdanken hatten, die mit ihrem großartigen und heute noch lesenswerten Vortrag »Krankheit und Liebesentzug, Fragen an die psychosomatische Medizin« (Wolf 1986) viele auf unsere Tagung aufmerksam machte, auf der 30 Vorträge zu allen Themen der Frauenheilkunde und Geburtshilfe gehalten wurde. Übrigens blieb Christa Wolf die gesamte Tagung über eine aufmerksame Zuhörerin.

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Im Anschluss an die Tagung gaben wir auch eine Broschüre mit allen Vorträgen, einschließlich des Festvortrages (Wolf 1985), heraus. Nebenbei soll erwähnt werden, dass das ein über ein Jahr dauernder bürokratischer Hürdenlauf war, ehe wir die Broschüre verteilen konnten, die auf schlechtem Papier sehr klein gedruckt werden musste und nur eine sehr geringe Auflage hatte. Trotzdem waren wir sehr stolz auf dieses erste Druckerzeugnis zur Psychosomatischen Gynäkologie in der DDR.

1985–1989 Die Magdeburger Tagung bedeutete den Durchbruch für die AG. Auch die gynäkologische Gesellschaft konnte sie nicht mehr übersehen und die Anzahl der Mitglieder nahm kontinuierlich zu, bis sie etwa 80 Frauenärzte und -ärztinnen und zwei Psychologinnen umfasste. Ab 1985 führte die AG zweimal jährlich die von Roger Kirchner konzipierten Grund- und Aufbaukurse zur Vermittlung psychosomatischer und psychotherapeutischer Kompetenz für Frauenärzte (heute: »Psychosomatische Grundversorgung«) durch. Nach dem Ausscheiden von Roger Kirchner übernahm Arndt Ludwig, später zusammen mit Carmen Presch, die Leitung der Kurse. Es erscheint bedeutsam, dass das Interesse an den Kursen sehr groß war, ohne dass sich – wie nach der Wende – dadurch finanzielle Vorteile infolge individueller Abrechnungsmöglichkeiten ergaben. Heute sind die Kurse Pflichtprogramm im Rahmen der Weiterbildung zum Facharzt, es hat aber den Anschein, dass unter den Freiwilligen damals das Interesse beträchtlich größer war. Auf der Tagung in Magdeburg wurde mit Christa Wolf besprochen, dass es doch interessant wäre, wenn sich Mitglieder der AG und DDR-Schriftstellerinnen einmal treffen würden, um sich auszutauschen als zwei Gruppen, die sich für die Interessen der Frauen einsetzen. Dieser Vorschlag fiel auf fruchtbaren Boden und vom 14.–16. März 1985 fand diese Klausurtagung in Ferch bei Potsdam statt, an der sechs Schriftstellerinnen und zwölf ­Mitglieder der AG teilnahmen. Dieses Treffen wurde anscheinend auch von der Stasi beobachtet und in einer Akte der Abt. XX vom 26. März 1985 dokumentiert, worin u. a. steht, dass die Mitglieder der AG »von seelsorgerischen Motiven und freidenkerischen Haltungen geprägt« seien. Ferner: »Ihnen geht es darum, Frauen mit gleichen Schicksalen zusammenzuführen, da sie meinen, dass die sozialpolitischen Maßnahmen unseres Staates sowie die Gesundheitspolitik unserer Partei dafür keinen Rahmen biete.« – Dieses Schriftstellerinnentreffen wurde Anfang März 1988 noch einmal durchgeführt. Bereits 1984 wurden Vorträge zum Schwangerschaftskonflikt gehalten. Dieses erstmalig in der DDR benannte Thema mündete in der Konzeption und Durchführung von Schwangerschaftskonfliktberatungen, worüber 1986 und 1988 auf den Tagungen und in Fachjournalen (Ludwig u. Franke 1988) berichtet wurde. Mitglieder der AG führten diese Beratungen an ihren Arbeitsstellen durch, lange bevor nach der Wiedervereinigung Deutschlands diese Einrichtungen Gesetz wurden. Inzwischen wurde das 2. Symposium (Leitung Peter Knorre) am 17.–18. April 1986 mit ähnlich großem Erfolg in Frankfurt/Oder durchgeführt (Franke u. Knorre 1987). Die Autorin Renate Feyl hielt diesmal den Festvortrag »Der lautlose Aufbruch – Aufbruch der Frauen zu sich selbst«. Über mangelndes Interesse hatten wir uns nicht mehr zu beklagen. In Zwi-

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ckau wurde 1986 unter Leitung von Arndt Ludwig der zweite Arbeitsbereich Psychosomatik an einer Frauenklinik der DDR gegründet. Als dritten Arbeitsbereich könnte man auch den Arbeitsbereich Soziale Gynäkologie an der Frauenklinik der Charité Berlin anführen, der sich seit der Mitarbeit von Bergit Maspfuhl und Martina Rauchfuß vermehrt psychosomatischen Fragestellungen widmete. 1988 erschien die durch unsere AG im Auftrag des Weiterbildungsinstitutes Potsdam erstellte Broschüre »Psychologische Geburtsvorbereitung« für die Hebammenweiterbildung. Es folgte das 3. Symposium 1988 in Zwickau (Leitung Arndt Ludwig). Hier hielt die Schriftstellerin Helga Schütz den Festvortrag. Abweichend von unserem zweijährigen Rhythmus der Tagungen führten wir aber im Oktober 1989 eine Tagung anlässlich des zehnjährigen Bestehens unserer AG in Schöneck (Vogtland) durch. Diese war von der Unruhe des beginnenden Unterganges der DDR beeinflusst und somit auch mit Verunsicherungen und vagen Hoffnungen. Davor war 1988 ein Schritt erfolgt, von dem wir aufgrund unserer Erfahrungen nicht unbedingt begeistert waren, der aber zeigte, dass die Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe der DDR uns, aber damit auch die Psychosomatik, nun – neun Jahre nach unserer Gründung – anerkannte, in dem wir als »Arbeitsgemeinschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe« AG dieser Gesellschaft wurden. Das hatte zur Folge, dass die AG von der gynäkologischen Gesellschaft gebeten wurde, ein Rundtischgespräch mit Vorträgen auf dem DDR-Gynäkologenkongress in Leipzig im Dezember 1989 zu gestalten. Erstmalig erhielten wir dafür im September 1989 auch die Erlaubnis, zwei Referenten, namhafte Vertreter der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe (DGPGG) aus der BRD einzuladen, die Professoren Hans-Joachim Prill und Peter Petersen. Vor allem Hans-Joachim Prill hatte die Verbindung zu uns von unserer Gründung an brieflich aufgenommen und kam hin und wieder als »Tourist« zu gynäkologischen Kongressen in die DDR, wo man sich treffen konnte. Vorher durften wir solche Gäste nicht einladen und auch zu Tagungen der westdeutschen oder internationalen Gesellschaft durfte keiner von uns reisen; teilweise wurden diese Einladungen an uns von den Dienststellen sogar zurückgehalten und wir erfuhren erst Jahre später nach der Wende davon! Die Ereignisse in der DDR übertönten den XI. Gynäkologenkongress in Leipzig, er wurde vom Untergang der DDR bestimmt. Der gesamte Vorstand der gynäkologischen Gesellschaft trat zurück, bevor er von der Mitgliederversammlung abgewählt werden konnte.

Die Jahre ab 1990 Hans-Joachim Prill brachte für 20 Mitglieder unserer AG Einladungen zur 19. Jahrestagung der DGPGG für den März 1990 nach München mit, wobei die DGPGG die Kosten des Aufenthalts für uns Ostdeutsche übernahm. Diese Tagung war für unsere Delegation ein großes Erlebnis und die ersten freundschaftlichen und kollegialen Verbindungen wurden geknüpft. Und doch war diese erste West-Ost-Begegnung auch eine große Enttäuschung für uns: Uns waren alle namhaften westdeutschen Psychosomatiker bekannt, wir kannten viele ihrer Veröffentlichungen, hatten ihre Sonderdrucke. Aber uns kannte so gut wie niemand! Niemand hatte unsere mit so viel Mühen veröffentlichten Kongressbände oder Veröffentlichungen

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gelesen. Es war eine bittere Erkenntnis, dass der Informationsfluss doch recht einseitig war und wir auch in dieser Beziehung ein Opfer der Abschottungspraxis der DDR waren. Allerdings änderte sich das bald. Schon im März 1990 leitete Paul Franke eine Arbeitsgruppe »Psychosomatik in der Frauenheilkunde« im Rahmen der 31. Arbeitstagung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM) in Nürnberg. Nach einer Mitgliederbefragung im Juni 1990 stimmten die Mitglieder der AG mit Ausnahme von zwei Gegenstimmen der Umwandlung der AG in eine Gesellschaft zu. Am 26. Juni 1990 wurde die »Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe e. V.« bei dem Registergericht Magdeburg eingetragen. Es gab nun zwei deutsche frauenärztlich-psychosomatische Gesellschaften. Problemlos wurde unsere neue Gesellschaft auch 1990 Mitglied der ISPOG, der »International Society of Psychosomatic Obstetrics and Gynecology«. Schon im Oktober 1990 hielten Mitglieder unserer »neuen« Gesellschaft Vorträge auf dem 3. Europäischen Symposium für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe in Leuven 1990 und auf dem 10. Kongress der International Society of Psychosomatic Obstetrics and Gynecology in Stockholm 1992. Der Durchbruch war gelungen. Um die Kurse für Psychosomatische Gynäkologie – die infolge der neuen kassenärztlichen Abrechnungsmethoden stärker nachgefragt wurden – besser organisieren zu können, gründete unsere Gesellschaft 1994 ein »Weiterbildungskollegium für Psychosomatische Frauenheilkunde e. V.« (Vorsitzende Carmen Presch, Halberstadt, und Arndt Ludwig, Zwickau) für die Weiterbildung zum Erwerb der Befähigung zur Durchführung und Abrechnung der Psychosomatischen Grundversorgung. Diese Kurse wurden in der Folge auch von allen Kassenärztlichen Vereinigungen Deutschlands anerkannt und mit gutem Zulauf ­zweimal jährlich durchgeführt. Von 1986 bis zu unserem letzten Kurs 2004 absolvierten ca. 630 Frauenärztinnen und -ärzte unsere Kurse für die Psychosomatische Grundversorgung, wobei nach der Wiedervereinigung knapp 10 der Teilnehmer aus den alten Bundesländern kamen. Es würde leider an dieser Stelle zu viel Raum einnehmen, wenn ausführlich auf die acht weiteren Tagungen und Symposien unserer Gesellschaft bis 1999 (1990 Schöneck, 1991 Schierke, 1992 Schwerin, 1994 Wernigerode, 1995 Weinböhla, 1996 Eggersdorf, 1997 Meisdorf, und 1999 Freyburg/Unstrut) und auf die zahlreichen Beteiligungen unserer Mitglieder an den Jahrestagungen der westdeutschen Schwestergesellschaft, den Arbeitstagungen des DKPM und den internationalen Kongressen in Stockholm, Basel, Leuven und Bergamo eingegangen würde. Die meisten unserer Tagungen wurden auch in Form von Kongressbänden (Dietrich u. David 1999; Dietrich u. David 2000) veröffentlicht. Da die Referate des 4. bis 7. Symposium nicht veröffentlicht wurden und die Vorträge der ersten drei Symposien in Magdeburg 1984, Frankfurt 1986 und Zwickau 1988 nur im Selbstverlag und in sehr geringer Auflage erschienen waren, gaben Franke und David (2002) auf Initiative von Matthias David den Band »Der andere Weg zum gleichen Ziel« heraus, der eine repräsentative Auswahl der Vorträge der ersten sieben Tagungen unserer Arbeitsgemeinschaft bzw. Gesellschaft enthält und gleichzeitig einen kurzen Abriss unserer Geschichte gibt. Wichtiger ist es zu berichten, wie die weitere Entwicklung unserer Gesellschaft war, die nicht den Weg wie fast alle anderen medizinischen Gesellschaften der DDR ging. Diese hatten ja nach dem Zusammenbruch der DDR nichts Eiligeres zu tun, als in den entsprechenden westdeutschen Gesellschaften aufzugehen. Wir gingen einen völlig anderen Weg. Als

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4.9  Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten

Erstes wurde 1994 ein Kooperationsvertrag zwischen der DGPGG und unserer GPGG geschlossen, der beinhaltete, dass die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft für die Mitglieder dieser Gesellschaft die gleichen Vergünstigungen bei Kongressen der anderen Gesellschaft mit sich brachte. Ferner wurden die Vorsitzenden der jeweiligen Gesellschaft auch zu den Vorstandssitzungen der anderen mit eingeladen. Dieser Vertrag lief recht gut. Paul Franke und Arndt Ludwig wurden in diesen Jahren auch in den wissenschaftlichen Beirat der ­westdeutschen Gesellschaft berufen. Schon während der Phase der Wiedervereinigung bearbeiteten Mitglieder beider Gesellschaften zwei Projekte gemeinsam: das erste unter Federführung von Peter Petersen zu einem neuen Entwurf für ein Gesetz zur Schwangerschaftsunterbrechung. Dieser Entwurf mit Einbeziehung der Schwangerschaftskonfliktberatung wurde bei der späteren Gesetzgebung weitgehend berücksichtigt. Eine zweite gemeinsame Kommission legte die Standards für Lehrgänge und Weiterbildungsinhalte für die Psychosomatische Grundversorgung fest, wie sie für die Facharztausbildung für Gynäkologie und Geburtshilfe obligatorisch wurden. Personell veränderte sich 1996 der Vorsitz unserer Gesellschaft, da Paul Franke nach 17 Jahren als Vorsitzender der AG bzw. der Gesellschaft von diesem Amt zurücktrat, aber weiter Mitglied des Vorstandes blieb. Als neue Vorsitzende wurde auf dem 8. Symposium in Eggersdorf Carmen Dietrich aus Strausberg gewählt. Die neue Aufgabe bestand nun darin, einen Weg zu finden, beide deutschen Gesellschaften zusammenzuführen. Dieses Ziel war durchaus nicht aus den Augen verloren worden, allerdings wollten wir »zusammenwachsen und nicht zusammenwuchern«. Ein möglicher Weg wäre eine Regionalisierung der Westgesellschaft gewesen. Um das vorzubereiten, änderte auf Vorschlag von P. Franke die Mitgliederversammlung auf dem 9. Symposium in Meisdorf den Namen der Gesellschaft in »Ostdeutsche Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe« (OGPGG). Damit wurde der Charakter einer regionalen Vereinigung betont. Allerdings lehnte die westdeutsche Gesellschaft eine Regionalisierung für sich ab, weil sie dadurch eine Zersplitterung befürchtete. So wurde 1997 eine sechsköpfige Vereinigungskommission aus je drei Mitgliedern der beiden Gesellschaften gebildet. Nach langen und auch zähen Verhandlungen konnte sie beiden Vorständen 1999 einen überraschenden Vorschlag unterbreiten: Beide Gesellschaften lösen sich auf und fusionieren zu einer neuen Gesellschaft! Eine neue Gesellschaft mit neuem Namen und neuem Logo. Das war für die deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften ein bisher einmaliger und noch nie praktizierter Vorgang eines wirklich gleichberechtigten Aufeinanderzugehens, obwohl beide Gesellschaften sehr verschieden groß waren: Über 900 Mitglieder zählte die westdeutsche, knappe 80 Mitglieder die ostdeutsche Gesellschaft. Auf dem 10. Symposium der OGPGG in Freyburg 1999 stimmten die Mitglieder der OGPGG diesem Vorschlag mit großer Mehrheit zu. Die Vollversammlung der westdeutschen Gesellschaft stimmten dann auf dem ersten gemeinsamen Kongress (29. Jahrestagung der DGPGG und 11. Symposium der OGPGG) in Dresden vom 16.–19. Februar 2000 auf ihrer Mitgliederversammlung zu, so dass die neue gemeinsame Gesellschaft mit dem Namen »Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe« 2000 in Dresden gegründet werden konnte. Manfred Stauber (München) und Paul Franke wurden zu Ehrenpräsidenten der neuen Gesellschaft ernannt. Wir glauben, mit dieser Form der zehn Jahre dauernden Kooperation und Vereinigung einen würdevollen Prozess vollendet zu haben, der einen Gegensatz bildet

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zu der sofortigen Auflösung fast aller medizinischen Gesellschaften der untergegangenen DDR, aber auch im bewussten Gegensatz zu einem gewissermaßen nostalgisch-separatistischem Beharren auf der alten DDR-Formation und Verweigerung einer Vereinigung. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung und im 21. Jahr nach der Gründung unserer AG und späteren Gesellschaft endete die Geschichte unseres erfolgreichen Weges bzw. geht so in einer größeren auf. Bedauerlicherweise gibt es von den drei Arbeitsbereichen Psychosomatik an den Frauenkliniken der früheren DDR keinen mehr.

4.9.4 Dieter Curschmann, Sigmar Scheerer und Rainer Suske: Die Arbeitsgruppe Psychotherapie und Medizinische Psychologie in der Allgemeinmedizin der Gesellschaft für Allgemeinmedizin der DDR in Kooperation mit der Gesellschaft für Ärztliche Psycho­ therapie der DDR Spätestens nach der Konferenz der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR in Bad Freienwalde 1975 mit dem Programm, die Psychotherapie in Fort- und Weiterbildung regional zu vermitteln, ist in den regionalen Arbeitsgruppen und Regionalgesellschaften der Bezirke das Projekt Grundkurs für Neurosenlehre und Psychotherapie, später um Psychosomatik und Medizinpsychologie erweitert, begonnen worden. Nachdem viele Allgemeinmediziner diese Grundkurse absolviert hatten, wobei auch einige Mitglieder bezirklicher Fachkommissionen für Allgemeinmedizin daran teilnahmen, wurden die Inhalte der Grundkurse dann auch in den Facharztprüfungen zum Allgemeinmediziner geprüft. Die Aktivitäten in den Bezirken führten zu Kontakten und schließlich zu kooperativen Beziehungen mit Allgemeinmedizinern, die an der Thematik besonders interessiert waren. Auf dem Kongress für Ärztliche Psychotherapie in Erfurt (1982) wurde von den Vorsitzenden der Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Ärztliche Psychotherapie der DDR (G. Junghans, M. Geyer) der Beschluss gefasst, eine Arbeitsgruppe »Psychotherapie und Medizinische Psychologie in der Gesellschaft für Allgemeinmedizin« zu schaffen, die von Allgemeinmedizinern aus allen Bezirken der DDR besetzt werden sollte, was auch gelang. Mitglieder waren Fachärzte für Allgemeinmedizin, meist mit psychosomatischer Fortbildung, sowie ein Psychologischer Psychotherapeut aus dem Bezirk Rostock. Die Arbeit war bei allen Allgemeinmedizinern mit der Erwartung und Hoffnung verbunden, neue Ideen und Anregungen für die eigene Arbeit zu finden. Folgerichtig wurden die regelmäßigen jährlichen Treffen in allen DDR-Bezirken, jeweils unter Gastgeberschaft der dort tätigen Kollegen, mit Balint-Arbeit verbunden. Die Arbeitsgruppe (AG) beschäftigte sich mit den Themen »Sterben und Sterbebegleitung«, »der alte Patient«, »psychosoziale Betreuung chronisch Kranker«, »Psychosomatik«, »philosophisch-ethische Fragen« und »fachspezifische Psychotherapie in der Hausarztpraxis«. Die Mitglieder der AG hielten Vorträge bei den Regionaltagungen und Kongressen sowohl der Psychotherapeuten als auch der Allgemeinmediziner. Diese AG hatte jedoch auch das »Flair« einer Nischenbildung im System. Die Partei- und Führungsetage der Gesellschaft für Allgemeinmedizin, die die AG »abgesegnet« hatte, war dennoch nicht bereit, ihr allzu großen Raum auf der Mitgliederversammlung zu

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4.10  Entwicklung der (analytischen) Kinderspsychotherapie III – die 1970er Jahre

geben. Als Sigmar Scheerer, der Leiter der AG, 1985 über die Arbeit der Gruppe berichten wollte, wurde ihm das Wort entzogen. Offenbar war der linientreuen Führung dieser Gesellschaft diese AG ideologisch verdächtig, was sicher auch zutraf. (Kein Wunder, dass diese Gesellschaft sang- und klanglos mit der Wende untergegangen ist.) Ob in den regionalen Veranstaltungen, an denen die AG aktiv beteiligt war (die »Psychos« wurden eher als »unsichere Kantonisten« im realen Sozialismus gesehen), auch entsprechende systemtreue Teilnehmer mit IM-Status dabei waren, ist bislang nicht bekannt. Die Mitglieder der AG nutzen jedenfalls die Möglichkeit, hier ziemlich ungezwungen kritische und teilweise mit der Partei­linie inkompatible Standpunkte zu diskutieren. Die eigentliche Zielstellung der AG lag in Vermittlung psychosomatischer und medizinpsychologischer Sichtweisen an die Hausärzte. Neben der aktiven Mitgestaltung regionaler Tagungen und Symposien der Allgemeinmediziner verfassten die Mitglieder regelmäßig Publikationen, deren Platzierung in entsprechenden wissenschaftlichen Zeitschriften nicht immer gelang. Ein »Ausweg« war die Veröffentlichung in den »Mitteilungen der Gesellschaft für Allgemeinmedizin«, der auch genutzt wurde. In der »BRD« zu publizieren war auf bezirksärztliche Weisung nicht erlaubt. Lediglich die Zeitschriften für klinische Medizin, Ärztliche Fortbildung sowie Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie standen für Publikationen zur Verfügung. Einige Arbeiten der Autoren wurden hier auch veröffentlicht (Curschmann 1989; Scheerer 2001; Scheerer u. Suske 1988; Suske u. Scheerer 1986). Ein wesentliches Arbeitsergebnis der AG war die Unterbringung der erarbeiteten ­Konzepte zur Psychosomatik und Medizinpsychologie in der Allgemeinmedizin im Weiter­bildungsprogramm zum Facharzt für Allgemeinmedizin, wobei die Bedeutung der ArztPatient-Beziehungsgestaltung unter Beachtung der Übertragungs- und Gegenüber­tra­gungs­ prozesse benannt und betont wurde. Bei den Psychotherapiekongressen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie 1985 in Neubrandenburg sowie 1989 in Berlin wurden jeweils Symposien »Psychotherapie in der medizinischen Grundbetreuung« von den AG-Mitgliedern gestaltet. Die in den letzten Jahren der DDR zunehmende Öffnung nach außen wird daran sichtbar, dass letztere Veranstaltung schon die spätere Vorsitzende der Deutschen Balint-Gesellschaft, Rita Kielhorn aus Westberlin, an unserer Seite sah. Es gelang uns auch, einen schwedischen Allgemeinmediziner und Balintarzt als Referent zu gewinnen, der interessant über die Abläufe in der schwedischen Allgemeinmedizin berichtete. Mit der kläglichen Auflösung der Gesellschaft für Allgemeinmedizin der DDR endete auch die Existenz der AG. Zurück blieben einige freundschaftliche Beziehungen und weiterhin gemeinsames Arbeiten.

4.10 Agathe Israel: Entwicklung der (analytischen) Kinderpsychotherapie III – Die 1970er Jahre 1970 erscheint das erste und für die nächsten Jahre richtungweisende Lehrbuch mit Fokus auf die Kinderpsychotherapie – die »Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters«. Der

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Autor Gerhard Göllnitz, Lehrstuhlinhaber in Rostock, befasst sich in einem Kapitel mit den Neurosen und deren Therapie. Er belegt seine Auffassung zur Ätiopathogenese fast ausschließlich mit westeuropäischen Autoren, verwendet (neo)psychoanalytische Begriffe wie Abwehr, Widerstand, Hemmung, Regression, das Unbewusste. »Die Verdrängung, der terminus technicus für die Entwicklung von Neurosen seit Freud, ist durchaus ein normaler Vorgang« (Göllnitz 1968). Er beschreibt eine mehrdimensionale Therapie im Einzel- und im Gruppensetting, in der sich die »echte« Kontaktnahme zum Therapeuten am besten über das gemeinsame Spiel vollzieht, um daraus Einsichten in Konfliktprobleme zu gewinnen. Planschbecken, Sandkasten, Malen, Theaterspiel, Sceno-Kasten, Psychodrama nach Moreno sollen dem Ausleben und Abreagieren fundamentaler kindlicher Bedürfnisse, der Entschärfung von Konflikten und schließlich der Einstellungsänderung dienen. Der »gezielt rhythmisch psychomotorischen Therapie, weil Rhythmus, Musik, Sprache und Bewegung eng miteinander verbunden sind«, räumt er einen besonderen Stellenwert ein. »Grundsätzlich auch psychotherapeutische Maßnahmen bei den Eltern« gehören zu seinem Konzept, ebenso wie suggestive Maßnahmen beim Kind oder Autogenes Training, Sport, die in ein heilpädagogisches Milieu eingebunden sind. Das gesamte Methodenspektrum wird aber letztlich seiner Grundhaltung »Das Kind muss in erster Linie erzogen werden« untergeordnet. Das Rostocker Modell dient vielen kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen als Vorbild, nicht zuletzt weil Gerhard Göllnitz der Arbeitsgemeinschaft Kinderpsychotherapie vorstand. Parallel verbreiten sich jedoch auch andere, alternative Ansätze, wie z. B. im Fachkranken­ haus Uchtspringe, deren kinderpsychiatrisch-psychotherapeutische Abteilung Rosemarie Kummer leitet. Dort kann man erleben, wie sich die Psychotherapie immer mehr zu einer zumindest psychoanalytisch ausge­richteten Kindertherapie entwickelt (} Abschnitt 3.6.2). Motor dieser Entwicklung war der Leiter der Nervenklinik, Prof. Wendt, der klinikinterne Selbsterfahrungen, Supervisionen und Fortbil­dung in den Arbeitsalltag einführte. Das war zwar nicht subversiv, aber ausgesprochen unge­wöhnlich. Als Hospitantin konnte ich in den 1970er Jahren erleben, wie sich immer mehr Offenheit für Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse und die innere Welt der Patienten entwickelte. Auch in der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung des Fachkrankenhauses Berlin-Lichtenberg, geleitet von der psychoanalytisch ausgebildeten Ärztin Irene Blumenthal und unterstützt durch Gerda Jun entfaltet sich, besonders in der Arbeit mit Behinderten und deren Eltern, eine psychotherapeutische Kultur, die sich dem Erleben und inneren Prozessen zuwendet (Jun 1983). Am Ende des Jahrzehnts erweitert sich nicht nur die stationäre kinderpsychotherapeutische Landschaft – in weiteren Fachkliniken wie in Hildburghausen, Stadtroda, Reichenbach/ Vogtland, Leipzig werden Kinderpsychotherapie-Stationen eröffnet –, auch im universitären Bereich gibt es Gegenströmungen zur propagierten Entwicklungstheorie und daraus abgeleitete Erziehungsprogrammen. So äußert sich der Entwicklungspsychologe Hans-Dieter Schmidt, Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität zu Berlin, kritisch zum Bild des Kindes, klärt über die Individualität und Kompetenz von Säuglingen und Kleinkindern auf und distanziert sich von der Sozialisationshypothese (Schmidt 1977). Allerdings fehlt ein Echo in der Psychotherapieszene und in der Öffentlichkeit. Solche weitreichenden Öffnun-

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gen hin zur Individualität, wie sie im Nachbarstaat ČSSR zu beobachtet sind, gibt es in der DDR nicht. Zwischen den 1950er und 1970er Jahren entwickelte sich dort das dichteste Netz an Säuglingsheimen und Kinderkrippen in Europa. Man beforschte die Folgen frühkind­ licher Kollektiverziehung und Frühtrennungen für die kindliche Entwicklung. Psychische Deprivation sowie die Übertragung der psychischen Deprivation von einer Generation auf die nächste waren die wesentlichsten Ergebnisse, die offen und relativ ideologiefrei diskutiert und in die Sozialpolitik umgesetzt werden konnten (Matejcek 1988). Nicht zufällig entwickelte sich die Familientherapie in der ČSSR intensiver als in anderen sozialistischen Ländern. In der DDR beschritt man einen gegenläufigen Weg. Das Krippennetz hatte sich soweit verdichtet, dass am Ende des Jahrzehnts für ca. 80 % der Kleinstkinder unter drei Jahren ein Krippenplatz zur Verfügung stand. Kinderpsychiater und Pädiater hatten nun über »Krippenfähigkeit bzw. Krippenunfähigkeit« von Kleinstkindern zu entscheiden und damit verbundene psychische und somatische Auffälligkeiten nicht nur zu diagnostizieren, sondern mussten auch (psycho)therapeutisch aktiv werden. Auf der Suche nach einer hilfreichen Behandlungstechnik für Kinder und Jugendliche wenden sich viele Kollegen der Gesprächspsychotherapie nach Rogers/Tausch/Helm zu, zumal Psychologen bereits während des Studiums ein entsprechendes Training absolvieren konnten. Auch die nondirektive Spieltherapie nach Axline, der ein gewisses pyschodynamisches Verständnis zugrunde liegt, findet Verbreitung. Bettina Rübesame, 1970–1975 Studentin der Klinischen Psychologie an der HumboldtUniversität zu Berlin, beschreibt die Lehrveranstaltungen zur Kinder- und Jugendpsychotherapie im Rückblick als »eklektisch«. Positionen von Dührssen, Schultz-Henke, Anna Freud sowie die Entwicklungspsychologie nach Hans-Dieter Schmidt wurden referiert. Der Verhaltenstherapie kam im Studium ein besonderer Stellenwert zu. »Wir hatten zwar Zugang zu allen Lehrbüchern und Fachzeitschriften, aber die Psychoanalyse wurde verteufelt. Meine persönliche Kehrtwende zur psychoanalytischen Sicht und Denkweise begann, als ich in der direkten Arbeit besonders die aggressiven und psychosomatisch erkrankten Kindern mit meinem nichtdirektiven-gesprächstherapeutischen Ansatz nicht verstehen konnte.« Als Berufsanfängerin in der Kinderpsychiatrie des Fachkrankenhauses Berlin-Lichtenberg, aber besonders später in der kinder- und jugendpsychiatrischen Beratungsstelle Berlin-Pankow »hatte ich völlig freie Hand. Ich konnte so arbeiten, wie ich es für richtig hielt.« In der Sektion Dynamische Einzeltherapie, Falldiskussion im Team, in privaten Kontakten mit interessierten Kollegen und Fachleuten aus dem »Westen«, versuchte sie sich fortzubilden, aber auch Einblick in andere Ansätze wie die strukturelle Familientherapie, analytische Körpertherapie, Hypnotherapie zu gewinnen. »Da gab es eine Freiheit in der Unfreiheit«, skizziert Gerda Jun die Situation der Kinder- und Jugendpsychotherapie (mündliche Mitteilung 2010). Aber letztlich mangelt es den im ganzen Land verstreuten kleinen Gruppen engagierter kreativer Autodidakten – es handelte sich nach wie vor überwiegend um Ärzte und Psychologen und einige wenige Musik-, Bewegungs- und Gestaltungstherapeuten – an der Ausbildung in Theorie und Technik der Psychodynamischen Kinderpsychotherapie. Sie bleiben Waisenkinder in zweifacher Hinsicht: Einmal fehlt es an »Eltern«, die sich mit ihrem eige-

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nen Wissen und Können verbindlich zur Verfügung stellten. Zum zweiten fehlt die Lehranalyse, der zentrale Teil einer psychoanalytischen Ausbildung. Die Waisenkinder ernähren sich gegenseitig, ernähren über kollegialen Austausch, Problemfallgruppen, Workshops, Selbsterfahrungsexperimenten, legalen und illegalen Kontakten mit Kollegen aus dem westlichen Ausland. Man ist auf private Initiativen angewiesen, liest und diskutiert neben der internationalen Fachliteratur, inspiriert durch die 68er-Bewegung, auch Texte von Wilhelm Reich, Gordon, O’Neill, und beginnt die repressive Erziehung in der DDR, die sich besonders in der programmierten Krippen- und Kindergartenerziehung (Schmidt-Kolmer 1974) konzeptualisierte, kritischer zu sehen. Weiterbildungsangebote beschränken sich in den 1970er Jahren im Wesentlichen auf Tagungen der Gesellschaft für Kinderneuropsychiatrie, Hospitationen und Lehrgänge der »Erwachsenenpsychotherapeuten« sowie die Teilnahme an der Gruppenselbsterfahrung der Sektion Intendierte Dynamische Gruppentherapie. Als einzige »offizielle« Weiterbildung findet ab 1976 »Kinderproblemfallgruppe« in sechswöchigem Rhythmus in Uchtspringe statt. Sie wird geleitet von Harro Wendt und Gertraude Tuchscherer, der Nachfolgerin von R. Kummer. Dort ging es nicht selten turbu­lent zu, denn hier trafen sich 15 bis 20 Therapeuten verschiedenster Couleur – Verhaltenstherapeuten, Gesprächstherapeuten, Therapeuten ohne jegliche »Schule«, analytisch orientierte Kollegen – aus der ganzen DDR. Alle suchten irgendwie Hilfe in dieser lebendigen, wenn auch recht autoritär geführten Werkstatt. »Ihr Skalpell ist ihr eigenes Gefühl, mehr haben Sie nicht«, war ein geflügeltes Wendt’sches Wort. Diese Haltung war hilfreich, wurde aber zur Knute, wenn »Problempatienten« in den Behandlern tiefe Ängste aktivierten und nicht mehr klar war, wem gehört welches Gefühl. Für die Auflösung dieser unheilvollen Vermischung sahen sich weder die Leiter noch die Problemfallgruppe in der Lage oder verantwortlich. Vielleicht war auch allen gar nicht so bewusst, wie zwingend notwendig eine Lehrtherapie gewesen wäre, um die Projektionen der Patienten zu identifizieren. Auch wenn die Teilnehmer deshalb nur begrenzt davon partizipierten, führte diese langjährige und detaillierte Supervisionsarbeit zur Sensibilisierung für Beziehungs- und Therapieprozesse und zu einer Haltung, die man rückblickend als »psychoanalytisch orientiert« bezeichnen kann. Dennoch vollziehen sich, den »Freiraum« nutzend, rasante Veränderungen, wie z. B. im Leipziger Raum (s. Beitrag in diesem Band), die nicht nur im Therapiezimmer stattfinden, sondern auch die Versorgungsstrukturen verändern: Es entstehen auf Kreisebene multiprofessionell ausgestattete Beratungsstellen, die neben Begutachtungen, Diagnostik, Medikation und Beratung der Psychotherapie immer mehr Bedeutung einräumen. Die Mitbehandlung der Eltern und Geschwister gewinnt zunehmend Bedeutung. Neben der langfristigen Elternberatung entwickeln sich Mutter-Kind-Gruppen, Elterntrainingsgruppen, Elterntherapie, Elterngruppentherapie, Familientherapie im ambulanten und stationären Setting. In der Familientherapie, insbesondere deren systemischer Ausrichtung, übernimmt Michael Scholz im Leipziger Raum eine führende Rolle.

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4.11  Frauen in der Psychotherapie (1970–1990)

4.11 Christa Ecke: Frauen in der Psychotherapie (1970–1990) Die Entwicklungsbedingungen der Frauen in der DDR waren voller Widersprüche. Ohne ihre Berufstätigkeit war ein wirtschaftliches Wachstum nicht möglich. Es gab eine staatlich angeregte Fürsorglichkeit, die zu einer »Emanzipation von oben« führte, das traditionelle Arrangement der Geschlechter blieb unberührt. Frauen befanden sich in einem Vereinbarkeitsdilemma. Es ging um Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf und von Elternschaft und Beruf. Beachtung und Polarisierung der Geschlechter spielten in verschiedenen Psychotherapiemethoden eine unterschiedliche Rolle, eine wesentliche in den Gruppentherapien. Ab 1974 gab es für Psychologen und Ärzte die Möglichkeit, eigenes Erleben und Verhalten in einer Kommunität zu reflektieren, den eigenen Widerstand sowie Übertragungs-/Gegenübertragungsprozesse zu spüren und zu analysieren. Aber die Intendierte Dynamische Grup­penpsychotherapie (IDG) steckte noch in den Kinderschuhen. Höck war fasziniert von der Frustrations-/Aggressions-Theorie von Miller und Dollard sowie von Slaters Mikro­ kosmos. Entsprechend wünschte er das Verhalten der Ausbilder und es entstand eine Atmosphäre, die von Angst, Aggression und Widerstand getragen war, deren Geruch die IDG über Jahre nicht verlor. Die Selbsterfahrungsgruppen waren geschlechtsheterogen zusammengesetzt. Bis auf die erste Kommunität gab es Trainer und Kotrainerinnen, irgendwann wurden sie als Trainerpaare bezeichnet. In den ersten zehn Kommunitäten gab es eine Trainerin (Hanna Linsener) – sie strich nach der ersten Runde die Segel. Hatte das Auswirkungen für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer? Zuallererst wurde damit die Erwartung bestätigt, dass Männer das Sagen haben und die Frauen (wenn möglich liebevolle) Zuarbeit leisten, es wurde auch nicht mit sexistischen Bemerkungen gegeizt. Es wurde in diesen Gruppen experimentiert (Frauenkreis und außen sitzender zuhörender Männerkreis und umgekehrt), aber gerade in den ersten Jahren der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie wurden mit diesem Ausprobieren auch kuriose Regeln und Handlungsanleitungen geschaffen. So z. B. Männer setzen sich mit Männern, Frauen mit Frauen auseinander. Da die Trainer die Gruppenleiter waren, durften die Männer zuerst miteinander reden. Gelang es nicht, die männliche Autorität zu entmachten, hatten die Frauen das Nachsehen und kamen (ganz praktisch) nicht zu Wort. Diese Vorstellung von Entwicklung in einer Gruppe grub sich bei einigen Teilnehmern (je nach unbewusstem Spaltungs- und Herrschaftsstreben) tief in die Erinnerung ein und wurde mancherorts praktiziert. Hier ist deutlich zu sehen, dass die IDG zwar ein gewisses revolutionäres Potential in sich tragen könnte, sich aber patriarchales Bestreben durchsetzte. Die Teilnehmerinnen orientierten sich an der Kommunikativen Bewegungstherapie, die ihrerseits von Frauen geleitet wurde. Damit war die Botschaft inkludiert, für das Nonverbale, Leibnahe, für die Gefühle sind die Frauen zuständig, die Führung und das Wort haben die Männer. Damit ist auch die paternalistische Fürsorgepolitik der DDR wiederholt. Es ist mir heute unverständlich, dass wir (Frauen und Männer) uns so (wenn auch unter Protest, z. B. Kneschke u. Ecke 1986) auseinanderdividieren ließen. Ohne Zweifel steht in der Höck’schen Konzeption ein kämpferisch-dominantes Männerbild im Vordergrund (Ecke 1992; vgl. auch Simon 1995). Therapeutinnen suchten nach Abgrenzungen und weiblichen

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Alternativen, aber es gelang uns nicht, uns selbstbestimmt zu verhalten sowie therapeutische mit gesellschaftlich-politischen Sichtweisen zu verbinden. Hatten wir Angst, dies auszusprechen? Hatten sich noch 1958 ungefähr gleich viele Frauen und Männer zu psychotherapeutischen Behandlungen angemeldet (Höck 1960), so war das Verhältnis in den 1970er Jahren schon deutlich verschoben. Für die stationäre Gruppentherapie bedeutete dies, dass Frauen auf Behandlungsplätze warten mussten. Die Krankengutanalyse von 1982 (Ecke 1986) zeigte, dass die vorgefundene Zwei-Drittel-Mehrheit der Frauen die Altersklassen bis zum 50. Lebensjahr betraf. Die Altersverteilung der Frauen zeigte fast eine Normalverteilung, mit der höchsten Spitze zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr der Frauen. Da das Alter der Erstgebärenden bei ca. 20 Jahren lag, kamen also Frauen mit dem Wunsch nach Psychotherapie, deren Kinder mindestens in der Vorpubertät waren, bei denen die Zeit der aufwendigsten Doppelbelastung schon hinter ihnen lag. D. h., Erweiterungen von Freiheiten und Entwicklungsalternativen werden verunsichernd erlebt, sind Versuchungs-, Versagungs-, und Bewährungssituationen (Ecke 1986), in denen Symptome ausgelöst werden können. Fatal sind oft die Folgen, denn Frauen werden eher arbeitsunfähig geschrieben, bekommen häufiger und mehr Beruhigungsmittel, um Entlastung herbeizuführen, sie flüchten auf Drängen der Familie oder auf eigenen Wunsch in traditionelle Rollen, um wenigstens einen Bereich adäquat auszufüllen, was Chronifizierung bedeutet. Die ungleiche Häufigkeit von Patientinnen und Patienten führte Ende der 1970er Jahre dazu, dass therapeutische Frauengruppen stattfanden. Erste theoretische Überlegungen zur Notwendigkeit und Möglichkeit einer eigenständigen weiblichen Handlungsorientierung und des Selbstverständnisses der Therapeutin diskutierte Erika Plöntzke (1979). In einer von ihr geleiteten Befragung entschieden sich nur ein Drittel der neurotischen Frauen, aber die Hälfte der Frauen der Kontrollgruppe für eine Therapeutin. Das geringe Bedürfnis nach einer Therapeutin zeigt die negative Einstellung und Abwertung des eigenen Geschlechts und ist zugleich ein Indikationshinweis für eine entsprechende Gruppe. Die Therapiegruppe war gekennzeichnet durch schnellen Affektwechsel, im Verlauf der Therapie gab es eine Annäherung der Selbstbilder der Patientinnen an das Fremdbild der Therapeutin. Wir haben in gruppendynamischen Seminaren in der Klinik Hirschgarten mit dem Gießen-Test Selbsteinschätzungen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern gemessen (Ecke, Kneschke u. Seidler 1988). Bei der Anfangsmessung zeigte sich bei den Frauen eine große Dominanz, bei den Männern waren es eher depressive Einstellungen, beides war bei der Endmessung relativiert. Sind Therapeutinnen dominanter, als sie selbst von sich annehmen? Ab 1981 wurden regelmäßig ambulante/stationäre Frauengruppen im Haus der Gesundheit durchgeführt, ab 1986 tagesstationäre Behandlungen für alleinerziehende Frauen. 1983 konnte Hess den Phasenablauf einer homogenen Gruppe nachweisen. Bemerkenswert ist, dass Plöntzke, Hess und Ecke die erste Frauengruppe jeweils mit einem männlichen KoTherapeuten führten, als könnte dieser das Fehlende ersetzen. Alle weiteren Gruppen wurden mit Ko-Therapeutinnen (meist hospitierende Ärztinnen und Psychologinnen) durchgeführt. Es gab in den 1980er Jahren wohl in allen stationären psychotherapeutischen Abteilungen Frauengruppen. Eine Bündelung der Erfahrungen – etwa in einer Arbeitsgruppe – kam nicht zustande. Aus dem eingangs Gesagten folgt, dass sich Frauen selbst

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4.12  Psychotherapie in Seelsorge und kirchlicher Beratung

mehr einschränken, als es das patriarchale System mit seinen Bedingungen von außen tut. Wesentliches Merkmal einer Frauengruppe ist die Suche nach der selbstbestimmten Subjektivität und die Arbeit daran. Als ein Beispiel weiblicher Identität provoziert die Therapeutin in jedem Fall die Auseinandersetzung der Patientin mit weiblicher Selbstverwirklichung. Mit den therapeutischen Frauengruppen (meist in der Arbeitsphase) kam an die Oberfläche, was in den geschlechtsgemischten Gruppen selten verbalisiert wurde: die erlebte sexuelle Gewalt (in der Regel waren drei bis vier Frauen in der Gruppe betroffen) und die Gewaltbereitschaft beider Geschlechter (Ecke 1992). Die arbeitsfähige Gruppe war oft kompetenter als die Therapeutin. Die ambivalente Mutterübertragung (meist hatte die Mutter weggesehen wie auch der Rest der Familie) war und ist für Therapeutinnen schwer auszuhalten. Für mich ergab sich aus dieser Thematik eine Wendung zur Einzeltherapie, die es möglich macht, nach der Herstellung von Beziehungen, in ausreichendem Maße die negative Mutterübertragung zu bearbeiten.

4.12 Psychotherapie in Seelsorge und kirchlicher Beratung 4.12.1 Infrid Tögel: Seelsorge-Ausbildung in der DDR (1977–1991) Das klassische Theologiestudium enthielt im Rahmen der Praktischen Theologie zwar Informationen über Seelsorge (»Theorie für die Praxis« – Prof. Alfred Dedo Müller), aber faktisch kaum eine praktische Ausbildung. Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Ostdeutschland einige Vorläufer einer speziellen Seelsorgeausbildung, die in die Theologie integrierte psychologische Erkenntnisse als Voraussetzung einer am Menschen orientierten Seelsorge verstanden. Die Professoren für Praktische Theologie, Otto Haendler in Berlin und vor allem Alfred Dedo Müller in Leipzig, bemühten sich um diesen neuen Ansatz der Seelsorgelehre, der in Diskrepanz zu anderen Seelsorgelehren (z. B. Karl Barth, Eduard Thurneysen) stand. A. D. Müller führte einige Seminare zusammen mit der Psychologiedozentin Dr. Adelheid Rensch durch und gestaltete einige Male Seminare für Gesprächsübungen in Zusammenarbeit mit einem anderen Psychologen. In den 1970er Jahren entstand dann in den USA eine Seelsorgebewegung, die sehr auf die Praxis orientiert war: clinical pastoral training (CPT). Ihr Konzept war sehr geprägt durch die »non directive psychotherapy« von Carl Rogers. Auf dem Weg über die Niederlande, wo entsprechende Veröffentlichungen erfolgten (Faber-Schoot und Zijlstra), kam diese Bewegung nach Deutschland. Sie fand hier eine beachtliche Resonanz – allerdings zunächst nur in der Bundesrepublik. Dort fand 1972 auf Initiative von Pfarrer Werner Becher in Arnoldshain eine erste Konferenz mit etwa 80 Teilnehmern statt. In der Bundesrepublik wurde dann die »Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie« (DGfP) gegründet. Ein erster Ansatz in der DDR war ein Kurs für die Leiter von Predigerseminaren, den der Theologe Hans-Christoph Piper 1974 durchführte. Er hat Ergebnisse aus diesem Kurs in einem Buch »Predigtanalysen« veröffentlicht, deutet den Teilnehmerkreis aber nur ganz

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vage an, weil er offensichtlich zu einem Privatbesuch in die DDR eingereist war und die Einreisegenehmigung zu einem Kurs wohl nicht erhalten hätte. Dieser Kurs hat bei den Teilnehmern eine überwiegend positive Resonanz gefunden. Das verleitete allerdings einige zu etwas unkritisch-überschießenden Versuchen, das gerade Erlebte ihren Vikaren zu vermitteln. Leider erreichten sie damit gelegentlich das Gegenteil, nämlich deutliche Zurückhaltung, die darin Ausdruck fand, dass manche der Vikare das Schlagwort »CPT-geschädigt« gebrauchten. Einen weiteren wichtigen Schritt voran erfuhr die Seelsorgeausbildung durch Pfarrer Wilfried Schulz (Magdeburg) für die Kirchenprovinz Sachsen. Bei ersten Sondierungsgesprächen mit Bischof Dr. Werner Krusche (Magdeburg) erfuhr er bei ihm große Aufgeschlossenheit. Ein geeigneter Pfarrer (Günther Steinacker, früher Landesjugendpfarrer) wurde ausgewählt und für eine Seelsorgeausbildung freigestellt. Erstaunlicherweise wurde staatlicherseits genehmigt, dass dieser 1974 einige Monate in der Bezirksnervenklinik Uchtspringe, vor allem in der dortigen Psychotherapie-Abteilung, hospitieren durfte. Danach erhielt G. Steinacker die Möglichkeit, für einige Monate bei Wiebke Zijlstra in Amersfoort zu hospitieren, und bekam dafür (wiederum erstaunlicherweise) die befristete Ausreisegenehmigung. Danach wurde für ihn eine Spezialpfarrstelle für Seelsorge errichtet und in Halle/Saale mit bescheidenen Mitteln das erste Seelsorgeseminar der DDR eröffnet. Die ersten Kurse dort stießen schnell auf großes Interesse. Eine zweite internationale Tagung fand 1975 in Rüschlikon bei Zürich mit etwa 75 Teilnehmern statt. Dank des Engagements von Pfarrer W. Becher wurden zu dieser Tagung fünf Teilnehmer aus der DDR eingeladen und erhielten auch die befristete Ausreisegenehmigung, darunter ein im staatlichen Gesundheitswesen tätiger Psychologe. Beim Diakonischen Werk in der DDR war Mitte der 1970er Jahre ein »Diakonisches Qualifizierungs-Zentrum« (DQZ) gegründet worden. Als Leiter war Pfarrer W. Schulz aus Magdeburg berufen worden. Er war sehr umfassend interessiert, hatte eine große geistige Wachheit und besaß intensive Zielstrebigkeit. Er hatte die Idee, dass es auch in der DDR eine Seelsorgeausbildung geben müsste, die der modernen Entwicklung in der BRD entsprach. Auf vielen Ebenen hat er für diese Idee geworben – und schließlich fasste die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen den Beschluss, »Seelsorgeberaterkurse« durchzuführen. Dank seiner Aktivität hatte Pfarrer Schulz schon vor diesem Beschluss mit den Vorbereitungen für die Kurse begonnen, hatte Kontakt mit möglichen Ausbildern aufgenommen und nach geeigneten Teilnehmern gesucht. Es gab zu diesem Zeitpunkt in der DDR eine Anzahl von Theologen, die sich in verschiedener Weise intensiver mit Seelsorge befasst hatten. Soweit sie erreicht werden konnten, wurden sie zu den Vorbereitungssitzungen eingeladen. Das Vorhaben war von vornherein ökumenisch angelegt; es gab also auch Teilnehmer aus der katholischen Kirche und den Freikirchen. Da die verschiedenen potentiellen Teilnehmer Erfahrungen und Kenntnisse auf ganz unterschiedlichem Niveau hatten, sollten diese Sitzungen zu einer gewissen Einheitlichkeit des Ausbildungsstandes beitragen. Jeder Interessent sollte an fünf Wochenendtagungen teilnehmen. Diese Tagungen waren als Fallbesprechungen gedacht und wurden von Pfarrer Schulz und einem Psychologen geleitet. Jeder Interessent sollte mindestens einmal einen Fall aus der Seelsorgepraxis vorstellen.

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4.12  Psychotherapie in Seelsorge und kirchlicher Beratung

Die Spannweite der Teilnehmer war außerordentlich groß: Natürlich waren die meisten Pfarrer. Es gab aber auch Theologieprofessoren und -dozenten und einen amtierenden Landesbischof sowie eine Krankenschwester, die aber auch schon seelsorgerisch gearbeitet hatte. Diese Spannweite der Teilnehmer brachte natürlich eine intensive Dynamik zuwege, wenn sich beispielsweise die Krankenschwester (die später eine sehr gute Supervisorin wurde) im Kreis der Theologen sehr fehl am Platz fühlte oder eine einfache Pastorin plötzlich nicht umhin konnte, sich mit dem Bischof auseinanderzusetzen. Für den eigentlichen Ausbildungskurs (drei mal zwei Wochen in drei Jahren) wurde nach den Vorbereitungstagungen an einem Wochenende eine Eignungsprüfung durch­ geführt. Dafür war eine Zulassungs- und Prüfungskommission gebildet worden, der vier Personen aus der DDR und zwei Westdeutsche angehörten. Natürlich hatten die Westdeutschen die entsprechende Erfahrung, so dass die Mitglieder aus der DDR sich weitgehend an ihrem Urteil orientieren mussten. Generell wurde ein strenger Maßstab angelegt. Für die Mitglieder der Zulassungskommission aus der DDR war diese Tagung sehr belastend, wenn bekannte, engagierte und renommierte Personen als nicht geeignet für diese Ausbildung ausgeschieden wurden. (Der Bischof und die Krankenschwester wurden zuge­ lassen!) An dem Ausbildungskurs nahmen insgesamt 14 Personen teil. Die Ausbildung erfolgte in zwei Gruppen. Jede Gruppe hatte einen kontinuierlichen Kursbegleiter (Reinhard Miethner und Hans-Christoph Piper), dazu kamen zwei Trainer aus den Niederlanden, die den Gruppen wechselnd zugeordnet wurden (Wybke Zijlstra; Frans Andriessen). (Pfarrer Schulz war es gelungen, für alle vier Personen Einreisevisa zu beschaffen.) Alle vier Kursbegleiter entsprachen der Richtung der Klinischen Seelsorge-Ausbildung, deren Konzept sich an Carl Rogers orientierte. In der Ausbildung hatten Selbsterfahrungsanteile wesentliches Gewicht, Gesprächsprotokolle wurden bearbeitet und es gab auch Rollenspiele. Alle vier Trainer bescheinigten den Teilnehmern eine hohe Lernmotivation. Zur Abschlussprüfung traten zwölf Teilnehmer an, eine Teilnehmerin hatte sich nicht gemeldet, ein Teilnehmer war nicht zugelassen worden. (Er musste die Ausbildung weiterführen, schloss sie später mit Erfolg ab und wurde nochmals später Bischof einer Landes­ kirche.) Von den zwölf Geprüften wurden sechs als voll geeignet beurteilt, drei erhielten eine Empfehlung für die weitere fachliche Entwicklung, drei wurden zurückgestellt, von denen einer nach einem Jahr die Prüfung erfolgreich abgelegt hat. Nach dem Abschluss mussten die Teilnehmer noch mindestens zwei Jahre unter Supervision als Seelsorgeberater (= Supervisoren) arbeiten, ehe sie die endgültige Anerkennung erhielten. Für die Supervision kamen die westdeutschen Ausbilder nach (Ost-)Berlin oder auch in die DDR. Unabhängig von dieser Ausbildung hatte Pfarrer Siegfried Ringhandt (Leitender Geistlicher in Brandenburg) eine Seelsorgeausbildung angeboten. Ringhandt hatte in den 1930er Jahren eine analytische Ausbildung in der Orientierung an C. G. Jung absolviert. Die von ihm eingeladenen Trainer waren entsprechend tiefenpsychologisch orientiert. Ringhandt hatte zunächst mit etwa 30 Teilnehmern einen Grundkurs angeboten, aus dem ein Aufbaukurs mit 14 Teilnehmern hervorging, dem sich schließlich ein weiterer Aufbaukurs mit sieben Teilnehmern anschloss. Diese wurden von der gleichen Prüfungskommission

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geprüft. Davon wurden vier als voll geeignet beurteilt, zwei erhielten eine dringende Empfehlung für die weitere Entwicklung ihrer Kompetenz, einer hatte sich nicht zur Prüfung gemeldet. Es folgte von 1987 bis 1990 ein weiterer Seelsorgeberater-Ausbildungskurs, der nach dem gleichen Modell gestaltet wurde wie der erste. Von den neun Teilnehmern haben sich drei nicht zur Prüfung gemeldet, vier wurden als voll geeignet beurteilt, zwei als nicht geeignet, sie erhielten also keine Anerkennung. Die gesellschaftlichen Entwicklungen von 1989/90 haben sich am Ende dieses Kurses deutlich ausgewirkt: Bei einem der Teilnehmer (der sich nicht zur Prüfung gemeldet hatte) stellten sich Kontakte zum Staatssicherheitsdienst heraus, eine Teilnehmerin wurde Bundestagsabgeordnete und dann Staatssekretärin. Ein Teilnehmer mit erfolgreichem Abschluss hat später das Seelsorgeseminar der Sächsischen Landeskirche in Leipzig aufgebaut. Begleitend zu dieser Seelsorge-Ausbildung war ein Beirat für Seelsorge und Beratung gebildet worden, der regelmäßig tagte und Beschlüsse zur Seelsorgeausbildung fasste. Ihm gehörte als fachlicher Berater wiederum ein Supervisor aus der Bundesrepublik an; dieser hatte eine analytische Ausbildung erfahren (er leitete später auch einen Seelsorge-Aufbaukurs in der DDR). Für die Seelsorgeausbildung wurde (nach der Übergangsregelung der Anfangszeit) eine dreistufige Ausbildung festgelegt: Sechs-Wochen-Grundkurs; Sechs-Wochen-Aufbaukurs und Sechs-Wochen-Seelsorgeberater- (= Supervisoren-)Kurs. In Verantwortung dieses Beirats wurden von 1983 bis 1993 vier weitere Seelsorge-Aufbaukurse mit insgesamt mehr als 90 Teilnehmern durchgeführt, von denen mehr als 50 diese Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben. Der letzte Kurs wurde 1992 beendet. Die Trainer waren wiederum Westdeutsche (teils der Richtung der Klinischen Seelsorge-Ausbildung zugehörig, teils tiefenpsychologisch-analytisch orientiert) – sämtliche Ko-Trainer waren Ostdeutsche. Über diese zentral verantworteten Ausbildungen hinaus wurden in manchen Landeskirchen auch spezielle Ausbildungskurse z. B. für Krankenhausseelsorger durchgeführt. Parallel zu der dargestellten Form der Seelsorgeausbildung gab es eine ebenfalls von westdeutschen Trainern fachlich verantwortete Ausbildung in Ehe- und Familienberatung. Dieses Ausbildungssystem war deutlich stärker tiefenpsychologisch-analytisch orientiert. Auch hier gab es eine mehrstufige Ausbildung, die mit der Anerkennung als »Mentorin« (= Supervisorin) abschloss. Auch alle Teilnehmer, die diese Ausbildung durchlaufen hatten, hatten eine hohe Kompetenz. Schon 1975 in Rüschlikon war unter den Teilnehmern aus der DDR die Idee entstanden, auch für unseren Raum ein Gremium zum Erfahrungsaustausch zu schaffen. Nach 1978 fanden erste orientierende Gespräche statt, 1982 wurde eine »Arbeitsgemeinschaft für Seelsorge und Beratung« gebildet, deren Zielstellung der regelmäßige Austausch der in der Seelsorge Tätigen war. Diese Arbeitsgemeinschaft veranstaltete jährlich Arbeitstagungen. Themen waren u. a. »Wahrnehmung von Körpersprache in der Seelsorge« und »C. G. Jung unter pastoralpsychologischen Aspekten«. Eine Folge der dargestellten Seelsorgeausbildung war, dass in zwei Landeskirchen je ein Seelsorge-Beirat eingerichtet wurde, dessen Aufgabe darin bestand, dafür zu sorgen, dass

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4.12  Psychotherapie in Seelsorge und kirchlicher Beratung

spezielle Seelsorgestellen (z. B. Krankenhaus, Gefängnis) tatsächlich mit geeigneten, gut ausgebildeten Personen besetzt werden. Nach der Integration der Seelsorgeausbildung in die DGfP stellte der Beirat für Seelsorge und Beratung seine Tätigkeit ein. Das war der etwas schmerzliche Abschluss einer langjährigen Arbeit – aber die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie bot die entsprechenden Ausbildungsmöglichkeiten ja schon länger an. Der Prüfungsausschuss arbeitete bis zum Abschluss der letzten »Überhänge« noch bis 1994 weiter. Alle abgeschlossenen Ausbildungen wurden von der DGfP anerkannt, einige der Supervisoren übernahmen auch in deren Rahmen leitende Funktionen.

4.12.2 Brigitte Bühler: Kirchliche Eheberatung in der DDR Anfänge Der Zweite Weltkrieg hatte nicht nur vielen Menschen das Leben gekostet und Städte und Dörfer zerstört, sondern auch in vielen Familien riesengroße Probleme entstehen lassen: der Verlust des Ehemannes, das Getrenntsein von Kindern durch die Flucht, das Leben mit der Ungewissheit, ob der Mann noch wiederkommen wird, der Verlust der Heimat, der Kampf ums tägliche Brot. Und wenn Familien durch die Heimkehr des Mannes wieder vollständig wurden, passten meist die alten Rollenmuster nicht mehr. Die Frauen hatten jahrelang alles regeln müssen, konnten jetzt nicht einfach wieder in die alte Position zurückgehen. Und oft lagen im Krieg erlebte Traumata, die nicht kommunizierbar waren, wie Felsbrocken zwischen den Partnern. Die herkömmliche Arbeitsweise kirchlicher Mitarbeiter war diesen Problemen in keiner Weise gewachsen. Oft entstanden »Beratungsstellen« auf Initiative der »Frauenhilfe« oder anderer kirchlicher Organisationen. Die Frauen – es waren fast ausschließlich Frauen –, die sich in diesen Stellen engagierten, hatten die verschiedensten Vorbildungen. Oft waren es »bloß« Hausfrauen und Mütter, die mit ihrer Lebenserfahrung versuchten, Hilfe zu leisten. Doch der Ruf nach einer Zurüstung für diese Aufgabe wurde immer dringender. 1959 wurde eine erste »Schulung in Eheberatung« auf einer Tagung der Evangelischen Akademie in Berlin-Weißensee durchgeführt. Referenten waren Dr. Theodor Bovet und Dr. Joachim Scharfenberg. Der Schweizer Arzt und Theologe Dr. Theodor Bovet war durch seine Bücher zu Ehethemen auch in Ostdeutschland schon sehr bekannt und hat mit der von ihm kreierten »Ehewissenschaft« für Aufmerksamkeit gesorgt. Seine Bücher waren in Pfarrhäusern Standardliteratur. Von 1959 an gab es alljährlich für interessierte kirchliche Mitarbeiter Vorträge zum Thema »Wissenschaftliche Einführung in Eheberatung« von Dr. Bovet. Daraus folgten dann ab 1966 »Fortbildungskurse für Eheberatung«, die in organisatorischer Verantwortung der Inneren Mission/Hilfswerk (des späteren Diakonischen Werkes) lagen. Sie wurden vor allem von »Multiplikatoren« der kirchlichen Familienarbeit besucht. Fachlich-inhaltlich wurden sie vom Evangelischen Zentralinstitut für Familien- und Lebensberatung (EZI), das seit 1964 in Berlin (West) angesiedelt war, ausgestaltet. Etwa 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der ganzen DDR trafen sich in der Stephanusstif-

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tung in Weißensee und lauschten den Vorträgen und diskutierten sie lebhaft. Inhaltlich spielten veränderte Verhaltensnormen – z. B. beim Thema Verhütung, beim Thema Gleichwertigkeit der Geschlechter, bei der »Aufklärung« der nächsten Generation – eine herausragende Rolle. Die beabsichtigte Modifizierung des § 218 durch das Gesundheitsministeriums der DDR im Jahre 1965 beschleunigte die Gründung der »Arbeitsgemeinschaft Ehe- und Familienberatung« bei IM/HW am 17. September 1966.

Ausbildungskurse Von 1967–1969 fand der erste Ausbildungskurs (ABK 1) statt. Unter Leitung von Analytikern des EZI arbeiteten 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer je zwei Wochen pro Jahr gemeinsam. Es war schon ein Erlebnis, für sexuelle Vorgänge eine Sprache zu finden, die nicht Gossensprache, aber auch nicht medizinische Fachsprache war. Sexualerziehung war damals besonders in kirchlich sozialisiertem Milieu vor allem durch Verbote gekennzeichnet. Dafür Alternativen zu entwickeln, war eine spannende Herausforderung. Dieser Kurs war weitgehend durch Vorträge und Gesprächsrunden gestaltet. Ganzheitliches Lernen war Aufbruch in Neuland und wurde von den Teilnehmern, die sich besonders intensiv mit Beratungsarbeit beschäftigten, in angehängten Kurswochen »nachgeholt«. Der ABK 2 fand von 1971–1974 mit 25 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Erst allmählich entwickelte sich ein schlüssiges Ausbildungskonzept. Im Diakonischen Werk der DDR war inzwischen eine eigene Abteilung für Aus- und Weiterbildung geschaffen worden. Die übernahm für die Eheberaterausbildung das Konzept des EZI in modifizierter Form. Das bedeutete, dass Selbsterfahrung und Fallarbeit unter Supervision ebenso in die Kurse kamen wie eine erfolgreich absolvierte Auswahltagung zur Voraussetzung wurde. Der ABK 3 von 1977–1979 mit 23 Teilnehmerinnen und Teilnehmern schloss mit Prüfung und Zertifikat ab. Der ABK 4 von 1982–1984 hatte 17 Teilnehmer, der ABK 5 von 1985–1988 hatte 21 Teilnehmer, der ABK 6 von 1988–1992 hatte 17 Teilnehmer. Eheberatung wurde zu einer kirchlich anerkannten Qualifizierung. Freilich, die meisten Absolventen dieser Ausbildungskurse benutzen die gewachsene Kompetenz in ihrem bisherigen Berufsfeld (vor allem Fürsorgerinnen, Pfarrer oder Gemeindehelferinnen, Ärzte oder Pfarrfrauen). In den »Stadtmissionen« gab es von den 1970er Jahren an auch direkte Anstellungen für Eheberatung – meist allerdings nur für eine Teilzeitbeschäftigung. Das Grundkonzept kirchlicher Beratung (in den ersten Jahren war nur Einzelberatung im Blick) war tiefenpsychologisch orientiert. Auszug aus dem Beratungskonzept: »Beratung ist ein zielgerichteter, zeitlich begrenzter Prozess, der diagnostische und methodische Kompetenz des Beraters erfordert: Zwischen Ratsuchendem und Berater wird im Rahmen eines Kontraktes das Beratungsziel formuliert. Aus der Fülle des angebotenen ›Materials‹ muss die Beraterin in relativ kurzer Zeit einen Fokus für die Beratung bilden, eine Balance zwischen regressiven und progressiven Impulsen des Ratsuchenden fördern und Übertragungs­ deutungen auf die Realität der Beratungssituation hin beziehen. In Projekten wird die Übersetzung in den Alltag probiert, wenn nötig korrigiert. Bei Gelingen wird die Beratungsbe­ ziehung beendet.«

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Regionale Arbeitsgruppen Um diese Kurzfassung des Beratungskonzeptes in die Alltagsarbeit zu übertragen, bedurfte es viel Trainings. Neben den Ausbildungskursen gab es in den einzelnen Landeskirchen sog. Regionalkreise, die der Nacharbeit dienten. Hier wurden die Theorieeinheiten der Ausbildungskurse diskutiert und methodische Vorgehensweisen geübt, z. B. im Rollenspiel. Die Arbeit der Regionalkreise intensivierte sich im Lauf der Jahre. So gab es neben dem monatlichen Treffen auch ganze Fortbildungswochen, zu denen oft westdeutsche Analytiker hinzukamen.

Mentorenausbildung Um die Beratungsarbeit vor Ort »am Laufen zu halten«, fehlten im Osten Supervisoren. Von 1974–1981 fand der 1. Mentorenkurs statt (»Mentorenkurs«, weil der Begriff »Supervisor« im kirchlichen Kontext im Osten eher auf Ablehnung stieß). Zehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer arbeiteten sieben Jahre lang eineinhalb Tage pro Monat. Dazu kamen ein Theorieseminar, eine schriftliche Abschlussarbeit und eine mündliche Abschlussprüfung. Die Länge des ersten Ausbildungsganges war der fehlenden Praxisbegleitung vor Ort geschuldet. Viel Zeit nahmen die Fallbesprechungen der eigenen Beratungsbeziehungen in Anspruch. Die späteren Ausbildungen konnten sich dann schon ganz auf die Supervision konzentrieren und erfolgten in jeweils dreijähriger Länge: 2. Mentorenkurs 1979–1982, 3. Mentorenkurs 1984–1988, 4. Mentorenkurs 1990–1993. Noch während der 1. Mentorenausbildung arbeiteten drei künftige Mentoren im ABK 3 als Ko-Leiter mit, ebenso im ABK 4 (das beschränkte sich in beiden Kursen auf Theorievermittlung und Fallarbeit). Im ABK 5 von 1985–1988 wurde die Ausbildung der Eheberater gekoppelt mit der Ausbildung von sechs Mentoren in der Leitung kursbegleitender, berufsbezogener psychoanalytisch orientierter Selbsterfahrungsgruppen, die den Kurs zusammen mit drei westlichen Analytikern durchführten. Ziel dieses, wie ich glaube, sehr lehrreichen, aber äußerst zeitintensiven und anstrengenden Unternehmens war, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass zukünftig die Ausbildungskurse für die Eheberatung autark von östlichen Mentoren durchgeführt werden konnten. Das neunköpfige Trainerteam hatte sich mit zwei zentralen Problemen der Zusammenarbeit immer wieder auseinanderzusetzen: mit dem Problem von Abhängigkeit und Selbständigkeit beim Erwerb professioneller Kompetenz und mit der Frage, wie mit deutlich sichtbaren und aller Voraussicht nach bleibenden professionellen Schwächen umzugehen ist. Diese auch im Westen trotz aller vorhandener therapeutischer und beruflicher Alternativen nicht leicht zu lösenden Fragen erhielten im Osten eine besondere Schärfe durch den Mangel an Alternativen und dadurch, dass sich an Herkunft und Stil der Trainer auch die Gegensätzlichkeit der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme zeigte: zwischen westlicher Konkurrenzgesellschaft einerseits und östlicher Solidargemeinschaft andererseits. Bei der Auswertung dieses Unternehmens mit Karl König in den Räumen des Erfurter Augustinerklosters wurden uns diese Zusammenhänge im August 1988 bewusst und auch die Einsicht, »wie notwendig und wie schwierig es ist, beide Prinzipien konstruktiv

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beieinander zu halten, das Trennen und das Verbinden, das Differenzieren und das Sichaufeinander-Beziehen« (Zitat F. W. Lindemann in EZI- Korrespondenz 18/Sommer 2000, unveröffentlicht). Beinahe zeitlich parallel gab es fünf Weiterbildungsseminare für die Leitung psychoanalytisch orientierter, berufsbezogener, kursbegleitender Selbsterfahrungsgruppen. Von 1986 bis 1990 fanden sich dazu jeweils fünf Tage lang Eheberatermentoren und Absolventen der Fortbildungskurse in seelsorgerlicher Praxis (Theologen) zusammen (je zwölf Teilnehmer).

Paarberatungsausbildung Die Ausbildungsveränderungen im Westberliner Zentralinstitut für Familien- und Lebensberatung hatten grenzüberschreitende Wirkung. Die Erweiterung zur Paarberatung mit ganz eigenem Konzept (die »Spielregeln« des Paares sind im Fokus der Aufmerksamkeit) erfolgte ab 1986 in speziellen Ausbildungskursen. Das bedeutete je eine Woche Intensivkurs mit zwischenzeitlichem Praktikum unter Supervision. Es fanden vier Grundkurse statt mit insgesamt 51 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Dazu kamen drei Aufbaukurse mit insgesamt 36 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Spezielle Angebote von Supervision für Paarberatung machten Mitarbeiter des EZI in den Ostdeutschen Regionalkreisen.

Fortbildungen in speziellen Beratungsverfahren Neben den Ausbildungskursen gab es vielfältige Fortbildungsmöglichkeiten, die DDR-weit angeboten wurden z. B.: – Sexualität im Rahmen der Eheberatung (Dr. Vreni Middendorp-Moor, Zürich), – Träume in der Beratung (Renate Schürrlein, Neu-Ulm), – Theologie in der Beratung (Dr. Friedrich-Wilhelm Lindemann, EZI), – Seminar für Mitarbeiter bei geistig behinderten und komplex geschädigten Kindern, die Elternarbeit/-beratung durchführen (Rolf Hin, Barbara Langmaack), – Anleitung für Beratung in Gruppen (Renate Freytag, Peter Heidtke). Diese Angebote wurden sehr geschätzt und kräftig in Anspruch genommen, ermöglichten sie doch den einzelnen Beraterinnen und Beratern, ihren Arbeitstil sehr individuell anzu­ reichern. Eine gesonderte Qualifizierung gab es von 1985–1988 zur Leitung ausbildungsbegleitender, berufsbezogener Selbsterfahrungsgruppen. Diese wurde sowohl in den Ausbildungskursen als auch bei der regionalen Weiterbildung abgerufen. Von 1989 an hatten einige ostdeutsche Beraterinnen die Möglichkeit, an der Fortbildung in systemischer Familientherapie am EZI teilzunehmen (Leitung Dr. Jürgen Liechti, Dr. Martin Zbinden, Bern). Mit dem Ende der DDR vereinigten sich alle Ausbildungsgänge beim Evangelischen Zentralinstitut für Familien- und Lebensberatung in Berlin. Die zu DDR-Zeiten überschaubare Zahl kirchlicher Berater (etwa 120 Personen durchliefen die Ausbildungskurse) wuchs in kurzer Zeit und die Vielfalt ihrer Ausbildungsgänge veränderte die Szene.

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4.13  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR

Arbeitsbedingungen Kirchliche Ehe- und Lebensberatung fand in einer Nische statt. Staatliche Stellen nahmen sie nur inoffiziell zur Kenntnis. Öffentlichkeitsarbeit war nur kirchenintern möglich, und auch da gab es viele Vorbehalte. Die in der DDR sehr hohe Scheidungsrate wirkte sich auch in kirchlichen Kreisen aus. Der Vorwurf, »zur Scheidung zuzuraten«, erleichterte die Arbeit besonders mit kirchlichen Mitarbeitern nicht. Räumliche und finanzielle Bedingungen der Beratungsarbeit sind heute fast nicht mehr vorstellbar. 1988 gab es in der DDR 21 Beratungsstellen. Dort wurden 1017 Einzelberatungsreihen und 319 Paarberatungsreihen durchgeführt. Die Länge dieser Beratungsreihen war abhängig von der Entscheidung der Ratsuchenden und der Beraterin/des Beraters. Zwischen fünf und 25 Sitzungen bewegten sich die meisten. Für Einzelberatungen war eine Gesprächsdauer von 45–60 Minuten üblich, bei Paarberatungen waren es meist 90 Minuten. 1988 gab es dazu 609 »Kurzkontakte«. Damit sind einmalige Beratungsgespräche gemeint. Auch sie gingen über reine Informationsvermittlung hinaus. Die Zahlen der davor liegenden Jahre sind kontinuierlich auf diesen Stand gewachsen. Beratungskosten wurden nicht erhoben. Der Träger der Beratungsstelle war für Spenden dankbar. Das in den Beratungsgesprächen (auch) zum Thema zu machen, fiel zu DDR-Zeiten nicht leicht, waren doch alle sozialen Angebote des Staates kostenfrei. Ab 1990 veränderte sich die Situation. In den einzelnen Landeskirchen wurden unterschiedliche Trägermodelle wirksam. In Sachsen wurden in allen Landkreisen Beratungsstellen beim Diakonischen Werk angesiedelt. Bei den Stadtmissionen (Dresden, Leipzig, Chemnitz, Zwickau, Plauen) wurden sie erweitert. So wuchs die Zahl sächsischer Berater/-innen in kurzer Zeit auf etwa die Zahl, die bis 1990 in der ganzen DDR ausgebildet wurden. Besondere Bedeutung bekam die Schwangerschaftskonfliktberatung als gesetzlich verpflichtend vorzuhaltendes Angebot. Dafür gab es ab 1990 spezielle Fortbildungen. Viele Beratungsstellen erweiterten ihr Ehe- und Lebensberatungsangebot auf Familien- und Erziehungsberatung.

4.13 Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR 4.13.1 Inge Frohburg: Eine »West«-Publikation und ihr ehestiftender Nebeneffekt Praxisbezogene klinisch-psychologische bzw. psychotherapeutische Ausbildung war in den 1970er Jahren an den Universitäten weder im Osten noch im Westen Deutschlands selbstverständlich. Dazu die folgende Episode: Beim Ausräumen meines Dienstzimmers fand ich einen Brief vom 22. Januar 1978. Priva­ ter Absender: Dr. Vera Birtsch, 6900 Heidelberg, aber dienstliche Anschrift: Dr. J. Helm,

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Sektion Psychologie der Humboldt-Universität. In diesem Brief gibt Vera Birtsch dem »sehr geehrten Herrn Dr. Helm« zur Kenntnis, dass sie »gemeinsam mit Dr. Dieter Tscheulin, Würzburg« an der »Herausgabe eines Readers zur Universitätsausbildung in Klinischer Psychologie arbeitet«. Sie fügt eine genauere Konzeption an, eine Gliederung und eine Liste von denjenigen, die ihre Mitarbeit bereits zugesagt haben. Und sie fragt mit Bezug auf vorliegende Publikationen, ob Herr Helm oder einer seiner Kollegen (damals sprach man offensichtlich auch im Westen noch nicht von Kolleginnen und Kollegen) von der HumboldtUniversität bereit wäre, »das Kapitel 3.2 Bedeutung und Grenzen einer kognitiven Vermittlung klinisch-psychologischer Ausbildungsinhalte zu bearbeiten«. Johannes Helm hat am 6. März 1978 zugesagt, dieses Kapitel gemeinsam mit mir zu übernehmen. Diese Zusage bedurfte jedoch nach den im Hochschulwesen der DDR geltenden Bedingungen der Genehmigung des zur Universität gehörenden Direktorats für Internationale Beziehungen. Nachdem dieses Direktorat über das Publikationsinteresse informiert worden war, wurden wir mit Schreiben vom 21. März 1978 aufgefordert, zu unserem »Antrag auf Erlaubnis einer Publikation in der BRD« die folgenden Fragen zu beantworten – »auch unter Berücksichtigung der gegebenen politischen Aspekte«: 1. Woher sind Sie mit den Herausgebern bekannt? 2. Wie lauten die wesentlichen Gedanken zur Konzeption des geplanten Bandes? 3. Warum sind Sie an der Wahrnehmung dieser Publikationsmöglichkeit interessiert? Im Antwortschreiben des Lehrbereichsleiters Doz. Dr. sc. J. Helm vom 29. März 1978 heißt es dazu – mit dem üblichen »sozialistischem Gruß«: 1. »Ich kenne die Herausgeber persönlich nicht. Sie sind mir lediglich durch ihre Publikationen im Gebiet der Psychotherapieforschung und -ausbildung bekannt. 2. Der Grundgedanke der Konzeption soll darin bestehen, den gegenwärtigen Zusammenhang zwischen dem Entwicklungsstand des Fachgebietes Klinische Psychologie (besonders der Ausbildungsmethoden) und der klinisch-psychologischen Tätigkeit (Berufsbild) darzustellen und ggf. Ableitungen über künftige Ausbildungsmethoden und Inhalte vorzunehmen. 3. Da ich selbst in der Ausbildungsforschung tätig bin, interessiert es mich natürlich, einige Ergebnisse und Fragen zu diesem Thema auch im Ausland zur Diskussion zu stellen. [...] Ferner glaube ich, dass die von uns erarbeiteten und teilweise publizierten Ergebnisse zur Ausbildungsforschung in der Gesprächspsychotherapie durch eine Veröffentlichung im Ausland zum Ansehen der DDR in wissenschaftlicher Hinsicht beitragen können [...]« Am 26. Mai 1978 wurde »auf der Grundlage der Ordnung über die Genehmigungspflicht für Veröffentlichung von wissenschaftlichen Arbeiten und Mitteilungen in Publikationsorganen von Westdeutschland und Westberlin für den Verantwortungsbereich des Ministeriums für Hoch- und Fachschulwesen vom 15.7.68« die »Genehmigung einer Publikation in der BRD und Westberlin« erteilt. Zugleich erhielten wir vom Beltz-Verlag einen Vertrag, der eine pauschale Vergütung von 20 DM pro Druckseite vorsah. Das Buch ist 1980 erschienen. Das West-Honorar mussten wir zum größten Teil abgeben. Ich glaube, ich durfte 2,50 DM behalten (mein allererstes »West-Geld«!) – aber diese Unterlagen sind mir leider nicht wieder in die Hände gefallen.

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4.13  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR

Als der Lehrbereich Klinische Psychologie des Instituts für Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin 1979 ein Internationales Symposium zum Thema »Forschungen zur Psychodiagnostik und Psychotherapie psychischer Fehlentwicklungen« organisierte und dazu Teilnehmer aus Polen, Ungarn, der ČSSR und der UdSSR einlud, sah ich eine Chance, auch Gäste aus der BRD, konkret die beiden Herausgeber des genannten »West-Buches« einzuladen. Gegen große Hindernisse, viel Skepsis und auch wider Erwarten durfte die Einladung offiziell ausgesprochen werden. Dieter Tscheulich hat an dem Symposium teilgenommen und bei dieser Gelegenheit auch Beate Jülisch, die erste Studentin unseres Hauses, die eine Diplomarbeit zur Gesprächs­ psy­chotherapie geschrieben hatte, kennengelernt. Sie hielt – wie dem Programmheft (deutsch – russisch – englisch!) zu entnehmen ist – am Freitag, den 8. Juni 1979 von 9.25– 9.40 Uhr einen Vortrag über die »Indikationsrelevanz selbst- und fremdbezogener Informationen von Patienten in gesprächspsychotherapeutischen Anfangsgesprächen«. Es wird wohl weniger am Referat als an der Referentin gelegen haben: Dieter Tscheulin und Beate Jülisch haben später geheiratet. Beate Jülisch ist »in den Westen« gegangen, und die DDR war eine der besten Gesprächspsychotherapeutinnen los. Unerwarteter Nebeneffekt und Spätfolge einer »West«-Publikation von »Ost«-Autoren.

4.13.2 Christoph Schwabe: Nicht-Märchengeschichten eines Musiktherapeuten II Blinder West-Passagier in einer Ost-Weiterbildung Es war im Frühjahr 1971. Ich bekam einen Brief aus Westberlin von der Amerikanerin Susan S., die bei Holzkamp und Osterkamp Psychologie studierte, mich und die Musiktherapie kennenlernen wollte und sich für den Kommunismus interessierte. Sie schrieb mir, ob und wann sie mich besuchen könne. Ich schrieb ihr zurück, dass ich das offiziell nicht dürfe, sie aber privat empfangen würde. Da die Post von der Stasi kontrolliert wurde, wusste diese also schon Bescheid. Am Tag, als Susan kam, war kurz zuvor schon ein »Student« bei mir, der sich für meinen Besuch – das habe er zufällig erfahren – interessierte. Susan und ich, wir hatten ein gutes Gespräch. Es kostete mich allerdings eine Flasche Whiskey, die Susan als Geschenk für mich mitgebracht hatte und die der Stasimann aussoff. Es war offenbar ein Anfänger. Denn wir wussten danach mehr von ihm als er von uns. Aus diesem Besuch von Susan wurde eine Freundschaft, die bis heute besteht. Später wichen wir den Stasibesuchen aus, indem ich sie irgendwo abholte und wir schnell nach offizieller Anmeldung in meine Dorfschmiede fuhren. Dort wurde der Plan ausgeheckt, dass sie an einem Musiktherapielehrgang teilnehmen sollte, der damals in der Klinik zu Arnsdorf stattfand. Das war mir natürlich offiziell nicht gestattet, und so führte ich sie aufgrund ihres amerikanischen Sprachakzents als Rostocker Studentin ein. Der Zufall wollte es, dass gerade an diesem Kurs mein Psychologiekollege B. eine soziodynamische Untersuchung mit den Teilnehmern durchführen wollte, um Material für seine

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Promotion zu bekommen. Ich wollte ihn nicht über meinen blinden Passagier informieren, um ihn nicht zu belasten, falls die Sache auffliegen sollte. Am ersten Abend kam Susan zu mir und fragte ganz aufgeregt, was sie denn mit den JaNein-Fragen machen sollte, die ihr der Psychologe eben wie allen anderen auch vorlegte. Und ich sagte ihr, sie solle das so gut und versteckt ausfüllen, wie es ihr nur möglich sei. Am zweiten Abend kam mein Kollege zu mir und fragte, was das für eine komische Teilnehmerin sei, die entweder die Untersuchung nicht verstehe oder pathologisch auffällig sei. Das blieb sie dann in seinen Untersuchungsergebnissen auch, so dass er sie schließlich aus der Statistik herausnahm, weil sie ihm seine Resultate verdorben hätte, so sagte er mir. Erst viel später erklärte ich ihm den Zusammenhang, und er fluchte. Die Sache ging übrigens gut aus. Und Susan machte später ihre psychologische Diplomarbeit über ein musiktherapeutisches Thema, wobei ich ihr illegaler Betreuer wurde; der offizielle war ihr Psychologieprofessor Holzkamp aus Westberlin. Susan hat übrigens sehr bald eingesehen, dass der ostdeutsche »Kommunismus« absolut nicht ihren Vorstellungen von Kommunismus entsprochen hatte. So gab es unter der Oberschirmherrschaft der Stasi bereits in den 1970er Jahren eine kooperative Zusammenarbeit zwischen der Freien Universität Berlin und der Karl-MarxUniversität Leipzig auf dem Gebiet der Musiktherapie.

Das Angebot aus München Ich hatte im Jahre 1969 mein erstes Buch veröffentlicht. Es enthielt die ersten Äußerungen zu einem musiktherapeutischen Methodensystem, das ich in der praktischen klinisch-psychotherapeutischen Arbeit an der Leipziger Universitätsklinik entwickelt hatte. Dieses Buch fand unerwartet große Resonanz nicht nur bei uns, sondern auch in der alten Bundesrepublik und im Ausland, so dass es nicht verwunderlich war, dass dieses Buch kurze Zeit später auch als Lizenzausgabe in Westdeutschland in der Zweitauflage erschien. Im Frühjahr 1973 bekam ich einen Brief von einem Münchener Arzt, der beabsichtigte, einige Schallplatten mit psychotherapeutischen Themen herauszubringen. Bei mir nun fragte er an, ob ich ihm einen Text zur Musiktherapie für eine dieser geplanten Schallplatten liefern könne. Er versprach mir dafür ein für meine Verhältnisse geradezu überwältigendes Honorar, natürlich in Westgeld. Eigentlich hätte ich einen solchen Brief ablehnend be­antworten müssen. Aber es lockte das Westgeld und die Aussicht, damit Bücher und auch Kaffee kaufen zu können, Sachen also, an die sonst nicht heranzukommen war. So überlegte ich lange, wie es zu ermöglichen sei, die staatlichen Vorlagen zu überlisten. Und das war dann mein Plan: Ich schrieb dem Münchener offiziell – und das war in etwa die Vorlage, nach der wir solche Westbriefe zu beantworten hatten –, dass mich dieses Angebot sehr ehre, ich aber aus zeitlicher Belastung heraus nicht in der Lage sei, seinem Anliegen nachzukommen. Ich empfahl ihm aber, mit einer Münchener Kollegin in Kontakt zu treten, die könne ihm vielleicht weiterhelfen. Diese »Kollegin« war eine ehemalige Freundin aus Leipzig, Germanistin, zu der ich regelmäßigen Kontakt hatte. Der Zufall half mir insofern weiter, dass meine Amerikanerin aus Westberlin einige Tage danach zu Besuch kam, und die bat ich, die Münchener Freundin aufzuklären und ihr mitzuteilen, dass sie von mir eine

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4.13  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten in der DDR

Textkopie bekommen werde, die ich sie bitte, offiziell für mich zu korrigieren – so etwas ging damals noch ; aber im eigentlichen war das der Text, den sie abgeschrieben mit Pseudonym dem Münchener Arzt übermitteln sollte. Alles das funktionierte reibungslos. Und mein Text erschien auf Schallplatte unter dem Pseudonym »Christian Sachs«. Mit dem Geld konnte ich nicht nur wichtige Fachbücher erwerben, meine Familie hatte auch für einige Zeit regelmäßig Westkaffee zum Sonntagsfrühstück.

Das West-Interview Es war Anfang der 1970er Jahre, und der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West wurde bezüglich wissenschaftlicher Kontakte immer dichter. Hatte ich einige Jahre zuvor noch problemlos die Möglichkeit, in westlichen Fachzeitschriften zu veröffentlichen, so war das nunmehr unmöglich gemacht geworden. Da meldete sich eines Tages brieflich ein Fachjournalist aus der alten Bundesrepublik bei mir und teilte mir mit, dass er nach einjährig penetranten Versuchen, die sich schließlich auf höchster politischer Ebene abgespielt hatten, endlich die Genehmigung bekommen habe, mit mir in der Leipziger Klinik ein Fachinterview über mein musiktherapeutisches Konzept zu führen. Er habe vor, einige Rundfunkbeiträge über das neue Gebiet »Musiktherapie« zu gestalten. Kurz vor dem festliegenden Termin bekam ich einen kurzen, im Befehlston erfolgten Anruf von der Abteilung »des Inneren« der Universitätsleitung, dass ich eine bestimmte Person dieser Abteilung sofort anrufen sollte, falls der Journalist eingetroffen sei und sich nicht vorher – wie mit ihm vereinbart – in der Universitätsleitung eingefunden habe. Das Gespräch dürfe erst dann beginnen, wenn die Vertretung der Abteilung »des Inneren« anwesend sei. Es war ein Junitag, und genau zu der vereinbarten Zeit ging über Leipzig – wohl symbolhaft! – ein gewaltiges Gewitter nieder, und es klopfte an der Tür meines Arbeitszimmers, und vor mir stand der Journalist nass wie eine gebadete Maus. Es war der auch als Buchautor bekannte Claus Henning Bachmann. Er hatte tatsächlich am Hauptbahnhof ein Taxi erwischt und war wegen des Wetters unmittelbar hierher in die Karl-Tauchnitz-Straße gefahren. Als ich ihn etwas abgetrocknet und einen Kaffee gekocht hatte, rief ich bei den Inneren an und bekam ein zweites Gewitter, ein Wortgewitter, mit dem Vorwurf, ich hätte sofort anrufen sollen. Die Nöte, in denen mein Gast steckte, spielten dabei keine Rolle, auch nicht meine Argumente von Gastfreundschaft und entsprechend üblichen Sitten. Das Fachgespräch fand dann also unter gestrenger Kontrolle der Staatssicherheit statt. Claus Henning Bachmann, dessen Vater in Auschwitz umgekommen war, hatte sofort die Situation erfasst und sich darauf eingestellt. Und das Wunder geschah, dass wir uns durch die Blume alles sagen konnten trotz der Tatsache, dass wir uns nichts »Staatsgefährdendes« sagen durften. Einige Wochen später dann wurde in Leipziger Kreisen erzählt, dass der Schwabe nach dem Westen abgehauen sei; man habe ihn im Bayrischen Rundfunk und im Deutschlandfunk sprechen hören. Aus dieser Erstbegegnung mit Claus Henning Bachmann wurde eine Freundschaft, die bis heute besteht.

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4. Kapitel  |  1970–1979: Methodenentwicklung und Aufbau der stationären Versorgung

Kommunisten unter sich Ich war beschäftigt mit meiner Habilitationsschrift. Es war zu Beginn der 1970er Jahre. Bei einer Konsultation mit meinem Doktorvater Professor B. ging es um eine Textstelle, in der ich meine Chefin etwa wie folgt zitiert hatte: »Aus kommunistischer Sicht schreibt C. K.« Dort legte er den Finger hin, runzelte die Stirn und sagte: »Wollen Sie das wirklich so schreiben?« Ich erwiderte mit der Gegenfrage, was er da auszusetzen hätte; es sei doch so. Darauf die weitere Frage: »Und wenn es einmal andersherum kommt; wollen Sie das Ihrer Chefin antun?« Woher hatte Genosse Professor B. damals diese Weitsicht, frage ich mich heute.

4.13.3 Ilona Stoiber: »Sie dürfen arbeiten, aber leise« 1978 war ich von meiner Aufgabe als Leiterin einer Suchtberatungsstelle abgelöst worden, nachdem meine Weiterbildungsaktivitäten (u. a. beim Caritasverband) einem neuen, wohl unsicheren Ärztlichen Direktor zugetragen worden waren. Ich bekam einen Zettel überreicht: »Hiermit löse ich Sie ab wegen fehlendem Problembewusstsein für die politische Aufgabe [...] Unterschreiben Sie! Unterschreiben Sie!« Ich fügte wenigstens »zur Kenntnis genommen« hinzu. Da ich immer auch alkoholgefährdete oder abhängige Bürger mitbetreut habe, die über die Abteilung Innere Angelegenheiten des Stadtbezirks vermittelt wurden, konnte ich eine indirekte Rückinformation der Staatssicherheit erhalten, die ja heute für alles als schuldig hingestellt wird: »Wir wollten nur wissen, wer Sie sind. Wir haben nichts gegen Sie.« Seitens des Ministeriums für Gesundheitswesen wurde mir später der Empfang westdeutscher Fachliteratur offiziell bewilligt: »Sie dürfen arbeiten, aber leise.« Auf dem Gebiet der Sucht sollte man auch nicht laut arbeiten, wir stimmten völlig überein. Dafür durfte ich überraschend mit Professor Dr. Kaul (einer der bekanntesten Rechtsanwälte der DDR, der im Auftrag der DDR auch international tätig war, aber auch Ausreisewillige vertrat), den wir für unsere Sache gewinnen konnten, zum Ministerium für Gesundheitswesen der DDR kommen. (Er rief schon aus der oberen Etage, während ich vom Pförtner erfasst wurde. Die Kontrolle war aber nicht schlimmer als später die im Gebäude der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte.) Es ging um die Anerkennung der Selbsthilfegruppen, die nicht als offizielle Gesellschaften oder Vereine eingetragen waren. Sie sollten formal den Einrichtungen des Gesundheitswesens, Fachkrankenhäusern oder Beratungsstellen zugeordnet werden, um sicher arbeiten zu können. Ich habe danach von keiner Behinderung der Arbeit der Selbsthilfegruppen gehört, auch nicht dort, wo Kirchen ihnen Raum gaben. Die Öffnung für die Problematik erfolgte ebenfalls »leise« und seriös. Abstinente Alkoholkranke wurden ­vereinzelt auch als Mitarbeiter in den Gesundheitseinrichtungen eingestellt, sie leiteten sog. Klubs und Gruppen und betreuten Betroffene. Mir persönlich legten Mitarbeiter des Ministeriums für Sicherheit keine Steine in den Weg, eher gewann ich den Eindruck, dass es einige wenige missgünstige Kollegen waren, auch wenn ich mit der Mehrheit zu dieser Zeit hervorragend zusammenarbeiten konnte. Von vorgesetzten Dienststellen erfuhr ich zunehmend wohlwollende Unterstützung, bis zur Wende auch von der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen des Stadtbezirks Berlin-Treptow.

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5. Kapitel

1980–1989: Wege der Emanzipation

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5.1  Überblick

5.1

Michael Geyer: Überblick

Der Zeitabschnitt zwischen 1980 und 1989 bringt bis dahin ungeahnte politische und wirtschaftliche Veränderungen, die schließlich zur Revolution bzw. Wende und zur Wiedervereinigung Deutschlands führen. 1980 glaubt zwar noch niemand, die DDR könnte in den kommenden zehn Jahren von der Bildfläche verschwinden, aber im gesamten Ostblock bestimmt das Drängen der Menschen auf Reformen zunehmend die Tagesordnung, seien sie westlich oder sozialistisch orientiert. In Polen wird im Sommer 1980 die Staatsmacht vorgeführt, halten die polnischen Arbeiter die ganze Welt in Atem. Eine an traditionellen Werten orientierte Bewegung, die Solidarnoćś-Gewerkschaft, stellt den Machtanspruch der kommunistischen Parteien im gesamten Ostblock in Frage. Es entsteht in Polen ein merkwürdiges Gleichgewicht der Kräfte. Jedenfalls gelingt es dem Regime nicht mehr, die gewohnte Kontrolle über das Land zu erringen. Zu dieser Revolte von unten kommt Mitte der 1980er Jahre in der Sowjetunion eine Reformbewegung von oben. Michail Gorbatschow, ein junges Mitglied des Politbüros der KPdSU, kommt an die Macht, bringt dem Land »Glasnost« und »Perestroika« und verändert die Welt. Die eiserne Klammer, die das sowjetische Machtgebiet zusammengehalten hat, öffnet sich ab Mitte der 1980er Jahr immer mehr. Das Ende der kommunistischen Diktatur im ganzen Ostblock kündigt sich an. Die Führung der DDR aber bleibt bis zu ihrem Ende veränderungsresistent. Das politische Klima verändert sich zu Beginn der 1980er Jahre auch in der DDR. Trotz sofort einsetzender Reisebeschränkungen für DDR-Bürger nach Polen bereits im Sommer 1980 sind die Psychotherapeuten über die polnischen Kolleginnen und Kollegen, die nach wie vor in die DDR kommen, hautnah angeschlossen an die Vorgänge dort. Bis auf Stefan Leder, jüdisch-polnischer Emigrant im Zweiten Weltkrieg und überzeugter Kommunist, sind die Mehrzahl der polnischen Kollegen der Solidarnoćś verbunden. Auch die ungarischen Kollegen, die der Psychoanalyse nahestehen, orientieren sich inzwischen offen nach Westen und suchen und finden Anschluss zur International Psychoanalytic Association (IPA), bald mit einem offiziellen provisorischen Mitgliedsstatus. Die Tschechen und Polen sind ebenfalls auf diesem Weg. Alle drei bekommen im Verlauf der 1980er Jahre mindestens den Status einer provisorischen Mitgliedschaft in der IPA. Das von der GÄP ausgerichtete Symposium sozialistischer Länder 1982 in Potsdam kann nur mühsam die Konflikte zwischen konservativen sowjetischen Kollegen und den vorwiegend westlich orientierten Polen, Ungarn und Ostdeutschen überbrücken. Den folgenden Veranstaltungen in dieser Dekade gelingt dies kaum noch. Es entsteht ein merkwürdiges Klima in der DDR. Kaum noch jemand will die Zustände tolerieren, aber niemand glaubt an Veränderungen von oben. Die Menschen lassen sich zunehmend weniger einschüchtern. Auch die DDR-Psychotherapeuten lassen sich immer weniger einschränken. Ohne offizielle Genehmigung werden Kontakte in den Westen geknüpft. Gruppierungen ohne besonderen Status in der GÄP wie die AG Katathymes Bilderleben, von Heinz Hennig, Universität Halle organisiert, nutzen die Möglichkeiten der irgendwie noch gesamtdeutschen Gesellschaft der Naturforscher »Leopoldina« und suchen und finden 1980 Kontakt im Westen. Der 1982 gewählte Vorstand der GÄP enthält neben mir als Vorsitzenden und Werner König und Jürgen Ott als Stellvertretern mit Ernst Peper, Gerda Jun, Elfriede Kriegel, Wer-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

ner Dummer, Johannes Helm und Kurt Höck allesamt Personen, die entweder fachlich-wissenschaftlich westlich orientiert, zumindest aber ohne ideologische Engstellungen und Denkbehinderungen sind. Sie tragen die in den folgenden Jahren anstehenden politisch zum Teil hochproblematischen Unternehmungen des Vorstandes in jeder Weise loyal mit. Mit Hilfe dieses Vorstandes versuche ich, die Beziehungen zur westlichen wissenschaftlichen Welt möglichst strukturell zu verankern. Bereits 1984 gelingt es mit Hilfe der International Federation for Medical Psychotherapy (IFP), eine kleine internationale Tagung mit je 30 Kolleginnen und Kollegen aus westlichen und östlichen Ländern als »Erweiterte Sitzung der Präsidiums der IFP« zu organisieren, zu dem der geschäftsführende Vorstand der DGPT unter Führung seines damaligen Vorsitzenden Carl Nedelmann (Nedelmann 2000) eingeladen werden kann. Damit beginnt unter den misstrauischen Blicken der Aufsichtsbehörde und der Stasi (} Abschnitte 5.11.1 und 5.12.2) das Zusammenwachsen der ost- und westdeutschen analytisch orientierten Psychotherapeuten. Auf breiterer Ebene aller wissenschaftlichen Methoden wird dieser Prozess durch die »vorgezogene Wiedervereinigung der Psychotherapeuten« fortgesetzt, einer Veranstaltung mit mehr als 250 westdeutschen Teilnehmern 1987 in Erfurt. Im gleichen Jahr wird mit meiner Wahl als einem Psychotherapeuten aus der DDR zum Generalsekretär der IFP endlich auch die Reisetätigkeit des Vorstandes in westliche Länder erleichtert. Werner König und ich können in Wien mit Harald Leupold-Löwenthal Möglichkeiten der Beziehungsaufnahme zur IPA eruieren. Es stellt sich heraus, dass dieser Weg trotz Vermittlung von Leupold-Löwenthal für den IPA-Vorstand nicht offen steht (»Kommunisten sind schon schlimm genug, aber deutsche Kommunisten, das ist zu viel«). 1987 gelingt es nach mehrjährigen zähen Bemühungen, den Weiterbildungsgang »Qualifizierung in Psychotherapie für Fachärzte klinischer Disziplinen« auch offiziell zu etablieren. Die Ähnlichkeit mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie ist eklatant (entsprechend einfach ist 1990 die Übernahme der bundesdeutschen Weiterbildungsordnung in diesem Punkt). Mitte der 1980er Jahre intensivieren sich auf allen Ebenen die Beziehungen zu westdeutschen Psychotherapeuten. In der DDR illegale Kooperationen sogar mit Einbeziehung der DFG entstehen (z. B. in Leipzig mit Horst Kächele, Ulm, Rainer Krause, Saarbrücken, Elmar Brähler, Gießen, Wolfgang Senf, Heidelberg). Die GÄP veranstaltet den mit 1200 Teilnehmern größten und inhaltlich spannendsten Kongress ihrer Geschichte in Berlin und verändert gegen erheblichen Widerstand und ohne Genehmigung von »oben« ihren Namen in »Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie« (GPPMP). Die Beiträge legen die Probleme der Medizin, aber insbesondere die einer Gesellschaft bloß, die nur durch durchgreifende politische Reformen stabilisiert werden könnte. Die Mitglieder üben demokratische Formen der Auseinandersetzung und wollen Verantwortung übernehmen. Der neue Vorstand hat 20 Mitglieder. Das ein halbes Jahr später von der GÄP mitveranstaltete Symposium aus Anlass des 50. Todestages Freuds im Juli 1989 nimmt keinerlei politische Rücksicht mehr. Die Spitzelprotokolle der Stasi (IM »Fred Wolke«) fordern harte Konsequenzen für einzelne Vorstandsmitglieder (Maaz und Geyer). Die geschichtlichen Abläufe lassen dies aber nicht zu. Die im letzten Abschnitt dieses Kapitels zu lesenden persönlichen Berichte über das Erleben dieses Zeitabschnittes dokumentieren den wachsenden Mut der Psychotherapeuten,

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5.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1980–1989

sich über Einschränkungen hinwegzusetzen, aber auch die Rolle der Regionalgesellschaften als stützender Rückhalt und Ort kollegialer Solidarität. Die Wende ist nach der Leipziger Demonstration am 9. Oktober 1989 auch in der GPPMP nicht mehr aufzuhalten. Bereits in den letzten Monaten des Jahres 1989 werden die Weichen für tiefgreifende strukturelle Veränderungen der Fachgesellschaft gestellt.

5.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1980–1989 1980 Januar: Die Psychotherapie-Abteilung am Haus der Gesundheit Berlin wird mit ihren Untergliederungen Klinik Hirschgarten, Ambulanz und Forschungsabteilung in »Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung« (IfPN) umbenannt. 07. Mai: Auf der Vorstandsitzung der GÄP referiert der Neurologe Prof. Dr. Schulze, Redakteur der Zeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie«, die auch das Organ der GÄP ist, dass die Zeitschrift 2050 feste Bezieher hat, darunter 567 aus den sozialistischen und 186 aus nichtsozialistischen Ländern. Die Beihefte der Zeitschrift, meist wissenschaftliche Monographien, sind bis drei Jahre im Voraus geplant. 90 Manuskripte liegen zum Druck bereit. 21./22. Mai: In Berlin wird aus Anlass des 65. Geburtstages Alfred Katzensteins ein Symposium mit internationaler Beteiligung »Stellung und Aufgaben der Psychotherapie im sozialistischen Gesundheitsschutz« veranstaltet. Die führenden Fachvertreter der Psychotherapie verdeutlichen unter den aufmerksamen Blicken des Gesundheitsministers und des Leiters der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK der SED die mögliche Rolle der Psychotherapie in der Breite der Medizin. 06.–12. Juli: An der Karl-Marx-Universität Leipzig findet der 22. Welt-Kongress für Psychologie aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des ersten psychologischen Laboratoriums in Deutschland durch Wilhelm Wundt in Leipzig unter Leitung von Friedhart Klix statt. Der internationale Erfolg des Kongresses führt in der DDR zu einer Aufwertung der nach wie vor politisch misstrauisch betrachteten Psychologie. Heinz Hennig nimmt Kontakt zum Begründer des Katathymen Bilderlebens, Hanscarl Leuner, in Göttingen und zur Internationalen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben auf. Beginn der systematischen Ausbildung mit Theorieseminaren und Selbsterfahrungskursen im Katathymen Bilderleben in der DDR. August: Die erfolgreiche Solidarność-Bewegung in Polen stellt den Machtanspruch der kommunistischen Parteien im gesamten Ostblock in Frage. Für DDR-Bürger wird die Einreise in die Volksrepublik Polen praktisch unmöglich. Das Buch »Psychotherapie – Integration und Spezialisierung« von Helga Hess, Werner König und Jürgen Ott erscheint im Gustav Fischer Verlag Jena. Es enthält alle wesentlichen Positionen und Zielstellungen der Psychotherapeuten für die nächsten Jahre, insbe-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

sondere das gestufte System der psychotherapeutischen Aus-, Weiter- und Fortbildung und der Versorgung sowie die dazu erforderlichen Institutionalisierungen.

1981 Der Vorstand der GÄP beschließt die Überführung der Thematischen Arbeitsgruppen »Gesprächspsychotherapie« und »Verhaltenstherapie« in Sektionen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Dieser Beschluss bedarf der Bestätigung der Mitgliederversammlung, die dies im März 1982 tun wird. 01. Januar: Dem Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung (IfPN) am Haus der Gesundheit Berlin unter Federführung von Kurt Höck und Helga Hess wird das Teilprojekt »Differentielle Untersuchungen zur Gruppenpsychotherapie« des Forschungsprojektes »Psychonervale Störungen« des Gesundheitsministeriums im Zeitraum 1981–1985 übertragen. Januar: Beginn der Schriftenreihe »Psychotherapie und Grenzgebiete« im Leipziger BarthVerlag. Als Herausgeber fungieren Kurt Höck (als Vertreter der Klinischen Medizin und Psychosomatik), Jürgen Ott (als Psychotherapeut und Psychiater) und Manfred Vorwerg (als Sozialpsychologe und Verhaltenstrainer in der Wirtschaft). Bis 1991 erscheinen jährlich Bände unter wechselnder Herausgeberschaft. Eine eigentlich beabsichtigte Integration der drei durch die Herausgeber verkörperten Bereiche findet nur in Ansätzen statt. Der letzte Band 11 »Soziale Beziehung und Krankheit« wird 1991 von Helga Hess in der Nachfolge von Höck, der in Pension gegangen ist, herausgegeben, nachdem Ott bereits 1986 in den Westen ausgereist ist und Vorwerg verstorben ist. 01. April: Die gesetzliche Regelung zur Einführung des »Fachpsychologen (in) der Medizin« tritt nach jahrelangen Bemühungen endlich in Kraft. Sie sieht eine vier- bis fünfährige berufsbegleitende Weiterbildung vor. Die Weiterbildung ist dem Facharzt gleichgestellt. Auch die Bezahlung ist gleich. Rechtsträger ist für beide Weiterbildungen die Akademie für Ärztliche Fortbildung Berlin. Vorsitzender der zentralen Fachkommission wird der Rostocker Prof. Dr. Hans-Dieter Rösler (Der Titel des Gesetzes: »Anweisung über das postgraduale Studium für naturwissenschaftliche und technische Hochschulkader sowie Diplom-Psychologen und Diplom-Soziologen im Gesundheitswesen vom 1. April 1981; Verfügungen und Mitteilungen des Ministeriums für Gesundheitswesen, Nr. 4, S. 57«). In der Realität hat die vier- bis fünfjährige berufsbegleitende postgraduale Weiterbildung für Diplom-Psychologen im Gesundheits- und Sozialwesen zum »Fachpsychologen (in) der Medizin« bereits vor dem Inkrafttreten begonnen. 07.–08. Mai: Tagung zum 125. Geburtstag von Sigmund Freud in Bernburg mit dem Thema »Die historische Stellung und die gegenwärtige Funktion der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse im Prozess der Formierung einer wissenschaftlich fun­ dierten Psychotherapie«. Achim Thom formuliert im Eröffnungsvortrag, an Freud vorbeizugehen »wäre nicht nur Ignoranz in höchstem Maße – wir würden uns damit dem unverzeihlichen Vorwurf aussetzen müssen, einen Schritt der Entwicklung der Menschheitskultur nicht mitgegangen zu sein«. Unter dem Pseudonym Sibylle Muthesius erscheint mit einem Vorwort von Kurt Höck das Buch: »Flucht in die Wolken«. Die Autorin zeichnet die Lebensgeschichte ihrer Tochter

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5.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1980–1989

nach, die sich 18-jährig das Leben nahm, und schildert in bewegender Weise die Zustände in der Psychiatrie der DDR in den 1970er Jahren. In Ostberlin wird das »Psychodiagnostische Zentrum« (PDZ) in der DDR gegründet. Von 1981 bis 1990 werden 28 psychodiagnostische Verfahren produziert. 03. Juni: Vorstandsitzung der GÄP: Die Namensänderung der Gesellschaft wird nochmals von Geyer thematisiert. Es zeigt sich jedoch, dass der Vorstand keinen einheitlichen Standpunkt vertreten wird. Gründung der Regionalgesellschaft der Nordbezirke (Neubrandenburg, Rostock, Schwerin, Vorsitzender: G. Brandenburg). Die Regionalgesellschaft hat etwa 100 Mitglieder.

1982 02.–04. März: 10. Jahreskongress der GÄP mit internationaler Beteiligung in Erfurt. 1. Tag: Leitung Geyer: Biosoziale Dialektik in der Ätiopathogenese, 2. Tag: Leitung Ott: Biosoziale Dialektik in Diagnostik und Therapie. 3. Tag: Leitung König: Historische und aktuelle Erfahrungen bei der Integration psychotherapeutischen Handelns in die Medizin.40 Mitgliederversammlung der GÄP: Im Rechenschaftsbericht des scheidenden Vorsitzenden werden folgende Zahlen genannt: Die GÄP hat 1347 Mitglieder. Es existieren 14 Regionalgesellschaften mit folgender Mitgliederzahl: Berlin (277), Dresden (132), Halle (127), Leipzig (115), Erfurt (112), Nordbezirke/heutiges Mecklenburg-Vorpommern (109), Potsdam (108), Karl-Marx-Stadt (81), Gera (65), Frankfurt/Oder (46), Suhl (37),Cottbus (25), Wismut (17). Der Kontostand beträgt 26.620,72 Mark. Die Mitglieder stimmen folgender Veränderung der Binnenstruktur der GÄP zu: Aus den Arbeitsgemeinschaften gleichen Namens entstehen folgende Sektionen: Sektion Gesprächpsychotherapie, ­Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie, Sektion Verhaltenstherapie. Die bisherige Sektion Klinische/Medizinische Psychologie wird in Sektion Psychologie in der Medizin

40 ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Im Verlauf des Kongresses kommt es zu einem Zwischenfall, der später als ein Beispiel für die Unvereinbarkeit von Psychoanalyse und DDR-Gesellschaft in die Literatur eingeht (Simon 2010, S. 103 ff.): Der Vorgesetzte einer Teilnehmerin, die u. a. die Kasuistik »Injektion als Bestrafung« als Vortrag angemeldet hatte, der auch bereits zum Kongress in Kurzform in gedruckter Form in den Kongressmaterialien vorliegt (Noack 1982, S. 58), droht der Kongressleitung mit juristischen Konsequenzen für den Fall, dass der Vortrag ohne seine Genehmigung (die er als Klinikchef verweigert hatte) gehalten werde. Es wird in dem Schreiben keinerlei inhaltliche, sondern lediglich die formale Begründung (der Vorgesetzte muss den Vortrag seiner Mitarbeiterin genehmigen!) gegeben. Daraufhin wird der Teilnehmerin mitgeteilt, dass sie ihren Vortrag nur außerhalb der Verantwortung der Kongressleitung halten dürfte (d. h., alle würden die Augen schließen), da wegen der Drohung ihres Vorgesetzten ihr die Kongressleitung nach allen international üblichen Kriterien nicht offiziell gestatten dürfte, den Vortrag zu halten. Die Teilnehmerin hält den Vortrag und es gibt anschließend keine gerichtlichen Auseinandersetzungen mit der Kongressleitung oder sonstige ernsthafte Konsequenzen für die Vortragende. Ob ausgerechnet dieser Fall als Beispiel für die Unvereinbarkeit der Psychoanalyse mit staatlicher Repression oder nicht eher als typischer Konflikt zwischen einem autoritären Chef und einer sich nicht unterordnenden Mitarbeiterin gesehen werden kann, sei dahingestellt. Übrigens begann der Vortrag mit einem keineswegs ironisch gemeinten Zitat von Karl Marx (Noack 1982, S. 58).

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

umbenannt. Die Sektion Musiktherapie integriert die entsprechenden Arbeitsgemeinschaften und heißt jetzt Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung. Es wird folgender neuer Vorstand gewählt: Vorsitzender: Michael Geyer; Stellv. Vors. für Aus-, Weiter- und Fortbildung: Ott, Berlin; Stellv. Vors. für Wissenschaft und Forschung: König, Berlin; Stellv. Vors. für Information: Peper, Königsbrück; Sekretär: Jun, Berlin; Schatzmeister: Kriegel, Berlin; ferner: Dummer, Berlin; Eichhorn, Uckermünde (Regionalarbeit); Helm, Berlin; Höck, Berlin; Szewczyk, Berlin; Weise, Leipzig; Kleinpeter, Rostock. Revisor: Crodel, Halle. Franz Fühmann und Dietrich Simon geben Freuds »Trauer und Melancholie« in Form von sieben gekürzten Texten als Essaysammlung im Verlag Volk und Welt heraus. 23. März: Dr. Rohland, Parteisekretär des Gesundheitsministeriums und Chef des Generalsekretariats der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR, schreibt einen Brief an den gerade gewählten Vorsitzenden, in dem er ihn auffordert, die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder unter verschiedenen Aspekten zu bewerten und Lösungen für die problematischen Fragen dieser Zusammenarbeit zu nennen, z. B. warum gemeinsame Forschungen nicht funktionieren oder international keine gemeinsame Position gefunden wird. Der Vorsitzende Geyer begreift das als Einschüchterungsversuch und beantwortet diesen Brief mit bürokratischen und allgemeinen Floskeln. Von diesem Zeitpunkt an unterlässt Dr. Rohland das Schreiben solcher Anfragen. 08. Juni: Konstituierende Sitzung des Vorstandes der zu bildenden Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie unter Leitung von Harro Wendt. Den Vorstand bilden Heinz Kerber, Helmut Kulawik, Hans-Joachim Maaz, Infrid Tögel und Gudrun Tscharntke. 26.–29. Oktober: IV. Symposium der Psychotherapeuten sozialistischer Länder in Potsdam. Es gibt erstmalig heftigen Streit zwischen den ungarischen Kollegen, insbesondere Hidas, und den sowjetischen Delegierten Tschurkin, Roshnov und Kabanow über das Verhältnis zur Psychoanalyse. Die polnischen und ostdeutschen Psychotherapeuten verhindern eine Verurteilung der Psychoanalyse. Sie geht als eine mögliche Therapieform in das Abschlusskommuniqué ein. Nur mühsam einigen sich die Delegierten über die »Potsdamer Empfehlungen an die Gesundheitsministerien der sozialistischen Länder«, die eine verbesserte Institutionalisierung der Psychotherapie fordern. In Jena findet eine internationale William-Preyer-Tagung statt. Im Jahr 1882 erschien von Preyer »Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistigen Entwicklungen des Menschen in den ersten Lebensjahren«. Das Buch gilt als ein Meilenstein der Entwicklungspsychologie. 08.–11. November: 1. wissenschaftliche Tagung zur Gesprächspsychotherapie in Ahrenshoop Dezember: Ein Psychotherapeut der Berliner Charité gibt sich als Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit den Namen »Sigmund Freud«.

1983 11.–14. Januar: In Leipzig findet unter dem Vorsitz des Vorsitzenden der Gesellschaft für Psychologie der DDR, Kossakowski, mit 1200 Teilnehmern der sechste Kongress der

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5.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1980–1989

»Gesellschaft für Psychologie der DDR« statt. Das Motto: »Psychologie für die gesellschaftliche Praxis«. 25. Februar: Erste Arbeitstagung der Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie zum Thema »Psychotherapeutische Traumbearbeitung« mit 350 Teilnehmern (Publikation s. Wendt 1985). 08. Juni: Auf der Vorstandssitzung der GÄP wird die Bildung interdisziplinärer Arbeitsgruppen zunächst zwischen medizinischen Fachgesellschaften der Allgemeinmedizin, Innerer Medizin, Pädiatrie, Gynäkologie und Geburtshilfe und Zahnmedizin und der GÄP beschlossen. Das Buch von Helmut Kulawik »Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen und Funktionsstörungen« erscheint im Jenaer Gustav Fischer Verlag. 09. Dezember: Ehrig Wartegg (geb. am 7.7.1897 in Dresden) stirbt. Der Psychologe und Psychotherapeut Ehrig Wartegg hat den Phantasie-Test des Ganzheitspsychologen Friedrich Sander weiterentwickelt. Der von ihm entwickelte und 1937 veröffentlichte ZeichenTest wird bis heute »Wartegg-Zeichen-Test« genannt. Acht quadratische Bilder, in denen sich nur kleinere Zeichen (z. B. Strich, Bogen Quadrat usw.) befinden, sollen vom Probanden zu ganzen Bildern ausgearbeitet werden. Nach Wartegg sollen diese Zeichnungen Schlüsse auf das Schichtprofil der Persönlichkeit ermöglichen (s. a. Petzold 2000). Es erscheint: Frohburg, I. (Hrsg.) (1983). Forschung und Praxis in der Gesprächspsycho­ therapie. Berlin: Gesellschaft für Psychologie der DDR. Es erscheint: Helm, J., Bergin, A. E. (Eds.) (1983). Therapeutic Behavior Modification. ­Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.

1984 19.–23. März: Erster Weiterbildungskurs in der Dynamischen Einzelpsychotherapie. Thema: Psychodynamisch orientierte Exploration. In der Folge finden unter der Leitung von Achim Maaz jährlich zwei Kurse mit je 40 Teilnehmern in der Dynamischen Einzelpsychotherapie statt, die Theorie, Methodik und Technik analytischer Fokaltherapie mit Supervision und fallbezogener Selbsterfahrung vermitteln. (Insgesamt werden in den folgenden 20 Jahren 34 Grundkurse, 29 Aufbaukurse und 30 Supervisionskurse mit 435 Teilnehmern durchgeführt.) Juli: In Szeged, Ungarn, findet eine Begegnung von Ost- und Westeuropäischen Psychologinnen und Psychologen statt, auch Carl Rogers ist anwesend. Hans R. Böttcher wird aus der SED ausgeschlossen und führt dies auf sein nicht offiziell genehmigtes Treffen mit Carl Rogers in Szeged/Ungarn zurück (Busse 1996). 10.–12. Oktober: Internationales Psychotherapie-Symposium in Dresden als »Erweiterte Sitzung des Vorstandes der International Federation für Medical Psychotherapie (IFP)«. Thema: Vergleich des Forschungsstandes zwischen sozialistischen und westeuropäischen Ländern auf den Gebieten der Medizinethik, der Klassifikation und der Therapieindikation. Aus dem Westen reist der geschäftsführende DGPT-Vorstand unter Führung des Vorsitzenden Carl Nedelmann an (} Abschnitt 5.10.1). Es beginnen freundschaftliche Beziehungen zwischen Michael Geyer und Carl Nedelmann (Hamburg), Wolfgang Senf

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(damals Heidelberg, später Essen) und Elmar Brähler (damals Gießen, nach der Wende Leipzig). Das Aufgebot der Stasi ist immens (} Abschnitt 5.12.2). Helmut Kulawik publiziert in der Reihe »Beiträge zur Klinischen Neurologie und Psychiatrie« (hrsg. von K. Seidel) seine »Psychodynamische Kurztherapie« (Leipzig: Thieme 1984). Oktober: Christa Wolf hält auf einer Tagung der Arbeitsgruppe für Psychosomatische Gynäkologie, von Paul Franke eingeladen, den Vortrag »Krankheit und Liebesentzug – Fragen an die psychosomatische Medizin«. Inge Frohburg führt einen Ausbildungskursus zur Gesprächspsychotherapie am BechterewInstitut in Leningrad durch.

1985 März: Die Ära Gorbaschow beginnt (»Perestroika« = Umgestaltung und »Glasnost« = Informationsfreiheit). 26.–28. März: 11. Psychotherapiekongress der GÄP mit internatonaler Beteiligung in Neubrandenburg zum 25. Jahrestag der Gründung der GÄP. 300 Teilnehmer. Auf der Mitgliederversammlung der GÄP wird folgender neuer Vorstand gewählt: 1. Vorsitzender: Geyer, Leipzig; Stellv. Vors. für Psychotherapie: König, Berlin; Stellv. Vors. für Medizinische Psychologie: Szewczyk, Berlin; Stellv. Vors. für Information: Peper, Königsbrück; Sekretär: Goletz, Berlin; Schatzmeister: Kriegel, Berlin; Beauftragter für Regionalarbeit: Eichhorn, Uckermünde; Beauftragte für Forschung: Hess, Berlin; Beauftragter der Zentralen Fachkommission Psychotherapie der Akademie für Ärztliche Weiterbildung der DDR: Höck, Berlin; Beauftragter der Zentralen Fachkommission Fachpsychologie der Akademie für Ärztliche Weiterbildung der DDR: Göth, Bernburg. Mai: Es erscheint das Buch von Michael Geyer »Das ärztliche Gespräch. Allgemeinpsychotherapeutische Strategien und Techniken« für Hausärzte und Allgemeinmediziner, das ein Verständnis der Patient-Arzt-Kommunikation auf psychoanalytischer Grundlage anzielt und Basisvariablen der Gesprächspsychotherapie methodisch einbezieht. Es ist nach wenigen Wochen vergriffen (2. Auflage erst zur Wende). Juni: In der Reihe »Beiträge zur Klinischen Neurologie und Psychiatrie« (hrsg. von K. Seidel) erscheint die Aufsatzsammlung »Traumbearbeitung« (hrsg. von Harro Wendt. Leipzig: Thieme), in der psychoanalytische und daseinsanalytische Ansätze der Traumbearbeitung referiert werden. Juni: Michael Geyer gelingt es, Horst Kächele (Ulm) an die Karl-Marx-Universität Leipzig zu einem Vortrag und Workshop zum Thema »Psychoanalyse heute« einzuladen. Von da an gab es einen intensiven wechselseitigen Austausch von Personen und Materialien, der sich über alle damals existierenden Verbote und Hindernisse hinwegsetzt. Noch im gleichen Jahr können an interessierte Kollegen 50 Exemplare des gerade erschienenen und von Kächele in den Osten geschmuggelten 1. Bandes des Lehrbuchs von Thomä und Kächele »Lehrbuch der Psychoanalytischen Psychotherapie« (Springer-Verlag), verteilt werden. Kächele kommt von nun an jährlich nach Leipzig zu Vorträgen auch im privaten Rahmen und Seminaren.

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14.–17. Oktober: V. Symposium der Psychotherapeuten sozialistischer Länder in Budapest.41 Teilnehmer: sechs Delegationen aus der UdSSR, Bulgarien, ČSSR, Polen, Ungarn und der DDR (Geyer, König) sowie zwei Beobachterdelegationen aus Kuba und Jugoslawien. Zwischen der sowjetischen und der ungarischen Delegation eskalieren die bereits 1982 bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die Notwendigkeit einer westlichen Orientierung der Psychotherapie. Die Russen werden sehr laut. Polen, Deutsche und Tschechoslowaken sind auf Seite der Ungarn. György Hidas (Ungarn) wird zum neuen Sekretär der Arbeitsgruppe sozialistischer Länder gewählt (der damals für sein Land bereits die provisorische Mitgliedschaft in der International Psychoanalytic Association erreicht hatte).

41 �������������������������������������������������������������������������������������������������������������� Der offizielle Bericht weicht so weit von der Realität ab, dass er ein Paradebeispiel für verfälschte Berichterstattung in den Vorstandsakten ist. In einer bekannten psychotherapiegeschichtlichen Publikation (Bernhardt u. Lockot 2000, S. 403) wird aus den Akten über das V. Symposium der Psychotherapeuten der sozialistischen Län­der in Budapest vom 14.–17. Oktober 1985, also vier Jahre vor der Wende, zitiert: »6 Delegationen aus der UdSSR, Bulgarien, ČSSR, Polen, Ungarn und der DDR, sowie 2 Beobachterdelegationen aus Kuba und Jugoslawien. Neuer Sekretär wird György Hidas/Ungarn. Fazit: Das so­wjetische psychotherapeutische Betreuungs- und Forschungsmodell ist für die DDR nachahmenswert. Kluft zwischen ›gediegener Praxis und Wissenschaftstheorie‹ in der DDR, internationale Trends bei Ausbildungsforschung (Balint-Gruppen) und Therapieprozessforschung soll mehr Beachtung finden.« Klar wird einem mit dieser Art der Berichterstattung unvertrauten Leser nur, dass der Vorstand unserer Gesellschaft nichts lieber hätte, als die Verhältnisse der Sowjetunion zu übernehmen. Genau das Gegenteil wurde dort aber diskutiert und beschlossen. In Wirklichkeit kam es auf dieser Veranstaltung zu nie dagewesenen offenen und rauen politischen und fachpolitischen Auseinandersetzungen mit der sowjetischen Delegation. Sie begannen zwischen den sowjetischen und der ungarischen Kollegen über die Notwendigkeit einer westlichen Orientierung der Psychotherapie und brachte Polen, Deutsche und Tschechoslowaken auf die Seite der Ungarn. Nicht zuletzt durch die Position der DDR-Teilnehmer wurde dieser Streit zugunsten der Position der Ungarn entschieden, was auch zur Wahl von Hidas zum neuen Sekretär der Arbeitsgruppe sozialistischer Länder führte (der damals für sein Land die provisorische Mitgliedschaft in der International Psychoanalytic Association erreicht hatte). Die Mitarbeiter des Generalsekretariats Medizinisch-wissenschaftlicher Gesellschaften als Aufsichtsbehörde auch unserer Gesellschaft wussten um diesen Sachverhalt. Sie beschworen jedoch den Berichterstatter, diese Ereignisse herunterzuspielen, da im anderen Fall unendliche Untersuchungen und Probleme zu erwarten waren, die wiederum von den Vorgesetzten dieser Leute ausgingen. Wer, wie der Autor, dabei war, identifiziert den ersten Satz des zitierten Protokolls eindeutig als eher bedeutungsarme Nachricht an die DDR-Obrigkeit, die zu diesem Zeitpunkt nur noch den Anspruch hatte, es möge keine offenen Abweichungen von der Parteilinie geben, die wiederum die Genossen vom Generalsekretariat in Schwierigkeiten gebracht hätten. Auch der letzte Mitarbeiter des Ministeriums für Gesundheitswesen konnte einen solchen Satz einordnen als die Verlautbarung: »Ihr seht, wir tun wenigstens so, als ob wir auf Linie wären!« Dies war insofern an dieser Stelle notwendig, als der nächste Satz den ersten konterkarierte. Der bedeutete nämlich für den, der es verstehen konnte (aber im Fall des Generalsekretariats zur Vermeidung von Problemen eher nicht verstehen wollte): »Wir sind es überdrüssig, ständig so zu tun, als ob wir etwas anderes tun, als wir es tätsächlich machen« (gemeint war das Gebiet der psychodynamischen Psychotherapie), und: »Wir wollen mehr Zugang zur westlichen Praxis und Forschung«. Der Klartext wurde tatsächlich von uns in Budapest und oft auch später noch gesprochen, aber in schriftlicher Form erschien er erst im offiziellen Text des Hauptvortrages (Geyer, König, Maaz u. Seidler 1989c) auf dem Symposium zum 50. Todestag Sigmund Freuds in Leipzig einige Monate vor der Wende sowie im Stasiprotokoll der dortigen Vorstandsitzung.

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Inge Frohburg verteidigt ihre Habilitation an der Humboldt-Universität zu Berlin zur Gesprächspsychotherapie-Ausbildung. 30. Oktober: Hanscarl Leuner ist erstmals Gast in der DDR und hält an der Universitäts­ nervenklinik Halle Referate und Seminare zum Katathymen Bilderleben.

1986 01. Januar: Zum letzten Mal wird in der DDR das Forschungsprojekt »Psychonervale Störungen« für den Zeitraum bis 1990 mit mehreren Teilprojekten für die Psychotherapie­ forschung mit Schwerpunkten am Haus der Gesundheit (Höck) und der Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung an der Karl-Marx-Universität (Geyer) in Gang gesetzt. Ausdruck des ökonomischen Niedergangs der DDR ist nicht zuletzt die Tatsache, dass bis zur Wende praktisch keine bewilligten Forschungsmittel mehr in die forschenden Einrichtungen fließen. 14.–16.April: 2. wissenschaftliche Tagung zur Gesprächspsychotherapie in Leipzig mit 500 Teilnehmern. 29.–30. April: Erweiterte Vorstandssitzung der GÄP. Themen: a) Obwohl die Weiterbildung zum »DDR-Zusatztitel Psychotherapie« noch nicht offiziell in der Weiterbildungsordnung verankert ist, erlaubt die Akademie für Ärztliche Fortbildung die Durchführung zentraler Lehrgänge mit dem Ziel der Anerkennung der Qualifizierung. Die Lehrgänge »fachspezifische Qualifizierung« finden in Ziegenhals statt. b) Es wird ein Vorschlag für die disziplinäre Gliederung des Fachgebietes Psychotherapie diskutiert: 1. Ebene: Facharzt für Psychotherapie, 2. Ebene: »fachspezifische Qualifizierung« (Zusatztitel), 3. Ebene: Psychosomatische Grundbetreuung, 4. Ebene: Psychoprophylaxe. Eine AG ­Psychoprophylaxe unter Leitung Härtwigs (Leipzig) wird gegründet. c) Die Bildung interdisziplinärer Arbeitsgemeinschaften macht Fortschritte. Es gibt gute Beziehungen zu den Fächern Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Pädiatrie, Gynäkologie und Zahnmedizin. In diesen Fächern werden Psychotherapeuten regelmäßig zur Mitgestaltung der wissenschaftlichen Kongresse eingeladen. d) Die Direktive zum Volkswirtschaftsplan 1986–1990 enthält erstmalig in der Geschichte der Psychotherapie im Osten das Fachgebiet Psychotherapie. 24.–29. August: 9. Internationaler Gruppenpsychotherapiekongress »Entwicklungen und Übergänge in einer sich schnell veränderlichen Umgebung. Eine Herausforderung für Gruppentherapeuten«, Zagreb, Jugoslawien/Kroatien, unter Beteiligung ostdeut-scher Gruppenpsychotherapeuten (Höck, Hess, Geyer). Das Streben der Kroaten nach Unabhängigkeit vom sozialistischen Serbien ist unübersehbar. Auf der Tagung überdecken der Holocaust, Probleme zwischen Europa und der »Dritten Welt« sowie der Konflikt zwischen Juden und Palästinensern die aktuellen Probleme Ost­ europas. Jürgen Otts Ausreiseantrag in die BRD wird stattgegeben und er verlässt die DDR. Es erscheint: Frohburg, I., di Pol, G., Thomas, B. u. Weise, K. (Hrsg.) (1986). Forschung und Praxis in der Gruppen-Gesprächspsychotherapie (GGT). Berlin: Gesellschaft für Psychologie der DDR.

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1987 Februar: Erich Honecker betont in einer politischen Grundsatzrede, die Perestroika Gorba­ tschows habe keine Bedeutung für die DDR, da sich die 1970 begonnene Umorientierung in der Volkswirtschaft bereits bestens bewährt habe. Darauf steigen die Anträge von DDR-Bürgern auf Ausreise in die BRD stetig an. 26. Februar: Geyer recherchiert im Vorfeld seiner Wahl zum Generalsekretär der International Federation for Medical Psychotherapy (IFP) den Modus der Beitragszahlung der GÄP. Es stellt sich zur Verwunderung aller Beteiligten heraus, dass für die Begleichung der Mitgliedsgebühren in der IFP auf einem Konto bei der deutschen Außenhandelsbank in Ostberlin jährlich 103,03 Rubel eingezahlt worden sind, die bei Aufenthalten von Vorstandsmitgliedern im Ostblock genutzt werden könnten, von der IFP jedoch nie abgerufen worden sind. Inzwischen sind 1650,07 Rubel vorhanden. Dem IFP-Vorstand ist diese Praxis kaum zu erklären und es werden bis zum Ende des Bestehens der DDR diese Gelder nicht in Anspruch genommen.. 28.–30. Mai: Psychotherapiesymposium der Regionalgesellschaft des Bezirkes Potsdam mit dem Thema »Angst und Angstbewältigung als interdisziplinäres Problem und psychotherapeutisches Anliegen«. Christina Schröder (Leipzig): »Angst als Kernproblem der Neurose in der Entstehungsgeschichte der psychoanalytischen Therapie«. Anlässlich des 100. Geburtstages von Arnold Zweig sind im Heft 6/87 von »Sinn und Form« Briefe von Arnold Zweig an Sigmund Freud abgedruckt (Bernhardt u. Lockot 2000). 29. Juli: Die »Zeitschrift für Klinische Medizin« bietet der GÄP als Ausweis der Wertschätzung der traditionellen Fächer gegenüber der Psychotherapie die eigenständige Gestaltung eines Themenheftes »Psychotherapie« an. 28.–30. September: Internationales Psychotherapie-Symposium in Erfurt: »Der Therapieund Ausbildungsprozess. Forschung und Praxis«. Das Kongress-Präsidium setzte sich zusammen aus Michael Geyer, Finn Magnussen, Werner König und Helga Hess. An dieser Tagung können mehr als 250 westdeutsche und Westberliner Psychotherapeuten teilnehmen. Daraus ergaben sich dauerhafte Kontakte, die vor und in der Zeit der Wende wie auch danach von Bedeutung sind. Das Symposium geht in die Geschichte der Psychotherapie im Osten ein als die »vorgezogene Wiedervereinigung der Psychotherapeuten« (s. a. die Gründungsberichte psychoanalytischer Institute nach der Wende, die oft auf dort entstandene Ost-West-Partnerschaften zurückgehen). Achim Maaz organisiert in Halle/Saale regelmäßige klinikinterne Seminare mit Körperpsychotherapeuten. Es kommen neben anderen Eva Reich und David Boadella. Siegfried Kätzel veröffentlicht das Buch »Marxismus und Psychoanalyse – Eine ideologiegeschichtliche Studie zur Diskussion in Deutschland und der UdSSR 1919–1933«. In Dresden beginnt eine Psychodrama-Ausbildung mit westdeutschen Ausbildern vom Morenoinstitut Überlingen. Oktober: Der Vorsitzende der GÄP, Michael Geyer wird zum Generalsekretär der Interna­ tional Federation for Medical Psychotherapy gewählt. 16.–19. November: Experten-Tagung zur Gruppen-Gesprächspsychotherapie in Chorin.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

1988 11.–15. Januar: In Ferch am Schwielow-See vor den Toren Berlins findet ein Balint-LeiterSeminar statt, das für den Prozess der Konzeptbildung der Balint-Arbeit in der DDR entscheidende Bedeutung erlangt (} Abschnitt 5.3.1.3). 11. Juni: Werner König und Michael Geyer folgen einer Einladung Harald Leupold-Löwen­ thals, Direktor des Sigmund-Freud-Museums Wien und Vorstandsmitglied der IPA mit Zuständigkeit für den Ostblock, mit dem seit zehn Jahren Gespräche über die Entwicklung der Psychoanalyse in der DDR stattfinden. Nach einem Vortrag in der Bibliothek des Sigmund-Freud-Museums über »Entwicklung der Psychotherapie in der Deutschen Demokratischen Republik« teilt Leupold-Löwenthal den beiden Ostdeutschen die ablehnende Haltung des IPA-Vorstandes gegenüber einer provisorischen Mitgliedschaft einer ostdeutschen Vereinigung mit. 28.September: Wissenschaftliche Festveranstaltung in Uchtspringe anlässlich des 70. Geburtstags Harro Wendts. Infrid Tögel und Achim Maaz würdigen die Leistungen des Jubilars für die Entwicklung der Psychodynamischen Psychotherapie in der DDR. 08.November: Konstituierende Sitzung der Sektion Spezielle Psychotherapie in Berlin, Vorsitz Christoph Seidler/Berlin. Die neue Sektion als wissenschaftliche Heimat für Psychotherapie-Spezialisten – also Fachärzte für Psychotherapie und entsprechend spezialisierte Fachpsychologen in der Medizin – soll sich mit übergreifenden Therapietheorien, Ausbildungstheorien und Forschungsansätzen befassen. Achim Maaz beginnt mit dem Selbsterfahrungsangebot »Therapie für Therapeuten« bzw. »vertiefte Selbsterfahrung für Therapeuten«, das unter stationären Klausurbedingungen und mit Integration körperpsycho­therapeutischer und erlebniszentrierter Methoden (Gestaltungs-, Musik- und kommunikative Bewegungstherapie) Selbsterfahrung mit tieferen regressiven Prozessen ermöglichen soll. Es erscheint: Frohburg, I. (1988). Psychotherapie-Ausbildung. Beitrag zur wissenschaftlichen Begründung von Zielstellungen, Inhalten und Methoden. Zeitschrift für Psychologie, Suppl. 10. Es erscheint: Ködel, R., Frohburg, I. (Hrsg.) (1988). Gruppen-Gesprächspsychotherapie. Grundbegriffe. Berlin: Gesellschaft für Psychologie der DDR.

1989 17.–19. Januar: 12. Jahreskongress der GÄP mit internationaler Beteiligung in Berlin. Es ist der mit 1200 Teilnehmern größte Kongress in der Geschichte der Gesellschaft und markiert den Beginn der öffentlich dargestellten Emanzipation der Psychotherapie von staatlicher Bevormundung. In zahlreichen Arbeitsgruppen wird ohne jede politische Rücksicht die verheerende gesellschaftliche Situation in der DDR zur Debatte gestellt. Die Mitgliederversammlung hat – zum Erstaunen nicht nur der westdeutschen Gäste – erstmalig eine Art basisdemokratischen Charakter. Die Wahl einzelner Vorstandsmitglieder wird kontrovers diskutiert. Es gibt Gegenstimmen. Eine lange in der Mitgliedschaft diskutierte Namensänderung der Gesellschaft in »Gesellschaft für Psychotherapie, Psycho-

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5.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik 1980–1989

somatik und Medizinische Psychologie der DDR«, die dem hohen Anteil der Psycho­ logen und der gewachsenen Struktur der Gesellschaft Rechnung trägt, wird ohne ausdrückliche Genehmigung der Dachgesellschaft für Klinische Medizin und gegen den Widerstand der politisch noch mächtigen Gesellschaft für Psychologie (die die Medizinische Psychologie als Gebiet der Psychologie beansprucht) und der Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie (die den interdisziplinären Charakter der Psychotherapie ablehnt und die GÄP als »Tochtergesellschaft« ihrer Gesellschaft sieht) beschlossen. Geyer und König halten einen Grundsatzvortrag zu den Zielen der Ausbildung. Ein Spezialist für Psychotherapie sollte über 250 Stunden Selbsterfahrung in Dyaden und Gruppen und über 200 Stunden Arbeit mit einem Supervisor verfügen. Sie setzen sich für eine »fokale Lehranalyse« ein. Achim Maaz hält einen Workshop zu körperorientierten Methoden nach Ideen von Wilhelm Reich ab und gründet die Arbeitsgruppe »Körperorientierte Psychotherapie« in der Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie. Auf der Mitgliederversammlung der GÄP werden nach teilweise kontroverser Diskussion 20 Mitglieder in den Vorstand gewählt, der sich folgendermaßen strukturiert: 1. Vorsitzender: Geyer, Leipzig; 1. Stellv. Vors.: König, Berlin; Stellv. Vors. für Medizinische Psychologie: Ehle, Berlin; Stellv. Vors. für Spezielle Psychotherapie: Seidler, Berlin; Stell­ vertreter für Psychosomatik: Röder, Karl-Marx-Stadt; Stellv. Vors. für Kinder- und Jugendpsychotherapie: Scholz, Leipzig; Stellv. Vors. für Regionalarbeit und Öffentlichkeitsarbeit: Eichhorn, Uckermünde; Stellv. Vors. für Information: Peper, Königsbrück; Sekretär: Lösch, Potsdam; Schatzmeister: Fikentscher, Halle/Saale; Berlin; Referat ­Forschung und Wissenschaftstheorie: Hess, Berlin, Schröder, Leipzig, Benkenstein, Hildburghausen; Referat Weiter- und Fortbildung: Maaz, Halle, Göth, Bernburg; Referat prägraduale Ausbildung: Hennig, Halle; Frohburg, Berlin; Referat Aus- und Weiterbildung der Fachschulkader: Wahlstab, Berlin. Referat Psychoprophylaxe: Groschek, Magdeburg; Referat Traditionspflege, Auszeichnungen und Ehrungen: Zimmermann, Bernau. Es wird eine ständige Arbeitsgruppe »Internationale Beziehungen« eingerichtet (Geyer, König, Seidler, Ehle, Röder, Scholz). Juni: Das Lehrbuch von Michael Geyer »Methodik des Psychotherapeutischen Einzelgesprächs«, das die in der Leipziger Klinik gelehrte Psychodynamische Therapie in Anlehnung an Lester Luborsky vermittelt, erscheint im Barth-Verlag Leipzig. Es wird ein halbes Jahr später nochmals aufgelegt. 11.–13. Juli: Freud-Symposium »Geschichte und Gegenwartsprobleme der Psychotherapie«, an der Karl-Marx-Universität Leipzig, gemeinsam organisiert vom Karl-SudhoffInstitut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften des Bereiches Medizin (Achim Thom, Christina Schröder) und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP, Geyer, König, Seidler, Maaz). Berufspolitische Zielsetzung ist die Institutionalisierung einer psychoanalytischen Ausbildung in der DDR (Grundsatzreferat Geyer/König/Maaz/Seidler). Die am Rande des Symposiums durchgeführte Vorstandsitzung der GPPMP wird von einem Vorstandsmitglied (Göth alias IM »Fred Wolke«) in seinem Spitzelbericht als gefährliche, feindliche politische Plattformbildung von Maaz und Geyer gewertet und die Stasi wird aufgefordert, auf nati-

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onaler und Bezirksebene dagegen vorzugehen (s. Stasiakte Geyer sowie Süß 1998, S. 320 ff.). Das Buch »Sigmund Freud – Hirnforscher, Neurologe, Psychotherapeut« von Ingrid Kästner und Christina Schröder erscheint im Leipziger Barth-Verlag. 14.–15. September: Um die Vorsitzenden der Sektionen und Regionalgesellschaften erweiterte Vorstandsitzung der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) in Straußberg. Gesellschaftliche Veränderungen liegen in der Luft, allerdings denkt noch niemand an die Möglichkeit eines Zusammenbruchs des Systems. Neben den Berichten aus den Regionalgesellschaften, Sektionen und Arbeitsgruppen sind wesentliche übergreifende Themen: Schlussfolgerungen aus dem 12. Jahreskongress der Gesellschaft (Protokollnotiz: »Die Stimmung der Mitglieder war hoffnungsvoll auf zukünftige Entwicklungen gerichtet«), insbesondere die Diskussion der Frage, wie die demokratische Mitwirkung aller Mitglieder verbessert werden kann, Diskussion eines Memorandums, das die Forderungen der Psychotherapeuten an die Partei- und Staatsführung enthalten und begründen soll, Beauftragung einer Arbeitsgruppe, die Möglichkeiten zur Gründung einer eigenen wissenschaftlichen Zeitschrift für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie zu eruieren, Diskussion der allgemeinen Forderungen nach Kongressreisen in den Westen u. a. (zwischen 1986 und 1989 sind vom Vorsitzenden etwa 20 Anträge an Dienststellen von Mitgliedern auf Aufnahme in den sog. Reisekader gestellt worden, die meist abschlägig beschieden worden sind). 09. Oktober: Die erste Großdemonstration in Leipzig verläuft gewaltfrei und führt zehn Tage darauf zum Sturz Honeckers. 27. Oktober: Geyer und König nehmen – eingeladen vom Vorstand der AÄGP (Werner Stucke) – als Gäste an der Mitgliederversammlung der AÄGP in Düsseldorf teil. Ein gemeinsames Symposium von GPPMP und AÄGP soll eventuell bereits 1990 stattfinden. Es wird über die Unterstützung der Teilnahme einer größeren Gruppe DDR-Psychotherapeuten am 1991 in Hannover stattfindenden und von der AÄGP (mit) organisierten Weltkongress der IFP (International Federation for Medical Psychotherapy) gesprochen. 09. November: Die Veränderung des politischen Klimas erlaubt es erstmalig, dass eine größere Gruppe von DDR-Psychotherapeuten den Kongress des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM) vom 10.–12. November 1989 in Gießen besuchen darf (wobei es immer noch Ablehnungen einzelner Dienststellen für einzelne Kollegen gibt). Dort werden die Teilnehmer am Vorabend des Kongresses, dem 9. November 1989, vom Fall der Berliner Mauer überrascht. Die allgemeine Begeisterung führt zu mehreren spontanen Vorträgen und Deklarationen, in denen die zukünftige Zusammenarbeit zwischen Ost und West geplant wird. Geyer, Röder und Venner werden in der Folge Gäste des DKPM-Vorstandes. 29. November: Vorstandsitzung der GPPMP in Straußberg bei Berlin. Die Aufbruchstimmung ist unübersehbar. Die meisten Vorstandsmitglieder sehen es – mit Blick auf die Situation im Westen – als notwendig an, zukünftig die unterschiedlichen Methoden in mehr oder weniger autonomen Gruppierungen auch eigenständiger zu entwickeln. Es werden Anträge auf Umbenennung und Neugründung von Gliederungen der Gesell-

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

schaft gestellt: Umbenennung der Sektion Dynamische Einzeltherapie in Sektion Ana­ lytische Psychotherapie (Maaz), Gründung einer AG Psychodrama in der GPPMP (Böttcher, Dresden), die sich bereits im Anschluss an den Erfurter Kongress 1987 mit Unterstützung von Grete Leutz (Überlingen) und Herrn Gneist (München) ausgebildet hat, inoffiziell gefördert von Geyer, der die Kontakte mit Grete Leutz angebahnt hatte. Schulze (Berlin) – später als IM »Sigmund Freud« enttarnter Mitarbeiter Kulawiks an der Charité – beantragt die Gründung einer AG Psychotherapie und Gesellschaft in der GPPMP und plant eine erste Veranstaltung im Januar 1990 in Berlin, die die Rolle der Psychotherapie kritisch bewerten soll. Alle Anträge werden angenommen und unterstützt. Es wird über Initiativen von Mitgliedern berichtet: Mitglieder der GPPMP er­bitten Unterstützung bei ihrer Mitwirkung in Initiativgruppen zur Gründung eines ärztlichen (di Pol) und psychologischen (Zimmermann) Berufsverbandes. Ein Forderungskatalog »Kinder- und Jugendlichen- und Familienpsychotherapie« (Scholz) wird vorgestellt. Die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit, die Änderung der Strukturen der GPPMP im Sinne der Dezentralisierung (Geyer, Maaz) sowie ihre Unabhängigkeit vom Gesundheitsministerium (Maaz) wird gefordert. Es wird nach teilweise kontroverser Diskussion mehrheitlich der Beschluss gefasst, eine außerordentliche Mitgliederversammlung im 1. Quartal 1990 durchzuführen, auf der der Vorstand seinen Rücktritt anbieten soll und das Schicksal und die zukünftige Struktur der Gesellschaft durch die Mitglieder entschieden werden soll.

5.3 Die Weiterentwicklung der Methoden und der Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren 5.3.1 Psychodynamische Psychotherapie und Psychoanalyse 5.3.1.1 Michael Geyer und Werner König: Der Beginn der Reinstitutionalisierung der Psychoanalyse in der DDR Um die komplexen Verhältnisse im Zuge der Reinstitutionalisierung psychoanalytisch begründeter Einzeltherapie zu verstehen, bedarf es einer Betrachtung der diesen Prozess fördernden wie auch behindernden Faktoren. Förderlich wirkte sich zweifellos der bereits in Abschnitt 4.5.1 beschriebene Wandlungsprozess der DDR-Gesellschaft aus, der seit Anfang der 1970er Jahre zu einer erweiterten Sicht auf das Subjekt und die Individualität führte. Aus heutiger Sicht fand damals die DDR Anschluss an zivilisatorische Prozesse, die in der soziologischen Literatur als »Kultivierung von Subjektivität« bezeichnet werden und den bis dahin dominierenden Kollektivismus relativierten. Hinzu kam, dass die politische Gängelung der Wissenschaft nachgelassen bzw. subtilere Formen angenommen hatte und viele jüngere marxistische Philosophen sich nicht mehr als reine Parteiideologen verstanden.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Behindernd wirkten die Überzeugung vieler Intellektueller und Führungskräfte vom unversöhnlichen Charakter des Verhältnisses von staatstragender Ideologie und Psychoanalyse, aber auch die realen Unklarheiten in der Bewertung dieses Verhältnisses in der DDRPhilosophie.

Die Legende vom Verbot der Psychoanalyse in der DDR »Wenn die Menschen Situationen als wirklich definieren, sind sie in ihren Konsequenzen wirklich« (Thomas 1928). Wenn einige Menschen in der DDR glaubten, die Psychoanalyse sei verboten oder stehe auf irgendeinem Index oder Sigmund Freud sei ein Wegbereiter des Imperialismus, dann wurde die Psychoanalyse oder deren Anwender von diesen Menschen entweder verteufelt oder ängstlich gemieden oder sie wurde im Verborgenen ängstlich praktiziert. So ist es erklärlich, dass viele Menschen in der DDR in ihren diesbezüglichen Überzeugungen und Ängsten immer wieder bestärkt wurden, weil ihre Vorgesetzten und Lehrer eine Denkrichtung, deren Vertreter von Kommunisten in der Sowjetunion hingerichtet worden waren, reflexartig ideologisch denunzierten. Dies geschah in der Anfangszeit auch mit der Dynamischen Gruppenpsychotherapie Höcks. Mitglieder der GÄP erfuhren solche Haltungen in Form von Teilnahmeverboten an der Gruppenselbsterfahrung oder auch nur abfälligen Bemerkungen über die Psychoanalyse bei entsprechenden Anlässen. Wenn man sich offen zur Psychoanalyse bekannte, war es allerdings häufig nicht unbedingt deren praktische Umsetzung in der Patientenbehandlung, die zu unkalkulierbaren Behinderungen der beruflichen Entwicklung führen konnte, sondern die Tatsache, dass diese Beschäftigung die Ordnung der Dinge in Frage stellte, z. B. die führende Rolle der Partei (s. a. } Abschnitt 3.5.5 über die Erfurter psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppe). Aber diese Einschränkungen kamen von ideologisch verbohrten Kollegen oder Vorgesetzten und hatten keine gesetzliche Grundlage. Dass die Psychoanalyse oder die von ihr abgeleiteten Behandlungsverfahren in der DDR verboten gewesen seien, dafür gibt es keinen Beleg. (Übrigens gab es nicht einmal bei den Nazis ein Verbot der Psychoanalyse, wie Schröter – 2009, S. 152 ff. – nachweist.) Es gab keine psychoanalytische Literatur im Buchladen zu kaufen, sie war aber in Bibliotheken mit einiger Mühe zu bekommen. Nach den wüsten ideologischen Attacken (z. B. von Havemann } Abschnitt 1.4.1.2 ) in den frühen 1950er Jahren, die allerdings auch kein Verbot bedeuteten, gab es »von oben«, d. h. Justiz, Politbüro, Zentralkomitee, Gesundheitsministerium etc., keine einzige solche Intervention, die einem Verbot entsprochen hätte. Zwar existierte nach 1971 noch ein Versuch des ZK der SED, die Psychiatrie und Psychotherapie allgemein methodisch-inhaltlich zu beeinflussen. Dieser scheiterte allerdings an der eindeutigen Haltung der Genossen Psychiater und Psychotherapeuten (der Erstautor zitiert den Stasibericht darüber in der Psychotherapiechronik 1971 des 4. Kapitels } Abschnitt 4.2), die das zurückwiesen. Wenn etwas unmöglich, weil undenkbar – wenn auch nicht grundsätzlich verboten – war, war es die Gründung eines traditionellen analytischen Instituts nach westlichem Vorbild, dies aber nicht unbedingt wegen der Psychoanalyse, sondern wegen des DDR-Vereinigungsrechts, das der Gründung von Vereinen durch Privatpersonen beträchtliche Hürden entgegensetzte.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Es gibt eine schwache Analogie zum Verhältnis des jeweiligen Regimes zur Psychoanalyse als Wissenschaft zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus (der allerdings höchstens für die 1950er Jahre als bedeutungsvoll für die DDR gesehen werden kann). Die Nazis haben Freuds Schriften verbrannt und einzelne haben die Psychoanalyse als »jüdisch-marxistische Schweinerei« denunziert (Schröter 2010, S. 155). Nach der Ausweisung der jüdischen Psychoanalytiker wurde durch Felix Boehm, Müller-Braunschweig und Schultz-Hencke eine »deutsche Psychoanalyse« von der »jüdischen Psychoanalyse« getrennt und praktiziert, die sogar kassenfähig war. Nachdem also das »Jüdische« eliminiert worden war, reduzierten sich die Probleme deutlich. Die Kritik der Stalinisten an der Psychoanalyse war in Deutschland nicht rassistisch, sondern die Psychoanalyse wurde als »barbarische Ideologie des Imperialismus« (Havemann } Abschnitt 1.4.1.2) oder »biologistisch« oder als »bürgerliche Ideologie« angeprangert. Da war die Psychoanalyse in ihrer Gestalt als Gesellschaftswissenschaft und Anthropologie gemeint. Diese war also in erster Linie zu relativieren. Das ging in der Praxis leicht, da der »barbarische Imperialismus« nur wenig mit dem gewöhnlichen DDR-Psychotherapeuten zu tun haben konnte, der mit psychoanalytischen Behandlungsmethoden kranke Menschen behandelte. Es wurde also immer wieder von moderneren marxistischen Philosophen und Psychotherapeuten (Borbely u. Erpenbeck 1987, Kätzel 1983; Katzenstein u. Thom 1981) versucht, eine wissenschaftliche Form der psychoanalytischen Therapietheorie abzutrennen von einer psychoanalytischen Sicht auf den Menschen und die Gesellschaft, die gewissen Ideologen nicht passte. Tatsächlich ist das Verhältnis von staatstragender Ideologie und Psychoanalyse zweifellos bis zuletzt ausgesprochen widersprüchlich. Noch in der 1989 erschienenen »Enzyklopädie zur bürgerlichen Philosophie im 19. und 20. Jahrhundert« ist wenige Monate vor dem Ende der DDR noch folgende Bestimmung des Stichwortes »Psychoanalyse« zu lesen: »Die Psychoanalyse gehört zu den einflussreichsten Strömungen innerhalb der spätbürgerlichen Ideologie. Sie übt nicht nur einen weitreichenden Einfluss auf alle bürgerlichen Sozial- und Geisteswissenschaften aus, sondern ist auch tief im Massenbewusstsein der kapitalistischen Hauptländer verankert« (Braun 1988, S. 400). Zwei Jahre vorher – 1987 – hatten Borbely und Erpenbeck in der »Zeitschrift für Philosophie« die Psychoanalyse als eine der bedeutsamsten Subjektwissenschaften des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Aber im gleichen Zeitraum verzögerte Kurt Hager, der ehemalige Chefideologe des Politbüros der SED, nach Angaben von Augen- und Ohrenzeugen beim Anblick des Titelblattes einer geplanten Freud-Edition mit den Worten »Wir haben doch schon genug Irrationales in unserer Literatur« deren Erscheinen um Jahre. Borbely und Erpenbeck (1987, S. 1017) hatten dagegen »eine Reinterpretation, Erweiterung, Umdeutung oder auch partielle Ablehnung so entscheidender Kategorien wie Abwehr und Abgewehrtes, Unter- und Unbewusstes, Über-Ich, Identifizierung, Übertragung usw.« gefordert, da niemand darauf hoffen sollte, »solche und weitere Kategorien aus der Psychologie definitorisch wieder eliminieren zu können«. Es darf darauf hingewiesen werden, dass zu diesem Zeitpunkt diese Art der Beschäftigung mit der Psychoanalyse in der DDR eine mehr als 30-jährige Tradition hatte (Hollitscher 1951; König 1960, 1971; Seidel u. Kulawik 1978). Die Widersprüchlichkeit erreicht ihren Gipfelpunkt, wenn man bedenkt, dass der höchste Repräsentant der DDR-Gesundheitspolitik, der Abteilungsleiter für Gesundheitspolitik im Zentralkomitee der SED, Karl Seidel, als Psychiater und

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Psychotherapeut mehrmals zu psychoanalytischen Themen im o. g. Sinne vortrug und publizierte (Seidel u. Kulawik 1978). Angesichts derartiger Widersprüche sah es Katzenstein, 1976 neu gewählter Vorsitzender der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, als wichtigste Arbeitsaufgabe, die Kompatibilität von Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie und Psychoanalyse mit dem Marxismus bewerten zu lassen. Damals wurde beschlossen, Achim Thom, marxistisch-leninistischer Philosoph und Medizinhistoriker an der Karl-Marx-Universität Leipzig, in den Vorstand der Gesellschaft zu kooptieren. Psychotherapeutische Methoden sollten durch ihn gesellschaftspolitisch legitimiert werden. Aus dem Protokoll: »Als aktuelle Themen sollen Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie aus der Sicht marxistischer-leninistischer Philosophie und neue Entwicklungstendenzen des psychoanalytischen Denkens aus der Sicht der marxistisch-leninistischen Persönlichkeitstheorie bearbeitet werden.« Das ist die 1970er Jahre hindurch das Bestreben einzelner Vorstandsmitglieder der GÄP, insbesondere aber von Katzenstein, Vorsitzender der GÄP von 1976–1982, dem die ideologisch motivierten Schauprozesse der 1950er Jahre gegen »Abweichler« noch in den Knochen sitzen. Sein Ziel ist es, eine längst bestehende Praxis ideologisch unangreifbar zu machen.

Die Praxis psychoanalytisch begründeter Einzelpsychotherapie und ihre Aus- und Weiterbildung in der DDR in den 1980er Jahren Diese Praxis ist zu Beginn der 1980er Jahre einerseits methodisch uneinheitlich und andererseits an verschiedene Orte der DDR gebunden: Beerholdt (} Abschnitt 1.4.3) hat als ­Leiter der größten psychotherapeutischen Ambulanz der DDR in der Leipziger Poliklinik Nord ohne jegliche Behinderung ausschließlich im klassischen psychoanalytischen Setting gearbeitet und bis zu seinem Tod 1976 zahlreiche Lehranalysen (u. a. bei Starke, Behrends, H. R. Böttcher u. a.) durchgeführt, deren Empfänger zu dieser Zeit entweder klassisch psychoanalytisch oder psychodynamisch behandelten. Auch Wartegg, Burkhardt, Höck, König u. a. hatten im Haus der Gesundheit Berlin nach den neopsychoanalytischen Konzepten Schultz-Henckes gearbeitet und ausgebildet und zahlreiche Mitarbeiter und Hospitanten des Hauses der Gesundheit beeinflusst, die nun eine Psychodynamische Einzeltherapie praktizierten. Die ursprüngliche Orientierung im Haus der Gesundheit an Schultz-Hencke war verbunden mit Bemühungen um Informationen über die weiteren Entwicklungen seines Institutes unter den Nachfolgern Dührssen und Baumeyer. Die Arbeiten von Dührssen und Jorswieck waren maßgeblich für die Aufnahme der Psychotherapie in die kassenärztliche Versorgung. Damit ging auch viel von Schultz-Hencke in die Psychotherapie-Richtlinien ein. Die vom Haus der Gesundheit vermittelte Einzeltherapie war damit weitgehend identisch mit der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und hieß anfangs auch psychoanalytisch orientierte Therapie, was wir als die wissenschaftliche Bezeichnung für das verstanden, was kassenärztlich tiefenpsychologisch fundierte Therapie hieß. Für die Behandlungszeiten gab es keine festgelegten Obergrenzen. Therapien über 100 Sitzungen waren selten und wurden weniger aus Kostengründen, sondern aus therapeutischen Überlegungen in Frage gestellt. Bei Schwergestörten wurde es als effektiver angesehen, im Interesse der Verselbständigung und der Eigenverantwortung therapiefreie Intervalle anzustreben, als

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

zu lange durchgehend zu behandeln. Langzeitbehandlungen im Liegen gab es unter Höck nur anfangs und mehr zur Ausbildung als zur Versorgung. Mit der Etablierung der Gruppenpsychotherapie wurden kaum noch Einzelbehandlungen im HdG durchgeführt, aber von dort ausgebildeten Ärzten und Psychologen in anderen Einrichtungen. Harro Wendt hatte bereits seit den 1960er Jahren in Uchtspringe eine psychoanalytisch orientierte Therapie etabliert und diese einer relativ großen Gruppe von Mitarbeitern und Schülern vermittelt. Aus dieser Gruppierung sind besonders Tögel und G. Schulz als Aktivisten dieser Schulrichtung zu nennen, aber auch Kulawik (Berlin), der sich Wendt anschloss und später an der Charité eine psychoanalytisch orientierte Therapie einführte und 1984 eine Einführung in die Psychodynamische Kurztherapie publizierte (Kulawik 1984). Wendt, Kulawik und Maaz initiierten schließlich die ersten zentralen Ausbildungsgänge für Psychodynamische Einzelpsychotherapie im Rahmen der 1982 gegründeten Sektion Dynamische Einzeltherapie der GÄP (} Abschnitt 5.3.1.2). Geyer und Maaz entstammen einer Gruppierung, die sich ab Ende der 1960er Jahre um die Rezeption psychoanalytischer Konzepte bemühte. Diese Gruppierung, die als Erfurter Selbsterfahrungsgruppe die Psychotherapie in der DDR nachhaltig beeinflusste, integrierte verschiedene psychodynamische Konzepte in ihrer Arbeit. Maaz fand Anfang der 1980er Jahre über West-Ost-Kanäle der Diakonie Zugang zur analytischen Körpertherapie und integrierte körpertherapeutische Konzepte in seine psychodynamischen Ansätze. Im Rahmen dieser Methode wurden auch zahlreiche Psychotherapeuten in der Wende- und Nachwendezeit ausgebildet. Geyer legte zunächst ein psychodynamisches Konzept des ärztlichen Gespräches vor (Geyer 1985), das in die Lehrmateralien zur Fortbildung in »Psychotherapeutischer Grundbetreuung« (das DDR-Pendant der Psychosomatischen Grundversorgung) Eingang fand. Das für Psychotherapeuten entwickelte Konzept der dynamisch-interaktionellen Psychotherapie als psychoanalytisch orientierter Kurztherapie in Anlehnung an Luborsky (Geyer 1989a) wurde in der Leipziger Universitätsklinik bis zur Emeritierung Geyers (2008) gelehrt und angewendet. So ist die Praxis der Anwendung Psychodynamischer Einzeltherapie wie auch ihre Vermittlung keineswegs einheitlich. Es gibt somit unterschiedliche methodische Ansätze, die einerseits multimodal angelegt sind (} Abschnitt 5.3.1.2) oder andererseits auch Versuche der Anlehnung an – dem Mainstream der Psychoanalyse nähere – eingeführte Konzepte darstellen (Geyer 1989). Allerdings haben sich die in der Zentralen Fachkommission tonangebenden Fachvertreter (König, Höck, Geyer u. a.) auf gewisse Basiselemente Psychodynamischer Therapie geeinigt, die als verbindliches Lernziel seit 1978 in den staatlichen Bildungsprogrammen des Psychotherapie-Facharztes und einer der Zusatzbezeichnung vergleichbaren Qualifizierung immer deutlicher ausformuliert wurden (Bildungsprogramm des Facharztes im Anhang II). Psychoanalytisches Denken hat die DDR-Psychotherapie also insgesamt beeinflusst. Im Hauptvortrag des 12. Jahreskongresses der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie über die »Spezielle Psychotherapie« (Geyer, Benkenstein, Hess, Maaz u. Seidler 1989b) trägt dies Geyer unmissverständlich vor: »[...] die Funktion des Therapeuten (besteht) in erster Linie darin, dem Patienten neue Formen interpersonaler Beziehungen, also mehr Freiheit in Beziehungen, zu ermöglichen. Dies gilt in meinem Verständnis in besonderer Weise für die therapeutische Beziehung selbst [...]. Das heißt, eine pathogenetisch bedeutsame Interakti-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

onsform muss erstens identifiziert, zweitens die eigene Rolle dabei reflektiert werden, damit drittens eine Verständigung über die Beziehungsform und viertens durch sukzessive Positionsveränderung des Therapeuten ein Umbau der Interaktionsform erfolgen kann. Von daher ergeben sich folgende Grundanforderungen an die Persönlichkeit des Therapeuten: – Er soll fähig sein, die ihm vom Patienten zugeteilte Position oder Rolle wenigstens zeitweise zu übernehmen. Es handelt sich um die Fähigkeit zur Komplementarität. Das schließt ein, dass er seine Vorlieben und Begrenzungen reflektieren muss, solche Rollen zu spielen. – Er sollte fähig sein, seine eigene Rolle und die seines Patienten oder einer Gruppe von einem übergeordneten Standpunkt aus zu objektivieren, eine Fähigkeit, die wir mit Piaget als ›Dezentrierungskompetenz‹ bezeichnen. Das schließt die Fähigkeit ein, relativ flexibel zwischen einer aktiv behandelnden und einer reflektierenden Position zu wechseln. – Er sollte die Möglichkeit besitzen, die Spannung auszuhalten, die entsteht, wenn sich Beziehungen progressiv entwickeln. Es handelt sich um die Fähigkeit zur Partnerschaft. In seiner Ausbildung, also im Rahmen der Supervision und der Selbsterfahrung, sollte ein Psychotherapeut mit den allgemeinen und seinen eigenen persönlichen Grundproblemen in der Position des Helfers konfrontiert werden: – Helfen als Maßnahme gegen das Erleben eigener Ohnmacht, – Helfen als Abwehr eigener Schuldgefühle, – Helfen als unbewusste Befriedigung eigener Bedürfnisse, – Helfen als antiemanzipatorisches Handeln. Letzteres Problem möchte ich besonders im Hinblick auf unbewusste antiemanzipatorische Tendenzen kurz beleuchten, speziell auf jene therapeutischen Haltungen, die Ausdruck unreflektierter Anpassung des Therapeuten an die Gesellschaftsform sind, in der er lebt und arbeitet. Insofern sollte ein Psychotherapeut eine kritische Einstellung nicht nur zu seinen persönlichen Macht- und Dominanzbedürfnissen, sondern auch zu antiemanzipatorischen Tendenzen in Gruppierungen und Institutionen überhaupt gewinnen. Hier ist eine Parteinahme des Psychotherapeuten für die Entwicklungsbedürfnisse und Freiheitsrechte des Individuums nötig. Das bedeutet, dass ein Psychotherapeut auch den Mut zur kritischen Distanz gegenüber mehr oder weniger subtilen außertherapeutischen Machtmechanismen braucht. Daraus leite ich persönlich die Notwendigkeit ab, Selbsterfahrung nicht nur im Setting der intimen Zweierbeziehung, sondern auch innerhalb der Strukturen eines größeren sozialen Gebildes zu ermöglichen, das Erfahrungen darüber zulässt, wie Machtstrukturen innerhalb von Gruppen und Großgruppen entstehen und wie man ihnen begegnet. Ohne dieses Training verliert der Psychotherapeut leicht den Blick für die Realität der Gesellschaft und zieht sich zurück in die Freiräume, die seiner Professionalität von der Gesellschaft eingeräumt werden [...]«. Legt man den westlichen Maßstab, d. h. in erster Linie westdeutschen Ausmaßes der Institutionalisierung der Psychoanalyse an, kommt man zu dem Ergebnis, dass es in der DDR keine Psychoanalyse gab, da weder analytische Institute noch Gesellschaften, die der DPG

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

oder DPV oder DGPT vergleichbar wären, noch die klassische Lehranalyse vorhanden sind. Im Hinblick auf konkrete Ausbildungsstandards kann lediglich eine dem Westen vergleichbare Ausbildung in der Psychodynamischen Gruppenpsychotherapie konstatiert werden. Wie bereits angedeutet, ist das Typische für die Entwicklung auf diesem Feld in der DDR ein jahrzehntelanger Versuch, den klinisch-empirischen Gehalt der Psychoanalyse von Metatheorie und Gesellschaftstheorie zu befreien. Damit waren wir nicht so weit entfernt von den Abweichlern von der »reinen Lehre« (wir verwenden den Begriff »Abweichler« im theoretischen Sinne, nicht im Verständnis der IPV), also von Ferenczi und Balint, SchultzHencke und anderen Neoanalytikern, Boss, Kohut und Kernberg bis hin zu den modernen angloamerikanischen Schulengründern auf dem Gebiet der Kurztherapie (Malan, Bellak, Luborsky, Strupp u. a.), mit denen wir uns vorrangig beschäftigten. Die Art und Weise der wissenschaftlichen Beweisführung in der Psychoanalyse und besonders die psychoanalytische Metapsychologie machte es seinerzeit den Gegnern der Psychoanalyse nicht sehr schwer, die Lehre in toto als unwissenschaftlich, abenteuerlich und unbeweisbar abzuqualifizieren. Als etwa in den 1980er Jahren die theoretischen Neuerungen um sich griffen, die es erlaubten, die Ansätze der Psychoanalyse mit schulpsychologischen Mitteln zu fundieren, und sich der Paradigmenwechsel ankündigte, der die Psychoanalyse wieder an die Seite der akademischen Disziplinen stellt, fragten sich viele, ob es sich überhaupt lohne, sich in diesen überaus schwierigen Umbauprozess einzulassen, wo doch moderne handlungs- bzw. tätigkeitsorientierte Persönlichkeitstheorien ohne den Ballast überholter Konzepte existieren, die als Basis einer Psychodynamischen Therapie durchaus in Frage kämen. Versuche, den empirischen Erfahrungsschatz der Psychoanalyse in diesem Sinne also selektiv und innerhalb anderer theoretischer Konzepte zu nutzen, hat es denn auch gegeben.

Das Problem der Lehranalyse Bemühungen um die Reinstitutionalisierung einer psychoanalytischen Einzeltherapie im engeren Sinne gingen von wenigen Personen bzw. Gruppierungen aus. Zunächst gab Wendt den Anstoß zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für Einzelpsychotherapie (1978), die 1982 in eine Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie umgewandelt wurde, deren 1. Vorsitzender er wurde. Bereits 1984 übernahmen Maaz und Kulawik die Führung über diese Sektion. Maaz legte 1984 die erste Ausbildungskonzeption der Sektion »Dynamische Einzeltherapie« vor, innerhalb derer gemeinsam mit Wendt, Kulawik und Tögel bis zur Wende etwa 250 Ärzte und Psychologen ausgebildet wurden (s. a. } Abschnitt 5.3.1.2). Ungelöst blieb zunächst in diesem Ausbildungssystem das Problem der Lehranalyse. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre spitzte sich dieses Problem zu. Im Vortrag von Geyer, König, Maaz und Seidler »Zum Umgang mit psychoanalytischen Konzepten in der Psychotherapie der DDR« beim sog. Freud-Symposium 1989 (Geyer et al. 1989c) wird diese Situation folgendermaßen beschrieben: »Inzwischen hat sich herausgestellt, dass seminaristische Übungen, Supervision und Gruppenselbsterfahrung durch Formen vertiefter und dyadischer Selbsterfahrung zu kom-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

plettieren sind. Dazu liegen gegenwärtig zwei Ansätze vor. Maaz schlägt eine ›Therapie der Therapeuten‹ als vertiefte Selbsterfahrung vor, in der gruppendynamische und körpertherapeutische Ansätze dominieren. Es handelt sich um eine vierwöchige stationäre Therapie in Gruppen von jeweils zehn Kollegen mit allen Möglichkeiten intensiver Regression und kathartischer Arbeit zur Analyse biographisch früher Erfahrungen [} Abschnitt 5.3.1.4]. König und Geyer haben kürzlich das Konzept einer sog. fokalen Lehranalyse zur Diskussion gestellt, das auf die von Geyer entwickelte dynamisch-interaktionelle Kurztherapie bezogen ist. Zur Idee einer fokalen Lehranalyse trug die Erfahrung der Weiterbildung bei. Die Weiterbildungskandidaten ließen bei ihren Supervisionsfällen, in der Gruppenselbsterfahrung, in Balint-Gruppen, ja selbst beim Prüfungsfall erkennen, dass die zur Verbesserung der professionellen Kompetenz zu bearbeitenden persönlichen Probleme immer das gleiche Thema, einen ›Fokus‹ hatten. Eine derartige fokale Lehranalyse würde sich – außer in der Dauer –­ in mehreren Punkten von traditionellen Lehranalysen unterscheiden. Die wesentlichen Unterschiede bestehen in der Erfassung und Bearbeitung eines Fokalkonfliktes sowie in dem Verständnis der Beziehung zwischen Kandidat und Lehranalytiker. Die dynamisch-interaktionelle Einzeltherapie vollzieht sich in der Identifizierung und Bearbeitung eines Fokalkonfliktes in der Trias: soziales Umfeld, therapeutische Beziehung, ontogenetische Entwicklung. In der fokalen Lehranalyse werden die in der Therapie störenden Erlebens- und Verhaltensweisen unter Einbeziehung der biographischen Entwicklung und ihrer Reproduktion in der Beziehung zum Lehranalytiker bearbeitet. Dabei wird, wie in der ­Therapie, von einer mehr oder weniger gestörten Beziehung an Stelle eines streng unterscheidbaren Nebeneinander von ›normaler‹ Beziehung und ›neurotischer‹ Übertragung ausgegangen [...]. Fokale Lehranalyse ist ausdrücklich auf die Verbesserung der professionellen Kompetenz gerichtet, was darüber hinausgehenden persönlichen Gewinn nicht ausschließt.« Dann kam die Wende ...

Resümee 30 Jahre dauerte es, ehe eine kritische Anzahl von Psychotherapeuten die Psychoanalyse in der DDR wieder zu einer lehr- und lernbaren Methode gemacht haben, die immerhin in wenigen Jahren den Anschluss an die wesentlichen Entwicklungen der internationalen Psychoanalyse finden konnte. Tatsächlich sieht es so aus, als könnten die verschiedenen miteinander organisch gewachsenen und verwachsenen Elemente des Gebäudes der Psychoanalyse – Persönlichkeitstheorie, Krankheitslehre, Therapietheorie und Technik – nicht getrennt voneinander verwertet werden. So war es auch 1990 eine durchaus vernünftige Option, den Anschluss an den Mainstream der Psychoanalyse zu suchen, um sich am konzeptinternen Differenzierungsund Modernisierungsprozess der psychoanalytischen Theorie, wie er sich international vollzieht, zu beteiligen. Wir können jedoch auch Verständnis aufbringen für Kollegen, die angesichts der Zustände in den traditionellen Instituten der (west-)deutschen Psychoanalyse keine Neigung hatten, eigene bewährte Positionen zur Disposition zu stellen.

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5.3.1.2 Hans-Joachim Maaz: Die »Psychodynamische Einzeltherapie« – eine ostdeutsche Entwicklung zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie Nachdem mit der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie ein gruppentherapeutisches Verfahren mit psychodynamischen und psychoanalytischen Essentials und der Notwendigkeit der Selbsterfahrung für Therapeuten seit 1971 in der DDR etabliert werden konnte, begannen Bestrebungen, dies auch für eine analytische Einzeltherapie zu ermöglichen. Harro Wendt hatte mit seinen Mitarbeitern (vor allem Infrid Tögel und Gerhard Schulz) in Uchtspringe – praktisch fernab in der Provinz –, eher im Stillen und kaum berührt von den ideologisierten Kämpfen in der Psychotherapie, eine längerfristige psychoanalytisch orientierte Einzeltherapie praktiziert, die als Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung anzusehen ist. So bildete sich 1978 eine erste Arbeitsgruppe »Das psychotherapeutische Gespräch« innerhalb der »Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR« mit dem Bestreben, eine persönlichkeitszentrierte Einzeltherapie theoretisch und methodisch zu entwickeln, die zusammen mit Gesprächspsychotherapie und Verhaltenstherapie eine Sektion Einzel­psychotherapie bilden sollte. 1981 erging durch den Vorstand der Gesellschaft »Ärztliche Psychotherapie der DDR« an Prof. Wendt der Auftrag, auf der Grundlage eines »klaren ideologischen Standpunktes«, die Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen zur Psychoanalyse zu klären. Der Vorschlag von Kurt Höck, die zu bildende Sektion »Analytisch orientierte Psychotherapie« zu nennen, wurde wegen der namentlich erkennbaren Nähe zur Psychoanalyse abgelehnt. Prof. Wendt bat Prof. Kulawik (Charité), der eine erste – damals berufspolitisch beachtliche – Publikation zur »Psychodynamischen Kurztherapie« (1984) vorlegt hatte, eine entsprechende Konzeption zu erarbeiten und die Sektion zu gründen, was dieser aber ablehnte. Am 8. Juni 1982 fand dann die konstituierende Sitzung des Vorstandes der zu bildenden Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie unter Leitung von Prof. Wendt statt, zu dem H. Kerber, Helmut Kulawik, Infrid Tögel, Gudrun Tscharntke und ich selbst gehörten. Ich wurde beauftragt, ein theoretisches und praktisches Konzept zu erarbeiten, um eine systematische Ausbildung in eine analytisch orientierte Einzeltherapie zu etablieren, die noch im Jahr 1982 dem Vorstand zur Diskussion und Bestätigung vorgelegt wurde. Der erste Ausbildungskurs mit ca. 40 Teilnehmern startete 1984. Seit dieser Zeit sind bisher 34 Grundkurse, 29 Aufbaukurse und 30 Supervisionskurse durchgeführt worden. Insgesamt haben ca. 435 Teilnehmer 1750 Teilnahmen von je 35 Stunden absolviert, also im Durchschnitt hat ein Teilnehmer vier Teilnahmen mit insgesamt 140 Stunden mitgemacht, wobei es unterschiedliche Beteiligungen gibt von einer bis acht Teilnahmen. Die Kurse sind unterteilt in Grundkurs, Aufbaukurs und Supervisionskurs. Das Besondere an der Weiterbildung besteht in einem integrierten Angebot von Theorie, Methodik und Supervision mit der Möglichkeit zur Selbsterfahrung anhand der Analyse der Therapeut-Patient-Beziehung an anonymisierten Tonbandprotokollen von Behandlungsstunden. Unter meiner Leitung wurden die Kurse von 1984 bis 1987 mit Prof. Wendt, Prof. Kulawik und Infrid Tögel durchgeführt. Mit dem Rückzug von Wendt und Tögel kamen ab 1988 Günter Brandenburg und Franz Jäkel als Ausbildungsleiter dazu und nach dem Tod von Helmut Kulawik seit 1990 Frank Höhne.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Die Kurse wurden zentral für alle interessierten psychotherapeutisch tätigen Ärzte und Psychologen der DDR organisiert und fanden unter Klausurbedingungen in Schulungs- und Urlaubsheimen der »Inneren Mission« in Bad Saarow, Ferch und Chorin statt, seit 1994 ausschließlich nur noch in Chorin. Die Wahl dieser Häuser entsprach dem Schutzbedürfnis der Veranstalter, ihre Arbeit möglichst ungestört von eventuellen Genehmigungsverfahren für Veranstaltungen »im Stillen« tun zu können. Die Teilnehmer bekommen theoretisches Arbeitsmaterial zur »psychodynamischen Exploration und Therapie« mit den Essentials tiefenpsychologischer und analytischer Psychotherapie ausgehändigt, das inhaltlich in Kleingruppen von ca. zehn Teilnehmern vermittelt und diskutiert wird. In Rollenspielen zwischen den Teilnehmern werden Explorations- und Therapiesituationen geübt und später anonymisierte Tonbandmitschnitte realer Behandlungen von Erstinterviews und Therapiestunden unter Berücksichtigung der vermittelten Therapie-Essentials in der Gruppe supervidiert. Die dabei entstehende Gruppendynamik hilft, die Therapeut-Patient-Beziehung und die unbewusste Konfliktdynamik des vorstellenden Therapeuten und des Patienten zu erhellen, ähnlich wie in Balint-Gruppen. In einer abendlichen 90-minütigen Großgruppe aller ca. 40 Teilnehmer und vier Gruppenleitern wird die Dynamik des Kurses mit den Widerständen, den unbewussten Themen und aktivierten Konflikten der Teilnehmer analysiert. Von zentraler Bedeutung für die Vermittlung der Psychodynamischen Einzeltherapie als tiefenpsychologisch fundierte Methode ist das Erfassen eines aktualisierten Fokalkonfliktes. Dabei wird differenziert zwischen einem Symptomfokus, Beziehungsfokus und Struktur­ fokus. Es wird besonderer Wert darauf gelegt, dass das Dort und Damals der Patienten­ problematik im Hier und Jetzt der Therapeut-Patient-Beziehung und im Kurs in der Reinszenierung in der Seminargruppe erfasst und somit auch als Übertragungs-Gegenübertragungs-Prozess erkannt und verstanden werden kann. Dabei wird auch darauf geachtet, dass die Widerstandsanalyse vor der Inhaltsanalyse durchgeführt wird. Viele Teilnehmer haben über die Kurse zu Psychodynamischer Einzeltherapie mit dem hohen Selbsterfahrungsanteil ihre therapeutische Orientierung gefunden und stabilisiert. Die erworbene Kompetenz kann in einer Abschlussprüfung durch die Vorstellung einer erfolgreichen Behandlung unter Beweis gestellt werden. Die praktische Beheimatung in der Psychodynamischen Einzeltherapie und die in den Kursen erworbene kollegiale Verbundenheit waren der Anlass, sog. »Choriner Tage« ins Leben zu rufen, die seit 1995 einmal jährlich in Chorin stattfinden und die Weiterentwicklung des tiefenpsychologisch fundierten Verfahrens, die Vielfalt erfolgreicher praktischer Anwendungen der Psychodynamischen Einzeltherapie und die persönliche Entwicklung der Therapeuten zum Inhalt haben. Die Psychodynamische Einzeltherapie (ehemals »Dynamische Einzelpsychotherapie«) ist eine originäre ostdeutsche Entwicklung, die theoretisch und praktisch im Sinne der Richtlinien-Verfahren als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie eingeordnet werden kann. Die psychodynamische Einzeltherapie war zusammen mit der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie nach der Wende die wesentliche Grundlage für die Anerkennung ostdeutscher Psychotherapeuten innerhalb der Übergangsbestimmungen zur Anpassung an die Qualitätsanforderungen für die Aus- und Weiterbildung in tiefenpsychologisch fundierter Richtlinien-Psychotherapie und ein wesentlicher Baustein für die Weiterbildung in analytischer Psychotherapie. Dabei wird es von vielen Kollegen, die nach der Wende auch die Wei-

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terbildung in analytischer Psychotherapie absolviert haben, als Gewinn erlebt, dass sie als Basis eine gute Ausbildung in fokussierter Psychotherapie erfahren haben, um tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie nicht nur als »kleine Psychoanalyse« zu verstehen, sondern auch die Spezifika begrenzter und fokussierter Psychotherapie in der Therapievereinbarung, im Arbeitsbündnis, in der Widerstandsanalyse und in der regressions- und progressionsgesteuerten Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik zu beherrschen.

5.3.1.3 Christoph Seidler, Hans-Joachim Maaz und Michael Geyer: Das »Fercher Modell« – Glücksfall für die Balint-Arbeit in (Ost-)Deutschland Die Balint-Gruppenarbeit ist eine Anwendung der Psychoanalyse, und die hatte es in der DDR sehr schwer. Immerhin blieben einige therapeutische Methoden der psychoanalytischen Tradition verpflichtet. So haben wir uns schließlich zum Begriff »Balint-Gruppenarbeit« bekannt wegen einiger grundsätzlicher Übereinstimmungen in der Arbeitsweise. Eine Wurzel hatte die Balint-Arbeit in Ostdeutschland in den Problemfallseminaren zur Supervision von Einzelpsychotherapie durch Wendt in Uchtspringe. Diese Erfahrungen beschreibt sein Mitarbeiter Tögel (1983) so, dass »je nach Lage der mit dem vorgetragenen Fall verbundenen Problematik diagnostische Fragen, Indikationsprobleme, Fragen des Behandlungskonzepts oder der Methodik im Vordergrund stehen können [...]. Im Zentrum der Bearbeitung steht aber (ähnlich wie bei Balint) die Begegnung zwischen Therapeut und Patient« (S. 485). Die zweite wichtige Wurzel war die Selbsterfahrungsbewegung auf der Grundlage der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie, die die persönlichkeitszentrierte Psychotherapie in der DDR darstellte (Höck 1981). Die dritte Wurzel – oder besser ein Wurzelwerk – waren die vielen Versuche einzelner Psychotherapeuten, Ärzten anderer Fachgebiete psychotherapeutisches Denken und Handeln zu vermitteln, und die dabei viele Erfahrungen sammeln konnten. 1978 wurden unter der Leitung von Tögel und Maaz in Winterstein (Thüringen) erste gemeinsame konzeptionelle Überlegungen angestellt. Von nun an war die Widerspiegelung der Psychodynamik des »Falles« in der Gruppe zumindest theoretisch in das Blickfeld gerückt. Einen ersten wissenschaftlichen Erfahrungsbericht gab Maaz 1981 und beschrieb den Unterschied zum Problemfallseminar: Es sei keine Veranstaltung, in der »ein erfahrener Psychotherapeut lehrt, was richtig oder falsch ist, kein Lehrer-Schüler-Seminar, sondern eine Gruppe, in der die emotionale Beziehung zwischen vortragendem Kollegen und seinem Patienten sich praktisch in den Gefühlen zwischen dem Fall und der Gruppe bzw. zwischen dem vortragendem Kollegen und der Gruppe widerspiegelt« (S. 51). 1982 wurde ein zweiter Versuch gemeinsamer Verständigung in Klein Pritz unternommen. Als praktikabler minimaler gemeinsamer Nenner wurde ein Drei-Phasen-Modell akzeptiert, das Geyer vorgeschlagen hatte. Demnach ist der erste Abschnitt einer Sitzung leiterzentriert, der zweite Abschnitt »dynamisch«, bis sich der Beziehungskonflikt zwischen Fallreferenten und Patient in der Gruppe etabliert, der dritte Abschnitt ist wieder themen­ orientiert-didaktisch. Danach gab es jahrelang vielerlei lokale Aktivitäten, aber wenig Verbindung untereinander.

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Im Herbst 1987 verabredeten Seidler (im Auftrag der Sektion Dynamische Gruppen­ psychotherapie) und Maaz (für die Sektion Psychodynamische Einzelpsychotherapie) die notwendige Zusammenarbeit bei der weiteren Entwicklung der Balint-Gruppenarbeit. Daraus entstand im Januar des Jahres 1988 das richtungweisende Balint-Seminar in Ferch. Es wurde von Geyer (dem damaligen Vorsitzenden der GÄP), Maaz und Seidler, zusammen mit König, dem Leiter der Zentralen Fachkommission Psychotherapie der Akademie für Ärztliche Fortbildung, durchgeführt, bekam also den korrekten institutionellen Rahmen. An dem Seminar nahmen 30 erfahrene Balint-Gruppenleiter teil. Dieses Seminar war ein Wagnis und wurde schließlich ein Glücksfall.

Das Wagnis Der »korrekte Rahmen« bedeutete, dass es eindeutig um Weiterbildung ging, d. h. um den Befähigungsnachweis für Balint-Gruppenleitung der Teilnehmer und um die Einigung auf ein Arbeitskonzept, das schließlich in einem Curriculum verankert werden sollte bzw. bereits festgelegt war. Es war mit einem Spannungsfeld zwischen dem analytischen Raum und einer planmäßigen Weiterbildung zu rechnen, also nicht unbedingt mit einem unkomplizierten kollegialen Treffen. Es war notwendig, Teilnehmer in einem Seminar zusammenzufassen, die selbst alle Erfahrung als Balint-Gruppenleiter besaßen, in diesem Punkt aber seit Jahren ohne gegenseitigen Erfahrungsaustausch waren. Sie waren sich jedoch alle durch langjährige Zusammenarbeit innerhalb der Gesellschaft für Psychotherapie, z. B. durch gemeinsame Mitarbeit an Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen, bekannt und hatten zum Teil jahrelang in den gleichen Selbsterfahrungsgruppen gesessen. Sie waren also in vielfältige Beziehungen miteinander verwickelt. Prinzipiell konnten alle Teilnehmer den gleichen Kom­petenzanspruch geltend machen. Daraus ergaben sich Konsequenzen für die Leitung der Veranstaltung: Sie sollte in den Händen von Geyer, König, Maaz und Seidler liegen. Diese Zusammensetzung entsprach zwar einerseits gegebenen institutionellen Zuständigkeiten und Verantwortungen, andererseits waren die Mitglieder dieser »Leitung« den Teilnehmern als Leiter, Trainer, Übungsleiter oder Referenten aus anderen Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen zu anderen Inhalten bekannt. Das durfte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich ermächtigt hatten, die Geschicke der Balint-Arbeit in die Hand zu nehmen. Jeder andere Teilnehmer konnte prinzipiell die gleiche Rolle beanspruchen. Um unter diesen Bedingungen die Balint-Arbeit zu ermöglichen, einen methodischen Konsens zu erreichen und die zu erwartende Rivalität zu steuern, wurde folgendes Vorgehen vereinbart: – Von den Leitern des Seminars selbst werden Balint-Gruppen geleitet, um ihre Kompetenz öffentlich unter Beweis zu stellen und ihren Leitungsstil zur Diskussion anzubieten. Erst danach übernehmen sie die Supervision für Balint-Gruppen, die von Teilnehmern geleitet werden. – Um die Situation übersichtlicher zu halten, wird ausschließlich im Plenum gearbeitet. Durch Innen- und Außenkreisbildung werden alle Teilnehmer einbezogen. Die Leitung

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der Gruppen erfolgt durch freiwillige Meldung, ebenso die Zusammenstellung des Innenkreises. Jede Balint-Gruppe wird im Plenum diskutiert. – Die Leitung beobachtet den Verlauf zur Überprüfung ihrer Arbeitshypothesen und bleibt auf eventuell notwendige Veränderungen eingestellt. Die übergreifenden Verlaufsgesichtspunkte sind Leitungsmethodik und Soziodynamik des Seminars (ausführlich dargestellt in Geyer et al. 1989a, S. 248–279). Das Seminar fand im Januar 1988 in einer Herberge in einem Erholungsgebiet statt, das um diese Jahreszeit kaum besucht wird. Die Bettenkapazität der ehemaligen Villa entsprach mit 30 Plätzen der Größe des Seminars, so dass keine anderen Gäste anwesend waren. Für die Durchführung des Seminars standen zwei Aufenthaltsräume zur Verfügung, die beide gerade groß genug waren, um allen Teilnehmern Platz zu bieten. In einem der Räume fanden die Balint-Gruppen statt, in dem anderen Raum wurde reflektiert. Sobald der jeweilige Gruppenleiter feststand, wurde der Übungsraum auf­gesucht, wo die Teilnehmer sich für einen Platz im Innen- oder Außenkreis entscheiden konnten. Unmittelbar nach Beendigung der Sitzung wurde der Raum gewechselt, so dass zwischen Übung und Auswertung eine atmosphärische Zäsur gesetzt wurde. Das Seminar dauerte von Montagmittag bis Freitagmittag. Nach Eröffnung durch König gab Geyer eine Einführung in die Balint-Arbeit und begründete die von ihm favorisierte Methodik und leitete danach zwei Gruppen. Am Dienstag wurden drei Balint-Gruppen unter Supervision von Geyer durchgeführt. Mittwoch führte Maaz eine eigene Gruppe durch, supervidierte zwei Gruppen von Teilnehmern und leitete die Auswertungen und Diskussionen. In gleicher Form verlief der Donnerstag unter Leitung von Seidler. Am Freitag gab König einen interpretierenden Überblick über den Seminarverlauf mit anschließender ausführlicher Diskussion. Diese Teilnehmer haben als Leiter oder Protagonisten oder Supervisoren ihre Art von Balint-Arbeit vorgeführt. Trotz aller Widersprüche und Unterschiede entwickelte sich eine Kultur im Sinne Balint’scher Erfahrungsbereitschaft, die es auch möglich machte, offen persönliche Schwierigkeiten bis hin zu konzeptionellen Überlegungen zu diskutieren. Das folgende Konzept entstammte diesen gemeinsamen Überlegungen und war als Grundsatzposition zu verstehen und nicht als neue Orthodoxie.

Ergebnisse 1. Die praktische Arbeit der Teilnehmer gab einen guten Einblick in ihr jeweiliges Einfühlungsvermögen, ihre Reflexions- und Abstraktionsfähigkeit und damit die Möglichkeit, ihre Befähigung zur Leitung von Gruppen einzuschätzen. Mit »Eignung« ist insbesondere auch die Fähigkeit zu einer »Haltung« gemeint, bei der es um die Art des Zuhörens geht, die »die Ärzte von uns lernen und an ihren Patienten praktizieren sollen, indem der Seminarleiter jedem erlaubt, er selbst zu sein, auf seine Weise und im selbstgewählten Zeitpunkt zu sprechen, indem er den richtigen Augenblick abwartet, d. h. nur dann spricht, wenn wirklich etwas von ihm erwartet wird, und wenn er seine Hinweise in einer Form macht, die den Ärzten, statt ihnen einen Weg vorzuschreiben, die Möglichkeit

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eröffnet, selber eine Form zu finden, wie sie mit den Problemen des Patienten fertig werden können – dann kann der Leiter in der aktuellen Situation veranschaulichen, was er lehren möchte« (Balint 1957, S. 409). 2. Zweifellos hat Balint mit seiner Methode keine planmäßige Weiterbildung angestrebt. Es ist auch für die Balint-Arbeit keine Begünstigung, wenn sie obligater Bestandteil von Weiterbildungsprogrammen ist. Andererseits ist aber Balint-Arbeit für viele Weiterbildungsziele kaum ersetzbar. Wegen der »Reinerhaltung« der Balint-Arbeit auf ihren Einsatz in der Weiterbildung zu verzichten, halten wir für unangemessen. Ebenso wäre es unsinnig und zugleich unredlich, Balint-Arbeit anders zu benennen, sobald sie in der Weiterbildung eingesetzt wird. Balint-Gruppenarbeit kann erfolgreich auch unter anderen Bedingungen praktiziert werden, als sie Balint im Auge hatte. 3. Das vorgesehene Ziel kann insofern als erreicht betrachtet werden, als es gelang, durch praktische Übungen und methodische Diskussionen einen ausreichend tragfähigen Konsens aller Beteiligten über die Methodik der Balint-Arbeit herbeizuführen. Dieser Konsens hat als »Fercher Modell« die Balint-Arbeit wesentlich, und zwar bis heute, beeinflusst.

Das Leitungskonzept (Fercher Modell) (zit. nach Seidler 1991, S. 46 f.) Die Leitung einer Balint-Gruppe liegt in den Händen eines psychotherapeutisch und grup­pendynamisch erfahrenen Arztes oder Psycho­logen, der seine Eignung in der Ausbildung nachgewiesen hat. Das Lernziel der »begrenzten, jedoch wesentlichen Umstellung in der Persönlichkeit des Arztes (Geyer et al. 1989a, S. 399)« setzt voraus, dass die Per­ sönlichkeit des Arztes emotional erreicht wird. Entgegen anderen Gruppenprozeduren wird bei der Balint-Arbeit die Ebene des geringsten Widerstandes von vornherein angezielt. Der klassische Ausgangspunkt der Balint-Gruppe über die mündliche Falldarstellung ohne jegliche Hilfsmittel ergibt naturgemäß einen guten Zugang zur emotionalen Situation der Arzt-Patient-Beziehung. Dennoch verwendete Hilfsmittel lassen Rückschlüsse auf den Fall zu. Die Vorführungen von Tonbändern, Video-Tapes oder anderen Protokollen haben gelegentlich den Impuls zur Folge, die Gesprächsführung sachorientiert zu korrigieren, d. h., emotionale Erfahrungsbereitschaft stellt sich schwerer ein. Die Fallwahl kann den aktuellen emotionalen bzw. sozialen Gruppenstatus symbolisieren. Es ist wichtig, dass die Gruppe wirklich »ihren Fall« selbst wählt, der sich in Abhängigkeit von Zusammensetzung der Gruppe und Existenzdauer sehr wesentlich unterscheiden kann und damit zugleich eine Interpretationsmöglichkeit für die Gruppenentwicklung darstellt. Der Trainer hat der Gruppe Sicherheit zu geben (Leiterzentriertheit). Besonders bei wechselnden Trainern (wie es zu Trainingszwecken in Lehrgängen erforderlich sein kann) oder zu Beginn einer Sitzung wird die Herstellung einer solchen Struktur dadurch erleichtert, dass der Leiter zu jedem Mitglied Kontakt aufnimmt, indem er dessen Beitrag verbalisiert. Verzichtet der Gruppenleiter auf die Führung, so »entsteht dabei ein recht lebhafter Gruppenprozess, viele Emotionen werden geweckt, aber es wird wenig Hilfe zum Verarbeiten dieser Emotionen gegeben. Unruhe, Frustration und Verunsicherung sind der Preis«

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(Knoepfel 1979, zit. nach Seidler 1990). Der zu aktive Gruppenleiter dagegen überspielt diese für die emotionale Berührung wichtige Phase der Verunsicherung der Gruppenteilnehmer. Nimmt der Gruppenleiter den Fallreferenten nach seiner Darstellung »heraus«, so bewahrt er ihn vor Verteidigungsaktionen gegenüber scheinbar unsinnigen, falschen, unpassenden usw. Phantasien und Einfällen der Gruppe und ermöglicht damit Prozesse, die in aktuellen Situationen häufig noch gar nicht sichtbar und beurteilbar sind.

Schlussbemerkung In dem Seminar ist durch die entängstigende, strukturierende, immer wieder auf die Regeln der Balint-Arbeit gerichtete Komponente am Ende eine solch kooperative Atmosphäre gelungen. Es wurde ein sehr bewegendes und lebendiges kollegiales Treffen und hatte von daher auch große Ausstrahlung. Das Modell selbst wurde zunehmend in Weiterbildung und Supervision verändert und angepasst. Viele Kollegen aber berichten, dass sie gerade bei Neuanfängen in Teams oder anderen Gruppen eben auf das Modell zurückgreifen, wegen seiner klaren Struktur und dadurch entängstigenden Transparenz.

5.3.1.4 Hans-Joachim Maaz: Therapie für Therapeuten Die Psychotherapie-Ausbildung in der DDR hatte ihre besonderen Schwierigkeiten und einen subversiven Reiz. Es ging vor allem um die Frage der Selbsterfahrung für Therapeuten. Lange wurde darüber gestritten, ob Psychotherapeuten Selbsterfahrung über ihre eigenen Probleme brauchten oder ob über die akademische Ausbildung zu einem Facharzt oder zum Fachpsychologen der Medizin ausreichende Kompetenz für die psychotherapeutische Arbeit erreicht werden könne. Andererseits gab es viele Kolleginnen und Kollegen, die eine Selbsterfahrung aus eigenem Problembewusstsein und für ihr berufliches Selbstverständnis für sich in Anspruch nehmen wollten. Mit Jürgen Ott war Ende der 1960er Jahre die erste »wilde« Gruppenselbsterfahrung in Erfurt begonnen worden, die später zu einer wesentlichen Wurzel für die von Kurt Höck etablierte und institutionalisierte Gruppenselbsterfahrungsausbildung in den »Kommunitäten« wurde. Das »Wilde« der Erfurter Gruppe bezog sich vor allem auf den noch privaten, noch nicht institutionalisierten Status der Gruppe, auch wenn damals durchaus noch »wilde« Gruppendynamik vorgekommen ist. Der spezifische Reiz für Selbsterfahrung ergab sich aus dem Engagement, dem individuellen Bemühen der Psychotherapeuten, für ihre Ausbildung und fachliche Kompetenz selbst sorgen zu müssen und zu wollen und sich damit gegen den akademischen und ideologischen Mainstream zu stellen. Dass die Beschäftigung mit eigenen Konflikten, Symptomen, Begrenzungen unweigerlich entwicklungspsychologische, soziale und gesellschaftliche Fragen provozierte und sowohl unbewusste als auch beziehungsdynamische Prozesse berücksichtigen musste, war in der DDR-Gesellschaft fast automatisch subversiv. Das gesellschaftliche System war überwie-

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gend autoritär organisiert, forderte Anpassung und verleugnete die Bedeutung unbewusster Vorgänge. Freuds Psychoanalyse wurde öffentlich als bürgerliche Irrlehre diffamiert. ­Deshalb empfanden Psychotherapeuten, die sich um eine tiefenpsychologisch-analytische Selbsterfahrung bemühten, oft eine doppelte Genugtuung: Für die eigene psychotherapeutische Kompetenz persönliche Verantwortung zu übernehmen (und nicht nur einer Ausbildungsauflage zu folgen) und dabei auch zur kritischen Reflexion sozialer und gesellschaftlicher Prozesse angeregt zu werden, hatten für die individuelle Würde und die berufliche Position in der repressiven und ideologisierten Gesellschaft eine befreiende Funktion. Mit der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle/Saale genoss ich seit 1980 einen Freiraum, den ich für Selbsterfahrung von Therapeuten reichlich nutzte. Ich selbst hatte über praktisch illegale kirchlich-diakonische Wege über mehrere Jahre an Selbsterfahrungsgruppen in Transaktionsanalyse, Gestalttherapie und Körperpsychotherapie teilnehmen können und dann vielfach westliche Kollegen für SelbsterfahrungsWorkshops in die Klinik einladen können. Als Prominenteste seien hervorgehoben: Eva Reich aus den USA (die Tochter von Wilhelm Reich), David Boadella aus England/ Schweiz – damals Vorsitzender der Europäischen Gesellschaft für Körperpsychotherapie, und Walther Lechler, Chefarzt der Bad Herrenalber Klinik, der praktisch Patenschaft für unsere Klinik übernommen hatte. Mit diesen Erfahrungen reichlich ausgestattet, begann ich ab 1986 mit einem Selbsterfahrungsangebot, das wir »Therapie für Therapeuten« nannten, weil die psychotherapeutischen Kollegen praktisch als Patienten für vier bis sechs Wochen in der Klinik aufgenommen wurden und unter klinischen Klausurbedingungen Gruppenselbsterfahrung absolvieren konnten. Inhaltlich war dabei nicht nur interessant, dass Selbsterfahrung in Methoden, die es in der DDR offiziell nicht gab (z. B. Körperpsychotherapie, Gestalttherapie, Transaktionsanalyse, systemische Therapie) gewonnen werden konnte, sondern im tiefenpsychologischen Sinne auch tiefere regressive Prozesse ermöglicht werden konnten, die bis dahin in der Ausbildung nicht erlebt werden konnten. Es war verständlich, dass die mühevoll etablierte Selbsterfahrung in der DDR vor allem die Autoritätskonflikte, Abhängigkeits-Autonomie-Konflikte, Probleme der Anpassung, Unterwerfung, Kontrolle und Hemmung zum Thema hatten – also höher strukturierte neurotische Konflikte im Sinne »ödipaler« Konflikte und Vater-Themen. Mit der intensiven stationär durchgeführten Selbsterfahrung (etwa sechs Stunden täglich, bis zu sechs Wochen) und den körperpsychotherapeutischen Methoden waren regressive Prozesse bis auf Frühstörungsebene möglich, so dass auch Strukturprobleme der Bindung, der Identität und der narzisstischen Selbstwertregulierung eröffnet und durchgearbeitet werden konnten. Damit begann eine kritische Auseinandersetzung mit den frühen Entwicklungsbedingungen und der Beziehung zur frühen Mutter. Erstmals wurden die DDR-typischen Konflikte mit der Autorität, an denen viele Kollegen und Kolleginnen litten, auch als Abwehr der frühen Beziehungsdefizite erkannt. Auf Anregung von Kurt Höck und unter Supervision von Heinz Benkenstein haben auch die Gruppenleiter einer geplanten nächsten Kommunität eine solche »vertiefte Selbsterfahrung« April/Mai 1988 unter stationären Bedingungen mitgemacht mit dem Ziel, dass sie die

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Probleme der frühen Mutter-Kind-Beziehung für sich selbst erforschen, um dann auch in der Kommunität für die Frühstörungsanteile der Teilnehmer offener sein zu können und methodische Angebote zur Bearbeitung zur Verfügung zu haben. Auch die übliche Zusammenarbeit der Gruppenleiter, in der Regel ein männlich-weibliches Gruppenleiterpaar, sollte durch diese intensive Selbsterfahrung verbessert werden, indem frühe Bedürftigkeiten, narzisstische Konkurrenz, Geschlechtsidentitätsprobleme für die Zusammenarbeit erkannt und vermindert werden können. Nach der Wende war diese stationäre Selbsterfahrung nicht mehr möglich, wurde aber im Workshop-Charakter über jeweils drei bis fünf Tage in Seminarhäusern weitergeführt. Seit 1986 haben etwa 150 Psychotherapeuten diese intensive Selbsterfahrung für sich in Anspruch genommen. Dabei haben vor allem die überzeugenden Erfahrungen mit körperpsychotherapeutischen Methoden später (1997) zur Bildung einer Sektion Analytische Körperpsychotherapie innerhalb der DGAPT geführt. Neben Angeboten zur Weiterbildung, wie und wann körperpsychotherapeutische Interventionen in tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie integriert werden können, sind die in dieser Sektion versammelten Kolleginnen und Kollegen um spezifische Behandlungschancen bei sog. »Frühstörungen« bemüht, die nach der politischen Wende in der DDR gehäuft klinisch manifest geworden waren. Die in den 1980er Jahren mögliche »Therapie für Therapeuten« in der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle hat Selbsterfahrungsprozesse ermöglicht, in der nach tiefenpsychologisch-analytischen gruppendynamischen und körperpsychotherapeutischen Gesichtspunkten eine sehr intensive und regressive Selbsterfahrung bis auf Frühstörungsebene ermöglicht wurde, von der heute so manche Kollegen in »geordneten« Ausbildungs- und Selbsterfahrungsgängen nur »träumen« können. Diese Erfahrungen erklären auch, weshalb ich mich seitdem einem multimodalen therapeutischen Konzept verpflichtet fühle, das ich je nach Anliegen des Patienten, dem Strukturniveau des Patienten, der Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik und den eigenen Möglichkeiten als Therapeut durch eine Methodenvielfalt (nicht polypragmatisch, sondern als integriertes Behandlungskonzept) realisiere. Dass wir nach der Wende freien Zugang zu vielfachen psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungsgängen, vor allem auch zu den analytisch orientierten Richtlinien-Verfahren der Bundesrepublik, bekamen, gehört zu den glücklichen und befreienden Erfahrungen des gesellschaftlichen Wandels. Dennoch konnte ich eine übermäßige Begeisterung für die Psychoanalyse, die manche – vor allem jüngere Kollegen – zeigten, nicht teilen. Die bevorzugte Orientierung an der Psychoanalyse war für mich eher eine Reduktion als eine Weiterentwicklung, vor allem hinsichtlich der überzeugenden therapeutischen Erfahrungen mit körperpsychotherapeutischen Interventionen, die bei der Standardmethode nicht akzeptiert werden. Dass im deutschen Vereinigungsprozess von den Ost-Psychotherapeuten erwartet wurde, dass sie noch mal 100 Stunden Selbsterfahrung auf einer West-Couch absolvieren sollten, um dadurch anerkannt zu werden, war im Zusammenhang mit meinen Erfahrungen und den gemeinsamen Bemühungen vieler Kollegen um ihre intensive Selbsterfahrung eine kritikwürdige Zumutung, über die eine wirkliche Verständigung zwischen PsychotherapieStandesvertretern aus Ost und West nicht mehr gelang.

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5.3.2 Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie 5.3.2.1 Jürgen Ott (1938–2003) und Michael Geyer: Die Weiterentwicklung der Selbsterfahrungs- und Therapiegruppen42 Durch die Aktivitäten der Berliner Arbeitsgruppe um Kurt Höck und Helga Hess, die »Erfurter Gruppe« (Böttcher, Franke, Geyer, Kiesel, Maaz, Ott) und anderer Personen und Gruppierungen (Wendt, Tögel, Benkenstein, Kulawik) entfaltete die Sektion Gruppen­ psychotherapie eine stürmische Bewegung innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Sie wurde nicht nur zum Wegbereiter einer psychodynamischen, d. h. psychoanalytisch orientierten Gruppenpsychotherapie, sondern förderte die allgemeine Entwicklung des psychodynamischen Denkens in Versorgung, Ausbildung und Forschung. Die Entwicklung reflektierte darüber hinaus die international sich durchsetzende Auf­ fassung, Gruppenpsychotherapie als »Psychotherapie durch den Gruppenprozess« zu konzeptualisieren, d. h., psychoanalytische Grundannahmen mit Konstrukten aus der sozialpsychologischen und gruppendynamischen Theorie der Kleingruppe zu verbinden. Die theoretischen Diskussionen auf den Sektionstagungen mit Vertretern der internationalen Gruppenszene aus Ost und West, die kontinuierliche und zeitnahe Publikation dieser Ergebnisse, der Auf- und Ausbau eines differenzierten dreijährigen Weiterbildungssystems in Form der Kommunitäten, die intensive Forschung zur Ausarbeitung eines manualisierten Konzeptes der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie zur Behandlung von Patienten mit primären psychischen Fehlentwicklungen, die kreative Umsetzung des Konzeptes in praktisch allen wesentlichen Versorgungseinrichtungen der DDR sowie die strategisch günstige personelle Konstellation in den Vorständen der Sektionen und der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie führten dazu, dass die Gruppenpsychotherapie eine zentrale Rolle in der psychotherapeutischen Versorgung und Weiterbildung einnahm (Ott et al. 1980; Geyer 1981, 1991a) und auch in der psychotherapeutischen Versorgungs- und Prozessforschung eine herausragende Rolle spielte (z. B. Hess et al. 1980; Geyer et al. 1991, Geyer u. Reihs 2000). Die Anwendung dieses Gruppenmodells unter anderen Rahmenbedingungen (geschlossene vs. offene Gruppen unter ambulanten, tagesklinischen und stationären Bedingungen, Kombinationsbehandlungen, Paartherapie) und mit anderen Patientengruppen (Psychosen, Essstörungen, psychosomatische Erkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen, psychogene Störungen im Kindes- und Jugendalter) stellte eine theoretische und behandlungspraktische Herausforderung dar, die zu vielfältigen Modifikationen der Zielstellungen, Wahrnehmungseinstellungen, Schlussbildungen und therapeutischen Interventionen in den verschiedenen Phasen des Behandlungsverlaufs geführt haben. Dafür seien stellvertretend einige Beispiele genannt. 42 Auszug mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber aus: J. Ott und M. Geyer (2003), Psychoanalyse und Gruppenpsychotherapie. Ein Blick auf die Entwicklung in Ostdeutschland und der DDR. In: Geyer, M., Plöttner, G., Villmann (Hrsg.) (2003), Psychotherapeutische Reflexionen gesellschaftlichen Wandels. Frankfurt a. M.: VAS, S. 53–76.

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Venner entwickelte in Jena mit ihren Mitarbeitern ein Gruppenmodell für die stationäre Behandlung von Patienten mit schweren psychosomatischen Krankheiten (Venner u. Rübe 2001). Röhrborn erarbeitete in Erlabrunn ein Konzept für eine symptomorientierte komplexe Gruppenbehandlung für psychosomatisch Kranke (Schwabe u. Röhrborn 1996). Ott, Ehle und Wahlstab führten an der Charité Modifikationen für die Behandlung von Patienten mit Essstörungen und schizophrenen Erkrankungen ein (Ehle u. Ott 1983; Ott, Ehle u. Wahlstab 1983). Seidler, Israel und Sauer modifizierten das Konzept für die Behandlung von Jugendlichen (Sauer u. Steinitz 2000; Misselwitz et al. 2001a). Die Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen und Psychosen, die vor allem in den Großgruppen aufgetretenen Phänomene projektiver Identifizierungen, Spaltungen, primitiver Idealisierungen, Identifizierungen mit dem Aggressor und »früher ÜbertragungsGegenübertragungsmanifestationen« (Ott 1981, 1983) sowie die Auseinandersetzung mit der Literatur zur psychoanalytischen Selbst- und Objektbeziehungspsychologie führten in zahlreichen Gesprächen zu Berücksichtigung dieser neueren Entwicklungen auch in der Konzipierung und Durchführung der Kommunitäten, so dass sich seit 1979 neben der im Wesentlichen von der Höck’schen Arbeitsgruppe weitergeführten Linie die »WintersteinModifikation« entwickelte, in der wir uns intensiver mit den beschriebenen Phänomenen beschäftigt haben (Förderung stärkerer Regression in den Gruppen, Umgang mit Träumen, stärkere Beachtung der Übertragung und vor allem der sog. »primitiven Abwehrmechanismen«). In diesen Kommunitäten waren dann vor allem auch Gruppenleiter tätig, die in ihrem klinischen Setting stärker mit diesen Problemen konfrontiert waren (z. B. Benkenstein, Ehle, Geyer, Maaz, Kulawik, Venner). Nach der Übersiedlung von Ott in die Bundesrepublik wurde diese Linie, insbesondere die Beachtung der Ebene tieferer Regression, dann besonders von Benkenstein und Maaz in den Kommunitäten weitergeführt. Darüber hinaus konnten sich unterschiedliche Modifikationen in Verbindung mit anderen Therapieverfahren entwickeln. Katathymes Bilderleben (Hennig, Fikentscher), Körperund Bewegungstherapie (Wilda-Kiesel), Musiktherapie (Schwabe) und analytische Gestalttherapie (Maaz) wurden auch innerhalb eines dynamischen Gruppensettings angewendet. Die theoretischen Konzepte zeigen, dass durch sozialpsychologische (Hiebsch, Homans, Vorwerg) und psychoanalytische Aspekte jeweils unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt worden sind. Die Rolle der Balint-Gruppen wurde sehr früh erkannt und als obligatorischer Bestandteil in der ärztlichen und psychologischen Aus- und Weiterbildung eingesetzt. Dabei wurden ausdrücklich gruppendynamische Elemente in das Konzept der Balint-Arbeit integriert (Geyer et al. 1989a). Von sozialpsychologischer Seite sind viele gruppendynamische Aspekte im Rahmen des sog. Leitertrainings umgesetzt worden (Geyer u. Ehrhardt 1987). Am Ende der DDR – 1989 – bestimmte die Intendierte Dynamische Gruppensychotherapie in ihren verschiedenen Modifikationen weitgehend das psychotherapeutische Therapieangebot. In ca. 40 stationären psychotherapeutischen Einrichtungen der Akutversorgung mit ca. 1000 Betten und tagesklinischen Plätzen wurde diese Methode in mehr oder weniger modifizierter Form und außerordentlich erfolgreich in der Behandlung von Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Psychosomatosen als Hauptverfahren eingesetzt (Geyer 1991a).

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5.3.2.2 Helga Hess: Forschung im Haus der Gesundheit, insbesondere zur Gruppenpsychotherapie »Einerseits sind wir an einem Punkt angekommen, wo die pragmatische Erkundungsforschung vor Fragen steht, die nur im Zusammenhang eines tieferen Durchdringens theoretischer Bezüge weiterführen kann. Die unterschiedlichsten Aspekte, die in unserem Fachgebiet aus den angrenzenden Wissenschaftsgebieten wie der klinischen Psychologie, der Sozialpsychologie, der Philosophie, aber auch der Psychoanalyse, wie der Grundlagen­ psychologie zum Tragen kommen, erfordern eine Auseinandersetzung mit der Wechselbeziehung von sozialen, interpersonellen, intrapsychischen Aspekten unter Einbeziehung unbewusster Aspekte, die Beschäftigung mit dynamisierenden Faktoren für Pathologie oder umgekehrt ›Gesundung‹ über affektive Prozesse und deren kognitives Wechselspiel. Grundlegend hierbei sind Fragen der Beziehung nicht nur im dualen Arzt-Patient-Verhältnis, sondern insbesondere auch im Gruppentherapieprozess, sie sind Fundus der Stabilität sozialen Verhaltens, in deren Rahmen intrapsychische Veränderung und Wachsen ­möglich ist. Hierfür ist stärker als bisher auch auf internationale Forschungsergebnisse, auf deren Erfahrungsaustausch und auch auf Kooperation zurückzugreifen« (Hess 1989, S. 113). Dies waren meine Schlussfolgerungen nach 20-jähriger Forschung im Haus der Ge­sundheit. Eine integrative Forschung unterschiedlicher Fachgebiete war bisher – obwohl angestrebt –immer sehr schwierig. Sowohl die Bemühungen um die Zeitschrift »Psychotherapie und Grenzgebiete« als auch die Herausgabe des Buches »Psychotherapie – Integration und Spezialisierung« und schließlich das letzte Symposium für Gruppenpsychotherapie »Die Bedeutung der Gruppe für die Entwicklung des Menschen« waren Versuche, fachübergreifend die eigenen Fragestellungen zu erweitern und neu zu durchdringen. Auch hinsichtlich der internationalen Forschung bemerkt Geyer (persönliche Mitteilung 2010): »Wenn man die Forschung der 1980er Jahre betrachtet, stellt sich heraus, dass es keine eigentliche, der Forschung einzelner Institutionen übergeordnete nationale oder internationale Forschung in der DDR gegeben hat. Das staatliche Projekt ›Psychonervale Störungen‹ hat praktisch nicht als integratives Projekt gewirkt. Ab etwa 1985 ist innerhalb dieses Projektes überhaupt kein Geld mehr geflossen. Die internationale Forschung war klar erkennbar eine Sache der einzelnen Personen und Einrichtungen.« Das Jahrzehnt der 1980er Jahre war im IfPN des Hauses der Gesundheit geprägt von Untersuchungen, die aufgrund des messmethodischen Inventars, das in den Jahren zuvor geschaffen war – einschließlich anspruchsvoller mathematischer Methodik –, durchgeführt werden konnten. Diese Untersuchungen erfolgten im Rahmen von Diplomarbeiten, Dissertationen sowie Forschungsprojekten (Gesamtleitung Prof. Kühne/Halle 1981–1985; Prof. Nickel/Berlin 1986–1990), deren Schwerpunkt einerseits auf Gruppenforschung gerichtet war und in den Jahren 1986–1990 andererseits den psychotherapeutischen Spezial­ gruppen, der Entwicklung eines Diagnostikstandards sowie dem Therapieprozess und der Effektivität in der Psychotherapie galt. Die internationalen Beziehungen wurden zugleich in Form von gemeinsamen Arbeiten/Projekten gepflegt (V. Tschuschke/Stuttgart und B. Strauß/Kiel).

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Theoretische Aspekte Voraussetzung und Leitlinie der Psychotherapieforschung waren Auseinandersetzungen mit der Theorie, wozu außer der Federführung von Kurt Höck insbesondere auch Michael Froese, von Hause aus Sozialpsychologe, beitrug. Bereits früher erfolgten »Kritische Bemerkungen zu einer modernen analytisch orientierten Konzeption der Gruppendynamik (1981), er beschäftigte sich mit Max Pagés »unmittelbarer Beziehung«, äußerte sich zum Theorie-Praxis-Widerspruch in der therapeutischen Psychodiagnostik (1985a) und setzte sich mit der Individualpsychologie von Adler (1988) sowie mit dem Verhältnis von marxistischer Persönlichkeitspsychologie und psychotherapeutischer Praxis (Froese 1988b) auseinander. Auch A. Krüger untersuchte gemeinsam mit H. Katzberg »Tätigkeitspsychologische Aspekte neurotisch-funktioneller Störungen im Rahmen einer empirischen Pilotstudie zur Psychopathologie der Arbeit« (Krüger u. Katzberg 1988). Die Klinischen Psychologen, wie auch ich, hatten zumeist eine Ausbildung an der ­Humboldt-Universität zu Berlin bei Friedhardt Klix, dem derzeit führenden Experimentalpsychologen der DDR, weiterhin bei Hans-Dieter Schmidt und Johannes Helm, Schüler des Gestaltpsychologen Kurt Gottschaldt. Meine Wurzeln reichen bis zur Tierpsychologie, dem Verschränkungsbegriff von Erbe und Umwelt, hin zu Kurt Pfeiffer, Konrad Lorenz und Günther Tembrock, dem Gestaltpsychologen Kurt Gottschaldt mit seinem prägenden Begriff der Lagebefindlichkeit, zu Friedhardt Klix mit seiner Beschreibung der Orien­ tierungsreaktion sowie Modellen der Unterbrechung von Handlungen. Auch Vorstellungen von Manfred Vorwerg (die Einheit in der Differenzierung) sowie der Rollenbegriff von Gisela Vorwerg (»Rollen sind [...] Funktionskomplexe der Arbeitsteilung«) waren mir wertvoll. Die relative Erschwernis und Versagung des Zuganges zur Literatur von Freud und seiner Weiterentwicklung, insbesondere des geistigen Austauschs, bewirkten bei uns – bei mir – eine Umschau nach weiterem ähnlichem oder anderem Herangehen. Es zwang uns, unseren Gesichtskreis zu erweitern. So nahmen wir nicht nur Anleihen bei Hidas, ­Szönyi und Harmatta, den ungarischen Kollegen hinsichtlich der gruppenpsychotherapeutischen Verfahren (Hill-Matrix, Schallpegelmessung), bzw. bei Leder und Kawasarski und Galja Issurina, den polnischen und russischen Kollegen (Effektivitäts-, Motivationsfragebögen), sondern z. B. auch bei den russischen Sozialpädagogen Boshowitsch mit ihrer Beschreibung von Neugierverhalten sowie bei Petrowski mit Formen von Gruppenentartungen. Der i-Punkt war der Besuch von Kurt Höck und mir an der Wiege der Usnadse-Schule in Tiflis, dem damaligen Tblissi. Die Usnadse-Schule setzte sich ebenfalls mit dem Begriff von Bewusstem und Unbewusstem sowie der Einstellung (als ganzheitlicher, nicht bewusster affektiver Gerichtetheit) auseinander. Wir suchten zugleich auch nach Wegen der Umsetzung von theoretischen Modellvorstellungen in Forschungsdesigns. Sie scheinen hinsichtlich quantitativer, mathematisch-analytischer Hypothesengenerierung und Umsetzung einfacher zu sein. Aber auch hier gibt es Begrenzungen, allein schon in Form der Theorieabhängigkeit auch der mathematischen Abbildmethoden (z. B. Problem der kurvi-linearen Beziehungen in der Biologie).

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Testdifferenzierung; Arzt-Patient-Beziehung; Krankengutanalysen Die diagnostische Forschung beschäftigte sich insbesondere mit der Vervollkommnung der Testdiagnostik. Es wurden sowohl der Beschwerdenfragebogen, der Verhaltensfragebogen als auch der 470-F-Test durch etliche – auch faktorenanalytische – Untersuchungen durch Subskalenbildung differenziert (} Abschnitt 4.5.2.4). Der Beschwerdenfragebogen (BFB) kam in zahlreichen Dissertationen im Hinblick auf Untersuchungen zur Arzt-Patient-Beziehung sowie epidemiologischen Studien in entsprechenden medizinischen Diplomarbeiten zum Einsatz (s. Hess 1980). Ein weiterer Komplex widmete sich der Krankenguterfassung – einerseits zur Untersuchung der Klientel von ATPatienten, weiterhin hinsichtlich des ambulanten psychotherapeutischen Krankenguts (Kruska 1985) sowie in einer breit angelegten Studie mehrerer stationärer psychotherapeutischer Einrichtungen (Hess et al. 1980). Diese Studien dienten als Ausgangspunkt zu diagnostischen und therapeutischen Überlegungen, insbesondere jedoch zu Fragen der Ätiopathogenese. Stichprobenvergleiche zwischen Berlin und Moskau stammen von Roshnow et al. (1986).

Differenzierung der Exploration, das Dokumentationssystem Aufgrund der Beschäftigung mit der Verhaltenstherapie systematisierte Zeller das Explorationsschema (1985). Sie beschäftigte sich zugleich auch mit Fragen der Indikation zur Psychotherapie (1980). Auch Seidler widmete sich den Fragen der Neurosendifferenzierung (Seidler 1987). Ecke (1985), Froese (1985b) sowie Froese und Katzberg (1986) arbeiteten spezifische Aspekte zur Auslösung von Neurosen heraus. Fragen von Zusammenhängen von Neurose und Arbeitsun­ fähigkeit stammen von Kasten und mir (Kasten u. Hess 1985) sowie von Kneschke (1985). Ein entscheidendes Ergebnis legte die Arbeitsgruppe »Dokumentationssystem« unter Federführung von Hannsknut Röder (Teil I) und Michael Froese (Teil II) 1989 vor, d. h. die Entwicklung eines Basisstandards Psychotherapie bezogen auf das damalige multiaxiale statistische Manual Psychischer Störungen DSM-III. Diese Forschungsgruppe umfasste 25 Kolleginnen und Kollegen der verschiedenen psychotherapeutischen Einrichtungen der DDR unter Leitung von Röder (Basisdokumentationssystem) und Froese (dazugehöriges Glossar) (Froese 1989). Leider kam diese umfassende sinnvolle Gemeinschaftsarbeit aufgrund von Strukturänderungen durch die Wende dann nicht mehr zum Tragen.

Gruppenpsychotherapieforschung Der Forschung oblag die wissenschaftliche Verifizierung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie. Nach der Erarbeitung von Erfassungsmethoden (} Ab­schnitt 4.5.2.4) waren vergleichende Untersuchungen möglich. Diese wurden vorwiegend im Rahmen von Dissertationen durchgeführt. Es entstanden: die Literaturarbeit über die Wurzeln der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie (Schwetling 1990), Untersuchungen zum Vergleich unterschiedlicher Therapiemethoden (Froese 1981a), zur Behandlung von Paarbeziehungen (Schubring, Wagner 1991), zur Therapie mit Jugendlichengruppen (Seidler 1983, 1987, 1990), zum Therapieabbruch (Keil 1983), zur Erfassung und Therapie

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

depressiver Patienten (Gautzsch 1989). Eine Vergleichsuntersuchung zwischen der Intendierten Dynamischen und der russischen emotionalen Stress-Gruppenpsychotherapie stammt von Roshnow, Seidler und Slutzki (1986). Über Motivation und Behandlungserfolg entstand die medizinische Dissertation von K. Schmidt (1985) »Motivation und Behandlungserfolg bei Patienten in der Psychotherapie« sowie die Arbeiten von Froese (1987) »Hilf mir, aber laß mich, wie ich bin«, weiterhin die internationale Vergleichsstudie von Froese, Hess und Issurina aus dem Bechterew-Institut Leningrad (1987): Behandlungsmotivationen und Behandlungserfolg bei stationärer Gruppenpsychotherapie.

Prozess-Effektivitätsstudien Hier sind die zusätzlichen Entwicklungen von Messskalen zum Behandlungserfolg ein­ zugliedern, z. B. die Froese-Skala, weiterhin die ebenfalls von mir ausgearbeitete Skala von Böttcher und Ott (Hess 1996b). U. Keßling (1981) untersuchte im Wesentlichen durch Präpost-Vergleich Psychotherapiepatienten und ihren Erfolg durch Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. Von mir existiert eine umfassende Übersichtarbeit über die Effektivität bei Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie (Hess 2001). Bereits die ­Studien über die verschiedenen Spezialgruppen (Hess 1983; Froese 1981a; Seidler 1983; Kirchner 1981) stellen Prozess-Effektivitätsuntersuchungen dar. Über die Spezifik von Jugendlichengruppen und deren differenzierte Untersuchung im Rahmen seiner Habilitationsarbeit berichtete Seidler (} Abschnitt 4.8.1.2). Die zwei umfangreicheren Untersuchungen bilden jedoch zwei größere Studien an unausgelesenem Krankengut. Dies betrifft die Untersuchungen zur Phänomenologie und Erfassung der Wechselwirkungsprozesse im Verlauf der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie. Die sog. Videogruppe ist eine ab 1979 von Seidler therapeutisch durchgeführte, von Höck und einem Autorenteam untersuchte Gruppe von sieben Patienten über 40 Therapiestunden. Es erfolgte neben der Aufnahme mit einem Videobandgerät (für dessen Beschaffung aus der BRD wir einen Nichtbeschaffungsnachweis aus allen sozialistischen Ländern erbringen mussten) eine Act-by-act-Dokumentation sowie Pulsfrequenzableitung mittels eines Infrarot-Durchstrahlungsverfahrens per Ohrclip durch Immo Curio, vormals Mitarbeiter des Kortikoviszeralen Institutes Berlin-Buch. Wesentlich ist hierbei, dass Höck zu den einzelnen Phasen Hypothesen des Therapeutenverhaltens aufgestellt hatte, die dann verifiziert oder falsifiziert wurden. Die Abbildungsebenen erfassten die strukturelle, inhaltliche und affektive Prozesse, die wir neben formalen Kriterien wie Sprechaktivität (Hess) mittels IPA nach Bales (Froese), Hill-Verfahren (Kneschke), Mahl-Skala (Seidler), einem GT-Verfahren (Petzold), einer motivationalen Inhaltsanalyse nach Vied/Leningrad (Lorbeer, Klahre), dem Fokal-Konfliktsmodell (Ecke), den psychophysiologischen Parametern (Curio, Hess) sowie Methoden der subjektiven Bewertung des Gruppenprozesses hinsichtlich soziometrischer Konstellationen, Distanzerleben und Spannungserleben abbildeten. Hier konnte u. a. individuelles, selbstreflexives »Hauptpersonen«-Verhalten im Kontext der Gruppe psychophysiologisch beschrieben werden (Hess 1990a). In 18 Heften (von 1981–1985) der

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Schriftenreihe des IfPN (Hauses der Gesundheit) sind die Ergebnisse dieser Studie dargelegt. Diese subtile Untersuchung stellt zugleich den Kern der Elaborierung und Evaluierung der Intendierten Dynamische Gruppenpsychotherapie dar. Eine Verallgemeinerung dieses Ansatzes wurde mittels einer Prozessstudie über 21 Gruppen (Hess 1986a, Habilitationsarbeit) angestrebt. Hierbei wurden Ausgangsstichprobe, Therapieprozess einschließlich Therapeutenverhalten und Effektivität in Beziehung gesetzt. Als Vergleichsgruppen dienten die drei ermittelten unterschiedlichen Gruppenverläufe im Rahmen des intendierten Gruppenprozesses: angezielter Normverlauf, abhängig verlaufende Gruppen, gegenabhängig verlaufende Gruppen. Die Therapeuteneinstellung zur Gruppe am Beginn des Prozesses erwies sich als Gegenübertragungsmechanismus für den weiteren Gruppenverlauf als determinierend. Die zwei ermittelten Wirkmechanismen: die »affektive Beunruhigung« (explizit ausgearbeitet in Hess 2007) sowie die »sozial integrativen Strategien der Problem­ lösung« bildeten eine Einheit hinsichtlich der therapeutischen Veränderung des Einzelnen. Auch die Abbildung von Phasen konnte mit ihren jeweils veränderten Interaktionsmustern bzw. dem Erleben zuletzt ebenfalls in einer internationalen Studie von Tschuschke, Hess und MacKenzie (1991) nachgewiesen werden. Die neu gefundene soziometrische Position, die »Sarrazin-Position«, war für die Fortführung der Gruppendynamik wesentlich.

Das Ende der Forschung im Haus der Gesundheit Da die Struktur des IfPN nicht universitär verankert war, hatte eine weitere Forschung keine Überlebenschance. So suchte sich jeder einen eigenen Weg. Michael Froese ließ sich nieder, arbeitet aber intensiv im neugegründeten APB Institut mit. Ich selbst ging in die klinische Arbeit nach Haldensleben zu Ernst Wachter und arbeitete dort im Weiterbildungskreis, auch kurzzeitig als Dozentin für Medizinische Psychologie an der Universität Magdeburg, später im MIP Halle mit. Ab 1999 ließ ich mich schließlich in Magdeburg nieder, führte jedoch noch fast bis zum Ende meiner Tätigkeit 2006 ambulante Gruppen durch.

5.3.3 Inge Frohburg: Gesprächspsychotherapie II: Bewährung in der klinischen Praxis Das Interesse an der Gesprächspsychotherapie ist in der DDR seit Mitte der 1970er Jahre schnell, deutlich und sichtbar gewachsen. Dazu trugen viele unterschiedliche Tagungs- und Kongressvorträge, Veranstaltungen und Publikationen bei, in besonderem Maße jedoch eine sehr intensive universitäre und postgraduale Aus- und Weiterbildungstätigkeit. Die Folge war, dass Gesprächspsychotherapie in unterschiedlichsten Praxisbereichen des Gesundheitswesens der DDR zunehmend häufiger angewandt wurde.

Anwendungsbereiche, -häufigkeit und -bedingungen Die Anwendungsbereiche der Gesprächspsychotherapie waren vielfältig: Zum einen kam sie als psychotherapeutische Grundorientierung in allen Bereichen der Medizin zum Einsatz.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Sie war damit in die Psychosomatische Grundversorgung integriert und zugleich auch Teil einer komplexen psychiatrischen Basisversorgung. Zum anderen hatte sie den Status einer spezialisierten Psychotherapie, d. h., sie fungierte als eigenständiges Psychotherapieverfahren im Sinne einer ätiologisch orientierten Heilbehandlung zur Behebung bzw. Minderung von psychisch (mit)bedingten Störungen von Krankheitswert. Die Anwendung der Gesprächspsychotherapie gehörte zum Standard der medizinischen Regelversorgung, und zwar sowohl im ambulanten Bereich der für die DDR charakteristischen Polikliniken als auch in den stationären Einrichtungen der Psychiatrie und denen anderer medizinischer Fachdisziplinen. Sie war in Universitätskliniken, in Bezirkskrankenhäusern, in Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens, in Kur- und Rehabilitationskliniken und in verschiedenen speziellen kurativen, präventiven und rehabilitativen (territorialen) Institutionen etabliert. Gesprächspsychotherapie bot psychotherapeutischen Fachkräften ebenso wie Patienten sowohl auf der fachlichen als auch auf der personalen Ebene eine akzeptable Ergänzung bzw. Alternative zu der bis dato dominierenden Intendierten Dynamischen Gruppentherapie bzw. zur Verhaltenstherapie. Gesprächspsychotherapie galt als »Dienstleistung des Gesundheitswesens« ausschließlich der Krankenbehandlung. Deshalb wurde, wenn es um (Gesprächs-)Psychotherapie ging, in der DDR grundsätzlich von Patienten gesprochen; die in der (alten) Bundesrepublik viel gebrauchten Begriffe »Klient/Klientin« waren in diesem Zusammenhang nicht üblich. In ihrer heilkundlichen Funktion wurde Gesprächspsychotherapie deutlich von anderen nicht primär heilkundlich ausgerichteten Anwendungsfeldern »patientzentrierter Kommunikation« im Gesundheits- und Sozialwesen, d. h. von patientzentrierter Gesprächsführung, Beratung und Krisenintervention unterschieden (Helm u. Frohburg 1984; Frohburg 1984, 1987, 1995b). Gesprächspsychotherapeuten haben sich jedoch auch in diesen Bereichen engagiert und vielfach insbesondere Ausbildungsaufgaben und die Ausarbeitung von Ausbildungsmaterialien übernommen (z. B. nicht veröffentlichte Materialien des tschechoslowakischen Sexualtherapeuten Kratochvil aus dem Jahr 198543). Gesprächspsychotherapie wurde wegen ihrer heilkundlichen Aufgabenstellung – und das ausschließlich und in der Mehrheit – von speziell ausgebildeten diplomierten (klinischen) Psychologen, in der Regel Fachpsychologen der Medizin, aber auch von speziell ausgebil­ deten (Fach-)Ärzten angewandt. Psychologische Gesprächspsychotherapeuten waren in praxi – wie Psychologische Psychotherapeuten anderer Grundorientierungen – in zumeist ärztlich geleiteten Einrichtungen in Kooperation mit ärztlichen Kollegen eigenverantwortlich tätig.

43 In diesem Zusammenhang gibt es eine gewisse (kuriose) die DDR-Mentalität charakterisierende »Rand­ bemerkung«: Das für das Institut für Weiterbildung erarbeitete Lehrmaterial wurde von den Gesprächspsychotherapeutinnen Dr. Beate Jülisch und Beate Kratochwil gemeinsam erarbeitet. Bevor es veröffentlicht wurde, hat Beate Jülisch die DDR mit einem offiziellen Ausreisevisum verlassen. Ihr Name erscheint danach nicht auf dem Titel der Broschüre, sondern er wird nur im Impressum mit dem durchaus geschickten Vermerk »unter Verwendung eines Teilmanuskriptes von Dr. B. Jülisch« genannt.

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Die Finanzierung der Gesprächspsychotherapie erfolgte – wie auch der Einsatz aller anderen Psychotherapieverfahren – in der Regel über die Sozialversicherung der DDR.44 Genaue statistische Erhebungen über die Anzahl der zu DDR-Zeiten realisierten Gesprächspsychotherapien gibt es – wie im gesamten Psychotherapiebereich – nicht. Damit sind leider auch keine genaueren Angaben zur Häufigkeit ihrer Anwendung im Vergleich mit anderen Therapieverfahren möglich. In verschiedenen Publikationen, Berichterstattungen u. Ä. wird Gesprächspsychotherapie als das psychotherapeutische Standardverfahren bezeichnet, das in den stationären Kliniken, Polikliniken und ambulanten Einrichtungen der DDR »sehr häufig« angewendet wurde; gelegentlich heißt es auch, dass es das »am meisten praktizierte bzw. das bei weitem überwiegende Verfahren« war (z. B. in einer an die Bundesärztekammer gerichteten Einschätzung leitender Ärzte, Klinikdirektoren und medizinischer Universitäts-Professoren vom 18. September 1990). Nach Angaben von psychiatrischer Seite wurde Gesprächspsychotherapie in mehr als 50 % der Psychotherapiefälle in den ärztlich geleiteten stationären und ambulanten Einrichtungen als Behandlungsverfahren eingesetzt (Schreiben leitender Ärzte und Professoren in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Ärztliche Gesprächspsychotherapie e. V. [ÄGG] an die Kassenärztliche Bundesvereinigung vom 13. November 1990). Angaben zur Erarbeitung eines Forschungsgutachtens für das geplante Psychotherapeutengesetz zufolge wurden in der DDR etwa 6000 bis 8000 Patienten gesprächspsychotherapeutisch behandelt (Schreiben Dr. I. Frohburg an Prof. Dr. Dr. A.-E. Meyer und PD Dr. R. Richter vom 2. Januar 1991). Das der Humanistischen Psychologie zugeordnete Konzept personzentrierten Handelns ist in der DDR im Gegensatz zu internationalen Entwicklungen auf die Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens beschränkt geblieben. Unter Pädagogischen Psychologen, Arbeitsund Sozialpsychologen und verwandten Berufsgruppen hat es kaum Interessenten auf sich gezogen und damit auch nicht Fuß gefasst. Eine gesellschaftskritische Dimension haben die Gesprächspsychotherapeuten in der DDR nicht erreicht. Dieser Umstand hat uns sicher die Anerkennung der Gesprächspsychotherapie als heilkundliches Verfahren erleichtert. Andererseits blieben dadurch jedoch potentiell sicher vorhandene Möglichkeiten, personzentrierte Einstellungen und Verhaltensweisen in anderen Berei­chen des gesellschaftlichen Lebens zu verankern, weitgehend ungenutzt.

44 Die Sozialversicherung war die Kranken- und Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte, Lehrlinge, Studenten und Fachschüler sowie freiberuflich tätige Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte in der DDR. Sie war als Pflichtversicherung mit einem einheitlichen Beitragssatz konzipiert und betreute rund 90 % der DDRBevölkerung. Sie existierte von 1947 bis 1990 und befand sich ab 1951 in Trägerschaft des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds (FDGB), des Dachverbandes der Einzelgewerkschaften der DDR. Die Sozialversicherung gewährte unentgeltlich und zeitlich unbefristet die ambulante und stationäre ärztliche, zahnärztliche und psychotherapeutische Behandlung, die Versorgung mit Medikamenten, Zahnersatz und anderen Heilmitteln, die Inanspruchnahme von Kuren und Rehabilitationsmaßnahmen sowie die Zahlung von Kranken- und Ausfallgeld und eine Altersversorgung. Die soziale Absicherung anderer als der genannten Personen, vor allem von Mitgliedern der Produktionsgenossenschaften der Landwirtschaft und des Handwerks, oblag der Staatlichen Versicherung der DDR. Darüber hinaus bestand eine gesonderte Sozialversicherung für die rund 45.000 im Uranabbau tätigen Beschäftigten der SDAG Wismut, die direkt aus dem Staatshaushalt der DDR und der Sowjetunion finanziert wurde.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Aus nach 1990 erschienenen Publikationen ist bekannt geworden, dass »Techniken der Gesprächspsychotherapie« zum Lehrplan der an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit vertretenen »Operativen Psychologie« gehörten (Richter 2001, S. 5)45. »Operative Psychologie« sollte psychologische Erkenntnisse für die Arbeit im Dienste der Staatsicherheit vermitteln – u. a. Konzepte für Gesprächs- und Verhandlungsführung. Insbesondere sollte späteren Vernehmern, Haftpsychologen und Führungsoffizieren der »Informellen Mitarbeiter« vermittelt werden, wie »vertrauliche Beziehungen« aufgebaut werden können, um auf dieser Basis »die zu bearbeitende Person« zur Aussagebereitschaft über ihre Person, ihr familiäres Umfeld, ihren Freundes- und Bekanntenkreise, ihre Arbeitskollegen sowie ihr Wohnumfeld zu nötigen. »Es wurde ein Zweckverhalten angestrebt, das heißt ein scheinbares Vertrauensverhältnis, dass [...] die bearbeitete Person [...] angeregt ist, sich selbst völlig zu offenbaren« (Girke in Filmaufnahmen 199246 zit. nach Morawe 2000, S. 384, 391; Girke u. Berentzen 1994). Intention und Praktiken der »Operativen Psychologie« belegen, wie Ideen der Humanistischen Psychologie pervertieren und psychologische Kenntnisse als ideologische Ins­ trumente missbraucht werden können. Zugleich erfolgte in diesem Zusammenhang fata­ lerweise auch die fachlich falsche Gleichsetzung von »Gesprächspsychotherapie« und »personzentrierter Gesprächsführung«.

Ost-West-Vergleiche Die im Folgenden mitgeteilten Informationen zu den Entwicklungs- und Arbeitsbedingungen von Gesprächspsychotherapeuten in den DDR und der Vergleich zu denen in der (alten) BRD stammen aus meiner Beteiligung an einer »International Study for Development of Psychotherapists«, die von einer Forschungskooperative der »Society for Psychotherapy 45 Die Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit wurde 1965 in Erweiterung einer seit 1951 existierenden Bildungsstätte in Golm bei Potsdam gegründet. Die Existenz dieser Hochschule blieb der Öffentlichkeit zu DDR-Zeiten weitgehend unbekannt: Sie wurde nicht im Hochschul-Verzeichnis der DDR aufgeführt, ihre Dissertationen waren in öffentlichen Bibliotheken nicht zugängig und ihre Lehrmaterialien stellten »vertrauliche Dienstsachen« dar. An dieser Juristischen Hochschule gab es – unter der Leitung von Dipl.-Phil. (später Prof. Dr. jur.) K.-O. Scharbert (1935–1987) – seit 1960 eine »Arbeitsgruppe Psychologie«, aus der später der Lehrstuhl »Operative Psychologie« hervorging. Über »Gegenstand, Aufgaben und Arbeitsgebiete der Psychologie für die Praxis im Ministerium für Staatssicherheit« schrieb Scharbert in einer der ersten 1967 erschienenen Studieneinführungen: »Die Psychologie kann für die operative Arbeit eine wertvolle Hilfe auch dadurch geben, dass sie dazu beiträgt, die Psyche des Feindes genauer zu erkennen und zu beeinflussen. [...] Damit entstehen Erkenntnisse über Gedanken, Gefühle, typische Verhaltensweisen und psychische [...] des Gegners, die wertvolle Hinweise für seine Entlarvung und Liquidierung, Beeinflussung, Zersetzung und Überwertung enthalten« (S. 56, zit. nach Richter 2001, S. 5). Der Zeitaufwand für das Fach »Operative Psychologie« war mit ca. 130 Stunden = 5 % der gesamten Ausbildungsstunden relativ gering. Der Nutzen psychologischen Wissens erreichte für das Ministerium für Staatssicherheit nach Kenntnis der Aktenlage nie den Stellenwert, den er zur selben Zeit in anderen Geheimdiensten und militärischen Apparaten hatte (Süß 1998, S. 672). Ausführlichere Darstellungen zur »Operativen Psychologie« finden sich in Behnke und Fuchs 1995; Süß 1998; Richter 2001 u. a. 46 Oberstleutnant der Staatsicherheit Dipl.-Psych. Dr. Jochen Girke (geb. 1947) war 1976–1990 als Dozent am Lehrstuhl »Operative Psychologie« tätig.

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Research« (SPR) organisiert wurde und an der sich etwa 30 Psychotherapeuten und Forscher aus 18 Ländern beteiligt haben (Ambühl 1994).47 Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR und der (alten) BRD haben unterschiedliche Erfahrungen hinsichtlich der Behandlungssettings: Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR arbeiteten – wie Psychotherapeuten anderer Richtungen auch – überhaupt nicht in eigenen Praxen, dafür aber häufiger als ihre westlichen Kollegen in Polikliniken und in stationären Einrichtungen und – wohl damit in Zusammenhang – in einem gruppentherapeutischen Setting. Gesprächspsychotherapeuten der DDR hatten dagegen weniger häufig Erfahrungen mit Familien- und Paartherapien als die in der BRD. Die Hauptklientel der meisten der in der DDR tätigen Gesprächspsychotherapeuten sind – wie in der alten Bundesrepublik auch – Patienten im Erwachsenenalter. Mehr Ost- als WestGesprächspsychotherapeuten haben jedoch auch Kinder und Jugendliche sowie Senioren über 64 Jahre behandelt. Die Diagnosen der gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten streuten in der DDR ebenso wie in der BRD (sofern sie gestellt bzw. veröffentlicht wurden) über fast alle ICD-9- bzw. ICD-10-Kategorien; am häufigsten wurden Patienten mit neurotischen, insbesondere depressiven und psychosomatischen Störungen behandelt. Fast 60 % der in der DDR gesprächspsychotherapeutisch behandelten Patienten (die Erhebung bezog sich auf annähernd 1200 Patienten) wurden mit »ernsthaften Symptomen« als »schwer gestört« klassifiziert, während die westdeutschen Gesprächspsychotherapeuten eine etwas schwächer beeinträchtigte Klientel beschreiben. Die Daten belegen ein weiteres Mal – und hier aus der Ost-West-Perspektive als gemeinsame Erfahrung – die heilkundliche Relevanz der Gesprächspsychotherapie und relativieren erneut die leider immer noch weit verbreitete Ansicht, Gesprächspsychotherapie sei die Methode der Wahl (nur) bei leicht(er) gestörten Patienten. Die Gesprächspsychotherapeuten waren – in Ost wie in West und wie allgemein bei Psychologen bzw. Psychotherapeuten – meist »-innen«. In der DDR überwog der Frauenanteil wahrscheinlich aufgrund der generell höheren Quote berufstätiger Frauen noch etwas mehr als in der alten BRD. Bei gleichem Durchschnittsalter in den Ost-/West-Stichproben verfügten die Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR über zwei bis drei Jahre mehr an Berufserfahrung, was auf die auf fünf Jahre festgelegte Dauer des universitären Studiums und den ohne Zeitverzug unmittelbar nach dem Diplomabschluss erfolgten Berufseinstieg zurückzuführen sein dürfte. Gesprächspsychotherapeuten sahen sich im Osten wie im Westen von ihren Patienten gleichermaßen anerkannt. Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR gaben jedoch häufiger als die aus der BDR an, auch von Ärzten sowie in der Öffentlichkeit Anerkennung zu erhalten. 47 Eine Beschreibung der Durchführungsbedingungen der Studie, ihrer Untersuchungsmethodik und der Stichproben sowie eine ausführliche Darstellung der Studienergebnisse finden sich in Frohburg (1998). Ausführungen zu Ost-West-spezifischen Akzentsetzungen in den theoretischen Konzeptionen der Gesprächspsychotherapie und den damit verbundenen Konsequenzen für das praktische Gesprächsverhalten sind in Frohburg (2000) enthalten.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Über die Gesprächspsychotherapeuten lässt sich mit Bezug auf eine andere unserer empirischen Erhebungen noch ergänzend sagen, dass sie sowohl in Ost wie in West zu 90 % gern Gesprächspsychotherapeuten sind und ihre Entscheidung für dieses Therapieverfahren auf einer weitgehend intrinsischen Motivation beruht. Sie resultiert vorrangig aus einem überzeugenden Erstkontakt im Studium, inner- sowie außeruniversitären Vorbildern, Affinität zu und Identifikation mit dem verfahrensspezifischen Menschenbild und den konzeptimmanenten Einstellungen und Werthaltungen (Frohburg, 1995a). Es lassen sich also – zusammengefasst – Gemeinsamkeiten, aber auch einige bemerkenswerte Unterschiede in der Berufsausübung der Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR und der alten BRD nachweisen. Unterschiede dürften vor allem auf die Einflüsse der differierenden Rahmenbedingungen, d. h. die unterschiedlichen gesellschaftlichen, gesundheitspolitischen und finanziellen Bedingungen zurückzuführen sein. Über eventuell daraus resultierende Unterschiede in den konkreten therapeutischen Gesprächen wissen wir leider so gut wie nichts. Zu erwarten wäre, dass sich aus Ost- bzw. West-spezifischen biographischen (sozialen) Erfahrungen, mentalen Prägungen, Selbstrepräsentationen sowie aus systembedingten Werthaltungen, Erwartungen, Ansprüchen, Kommunikationskulturen etc. auch Unterschiede in Inhalt und Form der Therapiegespräche ergeben. Eine Frage wäre beispielsweise, ob Ost- und West-Patienten in ihren Gesprächs­ psychotherapien in gleicher Weise über die gleichen Dinge geredet haben oder nicht. Hatten (systembedingte oder als systemimmanent deklarierte) unterschiedliche Haltungen zum »Ich« und »Wir«, also eher individuums- oder eher gemeinschaftszentrierte Werthaltungen, Einfluss auf die Selbstexploration der Patienten und/oder auf die Verbalisierungsbezüge oder -varianten des Gesprächspsychotherapeuten? Setzen Gesprächspsychotherapeuten in Abhängigkeit von ihrer Ost-West-Gebundenheit kontextual andere Schwerpunkte? Waren Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR etwa aufgrund der von ihnen oft geübten ­Alltagspraxis, auch und besonders intensiv »zwischen den Zeilen zu lesen«, sensibler für »Zwischentöne«, und gingen sie (deshalb) häufiger auf die von ihren Patienten indirekt ­ausgedrückten und auf ihre präreflexiven Gesprächsinhalte ein? Erwarten westliche Gesprächspsychotherapeuten dagegen häufiger, dass ihre Patienten etwas »klar und deutlich aussprechen« (nicht nur irgendwie ausdrücken), weil »klare Ansagen« zu ihrem Kommunikationsideal gehören? Für vergleichende Beobachtungen und Untersuchungen und damit gegebenenfalls auch zur Kennzeichnung DDR-spezifischer Besonderheiten bei Realisierung der Gesprächspsychotherapie hätte es viele interessante Fragestellungen gegeben. Die Chance, sie zu beantworten, ist vertan.

Thematische Arbeitskreise Zusätzlich zu der Humboldt-Universität zu Berlin bestehenden Arbeits- und Forschungsgruppe »Gesprächspsychotherapie« haben sich in den 1980er Jahren drei »Gesprächspsychotherapeutische Werkstätten« etabliert, deren Mitarbeiter es sich zur Aufgabe machten, in Zusammenhang mit dem Berliner »Mutterhaus« gesprächspsychotherapeutisches Arbeiten in unterschiedlichen Praxisfeldern zu erproben, zu reflektieren und wissenschaftlich zu begleiten.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

– In dem Arbeitskreis von OMR Prof. Dr. sc. med. Klaus Weise an der Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig ging es vor allem darum, psychosoziale Arbeit mit (gruppen-)ge­sprächstherapeutischem Ideengut und Praktiken im Rahmen der stationären und halbklinischen psychiatrischen Grundversorgung zu verbinden und Gesprächspsychotherapie zu einem Basiskonzept in der Psychiatrie zu­machen (Weise u. Weise 1981, s. a. } Abschnitt 4.9.1 von Weise u. Gollek in diesem Band). Diese Intention war auch mit besonderen Aktivitäten im Ausbildungsbereich verbunden (Weise 1987). – Dem von Dr. phil. Bernd Thomas (tätig an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Neurologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) geleite­ten Arbeitskreis in Halle gehörten vorwiegend ambulant tätige Kollegen aus unterschiedlichen medizinischen Einrichtungen des örtlichen Ein­zugsbereichs an. Sie verfolgten das Anliegen, die in der Gruppen-Gesprächspsychotherapie bedeutsamen Prozesse genauer zu beschreiben und in ihren Auswirkungen zu untersuchen (Frohburg, di Pol, Thomas u. Weise 1986; Ködel u. Frohburg 1988; Ködel 1990). – Ein weiterer Arbeitskreis hatte sich in der Fachpoliklinik für Psychotherapie in Leipzig unter der Leitung von OMR Dr. med. G. di Pol gebildet. In dieser Einrichtung wurden Patienten mit sog. neurotischen Entwicklungen in ge­schlossenen Gruppen tagesklinisch betreut. Zum Einsatz kam als integrativer Therapieansatz eine Kombination von (Gruppen-)Gesprächspsychotherapie und erlebensaktivierenden Gruppenver­fahren. Hier waren einzelne mit diesem Konzept verbundene therapeutische Prozesse und ihre Effekte Gegenstand begleitender empirischer Untersuchungen (Frohburg, di Pol, Thomas u. Weise 1986).

Kongress- und Tagungsbeiträge Sichtbares Zeichen der Reputation der Gesprächspsychotherapie war auch in den 1980er Jahren ihre Beteiligung an vielen wissenschaftlichen Veranstaltungen in und (Richtung Osten) außerhalb der DDR. Detailliertere Informationen dazu sind – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – im Anhang (Tabelle 4) enthalten. Inhaltlich lassen sich die Beiträge zu folgenden – durch die jeweilige Thematik bedingt sich teilweise überschneidenden – Schwerpunkten zusammenfassen: – Bestimmung und Operationalisierung von Therapiezielen sowie Indikations- und Anwendungsbereiche der Gesprächspsychotherapie (insbesondere bei Patienten mit psychosomatischen Störungen, mit Suchterkrankungen, in der Psychiatrie und in der Onkologie); – Ansätze zur Methodenkombination bzw. -integration; – Gruppen-Gesprächspsychotherapie; – patientzentrierte Konzepte in der medizinischen und psychosozialen Versorgung (Gesprächspsychotherapie, Gesprächsführung, Beratung, Krisenintervention); – Ausbildung in (Gesprächs-)Psychotherapie. Die Zusammenstellung lässt auch erkennen, dass sich der Kreis der Vortragenden in den 1980er Jahren deutlich erweitert hat, was für das Heranwachsen einer »zweiten Generation von Gesprächspsychotherapeuten« spricht.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Besonders eindrucksvoll und nachhaltig waren für mich der XXII. Internationale Kongress für Psychologie, der 1980 aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des ersten psychologischen Laboratoriums in Deutschland durch Wilhelm Wundt in Leipzig stattfand. Hier hat Johannes Helm zusammen mit Vertretern anderer Therapieverfahren ein Symposium organisiert, in dem es vorran­gig um methodologische Fragen der Psychotherapie(-Forschung) sowie um deren Indikation und Evaluation ging (Helm u. Bergin 1983). Unvergesslich sind das überwältigende Interesse und die Begeisterung, die das Ehepaar Anne-Marie und Reinhard Tausch von der Universität Hamburg als die »westdeutschen« Protagonisten der Gesprächspsychotherapie mit ihren Filmvorführungen zur Gesprächs­ psychotherapie erfuhren: Eine (erzwungene) Wiederholung der Veranstaltung im großen renommierten Filmtheater »Capitol« im Messehaus Petershof 48 fand morgens früh um 6 Uhr (!) vor vollbesetztem Saal statt. Anne-Marie Tausch hat sich dann sehr gewundert, dass es nicht möglich war, ihr im Restaurant eines »Interhotels« einen Pfefferminztee zu servieren. Erinnerungsträchtig und denkwürdig ist für mich auch das von der Gesellschaft für Ärztliche Gesprächspsychotherapie 1987 in Erfurt veranstaltete internationale Symposium, weil es die persönliche Begegnung mit Psychotherapeuten aus der Bundesrepublik Deutschland ermöglichte. So lernte ich bei dieser Gelegenheit u. a. die mir bis dahin nur aus der Literatur bekannten bzw. vertrauten Gesprächspsychotherapeuten Jochen Eckert und AnneMarie Biermann-Ratjen49 aus Hamburg kennen. Auf diese Weise hatten die Veranstaltungen auch außerhalb des offiziellen Programms ihre (individuellen) »Highlights«. Last, but not least: Auch wissenschaftliche Veranstaltungen bleiben mitunter aufgrund besonderer Rahmenbedingungen dankbar in guter Erinnerung. Das gilt beispielsweise für den Ausklang des X. Kongresses der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie: Der Vorsitzende der Gesellschaft, Prof. Dr. Michael Geyer, und die Mitglieder des Vorstandes hatten die Referenten zu einem festlichen »Abend mit Kleinem Konzert« des Weimarer Kammerorchesters der Hochschule für Musik »Franz Liszt« und einem anschließendem Dinner in das Schloss Molsdorf – einem der schönsten Barockschlösser Thüringens am südlichsten Rand der Landeshauptstadt Erfurt gelegen – eingeladen. Auch solche Gelegenheiten haben mit Sicherheit etwas zur Überwindung berufsständiger und verfahrensspezifischer Positionskämpfe zugunsten eines kollegialen Miteinanders beigetragen. Meine Arbeit als Gesprächspsychotherapeutin und meine Tätigkeit an einer Universität haben mir persönlich über die offiziellen wissenschaftlichen Veranstaltungen hinausgehend die Möglichkeit zu verschiedenen Gastaufenthalten und Vorträgen an Universitäten bzw. 48 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Von dem denkmalsgeschützten Petershof steht heute nur noch die Fassade; das gesamte Gebäude dahinter ist abgerissen worden. Wo sich zu DDR-Zeiten die weltbesten Dokumentarfilmer trafen, kann man heute T-Shirts kaufen. 49 Jochen Eckert und Eva-Maria Biermann-Ratjen sind gemeinsam mit Hans-Joachim Schwartz die Autoren des in der BDR weit verbreiteten und auch in der DDR viel gelesenen Buches »Gesprächspsychotherapie. Verändern durch Verstehen«, das zuletzt 2003 bei Kohlhammer in der 9. Auflage erschienen ist. Prof. Dr. Jochen Eckert hatte von 1990 bis 2006 in der Nachfolge von Prof. Reinhard Tausch den Lehrstuhl für Gesprächspsychotherapie an der Universität Hamburg inne und war von 1998 bis 2010 Präsident der (in dieser Zeitspanne existierenden) Deutschen Psychologischen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie e. V. (DGPP).

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Universitätskliniken in Moskau und Leningrad sowie in Warschau und Krakau geboten. Am Bechterew-Institut in Leningrad (dem heutigen Petersburg) hat man mir zudem einen Ausbildungskursus zur Gesprächspsychotherapie übertragen, den ich mit Hilfe eines Dolmetschers zwar mühsam, aber erfolgreich realisiert habe (Taschlikow u. Frohburg 1985). Mehreren Einladungen in das »nichtsozialistische Ausland« (einschließlich der BRD!) konnte ich allerdings nicht Folge leisten, da ich nicht zum »Reisekader« der Universität gehörte. Das änderte sich erst mit dem einsetzenden »politischen Tauwetter«, das mir im Oktober 1988 einen Vortrag vor Mitarbeitern der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf und im Februar 1989 die Teilnahme an einem Kongress der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e. V. (GwG) in Köln ermöglichte. Zu dieser Veranstaltung waren auch andere Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR (u. a. Prof. Dr. Weise und Dr. di Pol) eingeladen worden, ohne dass sie dieser Einladung Folge leisten konnten (durften). Als Gesprächspsychotherapeutin »aus dem Osten« habe ich damals viel herzliche Freundlichkeit, aber auch (verständliches) Misstrauen wahrgenommen: »Warum gerade die – und nur die?« Aber das wusste ich selber nicht.

Eigene Tagungen Neben der Beteiligung an den verschiedenartigen wissenschaftlichen Veranstaltungen haben wir in den 1980er Jahren dem gewachsenen Potential der Gesprächspsychotherapie Rechnung tragend auch eigene selbständige wissenschaftliche Tagungen durchgeführt: Bei der 1. wissenschaftlichen Tagung mit ca. 150 Teilnehmern vom 8. bis 11. November 1982 in Ahrenshoop ging es in 25 Beiträgen um die Veränderungspotentiale der sprachlichen Kommunikation und der Selbsteinbringung des Psychotherapeuten sowie um Erfahrungen mit der Gesprächspsychotherapie bei speziellen Patientengruppen, um Indikation und Methodenkombination und patientzentrierte Gruppen-Gesprächspsychotherapie (schriftliche Fassung der Tagungsbeiträge in Frohburg 1983). Die 2. wissenschaftliche Tagung fand mit ca. 500 (!) Teilnehmern vom 14. bis 16. April 1986 in Leipzig statt und befasste sich speziell mit der »Forschung und Praxis in der Grup­ pen-Gesprächspsychotherapie«. Hier haben insbesondere die Mitarbeiter der genannten drei Arbeitskreise ihre Konzeptionen, praktischen Erfahrungen sowie auch Ergebnisse empirischer Untersuchungen dargestellt (schriftliche Fassung der Tagungsbeiträge in Frohburg, di Pol, Thomas u. Weise 1986). Vom 16. bis 19. November 1987 organisierten wir in Kloster Chorin – nördlich von Berlin in der Schorfheide – eine »Experten-Tagung« zur Gruppen-Gesprächspsychotherapie und gaben nachfolgend einen Sammelband über »Grundbe­griffe der Gruppen-Gesprächspsychotherapie« heraus (Ködel u. Frohburg 1988). Die Absicht war – auch in Anbetracht eines allenthalben spürbaren Literaturdefizits –, eine zusammenfassende Wis­sensgrundlage und damit auch eine Diskussionsbasis für die prak­tisch arbeitenden bzw. die auszubildenden Gesprächspsychotherapeuten in der DDR zu geben und den (kritisch-wertenden) Vergleich mit anderen therapeutischen Gruppenkonzeptionen anzuregen, zu fördern und zu unterstützen. Zu einer vom 12. bis 15.11.1990 in Buckow geplanten und bereits vorbereiteten 3. wissenschaftlichen Tagung, die unter dem Motto »Beziehungsgestaltung in der Gesprächspsy-

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

chotherapie« stehen sollte, ist es in Anbetracht der politischen Ereignisse und Umbrüche nicht mehr gekommen.

Rück-Besinnung Dokumentationen von »Zeitzeugen« sind immer auch durch persönliche Erinnerungen und Akzentsetzungen geprägt oder zumindest beeinflusst. Ich habe mich gelegentlich gefragt, ob meine Sicht auf die Gesprächspsychotherapie in der DDR aus verschiedenen Gründen »geschönt«, ob sie durch (wie auch immer begründete) (n)ostalgische Verzerrungen entstellt ist. Die Faktenlage sollte geeignet sein, solchen Zweifeln zu begegnen. Gesprächspsychotherapeuten haben in den 20 Jahren ihres DDR-Daseins zwar keine »großen Taten« vollbracht, sie hatten aber eine – sie hatten ihre »Nische« gefunden und »kleine Dinge« gerne, mit großer Liebe und Hingabe und mit sichtbaren Erfolgen getan. Tabelle 4: Beteiligung von Gesprächspsychotherapeuten an wissenschaftlichen Veranstaltungen (Kongresse, Tagungen, Symposien u. a.) 1980–1989 Kongresse der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie der DDR (GÄP) § X. Kongress 02.–04.03.1982 in Erfurt: »Psychotherapeutisches Denken und Handeln in der Medizin« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie: n Anwendungsbereiche patientzentrierten Handelns (Helm u. Frohburg) n Zur Struktur und Funktion von Therapiezielen im Rahmen der Gruppengesprächspsychotherapie (Feldes u. Ködel) n Erste Erfahrungen mit Veränderungsmessungen von Persönlichkeitsvariablen im Rahmen einer gruppengesprächstherapeutisch orientierten Suchtbehandlung (Grüß, Dobschütz u. Uhle) n Indikation zur Gesprächspsychotherapie (Petzold) n Gesprächspsychotherapie bei psycho­ somatischen Patienten? (Frohburg u. Helm) n Patientzentrierte Gesprächsgruppen in der onkologischen Ambulanz (Kratochwil u. Niederkorn) §  XI. Kongress 26.–28.03.1985 in Neubrandenburg: »Psychotherapie als Querschnittdisziplin in der Medizin« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie: n Indikationsmodelle und empirische Ergebnisse zur prognostischen Indikation (Helm) n Indikation zur Einzel- und Gruppenbehandlung in der patientzentrierten Gesprächspsychotherapie (Feldes, Ködel u. Pabel) n Integrative Gesprächspsychotherapie (di Pol u. Hauschild) n Untersuchungen zu Verlauf und Effektivität einer integrativen Gesprächspsychotherapie (Hauschild u. di Pol) n Gesprächspsychotherapeutisch orientierte Gruppentherapie bei Suchtkranken und in gemischten Gruppen psychotischer und neurotischer Patienten (Grüß, Rank, Stephan u. H. Weise) n Gesprächspsychotherapie bei psychosomatischen Patienten? (Frohburg u. Helm) n Der Allgemeinmedizinischer als Gesprächspsychotherapeut – Die allgemeinmedizinische Sprechstunde des Gesprächspsychotherapeuten (Schorlemmer) n Patientzentrierte Gesprächsgruppen in der onkologischen Ambulanz (Kratochvil u. Niederkorn) n Die Variable »Therapeut« in der Psychotherapie von Suchtkranken (Grüß u. Rank) n Die Veränderung der Selbstwahrnehmung in der Gruppenpsychotherapie bei Suchtkranken (Rank u. Stephan) n Normative Aspekte der Therapiezielbestimmung in der Sexualtherapie (Kühne) n Patientzentrierte Gruppenpsychotherapie in der Psychiatrie (Thomas) n Zur Problematik somatischer Intensivbehandlungen (wider das Irrationale in der psychiatrischen Therapie) (Grüß) n Patientenzentrierte Gruppenpsychotherapie in der Psychiatrie (Thomas) §  XII. Kongress 17.–20.01.1989 in Berlin: »Psychotherapie und medizinische Psychologie in der Allgemeinmedizin« Beiträge zur Gesprächspsychotherapie: n Überlegungen zum Problem der Gegenstandsadäquatheit von Methoden in der Psychotherapie (K. Weise) n Zum Problem der Beziehung von Psychiatrie und Psychotherapie (K. Weise) n Interaktionsübungen (Workshop) (di Pol) n Zur Spezifik von Prozesszielen in der Psychotherapie (Workshop) (U. Feldes) n Der Arzt als Gesprächspartner für den Patienten. Naturtalent – oder? (Schorlemmer)

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation Kongresse der Gesellschaft für Psychologie der DDR (GfPs) § XXIInd International Congress of Psychology 06.–12.07.1980 in Leipzig Beiträge zur Gesprächspsychotherapie im Symposium »Behavior Modification« (Helm u. Bergin/USA): n Possibilities of Predicting Success in Client-Centered Psychotherapy (Helm, Jülisch u. Helm-Schubert) n The Structure of Conflicts in Partnership and the Help by a Third (H. R. Böttcher) n Self-Experiental Methods in the Training of Psychotherapists (Frohburg) n Evaluation of Psychotherapy: A Discussion of a Research Paradigm (Minsel, Beling u. Howe/BRD) n Development in Groups by the Dialectics of Communication (H. R. Böttcher, Otto u. Materne) n Empirical Examination of the Theory of Helpful Relationsships and Processes in Person-Centered Group Therapies (R. Tausch/BRD) n Improving the Psychological Well-Being of Cancer Patients by Person-Centered Encounter Groups (A.-M. Tausch/BRD) § 7. Kongress 16.02.–19.02.1988 in Leipzig Beitrag zur Gesprächspsychotherapie im Symposium »Entwicklungstrends in der Psychotherapie« (Frohburg) n Adaptive Strategien in der Gesprächspsychotherapie (Frohburg, Helm u. Jacob) Internationale Symposien der Psychotherapeuten sozialistischer Länder § III. Internationales Symposium 17.–19.10.1979 in Leningrad Beitrag zur Gesprächspsychotherapie n Konzept und Erforschung der Gruppenpsychotherapie (H. R. Böttcher) § IV. Internationales Symposium 26.–29.10.1982 in Potsdam Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Klinisch-psychologische Forschungen zur Psychotherapie (Helm) n Probleme der Indikation, differentiellen Integration und Methodenintegration in der patientzentrierten Psychotherapie (Jülisch) n Gesprächspsychotherapie mit Jugendlichen (Frohburg) n Die Integration der Psychotherapie in die psychiatrische Versorgung (di Pol) § V. Internationales Symposium 14.–17.10.1985 in Budapest Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Forschungen zur Psychotherapie-Ausbildung (Frohburg) n Indikationsrelevante Diagnostik in der Psychotherapie (K. Weise) n Zur Effektivität der Selbsteinbringung als Mittel der Beziehungsklärung (Helm) In Programme 5th Internat. Symp. of the Psychotherapists of Socialist Countries Diverse Fachtagungen in der DDR §  Symposium des Zentralinstituts für Herz-Kreislauf-Forschung an der Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der GÄP aus Anlass des 65. Geburtstages von Prof. Dr. phil. habil. Alfred Katzenstein »Stellung und Aufgaben der Psychotherapie im sozialistischen Gesundheitswesen« 21.–22.05.1980 in Berlin Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Die Rolle der Psychotherapie bei der Erfüllung des humanistischen Anliegens der medizinischen Behandlung (Thom u. Weise) n Zur Aus- und Weiterbildung in der Psychotherapie (Helm) §  2. Arbeitstagung der Sektion Medizinische Psychologie der GNP und der Sektionen Klinische Psychologie der GÄP und der GfPs »Zur Psychologie des Patienten« 26.–29.04.1981 in Ahrenshoop Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Gesprächsgruppen im Rahmen der Betreuung onkologischer Patienten (Jacob, Jacob u. Kratochvil) n Gesprächspsychotherapie, patientzentriertes Gespräch, partnerschaftliches Gespräch – Gemeinsamkeiten und Unterschiede (Frohburg) §  6. Arbeitstagung der Sektionen Klinische Psychologie der GfPs und der GÄP und der Sektion Medizinische Psychologien der GNP »Sozialpsychologie in der klinischen Psychologie« 26.–30.10.1981 in Kühlungsborn Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Der Anteil sozialer Wechselwirkungen an der Herausbildung psychischer Störungen. Historische, methodologische und klinische Aspekte (Thom u. K. Weise) n Einschätzung der sozialen Wahrnehmung als Ausbildungselement für Gesprächspsychotherapeuten (Frohburg) §  Symposium zu den Rostocker Universitätstagen in Verbindung mit der GÄP »Psychotherapeutisch relevante Problemsituationen in der ärztlichen Tätigkeit« 03.02.–5.02.1983 in Rostock Beitrag zur Gesprächspsychotherapie n Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Patienten und Therapeuten in der Psychotherapie bei der Therapikezielsetzung (U. Feldes u. Ködel)

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

§  Symposium der Sektion Medizinische Psychologie der GNP und der Sektionen Klinische Psychologie der GÄP und der GfPs (mit internationaler Beteiligung) »Zur Psychologie des Patienten. Die Entwicklung der Medizinischen Psychologie in Ausbildung, Forschung und medizinischer Betreuung« 16.–18.04.1984 in Erfurt Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Möglichkeiten und Grenzen der Gesprächspsychotherapie bei psychosomatisch Kranken (Helm u. Frohburg) n Zur Bewertung von psychologischen und biologischen Merkmalen bei der Therapiezielbestimmung psychosomatischer Erkrankungen (Feldes u. Ködel) n Selbstkonzept und Krankheitsbewältigung im Kindesalter (Egel) n Biosoziale Betrachtung psycho­ pathologischer Prozesse (K. Weise) n Konzepte der Alkoholikertherapie (Grüß) In Tagungsprogramm §  Tagung der Sektion Psychologie der Karl-Marx-Universität Leipzig (mit internationaler Beteiligung) »Struktur und Funktion von Persönlichkeitsmerkmalen und Möglichkeiten ihrer Veränderung« 10.–14.12.1984 in Leipzig Beitrag zur Gesprächspsychotherapie n Rollenspiel als Methode des Verhaltenstrainings in der Psycho­ therapieausbildung (Frohburg) §  III. Ostseesymposium für Klinische Psychologie der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock/Bereich Medizin, Klinik für Psychiatrie und Neurologie 06.–08.01.1987 in Rostock-Warnemünde Verlaufsanalysen zu Komponenten der Selbstexploration in der Gesprächspsychotherapie (Helm u. Frohburg) §  Internationales Psychotherapie-Symposium der GÄP in Verbindung mit der Internationalen Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie »Der Therapie- und Ausbildungsprozess – Forschung und Praxis« 27.–30.09.1987 in Erfurt Beiträge zur Gesprächspsychotherapie n Prozessanalysen erfolgreicher und weniger erfolgreicher Patienten im Konzept einer integrativen Gruppen-Gesprächspsychotherapie (Hauschild u. di Pol) n Grundpositionen zu Zielsetzungen, Inhalten und Methoden der Psychotherapie-Ausbildung (Frohburg) n Operationalisierung und Strukturierung von Selbsterfahrungsprozessen in der Gesprächspsychotherapie-Ausbildung (Frohburg) n Möglichkeit und Grenzen des Verhaltenstrainings in der Gesprächs­ psychotherapie-Ausbildung (Bodnar) n Konfrontation als adaptive Strategie in der Gesprächspsychotherapie (Jacob) §  Symposium der Klinik für Neurologie und Psychiatrie im Bereich Medizin (Charité) der Humboldt-Universität zu Berlin in Verbindung mit der GÄP und GNP (mit internationaler Beteiligung) zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. sc. med. Hans Szewczyk: »Entwicklungslinien der Medizinischen Psychologie« 11.–14.12.1988 in Berlin Beitrag zur Gesprächspsychotherapie n Gesprächsführung in der Krisenintervention am Beispiel des »Telefon des Vertrauens« (Frohburg) GNP = Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie der DDR GÄP = Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR GfPs = Gesellschaft für Psychologie der DDR

5.3.4 Verhaltenstherapie 5.3.4.1 Ilona Stoiber: Die Sektion Verhaltenstherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR /Arbeitsgemeinschaft Verhaltens­ therapie der Gesellschaft für Psychologie der DDR von 1980–1989 Nachdem die Arbeitsgemeinschaft schon acht Jahre lang in guter Verknüpfung von Wissenschaft und Praxis gearbeitet und die Mitgliederzahl erheblich zugenommen hatte, erhielt sie 1982 innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie den Status einer Sektion. Werner Dummer brachte als Vorsitzender bis 1985 immer wieder neuen Schwung in die Arbeit.

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Schon im Jahre 1978 hatten wir beschlossen, klientelbezogene Arbeitsgruppentätigkeit zu organisieren, um spezifische verhaltenstherapeutische Konzeptionen, Programme, Verfahren und Methoden zu entwickeln und weiterzuentwickeln, um sie in der Praxis verbreitet anwenden zu können. In den folgenden Jahren kamen mehr und mehr Arbeitsgruppen zu Gange, die der Vorstellung von Verfahren, der Weiterbildung, Supervision, dem Erfahrungsaustausch und der Durchsetzung und Verbreitung ethischer Prinzipien in der psychosozialen Betreuung dienten. Die Arbeitsgruppentätigkeit führte die Kollegen und Kolleginnen interdisziplinär zusammen und gab ihnen Mut, auf dem damals wenig angesehenen Gebiet der Verhaltenstherapie zu arbeiten. Der Vollständigkeit halber soll hier eine kurze Auflistung der Arbeitsgruppen erfolgen, auch wenn einzelne Gruppen sich noch näher vorstellen: – Verhaltenstherapie bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit (Leitung: Ilona Stoiber, Götz Beyer) – Diagnostik der Suchterkrankungen (Leitung Johannes Roth, Heidi Hugler) – Verhaltenstherapie bei Raucherentwöhnung und -prophylaxe (Leitung Wolfgang Schwarz, Winfrid Kunz) – Sexualtherapie (Leitung: Hans-H. Fröhlich) – Verhaltenstherapie beim geistig behinderten Kind (Leitung: Brigitte Mehl) – Verhaltenstherapie beim verhaltensgestörten Kind (Leitung: Bernd Stefanides) – Verhaltenstherapie in der Psychiatrie (zunächst bei schizophrenen Psychosen) (Leitung: Konrad Peter, Steffen Theilemann) – Konzentrationstraining und andere verhaltenstherapeutische Methoden für Vorschulkinder und Schulkinder in Lübben (Leitung: Harald Barchmann) Für jährlich (1979–1990) stattgefundene zentrale Weiterbildungsveranstaltungen und Fortbildungswochen (letztere in Neubrandenburg) wurden theoretische Grundlagen aufbereitet und Übungen in Seminaren durchgeführt. Inhaltliche Schwerpunkte lagen auf Methoden der Angstreduktion, Methoden der kognitiven Umstrukturierung, Methoden der Verhaltensanalyse, Behandlung von Phobien, Selbstkontrollverfahren und Trainingsprogrammen (Selbstsicherheit, soziale Kompetenz). Darüber hinaus stellten die genannten Arbeitsgruppen ihre zielgruppenspezifischen Programme und Ergebnisse vor. Während die der Verhaltenstherapie zugrundeliegenden Lerntheorien an allen Universitäten vermittelt wurden, war es insbesondere Jürgen Mehl an der Humboldt-Universität zu Berlin, der unermüdlich die Arbeiten und Studien aus aller Welt aufbereitete und uns diese über die Arbeitsgemeinschaft/Sektion zugänglich machte. Die Umsetzung konnte auf Symposien der Psychotherapiekongresse und anderen Veranstaltungen belegt werden. In den Jahren 1989 und 1990 konnten mit unserer Hilfe einwöchige Grundkurse Verhaltenstherapie an der Akademie für Ärztliche Fortbildung durchgeführt werden. So wurden über mehr als zehn Jahre hinweg interessierte psychotherapeutisch tätige Psychologen und Ärzte sowie Vertreter anderer Berufe aus allen Bereichen der Patientenbehandlung und -betreuung im stationären und ambulanten Sektor, in Erwachsenen- sowie Kindereinrichtungen erreicht und eingeladen. Es bestand ein reges Interesse, sich auszutauschen und Neues hinzuzulernen. Einzelne Kollegen brachten sich zusätzlich mit speziellen Themen

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ein, wie Verhaltensmedizin (Ivo Srauß), Persönlichkeitsmodell in der Verhaltenstherapie (Dummer und Strauß), Begriffsbestimmungen in der Verhaltenstherapie (Brigitte Mehl), Spielexperiment als Methode der interpersonellen Verhaltensanalyse (Johannes Roth), handlungstheoretische Ansätze u. a. Während zunächst die individuelle Anwendung verhaltenstherapeutischer Methoden im Vordergrund stand, kamen immer mehr Gruppenverfahren hinzu. Die Gruppe konnte als Katalysator für individuelles Lernen und individuelle Veränderungen genutzt werden. Anregungen, Ermunterungen und hilfreiches Feedback sollten den Einzelnen fördern. Letztlich konnten komplexe verhaltenstherapeutisch orientierte Therapieprogramme entwickelt und vorgestellt werden. Die Auseinandersetzung über Therapeutenhaltungen und Therapeutenverhalten kam parallel in Gang und wurde regelmäßig geführt. Sie war Bestandteil aller Begegnungen und Weiterbildungen, die auch mit Übungen und Supervision verbunden waren. Das alles wäre nicht möglich gewesen, wenn wir nicht durch unsere westdeutschen Kolleginnen mit Literatur unterstützt worden wären. Wir waren und sind noch heute dankbar dafür. Diese Literatur war so zahlreich, dass sie in diesem Rahmen nicht wiedergegeben werden kann.

5.3.4.2 Ilona Stoiber: Verhaltenstherapie bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit 1979–1990 Am 22. Juni 1979 wurde im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft/Sektion Verhaltenstherapie der Gesellschaft für Psychologie der DDR sowie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR die Arbeitsgruppe Verhaltenstherapie bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit gegründet. In der Vorgeschichte zur Gründungsveranstaltung gab es zunehmende Kontakte zwischen den Mitarbeitern verschiedener Fachkliniken, in denen Alkohol- und Medikamentenabhängige eine spezielle Langzeitbehandlung erfuhren (Berlin-Biesdorf, Brandenburg, Hochweitzschen, Arnsdorf, Schwerin, Rüdersdorf, Rodewisch ...) sowie spezialisierten Mitarbeitern in Beratungsstellen und Ambulanzen an vielen Orten der DDR. Es lag im Wesen des Fachgebietes, dass von Anfang an Ärzte (insbesondere Psychiater), Psychologen und Mitarbeiter anderer Berufsgruppen, die auf diesem Gebiet engagiert tätig waren, zusammentrafen. Noch im Jahre 1979 fand eine zweitägige Beratung statt, um das Kennenlernen zu ermöglichen und die Zusammenarbeit zu organisieren. Ab 1980 waren es dann jährlich viertägige Beratungen, für die wir insbesondere ab 1983 regelmäßig das Lutherhaus in Ferch, ein Haus des Diakonischen Werkes, nutzen durften. Jeweils mehr als 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten eng zusammenrücken, um in dem kleinen Haus für Vorträge, Arbeitsgruppen, Verpflegung und Übernachtung Platz zu finden. Die Verbindung zum Haus manifestierten wir durch eine Abbildung in einer Broschüre »Tagungsmaterial zum 10-jährigen Bestehen der Arbeitsgruppe Verhaltenstherapie bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit«. Die Inhalte der jährlichen Beratungen wurden in ausführlichen Protokollen mit Anlagen festgehalten. Da der Zugang zu Fachliteratur nicht einfach war, wurden Kopien angefertigt und für die Weiterbildung genutzt. (Die Ormig-Abzüge fertigten wir im Rathaus Berlin-Treptow.)

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Das Anliegen der Arbeitsgruppe war es, verhaltensdiagnostische und -therapeutische Materialien und Instrumente für die spezifische Klientel der Abhängigen aufzubereiten, zu erproben und Erfahrungen damit auszuwerten. Es ging um die Bereicherung der Diagnostik und Therapie mit Methoden, die in verschiedene Therapieprogramme integriert und wahlweise indiziert eingesetzt werden konnten. Einzel- und Gruppentherapie waren von Anfang an – wie es die Praxis erforderte – gleichrangig. Diese Behandlungsformen sollten je nach den Möglichkeiten der Therapeuten und den Wünschen der Patienten bzw. den Notwendigkeiten eingesetzt werden. Die Materialien waren für Mitarbeiter/-innen unterschiedlicher Vorbildung geeignet. Die allseitige Offenheit für alle Konzepte, ohne Vorbehalte und Vorurteile gegenüber anderen Ansätzen oder »Schulen«, konnte über zehn Jahre beibehalten werden. In dieser Zeit wurde die interne Weiterbildung erweitert, wurden nationale und internationale Kongresse und andere Begegnungen ausgewertet, Forschungsergebnisse und neue Fachliteratur – soweit sie zugänglich waren – beachtet. Im Kern unserer Arbeiten wurden die klassischen Ansätze der Verhaltenstherapie auf ihren Einsatz bei Alkohol- und Medikamentenabhängigen hin überprüft, die Erlebensseite der Verhaltensanalyse differenziert, den Gedanken und Gefühlen in der rational-emotiven und kognitiven Therapie Rechnung getragen, auf die individuellen Unterschiede der Patienten bezüglich der Empfindungen, Ressourcen, organischen Besonderheiten eingegangen. Es wurde dabei klar, die Therapieziele auf der Basis der Einstellungen, Erwartungen, Sinn- und Wertorientierungen der Persönlichkeiten variieren zu müssen. Es ist sinnvoll, die Fülle der Aktivitäten nicht zeitlich, sondern inhaltlich oder nach Schwerpunkten zu gliedern, was im Folgenden geschehen soll. Die Möglichkeit zum persönlichen Erfahrungsaustausch, das gegenseitige Verständnis und die Akzeptanz, die jeder dabei erfuhr, waren von zentraler Bedeutung. Viele Kollegen und Kolleginnen arbeiteten relativ allein oder hatten zu wenige Mitarbeiter, um die große, ständig wachsende Klientel zu bewältigen. Die Anforderungen wuchsen, ohne dass sich die personellen Voraussetzungen einschließlich der Bildung bezüglich der Fachkenntnisse grundlegend verbessern konnten. Jeder kämpfte an seinem Platz um eine Aufwertung seiner Arbeit und um bessere Arbeitsbedingungen. Die Arbeitsgruppe stärkte den Einzelnen in seinem Bestreben. Es gibt einen Brief an den Minister für Gesundheitswesen der DDR, den die Arbeitsgruppe gemeinsam 1989 geschrieben hat, worin alle berufspolitischen und tätigkeitsspezifischen Ergebnisse und Forderungen zusammengefasst dargestellt worden sind. Es hatte in den Jahren zuvor Fortschritte gegeben, aber die Erfolge waren an bestimmten Orten nur bestimmten Personen zu verdanken, oder übergreifende Verordnungen waren nur lokal, nicht einmal regional umgesetzt worden. Die Forderungen waren an das zuständige Ministerium gerichtet, da anderen Institutionen in der DDR keine Macht, etwas zu ändern, zugeschrieben wurde. Mit der Vereinigung Deutschlands änderte sich berufspolitisch vieles, und der Beruf des Sozialarbeiters – sehr bedeutend für die Suchtarbeit – kam im Osten Deutschlands neu hinzu. In der Arbeitsgruppe wurde die westdeutsche Literatur zur Verhaltenstherapie sowie zur Suchttherapie regelmäßig vorgestellt. Einzelne Kolleg/-innen gaben das, worüber sie verfügten, weiter und vermittelten es. Wir haben die Aktivitäten unserer westdeutschen Kollegen hoch geschätzt. Aktive, interessierte Vertreter aus Suchteinrichtungen kamen auch zu uns,

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

wir konnten uns kennenlernen und austauschen. Es waren Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte, die aufgrund ihrer Erfahrungen Verständnis für uns hatten. Ganz besonderen Dank – auch nach so vielen Jahren – verdienen das Referat Gefährdetenhilfe des Deutschen Caritasverbandes Freiburg sowie die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren in Hamm für die kontinuierliche Unterstützung. Aber auch Mitarbeiter aus vielen ambulanten und stationären Einrichtungen und aus der Forschung stellten ihre Erkenntnisse – einschließlich der Literatur – zur Verfügung. Sie alle namentlich zu nennen, ist hier leider nicht möglich. Ein Schwerpunkt war die Einführung und Entwicklung diagnostischer Verfahren und Instrumente. Die persönlichkeitszentrierte Verhaltensanalyse war Gegenstand vieler Veröffentlichungen und konnte dadurch über die Jahre hinweg kontinuierlich verbessert werden. Fragebögen wurden übernommen und weitergereicht. Hier seien besonders der Münchner Alkoholismustest (MALT) oder das Trierer Alkoholismusinventar (TAI) erwähnt, aber auch weniger ausgereifte Verfahren wurden erprobt. Besonders hervorzuheben ist, dass die Arbeitsgruppe die Entwicklung des differentialdiagnostischen Verfahrens von Johannes Roth, Fragebogen zur Klassifikation des Trinkverhaltens Alkoholabhängiger (FTA), begleitete und den Test natürlich auch einsetzte. Darüber hinaus trug Roth wesentlich zur Weiterentwicklung der Persönlichkeitsdiagnostik bei Suchtkranken bei. Weihmann stellte 1984 psychodiagnostische Überlegungen für eine therapie­ bezogene Diagnostik und Veränderungsmessung vor, die fortlaufend reflektiert wurden. Ettrich gab eine Einführung in die Einzelfallanalyse. Ergänzend kam die Diagnostik des hirnorganischen Psychosyndroms hinzu, einer spezifischen Fragestellung bei der Behandlung von Abhängigen. Methoden der Verhaltenstherapie wurden mit Hilfe der Arbeitsgruppe gefestigt und geübt. Hierbei interessierten Vorgehensweisen – zur Selbsterkenntnis, Selbstverbalisation, Selbstdokumentation, – Definition und Techniken der Selbstkontrolle sowie des Selbstmanagements, – kognitive Therapien, Attributionsprozesse, – Techniken des Problemlösens, – das Prinzip der symbolischen Aversionstherapien, – operante Konditionierung und Verstärkertechniken, – Gedankenstopp-Training, – Modelllernen und lerntheoretisch orientiertes Rollenspiel in Gruppen, – systematische Desensibilisierung der Angst, – Selbstsicherheitstraining (nach Behzadi) und Anpassung an Abhängigkeitskranke, – Training der sozialen Kompetenz und andere neue Verfahren. Von methodenübergreifender Bedeutung waren für uns die Behandlungskonzepte. Einerseits ging es um Behandlungskriterien, die Indikation für verschiedene Behandlungsformen, Therapiezielbestimmung, Therapieangebote, Therapieplanung und -durchführung, Rückfallbearbeitung und Rückfallprophylaxe. Andererseits wurden Modelle für verschiedene ambulante und stationäre Einrichtungen, halbstationäre Einrichtungen wie Tages- oder Nachtkliniken, die Vernetzung stationärer und ambulanter Einrichtungen, die Einbeziehung der Selbsthilfegruppen vorgestellt und deren Entwicklung begleitet.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Kielstein erörterte 1983 die Psychotherapie bei Suchtkranken im Sinne der sinnvollen Integration verschiedener Methoden. Er maß dem Gespräch, einschließlich des Einbringens der Gefühle seitens des Patienten und des Therapeuten und konfrontativen Aspekten, grundsätzliche Bedeutung bei und ging auf spezifische verhaltenstherapeutische und kognitive Therapieformen ein. Auch regionale Initiativen wie der Maßnahmeplan der Stadt Dresden (initiiert von Engel) oder auf Kreisebene (Hübener, Güstrow) oder Langzeitrehabilitation in sog. »Außenstellen« klinischer Einrichtungen (Lange, Beicha bei Hochweitzschen) waren von allgemeinem Interesse. Die Phasen der Therapie, vom Kontakt über die Motivation und den Verlauf bis zur langfristigen Nachbetreuung, waren mehrfach Gegenstand von Arbeitstagungen, wobei dem Rückfallgeschehen besonderes Interesse galt. Es gab weitere Beiträge über die Behandlung spezifischer Bevölkerungsgruppen wie Jugendliche, staatlicherseits betreute Bürger, sog. kriminell gefährdete sowie weitgehend »therapieresistente« Fälle. Immer wieder war es – und ist es immer noch – notwendig, zum sog. kontrollierten Trinken, welches keine Methode der Behandlung Abhängiger ist, Stellung zu nehmen. Als Verhaltenstherapeuten fassten wir das Trinken Süchtiger nicht als gelernt und umlernbar auf, sondern als eine fixierte Fehlregulation (nach Klix). Eine solche Fehlregulation auf biopsychosozialer Grundlage ist nicht fortlaufend dominant, der Betroffene kann sehr wohl sein Verhalten vernünftig und willentlich steuern. In für seine Persönlichkeit typischen Ausnahmezuständen (und das kann nicht selten auch eine Phase der Entspannung sein) ist er dem Suchtprozess jedoch temporär ausgeliefert. Die Therapie beinhaltet, dass er mit diesen Phasen umzugehen lernt und das Risiko so klein wie möglich hält. Deshalb ist aus therapeutischer Sicht nur Abstinenz als Ziel verantwortbar. Der Weg dorthin schließt Rückfälle nicht aus. Der Süchtige wird früher oder später sein Trinken nicht mehr kontrollieren können, oder er wird entzugsbedingt weitertrinken müssen, wenn er nicht lernt, Hilfen anzunehmen, um auf das Suchtmittel verzichten zu können. Selbst der Nichtsüchtige geht beim Erlernen des kontrollierten Trinkens Risiken ein, die er vielleicht als nicht so folgenschwer einschätzt: Kleine Mengen Alkohol erhöhen die Risikofreudigkeit, und er könnte seine Absicht zur Selbstkontrolle ungewollt aufgeben. Sämtliche positiven und negativen Verstärker für angemessenes oder unangemessenes Trinken haben eine geringere Verstärkerwirkung als die von dem Suchtmittel erwartete Belohnung oder Befreiung der eigenen Befindlichkeit. Verzicht oder Karenz ist jedem Menschen möglich, wenn er die entsprechende Motivation und vorausschauende Verhaltensplanung hat, die dem Einzelnen mehr oder weniger schwerfällt. Doch gerade kontrolliertes Trinken wird als unangenehm empfunden, weil man sich eben mit Hilfe des Mittels lösen, gehen lassen, vergessen wollte, ohne dieses Geschehen ständig kontrollieren zu müssen. Wohl dem also, der das Suchtmittel von Anfang an nicht gut verträgt und nichts von ihm erwartet. Mit dem »Willen« oder gar dem »freien Willen«, wonach oft gefragt wird, hat das nichts zu tun. Ein spezifischer Schwerpunkt bei jedem Gruppentreffen war die therapeutische Beziehung sowie die Rolle des Therapeuten. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe konnten ihr eigenes Verhalten überprüfen, erörtern, ihre Belastbarkeit in Frage stellen und auch unterschiedliche Auffassungen diskutieren. Ziel war es, dadurch Sicherheit im eigenen Stil zu finden und für Neues offen zu sein.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Die Arbeitsgruppe beschäftigte sich auch mit Theorien, Geschichte und Entstehungsmechanismen der Sucht. Insbesondere Erik Winter, der wesentliche Begründer der Arbeit mit Suchtkranken, gab tieferen Einblick in die Definitionen des Fachgebietes und dessen Entwicklung, auch u. a. durch Einblicke in die russischsprachige Literatur. Statistiken des Alkoholverbrauchs im nationalen und internationalen Vergleich waren hilfreiche Grundlagen für Gedanken zur Gefährdung, Abhängigkeit und Prävention. Mit dem Fernziel, die Aus- und Weiterbildung von Suchttherapeuten zu initiieren, führten wir regelmäßig Fortbildungen im größeren Rahmen durch: Kurse im Rahmen der Fortbildungswochen der Arbeitsgemeinschaft Verhaltenstherapie 1983 und 1987 in Neubrandenburg sowie einen Fortbildungstag in Berlin-Buch 1984, Lehrgänge für Suchttherapeuten unter der fachlichen Leitung von Baron in Zusammenarbeit mit der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens Karl-Marx-Stadt in den Jahren 1987, 1988, 1989, Ausbildungskurse zum Suchttherapeuten ab 1986 in Ueckermünde (dreimal jährlich eine Woche jeweils über zwei Jahre) durch Winter in Zusammenarbeit mit der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens Neubrandenburg. Die Inhalte der Kurse wurden dokumentiert. Es erschienen vier Hefte »Grundwissen des Suchttherapeuten«, Programme der Aus- und Weiterbildung, Bausteine der Aus- und Weiterbildung, Tätigkeitsprofil des Suchttherapeuten, Funktionsplan für Suchttherapeuten. Hinzu kamen seit 1979 die umfangreichen Dokumentationen der »Dresdner Klubgespräche«, die unter der Leitung von Engel für Mitarbeiter des Gesundheitswesens sowie für Klubs und Gruppen Abstinenter durchgeführt wurden und überregionale Ausstrahlung hatten. Die Zusammenarbeit mit therapeutischen Klubs und Gruppen war von Anfang an Bestandteil der Arbeit. Viele Materialien waren als Anleitung und Hilfe für deren Tätigkeit gedacht. Arbeitsrechtliche, sozialrechtliche Probleme und Fragen wurden unter Einbeziehung von juristischen Experten dieser Gebiete besprochen. Daraus ergab sich eine gute Grundlage für die praktische Arbeit der Mitglieder der Arbeitsgruppe an den verschiedenen Orten. Kaul unterstützte unsere Vorstellung beim Ministerium für Gesundheits- und Sozialwesen im Jahre 1979, in der wir uns für die Legitimierung der Gruppen und Klubs Abstinenter einsetzten. »Therapeutische« Gruppen und Klubs sollten demnach vor allem unter der Leitung von oder in Einrichtungen des Gesundheitswesens tätig werden. Ihre Arbeit wurde im Laufe der Jahre in den unterschiedlichsten Formen toleriert. Ein anderes Thema war regelmäßig die ärztliche Schweigepflicht. Dies war wichtig, da Vertreter der Betriebe und Familienangehörige in die Therapie einbezogen wurden. Sozial auffällige Suchtkranke wurden ohnehin häufig von ihrem sozialen Umfeld vorgeführt, darunter immer auch von den Abteilungen Innere Angelegenheiten der Räte der Kreise oder Stadtbezirke, die sie aufgrund gesetzlicher Vorgaben betreuen mussten. Im Interesse und mit Zustimmung des Patienten erhielt das Umfeld viele Informationen über die Krankheit. Die Einladungen an die jeweiligen Bezugspersonen erfolgten dabei ausschließlich über die Patienten. Persönliche Mitteilungen und innere Auseinandersetzungen des Patienten wurden durch Therapeuten nicht nach außen gegeben. Hierzu fielen uns regionale Unterschiede auf: In Berlin herrschte etwa die Einstellung vor, dass Inhalte der Gruppengespräche nicht nach außen dringen sollten, damit sich z. B. Angehörige nicht zu viele Sorgen machen soll-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

ten. Die Betroffenen wollten unter sich bleiben. Im Erzgebirge legten Betroffene von Anfang an Wert auf gemeinsame Gruppen mit Angehörigen, um die Probleme dadurch besser, gemeinsam, bewältigen zu können. Für viele Therapeuten war es ferner ein wirkungsvolles Mittel, mit Patienten Vereinbarungen abzuschließen und gegebenenfalls andere Personen in diese Vereinbarungen einzubeziehen, um die Rehabilitation abzusichern. Während es anfänglich nur die Einzel- und Gruppentherapie mit den Abhängigen war, die dem Therapeuten vertraut war, kam im Verlaufe der Jahre die Arbeit mit Angehörigen, einzeln und in Gruppen, mit Paaren und Familien sowie mit anderen Problemgruppen hinzu. Das erforderte zusätzliche Erfahrungen, die wir im Rahmen der Weiterbildung ständig aktualisierten. Systemische Betrachtungsweisen waren eine wichtige Ergänzung. Im Mittelpunkt der Arbeit standen Alkoholabhängige, seltener doch zunehmend auch Medikamentenabhängige. Letztere schlossen sich allerdings selten den Gruppen der Alkoholabhängigen an, sie bevorzugten eher Einzeltherapie. Drogenabhängige wären für Therapeuten interessant gewesen, sie waren aber in der DDR kaum anzutreffen. Kenntnisse über sie mussten aus der Literatur gewonnen werden. Die Therapeuten erkannten jedoch zunehmend nicht stoffgebundene Abhängigkeiten bei ihrer Klientel, vor allem Spielsucht, Essstörungen, Arbeitssucht (?), und verlangten darüber Weiterbildung. Seitens der Patienten gewann die Bearbeitung des Themas Sexualität zunehmend an Bedeutung, wobei es selten um Sexualsucht, sondern um die Folgen der Abhängigkeit für die Sexualität ging. Relevant für die Abhängigen war die Richtlinie für die medizinische und psychologische Untersuchung der Fahrtauglichkeit auf der Basis der Tauglichkeitsverordnung für Kraftfahrer. Hierzu waren viele Kenntnisse erforderlich, die ansatzweise besprochen werden konnten. Die Unsicherheiten bezüglich der Meldepflicht blieben bestehen. Auf gemeinsamen Tagungen mit Mitarbeitern des Medizinischen Dienstes des Verkehrswesens wurde mehrfach versucht, gemeinsame Standpunkte zu finden. Im Verlauf des Jahres 1990 kam es zu vielen Veränderungen, die positive und negative Konsequenzen für die Abhängigen und deren Erfolg versprechende Behandlung hatten. Das Personal wurde einerseits durch eine neue Berufsgruppe, die des Sozialarbeiters, erweitert. Andererseits zogen sich Ärzte und Psychologen, die sich um ihre private Niederlassung kümmern mussten, zurück. Mancherorts ging die Qualifikation des Personals unter das frühere Niveau zurück, anderenorts wurde Personal erweitert, Beratungsstellen entstanden flächendeckend. Die Zusammenarbeit wurde aufgrund der vielfältigen Trägerschaft schwieriger. Je mehr über »Vernetzung« gesprochen wurde, desto häufiger klafften Lücken. Trotzdem entstand eine Lobby für Suchtkrankenhilfe, an die früher nicht zu denken war. Rehabilitationskliniken wurden auf so hohem Niveau errichtet, dass die Rahmenbedingungen erstrebenswert wurden, aber bei manchen Patienten zu einem »Kulturschock« führten. Unter der Anleitung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren wurden sehr gute Informationsmaterialien zugänglich. Das Interesse an Öffentlichkeitsarbeit konnte befriedigt werden. Während früher grundsätzliche Mängel zur effektiven und kreativen Nutzung aller Ressourcen anregten, führte plötzlich das Kostendenken dazu, dass es viele Beteiligte nur noch an den Nutzen für sich selbst denken ließ. Einerseits wurden die Aufnahmekriterien für die stationären Behandlungsfor-

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men differenziert benannt, andererseits ging es dann aber um »Bettenauslastung«. Einerseits ging es um die Motivation der Süchtigen für eine Behandlung, andererseits nutzten etliche Kranke Sozialhilfe und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dazu aus, sich betreuen und pflegen zu lassen, ohne ihr Verhalten zu ändern. Die Trennung der Entzugsbehandlungen zu Lasten der Krankenversicherung einerseits und der Rehabilitationsbehandlungen zu Lasten der Rentenversicherung andererseits komplizierte den Übergang von den einen zu den anderen und verteuerte die Maßnahmen durch zusätzliche Aktivitäten und Zwischenstationen. Da die Behandlungs- und Betreuungsformen völlig neu organisiert und die Kosten verwaltet werden mussten, konnte eine Bürokratie entstehen, die einerseits Arbeitsplätze, andererseits aber zusätzliche Kosten schuf. Bedauerlich war und blieb es, dass sich die Betriebe durch die für sie neuen Probleme des Kapitalismus aus der relevanten Betreuung zurückzogen. Früher waren es in erster Linie Betriebskollegen, die sich um Mitarbeiter kümmerten, die durch süchtiges Verhalten auffällig wurden. Sie begleiteten die Behandlungsprozesse und hielten, wenn irgendwie möglich, den Betroffenen im Betrieb. Plötzlich hatte keiner einen sicheren Arbeitsplatz, musste sich um sich selbst kümmern. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit ging mit einem verzögerten Behandlungsbeginn bei Arbeitslosen einher, und die Abhängigen wurden in einer späteren Phase der Krankheit erstmals vorstellig. Letztlich wurde klar, warum der Sozialarbeiter mit Hochschulabschluss und vielfältigen Kenntnissen auf Gebieten des Rechts und der Verwaltung dringend nötig ist. Bei allen Schwierigkeiten, die die Wende mit sich brachte, wurde aber der Grundstein für neue Möglichkeiten der Vorbereitung, Behandlung und Betreuung Suchtkranker gelegt. Das spiegelt sich in den transparenten Konzeptionen wider, die von Einrichtungen aller Art vorgelegt werden.

5.3.4.3 Brigitte Mehl: Zur Tätigkeit der Sektion bzw. Arbeitsgemeinschaft Verhaltenstherapie am geistig behinderten Kind der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und der Gesellschaft für Psychologie der DDR Die Arbeit dieser Gruppe begann am 25. März 1977 mit jährlich mindestens zweimaligen Treffen. Sie fanden meist abends und an Wochenenden zunächst in Privatwohnungen, später gastweise in Fachkrankenhäusern, Kindereinrichtungen und in kirchlichen Einrichtungen der Diakonie statt. An den Treffen nahmen zwischen sieben bis 20 Personen teil. Die Gruppe war interdisziplinär zusammengesetzt, wobei gleichberechtigt Leiter von Einrichtungen, Rehabilitationspädagogen, Pädagogen, Fachärzte, Diplom-Psychologen (zum Teil schon mit dem Titel Fachpsychologe der Medizin) und Verhaltensbiologen vertreten waren. Zielstellung war, die bereits bestehenden Einrichtungen für geistig Behinderte in ihren täglichen Betreuungs- und Förderbemühungen mit VT-methodischen Anwendungen zu unterstützen. Hierzu gehörten Diagnostik, VT-orientierte Verhaltensanalysen und die Gruppendynamik, der Aufbau von Basisverhalten und die Steuerung von Generalisierungspozessen im Familien- und Gruppenleben. Zugute kamen uns die historisch gewachsenen reichhaltigen Erfahrungen der Kollegen aus der Diakonie. Zu bemerken ist hier, dass die Diakonie

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in der DDR mit staatlichem Verbot belegt wurde, Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche zu betreiben. Die Diakonie konnte uns, unterstützt durch ihre westdeutschen Partnerinstitutionen, Literatur, Materialien und Erfahrungsberichte für unsere Fachtagungen zur Verfügung stellen. Es musste versucht werden, die Versorgungslücken, die vor allem durch das staatliche Konzept der Rehabilitationspädagogik und der Kommunikationswissenschaften (Konzept nach Eßbach) entstanden, zu schließen. Auch der individuelle Basis- und Funktionsaufbau bei geistig schwerst Mehrfachgeschädigten kamen zu kurz. Die Weiterbildungsveranstaltungen in Form von Vorträgen und Fallbesprechungen wurden von der Gesellschaft für Psychologie, der Gesellschaft für Rehabilitation der DDR und der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie mit iher Sektion Verhaltenstherapie getragen. Die Arbeitstreffen ab November 1990 wurden zunehmend von berufsständischen Anpassungsproblemen überschattet. Im Januar 1992 fand die letzte selbstorganisierte Wochenendfortbildung statt. Das folgende Engagement bestand vorwiegend im Sammeln von Nachweisen für die Zertifizierung der Fachanerkennung durch den DGVT und durch die KV. Eine letzte Nachfrage im Herbst 1992 zur Organisierung eines Arbeitstreffens im Schloss Wiepertsdorf ergab kein Interesse mehr.

5.3.4.4 Hans-H. Fröhlich: Verhaltenstherapie im Arbeitsfeld Sexualität am Beispiel der AG Sexualtherapie Ehe-, Sexual- und Familienberatungsstellen Der Bedarf der Bevölkerung an Information, Aufklärung, Beratung, Stützung und Behandlung bei Fragen, Problemen, Konflikten, Störungen und Erkrankungen die Sexualität betreffend äußerte sich in quantitativer Hinsicht vor allem in der immensen und stetigen Zunahme der Konsultationen in den speziell hierfür vorgesehenen Beratungsstellen. Sie waren neben konfessionellen Trägern (Lebensberatungsstellen) vor allem als staatliche Einrichtungen etabliert. Der Problemdruck, gemessen an der Inanspruchnahme und Frequenz durch Ratsuchende, führte dazu, dass die bei dem Rat des Kreises bzw. Stadtbezirks angesiedelte »Eheund Familienberatung« (EFB), zumeist ehrenamtlich mit Fachberatern wie Juristen, Pädagogen, »Mitarbeitern der Abteilung Inneres« und »lebenserfahrenen Bürgern« besetzt, sowie die »Ehe- und Sexualberatung« (ESB) als medizinischer Zweig der EFB, zumeist an Frauenkliniken oder Schwangerenberatungsstellen angeschlossen, zu Ehe-, Sexual- und Familienberatungsstellen (ESF-B) zusammengeführt wurden. Grundlage hierfür war eine Richtlinie des MfG 1968, in der die Grundsätze, Aufgaben, Organisation und Arbeitsweise der ESF-B festgelegt wurden. In den darauffolgenden Jahren wurde ein republikweites Netz von Beratungsstellen geschaffen, das jeden Kreis bzw. Stadtbezirk erfasste. Die ESF-B wurden hauptamtlich mit Ärzten oder Psychologen als Leiter, medizinischem/psychologischem Hilfspersonal, Verwaltungskräften, Fachberatern auf Honorarbasis, eigenen Räumlichkeiten und zum Teil selbständigem Haushalt ausgestattet und oft an Polikliniken oder Frauenkliniken angeschlossen. Diese idealen Versorgungsbedingungen betrafen vor allem die ESF-B in den Bezirksstädten, die zugleich als Leiteinrich-

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tungen für die in den Kreisen existenten kleineren Einrichtungen, oft an Kreiskrankenhäusern mitlaufenden Sprechstunden in Nebentätigkeit dort tätiger Ärzte, fungierten. Das Aufsuchen der ESF-B war für die Bevölkerung niederschwellig und kostenfrei, die Häufigkeit der Termine war nicht befristet. Die erhobenen Daten der Ratsuchenden, Klienten oder Patienten wurden vertraulich behandelt. Alle Mitarbeiter der ESF-B unterlagen der ärztlichen Schweigepflicht. Die Besetzung der ESF-B war in der Regel multiprofessionell. Die inhaltliche Arbeitsweise war individualisiert und problemangemessen. Das indikationsbezogene Spektrum des Vorgehens reichte von Information und Aufklärung über Beratung, Krisenintervention, Kurztherapie bis zu symptomorientierter Verhaltenstherapie und persönlichkeitsorientierter Langzeittherapie im Einzel-, Paar- oder Gruppensetting. Ob das jedoch realisiert werden konnte, hing in entscheidendem Maße natürlich von den Interessen, therapeutischen Orientierungen und Qualifikationen sowie den Auslastungen des dort tätigen Fachpersonals ab. Die gesetzliche Grundlage war das Familiengesetzbuch der DDR. Die für Organisationsfragen und Weiterbildung der ESF-B zuständige medizinische Fachgesellschaft war die Sektion Ehe und Familie (Rostock) der Gesellschaft Sozialhygiene der DDR, insbesondere die AG ES-B in der DDR (Drunkenmölle, Halle) sowie die AG »Medizinische und pädagogische Probleme der Sexualität« (Aresin, Leipzig). Einen differenzierten Einblick und breiten Überblick in die Vielfalt der Aufgaben und Themen gibt der zweibändige Tagungsband der 10. Rostocker Fortbildungstage »Partnerschaft und Familienplanung« (Mehlan, Geißler u. Wegner 1980). Waren die ESF-B die hauptsächlichen medizinisch-psychologischen Versorgungsstrukturen des gewachsenen Bedarfs von immer größeren und interessierteren Teilen der Bevölkerung, mit ihren sexuellen Problemen, Konflikten und Störungen klarzukommen, so hatte diese Entwicklung eine entscheidende Konsequenz: Entsprechend dem PLISSIT-Modell von Annon wuchs auch der Bedarf an Behandlung von sexuellen Störungen, zumal diese untrennbar mit partnerschaftlichen, ehelichen, familiären, gesundheitlichen und lebensqualitätsbezogenen Faktoren interdependent verquickt sind. Die ärztlichen und psychologischen Mitarbeiter der ESF-B mussten sich zu Therapeuten entwickeln, um helfen zu können (Fröhlich 1982b). Es entstand ein enormer Qualifizierungsbedarf, um den Anliegen, Erfordernissen und letztlich den fachlich gebotenen Indikationen des Teils der Klientel, die als behandlungsbedürftige Patienten die Einrichtungen aufsuchten, gerecht werden zu können. Hierbei ist zu erinnern, dass es ja niemanden gab, zu dem man hätte »überweisen« können. Die wenigen Spezialisten an Universitätskliniken, die sich überhaupt mit sexuellen Störungen befassten, waren Einzelkämpfer, die einem gesellschaftlich nicht gerade opportunen »Hobby« nachzugehen verdächtigt wurden und sich unter Umständen entsprechend zu rechtfertigen hatten. Es gab keine sexualmedizinischen Abteilungen, kein sexualwissenschaftliches Institut, nicht einmal eine Gesellschaft für Sexualwissenschaft. Somit waren und blieben die ESF-B das praxisbezogene Fundament für Probleme und Problemlösungen in sexualibus.

Arbeitsgruppe Verhaltenstherapie bei funktionellen Sexualstörungen Auf der 3. Arbeitstagung der Sektion VT im April 1981 wurden gesellschaftliche Konsequenzen gezogen und Weichen gestellt. Den Stand der bis dato vorherrschenden prakti-

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schen Beschäftigung mit sexuellen Störungen charakterisieren oder symbolisieren zwei Arbeiten: In »Zur Psychotherapie von Sexualstörungen« führen Höck und Hess (1978) aus, dass die Behandlung auf der Grundlage neurotischer Entwicklung in Form »persönlichkeitszentrierter Therapie – ohne spezifische Beachtung der Symptomatik« – erfolgt (S. 209). Die klinische Erfahrung, dass allein durch Klärung und Einsicht sich pathophysiologisch fixierte Hemmungsmechanismen auflösen würden, spricht gegen die Effizienz solchen psychodynamischen Vorgehens. In »Verhaltenstherapie bei sexuellen Deviationen« (Schmieschek 1977) erfolgte nach dieser »klassischen« Vorgehensweise die Therapie in Einzelsitzungen mit apparativer elektrischer Aversion durch schmerzhafte Strafreize im Zustand zuvor provozierter sexueller Erregung (S. 729 f.). Auch hier ist die Effizienz sehr kritisch zu sehen, ethisch fragwürdig und auf die üblichen funktionellen Sexualstörungen nicht anwendbar. Zwischen diesen Extremen des Umgangs mit Sexualstörungen, also innerhalb dieser Eckpunkte Psychoanalyse vs. klassische VT-Technik, war ein riesiges Vakuum, »ein weites Feld«, therapeutisches Brachland. Auf obengenannter Tagung wurde in einem Plenarvortrag »Zur Konzeption und Methodik der Behandlung funktioneller Sexualstörungen – Erfahrungen und Probleme« (Fröhlich 1982a) eine in dreifacher Hinsicht programmatische Neuformierung der künftigen Arbeitsweise bestimmt: 1. Forderung einer eigenständigen »integrativen Sexualtherapie« mit dem Kernstück VT und der Spezifik sexualtherapeutischer Methoden, 2. Zusammenhang und Übergang von Beratung und Therapie, 3. Betonung der Therapeutenvariable und der therapeutischen Kompetenz, was Selbsterfahrung voraussetzt und fordert. Die Wertigkeit des letzten Punktes soll durch das folgende Zitat betont werden: »Die besondere Problematik und Schwierigkeit in der Durchführung von Sexualtherapie wird in der Handhabung bestimmter Methoden deutlich, die von manchen Kollegen als unzumutbar, als zu technisch, als inadäquat oder als suspekt erlebt oder gewertet werden dürften. Hier werden eigene Vorurteile, Tabuschranken, Ängste, Unsicherheiten, Hemmungen, Schwierigkeiten und entsprechend rationalisierte Widerstände mobilisiert und müssen als solche erkannt, akzeptiert und nach Möglichkeit bearbeitet werden. Die nur mit Sachkunde, Fingerspitzengefühl und Einfühlungsvermögen zu handhabenden Methoden der Sexualtherapie können und sollen m. E. keinem Patienten verordnet – oder wenn man will: zugemutet – werden, wenn der Therapeut sie nicht als ›Insider‹ kennengelernt hat. Niemand käme ja auch auf die Idee, Autogenes Training einem Patienten vermitteln zu wollen und zu können, wenn er es nicht selbst erlernt hat. Ich halte es für ein sehr fragwürdiges und nicht vertretbares Therapeutenverhalten, sensate focus, manuelles teasing oder squeeze technique zu ›empfehlen‹, wenn der Therapeut keine eigenen Erfahrungen damit gemacht hat. Für die Kolleginnen und Kollegen, die sexualtherapeutisch mit Patienten arbeiten, liegt hier ein objektiver Bedarf an Weiterbildung und Selbsterfahrung vor, den die 1981 geschaffene und vom Autor geleitete Arbeitsgruppe ›VT bei sexuellen Funktionsstörungen‹ der Sektion Verhaltenstherapie in ihrer Tätigkeit künftig durch seminaristische Kurse Rechnung zu tragen beabsichtigt« (Fröhlich 1982a, S. 556 f.).

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Die konstituierende Sitzung fand am 3. Dezember 1981 in der ESF-B Berlin- Friedrichshain statt. Die letzte Tagung der AGr fand am 3.–4. September 1990 in Berlin-Friedrichshain erstmals in Form eines Workshops zur Sexualtherapie statt, den das Vorstandsmitglied der DGVT, Steffen Fliegel, durchführte. Im Zeitraum von zehn Jahren wurden 14 zumeist zweitägige AG-Tagungen durchgeführt. Die 4. Tagung wurde gemeinsam mit der Sektion Ehe und Familie als Ahrenshooper Frühjahrstagung »Zur Diagnostik und Therapie von funktionellen Sexualstörungen« vom 4.–8. April 1983 durchgeführt und war die einzige Veranstaltung, in der die AG öffentlich, d. h. für Fachwissenschaftler zugänglich, in Erscheinung getreten ist. Die 10. (Jubiläums-)Tagung fand im November 1986 in Magdeburg gemeinsam mit der dortigen ESF-Beratungsstelle statt. Alle anderen Tagungen wurden in Berlin durchgeführt und von der ESF-Beratungsstelle Berlin-Friedrichshain organisiert. In diesem Dezennium oblag die inhaltliche Leitung der AG mir. Aufschlussreich war die personale Zusammensetzung der AG: Von anfangs 25 Mitgliedern wuchs sie auf 50 an und wurde auf diese Zahl limitiert, um die Arbeitsfähigkeit und Effizienz zu erhalten. Die durchschnittliche Beteiligung pro Tagung lag zwischen 30 und 40 Teilnehmern. Das Geschlechterverhältnis war parietätisch. Es wurden nur Kollegen in die AG aufgenommen, die sich nachweislich in ihrer beruflichen praktischen Tätigkeit mit der Behandlung von (funktionellen) Sexualstörungen befassten. Bevorzugt wurden Mitglieder der Sektion VT und Teilnehmer an deren Weiterbildungsveranstaltungen. Aufnahmekriterium war die abgeschlossene Berufsausbildung als Arzt oder Psychologe (eine Juristin und eine Medizinpädagogin, die seit Jahren als Leiter von ESF-B mit entsprechenden Zusatzqualifizierungen fachlich versiert waren). Mit 41 Psychologen dominierte diese Berufsgruppe gegenüber sieben Ärzten (ein Psychiater, ein Internist, ein Psychotherapeut, drei Sozialmediziner, ein Venerologe/Androloge). Die Arbeitsfelder der AGM waren recht homogen: 36 Kollegen waren in ESF-Beratungsstellen tätig, die übrigen verteilten sich auf Psychologische Abteilungen in Krankenhäusern (8), Klinische Psychologen an Universitäten (2), Frauenkliniken (2), psychotherapeutische Abteilungen (2). Qualifikationsstruktur: Jedes zweite AGM ist promoviert, von den 25 promovierten Kollegen sind vier habilitiert, zwei davon Professoren. Mindestens 15 AGM waren in Vorständen Medizinisch-Wissenschaftlicher Gesellschaften oder Gremien (Klinische Psychologie, Ärztliche Psychotherapie, Verhaltenstherapie, Ehe und Familie). Eine abgeschlossene postgraduale Ausbildung als Facharzt oder Fachpsychologe der Medizin haben 41 AGM. Die örtliche Verteilung der AGM umfasste flächendeckend alle Bezirke der DDR: Berlin (Friedrichshain, Marzahn, Pankow, Weißensee, Mitte, Treptow, Lichtenberg), Bernburg, Gera, Lichtenstein, Chemnitz, Greifswald, Neuhaus/Thüringen, Bad Doberan, Halle/Saale, Potsdam, Dresden, Herzberg/Elster, Rostock, Erfurt, Jena, Schwerin, Erlabrunn, Leipzig, Stadtroda, Frankfurt/Oder, Magdeburg, Strausberg, Fürstenwalde, Markkleeberg, Wismar. Die ESF-B der Bezirksstädte waren in der Regel Leiteinrichtungen, hatten damit eine Multiplikatorenfunktion wahrzunehmen. Die Struktur und Arbeitsweise der AG waren klar geregelt. Der Leiter, der vom Vorstand der Sektion VT benannt wurde, beeinflusste maßgeblich die personelle Zusammensetzung,

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

die Organisation und die inhaltliche Vorbereitung der AG-Tagungen. Seit 1986 stand ihm ein Sekretär zur Seite (Groschek). Alle Mitglieder hatten einen Aufnahmebogen auszufüllen, der persönliche und fachliche Angaben enthielt. In der Regel erfolgte die Aufnahme zunächst als »Gast« der AG. Bei regelmäßiger Teilnahme und aktiver Mitarbeit sowie persönlicher Integrität war die Aufnahme als Mitglied möglich. Die Fluktuation war übrigens gering. In den zehn Jahren der Existenz der AG schieden 13 Mitglieder aus: wegen Ausreise in die BRD (4), Wechsel des Arbeitsbereichs (2), Berentung (1), persönliche Gründe wie Arbeitsbelastung, »zu speziell« u. a. (5). Finanzen spielten bei der AG und ihren Tagungen keine Rolle, alles war für jeden kostenfrei, auch die geladenen Referenten bekamen keine Unkosten (wie Fahrkosten, Übernachtung, Tagesgeld) erstattet. Es gab lediglich eine Kostenbeteiligung bei der Vervielfältigung von Demonstrationsmaterial (Fotoabzüge) und Fachliteratur (Ormig-Abzüge). Die AG besaß auch keine Portokasse für die zu verschickenden Einladungen und Protokolle. Ein wesentliches Merkmal der AG-Tätigkeit war deren Exklusivität. Das war jedoch in keiner Weise Ausdruck eines elitären Anspruchs oder eines sektenmäßigen Gehabes. Zugang hatten nur professionelle Berater und Therapeuten, nur themenbezogen wurden gezielt Gäste, zumeist Referenten als Spezialisten, zu den Tagungen eingeladen. Dadurch sicherte sich die AG ihre Effizienz, einen hohen Grad an Kompetenz, Schutz vor sozialer Kontrolle, Beobachtung und Einflussnahme (jeder kannte jeden, und zwar i. d. R. seit Jahren). Die konspirativ anmutende Arbeitsweise erschien notwendig, da in der AG Westliteratur verbreitet und diskutiert wurde, nach westlichen Konzepten gearbeitet und tabuisiertes »Demonstrationsmaterial« vervielfältigt und verteilt wurde. Es ist anzunehmen, dass die AG nicht »stasifrei« ihre Aktivitäten entfaltete. Die »Mitgliedsaufnahmepolitik« war streng darauf ausgerichtet, dass »der Kader sauber« blieb. Vereinzelt wurden aus diesem Grund auch Aufnahmewünsche abgelehnt, die natürlich anders begründet werden mussten (Aufnahmekapazität erreicht, fehlende Qualifikation u. Ä.). Während der zehn Jahre gab es keinen Verdacht oder eine begründbare Vermutung auf gezielte Spitzeltätigkeit in der AG. Nach der Wende wurde allerdings durch Recherchen bekannt, dass zwei Miglieder als IM tätig waren, dies jedoch in anderen (transnationalen bzw. konfessionellen) Zusammen­ hängen. Jede AG-Tagung hatte fünf Stränge: – Schwerpunktthemen, Grundsatzreferate, theoretische Vorträge, Literaturberichte u. Ä., – Falldarstellungen, – ausführliche Diskussionen zu den Vorträgen und Fallbesprechungen (seminaristisch, als Workshop durchgeführt), – Beschäftigung mit der Fachliteratur (Informationen, Exzerpte, Literaturverzeichnisse, Ausleihmöglichkeiten), – Beschaffung, Bewertung und Diskussion von Sexualtherapie-spezifischem Demonstra­ tionsmaterial. Bereits kurz nach der Gründung der AG VT bei funktionellen Sexualstörungen zeigte es sich, dass die ursprüngliche methodenspezifische Ausrichtung und Beschränkung der Behandlung auf VT im engeren Sinn zu eng und praxisfern war. Nur in Einzelfällen wurde

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Anfang der 1980er Jahre allein oder vorrangig mit verhaltenstherapeutischen Standardtechniken gearbeitet. Sowohl die Interessen als auch die Zusammensetzung der Mitglieder nach ihren psychotherapeutischen Konzepten, Methoden und Neigungen umfassten die wichtigsten in der DDR praktizierten Psychotherapieformen. Die inhaltlichen Schwerpunkte der Arbeit befassten sich (über VT im engeren Sinn hinaus) mit Beziehungsstörungen, Partnerschafts­ therapien, Therapeut-Patient-Problemen, psychodynamischen und psychogenetischen ­Konzepten und integrativen Methodenkombinationen. Auf der Grundlage einer auf der 2. AG-Tagung vorgelegten, diskutierten und verabschiedeten »Konzeption zur Sexualtherapie (ST)« befasste sich nunmehr dieses Forum – als in der DDR einziges – mit »Sexualtherapie« in ihrer ganzen Breite, wofür die im folgenden Abschnitt aufgeführten Themen repräsentativ sind. Die Inhalte der Tagungen der AG Sexualtherapie in der DDR wurden durch die Arbeit der Kollegen repräsentiert, die als Gäste, Referenten, Diskussionsteilnehmer, Fallpräsentatoren und Lernende die Tätigkeit der AG aktiv gestalteten. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die eigentliche Arbeit, das tägliche psycho- und sexualtherapeutische Bemühen am und mit den Patienten, in Einzel-, Paar- und Gruppentherapie besteht. Zwischen den Tagungen wurden die hauptsächlichen Erfahrungen gemacht, die dann später verdichtet, verallgemeinert, problematisiert, klinisch verarbeitet, didaktisch aufbereitet und zum Teil auch wissenschaftlich aufbereitet zur Diskussion gestellt werden. Die Arbeitsgruppenmitglieder waren praktisch tätige Psychotherapeuten. Vorrangiges Motiv war, (bessere) fachliche Kompetenz zu erlangen, um Patienten psychotherapeutisch gut, besser oder optimal versorgen zu können. Obligater Bestandteil der AG-Tagungen waren Falldarstellungen (2. Strang): Insgesamt wurden 29 Berichte gegeben, die insgesamt 40 »Fälle« umfassten. Ab 1984 wurden Falldarstellungen anhand von Tonbandaufzeichnungen diskutiert. Eine ständige Aufgabe der AG war, den Mitgliedern einschlägige Fachliteratur (3. Strang) zugänglich zu machen. Es war ein Problem, an Grundliteratur und spezielle themenbezogene Literatur heranzukommen. Verschiedene Möglichkeiten wurden genutzt: Information über erschienene Werke auf der AG-Tagung, Filme kopierter Literatur wurden in der AG deponiert und den Mitgliedern zur Nutzung zur Verfügung gestellt (Hennig). Es wurde eine Literaturliste über die privat und dienstlich vorhandene Fachliteratur aller Miglieder erstellt, so dass eine gegenseitige Ausleihe möglich war (etwa 100 Titel). Literaturverzeichnisse und Literaturübersichten wurden erstellt und den AGM ausgehändigt (Fröhlich). Analog wurde bei der Beschaffung von Demonstrationsmaterial (4. Strang) für ST verfahren. Die freien und freimütigen Diskussionen um die themenspezifischen Vorträge, die Falldarstellungen, die Fachliteratur und die Hilfsmittel der ST bildeten den 5. Strang der AGAktivitäten. Der Meinungs- und Erfahrungsaustausch, die kritische Reflexion, die Feedbacks und die Selbsterfahrung, die Selbstdarstellung, die Inter- und die Gruppensupervision, die gegenseitige Wertschätzung und Akzeptanz waren wohl das Wichtigste in unserer Arbeit. Das lässt sich jedoch kaum dokumentieren. Dennoch: Meinungen, Standpunkte und Ergebnisse dieser Diskussionen wurden in ausführlichen Protokollen festgehalten, die allen AGM bzw. den Gästen/Referenten zugestellt wurden.

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Anhand eines schriftlichen Protokollauszugs soll im Folgenden ein Eindruck vermittelt werden, was z. B. an grundsätzlichen Problemen anlässlich einer Falldarstellung in der Diskussion zur Sprache kam: »Frau K. sprach allgemein über ihr Arbeitsgebiet und ihre Vorgehensweise bei sexuellen Störungen und stellte einen Fall aus ihrer Praxis zur Diskussion. Dabei handelte es sich um eine primäre Anorgasmie einer 30-jährigen Frau. Ihr Partner wurde nur einzeln in die Therapie mit einbezogen. Während der Therapie trennte sich die Frau von ihrem Partner und brach die Behandlung ab. Anhand dieses Falles kam eine Diskussion zustande, die folgende Themenbereiche berührte: Volle Einbeziehung des Partners in die Therapie, Orgasmusstörung als Beziehungstörung, zum Stellenwert der Ursachenanalyse gegenüber der Vermittlung von Verhaltensprogrammen, der unterschiedliche Schwierigkeitsgrad der Behandlung von Libidomangel und Anorgasmie, Partnereinbeziehung bei Masturbation, Problematik der Anregung sexueller Phantasien, Tabus bei der Kommunikation über sexuelle Phantasien und Wünsche, wie stark soll man sich an Therapieprogramme halten?, Problematik der Fixierung an den Vibrator, Problematik der Anorgasmie bei Jugendlichen, die Problematik neurotischer Ansprüche an die VT, wo hört die Verantwortlichkeit der Psychologen bei Orgasmusschwierigkeiten auf?, reicht das Erreichen des Orgasmus als Ziel?. Notwendigkeit der kooperativen Haltung des Partners. An der Diskussion beteiligten sich: Körner, Mehl, Boettcher, Schnabl, Groschek, Fröhlich, Fetzer, Drunkenmölle, Stoiber, Semper, Schubring, Kroschel, Kiene« (Aus dem Protokoll der 3. Arbeitstagung, 30.11.–1.12.1983, S. 2 ff.). Mit dem Ende der DDR kam auch das Aus für die Ehe-, Sexual- und Familienberatungsstellen als empirische Quelle und arbeitsorganisatorische Grundlage der AG ST als Weiterbildungs- und Diskussionsforum. Es wurden noch Rettungsversuche mit Hilfe von westdeutschen Beratungsinstitutionen wie Pro Familia, DRK, SMD (Berlin), durch Gründung von EFA-Landesverbänden und Beitritten bzw. Schaffung eigener Beratungsstellen unternommen. Das flächendeckende Netz von etwa 226 ESF-Beratungsstellen passte nicht in die westdeutschen Strukturen, war politisch nicht gewollt, wäre nicht finanzierbar usw., Sexualität, Partnerschaft, Ehe und Familie seien überhaupt privat und ihre Probleme, Konflikte und Störungen »keine Kassenleistung«. Das Netz wurde zerstört. Eine Reihe von Beratungsstellen in den fünf neuen Bundesländern wurden in Pro-Familia- bzw. eine DRK-Beratungsstelle umgewandelt, der Berliner Landesverband »EFA« schaffte es, von sechs vorgesehenen Beratungsstellen eine zu etablieren (seit Jahren inzwischen in anderer Trägerschaft). Einige Kollegen kamen in vergleichbaren Institutionen unter oder wechselten den Arbeitsbereich. Viele verhaltenstherapeutisch qualifizierte Kollegen, vor allem Fachpsychologen der Medizin, konnten die vom Vorstand der Sektion VT geschaffenen Voraussetzungen nutzen, sich eine neue Existenz in der psychotherapeutischen Niederlassung oder in stationären psychotherapeutischen Einrichtungen aufzubauen (} Abschnitt 6.5.5 zu VT nach der Wende). Auch die AG Sexualtherapie versuchte mit Hilfe strukturell ähnlicher westdeutscher bzw. Westberliner Organisationen wie dgvt, DAJEB oder dem »Berliner Arbeitskreis Sexualität« im »Centrum für Sexualwissenschaft« irgendwie zu überleben. In allen gemeinsam verabredeten Vorständen, Gremien und Veranstaltungen sahen sich die noch bemühten Arbeitsgruppenmitglieder nur als Randerscheinung, die – anfangs noch mit wohlwollendem Interesse wahrgenommen, als Exoten bestaunt, beneidet oder bemitleidet – später im Getümmel

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

gesellschaftlicher Themen und spezieller Verbandsinteressen untergingen. Das Letzte, was die AG für ihre langjährigen und aktiven Mitglieder für den Start in eine neue berufliche Zukunft oder die Sicherung ihrer bisherigen Existenz tat, war – auf Antrag und Prüfung – die Vergabe eines Zertifikats.

5.3.4.5 Wolfram Kinze: Verhaltenstherapeutische Ansätze in der Kinderneuropsychiatrie Ein erster Blick auf die Ursprünge der Verhaltenstherapie lässt die Anwendung solcher Methoden auf Kinder höchst bedenklich erscheinen. Schließlich beruht die VT einerseits auf den Grundannahmen Pawlows von den »bedingten Reflexen«, den »Konditionierungen«, durch deren Vermittlung bestimmte Verhaltensweisen auf- bzw. abgebaut werden können. Mit diesen Erkenntnissen aber sind die Vorstellungen von einem Hund assoziiert, der in einem Geschirr fixiert ist und dem auf Glockenton der Speichel aus seiner Oesophagusfistel läuft. Damit ist die Aversion eines Kinderfreundes programmiert. Und andererseits gründet die VT auf den Positionen des Behaviorismus. Auch dabei drängen sich Assoziationen auf von »Belohnung« und »Bestrafung«, von Manipulationen bis hin zur »Gehirnwäsche«, zu den Perspektiven von Huxleys »Schöne neue Welt«. Auch die Imagination der »Skinner-Box« mit ihrem elektrischen Gitter und dem hoch gehängten Brotkorb sowie die damit verbundene Vorstellung eines Dompteurs, der die Kindererziehung mit Strafreizen betreibt, bringen der VT kein positives Image, ebenso wenig wie das Lernexperiment von Watson, der dem einjährigen Albert durch Konditionierung eine Rattenphobie beibrachte, die sogar auf dessen geliebten Teddy iradiierte. Ein zweiter Blick auf die lernpsychologischen Grundlagen und die verhaltensbiologischen Einsichten der VT erkennt im Verhalten eine Abfolge von Handlungen (oder Unterlassungen), die von äußeren Reizen im Sinne von Erfordernissen und Möglichkeiten in der Umwelt oder von inneren Reizen im Sinne von Appetenzen, Motivationen, emotionalen Antrieben oder kognitiven Schemata ausgelöst bzw. aufrechterhalten werden. Verhalten führt zu Ergebnissen, Konsequenzen, die unmittelbar (kontingent) oder erst im weiteren Verlauf (nichtkontingent) erfahrbar werden und damit das praktizierte Verhalten positiv oder negativ verstärken. Auf dieser Grundlage lässt sich Verhalten ergebnisoffen analysieren. Hierbei können einzelne Verhaltensmuster (Enuresis, Nägelkauen, Schulverweigerung, Stehlen) wie auch ihre allgemeinen Bedingungen (familiärer Kontext, gesellschaftliche Einflüsse, konstitutionelle Voraussetzungen, krankhafte Veränderungen) betrachtet werden (Mikro- bzw. Makroanalyse). Es ergeben sich dabei unmittelbare Bezüge zum medizinischen Denken – systematisches Erfassen von Ursachen, Entstehungsbedingungen, Entwicklungsabläufen, Ausdrucksformen, Einflussmöglichkeiten und Verlauf, also Ätiologie, Pathogenese, Symptomatologie, Therapie und Prognose. In dieser Sichtweise wurden lernpsychologisch orientierte Psychotherapieverfahren – zunächst vorrangig ausgerichtet auf umschriebene Störungsbilder – in die allgemeine kinderpsychiatrische Diagnostik und Therapie einbezogen, wobei sowohl Bezüge zu den »bedingten Reflexen« im Sinne von Pawlow wie auch zu allgemeinen lernpsychologischen

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Gesetzmäßigkeiten (Lurija, Leontjew, Rubinstein; Eysenck, Rachman) möglich waren. So kam es vordergründig nicht zu Differenzen mit der herrschenden sozialistischen Doktrin. Nach dieser bestimmte das Sein das Bewusstsein: Werden die entsprechenden gesellschaftlichen Bedingungen geschaffen, sind die Bildungs- und Erziehungsziele für alle Kinder in gleicher Weise erreichbar. In der Praxis der »Volksbildung« ergaben sich allerdings Differenzierungen. Einerseits wurden »junge Talente« gesucht für Spezialschulen (Sport, Musik, Sprache, Naturwissenschaften), andererseits wurden »Schädigungsgruppen« abgegrenzt (von »körperbehindert« bis »verhaltensgeschädigt«). Die damit stillschweigend verbundene Anerkennung unterschiedlicher Leistungsvoraussetzungen fand aber kaum Eingang in pädagogische Grundsatzdiskussionen. Es ergaben sich daraus jedoch Möglichkeiten, sich »schädigungsspezifisch« psychodiagnostisch und psychotherapeutisch zu betätigen, diese Ergebnisse mit pädagogischen Ansätzen zu verknüpfen und auch medizinische Maßnahmen einzubeziehen, so dass eine »komplexe Therapie« entwickelt werden konnte. Auch wenn die Reichweite dieser Bemühungen begrenzt blieb, etablierte sich die »Psychotherapie« zu einem akzeptierten Bestandteil der gesundheitlichen Versorgung im Kindes- und Jugendalter. Selbst gegenüber der »schusssicheren Festung Volksbildung« ergaben sich einzelne korrigierende Ansatzpunkte (spezielle Trainingsprogramme für Kinder mit Konzentrationsstörungen, Teilleistungsstörungen, Stottern u. a.). Dabei ließen sich unterschiedliche methodische Akzentuierungen integrieren, wie dies im 1984 erschienenen »Leitfaden der Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter« dargestellt wurde. In den kinderpsychiatrischen Versorgungskliniken, aber auch in universitären Einrichtungen und in Fachambulanzen hatten sich unterschiedliche Arbeitsschwerpunkte gebildet, zumeist sehr abhängig von den örtlichen Möglichkeiten und dem Engagement der handelnden Personen, weniger von zentralen Vorgaben. In den jährlichen Arbeitstagungen der Sektion VT der GPPMP (Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie) wurden auch im kinderpsychotherapeutischen Bereich Methoden und Ergebnisse bei einzelnen Störungsbildern vorgestellt (emotionale Störungen, Störungen des Sozialverhaltens, Konzentrationsstörungen, Lese-Rechtschreib- und Rechenstörungen, Enuresis/ Enkopresis, VT bei geistig Behinderten), Erfahrungen ausgetauscht, aber auch erste berufspolitische Zielstellungen formuliert (Psychotherapie als fester Bestandteil der Aus- und Weiterbildung). Die regelmäßigen kinderneuropsychiatrischen Weiterbildungstagungen in Kühlungsborn, Ahrenshoop und Leipzig (Organisation durch Professor Göllnitz und Professor Rösler, Rostock, sowie Professor Gebelt, Leipzig) waren ebenso wie die jährlichen Psychotherapie-Kongresse mit diesen Themen befasst. Die in der Charité organisierten Fortbildungsveranstaltungen (Professor Neumärker nutzte geschickt die Visum-Möglichkeiten des BerlinAbkommens) trugen wesentlich dazu bei, Anregungen und Erfahrungen auch »aus dem Westen« in der unmittelbaren persönlichen Begegnung vermittelt zu bekommen. Die gleichberechtigte und gleichrangige Zusammenarbeit von Ärzten und Psychologen sowie die unmittelbare Einbeziehung der sog. »Heilhilfsberufe« waren in der Praxis selbstverständlich. Dabei war die Personaldecke dünn, auch an Räumen und Ausstattung herrschte Mangel. Improvisation und persönliches Engagement vermochten einiges, aber keineswegs alles zu kompensieren.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Die Wende eröffnete völlig neue und unerwartete Möglichkeiten. Dank der großzügigen Hilfe aus den nunmehr »alten« Bundesländern wurden sowohl die räumlich-strukturellen Bedingungen (Modernisierungen, Neubauten, Ersatz der desolaten Sanitär-, Heizungs- und Küchentechnik, Innenausstattung, Spiel- und Beschäftigungsmaterialien, Büro- und Kommunikationstechnik) wie auch die personellen Voraussetzungen (Psychiatrie-Personal-Verordnung, Möglichkeiten der ambulanten Praxen neben den Institutsambulanzen, Sozial­ psychiatrie-Vereinbarung von 1994) grundlegend verändert. Zugleich kamen damit für die »neuen« Bundesländer bislang unbekannte Entgelt- und Abrechnungssysteme, das Aushandeln von Tarifen und Budgets, aber auch grundlegende Umstellungen in der Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie im Qualitätsmanagement. Psychotherapie wurde namensgebender Bestandteil der Berufsbezeichnung von Psychiatern und Kinderpsychiatern, aber auch zum »Suffix« für andere klinische Fachgebiete. Anerkennungen für Ausbildungsgänge durch Ärztekammer und KV sowie Kostenübernahme durch die Krankenkassen mussten ausgehandelt und in verbindliche Reglungen umgesetzt werden (Weiterbildungsordnung, Psychotherapievereinbarung, Budgetierung). Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gingen unterschiedliche Wege, psychodynamisch-psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Schulen grenzten sich stärker ab, Grawes »Allgemeine Psychotherapie« blieb ein Phantom. Dennoch existieren Ansätze für Kooperation und Integration der Richtlinien-Verfahren in den gemeinsamen Ausschüssen der Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen, dem Verband für integrative Verhaltenstherapie (VIVT) sowie anderen fachlichen und berufspolitischen Gremien. Auch in der Ausbildung ärztlicher und Psychologischer Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sind integrative Inhalte verankert, die es praxisrelevant auszubauen gilt.

5.3.4.6 Klaus Udo Ettrich: Psychotherapie in universitärer Ausbildung und Forschung Zum Verständnis von Psychotherapie im Spektrum der Psychologie Will man die Ausbildung zum Diplom-Psychologen in der DDR verstehen, dann muss man wissen, dass mit dem Diplom eine mit dem Ausbildungsort verbundene Spezialisierung verbunden war. Wenn man z. B. sein Studium in Berlin aufnahm, dann war man gewillt, einen Studienabschluss der Arbeits- und Ingenieurpsychologie und/oder der Klinischen Psychologie zu erwerben, nicht aber z. B. der Pädagogischen Psychologie. Dieser Ausbildungsrichtung konnte man für viele Jahre nach Maßgabe des Wissenschaftlichen Rates nur in Leipzig nachkommen. Dort war aber auch etwa ab 1970 der Abschluss Klinische Psychologie möglich. Diese spezialisierte Psychologieausbildung war durch den Gedanken der gesellschaftlichen Nützlichkeit des Studiums geboren worden, wobei sich durch die aufgezeigten Veränderungen im Studiengang auch Veränderungen der gesellschaftlichen Situation widerspiegelten. Das Gesundheitswesen der DDR forderte die Bereitstellung qualifizierter psychologischer Fachkräfte. Dieser Forderung konnte man durch ein erweitertes Studienplatzangebot nachkommen, und so wurde in Leipzig ein zweiter Studienort für diese Spe­zialisierung eröffnet.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Ich wurde im Studienjahr 1979/1980 aus der klinischen Praxis auf eine Dozentur für Klinische Psychologie mit dem Schwerpunkt Psychotherapie an die Universität Leipzig berufen. Mein Aufgabengebiet umfasste die Hauptvorlesung zum Ausbildungsschwerpunkt Psychotherapie und konzentrierte sich auf die Themenkomplexe Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie und Analytische Therapie. Unter Nutzung meiner psychotherapeutischen Erfahrungen oblag es mir, die handlungsleitende verhaltenstherapeutische Ausbildung der Studenten mit dem Ausbildungsschwerpunkt Klinische Psychologie in Form von Kleingruppenausbildung (acht bis zwölf Studenten pro Ausbildungsgruppe) zu gestalten, wobei die Vermittlung von psychotherapeutischen Haltungen und therapeutischen Techniken (also die Vermittlung des Handwerkzeugs) im Vordergrund standen. Dieser Lehrauftrag kam meinen wissenschaftlichen Interessen sehr entgegen, da ich selbst meine Ausbildung zum Diplom-Psychologen an der Universität Leipzig absolviert hatte und von meinem Lehrer, Prof. G. Clauß, bestens mit den Gedanken und Ergebnissen der Forschungen von Pawlow, Watson, Guthrie, Skinner, Mowrer, Eysenck, Wolpe und Bandura, um nur einige der Hauptvertreter dieser Wissenschaftsentwicklung zu nennen, vertraut gemacht worden war. Zudem wurde ich von meinem Lehrer, Prof. A. Kossakowski, angeregt, lerntheoretisches Gedankengut bei der Herausbildung von Fähigkeiten und Fertigkeiten (Persönlichkeitseigenschaften) zu nutzen. Der Start in das Arbeitsleben eines Klinischen Psychologen war in den 1970er Jahren noch recht mühsam, man hatte eine große Anzahl von Patienten zu versorgen, aber die Konzepte zu ihrer Behandlung mussten fallbegleitend autodidaktisch erworben werden. Als zusätzliche Schwierigkeit kam hinzu, dass das Arbeitsfeld des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und des Erwachsenenpsychotherapeuten nicht als Berufsbilder getrennt waren und das konkrete Aufgabengebiet einem die eine oder beide Arbeiten zuwies. Eine Analyse der eigenen Klientel ließ erkennen, dass 65 % der Überweisungen im frühen Schulalter auf die Verdachtsdiagnose »Konzentrationsstörung« hinauslief. Die Differentialdiagnostik bestätigte im hohen Prozentsatz diese Annahme, wobei in vielen Fällen auch Symptome von Hyperaktivität und Impulsivität nachgewiesen werden konnten. Diese Tatsache veranlasste mich, eine Gruppe von interessierten Kollegen und Medizinern zu vereinigen, um mit ihnen gemeinsam ein therapeutisches Material (ursprünglich für die Altersgruppen 1. bis 6. Klasse) zu erarbeiten. Diese Zielstellung musste durch den Ausfall von Kollegen aufgegeben werden, so dass ein harter Kern, der die Altersstufen 1. bis 4. Klasse bearbeitete, übrigblieb. Es war ein Glücksfall für Theorie und Praxis gleichermaßen, dass sich die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Fachkrankenhauses für Psychiatrie Lübben unter ihrem Chefarzt, Dr. W. Kinze, diesem Vorhaben anschloss und wir auf diesem Wege ein reliables und valides verhaltenstherapeutisch orientiertes Behandlungsprogramm für die ambulante und stationäre Arbeit entwickeln konnten.

Lehre in der Psychotherapie Die theoretische Ausbildung in Psychotherapie begann mit einer zwei Semester-Wochenstunden umfassenden Vorlesung. An ihr nahmen die Studenten während des dritten Stu­

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

dienjahres teil. Die Lehrinhalte fanden, da sie das zukünftige Berufsfeld der Studenten tangierten, eine engagierte Aufnahme. Nachfolgend einige Inhaltliche Schwerpunkte (ein Auszug aus der Vorlesungsgliederung): – Grundfragen der Psychotherapie, – Gegenstand und Aufgaben der Psychotherapie, – Geschichte der Psychotherapie, – Psychotherapie als ethisch-weltanschauliches Problem. Es dürfte wohl jedem real politisch Denkenden verständlich sein, dass mit der weltanschaulichen Frage ein Thema angesprochen wurde, welches zur damaligen Zeit verhängnisvoll für das Lehrgebiet werden konnte und bei dem sich der Lehrende gut mit den Aussagen von Autoritäten absichern musste, was wir mit der Zitierung halbwegs vernünftiger Aussagen z. B. von Thom (1978) taten.

Integration der Psychotherapie in die Medizin – Zur Beziehung von Psychotherapie und Klinischer Psychologie Der Abschnitt 2 der zweisemestrigen Vorlesung umfasste die Schwerpunkte suggestive (Selbst- und Fremdsuggestion einschließlich Hypnose und ihre Variationen) Verfahren, Beeinflussung physiologischer Vorgänge durch Biofeedback, reflexiv-verdeutlichende Thera­pie (Rogers), deutende Therapien (Freud, Adler, Jung und neoanalytische Konzepte) und übende Verfahren (Verhaltenstherapie). Der Vorlesungsteil 2 umfasste den größten Anteil der Vorlesungszeit, die mit den Inhalten Psychotherapieforschung und Veränderungsmessung abgeschlossen wurde. Die verstärkte Hinwendung zur Verhaltenstherapie in der DDR geschah nicht zufällig, sondern war der naturwissenschaftlichen und experimentellen Orientierung der Lernforschung von Pawlow bis Bandura geschuldet. Ferner hatten die Arbeiten von Eysenck und Rachmann (1967) bei vielen klinisch orientierten Nachwuchswissenschaftlern Hoffnungen auf eine rasche und gut nachvollziehbare (sprich: lehrbare!) psychotherapeutische Entwicklung geweckt. Ein wesentliches Ziel unserer Ausbildung war die Vermittlung therapeutischer Haltungen und konkreter therapeutischer Arbeitsmittel. Das Problem bestand darin, dass keine Devisen verfügbar waren, um entsprechende Lehrmaterialien zu erwerben. Aus diesem Grund entschlossen wir uns, zu bestimmten Themen Ausbildungsmaterialien zu erarbeiten und auch die Vorstellungen der Berliner Kollegen, die ja vor dem gleichen Problem standen, zu nutzen. Ich selbst hatte meine Gedanken, praktischen Erfahrungen und mein erarbeitetes Wissen zur Behandlung von phobischen Angststörungen in einem Arbeitsmaterial niedergelegt. Mit diesem Material fuhr ich nach Berlin und machte meinen Antrittsbesuch bei dem Leiter der Klinischen Psychologie, Prof. J. Helm. Ich fand einen aufgeschlossenen, interessierten Zuhörer, der seine Unterstützung zusagte, aber konkret nicht tätig werden konnte, da sein Herz an der Gesprächspsychotherapie hing und dieses Grundinteresse in seinem Verhalten deutlich spürbar war.

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Er verwies mich an Kollegen Dr. J. Mehl. Nach einigen abklärenden Gesprächsminuten fand Dr. Mehl den Gedanken, ein gemeinsames Arbeitsmaterial für die studentische Ausbildung zu erarbeiten, sehr nützlich und bot seine Mitarbeit an und legte mit der Hoffnung auf ein gutes Gelingen ein Manuskript, das er in den letzten Wochen erarbeitet hatte, auf den Tisch. Dies war der Beginn einer langjährigren und erfolgreichen Zusammenarbeit im Interesse der Berliner und Leipziger Studenten der Klinischen Psychologie. Diese und weitere von Berliner und Leipziger Kollegen erarbeiteten Materialien wurden in zwei Broschüren unter dem Titel »Lehrmaterial zur praktischen Ausbildung in Verhaltenstherapie« (Ettrich, Jähnig, Mehl, Reschke u. Mehl 1983; Ettrich, Gudermuth, Mehl, Reschke u. Schier 1984) unter der Verlegerschaft Karl-Marx-Universität Leipzig und Humboldt-Universität zu Berlin herausgegeben. Ein drittes Arbeitsmaterial, das insbesondere bei der psychotherapeutischen Betreuung von Heimkindern Anwendung fand, bezog sich auf die »Sportpsychotherapie für Kinder« (Ettrich, Dietrich u. Klemm 1986). Weitere Materialien zur Ausbildung in der Verhaltenstherapie konnten als Vervielfältigungen den Studierenden bis zur Wende zugänglich gemacht werden. Diese Arbeitsmaterialien werden in der Praxis heute noch genutzt.

Forschung in der Psychotherapie Die in der Praxis begonnene Forschung wurde unter meiner Dozentur und später meiner Professur an der Universität fortgeführt. Eine bedeutende Gruppe verhaltenstherapeutischer Forschungsarbeiten dieser Jahre bezieht sich auf die Behandlung von Konzentrationsstörungen im Kindes- und Jugendalter (Barchmann, 1983; Kinze 1986). In diesen Arbeiten ging es neben der methodenkritischen Absicherung des Therapieerfolges um die Variation der Applikationsbedingungen und um die Variation zusätzlicher therapeutischer Maßnahmen. Ein zweiter Schwerpunkt ist auf die Therapie von Verhaltensauffälligkeiten gerichtet. Mit diesen Untersuchungen haben wir Verbesserungen der Betreuungssituation der betroffenen Kinder und Jugendlichen erarbeitet; Görke 1985; Dietrich 1985). Eine eher der Prognose des Therapieerfolges geschuldete Thematik bezieht sich auf die Bedeutung der intraindividuellen Variabilität (Rank 1989) von Persönlichkeitsmerkmalen. Es konnte mehrfach gezeigt werden, dass keine oder eine hohe Variabilität eher einen Misserfolg des Therapieangebotes vorhersagen, während eine durchschnittliche Variabilität Kriterium eines positiven Therapieerfolgs ist. Abschließend ist zu betonen, dass die Verhaltenstherapie in der DDR gegenüber anderen Psychotherapierichtungen in der psychologischen Ausbildung favorisiert war, so dass der Übergang zur postgradualen curricularen Ausbildung nach der Wende problemlos möglich war.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

5.3.5 Katathymes Bilderleben. Heinz Hennig und Erdmuthe Fikentscher: Die Etablierung der Arbeitsgruppe für Katathymes Bilderleben in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR und der Aufbau eines curricularen Ausbildungssystems sowie der Ausbau internationaler Kontakte Obwohl wir durch die Einführung des Katathymen Bilderlebens als einer recht effektiven Psychotherapiemethode das sozialistische Gesundheitswesen stärkten, war es nicht leicht, in den Fachgremien Partner zu finden. Für eine hinreichende Öffentlichkeitsarbeit, die sodann mit einer Anerkennung der Methode verbunden sein musste, war jedoch die Integration in die damalige psychotherapeutische Dachgesellschaft unumgänglich. Mit dem Beginn der 1980er Jahre war offensichtlich die Zeit reif für eine präzise inhaltliche Konzeptformulierung sowie für ein systematisches Curriculum. Inhalt und Form von Aus- bzw. Fortbildungszielen mussten klar definiert und transparent werden. Obwohl die Arbeitsgruppe bis zum Ende der 1970er Jahre noch immer informell agieren musste, häuften sich nunmehr nicht nur ungewöhnlich viele persönliche Anfragen von psychotherapeutisch tätigen Ärzten und Psychologen mit Ausbildungswünschen, sondern auch eher offiziöse Anfragen von regionalen oder spontan zusammengestellten Initiativgruppen aus unterschiedlichen Fachgesellschaften. Allmählich kamen offizielle Angebote hinzu, z. B. an überregionalen Fortbildungsveranstaltungen, Tagungen und Kongressen mitzuwirken. Daraus ergaben sich für uns folgende Aufgaben, die einer raschen Lösung bedurften: Aus der bisherigen informellen Kerngruppe für KB musste ein Kreis kompetenter, ausreichend qualifizierter und persönlich zuverlässiger Mitglieder als Ausbilder gewonnen werden. Ferner mussten eigene Publikationen erarbeitet werden, die gleichzeitig als Lehrmaterial dienen konnten. Diese sollten nicht nur der eigenen fachpolitischen Reputation dienen, sondern daneben im politischen Raum unsere Fachkompetenz demonstrieren. Es war eben nicht besonders opportun für unser Unternehmen in der DDR, wenn wir uns ausschließlich auf Literatur aus dem »nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet« gestützt hätten. Schließlich gab es außerhalb der Universitäten nur sehr begrenzte Möglichkeiten, devisenträchtige westliche Druckerzeugnisse zu erwerben. Außerdem sollten eigene Arbeiten auch die Entwicklungstendenzen in unserem Lebensraum widerspiegeln. Aufbauend auf dem Standard der Arbeitsgemeinschaft für Katathymes Bilderleben (AGKB) in der alten Bundesrepublik Deutschland und auf unseren eigenen Erfahrungen war nun ein verbindliches Ausbildungscurriculum zu entwickeln. Hierfür mussten Zugangsvorrausetzungen zur Ausbildung von KB-Therapeuten, ein System von Intensivseminaren sowie Mindestvorgaben für notwendige Supervisions- und Selbsterfahrungsleistungen erarbeitet werden. Schließlich war die Integration des KB in den offiziell akzeptierten Ausbildungskanon psychotherapeutischer Verfahren und Methoden in der DDR unabdingbar. Die Aufnahme unserer Arbeitsgruppe für KB in die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (GÄP), verbunden mit einem möglichst eigenständigen Status, war das Ziel. Nicht zuletzt planten wir zudem sukzessive den Auf- und Ausbau internationaler Kontakte zu Fachkollegen an Universitäts- und Fachgesellschaften sowohl im sozialistischen als auch im westlichen Ausland. In Sonderheit betrafen diese Aktivitäten natürlich die deutsch-

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sprachigen Arbeitsgemeinschaften bzw. Fachgesellschaften für KB in der BRD, Österreich und der Schweiz. Hierfür erwies sich unsere Universitätsanbindung als eine außerordentlich günstige Ausgangssituation, weil eine internationale Anerkennung im Hochschulbereich nicht nur wahrgenommen und toleriert, sondern gelegentlich sogar gefördert wurde.

Die Ausbildungsgruppe und ihre Anfänge Trotz zunächst nicht selten kritischer, gelegentlich ablehnender Äußerungen gegenüber unserer Konzeption durch manche Funktionsträger in den therapeutischen Fachgremien und mancherlei Bedenken und Vorurteile insbesondere zum tiefenpsychologisch-psychoanalytischen Fundament, das bereits Leuner (1985) seinem strukturierten Tagtraumverfahren unterlegt hatte, entwickelte sich rasch eine engagierte Ausbildergruppe. Einzelne Mitglieder aus diesem Kreis übernahmen sehr bald selbst die Leitung von Seminaren in den einzelnen Bezirken der DDR, so dass sich der Kreis von Psychotherapeuten, die sich für eine Fortbildung bzw. Ausbildung mit dem KB interessierte, stetig vergrößerte. Die Intensivseminare für die Ausbildergruppe gestalteten sich sowohl von ihrem Inhalt als auch von ihrer Struktur her zunehmend differenzierter. Diese Seminare entwickelten sich allmählich zu zentralen Zusammenkünften der Ausbildergruppe, die sich zumeist über einen Zeitraum von einer Woche ausdehnten. Neben ausführlicher Vermittlung tiefen­ psychologisch-psychoanalytischen Wissens standen Selbsterfahrung und Supervision im Mittelpunkt der Gruppenarbeit, sehr bald auch fokussierendes Vorgehen und Wahrung des assoziativen Therapieverlaufs (in enger Anlehnung an das »Ulmer Prozessmodell« von Thomä und Kächele, 1985). Seit dem Beginn der 1980er Jahre fanden diese Intensivseminare ausschließlich im damaligen Schlosshotel Reinhardsbrunn in Thüringen statt.

Eigene Publikationen und Lehrmaterial Einer eher pragmatischen Veröffentlichung zur Nutzung von Imaginationen unter Einbeziehung dynamischer Aspekte (Hennig 1980b), in der die Integration dieses Mediums in allgemein bekannte Therapieansätze in der DDR vorgestellt wird, folgte sehr bald die erste grundsätzliche Darstellung des KB in dem offiziellen Fachorgan für Psychotherapie, die als »Zeitschrift für die gesamte Nervenheilkunde und Psychotherapie« in der DDR für jedermann zugänglich war und im Wesentlichen auch als meinungsmachend gelten konnte (Hennig 1982a). Mit diesem Aufsatz wurde das von Leuner entwickelte KB als ein »nach tiefenpsychologischen Gesichtspunkten strukturiertes und damit psychoanalytischen Theorien verpflichtetes« Verfahren erstmals in diesem Kontext in der DDR publiziert. Unserer Ausbildungsgruppe lag damit ein Arbeitsmittel vor, in dem das gesamte KB in einer kurzen, zusammengefassten Form vorgestellt wurde und das auch die wesentlichen Literaturvorgaben von Leuner selbst enthielt. Über die Universität Halle waren im Übrigen sehr bald nahezu sämtliche Publikationen zum Themenkreis KB und anderer Imaginationsverfahren sowie einige Zeitschriften und Buchpublikationen zu psychodynamisch-analytischen Inhalten verfügbar. Ferner legitimierten unsere eigenen Publikationen nicht nur die

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Nutzung des KB in den psychotherapeutischen Einrichtungen der DDR, sie erleichterten einerseits den Ausbildern und andererseits den Ausbildungskandidaten Freistellungen von der Arbeit zur Teilnahme an den Ausbildungsseminaren. Relativ zügig folgten alsbald weitere Veröffentlichungen, die sowohl eigene Ausbildungserfahrungen zum Inhalt hatten (Hennig 1983, 1987b; Hennig u. Fikentscher 1986), als auch Therapieverläufe oder methodisches Vorgehen im Therapieprozess vorstellten (Hennig 1984a, 1985, 1987b, 1989). Mit den jeweiligen Literaturzitaten in diesen Publikationen gelang gleichsam nebenbei das Transportieren wesentlicher Publikationsartikel, die auf dem westeuropäischen (überwiegend deutschsprachigen) Fachbuchmarkt zu den einzelnen Themenkomplexen unseres Projektes als Neuerscheinungen auftauchten. Zumindest führte dieser Umstand dazu, dass Informationen über diese Titel genutzt werden konnten. Nachdem der Bedarf eines zusammenfassenden und übersichtlichen Leitfadens immer dringlicher von den in der Ausbildung zum KB befindlichen Kollegen signalisiert wurde, entschloss sich H. Hennig nach einem intensiven persönlichen Gespräch mit Leuner, einen Leitfaden für KB in der DDR zu schreiben. 1986 wurde mit der Arbeit an diesem Vorhaben begonnen. Grundsätzlich war mit diesem kurz gefassten Lehrbuch vorgesehen, die von Leuner in seinem gerade erschienenen umfangreichen Lehrbuch zusammengestellten Erfahrungen in straff strukturierter und komprimierter Form handbuchartig zusammenzustellen und mit dem nunmehr aus über einem Jahrzehnt gesammelten eigenen Erfahrungen zu verbinden. H. Hennig hatte bereits im Entstehungszeitraum des Buches vorgesehen, den Leitfaden von Leuner selbst durch ein ausführliches Geleitwort autorisieren zu lassen. Geplant war, das kleine Lehrbuch in der im Bereich der DDR relativ verbreiteten Fachbuchreihe »Beiträge zur Klinischen Neurologie und Psychiatrie« erscheinen zu lassen, die von Seidel und Nickel herausgegeben und vom VEB Thieme-Verlag Leipzig ediert wurde. Das Manuskript für dieses Buch war Ende 1987 fertiggestellt, die Zusammenarbeit mit der zuständigen Verlagslektorin (Frau Dr. U. Scholz) funktionierte ausgezeichnet. Üblicherweise schrieben die genannten Herausgeber für jeden Band ein Geleitwort. Wir hatten jedoch mit Leuner verabredet, dass er ein solches Geleitwort schreiben würde. Das war insofern ein Novum in der DDR, dass ein psychotherapeutischer Leitfaden mit tiefenpsychologisch-psychoanalytischer Orientierung mit einem Geleitwort eines Lehrstuhlinhabers aus der BRD versehen werden sollte, der noch dazu der Schöpfer dieser vorgestellten Methode war. Das brachte seinerzeit offenbar eine gewisse Unruhe in die Verlagsarbeit, nach einigen persönlichen Telefonaten war jedoch das Buch zum Druck freigegeben und durfte erscheinen. Dennoch hatte sich durch diese Problematik das Erscheinen des Buches über mehrere Jahre verzögert. Der Band erschien Anfang 1990 (Hennig 1990) und war bereits nach kurzer Zeit vergriffen. Der Leitfaden enthielt nahezu die gesamten seinerzeit zur Verfügung stehenden Quellen zum Thema »Psychotherapie mit dem KB« und stellte zudem traditionell im Osten Europas gewachsene psychologisch-psychotherapeutische Erfahrungen ähnlicher Art zur Diskussion.

Zum Ausbildungsstandard und das Curriculum Inzwischen hatten sich die Mitglieder der Ausbildergruppe in den bisherigen zentralen Intensivseminaren hinreichend im Umgang mit dem KB sowie, wenn auch individuell in

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unterschiedlicher Weise, mit dem von Leuner seinerzeit vorgeschlagenen Kautelen und Konditionen zur Lehrbarkeit des KB als ein strukturiertes Tagtraumverfahren vertraut gemacht. Leuner (1981, 1985) bot ein dreistufig gegliedertes therapeutisches Repertoire, das sich als ein hierarchisch aufgebautes, nach Schwierigkeitsgraden geordnetes System darstellt. Das insbesondere für Ausbildungszwecke leicht modifizierbare Instrumentarium von Leuner gilt als einzigartiges Ordnungssystem für die Arbeit mit Imaginationstherapie überhaupt. Prinzipiell musste vermittelt werden, dass es sich bei dem KB um eine psychodynamische Methode handelt, die sowohl assoziierend als auch fokussierend vorgeht. Gelegentliche Vorurteile, es handele sich lediglich um eine ausschließlich übend-stützende oder gar eher suggestiv angelegte Technik, sollten ausgeräumt werden. Notwendige Symbolinterpretationen durften nicht zu präjudizierenden fremdinduzierten Deutungen verführen, sie mussten eingebettet in die psychodynamische Beziehungsarbeit die Erarbeitung bzw. Aufarbeitung assoziativ gewonnener, also konfliktangereicherter und kreativer Symbolkonstellationen fördern. Im Zusammenhang mit Anpassungsnotwendigkeiten an die einzelnen Ebenen des Gesamttherapiekonzeptes in der DDR wurden bestimmte Zuordnungen getroffen: Allgemeine Psychotherapie Auf dieser Ebene sollten lediglich einige theoretische Einführungen in die Methode des KB und ein bestimmtes Grundwissen zur Arbeit mit Imaginationen vermittelt werden. Die Teilnahme an einem Interessenkreis wurde seinerzeit empfohlen. Fachspezifische Psychotherapie Auf dieser Ebene sind bereits für das KB gemäß dem Ausbildungscurriculum Einzelheiten zu vermitteln und zumindest Grundstufenvorgaben klinisch einsetzbar. Fachärzte oder Fachpsychologen konnten zumindest bis zum Aufbaukurs an den Intensivseminaren für KB teilnehmen. Spezielle Psychotherapie Das gesamte Ausbildungsangebot des KB ist für diese Ebene geeignet. Mit diesem Angebot konnte die Arbeitsgruppe für KB in diesem Jahrzehnt recht gut den weiterhin permanent zunehmenden Anfragen nach Ausbildungskapazitäten in der DDR gerecht werden.

Die offizielle Integration in das Psychotherapiesystem der DDR Eine angemessene Organisationsform, wie sie letztlich nur die Dachgesellschaft für Psychotherapie in der DDR, also die damalige Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (GÄP) bieten konnte, war nun dringend notwendig geworden. Zum einen musste die Ausbildung zum KB-Therapeuten offiziell legitimiert werden und zum anderen war unser Anliegen noch immer, das Angebot tiefenpsychologisch fundierter Methoden in der DDR zu erweitern und wenn möglich mitzugestalten. Zudem bahnten sich inzwischen vielfältige Kontakte nicht nur zu Arbeitsgruppen für KB in der damaligen BRD, zu Österreich und der Schweiz aus, sondern aus dem osteuropäi-

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schen Wirtschaftsraum (insbesondere aus Ungarn, der damaligen ČSSR und Bulgarien) erreichten uns interessante Angebote von klinischen Institutionen, Fachgesellschaften oder persönlich interessierten Fachkollegen. Nicht zuletzt hatten sich im Verlauf der letzten Jahre intensive persönliche und briefliche Kontakte zu Leuner selbst ergeben, auf die gesondert näher eingegangen wird (} Abschnitt 5.9.1). Unter den besonderen politischen Verhältnissen in der DDR war es nun unbedingt opportun, in einer staatlich akzeptierten Fachgesellschaft akkreditiert zu sein, zumal nicht nur innerstaatliche Aktivitäten, sondern in Sonderheit internationale Kontakte in der Regel relativ misstrauisch beobachtet, zumindest jedoch auf ihre internationalen Beziehungen zum westlichen Ausland hin kontrolliert wurden. Immerhin hatten wir die akademisch eingebundene Arbeitsgruppe für KB an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Universität Halle zur Verfügung, für extramurale Aufgaben war diese jedoch nur bedingt nutzbar. Diese Arbeitsgruppe sollte daher weiterhin erhalten bleiben und späterhin vorrangig für wissenschaftlich-theoretisches Begleiten der Ausund Fortbildungsaufgaben zuständig sein. In den Jahren 1981/82 begann H. Hennig erste orientierte Gespräche mit dem damaligen Vorsitzenden GÄP und einigen weiteren Vorstandsmitgliedern. Mit diesen Kontakten sollte sondiert werden, in welcher Form sich unsere Arbeitsgruppe in die damalige Struktur der gesamten Gesellschaft eingliedern ließ. Unsere inhaltliche, eher tiefenpsychologisch-psychoanalytisch ausgerichtete Konzeption war zumindest nicht unbekannt, dennoch stießen wir zunächst auf gewisse Vorbehalte, zumindest jedoch fühlten wir uns eher zurückhaltenden Reaktionen ausgesetzt. Sehr wahrscheinlich schien uns, dass nicht nur konzeptionelle Missverständnisse (z. B. KB als ein eher supportiv ausgerichtetes Verfahren) ein dilatorisches Umgehen mit unserem Anliegen in den Vorständen der Gesellschaft bzw. ihrer einzelnen Sektionen auslöste, sondern dass auch persönlich motiviertes Rivalitätsagieren und mancherlei Verunsicherungen unter den Fachfunktionären nicht auszuschließen waren. Das Ziel, eine selbständige und unabhängige Arbeitsgruppe innerhalb der Gesellschaft zu gründen, war sicher verfrüht. Überlegungen, eine Arbeitsgemeinschaft innerhalb der bestehenden Sektionen zu etablieren, schienen schon realistischer zu sein. Im November 1982 richtete H. Hennig, als Leiter der KB-Arbeitsgruppe an der Universität Halle, einen entsprechenden Brief an den Vorsitzenden der GÄP. Das Schreiben enthielt eine kurze Darstellung der auch hier beschriebenen aktuellen Situation der Arbeitsgruppe für KB sowie den förmlichen Antrag zur Aufnahme der Arbeitsgruppe in die Gesellschaft. Die Antwort des Vorstandes der GÄP erfolgte bereits im Januar 1983. Sie enthielt als Vorstandsbeschluss die Empfehlung zum Anschluss der Arbeitsgemeinschaft für KB an die ­Sektion Autogenes Training und Hypnose der GÄP. Nunmehr standen wiederum Verhandlungen mit dem Vorstand der genannten Sektion an. Obwohl die meisten Vorstandsmitglieder dieser Sektion eher als psychodynamisch orientiert galten, gestalteten sich auch die mündlichen Verhandlungen in den Vorstandsitzungen anfangs weniger entgegenkommend. Auf den Vorschlag von H. Hennig, vor einer endgültigen Akzeptanz des Aufnahmeantrages der Arbeitsgruppe KB in die Sektion ein gemeinsames Intensivseminar des Sektionsvorstandes mit den Übungsleitern der KB-Gruppe im Oktober 1984 im Schlosshotel Reinhardsbrunn mit Selbsterfahrungsanteilen anzubieten, folgte eine positive Reaktion. Damit wollten

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wir einerseits eine tragfähige Arbeitsbasis herstellen und andererseits unser Arbeitskonzept für den Vorstand transparent machen. Vom Vorstand der Sektion nahmen dann an dem Intensivseminar Frau Dipl.-Psych. Hoffmann, Frau Dr. Haas, Herr Dr. di Pol, Herr Dr. Eichhorn, Herr Dr. Maaz und Herr Dr. Behrends teil. Die Kerngruppe zukünftiger Lehrtherapeuten war durch folgende Mitglieder vertreten: Herr Dr. Hennig, Frau Dr. Fikentscher, Herr Hempel (Facharzt für Psychiatrie und Neurologie), Herr Dr. Vogel, Herr Dr. Schmitt, Herr Dr. Müller, Herr Dr. Erhard, Herr Dipl.-Psych. Rosendahl. Mit diesem gemeinsamen Intensivseminar ließ sich eine tragfähige Arbeitsbeziehung zwischen dem Vorstand der Sektion und der KB-Arbeitsgruppe erreichen. Der unmittelbar im Anschluss an dieses Seminar erneut eingebrachte Aufnahmeantrag durch H. Hennig wurde nunmehr positiv beschieden. H. Hennig wurde in den Vorstand der Sektion aufgenommen. Im Mai 1985 erfolgte dann die offizielle Gründung der Arbeitsgemeinschaft Katathymes Bilderleben (AGKB-DDR) in der Sektion Autogenes Training und Hypnose der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Nach einer Übergangsphase konstituierte sich ein gewählter Vorstand, dem ein erweiterter Vorstand mit den Regionalbeauftragten in den Bezirken der DDR zugeordnet wurde: Vorstandsliste Gesamtvorstand der AGKB-DDR in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR: Dozent Dr. sc. phil. Heinz Hennig, Halle (Vorsitzender) Dozentin Dr. sc. med. Erdmuthe Fikentscher, Halle/S. (stellvertretende Vorsitzende) Dr. phil. Wolfram Rosendahl, Halle (Schatzmeister und Sekretär) Dr. phil. Rainer Gunkel, Bad Salzungen (Ausbildungsreferent) Die Mitglieder des erweiterten Vorstandes: Dipl.-Psych. Armin Morich, Dresden Wolf Hempel (Facharzt für Psychiatrie und Neurologie), Halle Dr. rer. nat. Hans-Jürgen Günther, Hermsdorf Dipl.-Psych. Holger Fietzke, Berlin Dr. phil. Renate Hochauf, Altenburg Dr. phil. Bernhard Schmitt, Eisleben Nicht nur wegen der bisweilen umständlichen und aufwendigen Abstimmungsprozeduren mit dem Sektionsvorstand verloren wir unser Ziel nicht aus den Augen, für die AGKB-DDR die völlige Unabhängigkeit innerhalb der GÄP als selbständige Arbeitsgruppe zu erreichen. Diesen Status erlangten wir schließlich nach erneuten Anträgen an den Gesamtvorstand der GÄP im Dezember 1988. Die AGKB-DDR gab sich alsbald eine eigene Geschäftsordnung und begann Statuten zu erarbeiten. Letztere sollten international kompatibel sein und wurden daher mit der Internationalen Gesellschaft für KB (Göttingen) abgestimmt. Die Namensgleichheit unserer Arbeitsgemeinschaft mit der AGKB in Westdeutschland war nach Absprache mit Leuner durchaus beabsichtigt.

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Nach dem politischen Umbruch in Ostdeutschland, aber noch während der kurzzeitigen Existenz der DDR mit nunmehr frei gewählten staatlichen Gremien wurde der Weg frei für eine echte Vereinsgründung. Der Vorstand der AGKB-DDR beschloss die Gründung eines eingetragenen gemeinnützigen Vereins mit dem Namen »Gesellschaft für Katathymes ­Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie und Psychologie e. V.« (GKB). Während des 5. Internationalen Kongresses für KB im Mai 1989 in Baden b. Wien wurde die GKB durch das Konzil der IGKB mit dem Status einer Sektion in die Internationale Gesellschaft aufgenommen. Unseren Unterlagen aus den 1980er Jahren lässt sich entnehmen, dass zumindest in diesem Jahrzehnt jährlich bis zu 200 Teilnehmer zumeist in regionalen Intensivseminaren Erfahrungen mit dem KB sammeln konnten. Insgesamt hatten wir damals etwa 800 bis 1000 Psychotherapeuten erreicht. Eine Pflichtmitgliedschaft von Ausbildungsteilnehmern gab es nicht, so dass die Mitgliederzahl der GKB am Ende der 1980er Jahre noch nicht genauer bestimmbar war. Abschlusskolloquien waren noch nicht üblich.

Die internationalen Kontakte Nach ersten Kontakten mit klinischen Einrichtungen über Universitätsvorträge bzw. Tagungen psychiatrisch-psychotherapeutischen Inhalts zunächst in Ungarn, Bulgarien und der ČSSR konnte H. Hennig über wissenschaftliche Veranstaltungen in Österreich an Seminaren für KB teilnehmen. Dabei kam es zu intensiven persönlichen Kontakten mit H. Leuner u. a. während der Kongresse für KB 1980 in Salzburg, 1983 in Bad Hall und 1989 in Baden b. Wien. Die alsbald freundschaftlichen Beziehungen mit H. Leuner führten zu einem regelmäßigen Erfahrungsaustausch über die Grenzen des Eisernen Vorhangs hinweg, wobei diese Kontakte jeweils über die Universitäten in Halle und Göttingen festgelegt wurden. So wurde auf die Einladung von H. Leuner 1981 eine mehrtägige Hospitation an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie der Universität Göttingen möglich. Die hier gewonnenen Erfahrungen wurden umgehend in die Ausbildungsarbeit der AGKB-DDR sowie in die klinische Praxis hierzulande umgesetzt. Während eines mehrmonatigen Studienaufenthaltes in Ungarn in den Jahren 1981/82 organisierte H. Hennig sowohl über die Medizinischen Universitäten in Budapest als auch in Szeged mehrere Seminare für KB, auch hier entwickelte sich ein langjähriger Austausch über die Universitätsverträge (Hennig 1986a). Bereits im Jahr 1983 ergaben sich Vorgespräche mit H. Leuner für eine Reise nach Halle. Über die Universität Halle erfolgte dann eine offizielle Einladung für einen mehrtägigen wissenschaftlichen Aufenthalt in Halle. Um mögliche Komplikationen zu minimieren, hatten wir hierfür ein sowohl für gewisse Fachfunktionäre als auch für politische Beobachtungsinstanzen zumindest vom ersten Eindruck her eher weniger verfängliches Veranstaltungsmenü mit Leuner vereinbart. Eröffnet wurde der offizielle Teil mit einer Gastvorlesung zu einem psychiatrischen Thema. Dem folgte ein Vortragsnachmittag zum KB, an den sich dann offiziell ein Seminar mit praktischen Übungen anschloss. Als H. Leuner mit seiner Frau Erdmuthe 1985 zum ersten Mal Halle besuchte und mit der AGKB-DDR persönlich in Kontakt kam, traf er zu seiner Überraschung nicht nur auf

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ein zahlreiches, sondern auch sachkundiges Fachpublikum. So ergaben sich im Verlauf seines Besuches vielfältige Fachdiskussionen und herzliche Begegnungen, die neben dem fachlichen Austausch das seinerzeit für uns so wichtige Gefühl vermittelte, den Anschluss an die moderne tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie im Westen Europas nicht verloren zu haben. Leuner überzeugte sich von der bereits gut organisierten und curricular strukturierten Arbeitsweise der AGKB-DDR, die seinerzeit bereits über 200 Mitglieder hatte und die eine der wenigen tiefenpsychologisch orientierten Ausbildungsinstitutionen in der gruppendominierten Psychotherapieszene der DDR war. H. Leuner hörte zu, gab gelegentlich klar formulierte Ratschläge und formulierte in fast druckreifer Form Thesen für eine zukünftige engere Ost-West-Zusammenarbeit: Unter anderem entstand hier der Plan, ein erstes Internationales Symposium in Halle zu organisieren. Das hieß seinerzeit im Klartext, dass ein schier undurchschaubares Gestrüpp von bürokratischen Hürden zu bewältigen war, denn eine Fachtagung des vorgesehenen Ausmaßes, vor allem mit der von uns geplanten westdeutschen und westeuropäischen Beteiligung, die nicht von einer Dachgesellschaft getragen war, erschien damals sehr ungewöhnlich. Nach ausführlichen vorbereiteten Diskussionen im Vorstand der AGKB-DDR und verschiedenen orientierten Gesprächen mit den zuständigen Universitätsgemien fiel 1988 der Vorstandsbeschluss, im Sommer 1990 ein Internationales Symposium »Psychotherapie mit dem Katathymen Bilderleben« an der Universität Halle zu veranstalten. Ausnahmslos engagierte sich der gesamte Vorstand der AGKB-DDR an den umfangreichen Vorbereitungen, hinzu kam, dass sich an der Universität ein hochmotiviertes Team unter den Mitarbeitern zusammenstellen ließ. Den größten Arbeitsanteil trugen seinerzeit Heinz Hennig, Erdmuthe Fikentscher, Wolfram Rosendahl und Ines Samuel. Mit H. Leuner ergaben sich ein lebhafter Briefwechsel und unzählige Telefonate. Letztere waren aus vielerlei Gründen umständlich, häufig unterbrochen oder von schlechter Qualität. Leuner hatte offensichtlich viel Verständnis für unsere gelegentlichen Ängste und Unruhen, aber er ermutigte uns stets und bestärkte uns oftmals bei unserem notwendigerweise manchmal recht unkonventionellen Vorgehen. Die im Jahre 1990 dann völlig veränderte Situation nach dem Fall der Mauer in Berlin war 1988 noch nicht absehbar. Das Symposium fand statt, im Abschnitt 6.5.14 wird davon berichtet. Die Planung der gesamten Tagung war Ende 1989 beendet, alle Verhandlungen mit den zuständigen universitären und staatlichen Behörden ausgestanden und eine Einladungslogistik gestartet. Als eine weitere gemeinsame Veranstaltung zur Förderung von Kooperationen zwischen ost- und westeuropäischen KB-Therapeuten organisierte die AGKB-DDR über die sog. Freundschaftsverträge der Universität Halle und der Medizinischen Universität Szeged (jeweils getragen von den Arbeitsgruppen für KB an diesen Hochschulen) im September 1988 ein Internationales Seminar für KB in Szeged (Ungarn). An dieser Veranstaltung, die vom Präsidenten der Ungarischen Psychiatrischen Gesellschaft, Prof. Dr. J. Szilárd, eröffnet wurde, nahmen neben H. Leuner Veranstaltungsmitglieder bzw. Dozenten bzw. Ausbildungsleiter aus der BRD, der DDR, Österreich und Ungarn teil. Die Seminararbeit vollzog sich in Gruppen in deutscher und ungarischer Sprache. Teilnehmer aus den Seminaren waren neben einer größeren Anzahl ungarischer Kollegen, Psychotherapeuten aus Bulgarien

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und der ČSSR. Besondere Aufmerksamkeit fand eine transkulturell zusammengesetzte Gruppe, die H. Hennig und E. Fikentscher gemeinsam leiteten. Wenn auch das gesamte Seminar von seiner Organisation insgesamt bisweilen kompliziert schien, so hatte mit dieser Veranstaltung immerhin eine erste internationale direkte Zusammenarbeit in einem Land des Ostblocks stattgefunden, in der sich Psychotherapeuten für KB aus Ost- und Westeuropa in Intensivseminaren mit Selbsterfahrungscharakter begegneten.

5.3.6 Musiktherapie. Christoph Schwabe und Helmut Röhrborn: Methodendifferenzierung und Praxisbezug am Beispiel der Entwicklung der Regulativen Musiktherapie (RMT) Zwischen den meisten psychotherapeutischen Methoden, beispielsweise auch der Methode Katathymes Bilderleben und der hier zur Darstellung kommenden Musiktherapie, gibt es einen nicht unwesentlichen Unterschied: Die meisten psychotherapeutischen Methoden sind »westliche Importe«, die im Osten, der alten DDR, weiterentwickelt oder direkt übernommen worden sind. Die Musiktherapie hingegen ist keine von außen übernommene Methode, sondern sie ist im Osten Deutschlands entwickelt worden. Die Regulative Musiktherapie ist in den 1960er Jahren in der Psychotherapie-Klinik der Leipziger Universität von Christoph Schwabe zunächst als Bestandteil eines musiktherapeutischen Methodensystems entwickelt worden. Im Lauf der folgenden Jahrzehnte bekam sie allerdings stärkere Bedeutung und Bekanntschaft als andere Methoden, die zur gleichen Zeit entstanden und damals notwendig waren. Die Entstehungszeit der Regulativen Musiktherapie fällt gesellschaftspolitisch in die Zeit des Mauerbaus 1961 und die kulturpolitischen Verfolgungsjagden, umgesetzt durch die FDJ. Dabei wurden z. B. sog. Westantennen von den Hausdächern gerissen, damit die Bevölkerung keine »Feindsender« sehen konnte. Die Partei machte vor allem gegen die Westkultur der Beatles Front, für die sich auch die Ostjugend stark interessierte. Dies geschah insbesondere im Jahr 1965 und war insofern kurios, als es eine Kampagne gegen eine Bewegung darstellte, die eigentlich aus der Auseinandersetzung kritischer Gruppen mit den kapitalistischen Verhältnissen im eigenen Land entstanden war, die aber von den Ostfunktionären als politisch-kulturelle Bedrohung des sozialistischen Systems angesehen wurde. Was dies alles für die Lebenskultur damals bedeutete, kann heute, zumal für Menschen, die es nicht unmittelbar miterlebt haben, nur schwerlich nachvollzogen werden. Manchmal erscheint es im Nachhinein wie ein Wunder, dass sich trotz dieser schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen eine so menschliche Psycho- bzw. Musiktherapie entwickeln konnte. Trotz aller ideologischen Enge gab es auch Zeichen einer gewissen »Entstarrung«, bis in die richtungweisenden philosophischen Zentralen hinein. Ein solches Zeichen war für uns Psychotherapeuten ein grundlegender Artikel des Philosophen H. Bober mit dem harmlos klingenden Titel »Die Rolle des Affektiv-Emotionalen im Erkenntnisprozess«, der 1965 in der »Deutschen Zeitschrift für Philosophie« erschienen war. Er war Bestätigung und Mutmacher, sich von der vulgär-materialistischen Orientierung psychotherapeutischen Denkens und Handelns der 1950er Jahre zu lösen. Für die Musiktherapie bedeutete dies, Methoden zu

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entwickeln, die sich insbesondere mit der affektiv-emotionalen Seite des krankhaften Geschehens und dem daraus abgeleiteten therapeutischen Ansatz zu befassen hatten (vgl. Schwabe 1969). Zunächst gab es einige wenige Hinweise aus der Literatur, insbesondere den Sammelband »Musik in der Medizin« des Nervenarztes H. R. Teirich aus dem Jahre 1958, den wir natürlich kannten. Darin wurden zwei musiktherapeutische Ansätze unterschieden, die in der griechischen Antike ihre Ursprünge hatten. Zum einen handelte es sich um das kathartische Auslösen von Affekten, zum anderen um das regulativ-meditative Entspannen. Hier beschrieb Teirich auch die Kombination von Autogenem Training mit Musikrezeption. Alle diese Beschreibungen hatten dem Wortlaut nach allerdings mehr den Charakter von Vermutungen und Phantasiegebilden musikinteressierter Ärzte; es fehlte die konkrete pra­ xis­erprobte Nachweisführung von Resultaten. Sehr bald stellten wir daher auch fest, dass die ­­dargestellten Kombinationen von Autogenem Training und Musik beispielsweise nicht die Wirkungen hatten, die von den Autoren erhofft worden waren und die uns als Handlungsansatz für eine aktive innere Beteiligung der Patienten an Lösungsvorgängen nützlich gewesen wären. Eine weitere Ausgangserfahrung bestand in den regelmäßigen abendlichen Musiksendungen, die bereits vor 1960 in der Klinik eingeführt wurden mit der Absicht, die Patienten zum emotional angereicherten Reflektieren über eigene Lebenssituationen anzuregen. Hier ging es nicht um Auto- oder Fremdsuggestion, sondern um Selbstreflexion. Aus beiden gegensätzlichen Erfahrungen resultierte eine Indikation für besonders rational ausgerichtete Patienten, bei denen in der Einzelsituation Musikrezeption im Liegen angeregt wurde, mit der Aufforderung, die Gedanken kommen und gehen zu lassen, also bewusst nicht auf Entspannung durch Musik zu hoffen, sondern die Aufmerksamkeit auf Musik und das innere Geschehen einzupegeln. Das war wohl die Geburtsstunde der Regulativen Musiktherapie, für die wir damals noch keinen Namen hatten. Zeitlich parallel zu dieser klinischen Anfangserfahrung hatte Christoph Schwabe eines Tages einen blitzartigen Einfall, der fast einer Erleuchtung gleichkam. Es war der Gedanke, dass sich ein gewisses Loslassen am ehesten durch die innere Ausrichtung auf zwei voneinander unabhängige Aufmerksamkeitsbereiche einstellen kann, etwa so, wie zwischen Hier und Dort, zwischen Mensch und Gott. Diese Erkenntnis verdichtete sich zu dem Handlungsanliegen, die Aufmerksamkeit zwischen der Wahrnehmung von Musik, den körperlichen Empfindungen, den Gefühlen und Gedanken pendeln zu lassen. Dies war die methodisch-didaktische Ausgangssituation der Regulativen Musiktherapie, an deren Wesenskern sich bis heute nichts geändert hat. Das alles ereignete sich um das Jahr 1964 herum, und die Tragweite dieser neuen Entwicklungen war uns damals noch nicht voll bewusst; ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich in dieser geistigen Haltung eine jahrtausendealte Lebenstradition und Philosophie verbirgt, die den gesamten asiatischen Raum in unterschiedlichen Facetten beeinflusst hat. Es ist ein interessantes Phänomen, dass die Regulative Musiktherapie aus einer anderen geistigkulturellen Tradition heraus entstand und doch zu einer ganz ähnlichen geistig-philosophischen und schließlich auch therapeutischen Haltung führte. Es war damals auch noch nicht klar, dass es sich bei diesem therapeutischen Ansatz dezidiert um einen wahrnehmungsspezifischen handelt, obwohl andererseits schon offensichtlich war, dass es sich bei diesem Zugang zum Patienten nicht um eine suggestive Herangehensweise handelte.

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Ende der 1960er Jahre stand dann der Name »Regulative Musiktherapie« fest (Schwabe 1969). Dieser Begriff war leider auch missverständlich; denn er beinhaltete nicht, dass hier etwas »reguliert« wird, sondern dass durch die Anregung, sich übend einer spezifischen Wahrnehmungshaltung zu überlassen, ein regulierender psychophysischer Prozess angeregt werden soll. In den folgenden Jahren wurde diese neue musiktherapeutische Methode unter den Bedingungen der Dyade und der Gruppe sowohl in der stationären als auch in der ambulanten Psychotherapie erprobt, wobei sich sehr schnell herausstellte, dass die Gruppe gegenüber der Dyade Vorteile hat. Das war die erste wichtige Phase einer Methodenausdifferenzierung, die sich in den 1970er Jahren ereignete. Schwerpunkte waren dabei die genauere Untersuchung der Funktion der Gruppe unter besonderer Berücksichtigung allgemeiner gruppendynamischer Gesetzmäßigkeiten, wie z. B. der besonderen Bedeutung von Handlungsimpulsen, die sich aus dem Wahrnehmungsanliegen für die einzelnen Individuen innerhalb des Gruppengeschehens ergaben. Im Mittelpunkt stand dabei die Erkenntnis, dass nicht die Beziehungsgestaltung das therapeutisch beabsichtigte Handlungsanliegen darstellte, sondern dass die Möglichkeiten der Gruppengemeinschaft für die individuelle Realisierung dieses Anliegens genutzt wurde. Hierzu gehörte auch die Beschäftigung mit der effektivsten Gruppenform, wobei die sog. geschlossene Gruppe sich gegenüber der offenen oder halboffenen Gruppe als vorteilhaft für die Entwicklung des therapeutischen Anliegens erweisen sollte. Des Weiteren ging es um die genauere Klärung der Musikauswahl und um die Funktion der Musik innerhalb des Wahrnehmungsprozesses wie auch darüber hinaus als Möglichkeit einer gesünderen und erfüllteren zukünftigen Lebensgestaltung. Schließlich beschäftigten uns differenzierte Indikations- und Kontraindikationsfragen, die eng verbunden waren mit Fragen nach spezifischen therapeutischen Zielstellungen. In dieser Phase lernte Helmut Röhrborn die Regulative Musiktherapie kennen. Besonders eindrucksvoll und nachhaltig für ihn war dabei die intensive Beschäftigung mit der eigenen Emotionalität ohne die Notwendigkeit sofortiger Auseinandersetzung in der Gruppe, die im Kontrast zu den Prinzipien der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie (Höck 1981c) stand. In der klinisch-psychotherapeutischen Arbeit im Bergarbeiterkrankenhaus der Wismut, Erlabrunn (} Abschnitt 6.6.2.2), die geprägt war durch einen Männeranteil von 50 % und die Verpflichtung, alle überwiesenen Patienten ohne Vorauswahl zu diagnostizieren und zu behandeln, zeigten sich sehr schnell die Grenzen der Psychotherapie mit der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie. Die zur Behandlung kommenden Patienten zeichneten sich durch einen hohen Anteil an organbezogenem Krankheitserleben ohne Psychogenese-Einsicht aus (Röhrborn u. Hofmann 1989; Röhrborn 1996a). Hier konnten sich nun rasch die Vorteile der Regulativen Musiktherapie zeigen, indem viele Patienten durch das Wahrnehmungsangebot überraschende Einsichten in psychophysische Zusammenhänge gewannen, Zugang zu den eigenen Gefühlen fanden und damit auf die psychogene Bedingtheit ihrer Beschwerden stießen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass Regulative Musiktherapie weit über das Anliegen einer Entspannungsmethode hinaus therapeutisch wirksam ist. Die Erfahrungen führten dazu, ein eigenes Gruppenpsychotherapie-Konzept für diese Patienten zu entwickeln und die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie überwiegend für Kranke

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mit neurotisch bedingten interpersonellen Beziehungsstörungen vorzusehen. In diesem Zusammenhang erfolgte auch eine intensive Auseinandersetzung mit den Charakteristika einerseits persönlichkeitszentrierter und andererseits symptomzentrierter Psychotherapie, die damals irrtümlich oft als »kausale« und »symptomatische« Psychotherapie verstanden wurden (Röhrborn 1987). So strebte das in Erlabrunn entwickelte symptomzentrierte Gruppenpsychotherapie-Konzept nicht symptomatische stützende Psychotherapie an, sondern, ausgehend von der intensiven Beschäftigung mit der Symptomwahrnehmung, die Verdeutlichung von Abwehrvorgängen im individuellen Umgang mit ihr, was zu verändertem intrapsychischem Verhalten gegenüber Störungserlebnissen und damit zur Öffnung für das Erleben psychogenetischer Zusammenhänge führte. Dabei wurde die Regulative Musiktherapie in hoher Frequenz eingesetzt. Vor allem durch die geschlossenen Gruppen wurde dieser symptomzentrierte Weg, ausgehend von der intensiven Beschäftigung mit der Symptomwahrnehmung bis hin zum Erleben der Psychogenese zu gelangen, besonders deutlich. Die Beeinflussung des Leidens erfolgte also im Rahmen einer intensiven, den Zusammenhängen nachspürenden Psychotherapie mit dem Ziel einer innerseelischen Verhaltens- und Einstellungsänderung. Dabei spielte auch die vom Übenden erlebte tiefe psychophysische Entspannung als willkommener Nebeneffekt eine Rolle. Aus dieser Entwicklung ergaben sich mehrere Weiterungen. Eine davon war die intensive Beschäftigung mit methodologischen Fragen der Psychotherapie, die von dem von Schwabe ausgearbeiteten Kausalitätsprinzip der Gruppenpsychotherapie (Schwabe 1983) ausging. Die Arbeit mit der Regulativen Musiktherapie hatte die überragende Bedeutung der Wahrnehmungsförderung für die Psychotherapie deutlich gemacht, was unter der Bezeichnung »wahrnehmungsorientiertes psychotherapeutisches Handlungsprinzip« ausführlich herausgearbeitet wurde (Kunz u. Röhrborn 1991; Schwabe u. Reinhardt 2006). Eine solche intensive psychopathogenetisch ausgerichtete Gruppenpsychotherapie für chronisch Kranke mit hoher Abwehr erforderte nicht nur eine gründliche Differentialdiagnostik vor Therapiebeginn, sondern auch die Entwicklung einer spezifischen Gruppenverlaufsdiagnostik. Mit dem sog. »Erlabrunner Beurteilungsbogen zur Stundeneinschätzung bei symptomzentrierter Gruppenpsychotherapie« (EBS) lag seit Mitte der 1980er Jahre ein praktikabler Test vor, der sich sowohl stationär als auch ambulant bewährte (Röhrborn 1996b). Bis Ende der 1980er Jahre hatte sich die Regulative Musiktherapie zu einer hocheffizienten psychotherapeutischen Methode entwickelt, die sowohl in den Kliniken, aber vor allem auch in der psychotherapeutischen Ambulanz, den Polikliniken, verbreitet Anwendung fand (Schwabe 2003). Diese Entwicklung brach mit dem Ende der DDR und der Übernahme der westdeutschen Richtlinien-Psychotherapie abrupt ab, weil Musiktherapie nicht als kassenärztlich anerkannte Psychotherapie galt. Damit wurde eine weitere Entwicklungsetappe, gleichsam durch äußere Anlässe ausgelöst, eingeleitet. Diese Etappe war vor allem verbunden mit der weitreichenden Bedeutung, die wir dem wahrnehmungspsychologischen Handlungsprinzip (Schwabe u. Reinhardt 2006) zuerkennen, das konzeptionsübergreifend zugleich auch eine Erweiterung musiktherapeutischen Handelns über die engen Grenzen einer klinischen Psychotherapie hinaus mit sich brachte (Schwabe 2003). Das bedeutete für die weitere Entwicklung der Regulativen Musiktherapie eine Rückbesinnung auf Anwendungsfelder, die mit der

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speziellen Orientierung auf psychosomatische und psychische Krankheitsbilder aus dem Blickfeld geraten waren und gleichzeitig eine Erweiterung der Anwendungsbereiche über den klinischen Sektor hinaus in den sozialen Betreuungsbereich bis hin zur Pädagogik. Unter didaktischem Gesichtspunkt musste in dieser dritten Etappe die Frage geklärt werden, von welchen, eng mit der Spezialisierungsphase der RMT in den 1980er Jahren verbundenen Vorgehensweisen man sich lösen musste. Und schließlich war auch die Frage zu beantworten, welches die unverzichtbaren Kernaussagen zur Handhabung der Regulativen Musiktherapie im Sinne eines schulenübergreifenden Konzeptes sind.

5.3.7 Beschäftigungstherapie/Gestaltungstherapie 5.3.7.1 Christoph Schwabe: Beschäftigungstherapie/Gestaltungstherapie 1980–1989 – Vielfalt und Einfalt, Organisationsversuche und Qualifizierungsaktivitäten Zu Beginn der 1980er Jahre hatten sich folgerichtig aus den personell ungeklärten Bedingungen auf dem Gebiet der Beschäftigungs- bzw. Gestaltungstherapie die unterschiedlichsten Formen, Strukturen und Auffassungen herausgebildet. Die Gründe dafür waren relativ einfach zu finden: Es gab keinen Kopf, der sich für dieses Gebiet wirklich theoretisch und integrierend interessierte, und das, was von Seiten der führenden ärztlichen Psychotherapeuten zu sagen war, erschöpfte sich in unverbindlichen und widersprüchlichen Formeln (vgl. dazu die beiden } Abschnitte 3.7 und 4.5.9 zur Beschäftigungstherapie in den Zeiträumen). Dabei wäre es naheliegend gewesen, Beschäftigungs- bzw. Gestaltungstherapie aus einem tätigkeitspsychologischen Ansatz heraus abzuleiten, so, wie ich es für die Aktive Gruppenmusiktherapie vorgenommen hatte (vgl. Schwabe in 1983: »Musik als produktive Tätigkeit und als Beziehungsvorgang« und »Der Tätigkeitscharakter der aktiven Gruppenmusiktherapie«). In diesem Zusammenhang sprechen Anzyferowa und Mansurow (1969) davon, dass der Mensch bei produktiver Tätigkeit nicht nur Produkte herstellt, sondern sich durch diese Tätigkeit auch selbst verändern kann. Und Harlfinger (1968) weist darauf hin, dass sich der Mensch durch gegenstandsbezogene produktive Tätigkeit, also durch aktives Handeln, von der eigenen Person, vom Selbsterleben, wegführen kann und durch Gerichtetheit auf eine konkrete Realität eine »soziologische Feldwirkung« im Sinne eines selbstregulierenden Systems auslösen bzw. aufbauen kann (zit. nach Schwabe 1983, S. 71). Im Unterschied zur musikalischen Tätigkeit, wo »nur« ideelle Produkte entstehen, bewirkt Tätigkeit im Sinne der Beschäftigungs- bzw. Gestaltungstherapie materielle Produkte bzw. Objekte, die wiederum unmittelbare therapeutische (nicht allein diagnostische!) Relevanz bekommen können. Das allerdings setzt voraus, im psychotherapeutischen Kontext produzierte Objekte als Ich-Erweiterungen zu verstehen und entsprechend damit wiederum therapeutisch umgehen zu können. Ein solcher Ansatz lag zu Beginn der 1980er Jahre nahe, wurde aber leider nicht aufgegriffen. Stattdessen verband sich das Gebiet der Beschäftigungs- bzw. Gestaltungstherapie mit den unterschiedlichsten Begriffen und Bezugssystemen, wovon hier einmal auszugsweise die bekanntesten zusammengestellt sein sollen:

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Beschäftigungstherapie als Basteln, als Soziotherapie, als Milieutherapie, als Psychotherapie (tiefenpsychologisch, psychoanalytisch, psychodynamisch partnerschaftlich, verhaltenstherapeutisch, anthroposophisch, psychiatrisch), als psychotherapeutische Hilfsmethode, als Gruppentherapie, als gruppendynamische Kreativtherapie, als Kreativitätstherapie, als Ergotherapie, als Gestaltungstherapie, als Maltherapie, als Malen, als Musik, als Malen mit Musik, als Malen in der Gruppe, als Gruppenmalen, als thematisches Malen, als Bildgestalten mit Musik, als künstlerische Therapie, als Kunsttherapie. Einerseits zeigt diese, in der damaligen Praxis geborene, Begriffsvielfalt einen enormen Reichtum an Bezugsfeldern, die menschlichem Tun im Allgemeinen, aber auch therapeutischen Absichten im Besonderen zugrunde liegen können. Andererseits werden dabei jedoch die indikatorische und die didaktische Unklarheit und Widersprüchlichkeit deutlich, die eine solche Entwicklung zur Folge hatte. Auf die Klagen über die ungenügende Einbindung der Beschäftigungs- und Gestaltungstherapeuten in die Organisationsformen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR reagierend, beschloss deren Vorstand, die Vertreter der Beschäftigungs- und Gestaltungstherapie mit denen der Bewegungstherapie in die bereits bestehende Sektion Musiktherapie zu integrieren. Daraus entstand im Frühjahr 1982 die Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung. Man erhoffte sich von dieser Sektion eine Art Befriedung und eine Qualitätsverbesserung des fachlichen Niveaus. In Wirklichkeit aber war dieses Vorgehen eher eine Zwangsvereinigung. Wilda-Kiesel, die Hauptvertreterin der Bewegungstherapeutinnen, hatte längst eine Arbeitsgemeinschaft Kommunikative Bewegungstherapie innerhalb der Sektion Gruppenpsychotherapie aufgebaut und kein Interesse an der neuen Organisationsform. Außerdem klafften zwischen der fachlichen Entwicklung der Musiktherapie und der Beschäftigungs- bzw. Gestaltungstherapie große Qualitätsunterschiede. Trotzdem versuchte der Vorstand der neu gegründeten Sektion für die Weiterentwicklung der Beschäftigungstherapie etwas zu tun, die drei »Gewerke« bzw. deren Vertreter miteinander in Kontakt zu bringen sowie die anderen Sektionen für eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Weiterbildung zu gewinnen. In den Vorstand der neu gegründeten Sektion hatten sich neben Anita Wilda-Kiesel und mich fünf Chefärzte wählen lassen: Heinz Benkenstein, Hildburghausen; Hans-Walter Crodel, Halle; Rudolf Huber, Stadtroda; Tilo Liefke, Brandenburg und Helmut Röhrborn, Erlabrunn. Das versprach eine konstruktive Arbeit. Am 4. und 5. Juni 1982 fand in Vollmershain (Bez. Leipzig) die erste Vorstandssitzung statt, in der u. a. eine erste Arbeitstagung über handlungsorientierte Gruppenpsychotherapie noch im gleichen Jahr beschlossen wurde. Des Weiteren wurde die Entwicklung eines Konzepts für eine psychotherapeutische Basisausbildung der Mitglieder der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung vorbereitet. Im September 1982 forderte der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR die Sektionsvorsitzenden zu einem sektionseigenen Arbeitsprogramm für die Zeit von 1982 bis 1985 auf, wobei unter Punkt 3 besonders auf eine »Optimierung der Weiterbildungsprogramme in Zusammenarbeit mit dem Vorstand« hingewiesen wurde (Ott 1982). Das daraufhin aufgestellte Arbeitsprogramm der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung hat auszugsweise folgenden Text: »Die neu gegründete Sektion sieht ihre Hauptaufgabe darin, die in den unterschiedlichen Bereichen der Musik-, Bewegungs- und Gestaltungstherapie vorhandenen Aktivitäten als

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spezifische psychotherapeutische Tätigkeiten zu organisieren, die gemeinsamen sowie die spezifischen psychotherapeutischen Handlungsansätze der damit verbundenen Methoden herauszuarbeiten, die in bestimmten Bereichen vorhandenen Entwicklungsrückstände (Gestaltungstherapie) aufzuarbeiten und für die mit dem angesprochenen Methodenrepertoire psychotherapeutisch Tätigen eine einheitliche psychotherapeutische Basisausbildung im Sinne einer Weiterbildung zu konzipieren, die im Rahmen der für die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR möglichen Ausbildung realisierbar wird. Letzteres richtet sich insbesondere auf psychotherapeutisch Tätige aus den mittleren medizinischen und den nichtmedizinischen Berufen« (Schwabe 1982). Das war in der Tat ein anspruchsvolles Programm. Es war aber auch im Vergleich zu den vorangegangenen Dezennien eine große Chance, die bisher als »Hilfsmethoden« der Psychotherapie (Wendt) stiefmütterlich behandelten Randgebiete stufenweise in das psychotherapeutische Denken der Ärzte und Klinischen Psychologen zu integrieren. Ein erstes öffentliches Auftreten der neuen Sektion war die Tagung, die unter dem Thema »Handlungsorientierte Gruppenpsychotherapie« vom 9. bis 10. November 1982 in Dresden stattfand. Neben Einführungsreferaten zur Entwicklung von Musik-, Bewegungs- und Gestaltungstherapie stellten Vertreter der drei »Gewerke« in einem Vergleich den therapeutischen Umgang mit Themen wie »Führen und Sich-Führen-Lassen« und »Wahrnehmen des Anderen« seminaristisch und als Selbsterfahrung in der Gruppe vor. Dabei wurde deutlich, welche spezifischen psychotherapeutischen Potenzen in diesen handlungsorientierten gruppenpsychotherapeutische Behandlungsformen stecken. Es offenbarten sich aber ebenso psychotherapeutischen Mängel der einzelnen Fachvertreter und die Notwendigkeiten psychotherapeutische Qualifikation. Im Mai 1983 lag das von Helmut Röhrborn und Tilo Liefke erarbeitete und vom Vorstand der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung im Jahre 1882 beschlossene Programm für eine psychotherapeutische und medizinische Basisausbildung vor. Es umfasste Ausbildungsinhalte, die für grundsätzlich notwendig gehalten wurden, Faktoren zu ihrer Umsetzung sowie Ansprechpartner, die in ein solches Unternehmen mit einbezogen werden mussten. Dies betraf den Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR sowie einzelne Sektionsvorstände und die medizinischen Dienststellen, in denen die zur Weiterbildung vorgesehenen Kolleginnen und Kollegen tätig waren. Es ist auch aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, wieso keinerlei Resonanz vom Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie erfolgte. So musste diese wichtige Aktivität im Sande verlaufen, obwohl der Vorstand der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung bis ins Jahr 1985 um Zustimmung und Realisation dieses Vorhabens kämpfte. Über das Scheitern eines weiteren Versuchs, Gestaltungstherapie innerhalb der Psychotherapie auf ein stabiles Fundament zu bringen und ihre Potenzen therapeutisch endlich voll auszuschöpfen, muss hier auch berichtet werden. In den Jahren 1983/84 hatte ich den Rektor der Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber«, Dresden, Professor Gerd Schönfelder, und den Direktor der Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Akademie »Carl Gustav Carus«, Dresden, Professor Ehrig Lange, in Kontakt gebracht und beide für ein Ausbildungsprojekt interessieren können, das einen Musiktherapie-Gestaltungs-Therapeuten auf Hochschulebene vorsah. Dazu hatte ich schon Ende 1982 ein ausführliches Curriculum vor-

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gelegt, wobei das Studienprozedere an beiden Hochschuleinrichtungen gemeinsam hätte realisiert werden können (Schwabe 1982). Ein solches Berufsbild hätte mehrere Vorteile gehabt. Es hätte auf gleicher wissenschaftstheoretischer Basis eine Kombination beider Therapieansätze realisiert, was in der Praxis integrative Wirkung gehabt hätte, und es wäre bei der Realisierung des Projekts möglich gewesen, einen Therapeuten für künstlerische bzw. tätigkeitsorientierte Therapie zu haben, der auch in kleineren Einrichtungen, wo Psycho­ therapie indiziert ist, ausgelastet gewesen wäre. (Im Übrigen ist dieses Berufsbild bis zum heutigen Tage interessant und wäre realistisch, wenn sich dafür entsprechende Befürworter fänden.) Die Weiterverfolgung dieses Projektes, auch auf ministerieller Ebene, kam nicht zustande, weil der Rektor der Dresdener Musikhochschule im Jahr 1985 unerwartet zum Intendanten der neu eröffneten Semperoper ernannt wurde, sein Nachfolger keinerlei Interesse in dieser Sache zeigte und zwei Jahre später der Direktor der Psychiatrischen Klinik an der Medizinischen Akademie in Rente ging und sein Nachfolger ebenfalls uninteressiert war. Im Januar 1989 versuchte die Sektionsleitung der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung wiederholt, auf ungelöste Probleme in den Bereichen Gestaltungstherapie und Musiktherapie aufmerksam zu machen, weil die berufliche Qualifikation in beiden Bereichen nach wie vor unbefriedigt, genauer, ungelöst war. Da der Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR offensichtlich an den Problemen, die unsere Sektion bewegten, kein Interesse zeigte, wandten wir uns aus Anlass des XII. Psychotherapiekongresses der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie in Berlin im Januar 1989 mit einem offenen Brief im Sinne eines Diskussionsbeitrags an alle Mitglieder der Gesellschaft, um auf diese Situation aufmerksam zu machen. Ausschnitte aus diesem Diskussionsbeitrag sollen das unrühmliche Kapitel der Geschichte der Psychotherapieentwicklung der DDR abschließen. Diskussionsbeitrag des Sektionvorstandes der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR zum XII. Psychotherapiekongress, Berlin, Januar 1989: »Sehr geehrte Damen und Herren, gestatten Sie mir, aus der Aufgabenstellung und Sicht unserer Sektion und aus gegebenem Anlass einige Bemerkungen [...]. Unsere Sektion ist entsprechend ihrer Struktur für Musik-, Bewegungs- und Gestaltungstherapie verantwortlich und damit auch für drei weitverzweigte Tätigkeitsgruppen, verbunden mit sehr unterschiedlichen, mindestens aber drei Berufsgruppen mit meist sehr unterschiedlichen Ausgangsbedingungen. Daraus leiten sich für uns, den Vorstand [...] zwei Fragenkomplexe für die zukünftige Arbeit ab, die ich hier zur Diskussion stellen möchte. Der eine ist: Wie werden in unserer Gesellschaft in Zukunft nichtmedizinische und mittlere medizinische Tätigkeitsgruppen psychotherapeutisch qualifiziert? Die andere Frage ist: Wie sollen wir in Zukunft in unserer Sektion damit umgehen, wenn wir mit in der Psychotherapie tätigen Laien konfrontiert werden und diese Kollegen von uns berufliche Qualifizierung erwarten? Auf dem Gebiet der Psychotherapie gab es in den letzten Jahren in unserem Lande für drei Berufsgruppen, nämlich für Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten, berufliche Qualifizierungsmöglichkeiten. Darüber hinaus sind aber in der Psychotherapie Laien tätig, die bisher außer Weiterbildungen, die wir selbst organisierten, keine Chancen für eine berufliche Qualifizierung haben [...]. Es kann nicht sein, dass wir fürderhin stillschweigend akzeptieren, wichtige psychotherapeutische Aktivitäten wie Musik- und Gestaltungstherapie wenig oder

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gar nicht qualifizierten Laien zu überlassen bzw. zu übertragen. [...] eine Analyse der Akten ergibt, dass im Laufe der Zeit zunächst nicht das Ministerium für Gesundheitswesen diese notwendige Entwicklung bremste. Vielmehr haben [...] die in der zurückliegenden Zeit amtierenden Vorstände unserer Gesellschaft Entscheidungsfindungen und Förderungen durch verschiedene Verhaltensweisen be- bzw. verhindert, die eigentlich im Interesse einer komplexen Psychotherapieumsetzung liegen müssten [...]. Es wäre schade und unerträglich, wenn in diesen Disziplinen, die wir zur Psychotherapie rechnen [...], die internationale Entwicklung an uns vorbeigehen sollte und wir durch Ignoranz und Passivität gewonnene Positionen aufgeben und Qualitätszustände in unserer Arbeit tolerieren, die nicht akzeptabel sind. Für den Vorstand der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung Christoph Schwabe, Vorsitzender.« Dieser Appell kam in eine Zeit, die bereits geschwängert war mit dem politischen Wetterleuchten, das natürlich auch vor den Kreisen der Psychotherapeuten nicht Halt machte. So ging unser mahnender Hilferuf in dieser sich anbahnenden Turbulenz unter und wurde ohne spürbare Resonanz mit hinübergenommen in die nachfolgende Zeit, die wir Wende nennen. Nachtrag: Als ich im Jahre 2000 auf der Weimarer Psychotherapeutentagung zum Thema »Psychotherapie in Zeiten der Veränderung« einen Vortrag mit dem Titel »Der Traum von einer interdisziplinären Psychotherapie« hielt, reagierten die zumeist psychoanalytisch ausgerichteten Zuhörer aus der alten Bundesrepublik, ähnlich wie die aus dem Osten Deutschlands, mit Unverständnis und Desinteresse, so, als ob dieses Thema sie nicht beträfe. Wo steht der Teamworkgedanke in der Psychotherapie heute? Wird er nicht mehr benötigt? Oder hat sich Ploeger mit seinem Dauerthema von »der therapeutischen Gemeinschaft« vielleicht sogar geirrt?

5.3.7.2 Marianne Pienitz: Gestaltungstherapie/Kunsttherapie – Ein Erfahrungsbericht von 1981–1995 Zu Beginn des Jahres 1981 wurde am damaligen Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig (BKH Leipzig) die sozialpsychiatrische Jugendstation eröffnet. Diese Station verfügte über die Funktionen einer klinisch-psychiatrischen Aufnahmestation als auch die einer psychotherapeutischen sowie einer Rehabilitationsstation. Allgemeines Arbeitsprinzip wurde das der »Therapeutischen Gemeinschaft«, verbindlich für alle Berufsgruppen und flankiert durch Kenntnisvermittlung des therapeutischen Basisverhaltens, der nondirektiven Gesprächstherapie und weiterer Techniken. Ich möchte im Rahmen meines Berichtes auf die Entwicklung und die Veränderungen des Arbeitsbereiches eingehen, der mir vom Tag der Stationsgründung an bis in die Gegenwart anvertraut war und ist: die Gestaltungstherapie. Bis 1995 verwendete ich diese Bezeichnung, obwohl ich bereits 1994 in Hannover bei Elisabeth Wellendorf den Abschluss zur analytischen Kunsttherapeutin erworben hatte. Die Gründe für die verspätete Anwendung der Berufsbezeichnung »Kunsttherapeutin« erschlossen sich mir durch verschiedenste Überlegungen. Einerseits verfügte ich über keine künstlerische Vorausbildung, sondern kam aus dem sonderpädagogischen Bereich. Aber genau dort machte ich erstaunliche Erfahrungen mit den nonverbalen Möglichkeiten von

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Zeichnung und Malerei, Plastik und Sandgestaltungen. Die begrenzten Reflexionsmöglichkeiten der damaligen Patienten mussten angenommen werden, jedoch die Entspannung, Entlastung und die Freude am Geschaffenen beeindruckten mich sehr. Das bildnerische Produkt als »Gegenüber« hatte mich zu dieser Zeit schon intensiv beschäftigt. Meine Überlegungen zur Zeit des Wechsels auf die Jugendstation galten der Tatsache, dass diese Jugendlichen auch den gestalterischen Prozess reflektieren könnten. Neben der Freude über das Geschaffene sollte auch die Auseinandersetzung mit den Schwierigkeiten des gestalterischen Prozesses, den noch nicht verbalisierbaren Konflikten der inneren Welt eine Ausdrucksmöglichkeit gegeben werden. So viel zu den Vorüberlegungen. Mein persönlicher Anfang nach dem Wechsel war dann eher zaghaft. Aber um auf die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Berufsbezeichnung zurückzukommen: Dabei ging es letztlich um Identität. Während dieser langen Jahre von 1981–1995 beschäftigte mich die Suche nach einer Orientierung für mein Arbeitsgebiet. Aber diese Orientierung war nicht zu finden in der DDR, jedenfalls nicht für das Gebiet der Jugendpsychotherapie mit künstlerischen Mitteln und Methoden. In der DDR existierte keinerlei Ausbildung für Gestaltungs- oder Kunsttherapie im Gegensatz zur Bewegungs- und Musiktherapie. Wer Gestaltungstherapie als Arbeitsgebiet wählte, war in gewisser Weise abhängig von der Kunstbegeisterung, dem Kunstverständnis, auch für Bildnereien psychisch Kranker des ärztlichen Vorgesetzten, vielleicht auch dessen persönlicher kreativer Betätigung und damit gemachter Erfahrungen, wie in meinem Fall. Gestaltung fand jedoch Anwendung z. B. im klinischen Alltag der Gruppenpsychotherapiebehandlung des Erwachsenenalters. Angebote, Stellenwert und Durchführungsformen unterschieden sich oft beträchtlich, wie mir Hospitationen und Gedankenaustausch in den ersten fünf Jahren zeigten. Themenaufträge der Gruppentherapeuten, die im Beisein einer Krankenschwester oder eines Ergotherapeuten zu realisieren waren, wurden dann als fertige Ergebnisse von den Patienten zum Einzeltherapeuten oder in die Gruppe zur Nachbesprechung mitgenommen. Der Gestaltungsprozess wurde nicht als Informationsquelle genutzt. Häufig gab es auch wenig Unterscheidung zwischen Ergo-, Arbeits- und gestaltender Therapie mit künstlerischen Mitteln. Das war aus meiner Sicht eine Folge fehlender Ausbildungsangebote und mangelnder Kenntnis der psychotherapeutischen Möglichkeiten mit gestalterisch-künstlerischen Mitteln. Die Suche nach einem Modell, an dem ich mich orientieren konnte, um Gestaltungstherapie speziell für das Jugendalter zu entwickeln, habe ich letztlich aufgegeben. Damit ist eine unglaublich spannende und vielseitige »Pionierarbeit« in Gang gekommen. Eine wesentliche Unterstützung fand ich bei Frau Dr. Agathe Israel, der ärztlichen Stationsgründerin, die persönlich eine intensive Beziehung zur künstlerischen Betätigung auszeichnete und überzeugt war vom Wert der Gestaltungstherapie. Zudem nutzte ich die Leipziger Deutsche Bücherei und informierte mich. Hinzu kamen private Kontakte in die Schweiz, Norwegen und Westdeutschland. Wesentlich erschienen mir immer der Austausch mit den therapeutischen Kollegen der Jugendstation und die eigene Beobachtung. Nochmals zur Ausgangssituation. In Höcks »Gruppentherapie« (1981a) fand ich: » [...] in der Beschäftigungstherapie, besser gestaltende Therapie, geht es weniger um die Herstellung eines bestimmten Produktes, sondern bei der gruppenmäßigen Herstellung kunstgewerbli-

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cher Gegenstände geht es vor allem um die Aktivierung gestalterischer Fähigkeiten als Stabilisator des Selbstbewußtsein und die Beeinflussung der neurotisch gestörten nonverbalen Ausdrucksfähigkeit (Kohler u. Kiesel 1972). Im allgemeinen werden bei dieser Therapieform, für die sich bei Neurotikern Tonarbeiten besonders eignen, kleinere Teilgruppen zur gemeinsamen Gestaltung eines Objektes gebildet.« Zum individuellen Malen, Zeichnen etc. lassen sich keine Hinweise finden. Weiter heißt es zu »Agierende Formen der Gruppentherapie: In dieser Gruppe lassen sich die künstlerisch-darstellenden Behandlungsformen zusammenfassen; wobei es vor allem um die Entfaltung spontaner, unreflektierter Äußerungsformen geht«. Sehr schnell wurde klar, dass zur Gestaltungstherapie mit Jugendlichen im Klinikrahmen unbedingt die Kenntnis der Entwicklungspsychologie gehört, speziell der Adoleszenz, unbedingt auch die Psychopathologie und ebenso wichtig die Kenntnis von der Wirkung der Materialien auf die Psyche. Die genaue Beobachtung zeigte mir Problembereiche auf, z. B. in der Psychotherapiegruppe war es sinnvoll, fließende Materialien anzuwenden, um den Zugang zu Emotionen zu unterstützen. Aber bereits in der sog. symptomzentrierten Gruppe konnte das Fließen unter Umständen das Zerfließen der gerade in der Umstrukturierung befindlichen jugendlichen Persönlichkeit eher unterstützen. Die Collage, mit relativ wenig Struktur versehen, ermöglichte zwar die Darstellung des inneren Chaos, aber mitunter konnte der/die Patient/-in die destruktiven Ausdrucksformen kaum aushalten. Also ging es darum, die Wirkung der Materialien genauer zu beobachten. Rahmen geben einem Bild Halt, das ist unbestritten. Demzufolge startete ich Versuche bei jugendlichen Psychotikern, mit unterschiedlichen Blattformaten zu arbeiten. Fließende Materialien ersetzte ich durch festere und mehr Gegendruck gewährende Stifte und Kreiden. Dem anfänglichen Chaos der Collage wurde mehr Struktur entgegengesetzt. Auch die Formen der Gruppenarbeit mussten mehr beobachtet werden. Deutlich wurden die Schwierigkeiten individuellen Arbeitens in der Öffentlichkeit einer Gruppe. Gruppengestaltungen, Plastiken, Gruppenbilder boten die Möglichkeit, sich während des Gestaltungsprozesses weniger zu zeigen. Während der Auswertung der Gruppenarbeit reflektierten die Gruppenmitglieder deutlich den individuellen Anteil am Prozess und Ergebnis. Nachfolgende Themenschwerpunkte beschäftigten mich seit der Gründung der Jugendstation immer wieder. Zwei Gruppenformen existierten. Die eine ist die Psychotherapiegruppe, angelehnt und modifiziert für das Jugendalter auf der Grundlage der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie nach Höck, ein Phasenmodell, dem natürlich die Gestaltungstherapie verpflichtet war. Täglich fand eine Gestaltungsgruppe statt. Das Thema der Gesprächsgruppe sollte vorbereitet, intendiert werden. Im Laufe der Zeit unterstützte die Gestaltungstherapie eher die Verbalisierungsfähigkeit der Jugendlichen. Fragestellungen ergaben sich aus der Bedeutung des entstandenen Bildes, der Skulptur, der Collage, des Gruppenbildes. Wie viel Mitteilung aus der Innenwelt der Jugendlichen sollte im Rahmen der Gestaltungstherapie ausgesprochen werden? Was gehörte unbedingt in die Gesprächsgruppe? Jedoch auch die Bedeutung des Materials beschäftigte mich. Welches Material unterstützte den Prozess und verdeutlichte Konflikte bzw. verhalf zu Einsichten und Selbstreflexion?

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Die Beziehung zur Gestaltungstherapeutin möchte ich nicht unerwähnt lassen. Wie viel Nähe, wie viel Distanz war und ist sinnvoll und nötig? Einerseits spielt die Frage der Authentizität des Erwachsenen im Umgang mit Jugendlichen eine Rolle, andererseits darf die Abstinenz nicht außer Acht gelassen werden. Die Beziehungsklärung und -gestaltung fand ja in der Gruppe und mit der Einzeltherapeutin statt. Neben der Psychotherapiegruppe existierte die symptomzentrierte Gruppe, eine halboffene Gruppenform. Auch diese Gruppe unterlag Entwicklungsphasen, die jedoch nicht gezielt intendiert wurden. Alle Therapiemethoden wurden leiter- und problemzentriert durchgeführt. Gestaltungstherapie bot: Ausprobieren und Entdecken ohne Leistungsdruck, die Bestätigung der Persönlichkeit durch das sichtbar Geschaffene, Erkennen persönlicher praktischer Voraussetzungen ohne negative Sanktionen und Folgen, die Möglichkeiten, Erfahrungen durch andere und mit Gruppenmitgliedern zu machen, soziale Fähigkeiten zu erwerben wie Helfen, Beraten, Einsehen, Durchsetzen, Kritisieren oder Korrigieren. In dieser Gruppe wurden Jugendliche der folgenden Erkrankungsformen behandelt: hirnorganische Störungen, soziale Fehlentwicklungen, Jugendliche mit psychotischer Symptomatik. Anfangs stellte ich ungeheuer viel Materialien zur Verfügung. Im Verlauf der Jahre erlaubten mir meine Beobachtungen einen gezielten Einsatz von Material und Techniken in Bezug auf die unterschiedlichen Störungsbilder. Mit dem Wechsel der Stationsärztin und der Wende 1989 ergab sich eine Reihe von Veränderungen im Stationsalltag. Die Intendierte Dynamische Psychotherapiegruppe, die in der Regel für drei Monate geschlossen als Gruppe behandelt wurde, geriet in Leipzig zum »Auslaufmodell«. Zunehmend wurden Patienten mit vorwiegend neurotischen Störungen bei niedergelassenen Therapeuten vorstellig. Die halboffene Gruppe entwickelte sich zur Standardgruppenform, sowohl hinsichtlich der Psychotherapiegruppe als auch für die ehemalige symptomzentrierte Gruppe. Neu hinzukommende Patienten wurden von länger anwesenden Jugendlichen ins Gruppengeschehen eingeführt, über Inhalte und Strukturen informiert. Alle Patienten absolvierten in einem Zeitrahmen von ca. 14 Tagen die Basisgruppe. Für den Bereich der Gestaltungs-/Kunsttherapie stand Diagnostik im Vordergrund, außerdem spielte das »Anwärmen«, der Beziehungsaufbau zur Therapeutin eine wichtige Rolle. Die Behandlungszeit in der Psychotherapiegruppe umfasste nach wie vor drei Monate. Allerdings ergaben sich nun häufigere Wechsel der Gruppenteilnehmerinnen. Die Ausbildungsanteile in Körpertherapie und Biosynthese, erworben in den 1980er Jahren bei Dr. Eva Reich und David Boadella, halfen mir, nunmehr veränderte Bedingungen zu bewältigen. Im Rahmen der Kunsttherapie-Ausbildung in Hannover bei Elisabeth Wellendorf wollte ich in erster Linie meine therapeutische Haltung überprüfen. Ich fühlte mich im Lauf der Zeit bestätigt und bestärkt. Eine Reihe neuer Methoden nutzte ich dann für die Einzelarbeit in meiner Leipziger Klinik. Nach langen Jahren vorwiegender Gruppenarbeit konnte ich Tonfeld-, Sandfeldarbeit/Sandspiel, Ausdrucksmalen und Körperbildarbeit in der Einzelsituation anwenden. Die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Einzeltherapeuten bot in den Nachwendejahren eine wesentliche Voraussetzung für die Integration kunsttherapeutischer Angebote in den gesamttherapeutischen Prozess. Diesbezüglich habe ich Frau Dr. A. Morgenstern für ihr Vertrauen und ihre Kooperationsbereitschaft zu danken. Noch vor

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Ablauf der Ausbildung zur analytischen Kunsttherapeutin in Hannover bin ich zur Hälfte aus der Festanstellung »ausgestiegen«. Ich wollte unbedingt präventiv arbeiten und habe einen großen Bedarf u. a. bei Lehrern und Erziehern gesehen. Kunsttherapeutische Angebote, wie auch Seminare an Fachhochschulen für angewandte Kunst, z. B. Schneeberg/Sachsen, sollten für die Kunsttherapie als nonverbale Ausdrucksmöglichkeit in schwierigen Situationen und hoffnungsvolle Veränderungsangebote werben. Inzwischen begleite ich Kunsttherapieanwärterinnen als Supervisorin, habe seit Mitte der 1990er Jahre fast ohne Unterbrechung Kunsttherapiepraktikantinnen. Die Graduierungsprüfung für Kunstherapie und Befähigung zur Supervisorin, auch die Befähigung zur Psychotherapeutin ECP absolvierte ich in den 1990er Jahren. Für den klinischen Bereich finde ich interessant, dass sich die Grundstrukturen der Jugendstation bis auf den heutigen Tag erhalten haben, trotz aller formaler Veränderungen. Selbst unser »Katalog der handlungsorientierten Therapiever­ fahren«, der mir im Rahmen dieses Berichtes wieder in die Hände fiel und den ich als aus­ gesprochen sinnvoll beurteile, kann heute jedem Kunsttherapeuten in die Hand gegeben werden. Das Wesentliche bleibt doch die Beziehungsgestaltung mit dem Patienten bzw. der Pa­tientin. Die Kunsttherapie weist im Behandlungsrahmen eine Besonderheit auf: das Bild als Gegenüber, als Dialogpartner. Kunsttherapeutin und Patient können sich auf der Symbolebene begegnen und austauschen. Das Bild, die Gestalt bleibt erhalten. Am Therapieende können Patienten die persönliche Entwicklung betrachten und überprüfen. Dieser Erfahrungsbericht kann nur einen sehr kurzen Ausschnitt der Kunsttherapie des Jugendalters erfassen. Viele wesentliche Themen würden eine ausführlichere Betrachtung benötigen.

5.3.8 Kommunikative Bewegungstherapie und Konzentrative Entspannung 5.3.8.1 Anita Wilda-Kiesel: Die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungs­ therapie und ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft für Ärztliche ­Psychotherapie Die Arbeitsgruppe blieb nach ihrer Gründung eine relativ kleine, aber sehr stabile Gruppe von 28 Mitgliedern, die zunächst aus 22 Fachphysiotherapeuten, zwei Psychologen, zwei Psychotherapeuten und zwei Diplom-Medizinpädagogen bestand. Ich hatte mich 1980 wieder verheiratet und leitete, nun als Wilda-Kiesel, gemeinsam mit Waldemar Gunia, Brigitte Rieckhoff und Helga Schulz die AG, deren Mitgliederzahlen sich bis 1990 auf 40 erhöhte. 1982 war es zu einer Umstrukturierung der Gesellschaft gekommen. Es wurden neue Sektionen gegründet. Die Kommunikative Bewegungstherapie schied aus der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie aus und sollte nun in der neuen Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung arbeiten. Diese Veränderung haben die Mitglieder der AG anfangs begrüßt, es war ein Ziel der Sektion, die handlungsorientierten Methoden zu vergleichen, ihre Wirkprinzipien zu erforschen und Schwerpunkte für den unterschiedlichen Einsatz der Metho-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

den zu benennen. Das war durchaus im Sinne des Vorstandes und der Mitglieder der Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie. Es kam jedoch schon während der ersten Tagung der neuen Sektion im Herbst 1983 zu einer großen Verunsicherung der Fachphysiotherapeutinnen. Alle handlungsorientierten Gruppen (Musik, Bewegung, Gestaltung) stellten ihre Methoden vor, dabei kam es zu erheblichen Spannungen zwischen den Akteuren und den von der Sektionsleitung beauftragten Beobachtern. Zitat aus einem Protokoll, welches nach der Tagung auf der zweiten Sitzung der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung verfasst wurde: »Diese Verunsicherung entstand, weil die einzelnen Vertreter der Methoden unterschiedliche Auffassungen von den Wirkmechanismen hatten, die vor der Tagung nicht ausgetragen und geklärt wurden. Die Verantwortlichen für die Begleitung der Gruppen (gedacht als Supervisoren) waren nicht in der Lage, die den Methoden innewohnenden Spannungen und Problemen zu versachlichen, sie haben sie im Gegenteil noch vertieft. Auf dieser Grundlage konnten sich Schwierigkeiten, Unzufriedenheiten und destruktiven Prozesse entwickeln und das betraf sowohl die Akteure wie auch die Teilnehmer«. Anfang Januar 1985 beschloss der Vorstand der AG KomBth auf einer erweiterten Vorstandssitzung, aus der Sektion Musik, Bewegung, Gestaltung auszutreten und den Vorstand der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie wieder um Aufnahme zu bitten. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie waren einhellig der Meinung, dass sie fachlich in die Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie gehören. Diesem Wunsch wurde vom Vorstand der Gesellschaft auf einer erweiterten Sitzung in Straußberg im Januar 1985 stattgegeben und die Arbeitsgruppe verblieb bis zur Gründung der GPPMP in der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie. Unabhängig von der Entwicklung in den Sektionen führte die AG Kommunikative Bewegungstherapie ihre jährlichen Arbeitstagungen durch. Im März 1984 berichteten AG Mitglieder erstmalig von der Anwendung der Methode in der Kinder- und Jugendpsychotherapie, wo Agathe Israel und Dörthe Maria Zorr in der Städtischen Klinik für Neurologie/Psychiatrie Leipzig interessante Möglichkeiten für eine Modifizierung auf diesem Gebiet gefunden hatten. Das Ehepaar Oechel, Uchtspringe, hatte mit der Kommunikativen Bewegungstherapie bei der Therapie Erwachsener in der Psychiatrie Erfahrungen gesammelt und Mary-Lies Crodel, Halle/Saale, hatte auf einer Station mit psychosomatisch Erkrankten erfolgreich gearbeitet. Diese Berichte ermutigten die Fachphysiotherapeuten weiter, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der Anwendung der Methode in unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen zu suchen und sie zu benennen. Im Februar 1986 gestaltete die AG im Rahmen einer Weiterbildungstagung für Physiotherapeuten, die von der AG Physiotherapie in der Gesellschaft für Orthopädie ausgerichtet wurde und in Leipzig stattfand, ein interessantes Programm zum Thema Physiotherapie bei psychisch Kranken. Als Referenten konnten namhafte Ärzte aus den Bereichen Neurologie/ Psychiatrie/Psychotherapie der DDR gewonnen werden, wie z. B. Gisela Ehle, Berlin, Waldemar Gunia, Schwerin, Volker Kielstein, Magdeburg, Marianne Kaltenbach, Heidenau, Eva Maria Marischka, Ückermünde. Aus der AG berichteten Monika Forster, Heidenau, Eveline Fredrich, Berlin, Christina Marzyan, Ückermünde, Vera Purzger, Berlin und Brigitte Rieckhoff, Schwerin von ihren praktischen Erfahrungen und leiteten die Workshops. Der Erfolg war groß, es gab viele interessierte Zuhörer und 72 Teilnehmer an den praktischen Übungen.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Im Oktober des gleichen Jahres waren die Mitglieder der AG KomBth auf der 7. Arbeitstagung der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) präsent. Waldemar Gunia hielt einen Vortrag über die »Teilzielbestimmung in der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie und deren Intendierung durch die Kommunikative Bewegungstherapie«. In zwei vierstündigen Sektionen wurden die Zielstellung und Methodik sowie eine praktische Demonstration der Kommunikativen Bewegungstherapie in der Vorarbeits- und Arbeitsphase dargestellt. Themenschwerpunkte waren die Spezifik der Methode in der dynamischen Gruppenpsychotherapie (Wilda-Kiesel), der Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen (Israel, Zorr) und in der Erwachsenen Psychiatrie (Eichhorn, Marzyan). 1987 erschien bei Johann Ambrosius Barth, Leipzig, meine Monographie Kommunikative Bewegungstherapie. Geyer schreibt in einem Geleitwort, dass ich mit der Entwicklung der Methode prinzipiell einen Weg gewiesen habe, wie Fachschulabsolventen bei entsprechender Qualifizierung, wie der Fachphysiotherapeut sie darstellte, eigenständig ein psychotherapeutisches Verfahren handhaben können. Im Buch werden methodisch-didaktische Prinzipien der Therapiedurchführung, das Therapeutenverhalten und im Hauptteil die therapeutischen Aufgabenstellungen mit ihren vielfältigen Übungen dargestellt. Die Anwendung der Methode über die Psychotherapie hinaus wird als Bewegungstherapie unter kommunikativen Aspekt beschrieben und bezieht sich insbesondere auf die Therapie in der Psychiatrie und Psychosomatik. Vom 13.–15. Dezember 1988 fand in Schwerin die 12. Arbeitstagung der Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie in der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie statt. Sie wurde in Kooperation mit der Arbeitsgruppe Konzentrative Entspannung unter der Leitung von Brigitte Böttcher und der AG Rhythmik und Tanz in der Psychotherapie unter der Leitung von Christel Ulbrich durchgeführt. Brigitte Rieckhoff und Waldemar Gunia aus der Bezirksnervenklinik Schwerin hatten die Tagung ausgezeichnet vorbereitet und organisiert. Das Referentenverzeichnis nennt 40 Namen, wobei die Beteiligung international war, denn Hana Junova aus Prag und die Krankengymnastin Katja Tringer aus Budapest hielten Vorträge. Bemerkenswert ist auch, dass 20 Fachphysiotherapeuten, neben neun Psychologen, acht Ärzten und drei Tanztherapeuten, referierten und über 200 Teilnehmer angereist waren. Das Themenspektrum war breit gefächert, z. B. sprach Volker Kielstein über die Auswirkung der Reich’schen Lehre auf das psychotherapeutische Denken und Handeln, A. Lehmann et al. referierten über »Der Körper in der Psychotherapie, verteufelt und vernachlässigt« und Christel Ulbrich sprach über »Der zu bewegende Mensch – der bewegte Mensch«. Aus heutiger Sicht sind dies Themen, die immer noch zu diskutieren sind und die auch die Körper- und Leibtherapeuten bis heute beschäftigen. 1989 begann Waldemar Gunia in Basthorst, Mecklenburg, gemeinsam mit Brigitte Rieckhoff und Helga Schulz, eine Selbsterfahrung in Kommunikativer Bewegungstherapie, gekoppelt mit dynamisch orientierter Gesprächstherapie, anzubieten. Ein Lehrgang dauerte eine Woche, das Interesse war rege, die Lehrgänge fanden bis 1993 statt. 1989 war das Jahr des Aufbruchs, der Herbst mit seinen Veränderungen hielt alle so in Atem, dass es keine Zusammenkunft der Arbeitsgruppe gab.

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Zusammenfassend kann eingeschätzt werden, dass es für die Kommunikative Bewegungstherapie als psychotherapeutische Methode sehr hilfreich und förderlich war, dass sie als Arbeitsgruppe in der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie arbeiten konnte. Das gab den Mitgliedern die Möglichkeit, die Entwicklungen in der Psychotherapie zu verfolgen, die Integration der Methode in die Psychotherapie immer wieder zu überprüfen, neu zu bedenken, aber auch in Frage zu stellen sowie mit kompetenten Psychotherapeuten über die Entwicklung der Gruppentherapie und die Indikation zu beraten.

5.3.8.2 Brigitte Böttcher: Die Konzentrative Entspannung als Relaxationsverfahren Vorbemerkungen zur Entstehung und Verbreitung der Methode Konzentrative Entspannung (KoE) in der psychotherapeutischen Fortbildung und Praxis Über die Entstehung der Konzentrativen Entspannung und die staatliche Anerkennung der Fachphysiotherapeutenausbildung für funktionelle Störungen und Neurosen durch das Gesundheitsministerium der DDR ab 1972, in welche die KoE eingebunden war, berichtet Anita Wilda-Kiesel (} Abschnitt 4.5.7.3). Ein zusammenfassender Rückblick schließt sich im Folgenden an: Die Methode KoE als übendes Relaxationsverfahren war aus der praktischen Tätigkeit Anita Kiesels entstanden, um als Physiotherapeutin für Patienten mit psychischen Störungen ein Entspannungsverfahren alternativ zum Autogenen Training anbieten zu können. Als »Handwerkszeug« der Physiotherapie gab es bis dahin kein Verfahren, welches mentales Lernen mit Körperübungen verbindet. Das Ziel dieser Therapie waren die bewusste Körperwahrnehmung und Konzentrative Entspannung, welche den Patienten am Therapieende befähigte, mit gleichbleibenden Sätzen (ähnlich dem Autogenen Training, aber zusammengefasst in der »Ich-Form«) die Entspannung selbständig in kurzer Zeit zu erreichen. Die Vermittlung der KoE als Gruppentherapieverfahren (fünf bis zwölf Teilnehmer) erfolgte in acht bis zehn Übungseinheiten oder angepasst an die Einzelarbeit. Das Erspüren des Körpers in der ruhenden Rückenlage differenziert Auflagen, Abstände zum Boden, Lage der Arme, Beine und nutzt entspannungsförderliche Elemente, Dehn- und Stablagerung zur sensorischen Differenzierung. Spürendes Vergleichen macht Änderungen bewusst im Sinne der psychophysischen Spannungsregulation und zum körperlichen Wohlgefühl. Die Wurzeln der KoE nach Kiesel führen zu Elsa Gindler zurück – Gymnastiklehrerin in den 1920er Jahren. Gindlers Ansatz war die spürende Wahrnehmung des nach innen gerichteten Körpergeschehens im Sinne der Perzeption bzw. Eigenwahrnehmung. »Werden Sie erfahrbereit« (Zeitler 1991), so die von Gindler bekannte Anregung zur Praxis individueller Körperbalance und Üben der Passfähigkeit an äußere Gegebenheiten im Moment des Übens. Kiesels Physiotherapie unter psychophysischem Aspekt floss in das Klinikkonzept der Kommunikativen Psychotherapie unter Leitung Christa Kohlers an der Leipziger Universität ein. Das Besondere der Konzentrativen Entspannung nach Wilda-Kiesel ist es, nicht nur still dem Körper nachzuspüren, sondern sich in der fast nahtlosen Aufeinanderfolge des Spürens

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und Verbalisierens selbst zu entäußern, Empfindungen einfachster sensorischer Art sprachlich zu verdeutlichen während des Übens. Diese Vorgehensweise unterscheidet die KoE von allen anderen Entspannungsverfahren (Kiesel 1977/1993) und setzt für das Therapeutenverhalten Grundlagen des klientenzentrierten Gesprächsverhaltens voraus. Die Konzentrative Entspannung war im Curriculum des Fachphysiotherapeuten enthalten, welches ab 1972 über die Bezirksakademie für Gesundheits- und Sozialwesen Leipzig durchgeführt wurde. Die Praxis fand in Kooperation mit o. g. Fachklinik der Leipziger Universität statt. Kiesels Studium von 1969–1973 an der Deutschen Hochschule für Körperkultur und Sport Leipzig schließt mit ihrer Diplomarbeit zur Konzentrativen Entspannung und einer kontrollierten randomisierten Studie bei Schwimmsportlern ab: »Konzentrative Entspannung als Methode zur Optimierung von Erholungsphasen zwischen Mikrozyklen bei Schwimmsportlern« (Kiesel 1973). Als Lehrmaterial für die Fachphysiotherapeutenausbildung wird vom Institut für Weiterbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte Potsdam die Broschüre »Die Konzentrative Entspannung« mit Anita Kiesel als Autorin in mehreren Auflagen herausgegeben (Kiesel 1977, 1983). Mit den Absolventen der Fachphysiotherapeutenausbildungen blieb Kiesel im ständigen Fortbildungskontakt und veranstaltete zunächst offene Arbeitstreffen zur reflektierenden Durchführung von Stunden KoE – eine unkomplizierte und sehr praxisorientierte Fortbildung mit kollegialem Feedback. Bis 1980 führte Kiesel außerdem jährlich mindestens zwei Wochenkurse zum Erlernen der Konzentrativen Entspannung für Physiotherapeuten, Ärzte und Psychologen durch. Die KoE wurde nicht zuletzt durch Veröffentlichungen von Kohler und Kiesel bekannt (Kohler u. Kiesel 1972; Wilda-Kiesel 1987). Der Bedarf an Therapeuten zur Durchführung der KoE stieg an, vor allem in den Kurkliniken und stationären Einrichtungen für Psychiatrie und Psychosomatik. Aber auch in psychotherapeutischen Ambulanzen wurden Elemente der KoE oft genutzt, um eine körperbezogene Hinführung zum Autogenen Training zu ermöglichen. 1979 erfolgte die Veröffentlichung eines KoE-Beitrages in der »Zeitschrift für Orthopädie und Traumatologie« mit dem Titel: »Erfahrungen mit der Konzentrativen Entspannung in der Ambulanz eines Landkreises« (Böttcher u. Haenchen 1979). Mit meinem ersten Fortbildungskurs KoE bei Dresdner Psychologen vom Oktober 1981 bis Januar 1982 begann die eigenständige Fortbildung für die Konzentrative Entspannung im Dresdner Raum. Ab 1982 bis 1989 folgten überregionale Lehrgänge für Physiotherapeuten über die Gesellschaft für Orthopädie, AG Physiotherapie. Für Psychologen und Ärzte waren die Fortbildungsmöglichkeiten über die Regionalgesellschaften der Psychotherapeuten in Kooperation mit den Bezirks- und Betriebsakademien für Gesundheits- und Sozialwesen gegeben. Ausbildungskurse KoE waren vor allem von Kureinrichtungen, Fachkrankenhäusern für funktionelle Medizin und Orthopädie nachgefragt. Die KoE war auch bei Tagungen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und Orthopädie Thema zu psychologischen Kontexten, so z. B. zum Thema »Problempatienten und Problemsituationen« bei der Regionaltagung der Psychotherapeuten in Dresden (1987) oder die Fortbildung zur Durchführung der

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KoE für Mitarbeiter der Klinik für funktionelle Medizin des Bergarbeiterkrankenhause Erlabrunn (Oktober 1986). Betriebsakademien für Gesundheits- und Sozialwesen vermittelten KoE-Seminare zur Stressreduktion für das Personal mit psychosozialen Belastungsfaktoren. Im Bezirkskabinett für Gesundheitserziehung der Stadt Dresden gab es z. B. 1984/1985 einen fachlichen Bereich für Psychohygiene, in welchem in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und einer Psychologin ein Prophylaxeprojekt für stressgefährdete Lehrer und Erzieher im Stadtgebiet mit Anwendung der KoE durchgeführt wurde. Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten war – anders als heute – normal und selbstverständlich. Die in den ärztlichen Fachgesellschaften organisierten Physiotherapeuten, die in Arbeitsgemeinschaften zusammenschlossen waren, hatten zwar keinen eigenen Berufsverband. Andererseits ermöglichte die fachliche Nähe zu Ärzten und Psychologen jedoch den unkomplizierten Austausch.

Die Gründung der AG Konzentrative Entspannung (KoE) in der Sektion Autogenes Training und Hypnose der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR Im August 1986 war von di Pol, Vorsitzendem der Sektion Autogenes Training und Hypnose in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, die Möglichkeit ins Gespräch gebracht worden, die Konzentrative Entspannung als Arbeitsgemeinschaft in die Sektion aufzunehmen. Etwa 30 Interessenten aus den Berufen der Physiotherapie und Psychotherapie standen hinter der Entscheidung zur Mitarbeit, und so wurde zur Vorstandssitzung am 10. August 1986 der Beschluss gefasst, diese Arbeitsgemeinschaft zu gründen. Die Psychologin Ruth Caspar und ich als Fachphysiotherapeutin wurden in den Vorstand der Sektion Autogenes Training und Hypnose kooptiert. Wir erarbeiteten eine Ausbildungskonzeption, welche im Gesamtvorstand besprochen wurde. Die Gründungsveranstaltung der Arbeitsgemeinschaft Konzentrative Entspannung fand vom 25.–27. November 1986 in Dresden statt, 32 Anwesende – Ärzte, Psychologen und Physiotherapeuten – belegten die Teilnehmerlisten. An drei Tagen wechselten Vorträge mit praktischem Üben der KoE in Gruppen. Die zweite Arbeitstagung im November 1988 fand wieder in Dresden mit 30 Teilnehmern statt. Bis zum Jahr 1989 hatte sich innerhalb der Sektion Autogenes Training und Hypnose eine stabile Zusammenarbeit entwickelt.

Die Konzentrative Entspannung in der Rehabilitation Die Fachphysiotherapeutenausbildung zur Prophylaxe und Physiotherapie bei funktionellen Störungen und psychischen Erkrankungen war eine staatlich anerkannte Weiterbildung in der DDR, um für Patienten mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen eine störungsspezifische Physiotherapie vorzuhalten. Aber auch unabhängig von der Gesamtausbildung kam es über die Kurse Konzentrative Entspannung zu einer Sensibilisierung für das Grenzgebiet zwischen Physio- und Psychotherapie. So beeinflusste die KoE die Rehabilitation in ganz unterschiedlicher Weise: – Die Konzentrative Entspannung wurde in einer großen Zahl von Rehabilitationskliniken durchgeführt (z. B. Unikliniken Dresden, Halle, Leipzig, Bezirksnervenkliniken Bran-

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denburg, Rodewisch, Schwerin, Rostock, Vogtlandklinik Bad Elster, Orthopädische ­Klinik Berlin-Buch, Griesinger-Krankenhaus Berlin, Städtische Orthopädische Klinik Leipzig, St. Joseph-Krankenhaus Berlin, Städtisches Krankenhaus Dresden-Neustadt, Regierungskrankenhaus Berlin usw.) – In den Kureinrichtungen gelang es, die KoE als eigenständiges Relaxationsverfahren neben dem Autogenen Training zu etablieren (z. B. Volksheilbad Bad Berka, Vogtlandklinik Bad Elster, Moorbad Bad Düben, Kneippkurbad Bad Berggießhübel und viele andere Einrichtungen). Durchgeführt wurde die KoE meist von Physiotherapeuten, aber auch von in KoE fortgebildeten Psychologen. – Im ambulanten Bereich konnten Physiotherapeuten nach der Fortbildung KoE diese Methode integrieren, so in der Atemtherapie, bei chronischem Rückenschmerz, Spannungskopfschmerz oder bei funktionellen Kreislauferkrankungen wie Bluthochdruck, Infarktrehabilitation usw. (z. B. Physiotherapieabteilungen vieler universitärer Polikliniken, wie Dresden, Greifswald, Rostock, Halle oder an Bezirkskrankenhäusern, wie Neuruppin, Schwerin, Potsdam/Neu Fahrland usw. und in Betriebspolikliniken, wie Chemieanlagenbau Leipzig, Rundfunkpoliklinik Berlin, Ambulatorien der Wismut in Chemnitz oder Betriebsambulanz des Energiekombinates Leipzig usw.) – Psychologen mit Fortbildung KoE integrierten diese Methode in Tätigkeiten der Beratungsstellen (Familien- und Erziehungsberatungsstellen, Gesundheitsämter, Suchtberatungsstellen, ambulante Kinderabteilungen der Polikliniken, wie z. B. die Jugendärztliche Leitstelle Radebeul, die schulpsychologischen Dienste der Stadt Dresden, die Betriebsakademien für Gesundheits- und Sozialwesen Dresden wie auch das Zentralinstitut für Arbeitsmedizin und die Betriebsambulanz der Berliner Theater). Kiesel und ich konnten unsere Methoden auch in die Weiterbildung von Lehrern der Physiotherapie integrieren. So fand z. B. im Februar 1986 in Dresden eine viertägige Veranstaltung mit etwa 70 Physiotherapiedozenten der DDR statt, zentral organisiert vom Institut für Weiterbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte. Rotierende Gruppen zur Konzentrativen Entspannung (KoE), der Kommunikativen Bewegungstherapie (KB) und sozialen Wahrnehmung in Gruppen und Rollenspiele zur Sensibilisierung für adäquates Lehrerverhalten waren Inhalte der Veranstaltung. Die Schulung der Empathiefähigkeit und die Reflexion der Therapeut-Patient-Beziehung standen im Vordergrund und ermöglichten den Lehrern als Multiplikatoren für den rehabilitativ orientierten Fachberuf der Physiotherapeuten eine neue Betrachtungsperspektive.

5.3.9 Autogenes Training und Hypnose: Wolf-Rainer Krause: Hypnose und Autogenes Training in den 1980er Jahren Zu Beginn dieses Jahrzehnts hatte sich die Sektion Autogenes Training und Hypnose mit etwa 250 Mitgliedern fest etabliert. Neben Arbeitstagungen führte sie weiterhin die recht begehrten Hypnosekurse durch. Insbesondere das Üben in Kleingruppen mit gegenseitigem Rollenwechsel führ ich heute noch analog durch.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Klumbies (1981) hatte noch einmal Gelegenheit, parallel zur ständigen Überarbeitung seines mehrfach erwähnten Lehrbuches, speziell über die Hypnosetherapie zusammenfassend Stellung zu nehmen. Er selbst berichtet über die Hypnosetherapie in Europa, während Katzenstein über eine Stellungnahme zur Hypnosetherapie im englisch-amerikanischen Sprachbereich erstmals Milton Erickson ausführlicher vorstellte. Im gleichen Heft kommen auch Margit Venner mit einer Arbeit zur Gruppenhypnose und Gruppenpsychotherapie, E. Girndt und Gerhard Schaeffer zur Hypnokatharsis und autogenen Abreaktion sowie Hans-Joachim Maaz, Hypnose aus vitaler Indikation, zu Wort. Alle sonstigen Autoren kamen aus den sozialistischen Ländern. Aus dieser Zeit erwähnenswert bleibt, dass die so nach Anerkennung heischende DDR nicht Mitglied der International Society of Hypnosis wurde. Ich selbst wurde 1987 zum »Korrespondierenden Mitglied« und »offiziellen Repräsentanten« einer International Society of Theoretical and Experimental Hypnosis (ISTEH) Moskau/Prag berufen, die seinerzeit unter der Präsidentschaft von Prof. Vladimir Raikov, Moskau, und dem Psychologen Peter Zivny (Prag) stand. Jeffrey K. Zeig von der Milton H. Erickson Foundation Phoenix/Arizona referierte im überfüllten Hörsaal der Charité-Nervenklinik. Von ihm angeregte und von uns begrüßte Weiterbildungskurse kamen aber angesichts der für ihn völlig unverständlichen Bürokratie in der DDR nicht zustande. Geyer (1988) wies in einem Beitrag zur fachspezifischen Psychotherapie in der Inneren Medizin darauf hin, dass Gerhard Klumbies die deutsche psychosomatische Tradition in der DDR konstruktiv weitergeführt habe, jedoch zu wenig in der ärztlichen Ausbildung spürbar sei. Hingegen werde durch die neue ärztliche Approbationsordnung der BRD das biopsychosoziale Krankheitsverständnis deutlicher in die Ausbildungspraxis der Ärzte überführt. Unter Federführung des habilitierten Arbeitshygienikers und Hypnoseautodidakten Horst Rublack (Universität Halle 1990) führten Wolf-Rainer Krause und Steffen Dauer Untersuchungen zur Belastung und Entspannungsreaktion im wachen und hypnotischen Zustand durch. Das war insofern spannend, da man bis dahin Hypnose eher mit Schlaf assoziierte als mit körperlicher Höchstleistung. In Zusammenarbeit mit Rüdiger Schellenberg (Schellenberg u. Krause 1990), Medizinische Akademie Magdeburg, wurde ein Video über Hypnosephänomene hergestellt und vor allem die Hypnose in der Lehre wieder den Medizinstudenten zugänglich gemacht. Sowohl Hypnose als auch Autogenes Training wurden in dieser Zeit über Printmedien, aber auch Funk und Fernsehen, Volkshochschulen und die Urania breiten Bevölkerungskreisen bekannt gemacht. Dieses Thema war politisch-ideologisch neutral. So sind mir die Aktivitäten unter vielen anderen von Crodel, di Pol, Krause und Rublack in besonderer Erinnerung. Andererseits ohne Kontakte ins »nichtsozialistische Ausland« waren die wissenschaftlichen Aktivitäten in der DDR-Provinz nicht durchzuführen. So wartete man z. B. auf ein Buch über die Fernleihe Monate. So ist stellvertretend der postalische Austausch einer ganzen Reihe von Kolleginnen und Kollegen zu danken. Nur stellvertretend seien Folgende genannt: Gerhard Barolin (Österreich), Walter Bongartz, Bernhard Diehl, Peter Halama, Wolfgang Kristen (†), Hans-Christian Kossak, Herbert Mensen (†), Albrecht Schmierer, Heinrich Wallnöfer (Österreich), Peo Wikström (Schweden). Ein Bruchteil dieser Post wurde von der Staatssicherheit zunächst unbemerkt geöffnet und kopiert – von solchen Geräten konnten

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

wir hier damals nur träumen –, erstaunlicherweise aber auch ein Brief aus Ostberlin, in dem die Anleitung des Autogenen Trainings nach J. H. Schultz mir aufgrund eines Inserates in der Wochenpost angeboten wurde. Anfang der 1980er Jahre publizierte ich (u. a. Krause 1986a, 1986b) einige Arbeiten zu physiologischen Untersuchungen beim Autogenen Training. Das Hauptaugenmerk legte ich jedoch auf das Biofeedback-gestützte Autogene Training. Ansatz hierzu war, dass die Abbrecherquote vermindert werden sollte und überhaupt die Effektivität z. B. auch für Kureinrichtungen (Winkler u. Krause 1989) nach Möglichkeit erhöht wurde. Dazu wurde in enger Zusammenarbeit eine Biofeedback-Geräteeinheit Klinikgerät und Patientengerät entwickelt. Ein »Jugendforscherkollektiv« unter Leitung des Verdienten Erfinders des Volkes, Dr. W. Talke (Talke u. Krause 1986), führte die Entwicklung und Produktion mehrerer Geräte durch. Für die technische Entwicklung wurden zwei Patente erteilt und die Arbeiten wurden mit einigen seinerzeit üblichen Urkunden, aber auch dem Preis der Medizin des Bezirkes Magdeburg geehrt. Zur Produktion dieses »Konsumgutes« kam es letztlich doch nicht, hauptsächlich wohl aufgrund eines Einspruchs von Karl Hecht. Ich fand mich aber noch in einem Buch von Diehl 1990 wieder, das aufgrund eines Schweizer Kongresses im Jahre 1988 erschien, an dem ich gar nicht teilnehmen durfte. 1984 stand der 100. Geburtstag von J. H. Schultz im Mittelpunkt der Sektion Autogenes Training und Hypnose, auch unterstützt durch die Regionalgesellschaft Berlin, die Arbeitsgemeinschaft Weltanschauliche und ethische Probleme der Psychotherapie, Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und der Gesamtgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Die wissenschaftliche Leitung hatte König inne. U. a. kamen Achim Thom, Geyer, Klumbies, Jürgen Ott zu Wort. Von der Sektion liegen mir nur die vermutlich letzten Protokolle aus dem Sommer und Herbst 1989 und Anfang 1990 vor. Es waren seinerzeit Neuwahlen geplant. Aus dem Vorstand ausscheiden wollten offensichtlich Monika Haas, Heinz Hennig, Maaz, Eichhorn und Behrens. Di Pol wollte sich der Wiederwahl als Vorsitzender stellen. Innerhalb des Vorstandes sollten drei Arbeitsbereiche geschaffen werden: Autogenes Training – Frau Eckert und Herr Wruck, Hypnose – Herr Kögler und Herr Krause, Konzentrative Entspannung – Frau Böttcher und Herr Materne. Eine Einladung für Bernhard Trenckle aus Rottweil nach Leipzig wurde trotz der schon stattfindenden Demonstrationen in Leipzig noch realisiert. Im September 1989 durfte ich erstmalig zu einem europäischen Hypnosekongress in das schöne Heidelberg fahren und konnte viele der mir aus der Literatur bekannten Referenten live und im persönlichen Gedankenaustausch erleben.

5.3.10 Wolfgang Gräßler: Logotherapie und Existenzanalyse in der DDR bis 1990 Das Verfahren der Logotherapie und Existenzanalyse nach V. E. Frankl wurde seit den 1970er Jahren zur Behandlung seelisch Kranker vorwiegend in der ambulanten Psychotherapie eingesetzt.

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In der Logotherapie tritt die Sinnfrage des persönlichen Lebens über die Analyse der personalen Sinn- und Werthierarchie in das therapeutische Zentrum. Der »sokratische Dialog« erarbeitet über die »paradoxe Intention« die Möglichkeiten des Menschen zur Selbst­ distanzierung und über die Brücke der »Dereflexion« die Fähigkeit zur Selbsttranszendenz, als »Hilfe zur Selbsthilfe«. Das Menschenbild ist durch eine dreidimensionale Dynamik gekennzeichnet, wobei neben der Triebstruktur die geistige Dimension mit ihrer spe­ zifischen Weltsicht und der soziale Kontext sehr stark in den Behandlungsprozess einbezogen werden. 1968 hielt Frankl an der KMU Leipzig einen Vortrag über seine »Dritte Wiener Psychotherapierichtung«, der m. W. auf Interesse und gute Resonanz stieß, aber anschließend unter den damaligen Verhältnissen kaum wesentliche Breitenwirkung und Nachhaltigkeit entfaltete. Der eigentliche Pionier der Logotherapie in der DDR ist Dr. med. Heinz Gall (1934– 2006). Als langjährigem Weggefährten Heinz Galls und auch aus schriftlichen Quellen ist mir bekannt, dass dieser bereits seit 1962 als junger Arzt mit der Logotherapie als einer Art Basis-Psychotherapie arbeitete, die er sich autodidaktisch angeeignet hatte. Nachdem er eine kleine Randnotiz im Lehrbuch der Psychiatrie von Ewald fand, las er die Werke von V. E. Frankl in der Bibliothek der Universitätsnervenklinik Greifswald, in der er später als Oberarzt und Hochschullehrer tätig war. Er behandelte Patienten mit Aktualkonflikten, Neurosen im Sinne von Fehlentwicklungen und psychosomatischen Krankheiten. Zeitlebens wandte Gall die logotherapeutische Methode in der Praxis an und verglich dieses Denksystem mit anderen Psychotherapieverfahren, für die er immer offen war und die er zum Teil selbst erlernte. So nahm er an einer Selbsterfahrungskommunität nach dem Intendiert-Dynamischen Gruppenmodell von Höck teil, hospitierte am Haus der Gesundheit in Berlin und schloss eine Gruppenpsychotherapeutische Ausbildung ab. Hypnose und Autogenes Training erlernte er an der Medizinischen Universitätsklinik Jena. Ab 1978 leitete er als exzellenter Praktiker und klinischer Psychotherapeut das »Medizinische Zentrum Falladastraße« in Greifswald. In den 1980er Jahren kam Heinz Gall, ziemlich unerwartet, mit den inzwischen gegründeten Gesellschaften für Logotherapie in Wien und Bremen in Kontakt, wurde von dort angeschrieben und auch um einen Artikel für den Gedenkband zum 80. Geburtstag von Frankl gebeten. Sein Beitrag zu diesem Band, »Ein praktikables Psychotherapiekonzept für die Allgemeinpraxis«, erschien 1985 im Piper-Verlag in der Reihe »Wege zum Sinn«, herausgegeben von Alfried Längle. Frankl nahm persönlich zweimal mit Gall telefonischen Kontakt auf und ermunterte ihn zur Publikation seiner Erfahrungen. In der DDR veröffentlichte er Mitte der 1980er Jahre in der Fachzeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie«, Hirzel-Verlag, Leipzig, einen Beitrag über paradoxe Intention. Gall konnte im Laufe der Zeit etliche Ärzte und Psychologen des Greifswalder und später des gesamten Nordraumes der ehemaligen DDR, einschließlich Ost-Berlins, Thüringens und Sachsens für die Logotherapie interessieren und gründete 1987 im Rahmen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie eine »Arbeitsgemeinschaft für Logotherapie«, die sich regelmäßig zu kleineren Veranstaltungen meist in Greifswald trafen. Auf dem Jahreskongress der GÄP mit internationaler Beteiligung im Januar 1989 in Berlin konnte Gall in einem Vortrag die Ergebnisse seiner Arbeit einem großen Interessentenkreis vorstellen.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Ich kam während meiner Facharztausbildung in der Nervenklinik Chemnitz (damals KarlMarx-Stadt) Anfang der 1970er Jahre durch meinen Chef Wolfgang Steinkopff mit den Ideen Frankls in Berührung. Steinkopff stand ebenfalls locker mit Frankl in Verbindung, vermittelte mir dessen Menschenbild und Psychotherapiekonzept und besorgte mir als erste Lektüre Frankls »Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus fünf Jahrzehnten«. Auch in der Niederlassung als Nervenarzt im Kreis Mittweida nach dem Ende der Facharztausbildung 1974 beschäftigte sich eine kleine Gruppe, neben Steinkopff und mir auch der Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik Augustusburg, Wilfried Stopat, mit der Logotherapie und Existenzanalyse. Später erfuhren wir, dass auch Manfred Schulz in Ostberlin logotherapeutisch arbeitete. Unsere Erfahrungen flossen auch in die 14-tägigen Grundkurse für Allgemeinmediziner ein, die Stopat und ich im Rahmen der Regionalgesellschaft der GÄP ab 1983 regelmäßig durchführten. Logotherapeutische Methoden wie paradoxe Intention und Dereflexion ließen sich relativ gut in die Praxis umsetzen. In einigen Fällen konnten wir Teilnehmer für eine intensivere Beschäftigung mit der Methodik gewinnen. Auch Vorträge über die Frage nach dem Sinn bei V. Frankl, die ich ab 1986 vor Ärzten und Psychologen an der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens Karl-Marx-Stadt hielt, erfreuten sich guter Resonanz. Von staatlicher Seite erfuhren wir ansonsten weder Förderung noch Behinderung, wobei die Methodik eher für idealistisch gehalten wurde. 1987 kam ich erstmals in engeren Kontakt mit Heinz Gall und nahm an den Regional­ tagungen der Arbeitsgemeinschaft für Logotherapie und Existenzanalyse in Greifswald teil. Die aktivsten Mitsteiter der Arbeitsgemeinschaft waren seinerzeit u. a. Dr. Rita Küstermann (Stralsund), Dr. Gertraud Baudisch (Berlin), Dr. Renate Weichbrodt (Berlin), Dr. Gyda Rohleder (Weimar) und Dr. Ralf Schädlich (Annaberg). In dieser Zeit intensivierten sich auch die Kontakte in den Westen. Gall erhielt damals schon regelmäßig die Fortbildungs- und Mitteilungshefte der westdeutschen Gesellschaft aus Bremen. Mir gelang es ab 1989, in Verbindung zu Dr. Alfried Längle, dem Vorsitzenden der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse, Wien, zu kommen. In der Wendezeit des Oktober 1989 veranstaltete die gesamte Gruppe der Nord- und Süd­ interessenten unserer Arbeitsgemeinschaft eine größere gemeinsame Tagung in der Psychotherapeutischen Klinik Augustusburg. Schon im März 1990 wurde in Greifswald die Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (Ost) e. V. mit Heinz Gall als 1. und mir als 2. Vorsitzenden gegründet, die korporatives Mitglied in der GPPMP wurde. Der Vorstand dieser Gesellschaft gab ab diesem Zeitpunkt zweimal im Jahr ein kleines Blatt »Sinn und Sein« heraus. Die Gesellschaft nahm Verbindungen zur Deutschen Gesellschaft für Logotherapie (Dr. Karl Dieter Heines, Dr. Elisabeth Lukas) auf und knüpfte auch einen Kontakt nach Kalifornien. Noch im Juni 1990 nahmen einige unserer Mitglieder am Kongress der Deutschen Gesellschaft in Bremen teil. Dr. Längle wurde Gast auf unseren eigenen Tagungen in Augustusburg. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Vereinigung, fand der Kongress der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (Wien) in Stuttgart statt, auf dem mehrere unserer Vertreter an Seminaren mitarbeiteten. Mit diesem Datum darf ich meinen Bericht über die Entwicklung der Logotherapie und Existenzanalyse in der DDR, soweit mir bekannt, abschließen. Zweimal jährlich tagt seitdem unsere Gesellschaft, tauscht Erfahrungen im nationalen Rahmen aus und hat ihren Platz auch in der psychotherapeutischen Landschaft Europas gefunden.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

5.4 Weitere Entwicklung stationärer und tagesklinischer Psychotherapieeinrichtungen 5.4.1 Michael Geyer: Die Universitätsklinik für Psychotherapie und Psychosomatik Leipzig in den 1980er Jahren Nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden Christa Kohlers 1975 bleibt der mit der Klinikleitung verbundene Lehrstuhl für Psychiatrie (Psychotherapie) acht Jahre lang unbesetzt. Im 4. Kapitel beschreibt Plöttner (} Abschnitt 4.8.2.1) die unter dem Kommissariat des bekannten Sozialpsychiaters Klaus Weise und der Abteilungsleitung von Helmut R. Starke vorherrschende methodische Ausrichtung an der Gesprächspsychotherapie (nach Rogers/ Tausch) im Einzel- und Gruppensetting. Starke, der eine Lehranalyse bei Beerholdt absolviert und seine Ausbildung in der psychiatrischen Klinik erhalten hatte, pflegt in dieser Zeit die Beziehungen zur Psychologie, zu den Schriftstellern des Leipziger J. R. Becher Instituts und zur Theologischen Fakultät. 1983 erhalte ich den Ruf auf den Leipziger Lehrstuhl für Psychiatrie (Psychotherapie). Nach dem Medizinstudium in Sofia, Leipzig und Erfurt, der Promotion mit einem psychiatrischen Thema 1966 und der Habilitation mit einer psychosomatischen Arbeit an der Medizinischen Akademie Erfurt (Geyer 1978) gibt es bis dahin jahrelange Widerstände gegen eine Berufung auf eine Hochschullehrerposition, die in meiner Stasiakte als Zweifel an meiner Fähigkeit, Studenten im kommunistischen Sinne erziehen zu können, beschrieben werden. Durch Unterstützung Weises, eines politisch in der SED angesiedelten, persönlich integren und der Psychotherapie verbundenen Lehrstuhlinhabers für Psychiatrie in Leipzig, kommt 1983 schließlich der Ruf nach Leipzig. Der ehemalige Kohler’sche Lehrstuhl ist seinerzeit der einzige mit dem Direktorat einer Klinik verbundene Lehrstuhl der DDR mit psychotherapeutischer Ausrichtung und hat für mich, der ich seit vielen Jahren mit den »Leipzigern« Hermann F. Böttcher, Anita WildaKiesel und Christoph Schwabe sowohl wissenschaftlich als auch fachpolitisch zusammengearbeitet hatte, eine beträchtliche Attraktivität. Leider kommt die Berufung nach Leipzig zu spät, um die drei am Verlassen der »KT« zu hindern. Der Ruf eines politisch nicht vertrauenswürdigen Hochschullehrers auf diesen Lehrstuhl bringt es zunächst mit sich, dass der selbständige Status der Abteilung wieder verloren geht, obwohl eine Einsetzung als ordentlicher Professor (vergleichbar mit einer heutigen C4/ W3-Professur) erfolgt; aus heutiger Sicht eher ein glücklicher Umstand, nicht in die universitären Leitungsprozesse involviert worden zu sein. Darüber hinaus ergibt sich für die Arbeit durch diese Wiederanbindung an die psychiatrische Klinik kaum eine Einschränkung, was dem kollegialen Verhalten Weises zu danken ist. Die psychodynamische Ausrichtung der Arbeit verstärkt sich nach 1983 deutlich. Als wesentliche tägliche Behandlungsform wird die Psychodynamische Gruppenpsychotherapie etabliert. In den sechs Jahren bis zur Wende wird die Kunst- und Gestaltungstherapie psychodynamisch ausgerichtet und die an der Klinik von Wilda-Kiesel entwickelte Kommunikative Bewegungstherapie stärker in die Gruppenarbeit integriert.

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5.3  Methoden und Methoden-Sektionen in den 1980er Jahren

Die von Starke in den 1970er Jahren begonnene epidemiologische Psychotherapiebedarfsforschung wird ergänzt durch eine systematische Therapieforschung (Geyer, Hupfer u. Ehrhardt 1984; Geyer et al. 1991b; Geyer u. Reihs 2000). Ein den Forschungsanliegen der Klinik Rechnung tragende Form der Diagnostik mit einer umfangreichen Status- und ­Prä-post-Ergebnismessung sowie einer aufwendigen prozessbegleitenden Diagnostik wird eingeführt und ist ab 1985 für die Prozessforschung nutzbar. Günter Plöttner und Peter Winiecki sind mit diesen Forschungsergebnissen 1989 die ersten Habilitanden der Klinik seit Kohlers Habilitation 1968. Es erfolgt eine erste Neustrukturierung der Klinik mit Umwandlung von 18 der 40 Betten in tagesklinische Plätze für in näherer Umgebung wohnende Patienten. Damit wird die unerträgliche Situation für Patienten in den Acht-Bett-Zimmern beendet. Im Zusammenhang mit der Einführung des Facharztes für Psychotherapie, des Fach­ psychologen der Medizin und der Ostversion der Zusatzbezeichnung Psychotherapie kommt auf die Klinik in dieser Zeit ein gewaltiges Pensum an Ausbildungsaufgaben zu. Ursula ­Feldes, Günter Plöttner, Helmut Starke, später auch Ute Uhle und Bettina Schmidt, übertragen mit großem Engagement die psychodynamische Orientierung in die Aus- und Weiterbildung und klinische Arbeit. Damit verbunden ist auch eine grundlegende Veränderung des Berufsbildes des Pflegepersonals. Die pflegerischen Versorgungsaufgaben werden ergänzt durch zahlreiche therapeutische Aktivitäten und Aufgaben in der Psycho- und Prozessdiagnostik. Das Schwesternteam bekommt eine besondere Bedeutung für den spezifischen psychotherapeutischen Prozess. Die Klinik wird in den 1980er Jahren zur meist frequentierten Ausbildungsstätte Mitteldeutschlands. Es entstehen Lehrbücher und Lehrmaterialien für die Psychosomatische Grundversorgung und die Psychodynamische Psychotherapie (Geyer 1985, 1989b). Kontakte zu den wesentlichen klinischen Fachgebieten entwickeln sich hauptsächlich über die Medizinische Psychologie und den psychosomatischen Konsiliardienst. Der Leiter der Klinik – seit 1982 Vorsitzender der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR – wird 1987 zum Generalsekretär der International Federation for Medical Psychotherapy gewählt, was Kongressreisen in den Westen erleichtert und die Klinik wieder an die internationale Entwicklung anschließt. Die Klinik wird zu einem Organisationszentrum aller wichtigen nationalen und internationalen Psychotherapiekongresse der 1980er Jahre. Schließlich werden ab 1986 – damals noch illegale – Forschungsbeziehungen zu westdeutschen Einrichtungen aufgebaut. Es beginnt mit einer zunächst illegalen Kooperation mit Kächele, Psychotherapeutische Universitätsabteilung Ulm. Das bekannte Lehrbuch von Thomä und Kächele wird in größeren Stückzahlen ins Land gebracht und verbreitet. Inoffizielle Forschungskontakte entstehen auch zu Rainer Krause (Psychologisches Institut der Universität Saarbrücken) im Saarland, Wolfgang Senf (Psychosomatische Klinik der Unversität Heidelberg, später Essen) und Elmar Brähler in Gießen. (Die 1984 während des ersten Ost-West-Symposiums in Dresden geknüpften Beziehungen zu Brähler in Gießen führen nach der Wende zur Berufung Brählers auf den ersten Lehrstuhl für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Medizinischen Fakultät der Uni Leipzig.) Die Organisation und Durchführung mehrerer größerer Ost-West-Veranstaltungen gleicht für die Mitarbeiter der Klinik einem Drahtseilakt unter den misstrauischen Augen

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

der ministeriellen Obrigkeit und der Stasi mit beträchtlichen Absturzmöglichkeiten (so wurde das Leipziger Freud-Symposium 1989 von der Stasi »als eine mögliche politische Plattformbildung im Sinne der PUT«, also der »Poltischen Untergrundtätigkeit« ausgemacht; s. Süß 1998, S. 319 ff.). Die Klinik organisierte auch die große »vorgezogene Vereinigungsfeier der ost- und westdeutschen Psychotherapeuten« 1987 in Erfurt, die großen Kongresse mit internationaler Beteiligung in Neubrandenburg und Berlin mit mehr als 1000 Teilnehmern und nicht zuletzt das erwähnte Freud-Symposium in Leipzig, als die DDR schon in den letzten Zügen liegt (s. a. Schröder 2003). Die Klinik wird auch die folgende Zeit der Wende aktiv mitgestalten (s. a. } Abschnitt 6.6.1.1).

Fazit Die Geschichte der Psychotherapie an der Leipziger Universität ist seit ihrer Gründung 1953 bis zur Wende 1989 voller Widersprüche. Die Leipziger Universität ist zwar seit den 1950er Jahren verschrien als die erste »rote« Universität der DDR. Andererseits ist sie angesichts ihrer Fächervielfalt und der Zahl von 17.000 Mitarbeitern und Hochschullehrern voller Nischen und Winkel; und wer sich nicht politisch betätigen will, kann erstaunlich unbehelligt bleiben. Ich selbst habe das jedenfalls als Student, der drei Semester Anfang der 1960er Jahre in Leipzig absolvierte, ebenso genossen wie als Hochschullehrer in den 1980er Jahren, wo ich nicht gezwungen war, auch nur ein einziges politisches Amt an der Hochschule zu übernehmen. Wie die Universität ist auch die Entwicklung der Psychotherapie-Abteilung selbst äußerst widersprüchlich. Gegründet als zweitälteste bettenführende Spezialeinrichtung für Psychotherapie an einer deutschen Universität, wird sie zunächst als Zentrum des Pawlowismus politisch instrumentalisiert. Aber schon nach kurzer Zeit regt sich gegen die reduktionistische »Schlaftherapie« Widerstand und der damalige Abteilungsleiter Harro Wendt, der eher der Psychodynamik zuneigt, baut behutsam die Therapie um. Die von Christa Kohler seit Anfang der 1960er Jahre entwickelte Kommunikative Psychotherapie bricht radikal mit dem Pawlowismus. Die Kommunikative Psychotherapie wird nach der Erkrankung Kohlers durch eine sog. Humanistische Therapie, die Gesprächspsychotherapie, ersetzt, die schließlich einem psychodynamischen Konzept in den 1980er Jahren Platz macht. Es liegt in dieser Zeit am einzelnen Psychotherapeuten selbst, ob und wie weit er die speziellen Probleme der DDR-Gesellschaft aus seiner Arbeit ausblendet oder nicht. Jeder von uns hat zu tun mit nicht systemkonformen Lehrern, Opfern von Parteiverfahren und Ausreisewilligen. Systemgeschädigte aller Art flüchten in die Psychotherapie, und als Psychotherapeuten fühlen wir uns besonders in der Verantwortung, gesellschaftliche Missstände zu benennen und öffentlich zu machen. Alle Psychotherapiekongresse der letzten DDR-Jahre, die mit Hilfe dieser Abteilung organisiert werden, haben ausdrücklich diesen Gegenstand. So möchte ich die Geschichte dieser Klinik in erster Linie unter dem Gesichtspunkt bewertet wissen, wie jeder Einzelne seine Verantwortung für seine Patienten und Studenten in einer Diktatur wahrgenommen hat, und nicht unter dem Aspekt, wie er sie als Mitarbeiter der »Karl Marx-Universität« hätte wahrnehmen sollen.

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5.4  Entwicklung stationärer und tagesklinischer Psychotherapieeinrichtungen

Die Geschichte dieser Klinik reflektiert die Gefährdungen wie die Chancen des Subjekts in einem langen Prozess der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, charakterisiert durch ständige Versuche, scheinbar übermächtigen äußeren Gegebenheiten zu trotzen. Hier wurden (und werden auch heute immer noch) Freiräume für leidende Menschen geschaffen, deren Bedeutung nur für die zu ermessen ist, die sie genießen konnten.

5.4.2 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Psychotherapie in der Universitätsnervenklinik Halle 1980–1989 5.4.2.1 Erdmuthe Fikentscher: Psychotherapie bei Patienten im Erwachsenenalter In den 1980er Jahren wurde im Gesundheitswesen der DDR zunehmend die Notwendigkeit verbesserter psychotherapeutischer Behandlungsmöglichkeiten anerkannt (Fikentscher u. Liebner 1983). Dies nutzten auch die kirchlichen Krankenhäuser in Halle/Saale zum Aufbau stationärer psychotherapeutischer Abteilungen, so im evangelischen Diakoniekrankenhaus (Chefarzt Dr. H.-J. Maaz) und im katholischen St.-Elisabeth-Krankenhaus (Chefarzt Dr. J. Piscorz). Die ambulanten Behandlungsangebote blieben allerdings sehr begrenzt und waren häufig durch mangelnde methodische Ausbildung der Kollegen weniger wirksam. Die neuen Psychotherapie-Abteilungen waren für uns Psychotherapeuten an der Universität als Austauschpartner wichtig, aber auch als Zeichen für belebende Konkurrenz. So konnte Anfang der 1980er Jahre eine fachliche und auch weitgehend organisatorische Selbständigkeit für die Psychotherapie als Abteilung erreicht werden, begründet auch durch die Einführung des Facharztes für Psychotherapie als Zweifacharzt. Zu dieser Zeit fand ein Wechsel im Direktorat statt, die Lehrstühle für Psychiatrie (Helmut Späte) und Neurologie (Rudolf M. Schmidt) wurden selbständig, neu besetzt und damit eine Trennung dieser Fachgebiete vollzogen, wodurch sich auch die Möglichkeiten der Psychotherapie zur eigenstän­ digen Weiterentwicklung – allerdings begrenzt durch die politischen Einschränkungen – verbesserten. In diese Zeit fiel auch 1982 der Umzug der Psychotherapie-Abteilung in das neu erbaute 2. Bettenhaus im Universitätsklinikum Kröllwitz, wodurch eine Aufstockung der Bettenzahl auf 24 und Aufbau einer tagesklinischen Station möglich wurde. Gleichzeitig konnte sich eine engere Zusammenarbeit mit der Inneren Medizin entwickeln. Das Aufgabenfeld wurde durch die Behandlung psychosomatischer Erkrankungen und eine vielfältige Konsiliartätigkeit erweitert. Leider wurde diese positive Entwicklung 1988 unterbrochen durch den angeordneten Rückzug der Psychotherapie-Abteilung in einen Pavillonteil des alten Nervenklinikbaus, da sich die nephrologische Abteilung der Inneren Medizin am Standort Kröllwitz erweitern sollte. Das führte zu einer erheblichen räumlichen Einengung und zum Abbruch der guten Zusammenarbeit mit Kollegen der Inneren Medizin. Die Qualität der psychotherapeutischen Behandlung wurde in den 1980er Jahren durch erweiterte Diagnostik auf tiefenpsychologischer Basis und differentielle Indikationsstellung weiter erhöht. Neben der Gruppentherapie in Form der modifizierten Intendierten Dynami-

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schen Gruppentherapie gab es Behandlungen mit dem Katathymen Bilderleben einzeln und in der Gruppe als weiteren wesentlichen Schwerpunkt (Hennig u. Fikentscher 1993). Insgesamt vertraten wir ein multimodales Konzept. Unterstützt wurde diese Ausrichtung durch den systematischen Aufbau einer qualifizierten Weiterbildung für Ärzte und Psychologen in diesem Verfahren in Form von Kursen, Supervision und Selbsterfahrung, deren Anerkennung selbst durch die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, Sektion Autogenes Training, aber sehr langwierig war. Die im Rahmen von mehreren Diplomarbeiten und meiner Promotion B (Fikentscher 1986) durchgeführten umfassenden Untersuchungen von Pädagogen an Stadt- und Landschulen (Neubau- und Altbautypen) zur Arbeitsplatzanalyse und Entstehungsbedingungen von psychischen Störungen wurden zu einem umfassenden psychohygienisch-psychotherapeutischen Konzept zur Prävention, Therapie und Rehabilitation psychischer Störungen bei Lehrern und Erziehern entwickelt (Fikentscher u. Liebner 1983, 1986; Fikentscher u. Enke 1988). Leider wurde die Umsetzung durch das zuständige Ministerium verhindert, ebenso die entsprechende Buchveröffentlichung. Übrigens mussten Zeitschriftenartikel zur Veröffentlichung, auch hinsichtlich politischer Unbedenklichkeit, vom Klinikdirektor freigegeben werden (Briefkopien liegen vor). Themen zur Neurosebehandlung (Mucke, Fikentscher u. Liebner 1980) und zur Neurologie (Liebner, Glatzel, Fikentscher u. Tietze 1980) wurden außerdem bearbeitet. Während in der praktischen Arbeit Eigenständigkeit und Kreativität der Akteure die ideologische Einengung zu vermindern schien, war der Zugang zu überregionalem wissenschaftlichen Austausch sehr begrenzt. Die zentralen Weiterbildungen, die für Fachärzte für Psychotherapie bzw. die Weiterbildungsleiter an der Akademie für Ärztliche Fortbildung in Berlin, Bad Saarow und Kühlungsborn stattfanden, ließen uns DDR-Psychotherapeuten enger zusammenrücken, aber den fachlichen Anregungen waren deutliche Grenzen gesetzt. Wir hatten in Halle allerdings das Glück, dass der Inaugurator des Katathymen Bilderlebens, Hanscarl Leuner, zu uns kam – neben Treffen im sozialistischen Ausland (Ungarn) – und uns wissenschaftlich und praktisch sehr unterstützte (} Abschnitt 5.3.5). Erst die Psychotherapietagungen in Erfurt 1987 (Hennig u. Fikentscher 1993) und 1989 in Leipzig gaben auch uns neue und wesentliche Impulse. Nach dem Erfurter Kongress ergaben sich verschiedene Kontakte zu bundesdeutschen Kollegen, so kamen u. a. Horst Kächele und Carl Nedelmann zu Seminaren an unsere Psychotherapie-Abteilung nach Halle und brachten auch die verschiedensten Fachbücher neben eigenen Werken mit. Diese Begegnungen milderten das starke Einengungsgefühl zeitweise, die partielle Lockerung der Beschränkungen im Austausch konnte aber die eng gesteckten Grenzen (z. B. zweimalige Verhinderung von Lehrstuhlberufung durch die SED) nicht verdecken. Forschungsergebnisse konnten auf internationalen Tagungen im sozialistischen Ausland und im September 1989 erstmals auf dem Europäischen Kongress für Verhaltenstherapie in Wien vorgestellt werden. In der Lehre für Medizinstudenten gab es für das Fachgebiet der Psychotherapie keine grundsätzlichen Veränderungen. Die Beteiligung an den schon genannten psychiatrischen und medizinpsychologischen Vorlesungen und Praktika wurde allerdings etwas erweitert und speziellere Themen fanden Eingang.

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5.4.2.2 Heinz Hennig: Psychotherapeutische Ansätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Seit 1980 verlagerte sich der Arbeitsschwerpunkt der Abteilung hin auf das Jugend- und Erwachsenenalter. Bedingt wurde dieser Wechsel durch ein deutliches Ansteigen solcher jugendtypischer Syndrome wie Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sowie durch den seinerzeit erheblich zunehmenden Bedarf an Kriseninterventionen unterschiedlichster Art bei Patienten im Jugendalter. Hinzu kam, dass der imaginationstherapeutisch dominierende Ansatz zunehmendes überregionales und auch internationales Interesse auslöste. Das bereits im Abschnitt 4.8.3 beschriebene pragmatisch-integrative Vorgehen wurde im stationären Bereich prinzipiell beibehalten, jedoch war die psychodynamisch-imaginative Akzentuierung bei notwendigen Kombinationen unterschiedlicher methodischer Ansätze nicht zu übersehen. Auch die Arbeit mit dem Katathymen Bilderleben differenzierte sich insofern, als Beziehungs- und Bindungsaspekte sowie familientherapeutische Anteile zunehmend Berücksichtigung fanden. Beispiele für diese Schwerpunktverlagerungen sind in den Publikationen jener Jahre zu finden (Hennig u. Dober 1980; Hennig u. Männel 1981; Hennig 1982a; Hennig 1984a, 1984b, 1986a, 1987; Hennig u. Prinz 1990). Ferner seien exemplarisch zwei Sammelbände aufgeführt, die ausführlich über die psychotherapeutisch relevanten Arbeitsprojekte informieren (Dober, Hennig u. Rennert 1985, Hennig u. Späte 1988). Diese Bände sind im Ergebnis von Arbeitstagungen mit internationaler Beteiligung (Szilárd, Szeged; Lempp, Tübingen; Pieringer, Graz; Leuner, Göttingen u. a.) entstanden. Nicht zuletzt sei die aktive Beteiligung an einschlägigien internationalen Kongressen, Symposien (z. B. 5. Internationales Symposium of the Psychotherapy of Socialist Countries im Oktober 1985 in Budapest, Internationaler Kongress »Aktuelle Probleme der Selbstmordprophylaxe« im Mai 1986 in Szeged, Internationale Arbeitstagung der Österreichischen Gesellschaft für Klinische Psychosomatik im März 1988 in Innsbruck) angeführt.

5.4.3 Hans-Joachim Maaz: Die Klinik für Psychotherapie und Psycho­ somatik im Diakoniewerk Halle – Ein Freiraum zur Integration von Methoden der Humanistischen Psychologie Am 4. Januar 1980 konnte im Diakoniewerk Halle die erste psychotherapeutische Klinik unter dem Dach diakonischer Leitung innerhalb der evangelischen Kirche in der DDR unter meiner Leitung eröffnet werden. Damit war ein Freiraum für psychotherapeutische stationäre und ambulante Arbeit eröffnet, der nicht mehr von staatlichen Vorgesetzten (Kreisarzt, Bezirksarzt) kontrolliert und gesteuert werden konnte. Die Diakonie hatte allerdings von Anfang an darauf bestanden, dass die psychotherapeutische Arbeit durch einen Seelsorger begleitet wird. Der Gefahr zweigleisiger Arbeit zwischen psychotherapeutischen und seelsorgerlichen Angeboten wurde dadurch begegnet, dass der Seelsorger in das Therapieteam integriert wurde und eine entsprechende Weiterbildung absolvieren musste. Der Seelsorger war dem Chefarzt unterstellt und bekam je nach Therapieprozess Aufgaben und Verantwortlichkeiten übertragen.

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Für spezifische Fragen kirchlicher Mitarbeiter hinsichtlich ihres Glaubens und bei Konflikten im Arbeitsbereich von Kirche und Diakonie stand er mit seinem Kompetenzhintergrund beratend zur Verfügung. Die Klinik war im Sinne einer »Therapeutischen Gemeinschaft« organisiert. Alle organisatorischen Fragen, konzeptuelle Entwicklungen und auftretende Konflikte wurden gemeinsam im Therapeutenteam und bei Bedarf mit allen Patienten besprochen, geklärt und entschieden. Autoritäre Entscheidungen wurden vermieden und Meinungsverschiedenheiten, Unklarheiten und Missverständnisse wurden psychodynamisch verstanden und entsprechend bis zu einer möglichen Klärung durchgearbeitet. Dazu gab es tägliche Teambesprechungen und Großgruppen mit allen anwesenden Patienten. Die Klinik verfügte über 35 Betten, die im Durchschnitt mit 96 % ausgelastet waren. Die stationäre Aufnahme erfolgte nach ambulanter Diagnostik und Vorbereitung und nach einer stationären Probewoche. Das Behandlungskonzept war ausschließlich gruppendynamisch orientiert unter Einbeziehung von Bewegungstherapie, Gestaltungstherapie, Musiktherapie und Körperpsychotherapie. Einzelsitzungen wurden nur in Krisensituationen durchgeführt. Die Probewoche war vorgeschaltet, damit Patient und Therapeuten klären und prüfen konnten, ob der jeweilige Patient mit seiner Problematik im speziellen Setting der Klinik Hilfe erfahren kann. D. h., es wurde nicht jeder überwiesene Patient aufgenommen, sondern nur nach geprüfter Differentialindikation. Patienten, für die keine Gruppentherapie indiziert war, bekamen Empfehlungen für andere Behandlungen. Während der Vorbereitungswoche wurde auch das spezielle Klausur-Abstinenz-System unserer Klinik erläutert und bei entsprechender Akzeptanz verbindlich vereinbart. Durch Verzicht auf Alkohol, Nikotin, Medikamente (außer den medizinisch notwendigen), durch Fasten von TV, Radio, Zeitung, Telefon, Korrespondenz und Außenkontakten wurden Bedingungen für eine regressive Arbeit ohne wesentliche Ablenkung und mit deutlich begrenzten Möglichkeiten zum Ausagieren geschaffen, so dass ein Halt gebendes und schützendes Setting für die Arbeit an Strukturstörungen (»Frühstörungen«) im Schutze der Klinik und Gruppe möglich wurde und die Regression gut zu verantworten war. Im Laufe von knapp 30 Jahren hat es keine wesentlichen Zwischenfälle unter dieser klaren Struktur und Vereinbarung gegeben. Das Behandlungskonzept war in drei unterschiedliche Gruppentherapiestufen und -formen unterteilt: Stufe 1: konfliktorientierte, fokussierte tiefenpsychologisch fundierte Gruppentherapie (4 Wochen) Stufe 2: Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (8 Wochen) Stufe 3: Regressive körperorientierte Gruppenpsychotherapie (4 Wochen) Anfang und Ende jeder Gruppentherapie waren klar vereinbart, Therapieverlängerungen waren nicht möglich, aber Planung einer fraktionierten Weiterbehandlung in den verschiedenen Gruppenformen und durch eine gute ambulante/stationär-ambulante Zusammenarbeit mit ambulant tätigen Psychotherapeuten. Die Patienten wurden immer ermutigt, in Selbsthilfegruppen, im Patientenklub und Patientenverein ihre therapeutische Arbeit in Eigenverantwortung fortzusetzen. So gab sich der wichtigste Verein, der von ehemaligen Patienten gegründet wurde, auch den Namen »Psychotherapie als Lebensweg e. V.«.

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Der Freiraum, den die Diakonie ermöglichte, wurde von uns intensiv genutzt, um westdeutsche Kollegen und Kolleginnen, Vertreter verschiedener Psychotherapiemethoden zur klinikinternen Weiterbildung einzuladen und zu entsprechenden Seminaren und Selbsterfahrungen für das Therapeutenteam zu verpflichten. So konnten wir Methoden der Humanistischen Psychotherapie wie Gestalttherapie, Transaktionsanalyse und Körperpsychotherapie intensiv kennenlernen und allmählich in unser Behandlungskonzept integrieren. So wuchs auch das Verständnis für eine multimodale Psychotherapiekonzeption, die nach Entwicklung des therapeutischen Prozesses und je nach Strukturniveau des Patienten und der gegebenen Übertragungs-Gegenübertragungs-Dynamik gestaltet werden konnte. Diese methodische Vielfalt und konzeptionelle Freiheit waren ein großer Gewinn, der im direkten Gegensatz zu der sonst in der DDR bestehenden ideologischen Einengung stand. Auf diese Weise gewann die Klinik einen Ruf, der weit über den Bezirk Halle hinausreichte und Pa­tienten aus der ganzen DDR anzog. Patienten aus staats- und parteinahen Funktionen (Lehrer, Funktionäre, Parteimitglieder der SED, Mitarbeiter im Staatsapparat) bekamen häufig Schwierigkeiten, wenn sie bei uns zur Behandlung kommen wollten, einige nutzten den subversiven Ruf der Klinik auch als Möglichkeit, sich aus inzwischen konflikthaften Funk­ tionen entlassen zu lassen. Mit den ganz allgemeinen Therapiezielen, offener, ehrlicher, kritischer zu werden, um damit aufgestaute Affekte und Beziehungskonflikte besser zu klären und zu regulieren, war vielen Patienten eine pathogen wirksame Anpassung nicht mehr möglich und sie begannen, sich auch unter DDR-Verhältnissen mit ihren persönlichen Lebensmöglichkeiten und gesellschaftlichen Verhältnissen kritisch auseinanderzusetzen. So war das Zusammenspiel von Individuum, Familie und Gesellschaft stets ein zentrales Thema der therapeutischen Arbeit. Von kirchlicher Seite wurde unsere Arbeit anfangs kritisch gesehen mit der Frage, ob unser therapeutisches Konzept sich auch im »richtigen Glauben« bewege. Mit der Auseinandersetzung, was denn eigentlich der »richtige Glaube« sei und ob das vergleichbar mit der Forderung der Partei nach dem »richtigen Bewusstsein« sei, wurden die Verdächtigungen bald eingestellt. Wir konnten uns darin verständigen, dass es in der Psychotherapie nicht darum gehen könne, eine bestimmte Meinung zu vermitteln, sondern Menschen zu helfen, ihre eigenen Positionen unabhängig von religiöser oder ideologischer Beeinflussung zu finden und kritisch im Kontext von Lebensgeschichte und sozialer Situation zu reflektieren und zu verantworten. Von Kollegen – vor allem aus dem Westen – wurde unser Klausur- und Abstinenzkonzept als ein »autoritäres System« mitunter kritisiert, was aber gut mit dem Hinweis auf die notwendigen Halt gebenden Strukturen für eine tief-regressive Arbeit bis auf Frühstörungsniveau erklärt und dann auch verstanden werden konnte. Natürlich war dabei die Differenz zu klassischen psychoanalytisch-gewährenden Haltungen besonders auffällig, aber die Möglichkeit zur Therapie von Frühstörungen war uns durch die Integration von körperpsychotherapeutischen Techniken besonders wichtig geworden und stellte zunehmend auch die spezifische Indikation für die stationäre Behandlung in unserer Klinik dar. Nach Sichtung meiner Stasiakten – ich wurde vom Staatssicherheitsdienst operativ unter den Namen »Feind« und »Psychologe« bearbeitet – hat es auch Bespitzelungen von Patienten durch andere Patienten gegeben. Mir sind aber schwerwiegende Folgen solcher Bespitzelungen

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nicht bekannt geworden. In den Gruppentherapien gehörte es zu unserer Routine-Information, dass natürlich das Arztgeheimnis streng beachtet werde, dass wir immer aber damit rechnen, dass aus den Gruppen etwas auch an die Stasi übermittelt werden könnte, dass jeder also seine Mitteilungen selbst verantworten müsse, zugleich aber ein hoher Grad von Offenheit und Ehrlichkeit eher vor missbräuchlicher Erpressung durch den Staatssicherheitsdienst schützen könne. Und Diskussionen über externale Themen, so auch über politische Positionen, waren sowieso nicht Gegenstand therapeutischer Arbeit, bei der es ja viel mehr um intrapsychische und beziehungsdynamische Vorgänge gehen muss. Nach meiner Kenntnis hat der relativ offene Umgang mit dieser Problematik vielen Patienten geholfen, ihre intrapsychische Konfliktdynamik nicht zu projizieren und so einen freieren Umgang mit der Ängstigung und Bedrohung durch den Sicherheitsapparat der DDR gefunden.

Die Spezifika unserer Behandlungskonzeption Geschlossene Gruppe, klar begrenzte Behandlungsdauer mit vereinbartem Therapiebeginn und Therapieende, Halt gebende Klausur- und Abstinenzbedingungen, sechs Stunden Gruppentherapie pro Tag durch ein Therapeutenpaar, die sowohl die verbalen als auch die nonverbalen (Bewegungs-, Gestaltungs-, Musik- und Körpertherapie) leiteten, integratives Behandlungskonzept verschiedener methodischer Angebote (keine polypragmatischen Parallelbehandlungen, wie sie in Reha-Kliniken üblich sind) haben eine sehr erfolgreiche Arbeit bei »Frühstörungen« möglich werden lassen. Mit dem Erreichen der Altersgrenze des Chefarztes Dr. Maaz wurde diese Arbeit im August 2008 beendet. Mit dem Chefarzt- und Teamwechsel ist auch das Behandlungskonzept verändert worden. In 28 Jahren wurden ca. 12.000 Patienten stationär behandelt. Die Abbrecherquote lag bei etwa 7 %, die Erfolgsquote (nach subjektiver Einschätzung) bei Entlassung (ohne Abbrecher) bei 98 %, nach einem Jahr bei 68 %. Etwa ein Drittel aller Patienten ist bei ambulanter/ stationär-ambulanter Begleitung im Durchschnitt drei Mal stationär behandelt worden unter Anwendung des Stufenkonzeptes der unterschiedlichen Gruppenformen. Es existieren bis heute etwa 17 Selbsthilfegruppen im Raum der neuen Bundesländer und seit über zehn Jahren organisiert ein Patientenverein »Psychotherapie als Lebensweg e. V.« Treffen, Veranstaltungen, Workshops, Vorträge und weitere Selbsthilfe für ehemalige Patienten.

5.4.4 Irene Misselwitz: Aufbau der Psychotherapie in der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Universität Jena Die DDR tat sich schwer, anzuerkennen, dass seelische Not nicht durch ein sozialistisches Staatswesen abzuschaffen ist. Es wurde gelehrt, dass Neurosen, Süchte und Suizide ihre Wurzeln im kapitalistischen System hätten und im Sozialismus dafür kein Nährboden sei. Statistik und Forschung über Sucht und Suizid waren geheim. In den Medien und in der Öffentlichkeit waren diese Themen lange tabu. Das hatte zur Folge, dass die Psychotherapie in der Krankenbehandlung zwar geduldet wurde, sogar scheinbar anerkannt war (Facharzt für Psychotherapie 1978, flächendeckende Einrichtung von Psychotherapie-Stationen in den

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5.4  Entwicklung stationärer und tagesklinischer Psychotherapieeinrichtungen

meisten psychiatrischen Landesfachkrankenhäusern und psychiatrischen Universitätskliniken ab Ende der 1970er Jahre), aber natürlich immer unter Verdacht und Beobachtung stand. Psychotherapie war kein Fach, mit dem man zu besonderen Ehren kommen konnte. Psychotherapie und Psychosomatik waren keine Lehrfächer im Medizinstudium. Reiseverbot, Behinderung von internationalen wissenschaftlichen Austauschbeziehungen, Abwertung von Psychoanalyse als »bürgerlich dekadent« erschwerten den Fachvertretern das Leben und Arbeiten. Mein Weg zur Psychotherapie war sehr leidvoll. 1970 begann ich mit der Facharztausbildung für Psychiatrie und Neurologie und wurde zunächst auf der psychiatrischen Akutstation eingesetzt. Da mein Stationsarzt nach vier Monaten zum Reservistendienst eingezogen wurde, wurde mir die Stationsleitung übertragen. Das dort übliche konservative, autoritäre Stationsregime machte mir schwer zu schaffen, was mir als Charakterschwäche von den Vorgesetzten angelastet wurde. Meine Fragen, wie man eigentlich mit den psychisch Kranken sprechen sollte, wurden belächelt. In meiner Not suchte ich in der Literatur Hilfe. Ich fand einen wunderbaren Artikel in einer bundesdeutschen Zeitschrift, die die Universität abonniert hatte, von Kisker über die »Therapeutische Gemeinschaft«. Schwungvoll und etwas naiv begann ich sofort in meiner neuen Funktion, dies auf der Station einzuführen. Die jüngeren Schwestern sowie die Patienten arbeiteten wunderbar mit. Aber die älteren Schwestern waren sehr irritiert und ablehnend, ebenso mein Stationsarzt bei seiner Rückkehr. Ich wurde gemaßregelt und in die Kinderpsychiatrie versetzt. Ich erlebte mich als gescheitert und hatte als Aufrührerin einen schlechten Ruf in der Klinik. Es war eine sehr deprimierende Lektion. Umso erstaunter war ich, als ich sechs Jahre später, 1977, während des »Babyjahres« nach meinem dritten Kind, von dem damaligen Psychiatrie-Oberarzt gefragt wurde, ob ich nicht daran interessiert wäre, nach meiner Rückkehr eine Psychotherapie-Station in der Nervenklinik aufzubauen. Er meinte, ich wäre dafür geeignet. Dies war das erste Mal, dass man mich in der Psychiatrie für etwas geeignet hielt. Diese Aufgabe erschien mir reizvoll und ich begann, allerdings wesentlich vorsichtiger, mich der Herausforderung zu stellen. Zunächst informierte ich mich in meinem Thüringer Umfeld. Da gab es schon die Abteilung für Internistische Psychotherapie in Jena und die Psychotherapie-Station im Landesfachkrankenhaus Stadtroda. Von den Mitarbeitern dieser beiden Einrichtungen habe ich immer sehr viel Ermutigung und Unterstützung erfahren. Frau Dr. Margit Venner wurde meine unmittelbare Psychotherapielehrerin. Die Weiterbildungsveranstaltungen, die Chefarzt Dr. Rudolf Huber in der Psychotherapie-Abteilung Stadtroda veranstaltete, waren sehr wichtig für mich. Meine Gruppenpsychotherapie-Weiterbildung absolvierte ich bei Dr. Kurt Höck in Berlin und bei Dr. Margit Venner in Jena. Ich bin bis heute sehr froh und dankbar, dass mein Berufsleben diese Wendung genommen hat. In der Klinik wurde mir eine separate Station mit zwölf Betten zur Verfügung gestellt. Die Schwestern durfte ich mir selbst auswählen. Da hatte ich großes Glück, sie waren mutig, engagiert und begeisterungsfähig für die Psychotherapie. Meistens gehörten noch ein Psychologe und Hospitanten dazu. Wir arbeiteten mit dem in der DDR möglichen integrierten ambulant-stationären Behandlungssystem: Jeder überwiesene Patient oder Selbstmelder wurde zunächst zu einem

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ambulanten Vorgespräch und dann bei Bedarf zu einem einwöchigen stationären Diagnostikaufenthalt einbestellt. Bei entsprechender Motivation und Eignung folgte nach einer gewissen Wartezeit die Aufnahme zu einer achtwöchigen Gruppenpsychotherapie in einer geschlossenen Gruppe oder zu einer Einzeltherapie. Wir haben überwiegend Patienten mit Neurosen und Persönlichkeitsstörungen behandelt, geschlechts- und altersheterogen. Die Gruppen wurden durch ein Therapeutenpaar geleitet. Das Zusammenleben der Patienten auf der Station wurde nach den Prinzipien der Therapeutischen Gemeinschaft gestaltet. Der Tagesablauf war straff strukturiert. Neben der täglichen Gruppensitzung (außer am Sonntag) gab es verschiedenste therapeutische Gruppenaktivitäten, die in täglichen Teambesprechungen reflektiert und supervidiert wurden, so dass der gesamte therapeutische Prozess von allen Mitarbeitern gleichermaßen verstanden und gefördert werden konnte. Wochenendbeurlaubungen gab es in der Regel erst in der zweiten Therapiehälfte, um dann die aktuellen Probleme des sozialen Umfeldes stärker einbeziehen zu können. Am Ende der stationären Behandlungsphase wurde jedem Patienten ein Gespräch gemeinsam mit beiden Therapeuten und dem Partner oder einem anderen Familienangehörigen angeboten. Die gesamte Gruppe wurde ca. ein bis eineinhalb Jahre ambulant nachbehandelt, d. h., die Gruppe wurde in sechs- bis achtwöchigen Abständen für einen Tag zu einem mehrstündigen Gruppengespräch einbestellt. Auch zwischenzeitliche ambulante oder stationäre Kriseninterventionen einzelner Patienten wurden von uns gewährleistet. Nach der ambulanten Phase wurde der Gruppe noch eine acht- bis zehntägige stationäre Abschlussbehandlung angeboten. Danach wurden die Patienten wieder an die ambulanten Kollegen zurücküberwiesen. Die Stellung der Psychotherapie-Station in der Klinik gestaltete sich ambivalent. Einerseits konnten die vorwiegend biologisch orientierten Psychiater den psychotherapeutischen Zugang zu seelischen Störungen nur schwer annehmen, andererseits setzten sich die Prinzipien der Therapeutischen Gemeinschaft allmählich auch auf den anderen psychiatrischen Stationen durch. Ich habe mich immer intensiv um Integration psychotherapeutischen Denkens in die Klinikkonzeption bemüht und wurde dabei von meinen Mitarbeitern und auch den Patienten unterstützt. Während ich mit Konsiliardiensten, Vorträgen bei Weiterbildungen sowie mit individuellen Krisengesprächen bei Bedarf versuchte, mich einzubringen, brachten sich die Patienten auf ihre Weise konstruktiv in den Klinikalltag ein, z. B. mit regelmäßigen Kuchenbasaren. Der Ruf einer Aufrührerin und Exotin blieb mir jedoch erhalten, auch durch meine oppositionellen Aktivitäten außerhalb der Klinik, was zu allerlei Arbeitsbehinderungen in der Klinik führte. Da einige unserer Patienten auch Schwierigkeiten mit dem Staatssystem hatten (z. B. laufender Ausreiseantrag), mussten wir bei der Arbeit mit ständiger Überwachung durch die Staatssicherheit rechnen. Es versteht sich von selbst, dass die Krankenakten keine belastenden Aussagen und Daten enthalten durften und auch die Gesprächsführung besonders gestaltet werden musste. Mit den öfter wechselnden Klinikdirektoren machte ich unterschiedliche Erfahrungen. Die Bandbreite reichte von freundlichem Gewährenlassen auf der Psychotherapie-Station über Nichtbeachtung bis zu direkten Diskriminierungen vor den Patienten. Z. B. sagte der westliche Nachwendedirektor, der die leiterlose Klinik für eine Zeitlang übernommen hatte,

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bei der Chefvisite zu einem depressiven Gruppenpatienten: »Herr X., Ihre Erkrankung hat nichts mit Ihrem Leben zu tun. Lassen Sie sich nicht von den merkwürdigen Ideen von Frau Misselwitz einnehmen!« Ich liebte die Klinik und meine Arbeit sehr und erst diese Erfahrung ermöglichte mir, die Klinik nach 23 Jahren zu verlassen, mich niederzulassen und dadurch die Freiheit für eine analytische Weiterbildung in Kassel zu gewinnen.

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Entwicklung der Kinderpsychotherapie IV

5.5.1 Agathe Israel: Entwicklung der (analytischen) Kinderpsychotherapie – die 1980er Jahre Eine deutliche programmatische und qualitative Veränderung zeichnet sich in der Sektion Kinder- und Jugendpsychotherapie ab, als 1982 Gerda Jun, Kinderpsychiaterin und Pychotherapeutin, den Vorsitz übernimmt. Sie bemüht sich um Kontakte zur Fachgesellschaft für Pädiatrie, die Integration der Medizinischen Psychologie und Psychotherapie in die Medizin, eine verbesserte Weiterbildung und ein biopsychosoziales Menschenbild, das die persönlichen Ressourcen achtet. Im vergangenen Jahrzehnt war nicht zuletzt infolge der steigenden Zahl auffälliger Kinder und Jugendlicher, des Drucks betroffener Eltern und des Ausbaus des Krippen- und Kindergartensystems sowie der systematischen Früherkennung von Entwicklungsstörungen nicht mehr zu übersehen, dass es sich bei diesen Problemen nicht um Relikte der Vergangenheit oder Folgen von Hirnerkrankungen, sondern um Probleme der Gegenwart handelte. 1983 beklagt Gerda Jun auf einer internationalen Fachtagung, »es sind Versäumnisse in der Aus- und Weiterbildung, einschließlich der Motivationspflege bei uns (DDR) aufzuweisen. [...] Der subjektive Faktor für das fachliche Engagement scheint eben gerade hier besonders hoch zu sein« (Vortragsmanuskript November 1983). Innerhalb der DDR konstatiert sie ein Nord-Süd-Gefälle, was die Entwicklung der kinderpsychotherapeutischen Praxis anbelangt, »je nördlicher, desto organischer« (mündliche Mitteilung Jun). Sie setzt sich für den Ausbau der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Beratungsstellen und für die ambulante Psychotherapie unermüdlich ein. Margarete Noack (Meador), die eine solche »Beratungsstelle für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologische Beratung für Kinder und Jugendliche« leitete, berichtet: »Unsere volle Kompetenz für alle neuropsychiatrischen Aufgaben im Stadtbezirk wurde anerkannt, sowohl vom Jugendamt, der Schulbehörde, dem Jugendgesundheitsschutz als auch von den Krippen und Kindergärten. Es war deshalb selbstverständlich, dass wir uns über die sozialen Brennpunkte informierten, in Konflikten unsere Perspektive gehört und bei Entscheidungen respektiert wurde. Unser Team bestand aus einer Fachärztin, zwei Klinischen Psychologinnen, einer Fürsorgerin und einer Sekretärin. Neben gutachterlichen, beratenden und medizinischen Leistungen konnten wir ganz frei mit den Kindern und deren Eltern arbeiten. Wir boten

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lange Einzeltherapien, Kindergruppentherapien, Elternarbeit, thematische Elternabende z. B. in der Kita an. Regelmäßig traf sich das Team zu Fallbesprechungen, um über Prozesse, aber auch alternative Angebote nachzudenken. Wir etablierten halbjährlich eine Fortbildung mit Pädiatern der Kinderkliniken und interessierten Kollegen. Keiner beschränkte uns in unserem psychodynamischen, eher analytischen Ansatz.« Die Überzeugung, unbeschränkt arbeiten zu können, teilen rückblickend viele Kollegen. Sie relativiert, was den äußeren Spielraum anbelangt, die verbreiteten Vorbehalte, in der DDR habe es weder die Möglichkeit noch ein Interesse für eine Psychodynamische Psychotherapie gegeben, die der inneren Welt Beachtung schenkt und nicht auf Anpassung ausgerichtet ist. Weitaus subtiler und schmerzvoller ist es, nach den nichtbewussten Einflüssen zu suchen, die Denken und Handeln mitbestimmten, wie z. B. der Angst, aus der Gesellschaft zu fallen. Erstaunlich mag es deshalb rückblickend erscheinen, dass ganz unspektakulär das Katathyme Bilderleben, ein psychoanalytisch orientiertes Kurzverfahren (Leuner 1981), offiziell in der Kinderpsychotherapie seinen Platz bekommt. Man kann vermuten, dass der Promotor in der DDR, Heinz Hennig aus Halle, der durch geschickte Modifizierung der Technik, die sowohl analytisch-dynamischen Elemente wie Übertragung und freies Assoziieren als auch suggestive und lerntheoretische Anteile vereinte, als Verhaltenstherapeut subsumiert wurde (Hennig 1978d). 1984 häufen sich in innerhalb der mittlerweile zur »Sektion Kinder- und Jugendpsychotherapie« umbenannten Arbeitsgemeinschaft die Forderung nach theoretischen Konzepten, einer gemeinsamen Sprache, einer qualifizierten Ausbildung, individualpsychologischem Verständnis, Problemfallgruppen. Der erste Lehrgang für Kinderpsychotherapie wird über mehrere Jahre unter der Federführung von Ruth Rank, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Abteilung des Bezirkskrankenhauses Leipzig, vorbereitet. Auch gibt man der Kinderpsychotherapie auf den jährlichen Fortbildungstagungen der Kinderneuropsychiater immer mehr Raum. Waren es anfänglich nur einige Stunden, so wird mittlerweile ein ganzer Tag für die Kinderpsychotherapie eingeräumt. Auch die Psychotherapie im Jugendalter, die lange ein »Stiefkinddasein« fristete, wird nun diskutiert. Die psychoanalytisch orientierten Kollegen erhalten wesentliche Impulse für ihre Gruppenarbeit von der Intendierten Dynamischen Gruppentherapie nach Höck, die sich zwar eher als ein sozialpsychologisches Verfahren etikettiert, jedoch etlicher psychoanalytischer Techniken (wie Übertragung, Gegenübertragung, Regression, Widerstand) bedient. 1984 erscheint der erste »Leitfaden der Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter«, verfasst von Kleinpeter, Gebelt, Rößler und Tuchscheerer (Kleinpeter et al. 1984). Dieses Büchlein stellt eine interessante Nahtstelle zwischen subversiver Praxis und offizieller Linie dar. So vermerkt im Vorwort Harro Wendt, der sich als analytisch arbeitender Psychotherapeut versteht: »Die Entwicklung der Psychotherapie in der DDR ist dadurch gekennzeichnet, daß sie der Psychoanalyse von Anfang an kritisch gegenüberstand.« Im Leitfaden selbst trifft man auf eine Mischung aus Polemik gegen die Auffassung früher Traumatisierung durch Trennung von Mutter und Kind und differenzierten Beiträgen wie den von Magarete Noack (Meador) zur ambulanten Psychotherapie, in dem sie die Selbstreflexion des Therapeuten in der Beziehungsanalyse betont, oder den Beitrag zur Einzelge-

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5.5  Entwicklung der Kinderpsychotherapie IV

sprächstherapie von G. Tuchscheerer, die Übertragungs- und Widerstandsphänomene beschreibt, oder den Abschnitt Einzelspieltherapie von M. Noack in dem u. a. die Spieltechnik von Melanie Klein skizziert wird. Auch die Beiträge von Gerda Jun und Michael Scholz zur Elternarbeit betonen den Beziehungsaspekt. Da alle Druckerzeugnisse einer Zensur unterliegen, kann man sich nun auf den Leitfaden berufen und ihn als Argumentationsgrundlage nutzen. 1986 erscheint der »Spieltherapiekatalog« (Wendt et al. 1986), der das Spiel als Mittel in der Psychotherapie, besonders für die Kindergruppenarbeit, vorstellt. 1986 gibt Gerda Jun gleichzeitig den Vorsitz der Sektion und die Leitung der Kinder- und Jugendneuropsychiatrischen Beratungsstelle Berlin Lichtenberg auf. Dadurch konnte sie ihre Haltung bewahren, den drängenden Anwerbversuchen der Staatssicherheit konsequent und nachhaltig eine Absage zu erteilen. Ihr Buch »Charakter« (Jun 1987) hat den gesellschaftlichen Systemwechsel überlebt und wurde 1994 und 2009 in der USA und Deutschland wieder aufgelegt. Michael Scholz, Oberarzt in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Leipzig, übernimmt die Leitung der Sektion. Er initiiert mit deren Umbenennung in »Sektion Kinder-, Jugend- und Familienpsychotherapie« die Förderung der Arbeit mit und in der Familie, die bereits seit Jahren selbstverständlich, aber wenig konzeptualisiert ist. Die Sektion führt 1987 unter der Schirmherrschaft der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR den ersten fünftägigen Lehrgang für Kinder- und Jugendpsychotherapie durch. Er ist eindeutig auf psychodynamische Verfahren orientiert und wird bis zur Wende einmal jährlich fortgeführt. Obwohl das fachliche und politische Klima Ende der 1980er Jahre liberaler ist, kommt kein Zusammenschluss psychoanalytisch orientierter Kindertherapeuten zustande. Gemessen an der öffentlichen Gesundheitspolitik der DDR verhielten sich die psychodynamisch-psychoanalytisch orientierten Kindertherapeuten subversiv. In ihrer Behandlungspraxis arbeiteten sie gegen Vereinheitlichungstendenzen, versuchten ihre Patienten bei der Suche nach ihrer persönlichen Wahrheit zu unterstützen und sich selbst lieben zu lernen. Sie bestärkten, soweit es ihnen möglich war, Vielfalt und Individualität. Ihre Arbeit wurde geduldet, aber kaum gefördert, und, sobald sie den therapeutischen Raum überschritt, auch bekämpft. So wurde die Leipziger psychoanalytisch orientierte Kinderärztin Brigitte Kühn, die sich mit einer Denkschrift »Kritische Gedanken zur Sozialgesetzgebung und der Krippenaufzucht in der DDR aus kinderärztlicher Sicht« an das Gesundheitsministerium der DDR gewandt hatte, strengstens verwarnt, ihre Ansichten weiter zu verbreiten (1987).

5.5.2 Michael Scholz und Agathe Israel: Die Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychotherapie im Leipziger Raum Die Universitätsklinik Die psychotherapeutische Arbeit an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Leipzig war in den 1960er Jahren, damals noch eine Kinderpsychiatrische Abteilung der Universi-

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tätsnervenklinik, bestimmt durch die psychoanalytischen Grundlagen, die Kummer und Tögel (} Abschnitt 2.5.2) vor ihrem Wechsel nach Uchtspringe unter Leitung von Christian Wieck in den 1950er und Anfang der 1960er Jahre gelegt hatten. Noch Ende der 1960er Jahre war eine Schülerin der beiden Schrittmacher Kummer und Tögel – Frau Wagner – fast die Einzige, die mit Kindern therapeutisches Malen und Sanden betrieb und deren differenzierte analytische Bedeutungen uns junge Assistenten immer wieder faszinierten. In diesen einzelnen gruppentherapeutischen Stunden wurde sensibel, feinfühlig, wohlwollend und warmherzig mit den meist kleinen Patienten umgegangen. Es war deutlich zu spüren, dass die Grundlage dieser späteren Arbeit bei Anna Freuds Kinderanalyse zu finden war. Die Arbeit mit den Eltern beschränkte sich zu dieser Zeit hauptsächlich auf beratende Gespräche. In die Therapie gemeinsam mit ihren Kindern wurden sie nicht integriert. Unter Heinz Gebelt, dem damaligen Leiter der Abteilung und späteren Ordinarius der selbständigen Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, existierten neben einer sehr umfangreichen Ambulanz noch bis zum Anfang der 1970er Jahre zwei getrennt-geschlechtliche Stationen (Knaben- und Mädchenstation), auf denen vornehmlich Kinder mit neu­ rologischen Erkrankungen, sehr häufig mit Epilepsien, aber auch Kinder mit schweren neurologischen degenerativen Erkrankungen (z. B. subakut sklerosierende Panenzephalitis) sowie Kinder nach neurochirurgischen Operationen und Schädel-Hirn-Traumen versorgt wurden. Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen erhielten kaum eine kontinuierliche Therapie, sie mussten häufig kurzfristig entlassen werden, um akut neurologisch Erkrankten Platz zu machen. Ein Schwerpunkt zu dieser Zeit war aber die psychomotorische Gruppentherapie, die unter Leitung von der Oberärztin Irene Göhler durch die Physiotherapeutin der Klinik sehr intensiv und ideenreich gestaltet wurde. Anfang der 1970er Jahre richtete Irene Göhler gemeinsam mit der Physiotherapeutin und späteren Reittherapeutin Ute Ohms das therapeutische Reiten für Kinder und Jugendliche ein. Diese Anfänge wurden später weiter ausgebaut und zu einer Therapieform in der DDR entwickelt, die durch Irene Göhler und Ute Ohms in Lehrgängen und Tagungen verbreitet und von verschiedenen kinderpsychiatrischen Kliniken übernommen worden ist. Unsichere, ängstliche, selbstwertgestörte Kinder, auch Verhaltensgestörte, zogen aus dem therapeutischen Reiten Gewinn, der später in klinischen Studien validiert wurde. Etwa zur gleichen Zeit wurde die ambulante psychotherapeutische Arbeit vornehmlich durch Behrends und später Hans Bach getragen, die häufig psychotherapeutische Einzel-Langzeittherapien durchführten. Das Vorgehen war vornehmlich intuitiv, pragmatisch mit einem Hauch von selbst angelesenen psychoanalytischen Intentionen. Gestützt von Heinz Gebelt wurde ebenfalls Anfang der 1970er Jahre die erste Psychotherapie-Station für ältere Schulkinder und Jugendliche durch Michael Scholz eingerichtet. Seitdem existierte in der Riemannstraße eine vornehmlich neurologisch arbeitende, gemischtgeschlechtliche Station und eine Psychotherapie-Station für ältere Schulkinder und Jugendliche. Da keine Erfahrungen mit reinen Psychotherapie-Stationen in Leipzig zu diesem Zeitpunkt vorhanden waren, schickte Heinz Gebelt Michael Scholz sowohl nach Uchtspringe zu Kummer und Tuchscheerer, um deren Drei-Phasen-Modell zu studieren und zu Vera Juhn nach Neubrandenburg, die sich ebenfalls sehr um die Kinder- und Jugendpsychotherapie bemühte.

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Die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Bezirkskrankenhaus Leipzig-Dösen Die Abteilung war seit ihrer Gründung 1954 psychiatrisch orientiert. Neurologische Fälle konnten in der Universitätsklinik behandelt werden. Nachdem Ruth Rank die Leitung der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung des Bezirkskrankenhauses Leipzig-Dösen von Heinz Gebelt übernommen hatte – bis dahin betreute Heinz Gebelt in Personalunion sowohl die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik in der Riemannstraße als auch die kinderpsychiatrische Abteilung des Bezirkskrankenhauses Dösen –, kam es zu einer gewaltigen Entwicklung der Psychotherapie in diesem Hause. Ruth Rank als eine überzeugte und ehrliche Kommunistin verstand es, nicht nur die dortige Kinder- und Jugendpsychiatrie räumlich und gestalterisch unter den damaligen Bedingungen beispielhaft einzurichten, sondern sie hatte auch die Toleranz, junge, engagierte »Querdenker« bei sich einzustellen und auch unter den politischen Verhältnissen zu schützen. Ende der 1970er Jahre verfügte die Abteilung über fünf gemischtgeschlechtliche Stationen mit einem differenzierten Profil: Zwei Stationen waren für »schulbildungsunfähige, ­förderungsfähige« Kinder und Jugendliche eingerichtet. Neben einer sonderpädagogischen Betreuung wurden auch themenzentrierte Gruppengespräche, Videofeedback-Sozial­ training, künstlerische Gestaltung und Körpertherapie angeboten. Die Psychotherapie-Station für Kinder von sechs bis 13 Jahren (anfangs 30, später 18 Plätze) unter Leitung der psychoanalytisch orientierten Oberärztin Sabine Palmer arbeitete mit einem Therapeuten- und Erzieherteam in drei geschlossenen Kleingruppen. Sie schildert den Werdegang: »Wir haben von ganz unten angefangen. Anfangs behandelten wir mehr verhaltenstherapeutisch z. B. mit Kalender und nächtlichem Wecken der Enuretiker, dann immer mehr spieltherapeutisch und schließlich nutzen wir in verschiedenen Settings wie Schmieren, Malen, Tonen, Gesprächen, Musik die Gruppendynamik der Kindergruppe, um inneres Erleben bewusst zu machen. Wir mühten uns um ein therapeutisches Milieu in Toleranz und Freiheit, um einen Entwicklungsraum, in dem es anders zuging als in der Gesellschaft. Das bedeutet auch Unbequemlichkeiten auf sich zu nehmen, wie z. B. den ­therapeutischen Abenddienst oder die Elterngruppengespräche am Samstag.« Die Kinderpsychiatrische Aufnahmestation mit 28 Plätzen, unter Leitung des Kinder­ psychiaters Hans Bach, arbeitete mehr mit psychagogischen Mitteln, aber intensiver Elternberatung. Ihr Schwerpunkt lag auf der Diagnostik. Die sog. Jugendstation mit 24 Betten und sechs tagesklinischen Plätzen, geleitet von ­Agathe Israel, war als Therapeutische Gemeinschaft organisiert. Das bedeutet für alle Mitarbeiter, bewusst und zurückhaltend mit der institutionellen Macht umzugehen und sich selbst als Subjekt zu verstehen und dennoch klar die eigene Aufgabe zu übernehmen. Die Station arbeitete entsprechend ihrer Versorgungsaufgabe für den Bezirk Leipzig mit drei Schwerpunkten: einer tagesklinischen Gruppe für fünf bis sechs autistische Patienten, geleitet von der sehr erfahrenen Sonderpädagogin Gerda Nette. Das Therapieprogramm umfasste sowohl den Schulbesuch in der Krankenhausschule als auch Gesprächsgruppen, Gestaltungstherapie und Einzelpsychotherapie sowie Körpertherapie. In der begleitenden Elterntherapie achtete Gerda Nette besonders darauf, Verständnis für das Anderssein zu wecken,

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und bestärkte die Eltern sowohl im Einzel- als im Gruppengespräch darin, individuelle Lösungen für das Zusammenleben zu finden. Noch über viele Jahre nach der Entlassung, zum Teil bis heute, unterhielten die Familien Verbindungen zur Station. Das zweite Therapieprogramm war ganz auf Jugendliche mit neurotischen Störungen ausgerichtet, die als »geschlossene Gruppe« ca. zehn bis zwölf Wochen gemeinsam einen Therapieprozess durchlebten. Täglich fanden ein Gruppengespräch, Kommunikative Bewegungstherapie, Malen und Gestalten sowie einmal wöchentlich Musikimprovisation statt. Der aktuelle Fokus des Gruppenprozesses wurde täglich gemeinsam im Therapeutenteam besprochen. Übertragungsprozesse, Regression und die damit verbundenen Ängste und Widerstände kamen in dieser Atmosphäre intensiv in Gang und konnten nicht selten mit heftiger Energie agiert und dann besprechbar werden. Außerdem gab es analytisch orientierte Einzelgespräche. Das dritte Angebot bündelte nonverbale und verbale Therapien für Jugendliche mit Psychosen und Magersucht, schweren Depressionen oder Krisen. Hier stand die langfristige Einzeltherapie im Vordergrund. Ein ungewöhnlicher, aber äußerst förderlicher Weg war die Körpertherapie, die bei Patienten, die mit Sprache nicht mehr erreichbar waren, angewendet wurde. Dank der langjährigen Zusammenarbeit mit Eva Reich (USA), die ihre Weiterentwicklung von Wilhelm Reichs Körpertherapie freigiebig während ihrer Besuche lehrte, konnte ihre »Sanfte Bioenergetik« für den »Dialog« mit diesen Patienten genutzt werden. Von ihr erlernten die Mitarbeiter auch den Blick auf das »innere Baby« und frühes psychisches Erleben im Jugendlichen (Israel 1997b). Diese erweiterte Perspektive veränderte nicht nur die Beurteilung von Einzel- und Gruppenprozessen erheblich, sondern auch den Umgang mit den Angehörigen und mit Konflikten im Stationsalltag. Damit beschritt das Therapeuten- und Pflegeteam einen Weg, der vom therapeutischen Mainstream abwich, was Dörte Zorr, Kommunikative Bewegungstherapeutin, 1994 anschaulich beschreibt: »Seit 1983 arbeitete ich in Leipzig in einer kinder- und (vorwiegend) jugendpsychiatrischen Klinik. Es begann eine völlig neue Zeit für mich. Hier hatte ich das Glück der Anleitung und Supervision und teilweise auch einen Ko-Therapeuten in der Gruppe sowie große Erleichterung durch die Teamarbeit der Therapeutischen Gemeinschaft, die meine damalige Stationsärztin aufgebaut hatte. Ich wurde gefordert und gefördert und habe in Auseinandersetzung mit neuen Denkansätzen für therapeutisches Handeln meine heutige Grundhaltung erworben. Wir haben uns gegenseitig bereichert, teilweise sehr kritisch auseinandergesetzt und uns schätzen gelernt und wurden fähig zu eigenständiger psychotherapeutischer Arbeit. [...] In unserem kleinen Team haben wir uns Bücher besorgt und abends in den Wohnungen unsere Fortbildung erarbeitet. [...] Unsere Arbeit mit diesen Inhalten war offiziell nicht möglich. Ein auf Station liegengelassenes Buch z. B. und unsere ›eigenwillige‹ Raumgestaltung ohne Stühle, nur Matratzen, brachte uns eine Anzeige ein« (Zorr 1994). Diese Anzeige, die 1983 beim ZK der SED in Berlin gelandet war, bezog sich darüber hinaus auch auf die psychoanalytische Orientierung der Kinderpsychotherapie- und der Jugendstation und deren ärztliche Leiterinnen sowie auf die angeblich bevorzugte Aufnahme von Kindern aus christlichen Elternhäusern. »Unsere Chefärztin mußte sich vor der Parteileitung dafür verantworten, die Kontrollen verstärkten sich – unsere Arbeit galt als system-

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gefährdend – wir waren der staatsfeindlichen Propaganda beschuldigt. Nichtsdestotrotz hat Dr. Israel an ihrem Arbeitsstil festgehalten, hat neue Kontakte aufgenommen, so zum Beispiel zu Dr. Eva Reich und sie privat eingeladen [...] sie [hat] mit unserer kleinen Gruppe gearbeitet und uns nicht nur an das Werk ihres Vaters Wilhelm Reich herangeführt, sondern auch ihre eigene Methode der ›Sanften Vegetotherapie‹ gelehrt, die wir besonders bei unseren psychotischen Patienten anwenden konnten. Das war etwa sechs Jahre vor der Wende. Wir haben einerseits an der Modifizierung und Integration der Kommunikativen Bewegungstherapie in die Gruppenpsychotherapie von Kindern und Jugendlichen gearbeitet und andererseits versucht, die Erfahrungen mit körpertherapeutischen Methoden, wie wir sie an uns erlebt haben, einzubeziehen« (Zorr 1994). Ebenso differenziert arbeitete auch die Gestaltungstherapeutin Marianne Pienitz, die in } Abschnitt 5.3.7.2 davon berichtet. Die verschiedenen Aufgaben forderte den einzelnen Mitarbeiter sehr, führten aber auch zu einer Reflexionskultur, die sich deutlich vom öffentlichen Raum abhob. Die Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe und der Jugendstaatsanwaltschaft war oft spannungsgeladen, gerieten doch die Therapeuten, wenn sie für die Perspektive ihrer jugend­ lichen »Verweigerer« Verständnis einforderten, nicht selten selbst in den Verdacht, nicht mitziehen zu wollen, wenn »Ordnung, Disziplin und Sauberkeit zu schützen« waren. In der Abteilung wurde es üblich, Feste im Jahresrhythmus zu nutzen für Theaterimprovisationen und Märchenspiele. Die Akteure – Patienten und Mitarbeiter– probten, spielten auf der Bühne und manch Jugendlicher lernte dabei erstmals, den Mund aufzumachen. Nach 1988 – A. Israel hatte die Abteilung verlassen, um in Berlin eine Klinik für Kinder- und Jungendlichenpsychotherapie aufzubauen – führt die Ärztin Annegret Morgenstern die Arbeit im gleichen Sinne weiter. So entwickelte sich im Bezirkskrankenhaus Leipzig-Dösen Ende der 1970er Jahre eine Kinder- und Jugendpsychotherapie, die zunehmend psychoanalytische Ansätze in die praktische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und deren Eltern außerordentlich experimentierfreudig und ideenreich umzusetzen versuchte.

Die Zusammenarbeit Um diese Zeit fand sich eine Gruppe von jungen Leipziger Kinderpsychiatern regelmäßig zusammen, die in einer Art kollegialer Supervision und durch Referieren psychotherapeutischer Literatur und Lehrbücher versuchten, die fehlende Orientierung zu kompensieren. Zu dieser Gruppe gehörte Palmer, Israel, Bach, Scholz und zeitweilig Duscheck, aber auch die spätere Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Bezirkskrankenhauses Dösen, Ruth Rank, nahm gelegentlich daran teil. Der Austausch mit anderen Kliniken, Hospitationen, die Teilnahme an Tagungen, Workshops mit Gästen wurden immer selbstverständlicher. Sabine Palmer begann, angeregt durch die Uchtspringer Problemfallgruppen, nun auch im Leipziger Raum Balint-Gruppen anzubieten. Alle in der »Kinder- und Jugendpsychiatrischen Hauptberatung« der Stadt Leipzig tätigen Ärzte, Psychologen und Therapeuten nahmen daran teil. Bald hatte sich der Ruf dieser sinnvollen Arbeit soweit verbreitet, dass auch Kollegen aus anderen Beratungsstellen und

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Kreisstädten in Sachsen die Gruppen besuchten. Der erste Kinderpsychotherapielehrgang der DDR wurde zum großen Teil von Michael Scholz und Psychotherapeuten des Bezirkskrankenhauses getragen. Keine andere kinderpsychiatrische Abteilung oder Klinik der DDR verfügte jemals über eine Leitung so wie Ruth Rank, die ihren Mitarbeitern absolute Rückendeckung gegen eine zur Psychoanalyse völlig konträr eingestellte politische Ideologie verschaffte. Ruth Rank hat mit dieser Haltung und ihrem Mut Außerordentliches zu einer Kultur der Toleranz und Vielfalt in der kinderpsychiatrischen Szene in der DDR beigetragen, und das zu einer Zeit, in der niemand im Entferntesten an den Fall der Mauer zu wagen glaubte.

Die Entwicklung der Familientherapie Seit Mitte der 1970er Jahre verfügte die pädagogische und journalistische Fakultät der Universität Leipzig über ein professionelles audiovisuelles Zentrum. In diesem Zentrum konnte Scholz seit dieser Zeit regelmäßig Elterngruppen, aber auch Patienten und Familien aufnehmen. Ihm stand ein Team von sechs bis acht Mitarbeitern zur Verfügung, die gute Videoaufnahmen mit ausgezeichneter Tonqualität zur Verfügung stellen konnten. Damit konnte zum ersten Mal in der DDR die Videotechnik als Videofeedback in den Elternfamilien- und Patientengruppen genutzt werden. Gleichzeitig ergab sich ebenfalls zum ersten Mal die Möglichkeit, Elterngruppen, Familientherapien und Einzelbehandlungen per Video in der Ausbildung und Lehre zu verwenden. Die damaligen klinischen Erfahrungen mit ihren ersten wissenschaftlichen Untersuchungen, auch der Einsatz der Videotechnik in der Familientherapie, gipfelten in der Herausgabe des ersten familientherapeutischen Buches in der DDR (Bach u. Scholz 1979). Es war außerdem die erste größere Veröffentlichung zur Familientherapie im gesamten damaligen sozialistischen Lager und galt in den 1980er Jahren als Standardwerk zur Familientherapie auch in der Sowjetunion, vor allem in Leningrad, in der damaligen tschechoslowakischen Republik und in Bulgarien. Bach und Scholz wurden seitdem regelmäßig zu den Tagungen und später Kongressen der tschechischen Gesellschaft für Familientherapie als Referenten eingeladen. Kinderpsychiatrische Kollegen der Sofioter Universität übersetzten es ins Bulgarische, die als Standardliteratur für Medizinstudenten und vor allem für angehende Kinderpsychiater diente. Anfang der 1980er Jahre wurde in Leipzig die erste Tagung zur Familientherapie in der DDR durch Scholz organisiert und durchgeführt. Neben den Familientherapeuten der ersten Stunde der DDR wie Bach und Scholz nahmen auch tschechische und polnische Kollegen als Referenten teil. Durch diese Tagung inspiriert, interessierten sich immer mehr Kinderpsychiater und Kinderpsychologen und Erwachsenenpsychiater für die Familientherapie. So bildete sich eine Gruppe von interessierten Kolleginnen und Kollegen aus dem mitteldeutschen Raum, die sich in monatlichen Abständen in Leipzig trafen, um Erfahrungen zur Familientherapie und auch irgendwie ergatterte Literatur auszutauschen. Unter der Anleitung von Scholz entstand damals daraus die erste kollegiale Supervisionsgruppe zur Familientherapie in der DDR. Durch das spontane Zusammentreffen von Peter Nemetschek, einem gestandenen Familientherapeuten aus München, und Michael Scholz in Leipzig im Januar 1990 wurde von diesem ersten Vorreiter der Familientherapie in der DDR in München eine Familientherapie-Ausbildung bei Nemetschek begonnen und durchgeführt. Daraus entwickelte sich Anfang der 1990er Jahre

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5.6  Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin (1986–1991)

das erste familientherapeutische Weiterbildungsinstitut im ostdeutschen Raum in Bernburg bei Grimma in Sachsen. Heute sind viele der Familientherapeuten der ersten Stunde aus der Leipziger Gruppe nicht nur gestandene Familientherapeuten, sondern arbeiten als Supervisoren oder leiten eigene familientherapeutische Institute und sind aktiv in der familientherapeutischen, meist systemisch orientierten Ausbildung tätig (Scholz u. Asen 2009).

5.6 Hans-Dieter Rösler, Hermann F. Böttcher, Heinz Hennig: Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin (1986–1991) Mit der »Anweisung über das postgraduale Studium für naturwissenschaftliche und technische Hochschulkader sowie Diplom-Psychologen und Diplom-Soziologen im Gesundheitswesen vom 1. April 1981« begann deren staatlich geregelte Weiterbildung (Minister für Gesundheitswesen 1981). Nach erfolgreichem Abschluss erwarben Psychologen die Ergänzung zur Berufsbezeichnung »Fachpsychologe der Medizin«.

Vorgeschichte Schon nach dem 1959 in Kraft getretenen »Gehaltsabkommen über die Vergütung für Hochschulkader im Gesundheitswesen«, in das die Psychologen neben Chemikern, Physikern und anderen Akademikern gleichberechtigt mit den Ärzten bis auf einen fehlenden Fachabschluss einbezogen waren, stellten drei Leipziger Psychologen (H. R. Böttcher, Dummer, Werner) beim Gesundheitsministerium den Antrag zur Einrichtung einer entsprechenden fachbezogenen Weiterbildung. Dieses Bestreben wurde dann von den Sektionen Klinische Psychologie der 1960 gegründeten Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und der 1962 folgenden Gesellschaft für Psychologie gemeinsam weiterverfolgt. Die damaligen Sektionsvorsitzenden H. Szewczyk und der Erstautor haben dabei zwei Jahrzehnte lang an einem Strang gezogen. Da mittlerweile auch die im Gehaltsabkommen genannten anderen Berufsgruppen das Gleiche für sich anstrebten, wurde nach einem »Nationalen Symposion zum System der Weiterbildung für Hochschulkader im Gesundheits- und Sozialwesen« (Diskussionsmaterial 1970) an der Akademie für Ärztliche Fortbildung eine »Vorbereitungsgruppe zur Weiterbildung der Hochschulkader nichtmedizinischer Wissenschaftsdisziplinen, die im Gesundheits- und Sozialwesen tätig sind« gebildet, die hierfür eine spezielle Ordnung zu erarbeiten hatte. Sie forderte dann von den einzelnen Fachgebieten inhaltliche Anforderungscharakteristiken an, woraufhin die beiden Sektionen Klinische Psychologie eine Arbeitsgruppe bildeten, die einen ersten Entwurf an die Akademie für Ärztliche Fortbildung einreichte. Weiterhin wurden nun dort von ihnen in den Jahren 1973–1978 fünf fakultative Fortbildungskurse für Klinische Psychologen durchgeführt. Nach Abstimmungen zwischen den Ministern für Gesundheits- und Sozialwesen und für Hoch- und Fachschulwesen erließ letzterer dann eine »Anordnung über das postgraduale Studium an den Hoch- und Fachschulen vom 1. Juli 1973«, die aber Gesundheitseinrich-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

tungen ausschloss (Minister für Hoch- und Fachschulwesen 1973). Dennoch wurden auf deren Grundlage in den folgenden Jahren von der Akademie für Ärztliche Fortbildung erneut Lehrprogrammentwürfe der einzelnen Fachrichtungen angefordert und dem Gesundheitsministerium eingereicht. Eine spätere Nachfrage der Klinischen Psychologie zum Stand der Vorbereitungen ergab zu ihrer Überraschung, dass nur eine Regelung für naturwissenschaftlich-technische Hochschulkader vorbereitet worden war. Diese ließ sich aber noch um die Diplom-Psychologen und Diplom-Soziologen erweitern, wozu in aller Eile neuen Vorgaben entsprechende Lehrprogramme nachzureichen waren. Auf dem 5. Kongress der Gesellschaft für Psychologie 1979 verkündete dann der Vertreter des Gesundheitsministeriums den bevorstehenden postgradualen Studiengang (Barleben 1980). Der konnte aber erst zwei Jahre später nach einer weiteren Anordnung des Hochschulministers rechtskräftig werden, wonach hierfür der Gesundheitsminister gesonderte Regelungen treffe (Minister für Hoch- und Fachschulwesen 1981).

Rahmenordnung Der Minister für Gesundheitswesen übertrug mit seiner Anweisung über das postgraduale Studium dessen fachliche Anleitung und Kontrolle für insgesamt 18 Fachrichtungen dem Rektor der Akademie für Ärztliche Fortbildung (Akademie). Dieser berief hierzu Fachkommissionen. Für die Klinische Psychologie wurde im Oktober 1981 nach anfänglichen Überlegungen zu einer Angliederung an die etablierten zentralen Fachkommissionen für Psychotherapie oder für Psychiatrie und Neurologie schließlich doch eine eigene Fachkommission gebildet. Ihr gehörten neben acht Psychologen der vorbereitenden Arbeitsgruppe auch vier Ärzte an, die von den o. g. Fachkommissionen und ihren wissenschaftlichen Gesellschaften benannt worden waren. Die Weiterbildung wurde vorwiegend im Rahmen der beruflichen Tätigkeit und durch angeleitetes Selbststudium in der Einrichtung durchgeführt, mit der das Arbeitsrechtsverhältnis bestand. Sie schloss Hospitationen und die Teilnahme an Lehrgängen ein. Die im Unterschied zur Facharztweiterbildung fakultative Teilnahme setzte den Hochschulabschluss als Diplom-Psychologe, eine mindestens einjährige Tätigkeit in einer Gesundheitseinrichtung und deren Delegierungsschreiben mit einer Einschätzung der Persönlichkeit, insbesondere ihrer wissenschaftlichen und beruflichen Entwicklung, voraus. Nach erfolgter Zulassung durch die Akademie schloss der zuständige Leiter der Einrichtung mit dem Bewerber einen Qualifizierungsvertrag ab, in dem er oder sein Beauftragter, in größeren Einrichtungen der leitende Psychologe, als Weiterbildungsleiter und ein weiterer erfahrener Psychologe derselben oder einer benachbarten Einrichtung als fachlicher Betreuer benannt wurden. Für Hospitationen und die Teilnahme an Lehrgängen erfolgte eine Freistellung von der Arbeit für die Gesamtdauer der Weiterbildung von bis zu 75 Arbeitstagen. Zur Vorbereitung auf das Abschlusskolloquium konnte der Kandidat außerdem für die Dauer von zwei Wochen bei einem Mitglied der Prüfungskommission hospitieren. Die Weiterbildung war für die Teilnehmer unentgeltlich. Zusätzliche Kosten für die Teilnahme an Lehrgängen und Hospitationen wurden nach dem Reisekostenrecht erstattet. Auch die vom Rektor der ­Akademie auf Vorschlag der Fachkommission benannten Hospitations- und Lehrgangsleiter

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5.6  Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin (1986–1991)

nahmen wie auch die Mitglieder der Fachkommission ihre Weiterbildungsaufgaben im ­Rahmen des Dienstverhältnisses wahr. Zu deren Ausübung waren sie gegebenenfalls von der Arbeit freizustellen und nach dem Reisekostenrecht zu behandeln. Lehrgangsleiter und Referenten erhielten ein geringes Honorar. Das postgraduale Studium war nach mindestens vier und höchstens fünf Jahren mit einem öffentlichen Kolloquium vor der Fachkommission bzw. einer von ihr gebildeten re­gionalen Prüfungskommission abzuschließen. Mit der danach vom Rektor der Akademie ausgestellten Urkunde waren der Zusatz zur Berufsbezeichnung und ein Gehaltszuschlag wie beim Facharzt verbunden.

Lehrprogramm Die zunächst für fünf Jahre berufene Fachkommission erarbeitete ein erstes Curriculum, das am 16. November 1981 vom Gesundheitsminister als vorläufiges Lehrprogramm bestätigt wurde (Gesellschaft für Psychologie der DDR 1982). Nach einer Verlängerung um weitere fünf Jahre trat ein präzisiertes Programm in Kraft, das aber erst am 25. August 1988 Endgültigkeit erlangte (Gesellschaft für Psychologie der DDR 1989). Beide Fassungen waren mit den Vorständen der Sektionen Klinische bzw. Medizinische Psychologie der Gesellschaften für Psychologie, für Ärztliche Psychotherapie und für Psychiatrie und Neurologie ausführlich beraten sowie mit Gremien dieser Gesellschaften und ihren zentralen Fachkommissionen an der Akademie abgestimmt worden. Als Ziel der Weiterbildung war darin formuliert worden, dass der Fachpsychologe fähig ist, »die interdisziplinäre Gemeinschaftsarbeit auf speziellen Gebieten der medizinischen Betreuung, Forschung, Aus- und Weiterbildung durch neue Erkenntnisse der Psychologie zu bereichern« (1989, S. 32). Der Absolvent des postgradualen Studiums sollte die Fähigkeit besitzen, »je nach Tätigkeitsschwerpunkt verantwortlich in der klinisch-psychologischen Diagnostik und Begutachtung, Therapie und Beratung, Rehabilitation, Forschung und Lehre tätig zu sein. Dabei handelt er als unmittelbarer Partner des Arztes zum Wohle der ihm überwiesenen Patienten« (S. 32). Der Abschluss des postgradualen Studiums war die Voraussetzung für die selbständige fachliche Arbeit und Ausübung leitender Funktionen auf dem Gebiet der Klinischen Psychologie. Inhalt der Weiterbildung war die Erweiterung des psychologischen und medizinischen Grundlagenwissens, der Kenntnisse über die psychologische Diagnostik und forensischen Begutachtung, der Psychotherapie und psychologischen Beratung, Rehabilitation, Medizinischen Psychologie, klinisch-psychologischen Forschung und Lehre, der Militärmedizin und -psychologie. Diese angeführten Lehrgebiete mussten von dem Absolventen »theoretisch und praktisch allgemein beherrscht werden, ihre spezielle Durchdringung ist vor allem für sein jeweiliges Einsatzgebiet nachzuweisen« (S. 32). Als Beispiel seien hierfür die Anforderungen des folgenden Lehrgebietes im Einzelnen dargestellt: »Psychotherapie, psychologische Beratung und Psychohygiene Ziel: Kenntnis der wichtigsten Methoden der Psychotherapie und ihrer Anwendung sowie Kenntnisse der Vorbeugung und Behandlung von Gesundheitsstörungen durch

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

­ sychologische Beratung unter Beachtung ihrer Indikation, Gegenindikation, Grenzen, p Nützlichkeit und möglicher negativer Effekte. Beherrschung mindestens zweier u. a. psy­ chotherapeutischer Verfahren, die mit Behandlungsnachweisen zu belegen sind. Inhalt: – Psychotherapie, Einzel-, Gruppen- und Familientherapie auf der Grundlage folgender Methoden: Gesprächspsychotherapie (GT 1–GT 4), Intendierte Dynamische Psychotherapie, Dy­namische Kurzpsychotherapie, Verhaltenstherapie, suggestiv-therapeutische Verfahren, Relaxation und Imaginationsverfahren, Gestaltungstherapie, Bewegungs­ therapie, Musiktherapie, Psychodrama, körperorientierte Psychotherapien, psychagogische und konfliktzentrierte Gesprächsführung, weitere Einzel- und Gruppentherapien, Psychologische Beratung. – Kenntnis der für die jeweilige Beratungstätigkeit relevanten gesetzlichen Grundlagen und Bestimmungen, Erwerb und Handhabung von Methoden für spezielle Beratungsbereiche (z. B. Ehe-, Sexual- und Familienberatung, Alkoholikerberatung, Suizidprophylaxe und Krisenintervention, Erziehungsberatung, Studentenberatung u. a.). – Psychohygiene: Fertigkeiten in der populärwissenschaftlichen Vermittlung psychohygienischer Erkenntnisse (z. B. Psychohygiene der Altersstufen, der Erziehung, für die werktätige Frau u. a.). – Vorkenntnisse: Grundkenntnisse der Psychoprophylaxe und Beratungstätigkeit, Grundkenntnisse folgender psychotherapeutischer Methoden bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen: Gruppenpsychotherapie, Gesprächspsychotherapie, Relaxation, Familientherapie und Trainingsprogramme. Teilnahme an Grundkursen für Gesprächspsychotherapie, Suggestionstherapie und Verhaltenstherapie« (S. 34 f.). Voraussetzung für die Bewältigung dieser Anforderungen waren die während des Hochschulstudiums in der Fachrichtung Klinische Psychologie erworbenen Kenntnisse und ­Fertigkeiten. Für die Spezielle Psychotherapie-Ausbildung sah der 1963 eingeführte spezi­ fische Studienplan insgesamt 525 Stunden vor (Frohburg 1990a, S. 108). Deshalb hieß es weiterhin: »Wurde im Direktstudium die Fachrichtung Klinische Psychologie (bzw. Sozialpsychologie bei Einsatz im Sozialwesen) nicht durchlaufen, so sind vom Kandidaten im Selbststudium und durch Teilnahme an Weiterbildungsveranstaltungen der wissenschaft­ lichen Gesellschaften diese Kenntnisse zu erwerben. Obligatorisch ist dabei der Nachweis von Grundkursen für Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie, Autogenes Training und des psychodiagnostischen Übungskurses. Hierzu ist die mindestens dreijährige Tätigkeit in einer Gesundheitseinrichtung vor Beginn des postgradualen Studiums erforderlich« (S. 37). Mit der Zulassung wurde eine Literaturzusammenstellung für die einzelnen Lehrgebiete ausgehändigt und bei den Lehrgängen und Hospitationen ergänzt.

Durchführung Im Zuge von Übergangsregelungen, die in der Anordnung des Gesundheitsministers festgelegt waren, konnten Hochschullehrer und habilitierte Vertreter der Klinischen Psychologie

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5.6  Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin (1986–1991)

sowie die (ausnahmslos) promovierten Mitglieder der Fachkommission den Fachabschluss auf Antrag zuerkannt bekommen, wenn ihnen vom zuständigen staatlichen Leiter die wissenschaftliche und berufliche Entwicklung im Gesundheitswesen bestätigt wurde. Weiterhin erhielten Diplom-Psychologen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Anweisung mehr als zehn Jahre erfolgreich im Gesundheitswesen in ihrem Beruf tätig waren, die Möglichkeit, bis Ende 1982 den Fachabschluss durch Teilnahme an einem Lehrgang zu erwerben. Hierzu wurden von der Fachkommission an der Akademie vier einwöchige Lehrgänge zum aktuellen Stand der Klinischen Psychologie gemäß den Schwerpunkten des vorläufigen Lehrprogramms durchgeführt. Voraussetzung war auch hier die Bestätigung der vom Bewerber dargestellten beruflichen Entwicklung durch seinen Vorgesetzten. Die Lehrgänge für neu zugelassene Kandidaten wurden zunächst von 1982–1985 jährlich als zweiwöchige Veranstaltungen durchgeführt. Ab 1986 folgten drei einwöchige Kurse pro Jahr: ein Grundkurs und je ein Aufbaukurs für die Klinische Psychologie des Kindes- und Jugend- bzw. des Erwachsenenalters. Sie wurden von Mitgliedern der Fachkommission geleitet und boten Vorträge, Diskussionen im Plenum und Seminare. Weiterhin waren zwei wahlobligatorische Trainingskurse von je einer Woche zum Erwerb bestimmter psychotherapeutischer und -diagnostischer Techniken je nach dem Einsatzgebiet bei den entsprechenden wissenschaftlichen Gesellschaften zu belegen. Fachliche Betreuer und Hospitationsleiter konnten zwei einwöchige Lehrgänge besuchen, die in den Jahren 1984 und 1988 zu ihrer Anleitung veranstaltet wurden. Sie waren bei kleinerer Teilnehmerzahl produktiver als die obligatorischen Grund- und Aufbaukurse für Kandidaten, die mit 80 bis 100 Teilnehmern gerade noch tragbar für eine Unterteilung in Seminare, aber zu groß für praktische Übungen waren. Zur Entlastung der Stoffvermittlung gaben manche Referenten Kurzfassungen ihrer Vorträge mit Literaturhinweisen aus. Über die Akademie konnten von 1987–1989 noch vier Lehrbriefe herausgegeben werden: Über das Verhältnis von Kognition, Emotion, Motivation in allgemeinpsychologischer Sicht (H.-J. Lander); Recht in der Tätigkeit des Klinischen Psychologen (R. Gürtler u. a.); Beratung, Betreuung und Führung des Patienten (Hrsg. N. Göth); Ausgewählte Probleme der neuropsychologischen Diagnostik (Hrsg. N. Göth). Die obligatorischen Hospitationen waren in den dafür zugelassenen Einrichtungen abzuleisten. Sie sollten den Blick über das eigene Tätigkeitsgebiet hinaus erweitern und betrugen insgesamt neun Wochen. Eine neuropsychiatrische Klinik war vor allem dann angezeigt, wenn der Kandidat nicht in der Nervenheilkunde tätig (gewesen) war. Besonders bei ambulanter und beratender Tätigkeit sollte nach Möglichkeit bis zu einem Jahr in einer zugelassenen Weiterbildungsklinik gearbeitet werden. Das Niveau der Anleitung und Kontrolle der Kandidaten war von Ort zu Ort recht unterschiedlich und konnte auch durch die Fortbildungskurse für fachliche Betreuer nicht wirksam ausgeglichen werden. Die ursprünglich angestrebte Durchführung des postgradualen Studiums nur in hierfür zugelassenen Weiterbildungseinrichtungen mit psychologischen Abteilungen analog der Facharztweiterbildung scheiterte am Widerstand des Gesundheitsministeriums. Es befürchtete die Benachteiligung kleiner Gesundheitseinrichtungen durch die Konzentration der relativ geringen Zahl Klinischer Psychologen in größeren Kliniken. So bestand nur die Möglichkeit, mit der Zulassung zum postgradualen Studium die Auflage

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

einer längerfristigen Hospitation bis zu einem Jahr zu erteilen, wenn der Bewerber der einzige oder erste Psychologe in einer kleinen Gesundheitseinrichtung war. In der Regel wiesen die Kandidaten bei der Meldung zum Abschlusskolloquium mehr als die geforderten fünf Lehrgänge und neun Wochen Hospitationen auf, je nach eigener Aktivität und Großzügigkeit ihrer Arbeitsstelle. Ausreichende Nachweise über theoretisches Wissen, selbständig und erfolgreich durchgeführte Behandlungen von Patienten sowie persönliche Eignung und Befähigung mussten vom fachlichen Betreuer und Hospitationsleiter schriftlich bestätigt werden. Der Weiterbildungsleiter hatte sie in der Abschlussbeurteilung anzuführen. Die Berücksichtigung dieser Leistungen und Gesichtspunkte war Voraussetzung für die Zulassung zum Abschlusskolloquium.

Abschlusskolloquium Die Abschlusskolloquien wurden von vier regionalen Prüfungskommissionen durchgeführt, die sich aus je drei Vertretern der Fachkommission und einem kooptierten Mitglied zusammensetzten: in der Regel einem Hochschullehrer der Klinischen Psychologie als Vorsitzendem, einem Arzt und zwei praktisch tätigen Fachpsychologen. Das Kolloquium wurde als einstündige Einzelprüfung durchgeführt, zu der auch der Weiterbildungsleiter und der fachliche Betreuer eingeladen wurden. Es begann mit einem Kurzvortrag des Kandidaten aus seinem Arbeitsgebiet, an das sich Fragen aus den Lehrgebieten anschlossen. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmer den praktischen Anforderungen ihres Einsatzgebietes meistens gut gewachsen waren, die theoretischen Grundlagen dieser Tätigkeit aber nicht immer beherrschten und über andere Anwendungen der Psychologie in der Medizin weniger orientiert waren. Infolge des breiten Tätigkeitsspektrums Klinischer Psychologen war die Vorbereitung auf das Kolloquium für die Kandidaten und dessen Durchführung für die Prüfer schwieriger als bei den Facharztprüfungen, deren Anforderungen für beide klarer umrissen sind. Daraus folgte die hohe Zahl von Wiederholungen, die anfangs bei 20 lag und am Ende immer noch 10 betrug. Die erste Wiederholungsprüfung konnte, musste aber nicht, vor der gleichen Prüfungskommission erfolgen, die zweite wurde von der gesamten Fachkommission abgenommen. Die Teilnehmerzahlen wiesen vom 1. Aril 1981 bis 1. September 1990 insgesamt 811 Fachpsychologen der Medizin aus, von denen 362 den Fachabschluss per Übergangsregelung und 449 mit dem Kolloquium erworben hatten. Weitere 496 befanden sich noch in der Weiterbildung, 82 waren mit dem 1. September 1990 neu zugelassen worden, und 67 hatten das postgraduale Studium abgebrochen (Rösler u. Göth 1990). So war bis zur deutschen Vereinigung die Möglichkeit des postgradualen Studiums von drei Vierteln der etwa 2000 Klinischen Psychologen der DDR genutzt worden.

Abwicklung Nach der Wende wurde versucht, diese für die Professionalisierung der Klinischen Psychologie wichtige Form der Weiterbildung auch im vereinten Deutschland fortzusetzen. Der letzte Gesundheitsminister der DDR erteilte noch eine Anweisung über die Tätigkeit von

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5.6  Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin (1986–1991)

Fachwissenschaftlern der Medizin, wonach der Fachpsychologe der Medizin berechtigt war, auf seinem Gebiet »entsprechende Abteilungen in stationären oder ambulanten Gesundheitseinrichtungen eigenverantwortlich zu leiten oder eine freiberufliche Tätigkeit auszuüben« (Minister für Gesundheits- und Sozialwesen 1990, S. 35). Da jedoch die Facharztweiterbildung in der BRD von den Ärztekammern geregelt wird, war die Auflösung der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR abzusehen, womit deren Trägerschaft auch für das postgraduale Studium der nichtärztlichen Akademiker im Gesundheitswesen wegfiel. Deshalb erarbeiteten deren Fachkommissionen mit der Akademie und dem Gesundheitsministerium ein Rahmenkammergesetz, das fortan ihre Berufsvertretung und Weiterbildung regeln sollte. Das ist dann auch noch von der Volkskammer verabschiedet worden, aber mit der entscheidenden Fußnote erschienen: »Dieses nach Unterzeichnung des Einigungsvertrages erlassene Gesetz wurde zwischen den Vertragsparteien nicht als fortgeltendes Recht der DDR vereinbart« (Präsidentin der Volkskammer 1990, S. 1570). Weil nun diese Möglichkeit der Fortsetzung des postgradualen Studiums entfiel, wurde von der Fachkommission Psychologie mit Unterstützung der Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen (Berufsverband Deutscher Psychologen, BDP; Deutsche Gesellschaft für Psychologie, DGPs) versucht, über den Senator für Gesundheit in Berlin eine Nachfolgeeinrichtung der Akademie nur für die Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin zu schaffen, was aber unter Hinweis auf eine dafür fehlende staatliche Ausbildungs- und Prüfungsordnung abgelehnt wurde. Die Auflösung der Akademie war für den 30. Juni 1991 festgesetzt wurden. So führte die Fachkommission den letzten Grundlehrgang im November 1990 und die Abschlusskolloquien bis zum April 1991 durch, deren Ergebnisse vom Rektor der Akademie noch zertifiziert werden konnten. Am 1. Juni 1991 beendete sie ihre Tätigkeit. Die noch verbliebenen 500 Teilnehmer des postgradualen Studiums wurden an die Deutsche Psychologen Akademie des BDP zur Fortführung ihrer Weiterbildung bis zum Abschluss als »Klinischer Psychologe/Psychotherapeut BDP« verwiesen. Ihre bisher erbrachten Weiterbildungsleistungen wurden dafür anerkannt. Zuvor war das postgraduale Studium in das Verzeichnis klinischpsychologisch/psychotherapeutischer Weiterbildungsgänge aufgenommen worden (Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen 1991). Die schon erworbene Berufsbezeichnung »Fachpsychologe der Medizin« durfte weiter geführt oder in das o. g. Zertifikat des BDP umgewandelt werden. Zehn Jahre später konnten Fachpsychologen der Medizin nach Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes die Approbation zur Ausübung des Berufes des Psychologischen Psychotherapeuten beantragen, »wenn die dreijährige Weiterbildung vorwiegend auf die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten in der Psychotherapie ausgerichtet war« (Bundesminister für Gesundheit 1998, S. 1315). Diese Regelung wurde von ihnen als nachträgliche Anerkennung des postgradualen Studiums erlebt und dankbar genutzt.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

5.7

Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten II

5.7.1 Gisela Ehle: Psychotherapie in der Psychiatrie Psychotherapie in der Psychiatrie kann nicht auf den Einsatz psychotherapeutischer Methoden im Rahmen einer Komplextherapie verkürzt werden, sondern es stellt sich die Frage ihrer Integration in den psychiatrischen Alltag. Benedetti (1983, S. 21), Pionier der individuellen Psychotherapie der Schizophrenie: »Wir sollen durch die Art unserer Zuwendungen und Fürsorge Lebensverhältnisse schaffen und nicht nur Psychopathologie psychodynamisch deuten. Die Psychotherapie des Schizophrenen geschieht heute in einer Verbindung mit der Soziotherapie, der sozialen Fürsorge, den Bemühungen um Integration des Kranken in unsere Sozietät; alles Bestrebungen, die einem mit dem Psychotherapeuten zusammenarbeitendem Team übergeben sind.« Sozio- und Milieutherapie erleichtern die Bewältigung der krankheitsbedingten Regression und Patientenrolle, ihr Fehlen führt zu häufigeren Rezidiven, längerer Verweildauer und wegen schlechter Compliance zu stärkeren Nebenwirkungen bei höherer Medikation. Psychotherapie als Spezialisierung bedarf der Fachleute, welche psychologische Techniken und Interventionen gemäß den Bedürfnissen des jeweiligen Fachgebietes anwenden und in interdisziplinärer Zusammenarbeit differentielle Indikation überprüfen, psychologische Ausbildungsformen und -inhalte befördern. Im Spiegel der Zeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie« versuche ich der komplizierten Beziehungsgeschichte von 1949 bis 1990 der beiden Fächer innerhalb des Kanons der Nervenheilkunde nachzuspüren.

Erbe und schwieriger Neuanfang Wenn Viktor von Weizsäcker (1947) den Geist einer Medizin, welche den Menschen auf ein Objekt der Naturwissenschaft reduzierte, in Nürnberg auf der Anklagebank sah, bezog er sich auf ausführende wie lehrende Psychiater, welche die Selektion zur fabrikmäßigen Tötung von Kranken und Behinderten vorbereitet hatten und deren Mitarbeiter gezwungen waren, sich zu beteiligen, zu dulden, wegzusehen. »Nach meiner Ansicht ist daran ein persönliches Versagen in Verbindung mit einer verfehlten Idee der Medizin schuld« (von Weizsäcker 1947, S. 15). 1945 waren die überlebenden Kranken noch von demselben Personal abhängig, lebten in Anstalten, die um Brennstoffe und Nahrungsmittel kämpfen mussten. In einigen Bevölkerungsteilen gab es Sympathie für Euthanasie und Sterilisation, in anderen Abscheu, Furcht und Misstrauen gegenüber der Institution Psychiatrie und deren »Irren«. 1947 waren in der Sowjetischen Besatzungszone wieder 35 psychiatrische Pflege- und Heilanstalten, davon acht Privatkliniken, eingerichtet, in 148 Kreisen arbeiteten bereits 126 psychiatrische Fürsorgestellen, angeregt durch das Prinzip psychiatrisch-neurologischer Fürsorge in der Sowjetunion, neben nur 104 niedergelassenen Nervenärzten. Durch einheitliche Gesetzgebung wurde zur psychiatrischen Nachsorge verpflichtet und erstmals konnten

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5.7  Psychotherapie in anderen klinischen Fachgebieten II

auch Psychiatrie-Pfleger eine zweijährige Ausbildung von 300 Lehrstunden mit Staatsexamen erhalten (Lindenberg 1949). Die Einführung von Psychopharmaka 1953 und die Rahmen-Krankenhausordnung von 1954 ermöglichten den Anstalten den Weg zu Fachkrankenhäusern mit klinischem Therapieregime, geleitet von einem Arzt, nicht mehr von einem Verwaltungsleiter. In diesen Jahren hatten in England psychiatrische Tagesstationen bereits ihren Nutzen bewiesen.

Dialektik von Integration und Spezialisierung Bereits 1946 auf der Tagung zu »Organisation der Geisteskranken- und Psychopathen-Fürsorge- und Therapie« bemühte sich Kemper (1949) um Zusammenarbeit mit den Psychiatern, stellte analytisches Vorgehen vor und forderte eine Weiterbildung für Ärzte sowie ein Netz von Behandlungseinrichtungen gegen die »Volksseuche Neurose«. Die Gleichsetzung endogen = angeboren = psychotherapeutisch unangehbar sei ebenso unhaltbar wie psychogen = umweltbedingt = psychotherapeutisch heilbar. Sie sei durch eine Ergänzungsreihe, in der im einzelnen Krankheitsfall beide Faktoren jeweils verschieden stark vertreten sind, zu ergänzen! Schwerverständliche Terminologie und zeitbedingte Einseitigkeit von Freuds Lehre habe zur Absonderung geführt, aber eine Zusammenarbeit sei wissenschaftlich notwendig, um Persönlichkeitsdeformierung und Symptomatik psychotischer Phänomene befriedigend zu erklären. Ein ausführlicher Bericht von Müller-Hegemann (1950) über zwei psychotherapeutisch beeinflusste Schizophreniefälle wurde von Thiele (1950) kritisch hinterfragt; allerdings maß er der Wirksamkeit psychotherapeutischer Zuwendung immerhin die Bedeutung einer Arbeitshypothese zu. Diskussionen über Wechselwirkungsbeziehungen biologischer, sozialer und psychischer Prozesse in der Ätiopathogenese psychischer Krankheiten wurden unter Einbeziehung des marxistischen Philosophen Thom (1978) bis zum letzten Jahrgang der Zeitschrift »Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie« fortgeführt. Als Destunis (1951) die Notwendigkeit der biodynamischen Richtung für die Medizinische Psychologie (ausgenommen psychotische Erkrankungen!) begründete, kritisierte Müller-Hegemann (1951) bereits heftig, dass der experimentell gefestigten Lehre Pawlows das Primat gebühre gegenüber den psychobiologischen Trieb- und Instinktlehren. In der ideologischen Auseinandersetzung, aufgeheizt durch den Kalten Krieg, wurden die Lehren des Physiologen Pawlow und des Nervenarztes Freud instrumentalisiert. Folglich konnten sich biologistische Strömungen innerhalb der Psychiatrie bestätigt fühlen. Laut Tagungsberichten gab es wegen der mechanistischen Übertragung von Pawlows Lehren auf neurotische Störungen jedoch Widerspruch. Ab 1952 erschienen Arbeiten zur theoretischen Fundierung von Schlaftherapie und Hypnose, die vier bis acht psychotherapeutischen Veröffentlichungen pro Jahrgang bezogen sich nur noch auf neurotische oder funktionelle Störungen. 1955 wurden in zwei Heften die Vorträge einer psychotherapeutischen Arbeitstagung an der KMU Leipzig veröffentlicht, Katzenstein (1957) informierte über amerikanische Entwicklungen, berichtete zu Lewin und Rogers, thematisierte Milieutherapie und sah als wichtige Aufgabe für Psychologen Weiterbildung der Pflegekräfte. Psychotherapeuten engagierten sich kaum noch im Herkunftsfach,

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sondern konzentrierten sich auf ihre räumlich und personell besser ausgestatteten Stationen, welche in allen Universitäten und Bezirks-Kliniken eingerichtet wurden, ab 1960 formte sich ihre Wissenschaftliche Gesellschaft. Die Gleichsetzung von »endogen« mit »psychotherapeutisch unbehandelbar«, vor der Kemper 1948 warnte, hatte sich institutionalisiert! Hochschulpsychiater veröffentlichten zu somatischen Therapien oder stritten über diagnostische Fragen. An Integrations- und Liberalisierungsbemühungen, die besonders von England ausgingen, versuchten nur »Anstaltspsychiater« anzuknüpfen. Eichler (1956) übte Kritik an der noch gängigen Verwahrpsychiatrie, wenn sie therapeutisches Klima, Ausstattung und Therapieangebote in westfälischen Landeskrankenhäusern als beispielgebend hervorhob. Mit Unterstützung des Gesundheitsministeriums begannen Berthold (Schwerin), Walter (Rodewisch), Eichler (Brandenburg) und Lange (Mühlhausen) Stationen zu öffnen, Schwesternarbeit aufzuwerten, Nachsorge und Arbeitstherapie zu verbessern. Im Fachausschuss beim Ministerium mussten sie erst die Opposition der Fachgesellschaft überwinden, um mit Unterstützung der Gesellschaft für Rehabilitation und Wissenschaftlern aus sozialistischen Ländern und auch unter Mitarbeit von Kisker und Merguet, BRD, 1963 in Rodewisch ein »Internationales Symposium über psychiatrische Rehabilitation« außerhalb der üblichen Fachkongresse zu organisieren. Durch Unterschrift des Ministers autorisiert, war Zielstellung, ein aktives therapeutisches Regime auch für Langzeitpatienten, Wiedereingliederung als ärztliche Aufgabe zu erreichen in undogmatisch kombinierter Anwendung von Psychopharmaka mit vielfältigsten Methoden der Soziotherapie einschließlich Gruppenpsychotherapie. Das bedeutete anstelle des Sicherungsprinzips ein Fürsorgeprinzip und Schaffung von Tages- und Nachtkliniken, geschützten Wohn- und Arbeitsstätten. Angesprochen wurden die Hochschulpsychiater, ihren auf Akutkranke gerichteten Blick auf die Betreuungsrealität im Fachkrankenhaus zu weiten und Facharztkandidaten dort ein Jahr weiterzubilden. Nicht in die Facharzt-Ordnung übernommen, scheiterte das wichtige Anliegen oft an mangelnder Motivation und Wohnraummangel. Die Zeitschrift veröffentlichte diese ersten »Rodewischer Thesen« nur randständig (Wortlaut in Anlage IV). Die angebotene Forschungszusammenarbeit begann zögerlich erst Ende der 1970er Jahre. Weise (1979) kritisierte diese Kluft und wies auf Nutzen für Lehre und Forschung hin, wenn auch eine Universitätsklinik einen regionalen Sektor ambulant wie stationär psychiatrisch grundversorge. Die Umsetzung der ministeriellen Richtlinien war von den Bezirkspsychiatern und Direktoren abhängig, welche die extrem knappen materiellen und personellen Ressourcen zu verteilen hatten: Ausgebaut mit moderner Diagnostik wurden neurologische Abteilungen, die Akut-Psychiatrie-Stationen, für körpermedizinische Behandlung wurde selbstverständlicher Geld bereitgestellt – auch psychotherapeutische und Suchtpatienten lebten in einem besseren Umfeld als Langzeitpatienten und Behinderte. Ab 1970 wurden jährlich von der Leipziger Gruppe drei bis fünf Arbeiten in der Fachzeitschrift veröffentlicht, welche über Familienforschung, gesprächstherapeutische Weiterbildung der Mitarbeiter, Angehörigenarbeit, Strukturveränderung berichteten, um sich einer Therapeutischen Gemeinschaft im Sinne von M. Jones erst in ihrer Klinik, dann in Abteilungen des Bezirkskrankenhauses Leipzig-Dösen anzunähern (Wild 1977). Vier Monographien zu sozialpsychiatrischen Themen erschienen, teilweise in Zusammenarbeit mit dem Bechterew-Institut in Leningrad, welches, in Abgrenzung zur orthodoxen Mos-

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kauer Schule, Psychotherapieforschung betrieb. Seit 1970 gab es dort persönlichkeitszentrierte Gruppenpsychotherapie für Schizophrene, ohne von einer Psychogenese auszugehen (Wolowik u. Vid 1978). Unter der Zielstellung, die Umsetzung der Rodewischer Thesen zu fördern, hatte die Abteilung Gesundheitspolitik beim ZK der SED alle in der Psychiatrie tätigen Parteimitglieder und auch prominente parteilose Wissenschaftler, wie Lange und Böttcher (Dresden), 1971 zu einer Arbeitstagung eingeladen. Durch das ideologiebetonte Einführungsreferat von Seidel, Lehrstuhlinhaber an der Charité, entstand eine ungewollte Polarisierung. Sozialpsychiatrisch Engagierte fühlten sich, als an bürgerlichem und existenzialistischem Denken orientiert, abgestempelt und unterstellten den anderen mangelndes sozialpsychiatrisches Engagement in der erhitzten Diskussion. Ein Beispiel für einen Geburtsfehler des realsozialistischen Gesellschaftsmodells, welcher nicht nur Wissenschaftsentwicklung, sondern generell eine Emanzipation der Bürger behinderte: Ideologie war oft wichtiger als Fachkompetenz. Unbeirrt setzten sich Thom und Weise (1973) weiterhin kritisch mit der sozialen Institution Psychiatrie in ihren gesellschaftlichen Bezügen auseinander und begründeten, dass sich erst durch Paradigmenwechsel eine Übereinstimmung mit den Werten einer sozialistischen Gesellschaft ergebe. Auch die AG Rehabilitation der Fachgesellschaft kritisierte mit »Brandenburger Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft« 1974 die unvermindert wirksamen Hierarchien vom Chefarzt bis zur Stationshilfe als größtes Reformhemmnis. Neben Verkleinerung und Umstrukturierung, wurde langfristig angelegte psychologische Weiterbildung aller Mitarbeiter als Voraussetzung für Öffnung nach innen und in die Gesellschaft angestrebt. These 9 behinderte die fachliche Auseinandersetzung mit neuen Konzepten: »Wir sind nicht der Auffassung, dass es sich bei den psychotischen Erkrankungen um ›Soziosen‹ handelt, und wir betonen, dass der Psychiater stets auf dem naturwissenschaftlichen Boden unseres Faches stehen muss. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Abgrenzung von spekulativen antinaturwissenschaftlichen und anarchistischen sozialpsychiatrischen Strömungen des westlichen Auslandes« (Schirmer, Müller u. Späte 1974, S. 21). Ab 1981 hatte Eichhorn (1983) in Ueckermünde den kurzfristigen Übergang von einem strikt kustodialen Regime zu Prinzipien der Therapeutischen Gemeinschaft »von oben angeordnet«. Nach anfänglichem kollektiven Widerstand mit Autoritäts-, Normen- und Wertproblemen, was Wasser auf die Mühlen von Reformgegnern leitete, bestätigten ihn kürzere Verweildauer, seltenere Entweichungen und, von Patienten eingeschätzt (alle zwei Monate per Fragebogen), ein offenes, aktivierendes Stationsklima trotz beschämender baulicher Zustände. In der Diskussion um die Unschärfe des Konzepts »Therapeutische Gemeinschaft« positioniert er sich: »[...] wir sind nicht gegen die Prinzipien der ›Therapeutischen Gemeinschaft‹, sondern gegen deren exklusive Institutionalisierung, [...] es ist die Bereicherung des Gesundheitswesens durch medizinisch-psychologische Erfahrung auf integrativer Basis ohne jegliche Exklusivitäts- bzw. Alternativstrategie erforderlich.« Der hier angesprochene Überlegenheitsanspruch psychotherapeutisch Tätiger hat nicht selten die Atmosphäre gegenüber denen belastet, welche angeblich »nur symptomzentriert« vorgingen. 25 Jahre nach Rodewisch bestand der deutlichste Erfolg in der Möglichkeit, dass Erkrankte an ihren Arbeitsplatz über gestufte Rehabilitationsmöglichkeiten zurückkehren

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konnten (85 !), sonst aber blieben lebensraumintegrierte psychosoziale Betreuungssysteme unter Einbeziehung von psychotherapeutischen Behandlungsformen weiter eher Ziel als Realität, abgesehen von einzelnen Modellen, z. B in Neuruppin, Ueckermünde, Berlin-Lichtenberg, Plauen und Leipzig, welche über eine gute Zusammenarbeit von Poliklinik, Beratungsstelle und Klinik hinausgingen. Ab 1985 erarbeitete eine AG Psychotherapie in der Psychiatrie der GÄP (Tagungsbericht 1986) inhaltliche und methodische Empfehlungen zu Weiterbildungsprogrammen für mittlere Fachkräfte, Fachärzte und Fachpsychologen. Es sollten Basiskurse, Problemfallseminare und Selbsterfahrungsangebote neben einem Programm an der Akademie für Ärztliche Fortbildung genutzt werden können. Ungefähr 50 Psychiater (Schätzung Geyer) erwarben diese Zusatzqualifikation bis 1989. So konnten diejenigen ihren Einfluss untermauern, deren Oberärzte nicht an Komplextherapie interessiert waren. Da die Wissenschaftliche Gesellschaft an der Einheit des Faches festhielt, war sowohl die ärztliche wie pflegerische Weiterbildung (seit 1975 zum Fachpfleger für Psychiatrie und Neurologie) vom krankheitszentrierten naturwissenschaftlichen Paradigma dominiert. Fachpsychologen der Medizin vermittelten den mittleren Fachkräften Gesprächstechniken und Entspannungsverfahren, was manchen Ärzten fremd blieb. Ärzte brauchten zum Fachabschluss minimal sechs Monate auf einer Neurosen- oder Sucht-Psychotherapie-Station nachzuweisen, Selbsterfahrung wurde nicht abverlangt. 1985 bilanzierten auf einem Symposion in Ueckermünde eher biologisch orientierte Psychiater wie Ernst (Rostock) und Leonhard (em.) mit Benedetti (Basel), Willi (Zürich), Tringer (Budapest), Leder (Warschau) und engagierten Kollegen »Probleme und Ergebnisse der Psychotherapie in der Psychiatrie« in einem sehr anregendem Austausch. Leonhard überraschte, als er psychosoziale Einflüsse in der Kindheit als mitverantwortlich für eine spätere schizophrene Störung anerkannte (Tagungsbericht 1986). Auf die tägliche Betreuungsrealität in den Großkliniken hatte diese bemerkenswerte Tagung aber naturgemäß kaum Einfluss. Bei den meisten an endogenen Psychosen, Süchten oder an schwersten Persönlichkeitsstörungen Erkrankten stehen Kontakt- und Kommunikationsängste im Vordergrund, so dass sie besonders von gruppentherapeutischen Aktivitäten profitieren können. Die Leipziger Gruppe sah in Gesprächspsychotherapie nach Rogers, erweitert durch Selbsteinbringung des Therapeuten, keine spezielle Therapieform wie etwa Verhaltenstherapie, sondern versuchte, sie in das Gesamtsystem der Versorgung zu integrieren, anerkannte den Stellenwert somatischer Behandlungen, z. B. EKT, welche in der Akutphase konsequent angewandt wurde (Weise u. Weise 1981). In ihren offenen gemischten Gruppen arbeiteten neben psychotisch Erkrankten auch neurotisch Gestörte und Suchtkranke. Wenn eine Indikation nosologisch gestellt wird, z. B. Schizophrene oder Depressive als Gruppe arbeiten, kann eine heftige Dynamik auf der Station ausgelöst werden, welche zu Lasten der Erkrankten geht. In syndromhomogener Gruppe lassen sich andererseits Abwehrmuster oder individuelle Themen tiefgründig bearbeiten, weil sie nicht so diver­ gieren, wie z. B. zwischen Süchtigen und Psychotikern. Depressive sind in gemischten Gruppen sehr schnell in einer Omega-Position, bedürfen besonderen Schutzes der Therapeuten mit Auswirkung auf die Gruppendynamik. Formen spezifischer Psychotherapie können langfristig nur dann erfolgreich sein, wenn alle Teammitglieder mit den entstehenden

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S­ pannungen umgehen können oder wollen, Stationsversammlung nicht nur formal gehandhabt, Supervision angenommen wird. Psychotherapeutische »Inseln« sind sturmgefährdet; in diesen Stürmen mischen sich fachliche mit persönlichen Rivalitäten. Auch Benedetti musste deshalb aus der stationären Arbeit an der Universitätsklinik in Basel in die Ambulanz wechseln (persönliche Mitteilung). Ohne Integration also keine spezialisierte Psychotherapie in der psychiatrischen Einrichtung. Über Erfahrungen mit Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie bei schizophren Erkrankten im Rahmen einer Komplextherapie wird ab 1981 aus den Universitätskliniken Berlin (Ott, Ehle u. Wahlstab 1983) und Greifswald (Fischer, Jahr, Gebhardt u. Kopsch 1985) berichtet, aber auch in Berlin-Lichtenberg oder im Kreiskrankenhaus Rüdersdorf wurde sie in geschlossenen Gruppen angewandt. Sie war eingebettet in nonverbale Therapieformen wie Kommunikative Bewegungstherapie und Gestaltungstherapien, um Kohäsion, Vertrauen, aber auch Auseinandersetzung und soziale Kompetenz zu fördern, so dass wir die bekannten Phasen der Gruppendynamik bis zur Arbeitsphase erreichen konnten. Für das Therapeutenpaar war es schwierig, eine Übernahme der Führung durch einen oder mehrere Patienten nicht zu sehr zu forcieren und Ängste vor Dekompensation nicht durch zu frühzeitige Schutzfunktion abzuwehren. Wenn der Psychotherapeut gleichzeitig für die medikamentöse Behandlung verantwortlich zeichnet, so beeinflusst dies die Beziehung in nur schwer zu durchschauendem Maße, weil Abhängigkeit und unreflektierte Machtgefühle stimuliert werden. Medikation durch einen außenstehenden Arzt vornehmen zu lassen, birgt das Risiko, psychodynamisch bedingten Symptomwandel zu verkennen, die Beziehungsdynamik noch undurchschaubarer zu machen, was Patienten letztendlich doch dem Gruppentherapeuten zuschreiben. Gruppenarbeit nach psychodynamischen, gesprächstherapeutischen oder verhaltenstherapeutischen Konzepten (Selbstsicherheitstraining, Rollenspiele) und kognitive Trainingsprogramme wurden auf sozialpsychiatrischen Stationen, sogar in der forensischen Psychiatrie Berlin-Buch, und auf Poliklinikabteilungen vielseitig durchgeführt. Daneben gab es aber auch Abteilungen, welche ihre Verwahrfunktion nicht verändert hatten. Integration psychologischer Konzepte in die Betreuungsrealität war abhängig von den leitenden Ärzten. Aber auch großer Elan kann ermüden, wenn sich unzureichende ökonomische Voraussetzungen nicht verbessern. Nach 1990 wurden die vielfältigen sozialpsychiatrischen Ansätze und auch gelungenen Projekte von außenstehenden Betrachtern hinter der bröckelnden Fassade der veralteten Bausubstanz oft nicht gesehen.

5.7.2 Bettina Schmidt: Psychosomatik in der Inneren Medizin – Forschung, Lehre und Patientenversorgung an der Universität Leipzig in den Jahren 1980 bis zur Wende 1990 Die Zunahme von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine wachsende Häufigkeit von Ge­sundheitsstörungen in Form funktioneller Störungen, bei denen psychischen und/oder so­zialen Einflussfaktoren eine Bedeutung zugemessen wurde, spiegelte sich auch in der

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Pa­tientenpopulation ambulant, stationär oder subspezialisiert tätiger Internisten wider. Dadurch wurde eine grundlegende Bereitschaft zur Akzeptanz eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses zumindest im Ansatz befördert. Grundlage dafür stellte auch die Gesundheitsdefinition der WHO dar, die die psychosoziale Gesundheit als gleichwertig zu erstrebendes Ziel mit einschloss und als Lehrmeinung allgemein anerkannt war. Der klinische Alltag an der Universität und die Vorlesungen im Fach Innere Medizin waren jedoch weitgehend von somatischen Erklärungsmodellen und Therapieansätzen geprägt. Bedingt durch das vermittelte und überwiegend vorherrschende naturwissenschaftliche Grundverständnis ätiopathogenetischer Krankheitsmodelle entwickelte sich deshalb zunächst ein Interesse an pathophysiologischen Vorgängen, in die die einerseits bekannten somatischen Risikofaktorenkonzepte, andererseits aber auch verschiedene Stresskonzepte und die damals aktuellen Untersuchungsergebnisse von Fahrenberg zum Typ-A-Verhalten mit einbezogen wurden. D. h., der Blick erweiterte sich zu einem mehrdimensionalen Krankheitsverständnis, und es wurde nach psychophysiologischen Zusammenhängen in psychosomatischen Anforderungssituationen in Bezug auf körperliche messbare Symptome gesucht. In interdisziplinären Arbeitsgruppen mit den Instituten für Arbeitsmedizin der Universität Leipzig (Gert Schreinicke) und der Medizinischen Akademie Dresden (Klaus Scheuch), der DHfK (Siegfried Israel) und der Sektion Psychologie (Harry Schröder) der Universität Leipzig wurde unter der internistischen Leitung von Gunter Gruber ein psychophysiologisches Labor zur Erforschung berufsbezogener Erkrankungen im Rahmen der Interaktion Mensch – Arbeitsumwelt bei psychoemotionaler Belastung aufgebaut, wo verschiedene Versuchsanordnungen entwickelt wurden. Der Schwerpunkt der Forschung lag in der Diagnostik noninvasiv gewonnener Parameter unter psychischer Belastung auf der vegetativen Ebene. Als Beanspruchungsvariable zur Einschätzung der individuellen Reagibilität wurden Herzschlagfrequenz, systolischer Blutdruck sowie die Parameter der akralen Vasomotorik wie Fotopulsamplitude, Rheographischer Quotient, akrale Hauttemperatur, Pulswellenlaufzeit und in späteren Versuchen auch die Impedanzkardiographie gemessen. Die Untersuchungen wurden an kreislaufgesunden Probanden (Studierende) in Laborbelastungstests und Realbelastungssituationen (Examina) sowie in Ruhephasen durchgeführt. Ziel war es, durch Individualanalyse stresssensible Probanden zu charakterisieren, entsprechende Indizes zu entwickeln und individuelle Reaktionsmuster in Zusammenhang mit Erlebens- und Verhaltensmerkmalen zu beschreiben. Ergänzt wurden die Untersuchungen durch die Bestimmung von Serumparametern (Blutbild, Blutzucker, Triglyceride, Cholesterol, Zink, Schilddrüsenhormone, Plasmakortisol, Somatotropin). Ähnliche Untersuchungen wurden auch an Hypertonikern und Leitenden Angestellten als einer Risikogruppe für die koronare Herzkrankheit durchgeführt, wobei hier neben einer ausführlichen Eingangsuntersuchung zusätzliche Laborparameter bestimmt und die Probanden einem Belastungs-EKG unterzogen wurden. Die gewonnenen Ergebnisse fanden unmittelbar Eingang in arbeitsmedizinische Grundlagen und Empfehlungen. Eine Erweiterung des Versuchsansatzes ergab sich durch die eingangs erwähnte Zunahme von Patienten mit sog. Funktionellen Syndromen. In einer speziellen klinischen Forschungsgruppe Gastroenterologie wurden nunmehr auch gastroenterologische Patienten hin­ sichtlich ihrer psychophysiologischen Besonderheiten untersucht und gastroduodenale

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Motilitätsmessungen durchgeführt. Als Ergebnis der Untersuchungen von Patienten mit Funk­tionellen Syndromen im Vergleich zu Gesunden ließen sich signifikant folgende Merkmale nachweisen: ausgeprägte psychosoziale Risikokonstellationen, mehr belastende Lebensereignisse, Mangel an sozialer Unterstützung, stärkeres Belastungserleben und höhere Befindensbeeinträchtigung und ein schlechteres Leistungsergebnis. Interessanterweise, wenn auch für die Untersucher nicht unerwartet, erwiesen sich auf der objektivsomatischen Ebene bei Patienten mit Funktionellen Syndromen lediglich ein signifikant höherer diastolischer Blutdruck, eine erhöhte Herzschlagfrequenz und eine langsamere Normalisierung der akralen Vasomotorik im Sinne einer unspezifischen Reaktion als gruppentrennende Merkmale im Vergleich zu Gesunden. Und ein weiteres wichtiges Ergebnis war die Untermauerung der Hypothese, dass es sich bei Patienten mit Funktionellen Syndromen um komplexe zentrale Regulations- und/oder Perzeptionsstörungen mit vordergründig gestörtem Erleben und unterschiedlich ausgeprägten und subjektiv bewerteten somatischen Beschwerden und Symptomen handelt. Das ermöglichte in der Folgezeit bei der Auseinandersetzung mit Vertretern der ausschließlich naturwissenschaftlichen Sicht der Krankheitsentstehung und des Krankheitsverlaufs eine von beiden Seiten akzeptierte Grundlage für die Diagnostik und Therapie psychosomatischer Störungen und Erkrankungen, so dass im Weiteren auch eine Tür für das Verständnis psychotherapeutischer Behandlungen geöffnet werden konnte. Die Forschungsergebnisse fanden ihren Niederschlag in über 50 wissenschaftlichen Publikationen, Vorträgen sowie Buchbeiträgen und waren die Grundlage für vier Promotionen, fünf Diplomarbeiten und eine Habilitationsschrift. Einen unmittelbaren klinischen Bezug in dieser Zeit hatte auch die Forschungstätigkeit von Andrea Bosse-Henck, die über zehn Jahre lang Herzinfarktpatienten internistisch betreute und in diesem Rahmen psychosoziale Aspekte der Anamnese, der Krankheitsverarbeitung, subjektiver Verhaltensmuster und Copingstile in Bezug auf den Outcome des jeweiligen Krankheitsverlaufs untersuchte. Die größtenteils interdisziplinär durchgeführten Forschungsaktivitäten der Leipziger Internisten konnten sich ansatzweise etablieren und flossen auch in die universitäre Lehre mit ein. So vertrat Gunter Gruber ab 1984 für 19 Jahre das Fach Innere Medizin/Psychosomatik an der Sektion Psychologie. Gunter Gruber, Helmut Röhrborn und ich entwickelten aus der Arbeitsgruppe Psychotherapie in der Inneren Medizin heraus ein psychodiagnostisches Basisprogramm für Internisten, das regelmäßiger Bestandteil von Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen war und in der Studenten- und Assistentenausbildung eingesetzt wurde. Ziel war dabei insbesondere, einen Beitrag zur Positivdiagnostik psychosozialer Störungen in ihrer Krankheitswertigkeit zu leisten und damit eine Abkehr von der bis dahin vorherrschenden alleinigen Ausschlussdiagnostik organischer Befunde zu bewirken, die häufig unreflektiert eine letztlich unbestimmte psychische Verdachtsdiagnose oder eine ebenso unreflektiert erfolgte somatische Diagnostikspirale zur Folge hatte. Wesentliche Impulse für die Integration ganzheitlich psychosomatischen Herangehens in der Klinik und die Förderung der Arzt-Patient-Beziehung gingen von Michael Geyer aus, der als Leiter der damaligen Abteilung Psychotherapie fundierte theoretische Grundlagen in Verbindung mit praxisnahen Handlungsanweisungen verknüpfte und so immer wieder eine

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Brücke schlug zwischen den klinischen Fächern und dem Fach Psychotherapie. Dank seiner Bemühungen wurden z. B. im Jahr 1987 Einladungen zu Vorträgen und Seminaren von Boris Luban-Plozza und Edgar Heim möglich, die auf ein immenses fachübergreifendes Interesse der klinisch tätigen Kollegen stießen und das Anliegen derjenigen Ärzte und Psychologen beförderten, die sich dem psychosozialen Krankheitsmodell und seiner Verankerung in Forschung, Lehre und Patientenversorgung aus Überzeugung verschrieben hatten. In die Patientenversorgung der drei internistischen Diagnostikstationen sowie Fach- und Dispensaire-Ambulanzen des damaligen Medizinisch-Poliklinischen Instituts erfolgte ab 1983 verstärkt die Einbeziehung psychosomatischer Behandlungskonzepte. Unter Leitung von G. Gruber bildete sich mit der damaligen Stationsärztin und einer Klinischen Psychologin eine psychosomatisch-psychotherapeutische Arbeitsgruppe heraus, die nach gesprächspsychotherapeutischer bzw. verhaltenstherapeutischer Ausbildung und zeitweise Supervision durch eine Fachpsychotherapeutin der Abteilung Psychotherapie der Universität zunehmend in der Betreuung der Patienten wirksam wurde. Diese geschah durch regelmäßige gemeinsame Visiten, konsiliarische Untersuchungen, Psychoedukation, Entspannungsverfahren sowie supportive methodenübergreifende Therapieangebote und in Anfängen auch durch die Etablierung eines Liaisondienstes. Bis zur Wende 1990 entwickelte sich hieraus eine außerordentlich gute und kollegiale Zusammenarbeit mit der Abteilung Psychotherapie der damaligen Klinik für Psychiatrie, die später – nach grundlegenden strukturellen und personellen Veränderungen sowohl im Fach Innere Medizin als auch durch die Schaffung eines eigenständigen Lehrstuhls für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie – die Grundlage bildete, dass die Anfang der 1990er Jahre aufgebaute internistisch-psychosomatische Ambulanz ab 1994 in der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin weitergeführt werden konnte.

5.7.3 Helmut Röhrborn: Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe »Psychotherapie in der Inneren Medizin« – von der Gründung bis zum stillen Ableben Ausgehend von der Auffassung der Psychotherapie als Spezial- und als Querschnittdisziplin der Medizin war es folgerichtig, die Zusammenarbeit mit den Gesellschaften der klinischen Fächer zu suchen. In der Gesellschaft für Innere Medizin der DDR wurde eine Anregung aufgegriffen, die vom Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie ausging. Bereits 1983 wurden von beiden Vorständen je zwei Kollegen beauftragt, die Bildung einer interdisziplinären Arbeitsgruppe (AG) vorzubereiten. Seitens der Gesellschaft für Innere Medizin waren das OMR Dr. med. Crodel aus Halle/Saale und Dr. sc. med. Schaeffer aus Jena, seitens der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie Dr. med. Röder aus Karl-MarxStadt, heute wieder Chemnitz, sowie ich selbst. Alle vier Kollegen waren sowohl Fachärzte für Innere Medizin als auch Fachärzte für Psychotherapie und in ihren jeweiligen Einrichtungen in nicht abgebrochener Verbindung zur Inneren Medizin psychotherapeutisch tätig. Am Rande der 2. Arbeitstagung der AG Psychotherapie bei psychosomatischen Erkrankungen vom 29. September bis 1. Oktober 1983 in Görlitz traf sich die Initiativgruppe zu ersten

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Festlegungen über das weitere Vorgehen. Dabei wurde auch die Unabhängigkeit von der AG Psychotherapie bei psychosomatischen Erkrankungen, die ja eine Spezialaufgabe innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie vertrat, beschlossen. Damit sollte der Charakter der Psychotherapie als Querschnittdisziplin der Medizin und nicht als Spezialdisziplin bei Anwendung innerhalb der Inneren Medizin betont werden. In der Folgezeit wurde unter Ausnutzung persönlicher kollegialer Beziehungen nach Interessenten an der Förderung psychotherapeutischen Geistes in der Inneren Medizin gesucht, der Entwurf eines Arbeitsprogramms erarbeitet und eine erste Arbeitstagung vorbereitet. Von beiden Vorständen wurden von Anfang an und im weiteren Verlauf die Aktivitäten wohlwollend begleitet. So musste mehrfach bei Vorstandssitzungen beider Gesellschaften vom Vorsitzenden ausführlich berichtet werden. Die Konstituierung der Arbeitsgruppe (AG) erfolgte bei der ersten Arbeitstagung vom 3.–5. Juni 1985 in den Räumen der Gebietsakademie des Gesundheitswesens Wismut in Schlema/Erzgebirge. Dem dabei gewählten ersten Vorstand gehörten die vier Mitglieder der Initiativgruppe an, hinzu kamen der Oberarzt des Medizinisch-Poliklinischen Instituts der Universität Leipzig, Dr. sc. med. Gruber, und zwei Klinische Psychologen aus dem Bereich Innere Medizin/Psychosomatik, nämlich Dr. phil. Böttcher, Dresden, und Frau Dipl.-Psych. Hacke, Berlin. Ich selbst war Vorsitzender. Ein großer Verlust für den Vorstand und die AG war der Tod von Herrn Dr. sc. med. Schaeffer im selben Jahr. Er hatte mit seiner Erfahrung das beschlossene Arbeitsprogramm entscheidend mitgeprägt und Anteil am Eingang von psychotherapeutischen Inhalten in das Facharztbildungsprogramm Innere Medizin genommen Über dieses Arbeitsprogramm hatte im Auftrag der Initiativgruppe der Vorsitzende bereits auf der Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Innere Medizin der DDR referiert. Er führte aus: »Das Anliegen der gemeinsamen Arbeitsgruppe ist es, einen Beitrag zur Integration von Erkenntnissen der Medizinischen Psychologie und der Psychotherapie in die Innere Medizin unter Berücksichtigung der speziellen Situation unseres Fachgebietes zu leisten. Sie stützt sich dabei auf die Aktivitäten von Fachärzten für Innere Medizin, Fachärzten für Psychotherapie und Fachpsychologen der Medizin, die in internistischen Einrichtungen tätig sind. Beabsichtigt ist eine Verbesserung von Diagnostik, Therapie, Prophylaxe und Metaphylaxe.« Daraus leiteten sich konkrete Aufgaben für die zukünftige Arbeit ab. Besonders war vorgesehen, Materialien für den im »Bildungsprogramm für den Facharzt für Innere Medizin« geforderten Erwerb medizinpsychologischer und psychotherapeutischer Grundkenntnisse zu erarbeiten. Weiter sollte Einfluss auf die Gestaltung von Weiterbildungsangeboten genommen werden, wissenschaftliche Ergebnisse für die Umsetzung im Fachgebiet Innere Medizin sollten aufgearbeitet und durch Publikationen und Vorträge auf Fachtagungen sollte für die Verbreitung gesorgt werden. In den folgenden Jahren wurde in der Arbeitsgruppe durch die Mitglieder ergebnisreich gearbeitet. Zentral waren dabei die jährlichen Arbeitstagungen jeweils von Freitag bis Sonntag in der Gebietsakademie Schlema. Wenn auch aus heutiger Sicht die materiellen Bedingungen sehr einfach waren, so entstand doch durch die gemeinsame Unterbringung, etwas abgelegen in landschaftlich schöner Umgebung, eine intensive und kollegiale Arbeitsatmo-

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sphäre. Durch das Zusammentreffen von internistischen Praktikern aus ambulanter und stationärer Versorgung, aus Hochschuleinrichtungen und von professionellen Psychotherapeuten wurden fachsprachlich bedingte Missverständnisse rasch deutlich. Das führte zu gemeinsamen Bemühen, die psychotherapeutischen Sachverhalte in einer dem Internisten verständlichen Sprache auszudrücken. Ein Ergebnis war dann 1990 unser Arbeitsmaterial zum Bildungsprogramm Facharzt für Innere Medizin »Medizinisch-psychologisches und psychotherapeutisches Basiswissen des Internisten« (im Auftrag der Arbeitsgruppe herausgegeben von G. Gruber, A. Bosse, H.-W. Crodel, K. Slonina und mir). Eine Vervielfältigung des Manuskriptes von 130 Seiten erfolgte auf privater Basis mit ca. 60 bis 80 Exemplaren für die Mitglieder der AG und die Vorstände der beiden Trägergesellschaften. Eine geplante Drucklegung kam durch den Umbruch 1990/1991 nicht mehr zustande. Allerdings hat sich das Arbeitsmaterial bei psychotherapeutischen Grundkursen, nicht nur bei Internisten, sehr bewährt. 1987 und 1988 wurden jeweils die ausführlichen Autoreferate der Jahrestagung durch Dr. med. Röder, Dr. med. Slonina, den Sekretär des Vorstandes und Leiter eines Betriebsambulatoriums, sowie von mir selbst in einem kleinen Heft zusammengefasst, als Manuskript vervielfältigt und den Mitgliedern der AG und Interessierten zur Verfügung gestellt. Ein »Psychodiagnostisches Basisprogramm für Internisten« (Gruber, Röhrborn, Lindner u. Schmidt 1990) wurde in der »Zeitschrift für Innere Medizin und ihre Grenzgebiete« veröffentlicht. G. Gruber, ab 1994 apl. Professor an der Medizinischen Fakultät in Leipzig, vermittelte das inhaltliche Anliegen unserer AG auch Psychologie-Studenten noch 19 Jahre (1984– 2003) im Rahmen eines Wahlpflichtfaches (mit Prüfung) Innere Medizin/Psychosomatik. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe waren auch in ihren Fachgesellschaften aktiv. Vorträge zu unterschiedlichen Themen gab es namens der Arbeitsgruppe auf allen Kongressen innerhalb der DDR der beiden Gesellschaften. Dabei waren Auftritte auf den großen InternistenKongressen, die traditionell immer in Leipzig stattfanden, von besonderer Wichtigkeit. Zum 15. Internisten-Kongress wurde den Mitgliedern der Arbeitsgruppe sogar ein halber Tag zur selbständigen Gestaltung im Rahmen des Hauptthemas »nichtmedikamentöse Therapie« eingeräumt. Vorausgegangen war die Erarbeitung eines Themenheftes »Psychotherapie in der Inneren Medizin« der »Zeitschrift für die gesamte Innere Medizin und ihre Grenzgebiete« (43. Jahrgang, Heft 2/1988). Gemessen an der großen Zahl von Internisten im Lande war die AG natürlich sehr klein. Mehr als 60 bis 70 Mitglieder wurden nicht erreicht, aber dies wurde durch das Engagement der meisten von ihnen ausgeglichen. Leider kam mit dem politischen Umbruch 1989/1990 das Ende der AG. Zwar fand noch eine letzte Arbeitstagung vom 13.–15. Juni 1990 in Schlema statt. Dann aber kam es zur Auflösung der Gesellschaft für Innere Medizin der DDR zum Jahresende 1990, wodurch einer der Träger verloren ging. Zum gleichen Zeitpunkt wurde das Gesundheitswesen Wismut aufgelöst und damit stand die bisherige Betriebsakademie Schlema nicht mehr zur Verfügung. Hinzu kam, dass auch für viele Mitglieder entscheidende berufliche Veränderungen anstanden, die das bisherige Engagement unmöglich machten. Es wurde aber noch versucht, in der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin eine ähnliche Gruppierung oder Interesse für unser Anliegen zu finden. Das war

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

erfolglos. Wir wurden auf die bekannten psychosomatischen und psychotherapeutischen Fachgesellschaften bzw. deren prominente Vertreter in der Bundesrepublik verwiesen, die aber nicht (mehr?) die Innere Medizin repräsentierten. In der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin gab es offensichtlich nicht das gleiche Interesse wie in der Gesellschaft für Innere Medizin der DDR. Eine Anfrage an den Vorstand letzterer wurde, wohl bedingt durch die Auflösung, nicht mehr beantwortet. Und so hörte die AG einfach auf zu existieren. Als ehemaliger Vorsitzender verspüre ich auch heute noch Bedauern und ein schlechtes Gewissen, dass ich es in den folgenden Jahren nicht geschafft habe, den Mit­ gliedern ein Abschiedsschreiben zu senden und für die Arbeit zu danken. Jetzt habe ich die Hoffnung, dass wenigstens einige der Ehemaligen diesen Beitrag lesen und als einen Abschluss sehen können. Das Anliegen der Arbeitsgruppe, medizinisch-psychologisches und psychotherapeutisches Wissen und eine psychosomatische Sichtweise in der Inneren Medizin, das bedeutet bei ihren Fachvertretern, zu befördern, ist aber aktuell wie eh und je.

5.8 Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung in den 1980er Jahren 5.8.1 Sigmar Scheerer, Werner König und Michael Geyer: Regional­ arbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung in den 1980er Jahren Bei der »Konferenz der Fortbilder« vom 10.–11. April 1978 in Winterstein hatten die Vorsitzenden der 13 regionalen Arbeitsgemeinschaften und Gesellschaften eine erste Revision der Materialien für den »Grundkurs Allgemeine Psychotherapie« vorgenommen, sich über die Grundzüge der Balint-Arbeit verständigt und die Zusammenarbeit zwischen den Regionen verabredet. Das ab 1979 zunehmend in die Grundkursarbeit integrierte strukturierte Trainingsprogramm »Ärztliches Basisverhalten« (Geyer u. Blatz 1982) und die nun überall die »Problemfallseminare« ersetzende »Balint-Gruppen-Arbeit« erhöhen aufgrund ihrer Handlungsnähe die Attrakivität der Grundkurse für Fortbilder wie Teilnehmer. Bis zur nächsten größeren Revision der Grundkursinhalte 1985 werden ca. 3000 Ärzte der Grundversorgung fortgebildet. Zunächst findet 1982 die nächste »Konferenz der Fortbilder« in Klein-Pritz statt, die die inhaltliche Erneuerung und Erweiterung der Grundkursinhalte beschließt und eine weitere Verständigung über die Balint-Arbeit ermöglicht (s. folgenden Teilabschnitt). Inzwischen haben sich in allen Bezirken der DDR Regionalgesellschaften gebildet, die nun relativ einheitlich sowohl »Grundkurse in allgemeiner Psychotherapie/Psychosomatischer Grundbetreuung« durchführen als auch Balint-Seminare anbieten. Die Überarbeitung der Materialien wird 1985 abgeschlossen. Ein mit Anlagen ca. 500 Seiten starkes Skript »Lehrmaterialien zum Grundkurs Psychotherapie für Ärzte aller Fachgebiete« (Hrsg.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Michael Geyer, unter Mitarbeit von Frank Bartuschka, Werner Ehrhardt, Hans Eichhorn, Helga Hess, Volker Kielstein, Roger Kirchner, Monika Kneschke; s. a. Ehrhardt 1985) kann allen Regionalgesellschaften zur Verfügung gestellt werden. Inhalte dieses Skripts sind: 1. Teil: Krankheitsverständnis und Grundlagen für die Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung, 2. Teil: Diagnostisch-therapeutisches Grundinventar für die Gestaltung der Arzt-PatientBeziehung, 3. Teil: Psychotherapeutisches Vorgehen auf ausgewählten Praxisfeldern, 4. Teil: Trainingsprogramm »Ärztliches Basisverhalten« und Systematik der Balint-Arbeit, Lehrmaterialien für Fortbilder und Teilnehmer. (Im Vergleich mit den heutigen Anforderungen an die Fortbildung »Psychosomatische Grundversorgung« handelt es sich um ein vergleichbares, aber deutlich umfangreicheres Programm, das auch einen höheren zeitlichen Aufwand erforderte.) Auf der Grundlage dieses Papiers wird in den folgenden Jahren in allen Bezirken der DDR die dann schon so genannte »Psychosomatische Grundbetreuung« an mehrere tausend Ärzte vermittelt. Diese Aktivitäten finden nach einem Treffen der beiden Vorsitzenden der Gesellschaften für Ärztliche Psychotherapie und Allgemeinmedizin 1982 im Einvernehmen beider Fachgebiete statt. Auf diesem Treffen wird auch die Gründung einer Arbeitsgruppe »Psychotherapie und Medizinpsychologie in der Allgemeinmedizin« verabredet, die Sigmar Scheerer leitete (s. a. } Abschnitt 4.9.4).

Der weitere Prozess der Konzeptbildung der Balint-Arbeit 1982 findet nach Winterstein die nächste »Konferenz der Fortbilder«, also der maßgeblich die Grundkurs-/Balint-Arbeit tragenden Vertreter der Regionalgesellschaften, in Klein-Pritz statt. Hier wird erstmalig anhand konkreter Balint-Seminare unter den Teilnehmern demonstriert, wie einzelne Balint-Gruppenleiter methodisch vorgehen. Als Resümee der Diskussion kann folgender Standpunkt zitiert werden: Die Gruppensituation an sich und vor allem die Tatsache, dass die Gruppenmitglieder anhand des Fallberichtes und in Beziehung zum fallvortragenden Kollegen ihre eigenen Gefühle und Einfälle veröffentlichen sollen, bedingt dynamische Vorgänge, Spannungen und Störungen in der Gruppe. Es geht dabei um Rivalitäten, Geltungs-, Dominanz- und Abhängigkeitsprobleme, Autoritätskonflikte, Nähe-Distanz- und erotische Beziehungsprobleme der Teilnehmer untereinander. Indem auch die Gegenübertragungsreaktion des Gruppenleiters zum Gegenstand der Bearbeitung und Analyse gemacht wird, werden Ängste und Unsicherheiten einschließlich zugehöriger neurotischer Abwehrmanöver aktiviert, die die Gruppendynamik des Balint-Seminars wesentlich prägen und beeinflussen. Der Referent der Balint-Gruppe ist zwar durch den Umstand geschützt, dass er eine außerhalb liegende Situation anbietet und damit scheinbar weitgehende Kontrolle ausübt. Gleichzeitig kann dies zur Reduzierung des Widerstands »verführen« und das Risiko erheblicher Verwicklungen und Labilisierungen vergrößern. Der Gruppenleiter hat die Aufgabe, gruppendynamische Vorgänge dann zu verdeutlichen, wenn diese Vorgänge die Kooperation der Gruppenmitglieder deutlich beeinträchtigen oder ein Gruppenmitglied gefährdet erscheint; aber auch wenn sich konkret und für die Gruppenmitglieder wahrnehmbar die Beziehungsdynamik der Arzt-Patient-Beziehung in der gruppendynamischen Konstellation abbildet oder »spiegelt«.

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

Als praktikabler minimaler gemeinsamer Nenner wird ein Drei-Phasen-Modell akzeptiert, das Geyer vorgeschlagen hatte: Danach ist der erste Abschnitt einer Sitzung leiter­zentriert, der zweite Abschnitt »dynamisch«, bis sich der Beziehungskonflikt zwischen Fallreferenten und Patient in der Gruppe etabliert, der dritte Abschnitt ist wieder themenorientiert-didaktisch. Die Balint-Seminare werden nun in allen Regionen immer mehr nachgefragt. Sie bilden sich nun überwiegend auf Kreisebene in Wohnortnähe. Auch sog. studentische »Junior-BalintGruppen« sind an der Charité der Humboldt-Universität zu Berlin (Kulawik u. Ott 1978), der Friedrich-Schiller-Universität Jena (persönliche Mitteilung von Venner 1988) und der KarlMarx-Universität Leipzig meist in Verbindung oder als fakultatives Zusatzangebot zum Lehrprogramm »Medizinische Psychologie« Bestandteil der Lehre (Geyer et al. 1994). Die letzte Etappe der Konzeptarbeit an der Balintmethode findet Anfang 1988 statt, nachdem sich die Balint-Arbeit im eigentlichen Sinne in den meisten Bezirken der DDR etabliert hat, gleichzeitig aber zu vermuten ist, dass sich seit der letzten Diskussion über Leitungsstile in Balint-Gruppen 1982 in Klein-Pritz die diesbezüglichen Unterschiede eher weiter ausgeprägt haben. Nun erscheint ein Erfahrungsaustausch und eine erneute Konsensbildung nicht nur wünschenswert, sondern aus folgenden Gründen auch notwendig: Im Rahmen der 1986 gesetzlich eingeführten »Qualifizierung in Psychotherapie für Ärzte klinischer Disziplinen« – einer Weiterbildung, die mit dem Erwerb der Zusatzbezeichnung Psychotherapie in der Bundesrepublik Deutschland vergleichbar ist – ist die Teilnahme an 30 Balint-Gruppensitzungen vorgesehen. Damit wird es jenseits der Grundkursarbeit für die psychosomatische Grundbetreuung erforderlich, eine Übersicht über die zu empfehlenden Balint-Gruppenleiter zu erstellen und eine Grundlage für die Ausbildung weiterer BalintGruppenleiter zu schaffen. Gleichzeitig wird auch das Problem der Nutzung der BalintArbeit als Pflichtbestandteil von Weiterbildungsprogrammen aktuell. In der 1989 in Band 4 der Schriftreihe »Die Balint-Gruppe in Klinik und Praxis« erscheinenden Übersicht »Balint-Arbeit in der DDR – Der Prozess der Konzeptbildung« (Geyer, König, Maaz, Scheerer u. Seidler 1989a) wird festgestellt: »Auf allen Stufen prä- und postgradualer Bildung sind seit etwa 1973 mit der Balint-Arbeit [...] Erfahrungen gesammelt worden. Obwohl die Balint-Seminarmethode in erster Linie als Fortbildungsmethode für allgemeinmedizinisch tätige Ärzte verstanden wurde und ihre Verwendung in der Aus- und Weiterbildung zum Teil außerordentlich kritisch gesehen wird (Nedelmann 1987), hat sie sich auch dort etabliert. Nichtsdestoweniger sind bei ihrer Verwendung in der Aus- und Weiterbildung besonders eindeutige und durchsichtige Rahmenbedingungen notwendig, um den notwendigen Standard psychoanalytischer Arbeitsweise zu sichern, d. h. Vermeidung einer therapeutischen oder Lehrer-Schüler-Atmosphäre und Ermöglichung der Arbeitsprinzipien ›freie Assoziation‹, ›Abstinenz‹, und ›gleichschwebende Aufmerksamkeit‹. Insofern sind z. B. institutionelle Gruppen, die bestimmte Abhängigkeiten implizieren, abzulehnen [...]. Obwohl bereits Anfang der 1970er Jahre die Potenzen der Methode für die ärztliche und allgemein-psychotherapeutische Fortbildung eindeutig identifiziert und in der Folgezeit mehrere Versuche unternommen worden waren, einen für diese Ziele notwendigen methodologischen und methodischen Konsens über die Balint-Arbeit in der DDR herbeizuführen, gelang es erst in den letzten Jahren, diesen Prozess auch tatsächlich zu einem vorläufigen Abschluss zu führen«.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Der Prozess der Konzeptbildung, auf den hier Bezug genommen wurde, findet seinen Abschluss in dem Balint-Leiter-Seminar vom 11.–14. Januar 1988 in Ferch, das zum sog. »Fercher Modell« führt (} Abschnitt 5.3.1.3), das den Konsens aller Teilnehmer im Hinblick auf Ausbildung von Balint-Gruppenleitern sowie die Zielstellung und Methodik der Gruppenarbeit darstellt. Beginnend mit den internationalen Symposien in Dresden (1984), Budapest (1986) und Erfurt (1987) hat die Balint-Arbeit der DDR endlich auch direkten Kontakt mit den Gruppen und Persönlichkeiten gefunden, die die Methode zum Teil in Zusammenarbeit mit Michael Balint entwickeln und verbreiten (Enid Balint, London; Boris Luban-Plozza, Locarno; Carl Nedelmann, Hamburg; Ernst Petzold, Heidelberg; Margarete Stubbe, Salzgitter-Bad; Werner Stucke, Hannover; von Laethem, Brüssel, u. v. a.), und damit die Möglichkeit direkter Vergleiche des methodischen Vorgehens. Dass die Arbeit in allen Regionen bereits Mitte der 1980er Jahre Früchte getragen hat, erkennt man am Bildungsprogramm und Kommentar zur Facharztweiterbildung Allgemeinmedizin (1986). Dort sind u. a. folgende Bildungsinhalte aufgeführt: Grundlagenwissen in Medizinischer Psychologie sowie spezielle Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten in Psychodiagnostik, Erkennen organischer und funktionell-psychischer Störungen in ihren Wechselbeziehungen zueinander, zur Gesamtheit des Menschen und seiner Umwelt einschließlich der Reflexion von Übertragung, Gegenübertragung und Gruppendynamik in der Arzt-Patient-Familien-Begegnung des Hausarztes. Festgelegt ist der Teilnahmenachweis an zwei Fünf-Tage-Lehrgängen, die medizinpsychologisches und fachspezifisch psychotherapeutisches Wissen seminaristisch vermitteln. Darüber hinaus sind den Facharztkandidaten und den Fachärzten in postgradueller Fortbildung Grundkurse in »Medizinpsychologie, Neurosenlehre, Psychotherapie« sowie Trainingskurse »ärztliches Basisverhalten und Grundlagen der Gesprächsführung« fakultativ zugänglich, die von den Regionalgesellschaften für Ärztliche Psychotherapie in Zusammenarbeit mit den Bezirksakademien des Gesundheits- und Sozialwesens (Träger der postgradualen ärztlichen Fort- und Weiterbildung im Territorium) getragen werden (Zimmermann 1988).

Fazit In der Regionalarbeit der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie zeigt sich insbesondere der Querschnittcharakter der Disziplin. Grundkurse, die zunächst »Allgemeine Psychotherapie«, später »Psychosomatische Grundbetreuung« genannt werden, erreichen einen beträchtlichen Teil der Ärzte der Grundversorgung (s. a. den Beitrag von Seefeldt über die Regionalarbeit im Bezirk Potsdam } Abschnitt 5.8.2). Das Wachstum der GÄP (ab 1989 GPPMP) bis auf 1750 Mitglieder zum Zeitpunkt der Wende ist nicht zuletzt dieser Breitenarbeit geschuldet. Die Angleichung der Bildungsinhalte der östlichen »Psychosomatischen Grundbetreuung« und der westlichen »Psychosomatischen Grundversorgung« ist – ähnlich wie beim Zusatztitel Psychotherapie – unübersehbar. Ein theoretischer Grundkurs, eine Unterweisung im ärztlichen Gespräch und einem Entspannungsverfahren und nicht zuletzt die Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung in Balint-Seminaren sind hüben wie drüben die wesentlichen Elemente der Fortbildung von Ärzten der Grundversorgung.

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

An kaum einer anderen Stelle des psychotherapeutischen Bildungssystems gelingt nach der Vereinigung Deutschlands der Übergang vom »System Ost« zu »System West« so reibungslos wie von der »Psychosomatischen Grundbetreuung« in die nun gesamtdeutsche »Psychosomatische Grundversorgung«. Das jahrzehntelange Bemühen um die angemessene Theorie und Praxis der Balint-Arbeit führt nicht zuletzt zu dem erfreulichen Ergebnis, dass sich die Kollegen aus dem Osten und die im Ausbildungssystem der Internationalen BalintGesellschaft sozialisierten Kollegen aus dem Westen ohne große Umstände rasch verstehen und die Beziehungen untereinander von Beginn an nahezu familiären Charakter tragen (} Abschnitt 6.3.2.4).

5.8.2 Dieter Seefeldt: Qualitative und ökonomische Effekte der Integration der Psychotherapie in die allgemeinmedizinische Grundbetreuung – Ein empirisch gestützter Bericht aus dem damaligen Bezirk Potsdam 1973 wurde ich vom Bezirksarzt des damaligen Bezirkes Potsdam mit der Einrichtung einer psychosomatischen Abteilung im Kliniksanatorium Neu Fahrland bei Potsdam beauftragt. Es handelte sich um die erste psychosomatische Kapazität im Kur- und Bäderwesen der DDR. Die Ernennung zum Leiter der Abteilung war mit der Bedingung verknüpft, für Kollegen anderer medizinischer Disziplinen eine psychologische/psychotherapeutische Weiterbildung durchzuführen. Der Bezirksarzt argumentierte u. a. damit, dass eine gewisse neue Morbiditätsstruktur auch das Anforderungsspektrum an die am Patienten arbeitenden Ärzte, vorrangig die Allgemeinmediziner, verändern würde. Gemeint war die absolute oder relative Zunahme von Krankheiten multifaktorieller Genese, von funktionell neurotischen Störungen und chronischen Erkrankungen einschließlich einer Multimorbidität. Daraufhin habe ich zunächst Psychotherapiegrundkurse als zwölf Ganztagsveranstaltungen mit insgesamt 84 Stunden konzipiert. Dies geschah zeitlich vor analogen Aktivitäten in den anderen Bezirken. So wird verständlich, dass in Potsdam ein separates Bildungsmodell entstand. Denn parallel entwickelte sich ab 1974 eine Initiative der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR mit den Zielen einer zunehmenden Regionalisierung, d. h. der Bildung von Arbeitsgruppen und perspektivischen Gründungen von Bezirksgesellschaften sowie der Realisierung eines gestuften Systems der Diagnostik und Therapie in der Psychotherapie. Diese beinhaltete auch eine Weiter- und Fortbildung anderer Fachrichtungen.

Schwerpunktsetzung auf die Allgemeinmedizin Die Schwerpunktsetzung auf die Allgemeinmedizin ergab sich fast logisch. Die Allgemeinmediziner waren am meisten an der Psychotherapieweiter- und -fortbildung interessiert. Sie waren auch die wesentlichen potentiellen Partner einer sich entwickelnden Psychotherapie und stellten das weitaus größte Kontingent der Kursteilnehmer. Vor der ersten Grundkursdurchführung wurden bereits die diesbezüglichen Bedürfnisse der Allgemeinmediziner eruiert. Dies geschah auch kontinuierlich und systematisch, so z. B.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

durch Abstimmungen mit den Vorsitzenden der Regionalgesellschaft der Gesellschaft für Allgemeinmedizin sowie mit dem Vorsitzenden der Fachkommission der Allgemeinmedizin des Bezirkes Potsdam. Methodischer geschah dies durch zwei Befragungen zu psychotherapeutischen Intentionen und Bedürfnissen in der Allgemeinmedizin. Die erste Befragung wurde 1982 auf einem Jahreskongress der Gesellschaft für Allgemeinmedizin der DDR durchgeführt (Seefeldt 1989a). Die zweite Erhebung erfolgte innerhalb der Allgemeinmediziner des damaligen Bezirkes Potsdam. Nachfolgend werden das Bildungskonzept und dessen Realisierung beschrieben und die dadurch erzielten Ergebnisse erläutert.

Das Bildungsmodell Ausgehend vom Anliegen und den Zielen wurde ein inhaltliches Programm vorgelegt, das in drei aufeinanderfolgenden Jahren zunächst je zwölf Ganztagsveranstaltungen (Grundkurs) vorsah. Insgesamt war ein Kurssystem geplant, wie es die Sektion Manualtherapie der Gesellschaft für Physiotherapie zu jener Zeit bereits praktizierte. Das Modell wurde später zu einer Bildungspyramide erweitert. Diese umfasste: Psychotherapiegrundkurse nach dem Potsdamer Modell, Problemfallseminare/Balint-Kurse, Aufbaukurse I und II, methodenorientierte Kurse, weiterführende zentrale Veranstaltungen (z. B. Selbsterfahrungsgruppen) sowie Jahrestagungen. Das Konzept und die Durchführung sind an anderer Stelle ausführlich beschrieben worden (Seefeldt 1989a, 1999). Die ersten Grundkurse führte ich allein durch, die späteren gemeinsam mit dem Neuropsychiater Dr. Hans Kerber. Zu weiter folgenden Veranstaltungen wurden andere Referenten hinzugezogen.

Die Realisierung Insgesamt wurden bis 1989 14 Grundkurse, neun Aufbaukurse, vier methodische Kurse (Hypnose, VT, GT, Dynamische Einzeltherapie) durchgeführt und 14 Jahrestagungen organisiert.

Überprüfung des Bildungsmodells Die Frage nach dem Verhältnis von Aufwand und Nutzen des erprobten Modells wurde von verschiedenen Seiten wiederholt gestellt. Die Kursteilnehmer hatten die Weiterbildung ständig mündlich und schriftlich nach verschiedenen Kriterien beurteilt. Die Einschätzungen fielen ganz überwiegend positiv aus, was sich durch Recherchen auch für die Praxisbewährung belegen ließ. Bei der Befragung der Aufbaukursteilnehmer ergab sich, dass fast jeder das im Grundkurs erlernte Autogene Training selbst nutzte. Kritisch muss bemerkt werden, dass es sich um eine positive Auslese handelte. Jeder zehnte Grundkursabsolvent arbeitete sporadisch oder kontinuierlich mit AT-Gruppen. Die Arbeit der damaligen Ärzteberatungskommission

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

wurde qualifiziert, manche Fehlentwicklung, Chronifizierung, Berufsunfähigkeit, z. B. für Verkehrsberufe, und auch manche Invalidisierung/Frühberentung ließ sich vermeiden. Im Jahre 1984 hatten wir mit »Psychotherapie in der Grundbetreuung – Probleme, Erfahrungen, Konzepte« (D. Seefeldt, unveröffentlichtes Manuskript, 250 Seiten) eine Zwischenbilanz unserer psychotherapeutischen Weiterbildungsaktivitäten für die allgemeinmedizinische Grundbetreuung gezogen. In dem Manuskript berichten Fachärzte für Allgemeinmedizin über ihre Erfahrungen mit der Psychotherapie. Diese Kollegen waren in unterschiedlichen Bereichen tätig. Sie arbeiteten als Einzelkämpfer auf dem Dorf, als Leiter eines Land-Ambulatoriums oder als Betriebsärzte in Klein-, Mittel- und Großbetrieben oder in Einrichtungen mit spezifischem Charakter. Sie arbeiteten als Bereichsarzt in einer Kleinstadt, in der Stadt Potsdam oder auch als Ärztlicher Direktor einer großen Kreispoliklinik. Sie alle einte das Engagement für die Psychotherapie. In ihren Beiträgen gingen die Kollegen zunächst von ihrem Insuffizienzerleben vor der Psychotherapieweiterbildung aus. Sie erläuterten dies mit Kasuistiken und mit zum Teil beeindruckenden Krankheitsodysseen. Übereinstimmend meinten sie, für etwa ein Drittel ihrer Klientel nicht gerüstet zu sein. Andererseits beschrieben sie durch die zum Teil über mehrere Jahre laufende Psychotherapie-Weiter- und Fortbildung einen vielfachen Gewinn, der sowohl Persönliches betraf wie auch die Arbeit mit den Patienten. Insgesamt wurde festgestellt, dass man für sog. Problempatienten besser ausgerüstet sei, sie leichter diagnostizieren, schneller und adäquater behandeln oder gezielter an Fachpsychotherapeuten überweisen könne. Die meisten Kollegen arbeiteten auch mit AT-Gruppen, die sie oft recht dynamisch führten. Unter diversen Supervisionen und begleitender Balint-Gruppenarbeit leisteten die psychotherapiequalifizierten Allgemeinmediziner jener Ära oft hochqualitative und sehr effektive Psychotherapie. 1988 veranstaltete die Potsdamer Regionalgesellschaft gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Medizinische Psychologie und Psychotherapie in der Allgemeinmedizin ein wissenschaftliches Symposium mit dem Rahmenthema »Psychotherapie in der allgemeinmedizinischen Grundbetreuung«. An der dreitägigen Veranstaltung nahmen etwa 300 Ärzte und Psychologen teil. Einerseits stellte das Symposium eine Positionsbestimmung der Integration von Medizinischer Psychologie und Psychotherapie in der Allgemeinmedizin unter den Bedingungen des staatlichen Gesundheitswesens in der DDR des Jahres 1988 dar, andererseits waren die Vorboten der politischen Veränderungen in der DDR unübersehbar. Obwohl unter Herzklopfen der Organisatoren und gegen erhebliche Widerstände durchgesetzt, war es insbesondere der überwiegend durch Arbeit in Gesprächsgruppen charakterisierte Tagungskomplex »Beziehungsaspekte« mit dem Rahmenthema »Arzt, Patient, Gesellschaft«, der die Vorboten der politischen Wende in der DDR deutlich machte. Es ist wohl bezeichnend, dass der Tagungsbericht zum Themenkomplex »Arzt, Patient, Gesellschaft« trotz mehrfacher Überarbeitung durch die fachpolitischen Medien nicht veröffentlicht worden war. Auf dem Symposium hatten u. a. drei Allgemeinmedizinerinnen aus dem Bezirk Potsdam je ein gleichnamiges Referat »Über Grundkurs und Autogenes Training zur fachspezifischen Psychotherapie« gehalten.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Nachfolgend zitieren wir aus den Beiträgen von Frau M. Czapp und L. Lorenz. Frau Czapp hatte zunächst von ihrem Unbehagen durch überwiegend somatische Ausbildung und Konzepte gesprochen. Sie berichtete weiter, dass Gefühl und praktische Arbeit sich durch die ersten Psychotherapieweiterbildungen verbessert hatten. Frau Czapp beschrieb auch eine »echte Lebenshilfe in meiner familiären Situation als Mutter eines körperbehinderten Kindes«. Neue Verunsicherungen führten sie zur Teilnahme an Aufbaukursen und Balint-Gruppen; ein Weg, den sie unbedingt für sich und ihre Patienten fortsetzten wollte (Czapp 1988). Frau Lorenz machte als Betriebsärztin der Volkseigenen Handelsorganisation in der damaligen Bezirksstadt Potsdam die Erfahrung, »dass viele Patienten mit herkömmlichen Methoden nicht gesund wurden. Organkrankheiten hatten bei Patienten und Kollegen ein höheres Ansehen. Hatten die beklagten Beschwerden einen Namen, war man eher Herr der Dinge. [...] Aus dieser Situation heraus, den Umgang mit psychonerval gestörten Patienten zu verbessern und die eigene Hilflosigkeit zu kompensieren, nahm ich 1977 an der Bezirksakademie Potsdam an einem psychologisch-psychotherapeutischen Grundkurs teil.« Für Frau Lorenz war dies nur die erste Etappe eines Psychotherapieengagements, das sie mit vielfältigem Gewinn zur Fachspezifischen Psychotherapie einschließlich einer Promotion über psychonervale Störungen bei ihren Patienten führte (Lorenz 1985). Diese verbalen Aussagen sollen nachfolgend durch weiterführende Informationen und Untersuchungen belegt werden.

Methodische Aspekte Ein Bildungsmodell kann man sowohl unter dem Aspekt der internen Validierung, der Kontrolle des eigentlichen Weiterbildungsprozesses wie auch unter dem Aspekt der externen Validierung, der Praxisbewährung, überprüfen. Wir haben beide Wege beschritten.

Überprüfung des Bildungsmodells – interne Validierung Die Modellüberpüfung im Sinne einer internen Validierung führte u. a. zu folgenden Teilergebnissen (Seefeldt 1989a): – Das Bildungsmodell entspricht nach Inhalt, Organisationsform und Methodik den Bedürfnissen der in der Grundbetreuung tätigen Ärzte (Ergebnisse zweier Befragungen auf dem Jahreskongress für Allgemeinmedizin und innerhalb der Bezirksgesellschaft Potsdam sowie Kurseinschätzungen an der Bezirksakademie Potsdam). – Im Potsdamer Psychotherapiegrundkurs erlernen die Teilnehmer selbst erfolgreich Autogenes Training (diesbezügliche Analyse in den Kursen 1–8). – Mehrjähriges Psychotherapieengagement scheint die Einstellung und Haltung von Ärzten im Sinne einer größeren Selbststabilität zu verändern (Vergleich von Beschwerdenfragebogen [BFB] und Verhaltensfragebogen [VFB] zwischen Grund- und Aufbaukursen sowie Ergebnissen des Fragebogens Veränderung des Erlebens und Verhaltens [VEV]). – Über das Potsdamer Psychotherapiebildungsmodell gelingt es, geeignete, in der Allgemeinmedizin tätige Psychotherapeuten zu entwickeln (Analysen, individuelle Entwicklungen).

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

Überprüfung des Bildungsmodells – externe Validierung Im Sinne einer externen Validierung bieten sich für eine Überprüfung des Bildungskonzeptes u. a. folgende Zugänge an: die Zahl der in der Praxis psychotherapeutisch arbeitenden Grund- und Aufbaukursabsolventen, das für eine Psychotherapie genutzte Arbeitszeit­ volumen, Betreuungszahlen unter dem Aspekt der Psychotherapie, die veränderte Betreuungssituation in einem definierten Territorium, die Beeinflussung von Krankenstand und Medikamentenverbrauch durch Allgemeinmedizinische Psychotherapie sowie die in allgemeinmedizinischer Psychotherapie verbesserte Personal- und Betreuungssituation. Die Psychotherapieweiter- und -fortbildungsaktivitäten führten dazu, dass Geyer in der Fachgebietskonzeption Psychotherapie 1987 bereits feststellte: »Eine befriedigende Entwicklung ist im allgemeinmedizinischen Sektor lediglich im Bezirk Potsdam und lokal konzentriert in einigen Kreisbezirken anderer Bezirke zu verzeichnen.« So wurde bei einer 1986 von der interdisziplinären Arbeitsgruppe Medizinische Psychologie und Psychotherapie in der Allgemeinmedizin durchgeführten Befragung ermittelt, dass in der DDR 145 Allgemeinmediziner methodisch-psychotherapeutisch arbeiteten. Davon waren allein 51 im Bezirk Potsdam tätig (Stand 1988: 61). Legt man für die DDR 8500 und für den Bezirk Potsdam 487 Allgemeinmediziner (Stand 1988) zugrunde, dann wäre der Anteil der in der Republik bzw. im Bezirk Potsdam psychotherapeutisch tätigen Allgemeinmediziner mit 1,705 % bzw. 10,472 % auszuweisen. Bei dieser Befragung wurden in der Reihenfolge folgende Psychotherapiemethoden genannt: Einzelgespräche unterschiedlicher Art, Autogenes Training, verschiedene Gruppentherapien, insbesondere Gruppen zur Veränderung des Risikoverhaltens, Hypnose, andere Relaxationstechniken, Verhaltenstherapie. Der Bezirk Potsdam stellte auch etwa ein Drittel jener Kollegen, die im DDR-Maßstab für die fachspezifische Qualifizierung (vergleichbar dem Zusatztitel) in Psychotherapie im Fach Allgemeinmedizin vorgesehen waren. Bereits im Jahre 1986 hatten die ersten sechs Kollegen aus unserer Gruppe beim zuständigen Ministerium einen diesbezüglichen Antrag gestellt. Bärbel Oestreich hat uns für diesen Beitrag die damals eingereichte Aufstellung ihrer Psychotherapieweiter- und -fortbildungen überlassen. Aus Platzgründen kann dies nicht übernommen werden. Aber erwähnenswert ist, dass damals schon über mehrere Jahre mit Tonbandaufnahmen von Patientengesprächen gearbeitet worden war. Auch sind videoüberwachte Rollenspiele der Arzt-Patient-Konstellation Bestandteil der Vorbereitung gewesen. Sie teilt mir in einem Brief mit, dass ihre Akzeptanz als »Psycho-Konsilarius« deutlich verbessert sei. Frau Oestreich brachte auch in Erinnerung, dass wir gemeinsam in einem Elektronikbetrieb, in dem sie als Betriebsärztin tätig war, das erste jemals in der DDR in Kleinserie produzierte Biofeedbackgerät entwickelt hatten (Seefeldt u. Oestreich 1987). Durch die allgemeinmedizinisch tätigen Ärzte, die konkrete Zahlenangaben machen konnten, werden durchschnittlich etwa 40 Patienten psychotherapeutisch behandelt bei durchschnittlichen viereinhalb Stunden pro Woche. Viele Kollegen gaben darüber hinaus zahlenmäßig schlecht zu erfassende psychotherapeutische Aktivitäten in der täglichen Sprechstunde an. In Einzelfällen (s. a. abrechenbare Ergebnisse in Forschungskonzepten und in von uns betreuten Dissertationen) wurden erhebliche Patientenbetreuungszahlen nachgewiesen. (Seefeldt 1989). Von den ursprünglich für die zum Autogenen Training vorgesehe-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

nen zwölf Fachärzten für Allgemeinmedizin waren im Zeitraum von drei Jahren insgesamt 2022 Patienten allein mit dem Autogenen Training behandelt worden. Man kann also allein hier von 26.000 Psychotherapie-Konsultationen ausgehen. Wie sich die veränderte Betreuungssituation im Bezirk in einzelnen Kreisen auswirkt, ist auch näher analysiert worden. Hier kam es zum Teil zu hochsignifikanter Verbesserung der Betreuungsqualität. Die Teilbilanz wurde 1990 aktualisiert mit dem Material »Konzeptionelle Vorstellungsverbesserung der medizinpsychologischen und psychotherapeutischen Versorgung im Bezirk«. Vorstehende allgemeine Äußerungen sollen durch ein konkretes Beispiel verdeutlicht werden. So hat Wolfgang Loesch nach eigenen Worten mit der Teilnahme an unserem dritten Psychotherapiegrundkurs überhaupt erst Kontakt mit der Psychotherapie bekommen. Er hat in den darauf folgenden Jahren die gesamte Bildungspyramide durchlaufen. Zuzüglich zentraler Veranstaltungen und weiterer obligater Qualifikationen hat er sogar den Facharzt für Psychotherapie erworben. Loesch hat 1984 mit einem Psychotherapiethema promoviert. In der Arbeit wurde die Auswirkung der erworbenen Psychotherapiekenntnisse und -methoden auf eine spezielle Krankheitsgruppe seiner Klientel untersucht. Später war er auch an der Weiterbildung beteiligt – insbesondere mit der Führung von Balint-Gruppen. In den Jahren nach 1990 hat er ein Psychotherapie-Weiterbildungsinstitut betrieben und hier speziell eine Methode zur imaginativen Therapie bei organischen Erkrankungen kreiert.

Die effektive Beeinflussung der gesamten Klientel bzw. funktioneller und psychosomatischer Erkrankungen durch allgemeinmedizinische Psychotherapie Nachfolgend seien nur zwei aus einem ganzen Komplex im Rahmen bezirksgeleiteter Initiativforschung zur Effektivität der Psychotherapie in der Allgemeinmedizin durchgeführter Untersuchungen, die zum Teil mit Dissertationen abgeschlossen worden sind, kurz skizziert (Ehrenpfordt 1983 und Loesch 1984). Ehrenpfordt wies u. a. nach, dass die Einbeziehung der Psychotherapie in das Behandlungsrepertoire eines Facharztes für Allgemeinmedizin dessen Klientel in einer erwünschten Richtung beeinflusst. So war im Jahr nach der Behandlung eine signifikante Senkung der Arbeitsunfähigkeit, des Medikamentenverbrauchs und der Konsultationshäufigkeit zu verzeichnen (Ehrenpfordt 1983). Durch die Psychotherapie lassen sich auch unter den Bedingungen der Allgemeinmedizin funktionell-neurotische/psychosomatische Erkrankungen erfolgreich mit Langzeiteffekt behandeln. Dies konnte Loesch am Beispiel des essentiellen arteriellen Hypertonus nachweisen. Ein methodenkombiniertes psychotherapeutisches Programm beeinflusste bei 115 Patienten im Vergleich zum Vorjahr signifikant die Blutdruckparameter, den Medikamentenverbrauch und die Arbeitsunfähigkeit (Verminderung um mehr als 50 %) (Loesch 1984).

Eine Katamnese zum Effekt des Autogenen Trainings in der Allgemeinmedizin Als bedeutsamster Teil der praxisorientierten Modellüberprüfung ist eine im Rahmen eines bezirksgeleiteten Forschungsprojektes durchgeführte Katamnese zum Effekt des Autogenen Trainings zu sehen (Seefeldt 1989a). Aus der Sicht von Patienten (69,6 %) und der Therapeuten (52,4 %) wurde ein gutes bis sehr gutes Gesamtergebnis erzielt. Neben der Beeinflussung

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

sog. »weicher Parameter« wirkte sich das Autogene Training als angemessene Behandlungsmethode der vorliegenden Störungen/Erkrankungen mittelbar günstig auf Medikamentenverbrauch und Arbeitsunfähigkeit aus. Für 703 in die Medikamentenberechnung eingegangene Patienten sind im Jahr nach dem Autogenen Training die Medikamentenkosten um 44 % reduziert worden. Insgesamt waren für 827 Patienten für das Jahr vor dem Autogenen Training 21.022 Arbeitsausfalltage bei einem Durchschnittswert von 25,4 Ausfalltagen pro Jahr für den einzelnen Patienten zu ermitteln. Für das Jahr nach der Behandlung kam es zu einer Senkung auf 11.839 Tage. Dies entspricht einer Senkung der im Sozialversicherungsausweis dokumentierten Arbeitsausfallzeiten um 44,7 %.

Kosten-Nutzen-Aspekte Kosten-Nutzen-Rechnungen untersetzen die Ergebnisse der unter dem Praxisaspekt durchgeführten Erfassungen der Arbeitsunfähigkeitszeiten und Medikamenteneinnahmen und erhöhen deren gesundheitspolitische Wertigkeit. Der Autor hat unter dem Kosten-NutzenAspekt die Hypertonus-Studie von Loesch (1984) und die Katamnese zum Autogenen Training betrachtet (Seefeldt 1989a, 2001).

Zur Information Die vorstehend nur skizzierten Arbeiten sind breiter dargestellt in einer 1989 verteidigten und nicht publizierten Promotion B (Habilitationsarbeit). Weshalb wurde das Material bisher nicht publiziert? In der Umbruchsituation, von manchen »Wende« genannt, gab es in diesem Teil Deutschlands zu jener Zeit viel Existentielles zu tun. Dies galt auch für mich, ging es doch darum, Kliniken vor der »Abwicklung« zu bewahren bzw. neue zu bauen. Andererseits glaubte man, die in der DDR gewonnenen Erkenntnisse, geschaffenen Strukturen und erarbeiteten Konzepte seien nicht mehr gefragt. Es war auch tatsächlich so. Bewährtes wurde zunächst zerschlagen. Dies galt u. a. auch für die Allgemeinmedizin mit einer verbindlichen sehr soliden fünfjährigen Weiterbildung. In manchen Bezirken, gehörte dazu auch eine Psychotherapiequalifikation. Gemeinsam mit Meumann, dem damaligen Vizepräsidenten der Europäischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin, hatten wir 1980 nach verschiedenen Kriterien, und insbesondere auch mit dem Anliegen der Erfassung einer Psychotherapieweiter- und -fortbildung, in der Allgemeinmedizin eine europaweite Befragung durchgeführt. Bei der großen Zahl eingegangener Rückmeldungen, sogar aus dem zur europäischen WHO-Regionalgruppe gehörenden Israel, ließ sich repräsentativ einschätzen, dass die damalige Spitzengruppe in der Weiter- und -fortbildung in der Allgemeinmedizin repräsentiert worden ist durch die DDR, Großbritannien und die Niederlande.

Weshalb kommen wir jetzt darauf zurück? Inzwischen verändern sich mancherorts Einstellung und Wertigkeit. In der Bundesrepublik ist über die zunächst dreijährige obligate Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

eine vierjährige und inzwischen fünfjährige im Gespräch. In diesem Rahmen ging es Ende 1998 vor Gremien der Bundesärztekammer um Weiterbildungsinhalte für die Allgemeinmedizin. Herr Petzold und Herr Scheerer als Fach- und Interessenvertreter der Psychosomatik konnten nach zunächst ungünstigen Voten mittels der von mir angeforderten Untersuchungen und Ergebnisse erreichen, dass für eine Art Theoriekurs als wesentliche Bildungsinhalte der Allgemeinmedizin die Psychosomatik erhalten blieb. Aus diesem Grund regte Herr Petzold an, die Arbeiten 1999 auf der von ihm geleiteten 49. DKPM-Jahrestagung in Aachen zu referieren und auch zu publizieren. Dies geschah in einer sich erheblich gewandelten Medizinlandschaft in Deutschland, die sich in weiterer Veränderung befindet. Insbesondere galt dies für die allgemeinmedizinische Grundbetreuung und die politisch gewollte Aufwertung des Primärarztes. In einem Buch zur Psychotherapiesituation in der DDR sollten die Untersuchungen aus dem Bezirk Potsdam nicht fehlen. Wenn auch im Gesundheits-/Sozialwesen oft der Mangel verwaltet werden musste, so existierten andererseits doch Strukturen, die viel Sinnvolles im Sinne bedürftiger Patienten ermöglichten und die durch engagierte Ärzte ausgefüllt worden sind.

Schlussfolgerungen Mit der Realisierung eines Psychotherapie-Bildungsprogramms und dessen Effizienzüberprüfung im ehemaligen Bezirk Potsdam ist bewiesen worden, dass es prinzipiell und real möglich ist, medizinisch-psychologische Kenntnisse, psychodiagnostische Verfahren und Methoden der Psychotherapie in die Allgemeinmedizin einzuführen. Gezielt eingesetzte Psychotherapie ist unter den Bedingungen der Allgemeinmedizin sehr effektiv, was sich u. a. an der Sprechstundenqualität, dem Medikamentenverbrauch, der Senkung der Arbeitsunfähigkeit belegen lässt. Kosten-Nutzen-Rechnungen erhärten diese Aussagen. Wir betrachten unsere über Jahrzehnte kontinuierlich durchgeführten Arbeiten und Untersuchungen auch als Denkanstöße und Orientierungshilfen für die Psychotherapieweiter- und -fortbildungen von Allgemeinmedizinern in der gegenwärtigen Bundesrepublik Deutschland. Für eine erfolgreiche Integration der erworbenen Psychotherapiekenntnisse, -fähigkeiten und -fertigkeiten in die Praxis müssen jedoch auch die erforderlichen Rahmenbedingungen gegeben sein!

5.8.3 Helmut Röhrborn: Die Regionale Arbeitsgemeinschaft Wismut der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie Das Gesundheitswesen Wismut war eine zentral geleitete überregionale Einrichtung für die Betreuung der Bergarbeiter und der Beschäftigten der sog. Nebenbetriebe sowie deren Familienangehörigen innerhalb der SDAG Wismut, die den Uranbergbau in der DDR betrieb. Seine Zentrale befand sich wie die der SDAG in Siegmar, einem Stadtteil der damaligen Karl-Marx-Stadt. Es unterstand direkt dem Ministerium für Gesundheitswesen, war keinem der Bezirke zugeordnet und verfügte über ein Arbeitshygienisches Zentrum, Schacht- und Betriebsambulatorien, Krankenhäuser, Bergarbeitersanatorien und Bergarbei-

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

terpolikliniken vor allem in den Bezirken Karl-Marx-Stadt und Gera. Die erhebliche Kapazität vor allem der Krankenhäuser wurde mit dem Rückgang der Beschäftigtenzahlen auch für die Versorgung der Bevölkerung genutzt. Psychotherapie im Gesundheitswesen Wismut gab es seit den 1950er Jahren. So war in der zentralen neurologisch-psychiatrischen Klinik im Bergarbeiterkrankenhaus Zwickau erstmals in der DDR ein Klinischer Psychologe beschäftigt. Klinische Psychologen gab es später in einigen Polikliniken, Bergarbeitersanatorien und natürlich in der stationären Psychotherapie in Erlabrunn (} Abschnitt 2.6.3). Für die einzelnen klinischen Fachgebiete wurden sog. Arbeitskreise geschaffen, deren Aufgaben in der Beratung der Direktion in Fachfragen, der Förderung der Zusammenarbeit der verschiedenen Einrichtungen, der Weiter- und Fortbildung im Fachgebiet einschließlich der Facharzt-Weiterbildung sowie auch der Wissenschaft bestanden. Die Vorsitzenden waren damit beratende Ärzte des Gebietsarztes für ihr jeweiliges Fachgebiet. Sie wurden von ihm für jeweils zwei Jahre berufen und waren rechenschaftspflichtig. Seit 1973 gab es ein Statut für die Arbeit der Arbeitskreise. Alle psychotherapeutisch Tätigen sollten in einem Arbeitskreis vereinigt werden. So erging im November 1979 an mich als dem Leiter der Erlabrunner Klinik die Aufforderung, einen solchen psychotherapeutischen Arbeitskreis aufzubauen, in dem Ärzte und Psychologen, aber auch mittlere medizinische Fachkräfte, die später sog. Spezialtherapeuten, zusammenarbeiten sollten. Absicht war, die Arbeit der Psychotherapeuten in den verschiedenen Einrichtungen zu koordinieren, das Fachwissen für die Weiterbildung für Ärzte aller klinischen Fachgebiete, besonders aber der Betriebsärzte zu nutzen und dadurch die Betreuung der Betriebsangehörigen zu verbessern. Das war eine frühe Form einer Psychosomatischen Grundversorgung, wenn auch der Begriff »Psychosomatik« hinter dem Sprachgebrauch »funktionelle Erkrankungen« und »Psychotherapie« verborgen war. Zunächst wurde eine Initiativgruppe gebildet, der neben dem kommissarischen Vorsitzenden je zwei ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten aus verschiedenen Einrichtungen, z. B. auch der Nervenklinik des Gesundheitswesens Wismut, angehörten. Eine Streitlage zwischen Psychiatrie und Psychotherapie, heute müsste von Psychosomatik gesprochen werden, gab es also damals wie auch bis zum Ende nicht, obschon der Facharzt für Psychotherapie als Zweitfacharzt seit 1978 existierte und auch bereits zwei Fachärzte an der Gründung beteiligt waren. Nach mehreren vorbereitenden Sitzungen der Initiativgruppe erfolgte am 14. Mai 1980 die konstituierende Sitzung des Arbeitskreises im Gruppentherapieraum der Klinik für Funktionelle Erkrankungen in Erlabrunn. Es nahmen 24 Ärzte, Psychologen und sog. Spezialtherapeuten teil Es wurde ein Vorstand gewählt, der die Psychotherapie im Gesundheitswesen Wismut repräsentierte. Der Arbeitskreis war durch Vorstandsbeschluss seit 7. Mai 1980 auch in die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR als Regionale Arbeitsgemeinschaft Wismut eingebunden. In letzterer gingen bisher relativ selbständige Arbeitskreise der unterschiedlichen Berufsgruppen auf, was einen dynamisierenden und integrierenden Effekt für die Psychotherapie hatte. Die Verbindung hat sich förderlich ausgewirkt. So stand z. B. die Gebietsakademie des Gesundheitswesens Wismut in Schlema bei Aue im Erzgebirge mit Räumen und Unterkünften einschließlich Verpflegung für Veranstaltungen, Wochen- und Wochenend-

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kurse unkompliziert und nahezu kostenfrei zur Verfügung. Die jährliche Rechenschaftspflicht vor dem Gebietsarzt über die Arbeit zur Erfüllung der fachlichen Aufgaben des Arbeitskreises unterstützte die Realisierung der Aufgaben, auch Freistellungen für die Mitglieder innerhalb ihrer jeweiligen Einrichtungen. Die beratende Funktion für Psychotherapie wurde tatsächlich in Anspruch genommen, beispielsweise durch die Berufung des Vorsitzenden in den wissenschaftlichen Rat des Gebietsarztes, hier besonders zur Unterstützung der arbeitsmedizinischen Belange durch psychotherapeutisches Fachwissen. In diesem Gremium sowie in den regelmäßigen Treffen der Vorsitzenden der Arbeitskreise war die Möglichkeit von Kontakten zu den anderen Fachgebieten und für die Anbahnung von gemeinsamen Arbeiten gegeben. So wurde z. B. am Hypertonie-Bekämpfungsprogramm und einem Programm zur Rehabilitation von Patienten nach Herzinfarkt des Gesundheitswesens Wismut, bei denen die Federführung bei den Internisten lag, von Arbeitskreismitgliedern mitgearbeitet. Es gab auch gemeinsame Arbeitskreissitzungen mit anderen Fachgebieten zu gemeinsam interessierenden Themen u. a. mit den Nervenärzten, den Internisten und Betriebsärzten. Psychotherapeuten wurden zu Vorträgen zu anderen Fachgebieten eingeladen, wodurch zunehmend Ärzte dieser Fachgebiete auf die wachsenden Möglichkeiten der Psychotherapie im Gesundheitswesen Wismut aufmerksam wurden. Der Erfolg dieser Bemühungen zeigte sich an der Zunahme von Überweisungen zu stationärer und ambulanter Psychotherapie. Psychologen bildeten eine Arbeitsgruppe Psychodiagnostik, die sich über Jahre mit Problemen der psychologischen Testdiagnostik befasste und sich vor allem um die Einführung von Tests sowie die Materialbeschaffung für die Anwendung in der Praxis kümmerte. Weiter wurden Materialien für die Therapie wie Merkblätter für das Autogene Training und die Regulative Musiktherapie nach Schwabe, verschiedene Formulare sowie eine Eigenentwicklung eines Gruppenverlaufstestes zur Therapieprozesskontrolle in der Regulativen Musiktherapie (Röhrborn 1976b) vervielfältigt und den Mitgliedern zur Verfügung gestellt. Eine weitere Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der Entwicklung von Psychotherapie und Physiotherapie in den Kureinrichtungen des Gesundheitswesens Wismut und erarbeitete dazu Konzeptionen, die teilweise mit der heutigen Arbeitsweise psychosomatischer Rehabilitationskliniken vergleichbar sind. Wesentlich für den Zusammenhalt der Mitglieder und ihre fachlichen Kontakte waren die jährlichen Frühjahrs- und Herbstsitzungen, die neben dem kollegialen Austausch immer aktuellen Themen der Psychotherapie gewidmet waren. Dabei wurden auch zweitägige Veranstaltungen mit bekannten Referenten aus der DDR durchgeführt. So wurde die Frühjahrstagung in Zwickau mit Dr. Höck und Frau Dr. Hess vom Haus der Gesundheit Berlin sowie Prof. Dr. Weise von der Psychiatrischen Klinik der Karl-Marx-Universität Leipzig und die Herbsttagung 1981 vom 4.–5. Dezember gemeinsam mit der Arbeitsgruppe »Weltanschauliche und ethische Probleme der Psychotherapie« zum Thema »Ethische Probleme in der psychotherapeutischen Praxis« mit Prof. Dr. Thom, ebenfalls Leipzig, veranstaltet. Im Ergebnis gab es eine Veröffentlichung eines Mitglieds der Arbeitsgemeinschaft (Röhrborn 1985). Als eine wesentliche Aufgabe galt von Anfang an die Vermittlung psychotherapeutischer Kompetenz an die Ärzte des Gesundheitswesens Wismut. Dazu wurde ein Grundkurs Neurosenlehre und Psychotherapie in Anlehnung an die Kurse der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie als Wochenkurs mit geschlossener Unterbringung in der Gebietsakademie

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5.8  Regionalarbeit, Balint-Arbeit und Psychosomatische Grundbetreuung

Schlema ausgestaltet. Ein erster Kurs vom 21.–26. September 1981 hatte guten Erfolg, so dass bis 1989 jährliche Wiederholungen stattfanden. Leider gelang es nicht, den Kurs für Ärzte in der Weiterbildung zum Facharzt verbindlich zu machen. Später wurde ein Kurs »Ärztliches Basisverhalten« mit Gesprächstraining und Anteilen von Selbsterfahrung gestaltet, der gemeinsam mit der Regionalgesellschaft Karl-Marx-Stadt nach der Wiedervereinigung im Herbst 1990 in der Bezirksakademie für Gesundheits- und Sozialwesen im Schloss Lichtenwalde zum letzten Mal durchgeführt wurde. Ein Vergleich mit den heutigen Ausbildungsprogrammen Psychosomatische Grundversorgung zeigt, dass diese Inhalte hier bereits in den 1980er Jahren vermittelt wurden. Mit Absolventen des ersten Kurses Neurosenlehre und Psychotherapie begann auch die Balint-Arbeit, allerdings »Problemfallseminar« genannt, da der Originalbegriff aus ideologischen Gründen in der DDR nicht verwandt werden konnte. Angelehnt an die Problemfallseminare, die Prof. Dr. Wendt in der Bezirksnervenklinik in Uchtspringe an verlängerten Wochenenden DDR-offen durchführte, wurde eine ähnliche Veranstaltung an sechs Terminen pro Jahr seit 1982 angeboten. Es entwickelte sich eine über Jahre relativ stabile Teilnehmerschaft. Nach dem Ende des Gesundheitswesens Wismut wurde diese Tradition, nun unter der Originalbezeichnung »Balint-Gruppe«, im Rahmen des Sächsischen Weiterbildungskreises für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin weitergeführt. Von Anfang an wurden auch Weiterbildungsveranstaltungen für mittleres medizinisches Personal aus psychotherapeutischen Einrichtungen sowie der somatischen Medizin durchgeführt. Der Zuspruch war gut. Im Rahmen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und ihrer fachlichen Gliederungen arbeiteten viele Mitglieder der AG intensiv mit. Ohne dieses Engagement hätte die AG das große Arbeitspensum, von dem nur ein Teil geschildert wurde, nicht bewältigen können. Ende der 1980er Jahre wurde vom Arbeitskreis auf Anforderung des Gebietsarztes noch eine ausführliche Konzeption zur Entwicklung der Psychotherapie im Gesundheitswesen Wismut 1991 bis 1995 vorgelegt, die aber mit dem Ende der DDR hinfällig wurde. Folgerichtig trafen sich am 23. November 1990 Mitglieder am Ort der Gründung in Erlabrunn und beschlossen die Auflösung. Die Mitglieder wurden aufgefordert, sich neugegründeten Vereinigungen anzuschließen, die dem integrativen Charakter der Psychotherapie weiterhin Rechnung tragen wollten. Die verbliebenen Finanzen wurden dem Deutschen Arbeitskreis für Psychosomatische Medizin zur Verfügung gestellt. (Von den erwähnten internen Dokumenten sind mir weder neutrale Standorte noch Versionen bekannt, die korrekt zitiert werden könnten. Sie befinden sich jedoch in meinem Privatarchiv und können auf Anfrage zugänglich gemacht werden.)

5.8.4 Wolfram Zimmermann: Kooperation der Leipziger Universität mit einem Kreiskrankenhaus – eine ungewöhnliche »Partnerschaft« für Medizinische Psychologie und Psychotherapie In diesem Abschnitt soll über eine in knapp drei Jahrzehnten realisierte, rückblickend so ungewöhnliche wie kreative Partnerschaft zwischen »Funktionseinheit Kreiskrankenhaus-

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Kreispoliklinik Bernau«, FKKB, an der ich bis zur Wende tätig war, und der damaligen Sektion Psychologie an der Karl-Marx-Universität Leipzig berichtet werden. Ende des Jahres 1971 wandte sich der damalige Bereichsleiter Dr. J. Guthke an meinen damaligen Vorgesetzten (Prof. Dr. G.Witzlack) mit der Frage der Mitarbeit eines Kollegen und mir an einer Reihe von Forschungsvorhaben zur Persönlichkeitsdiagnostik von Kindern. Die Persönlichkeitsdiagnostik sollte indikations- wie therapie- und entwicklungsbezogen gestaltet werden. Wir beiden Angesprochenen waren damals bereits im Bereich klinischer und therapieorientierter Entwicklungsdiagnostik beschäftigt. Dies war die Geburtsstunde einer besonderen universitären Kooperation. Diese Partnerschaft, begründet durch einen auch administrativ fixierten »Kooperationsvertrag« beider Partner, entwickelte sich aus zwei wesentlichen Linien und fachlichen Grundintentionen: erstens einem durch damals rasante wissenschaftliche Entwicklungen aktivierten unmittelbaren Interesse an einer methodischen Weiterentwicklung der Medizinischen Psychologie und Psychotherapie in Richtung einer dringend notwendigen real handlungs-, interaktionsund prozessorientierten, lebensnahen Persönlichkeitsdiagnostik (Individualdiagnostik) für Kinder/Jugendliche, die therapie- und indikationsorientiert sein sollte. Nach Jahrzehnten der Stagnation auf Fragebogen-Ebene sollten nunmehr direkt therapie- und interventionsorientierte wie auch prozess- und handlungsbezogen Inventare entwickelt werden. Zweitens gab es besonders in Leipzig und Rostock (Prof. Guthke, Prof. Roether u. a.) in den 1970er Jahren, forciert aber in den 1980er Jahren, intensive Bemühungen und auch viele klinischpraktische Realisierungen dieses Grundgedankens in der Leistungsdiagnostik; also einer auf die adaptive Lern- und Veränderungskompetenz und die Lernfähigkeit im Prozessverlauf selbst gerichtete Psychodiagnostik. Genau diese Grundintention sollte in einer therapie- und indikationsorientierten Persönlichkeits- und Charakterdiagnostik auf eine individuelle Persönlichkeitsdiagnostik bei Kindern/Jugendlichen übertragen werden. Dies war auch im europäischen Maßstab ein neuer Ansatz (Guthke 1996b), der nicht ohne Zweifler blieb. Vor allem für die Psychotherapie von Kindern mit defizitärem, sozial störendem Verhalten, bei denen es um den Aufbau eines prosozial-kooperativen und kompetenten Verhaltens ging, mussten gänzlich neue Wege beschritten werden. Im Laufe von zwei Phasen wurde dies in Angriff genommen: In einer ersten Phase (etwa bis 1979) ging es, nachdem wir schrittweise Abschied von der reinen Fragebogenmethode nahmen, um eine erste Hinwendung auf reale Handlungsbezüge mit einer direkten Therapie- bzw. Indikationsorientierung. Damals wurde etwa mit sog. fiktiven Situationstests (Schmidt u. Zimmermann 1974; Zimmermann 1976, 1995) gearbeitet. In einer zweiten Phase (ab 1980 bis 2000) erfolgte dann die dieses neue Paradigma nutzende Entwicklung experimentell-fundierter, handlungs-, indikations- und prozessorientierter und psychometrisch-standardisierter Untersuchungsverfahren (Handlungstests). Dieser Prozess erstreckte sich über 15 Jahre. Parallel zur Forschung beteiligten wir uns an den Vorlesungen des Psychologischen Universitätsinstituts. Schließlich konnten wir vier klinisch- anwendungsbereite Inventare testen (Zimmermann 1989, 1995). Dies geschah in einer nicht nur für DDR-Verhältnisse ungewöhnlichen Kooperation zwischen einem Diplom-Psychologen aus der sog. »medizinischen Grundbetreuung« und einer psychologischen

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Universitätseinrichtung. Der persönliche Ertrag dieser Zusammenarbeit bestand neben der Nutzbarmachung der selbst entwickelten Verfahren in der eigenen klinischen Praxis in der Promotion und Habilitation im Rahmen einer »außerplanmäßigen Habilitations-Aspirantur«, die vom Hochschulministerium der DDR nach langen Prozeduren genehmigt wurde. Vergleichbares gab es sonst nur bei Tätigkeiten von Kollegen an speziellen Universitätskliniken bzw. großen medizinischen Bezirkseinrichtungen. Die sich ab 1984 entwickeltende Zusammenarbeit zwischen Praxis und Universität erfolgte z. B. über die Beteiligung an Diagnostik-Seminaren, später dann auch über Teilnahme an universitären Kolloquia, die Ausarbeitung von Lehrmaterialien und Manualen für die studentische Ausbildung auf diesem Gebiet, durch Vorträge/Seminare bei universitätsinternen Fortbildungen und über die Mitarbeit an Fachpublikationen (vgl. Schmidt u. Zimmermann 1974; Zimmermann 1976). Parallel dazu entwickelten sich an der damaligen Sektion Psychologie der Universität etwa ab 1984/1985 sog. »Sommer- und Winterschulen«, in denen während der Semesterpausen fachliche Weiterbildungen für Diplom-Psychologen, Ärzte und andere wissenschaftlich Interessierte angeboten wurden und in die die damaligen Kooperationspartner einbezogen wurden. Mit dieser neuen Einrichtung wurde dann eine Kooperationsvereinbarung zwischen der FKKB und der Universität Leipzig unterzeichnet, deren erstes Anliegen die Realisierung einer »außerplanmäßigen Habilitationsaspirantur« wurde (einzige »Bedingung« war, die ich aber gern einging, dass ich mich zu einer Mitarbeit an der Praxiseinrichtung für weitere zehn Jahre verpflichtete). Inhaltlich ging es mit dieser auch in einem zeitlichen Rahmen auf maximal fünf Jahre begrenzten B-Aspirantur explizit um die indikations- und therapiebezogene klinische Psychodiagnostik der prosozial-kooperativen Persönlichkeit des Kindes. Dazu waren direkte inhaltlich valide, lebensechte Interaktionssequenzen mit zwei real anwesenden Kindern zu realisieren, welche durch spezifische experimentelle (»stooge«-) Strategien und besondere Sitzanordnungen gestatteten, die Persönlichkeit prozesshaft zu erfassen. Dieser Verfahrensansatz und ausgewählte Methoden wurden dann auf der letzten Arbeitstagung der Sektion Klinische Psychodiagnostik der Gesellschaft für Psychologie der DDR, deren wissenschaftliche Leitung ich innehatte, am 24. November 1989 in Kühlungsborn vorgestellt. Damit wurde erstmals in (Ost-)Deutschland und auch in Osteuropa die durchgängige methodisch-inhaltliche und klinische Realisierung dieses neuen Paradigmas zusammenhängend vorgestellt (Zimmermann 1995, S. 228–246). Dies geschah allerdings zu einer Zeit, in der die Wende schon in vollem Gange war und eine fachliche Weiterentwicklung dieser Positionen durch die politischen Ereignisse in den Hintergrund gedrängt wurde (vgl. kritisch dazu Zimmermann 1995, S. 15–49). Rückblickend ist es doch befriedigend festzustellen, dass die Umsetzung dieses neuen Ansatzes etwa seit Ende 1984 nicht nur in der eigenen klinischen Praxis der damaligen Kreispoliklinik und in einigen Diplom- bzw. Dissertationsansätzen an der Leipziger Universität erfolgte, sondern die Wende noch überdauert hat und zu einer nachhaltigen internationalen Resonanz (vgl. in Zimmermann 1995, 1996) führte. Auch konnte eines der ersten Verfahren dieser Art (DDM-Test, Zimmermann 1989) durch das PDZ (Berlin) publiziert werden.

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Immerhin konnten in den 1990er Jahren die wesentlichen Inhalte dieses neuen Paradigmas und seiner Verfahrensentwicklungen, teils eingebettet in andere, etwa medizinischrehabilitationspsychologische, psychotherapeutische und pädagogisch-psychologische Fragestellungen, bis Anfang 2000 durch Vorlesungen, Seminare, Lehrbriefe, Publikationen und Gastvorträge an Universitäten an die jüngere Generation weitergegeben werden. Bedauerlicherweise löste sich diese ungewöhnliche fachliche Kooperation nach mehr als drei Jahrzehnten sukzessive auf, quasi in sehr begrenzter Analogie mit dem Ausmaß, in dem etwa bestimmte Wertvorstellungen und Strukturen aus der früheren Gesellschaft verschwanden. Dieses schrittweise Auflösen einer historisch gewachsenen Kooperation hing natürlich auch mit abnehmendem Interesse neu hinzugekommener universitärer Mitstreiter und sich verändernden Rahmenbedingungen zusammen.

5.9 Infrid Tögel: Aufbau einer ökumenischen Telefon­ seelsorge in Dresden ab 1984 Auf Initiative eines Arztes hin beschloss das Kollegium des Sächsischen Landeskirchenamtes im Januar 1984 den Aufbau einer ökumenischen Telefonseelsorge in Dresden. In der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt Telefonseelsorge eine bekannte Einrichtung. Beauftragt wurden zunächst drei Personen: ein Oberkirchenrat, der die Gesamtverantwortung hatte und für theologische und kirchliche Fragen zuständig war, der die Arbeit veranlassende Arzt, der für organisatorische Fragen verantwortlich sein sollte, und ein Psychologe, der die Ausbildung leiten sollte. Als ein erster Schritt fand ein Gespräch zwischen dem Oberkirchenrat und dem Psychologen einerseits und dem langjährigen Leiter der Telefonseelsorge in Bremen andererseits statt, das in Ostberlin stattfand, wohin der Bremer ohne Schwierigkeiten kommen konnte. Dort erhielten die Dresdener Informationen, welche Elemente in der Ausbildung wesentlich seien. Die Ausbildung wurde dann weitgehend nach dieser Orientierung gestaltet. Über die Kirchgemeinden wurde angeregt, dass sich an Mitarbeit Interessierte melden können. Auch über die Katholische Kirche und die Freikirchen erfolgten diese Informationen. Vor Beginn der Ausbildung wurden durch den Oberkirchenrat und den Psychologen mit den Interessenten Eignungsgespräche geführt. Der Oberkirchenrat brachte dabei die geistliche Orientierung der Bewerber zur Sprache, der Psychologe zielte auf deren Wahrnehmungs­fähigkeit, ihr Gesprächsvermögen und ihre Eigenproblematik ab. Ein zu hoher Grad von Eigenproblematik war ein Ausschlussgrund. Die eigentliche Ausbildung begann im Februar 1985. In die Ausbildung wurden 60 Mitarbeiter, die in Gruppen zu je zehn Personen eingeteilt wurden, aufgenommen. Die Gruppen wurden durch je zwei Personen geleitet, die eine solide Ausbildung erfahren hatten. So ­leitete der Chefarzt einer Dresdener Psychotherapie-Abteilung eine Gruppe; Theologen als Leiter einer Gruppe mussten eine abgeschlossene Supervisoren-Ausbildung haben. In ­Plenarsitzungen wurde von Fachleuten über Sachthemen informiert, z. B. Persönlichkeitsstrukturen, psychische Störungen und Krankheiten, Suizidproblematik (dies z. B. durch den

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5.9  Aufbau einer ökumenischen Telefonseelsorge in Dresden ab 1984

Leiter der Suizidambulanz an der Psychiatrischen Universitätsklinik Dresden), über Glaubensfragen, Grundlagen des helfenden Gesprächs oder mögliche kritische Situationen in der Telefonseelsorge. Anschließend fand die Gruppenarbeit statt. Es waren vorgesehen: 15 Einheiten Selbsterfahrung und 15 Einheiten Übungen in Gesprächsführung. Die Trainer dieser Gruppen entschieden am Ende der festgelegten Ausbildungszeit für jeden Teilnehmer, ob die bisherige Ausbildung zu einem befriedigenden Ergebnis geführt hatte. Bei etwa 45 Teilnehmern war dies der Fall. Unter diesen Mitarbeitern waren einige wenige Ärzte und Psychologen, die meisten kamen aus ganz anderen Berufen und hatten sich für diese Tätigkeit interessiert, weil sie vom Beruf nicht ausgefüllt waren und eine sie erfüllende Aufgabe suchten. Die noch nicht zugelassenen etwa zwölf Interessenten hatten noch ein weiteres Vierteljahr Ausbildung zu absolvieren (darunter war ein habilitierter Psychologe!), was aber bei fast allen zu einem sehr befriedigenden Ergebnis führte. Am 1. Januar 1986 begann dann die Arbeit. Im Hinblick auf die Zahl der Mitarbeiter war die Anrufzeit auf 17.00 bis 23.00 Uhr festgelegt worden. Die Aufnahme dieser Tätigkeit konnte wiederum nur durch Mitteilungen über die Kirchgemeinden bekannt gemacht werden. In den ersten neun Wochen kamen etwa 200 Anrufe, von denen etwa 90 echte Problemanrufe waren. – Was von den Mitarbeitern vor allem befürchtet worden war, nämlich politische Anrufe, trat nicht ein. Es musste natürlich davon ausgegangen werden, dass alle Anrufe abgehört werden. Politische Schwierigkeiten gab es auf ganz anderer Ebene: Seit 1983 gab es in Leipzig ein »Telefon des Vertrauens«, das im Wesentlichen auf Initiative eines Psychologen entstanden und mit Hilfe des Kreisarztes durchgesetzt worden war. Die führenden Stellen der DDR hatten dieser Unternehmung zunächst sehr viel Widerstand entgegengesetzt – wahrscheinlich aus dem allgemeinen Misstrauen gegen nicht kontrollierbare Kontakte. Als sich dann zeigte, dass dieses »Telefon des Vertrauens« eine nützliche Funktion hatte, wurde seitens der zuständigen Stellen beschlossen, in allen Bezirken der DDR ein solches Telefon einzurichten. Und natürlich wurde es sehr kritisch betrachtet, dass nun parallel dazu eine kirchliche telefonische Beratung entstand. Es war derzeit üblich, dass in regelmäßigen Abständen Gespräche zwischen dem Rat des Bezirkes und führenden Mitarbeitern der Landeskirche stattfanden. Zunächst war dem Rat des Bezirkes nur die Aufnahme dieser Seelsorge-Arbeit mitgeteilt worden. Sehr bald nach Aufnahme der Arbeit wurde aber vom Rat des Bezirkes bei diesen Begegnungen die Einstellung dieser Tätigkeit gefordert, was die Vertreter der Kirche stets ablehnten. Um die Mitarbeiter nicht zu beunruhigen, sollte ihnen diese Problematik möglichst nicht zu sehr deutlich gemacht werden. Manchmal gab es deshalb Probleme, ihnen Entscheidungen des Leitungskreises, die mit dieser Problematik zusammenhingen, verständlich zu machen. Nach Aufnahme der Arbeit fanden einmal monatlich Weiterbildungen statt. Zunächst wurden im Plenum Informationen gegeben, Weiterbildungsthemen vorgetragen und generelle Fragen besprochen (z. B. Schweigeanrufe, Scherzanrufe, Sexanrufe). Im zweiten Teil wurden dann in sechs Weiterbildungsgruppen problematische Situationen am Telefon besprochen. Diese Gruppen wurden wiederum von je zwei qualifizierten Trainern geleitet. Mitarbeiter hatten in diesem Rahmen Gelegenheit, von ihnen erlebte schwierige

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Situationen zur Sprache zu bringen. Dabei kamen stets auch die Haltung, das Erleben und die Reaktionsweise des Mitarbeiters in den Blick. Diese Weiterbildung wurde von der Mehrzahl der Mitarbeiter stets als sehr hilfreich angesehen. Und für die Trainer war es manchmal erstaunlich, wie professionell die Mitarbeiter mit manchen Problemsituationen umgingen. In den folgenden Jahren wurden nach dem Prinzip, das sich bewährt hatte, immer neue Mitarbeiter ausgebildet (einige schieden natürlich aus verschiedenen Gründen auch wieder aus), und die Dienstzeiten wurden allmählich erweitert. Eine völlig veränderte Situation entstand durch die Wiedervereinigung Deutschlands. Denn nun galten die bisher in der Bundesrepublik herrschenden Regeln auch für die ostdeutschen Länder. Um die kostenfreien Rufnummern zu erhalten, die die Telefonseelsorge in ganz Deutschland nun hatte, musste die Anrufzeit auf 24 Stunden ausgedehnt werden. Das erforderte die Aufnahme neuer Mitarbeiter und forderte von manchen bisherigen eine nicht unerhebliche Umstellung. Viele mussten ihre Dienstzeiten am Telefon ja mit ihren beruflichen Arbeitszeiten in Einklang bringen. Es muss noch erwähnt werden, dass nicht nur die Mitarbeiter ihre Tätigkeit ehrenamtlich durchführten, sondern auch alle Mitglieder des Leitungskreises, alle Trainer und Vortragenden bei Informationsthemen nahezu selbstverständlich kein Honorar erhielten.

5.10 Ost-Ost- und Ost-West-Beziehungen in den 1980er Jahren 5.10.1 Michael Geyer und Hermann F. Böttcher: Das internationale Psycho­therapie-Symposium in Dresden 1984 und der Beginn der Zusammenarbeit mit der DGPT Im Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie fand sich nach der Wahl des Erstautors zum Vorsitzenden 1982 eine Gruppe miteinander gut harmonierender, ja befreundeter Personen in einflussreicher Position zusammen. Sie war sich darin einig, schnellstmöglich den Anschluss an internationale Entwicklungen, insbesondere an den psychoanalytischen Mainstream, zu finden. Der Kern dieser Gruppe bestand neben dem Erstautor aus Werner König, Kurt Höck, Jürgen Ott und dem regelmäßig als Verbindungsmann zur Fachzeitschrift anwesenden Hermann Fried Böttcher. Aber auch die anderen Vorstandsmitglieder unterstützten uns. Der Weg zur westlichen Welt führte damals allein über die seit Anfang der 1970er Jahre bestehenden Beziehungen zur Internationalen Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (International Federation for Medical Psychotherapy, IFP), deren langjähriger Präsident, der Norweger Finn Magnussen, aber auch deren westdeutschen Mitglieder (z. B. Werner Stucke, Heinz Schepank u. a.) immer wieder versucht hatten, uns international einzubinden. In diesem Zusammenhang war Kurt Höck Mitglied des Präsidiums geworden und es bot sich an, eine Sitzung dieses Gremiums als Tarnung einer Ost-West-Begegnung mit für uns wichtigen Vertretern der bundesrepublikanischen Psychoanalyse, d. h. der

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5.10  Ost-Ost- und Ost-West-Beziehungen in den 1980er Jahren

DGPT-Führung zu benutzen. Für den Erstautor als damaligem »Nicht-Reisekader« war es die einzige Gelegenheit, offiziell mit diesen Kollegen zusammenzutreffen. Es wurde also eine Veranstaltung beim Generalsekretariat der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften mit dem offiziellen Namen »Erweiterte Sitzung des Präsidiums der International Federation for Medical Psychotherapy« beantragt und schließlich auch mit dem Untertitel »Internationales Psychotherapie-Symposium« unter wissenschaftlicher Leitung Michael Geyers, Finn Magnussens, Kurt Höcks und Werner Königs und der organisatorischen Leitung der ­Dresdner Hermann Fried Böttcher, Werner Blum sowie Ernst Peper genehmigt. Der Vorteil dieser Konstruktion war, dass die Teilnehmer dieser Veranstaltung nicht nur von der DDRSeite bestimmt werden konnten, denn dann hätten wir den großen Anteil westdeutscher Kollegen nicht einladen dürfen, sondern eben vom »Präsidium der IFP« vorgegeben wurden. Offiziell hatten wir lediglich die Vertreter der Ostblockländer – die »Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder« – zu bestimmen, die sich im Vorfeld der Tagung außerordentlich interessiert an dieser Veranstaltung gezeigt hatten. Nach Vorgabe unserer Aufsichtsbehörde sollten ursprünglich nicht mehr als 15 Personen von jeder Seite aus dem Ausland, darüber hinaus möglichst nur der Vorstand unserer Gesellschaft und einige Offizielle aus dem Gesundheitsministerium teilnehmen. Diese Vorgabe ließ sich jedoch nicht einhalten. Allein unsere Kolleginnen und Kollegen aus dem mitteldeutschen Raum – ca. 50 an der Zahl – ließen sich nicht von der Teilnahme an einzelnen wissenschaftlichen Veranstaltungen abhalten und suchten in erster Linie den Kontakt mit den westdeutschen Kollegen (die skurrile Episode »Der graue Schlapphut oder die geheime Mission des Spions E.B.008 im kalten Osten« } Abschnitt 5.12.2, handelt von solchen Begegnungen). Insgesamt kamen aus dem Osten zwei Russen, sechs Tschechoslowaken, acht Polen, fünf Ungarn, zwei Bulgaren und offiziell 14 Ostdeutsche (die Tagung besuchten auf diese oder jene Weise tatsächlich 64 Ostdeutsche, die sich nicht an der Teilnahme hindern ließen); aus dem Westen kamen neun Personen aus der BRD, fünf aus Norwegen, darunter Finn Magnussen und sein Generalsekretär Truls-Eirik Mogstad, beide Oslo, und vier aus der Schweiz. Aus der Bundesrepublik war der geschäftsführende Vorstand der DGPT unter Führung seines damaligen Vorsitzenden Carl Nedelmann mit Hans-Volker Werthmann, Ina Weigeldt und DGPT-Geschäftsführer Holger Schildt angereist, außerdem Elmar Brähler, damals Gießen, Wolfgang Senf, Hans Kordy, beide damals Heidelberg, Günter Schmitt, Stuttgart, und Joachim Gneist, München. Die westdeutschen Teilnehmer stellten also die größte »ausländische« Teilnehmergruppe. Entsprechend groß war das Misstrauen der Aufsichtsbehörde. Der Chef des Generalsekretariats der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR, Dr. Lothar Rohland, gleichzeitig Parteisekretär des Gesundheitsministeriums, eröffnete persönlich im Namen des Gesundheitsministers die Tagung. Nedelmann erinnert diese Situation: »[...] ich war Vorsitzender der DGPT. Die Einladung hat mich begeistert. Ich reiste mit meinem gesamten geschäftsführenden Vorstand an und mutierte zum ›westdeutschen Delegationsleiter‹. Es war die Zeit des NATO-Doppelbeschlusses. Hetzreden gegen den Westen bildeten die Eröffnung des Symposions [gemeint ist die Ansprache von Dr. Rohland; Anmerkung der Verf.]. Ich geriet in Zorn, suchte den für die Tagung verantwortlichen Mann, einen [...] Professor aus Leipzig namens Michael Geyer, fand ihn und ging dicht an sein Ohr, um ihm meinen ganzen Affekt mitzuteilen. Ich sagte ihm, dass ich zornig sei und gleich reden

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werde [...] [Seine] Antwort war kurz und bündig und lautete: ›Sie halten den Mund!‹ Ich kenne keine zweite Freundschaft, die mit einem solchen Satz begonnen hätte. Aber ein Angebot folgte sogleich[...]: ›Heute Nachmittag ist der Spuk vorbei. Dann bekommen Sie das erste Wort‹ und so war es« (Nedelmann 2000, S. 278 ff.). Mehrere Ministeriale bewachten offiziell den gesamten Ablauf. (Einen Eindruck von der Stasiüberwachung der Teilnehmer erhält der Leser im } Abschnitt 5.12.2.) Wissenschaftlich sollte es um Themen gehen wie »Gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen der Psychotherapie«, »Klassifikation und Indikationsstellung« sowie »Therapiezielbestimmung und Effektivitätsmessung«. Die wissenschaftlichen Vorträge standen jedoch weniger im Vordergrund als die Gespräche am Rande. Dazu boten das Rahmenprogramm und ein umfangreiches touristisches Programm viele Möglichkeiten. Brisant war lediglich die Nachmittagsveranstaltung des zweiten Tages: »Klassifikation und Indikationsstellung auf der Grundlage kasuistischen Materials (Video-Tape)«. Der Zweitautor erinnert die Situation folgendermaßen. »Am zweiten Tag des Sympo­ sions trafen sich die Teilnehmer nach einer Führung durch die Galerie Alter Meister im Zwinger, am Nachmittag in einem der drei Prinzenschlösser, im Gartensaal des ›Klub der lntelligenz‹ (Kulturbund), um das Thema ›Klassifikation und Indikationsstellung bei psychonervalen Störungen auf der Grundlage kasuistischen Materials‹ zu diskutieren. Moderator des Nachmittags war Höck, unterstützt von Geyer, aus dessen Leipziger Universitäts­ klinik das Videomaterial stammte. Die Vorführung erfolgte mit dem Ziel, am konkreten Fallbeispiel eine Klassifikation der vorliegenden Erkrankung vorzunehmen und sich über die Behandlung zu verständigen. Dazu wurden nacheinander zwei Video-Protokolle gezeigt, zuerst ein psychotherapeutisches Einzelgespräch, danach Ausschnitte aus einem Gruppengespräch. Nach der Demonstration des psychotherapeutischen Einzelgespräches, das eine junge Psychologin, Ute Uhle, aus der Leipziger Klinik mit einer jugendlichen Patientin geführt hatte, entstand eine ganz andere Atmosphäre als am Vortag mit Grundsatzvorträgen zu ›Gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen der Psychotherapie‹. Jetzt ging es darum, die eigenen persönlichen Eindrücke und Wertungen zu einer realen Therapiesituation mitzuteilen. Prof. Roshnow aus Moskau, der mächtigste Psychotherapeut der Sowjetunion, stellte die Diagnose einer endogenen Depression, die er ohne Zweifel als eine psychiatrische Erkrankung klassifizierte, und empfahl als Therapie die Elektrokrampfbehandlung. Sein Kollege Prof. Karwassarskij aus Leningrad hielt sich eher mit Äußerungen zurück, ließ aber erkennen, dass er im Wesentlichen zustimmte. Die anderen Gesprächsteilnehmer versuchten, die als extrem erlebte Aussage zu relativieren, was von den russischen Kollegen mit Skepsis aufgenommen wurde. Carl Nedelmann als prominenter Vertreter der westdeutschen Teilnehmergruppe versuchte, wie die meisten übrigen Teilnehmer, eine Entspannung der Situation mit Sensibilität und vorsichtiger Formulierung der diagnostischen Äußerung, es handle sich bei dieser jugendlichen, sich noch in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit befindlichen Studentin doch wohl eher um eine Identitätskrise, für die eine entwicklungsfördernde Psychotherapie angemessen sei. Die sich aus der Diskussion herauskristallisierende erhebliche Polarität der Auffassungen ließ bei den russischen Teilnehmern eine misstrauisch-paranoide Atmosphäre mit deutli-

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chen Zeichen des Unmutes entstehen, die in der Äußerung gipfelten: ›Hier werden uns Informationen vorenthalten!‹ Die Atmosphäre war sehr gespannt. Betroffenheit, gepaart mit Hilflosigkeit, einer solchen Zuspitzung begegnen zu müssen, machten sich breit. Herr Höck als Moderator wandte sich an Herrn Geyer und erbat die Krankenakte, die zur Hand war und neben schriftlichen Unterlagen auch von der Patientin in der Therapie gemalte Bilder enthielt, und reichte sie den russischen Kollegen mit der Versicherung, dass keine Informationen vorenthalten werden, nur das Video-Protokoll und die Krankenakte mit Bildern existieren. Die russischen Kollegen betrachteten die Bilder und durchblätterten die Akte – die Dolmetscherin half bei der Entschlüsselung – eine befriedigende Lösung der kritischen Situation konnte aber nicht erreicht werden, so dass sich als ultima ratio eine Pause anbot, die nun eingelegt wurde. Ich war sehr überrascht und im hohen Grade fasziniert, wohl auch betroffen, wie schnell sich in dieser persönlichen Ost-West-Begegnung eine intensive misstrauisch-paranoide Stimmung entwickelt hatte und wie es fast aussichtslos erschien, sie trotz vielfältiger vermittelnder und klärender Bemühungen aufzulösen. Im Hinausgehen an die frische Luft, die in dieser gespannten Atmosphäre so notwendig war, hörte ich aus der Gruppe um Carl Nedelmann (Werthmann, Schildt, Schmitt), die locker die Treppe zum Vorplatz hinunterging, die Bemerkung von ihm, dass es in dieser Situation ganz ausgeschlossen gewesen sei, die bereitliegende psychoanalytische Terminologie zur Charakteristik der Patientin zu verwenden, um die Kontroverse nicht noch zu verstärken.« Nedelmann, der in der Pause mit Roshnow im Rahmen einer französische Konversation mit dem Thema »Pariser Sehenswürdigkeiten« (Nedelmann 2000, S. 280) eine gewisse Auflockerung der Situation erreicht hatte, konnte sich anschließend mit Roshnow auf einer gemeinsamen Ebene treffen. Er einigte sich mit ihm auf die Formel, die Störung sei auf dem Boden einer gestörten Emotionalität angesiedelt. Roshnow, der vorhatte, die Konferenz unter Protest zu verlassen, war hochbefriedigt und versicherte unseren Aufpassern, dass es eine hervorragende Konferenz sei. Damals waren wir überzeugt, dass Nedelmann mit dieser heroischen Selbstverleugnung der Konferenz einen solchen Ausgang bescherte, dass sie das Generalsekretariat als Erfolg der DDR-Wissenschaft im internationalen Rahmen verbuchen konnte. Er erwies sich nicht nur damals als Mann mit außerordentlichem diplomatischem Geschick. In den folgenden Jahren vertieften sich durch weitere Begegnungen unsere persönlichen wie fachlichen Beziehungen. Es war eine etwas merkwürdige Initialzündung unserer Beziehung zum Dachverband der deutschen Analytiker, aber sie bot ein gutes Fundament für die späteren konfliktreichen Auseinandersetzungen. Nedelmann spielte dann 1995/96 eine entscheidende Rolle bei der Etablierung akzeptabler Übergangsregelungen der DGPT für die Ost-Analytiker und blieb bis zur Anerkennung unserer ersten Lehranalytiker und der Ost-Institute durch die DGPT ein unermüdlicher Helfer und Ratgeber. Das Generalsekretariat Medizinisch-Wissenschaftlicher Gesellschaft hatte nach dieser Veranstaltung den Eindruck gewonnen, dass sowohl der Vorstand unserer Gesellschaft als auch das Präsidium der International Federation für Medical Psychotherapy politisch berechenbar sind. Es war nicht verborgen geblieben, wie sich Präsident Finn Magnussen und wir um Deeskalation der fachlichen Konflikte bemüht hatten und auf welch elegante Weise der sowjetische »Zar der Psychotherapie« in das weitere Tagungsgeschehen integriert werden

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konnte. Der Vorstand der Gesellschaft konnte somit bereits im Nachgang dieser Veranstaltung mit der Genehmigung für den nächsten größeren internationalen Kongress rechnen.

5.10.2 Der Internationale Erfurter Kongress vom 28.–30. September 1987 und seine Folgen 5.10.2.1 Michael Geyer: Die vorgezogene Wiedervereinigung der deutschen Psychotherapeuten Nicht zuletzt der für alle Beteiligten befriedigende Ausgang des Internationalen Dresdner Psychotherapie-Symposiums, dessen Verlauf im vorangehenden Beitrag geschildert wird, ermöglichte die Einleitung des Genehmigungsverfahrens für eine weitere internationale Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Präsidium der International Federation for Medical Psychotherapy (IFP), die nunmehr von vornherein als größerer Kongress mit einer bislang für unsere Fachgesellschaft undenkbaren Beteiligung größerer Gruppen westlicher Ausländer geplant werden konnte. Erfurt war gewählt worden, da der Vorstand mit Kongressen in der thüringischen Bezirkshauptstadt gute Erfahrungen gemacht, ich selbst gute Beziehungen zu den entsprechenden Tourismus-Behörden aufgebaut und nicht zuletzt weil Erfurt als grenznaher Ort schon der ersten Begegnung zwischen Willy Brandt und Willi Stoph als Treffpunkt gedient hatte. Der Kongress mit der Bezeichnung »Internationales Psychotherapie-Symposium der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (GÄP) in Verbindung mit dem Präsidium der Internationalen Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (IFP)« sollte das Thema »Der Therapie- und Ausbildungsprozess – Forschung und Praxis« behandeln und am 28.– 30. September 1987 stattfinden. Das Kongress-Präsidium setzte sich zusammen aus Michael Geyer, Finn Magnussen, Werner König und Helga Hess. Bei Beginn der Planung 1984 sollte der Kongress nur etwa 50 selbst zahlende Teilnehmer aus der Bundesrepublik haben und etwa ebenso viele Personen sollten aus möglichst »Nicht-NATO-Ländern« kommen. Größte Probleme bereitete die Übernahme der Kosten für die Präsidiumsmitglieder der IFP, die als Mitveranstalter selbstverständlich unsere Gäste sein sollten. Die Behörden trauerten jeder Westmark nach, die auf diese Weise verloren ging. Der Attraktivität einer solchen Tagung für die in der DDR eingesperrten ostdeutschen Fachkollegen musste durch eine Planung höherer Teilnehmerzahlen und entsprechender Bettenkontingente Rechnung getragen werden. Eine derartige Veranstaltung bedurfte einer mindestens dreijährigen Vorbereitungszeit und eines heute nicht mehr nachvollziehbaren logistisch-organisatorischen Aufwandes. Allein die Hotelbettenbuchung in der damaligen Bezirkshauptstadt Erfurt, die zwar schon damals zu den mit Hotels relativ gut ausgestatteten Großstädten gehörte, bedurfte trotz ministerieller Dekrete (250 Betten gab es über die zentrale Bettenbereitstellung) auch guter persönliche Beziehungen für den höheren Bedarf. Professionelle Teams für die Tagungsorganisation gab es in der DDR zu diesem Zeitpunkt nur für die wenigen internationalen Tagungen, deren Veranstalter mit Westmark bezahlten.

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Praktisch alle Mitarbeiter meiner Leipziger Klinik bildeten das Organisationsteam und je näher der Kongress kam, desto umfangreicher wurde deren Einsatz. Zwei Momente, die bei der Planung 1984 noch nicht im Blick sein konnten, kommen schließlich der Veranstaltung zugute. Zum einen hatte sich 1987 die Gier der DDR nach harten Devisen derartig gesteigert, dass manche politische Bedenken einfach übergangen werden. Zum anderen erhält 1987 der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker eine Einladung von Helmut Kohl in die Bundesrepublik. Er nimmt sie vom 7.–11. September, also knapp drei Wochen vor dem Erfurter Kongress, wahr. Es ist der erste Besuch eines DDR-Staatsoberhauptes in der Bundesrepublik und Honecker wird mit allen Ehren eines Staatsoberhauptes empfangen. Die Vorbereitungen des Kongresses fallen zeitlich zusammen mit denen des Staatsbesuches. Für etwa drei Monate ist Tauwetter in den deutsch-deutschen Beziehungen. Meine Mitarbeiter und ich können es nicht fassen, dass in der Anmeldeperiode zur Tagung im Spätsommer 1987 die Teilnehmerzahl der Kollegen aus der BRD schlagartig keine Begrenzung mehr kennt. Wir erhalten mehrere Hunderte der ominösen DIN-A6Karteikärtchen, mit deren Ausfüllung DDR-Bürger ihre Verwandtenbesuche aus dem Westen beantragen. Diese Kärtchen lassen sich nicht blaupausen, sondern müssen pro Person in viermaliger Ausführung beschrieben werden. Noch wenige Tage vor dem Kongress werden auf Zuruf im Blitzverfahren Visa erteilt. Das Organisationsbüro – d. h. die Mitarbeiter meiner Klinik – verlieren am Ende den Überblick über die Anzahl der beantragten Visa, zumal diese direkt an die Grenzkontrollstellen gehen. Zudem kommen auch Kollegen aus Westdeutschland zur Tagung, die sich von ihren Verwandten haben einladen lassen. Unser Organisationsbüro hat größte Mühe, diese nicht als »Westdeutsche« wahrzunehmen, da die Verwicklungen schon im Hinblick auf die Bezahlung nicht beherrschbar wären. So wird die genaue Zahl der Teilnehmer aus dem Westen nie festgestellt. Nicht einmal in meiner Stasiakte finden sich dazu Angaben. Offiziell werden von uns an das Generalsekretariat Medizinisch-Wissenschaftlicher Gesellschaften der DDR 300 Teilnehmer insgesamt gemeldet, von denen nur sicher ist, dass 15 aus dem Ostblock kommen und sechs westliche Präsidiumsmitglieder der IFP geladene Gäste sind. Die Zahl der an Westdeutsche vermittelten Hotelbetten beträgt im besten Hotel der Stadt 150, in anderen Hotels ist die genaue Zahl nicht zu eruieren. Intern sind wir von ca. 250 Teilnehmern, die nicht aus der DDR kamen, ausgegangen. Die längerfristig angemeldeten Teilnehmer erhalten die Tagungsbroschüre mit den Hauptvorträgen bereits einige Wochen vor der Tagung. Das wissenschaftliche Programm weist 142 Referenten mit teilweise jeweils mehreren Beiträgen aus, so dass viele Veranstaltungen parallel laufen müssen. Auf der Anmeldeliste der offiziellen westdeutschen Teilnehmer sind die Mitglieder der Vorstände der wesentlichen Psychotherapieverbände der Bundesrepublik verzeichnet: die Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie, das Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin, die Internationale Balint-Gesellschaft, die wesentlichen psychoanalytischen, gesprächspsychotherapeutischen und verhaltenstherapeutischen Gesellschaften und Vertreter vieler anderer methodischer Richtungen. Ein reichhaltiges Rahmenprogramm mit täglichen abendlichen Treffen und touristisch attraktiven Zielen in Weimar und im Thüringer Wald bietet viele Möglichkeiten, sich miteinander bekannt zu machen.

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Bereits am Vorabend des Kongresses, an dem die meisten auswärtigen Besucher anreisen, herrscht eine seltsame Stimmung. Die ostdeutschen und westdeutschen Teilnehmer scheinen magnetisch voneinander angezogen. Es bilden sich dann am Rande des Kongresses bei allen sich bietenden Gelegenheiten kleine gemischte Ost-West-Gruppen, die bald die Kneipen der Innenstadt beherrschen. Die in Erfurt und Umgebung ansässigen Kolleginnen und Kollegen nehmen die Westdeutschen mit in ihre Wohnungen (für jeden ordentlichen Stasimann ein Horror). Die abendlichen Kongressveranstaltungen geraten zu Festen, deren Stimmung die nichtdeutschen Teilnehmer fassungslos macht. Unsere Freunde aus den Ostblockländern ziehen sich angesichts der Verbrüderungsszenen diskret zurück. Ein polnischer Freund sagt mit später, er habe eingesehen, dass dieser Kongress eine deutsch-deutsche Wiedervereinigungsfeier gewesen sei, wo andere nichts verloren hätten. Ich selbst habe eine ähnliche Situation erst nach der Grenzöffnung im November 1989 wieder erlebt. Die neu entstandenen Beziehungen werden von beiden Seiten als ein unerwartetes Geschenk und damit etwas Kostbares behandelt. Man plant ihre Fortsetzung nach dem Kongress durch konkreten wissenschaftlichen und privaten Austausch. Die Mehrzahl der am Rande der Veranstaltung geschlossenen Freundschaften und wissenschaftlichen Partnerschaften bleiben für lange Zeit bestehen und existieren heute noch. Im Bericht eines Inoffiziellen Mitarbeiters der Stasi, eines Psychologen aus einem Universitätsinstitut, steht der Satz: »Auf dieser Veranstaltung fand eine Verbrüderung mit dem westdeutschen Klassenfeind statt.« Diese Tagung übte aus heutiger Sicht eine Reihe von Langzeitwirkungen auf die Psychotherapieentwicklung im Osten Deutschlands aus. Hier entstehen die Beziehungen zur AÄGP, die nach der Wende in gemeinsamen Kongressen und einer misslungenen Fusion ihren Ausdruck finden. Beziehungen zu den anderen großen Gesellschaften werden gebahnt. (Auf der Grundlage der in Erfurt geknüpften Beziehungen befindet sich zum Zeitpunkt der Maueröffnung die erste größere Gruppe ostdeutscher Psychotherapeuten auf einer Tagung des Kollegiums für Psychosomatische Medizin in Gießen.) Viele Ostdeutsche finden methodisch gleichgesinnte Partner, die schon vor der Wende zu Workshops und Seminaren in den Osten kommen und nach der Wende beim Aufbau von Ausbildungsinstituten behilflich sind (von Beispielen dieser Art handeln die } Abschnitte 5.10.2.2 und 5.10.2.3). Es bilden sich darüber hinaus wissenschaftliche Kooperationsbeziehungen zu Personen und Institutionen, die meist auch nach der Wiedervereinigung noch zu gemeinsamen Forschungsprojekten führen (z. B. entstand aus einer Kooperationsbeziehungen zwischen Rainer Krause aus Saarbrücken und meiner Forschungsgruppe in Leipzig schon vor der Maueröffnung ein illegales DFG-Projekt). Obwohl diese Veranstaltung von mehreren IM und mit Sicherheit auch von vielen hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatsicherheit begleitet wurde, sind mir bis auf das genannte Zitat von der Verbrüderung mit dem Klassenfeind keine für einzelne Personen negative Konsequenzen bekannt geworden. Die finanziellen Auswirkungen des Kongresses beschäftigen den Vorstand noch mehrere Jahre. Obwohl die Veranstaltung nur 46.000 Ostmark kostete, war ein Defizit von 23.500 Mark entstanden, was in erster Linie dadurch zustande kam, dass die Tagungsbeiträge der offiziell teilnehmenden Westdeutschen, Schweizer und Österreicher direkt in die DDR-Zen-

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tralbank geflossen waren und auf unserer Rechnung nicht auftauchten. Trotzdem dauerte es fast bis zur Wende, bis dieses Defizit durch die entsprechenden Stellen ausgeglichen wurde.

5.10.2.2 Irene Misselwitz: Nachwirkungen des Erfurter Kongresses 1987 – Die Schöpfung einer Großtante aus dem Westen Wir trauten unseren Ohren nicht, als etwa zehn Tage vor dem Erfurter Kongress 1987 die Teilnahmebeschränkung für »normale« DDR-Psychotherapeuten aufgehoben wurde. Das war eine Sensation! Zum Dresdner Kongress 1984 waren sowohl Beschränkung als auch Überwachung beängstigend gewesen. Margit Venner hatte als Vorsitzende der Psychotherapie-Regionalgesellschaft eine offizielle Einladung bekommen. Ich ergriff sofort, wie viele andere auch, die Gelegenheit und meldete mich an. Wir fuhren mit dem festen Vorsatz nach Erfurt, dort Kontakte mit westdeutschen Kollegen und Kolleginnen für den fachlichen und persönlichen Austausch zu knüpfen. Neben den interessanten Vorträgen und Seminaren war für uns das Spannendste und Bewegendste der persönliche Kontakt mit vielen westdeutschen Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die wir bisher nur aus der Literatur kannten. Die wichtigste und nachhaltigste Begegnung für uns aber war die mit Hildegard Munzinger-Bornhuse aus Heidelberg. Sie stammte ursprünglich aus der Altmark, kannte Ostdeutschland durch ihre Verwandten. Sie wusste, dass es dort Bedarf nach Psychoanalyse gab, und wollte ihrer Heimat, die sie als Studentin während des Krieges verlassen hatte, etwas zurückgeben. Über Jahre hatte sie schon deutsche, schweizerische und österreichische Kollegen befragt, wie man unkompliziert mit Therapeuten aus Ostdeutschland in Kontakt kommen könnte. Anlässlich eines Vortrags von Michael Geyer am Institut für Seelische Gesundheit in Mannheim ergab sich eine Gelegenheit: Heinz Schepank wusste von den Wünschen von Hildegard Munzinger und war so freundlich, sie bei sich zu Hause zu einem Gespräch mit Michael Geyer einzuladen. Daraufhin lud Herr Geyer Frau Munzinger 1987 zu der 2. Erfurter Psychotherapietagung ein. Dort lernten wir sie kennen. Durch einen glücklichen Zufall setzte sich Hildegard Munzinger am Gesellschaftsabend mit ihrer Cousine an unseren Tisch. Wir kamen sofort intensiv miteinander ins Gespräch. Aus heutiger Sicht kommt es mir so vor, als wären wir und auch andere bei dieser Tagung, die Vereinigung unbewusst vorwegnehmend, schon von beiden Seiten aufeinander zugegangen. Das Fachliche war schnell mitgeteilt. Hildegard Munzinger war also Psychoanalytikerin – in unserer Vorstellung etwas ganz Wundersames, mit vielen geheimnisvollen Fähigkeiten Ausgestattetes. Diese idealisierenden Vorstellungen verdichteten sich bei mir später in der deutlichen Erinnerung, dass sie ein wunderschönes schwarzes Samtkleid angehabt hätte. Hildegard Munzinger hat dagegen immer heftig protestiert. Wir führten uns als selbstbewusste DDR-Psychotherapeuten ein, die alles, was an Ausbildung möglich war, durchlaufen hatten und die gute Arbeit unter erschwerten Bedingungen leisteten. An diesem ersten Abend teilten wir uns auch viel Persönliches mit. Hildegard Munzinger erzählte uns von ihrer Herkunft aus der Altmark. Die Cousine an ihrer Seite, die heute noch dort wohnt, war für uns der lebende Beweis, dass Hildegard Munzinger den

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Osten nicht so wie die meisten unserer »entwesteten« Verwandten, Freunde und Bekannten aus ihrem Bewusstsein abgespalten hatte. Wir fühlten uns mit ihr verbunden, da z. B. meine väterlichen Vorfahren auch auf großen Bauernhöfen gelebt hatten, darunter meine Lieblingstante, bei der ich oft in den Sommerferien war. Wir hatten also gemeinsame Wurzeln gefunden und damit etwas über die Mauer und die Psychotherapieschulen hinweg Verbindendes entdeckt. Das ermutigte uns, sie zu fragen, ob sie nicht zu Fallseminaren zu uns kommen würde. Die Eroberung, am nächsten Abend fortgesetzt mit mehreren Kolleginnen und Kollegen aus Jena, Leipzig, Zwickau und Berlin, gelang. Vielleicht war es gar nicht so schwer, wie es uns damals vorkam. Dass Hildegard Munzinger ihrerseits ja auch Kontaktwünsche gehabt hatte und deshalb Michael Geyers Einladung gefolgt war, wussten wir damals noch nicht. Wir vereinbarten den ersten Termin, ganz geheim. Alle Beteiligten wussten, dass von den geplanten Treffen nichts nach außen dringen durfte. Die Ankunft der Teilnehmer in unserem Haus musste möglichst einzeln und unauffällig erfolgen. Ich musste viele Papiere ausfüllen, um die Einreisegenehmigung für meine neue »Großtante« zu bekommen. Wir erwarteten sie voller Spannung, und – sie kam nicht. Uns blieb das köstlich bereitete Essen, zu dem jede und jeder etwas beigetragen hatte, und das geteilte Leid, die Enttäuschung, Empörung und vielerlei Überlegungen nach der tieferen Bedeutung – eine erste Entidealisierung der bewunderten Analytikerin. Erst viel später erzählte sie uns, dass alle Verwandten und Bekannten ihr von dieser Reise dringlich abgeraten hatten. Eine Hochdruckkrise am Morgen der geplanten Abreise löste zunächst ihren inneren Konflikt. Aber die Hoffnungen und guten Erfahrungen der ersten Begegnung in Erfurt trugen beide Seiten über die Bedenken und Enttäuschungen des Anfangs hinweg. Ein halbes Jahr später, im Juni 1988, begann wirklich die langjährige gemeinsame Arbeit mit drei bis vier Wochenenden pro Jahr. Zu diesem ersten Treffen brachte Hildegard Munzinger den köstlichen Schwetzinger Spargel mit, ein Traum für uns in dieser Hinsicht nicht verwöhnte DDR-Bürger. Wir möchten drei Begegnungsebenen beschreiben:

Die persönliche Ebene Zunächst hatten wir die Arbeit als reine Supervisionsgruppe begonnen. Die Gruppe war etwas Kostbares für uns. Sie war Teil der notwendigen Gegenwelt zur offiziellen DDR-Welt, ein individueller Freiraum, in dem wir für den oft schwierigen Alltag auftanken konnten. Dann erfassten uns die Wendeereignisse mit großer Gewalt. Wir konnten unseren Erzähldrang am Beginn unserer Treffen über die sich überstürzenden Veränderungen kaum stoppen, und unsere Besucher, inzwischen kam Carl Rothenburg mit, lauschten ebenso atemlos. Sie beneideten uns vielleicht sogar darum, dass wir uns so plötzlich aktiv im Zentrum gewaltiger historischer Umwälzungen befanden. Zunehmend spürten auch sie das Bedürfnis, von sich zu erzählen. Seitdem hatte es sich eingebürgert, dass jedes unserer Treffen mit einer Runde »Wir über uns« begann. Wir erzählten uns gegenseitig sowohl Familiäres als auch Berufliches. Die persönliche Ebene war die intensivste und natürlichste. Unsere wechselseitigen Vorurteile und Projektionen haben wir beim Zusammensein oft völlig vergessen, herrlichen

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Spaß miteinander gehabt, Tränen gelacht und bis zum Platzen Thüringer hausgeschlachtete Wurst gegessen, Hildegard Munzingers besondere Vorliebe. Wir haben gemeinsam Theater und Konzerte genossen, betrübt Wahlergebnisse diskutiert und natürlich immer wieder über Psychoanalyse gesprochen.

Die fachliche Ebene Die meisten von uns waren erfahrene Nervenärzte oder Internisten und zusätzlich Fachärzte für Psychotherapie. Auch Fachpsychologen der Medizin waren dabei. Es war unser Wunsch, von Hildegard Munzinger, der Analytikerin, etwas zu lernen. Wir profitierten sehr viel von ihr für den Umgang mit der Gegenübertragung, der Abwehr, der Regression und für das Setting. Mitgebrachte Bücher zu diesen Themen waren unglaublich wertvoll für uns. Es trifft für alle aus der Gruppe zu, dass die Psychoanalyse mit Hildegard Munzinger verbunden bleiben wird. Sie hat das Abenteuer gewagt, in den »finsteren Osten« zu kommen. Sie hat uns, die wir von der Entwicklung der modernen Psychoanalyse in der Welt weitgehend ausgeschlossen waren, diese in ihrer unvergleichlichen Art nahegebracht, ohne zu wissen, wie wir damit umgehen würden. Angriffe der heimischen Gesellschaften ertrug sie tapfer. Ihr gelang es, uns zu begeistern. Unser angelesenes Wissen über die Psychoanalyse wurde durch sie plötzlich lebendig und verlockend, der berühmte »Funke« sprang über. In den Seminaren befürchtete sie anfangs, uns mit ihren Hinweisen zu irritieren. Das war nicht so. Ihre Impulse trafen auf gut vorbereiteten Boden. Wir haben die Psychoanalyse nicht als Gegensatz, sondern als Bereicherung und Vertiefung unserer bisherigen Arbeit empfunden. Hildegard Munzinger hat mit ihrem Feingefühl sehr genau darauf geachtet, dass wir Entlastung und Hilfe und nicht Entwertung und Beschuldigung aus den Seminaren mitnahmen. Nach der Wende hat sie sich von Anfang an darum bemüht, für Kontakte der Gruppe mit anderen Analytikerinnen und Analytikern und Instituten zu sorgen, sicher in der Hoffnung, dass wir eines Tages unabhängig von ihr unseren eigenen Weg mit der Psychoanalyse gehen könnten. Dass wir ihre geliebten »Ost-Kinder« waren, wurde uns bei einem Treffen mit den Heidelberger Kandidaten, ihren »West-Kindern«, etwa 1995, deutlich. Es gab heftigste Eifersuchtsreaktionen und Verletzungen hin und her, was Hildegard Munzinger sehr belastete und bei uns auf dem Heimweg von Heidelberg zu zwei kleinen Auffahrunfällen führte. Der einzige Mutige, der schon vor der Wende mit nach Jena kam, war Carl Rothenburg, auch aus Heidelberg. Bis heute verbinden uns vielfältige Freundschaftsbeziehungen und gemeinsame Seminare in Jena über brisante psychoanalytische Themen. Später kam Eberhard Haas, ebenfalls vom Heidelberger DPV-Institut, für einige Zeit zur Gruppe dazu. Renate Kelleter vom Frankfurter DPV-Institut besuchte uns auch zu einem Seminarwochenende in Jena. Ludwig Häsler aus Hofheim hielt von 1990 bis 1997 Vorlesungen und Seminare in Thüringen. Hartmut Radebold aus Kassel reiste ebenfalls mehrere Jahre zu Seminaren nach Jena. Nach Leipzig und Zwickau kamen andere Analytiker. Immer waren es mutige Einzelpersonen, während sich die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung als Ganzes damals noch deutlich und skeptisch zurückhielt.

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Im Frühjahr 1990 luden wir das Jena am nächsten liegende Kasseler Alexander-Mitscherlich-Institut nach Jena ein und folgten bald einer Gegeneinladung. Kurz darauf bot Hartmut Radebold uns Älteren einen Analyseplatz an, ohne irgendwelche Vorbedingungen. Das war auch ein überraschendes, unkonventionelles Angebot. Im Herbst 1993 wurden uns von dort weitere sechs Analyseplätze zur Verfügung gestellt. Inzwischen haben sich alle Kolleginnen und Kollegen der Gruppe von der Analyse das geholt, was sie für sich brauchten und wollten.

Die gesellschaftspolitische Ebene Das Thema West-Ost, Ost-West begleitete unsere Gruppenarbeit ständig. Dies war die schwierigste Ebene. Nach den zum Teil kränkenden Vereinigungserfahrungen versuchten wir, unsere Gruppe vor solchen Auseinandersetzungen zu schützen, was natürlich nicht gelang. Das war schmerzlich, aber auch nützlich. Wir mussten die Tatsache akzeptieren, dass es immer wieder schwer war, uns in unseren zunächst sehr unterschiedlichen Bezugssystemen zu verstehen: – Wir konnten uns lange nicht realistisch wahrnehmen. Es gab in vielfältigen Abwandlungen das sog. »Samtkleidphänomen«, wie beschrieben, also die Idealisierung auf beiden Seiten hin und her. Aber es gab auch das »umgekehrte Samtkleidphänomen«, z. B. als Carl Rothenburg das erste Mal im Haus von Margit Venner aus der Gruppe übernachtete und dann im Protokoll vermerkte, dass es düster und verfallen sei. Aber die wunderschöne, am Süd-Ost-Hang gelegene, sonnige Dörpfeld-Villa von Venners war schon vor der Wende restauriert worden. – Oder bei den Runden »Wir über uns« fühlten sich die Heidelberger oft bedrängt bei unseren Fragen: »Was hat sich denn bei Ihnen verändert, welche Auswirkung hat die deutsch-deutsche Vereinigung auf Sie?« Natürlich standen wir viel stärker unter Druck. Die Veränderungen in der alten Bundesrepublik verliefen subtiler, und die Probleme konnten mit dem Blick nach Osten lange abgewehrt werden. Wir nahmen mit Erstaunen wahr, dass die Heidelberger die Veränderungen in den Altbundesländern zum Teil gar nicht wahrnahmen, und auch, dass es ihnen schwerfiel, die persönliche Irritation einerseits an sich heranzulassen und andererseits, das auch noch mitzuteilen. Wir haben auch nicht alles erzählt, aber uns fielen persönliche Mitteilungen nicht so schwer. Inzwischen haben wir den westlichen Sozialisationsdruck, der eine Entpersönlichung des Alltags bewirkt, am eigenen Leib erfahren, mit allen Vorteilen und Nachteilen. Diese Runden »Wir über uns« wurden von uns eine Zeitlang benötigt und von den Heidelbergern gefürchtet. Dies veränderte sich mit der Zeit. Dieser Aspekt unserer Arbeit war eine ­kreative Leistung der Gruppe, mit der echte Vereinigungsarbeit geleistet wurde. – Ein weiterer Konfliktpunkt war immer wieder die Befürchtung, in unserer bisherigen Arbeit entwertet zu werden. Die Entwertung des Ostens ist geradezu ein klassischer OstWest-Konflikt. Er zeigte sich bei uns etwa 1993 in einer Auseinandersetzung mit Hildegard Munzinger über unsere Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. Wir hatten, von vielen Entwertungserfahrungen im Zusammenhang mit berufspolitischen Besitzstandskämpfen sensibilisiert, den Eindruck, dass sie diese bei uns entwickelte Methode gering schätzte. Dieser Konflikt ging sehr tief.

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5.10  Ost-Ost- und Ost-West-Beziehungen in den 1980er Jahren

– Zum Glück gab es in unserer Supervisionsgruppe mit Frau Munzinger nie Streit ums Geld. Wir hatten in der DDR eine andere Beziehung dazu als die Westdeutschen. Geld war im Alltag nicht viel wert. Wichtiger war es, Wertschätzung durch besondere Kostbarkeiten auszudrücken, für deren Beschaffung oder Herstellung viel persönliche Mühe aufgewendet werden musste. Es kam uns also einerseits entgegen, dass wir anfangs kein Geld hatten und mit »Naturalien« wie Kultur und Kunst bezahlen mussten. Andererseits war dies auch demütigend für uns. Hildegard Munzinger hatte dafür Verständnis und ermöglichte uns nach der Wende einen langsamen Übergang zu angemessener Bezahlung in D-Mark. Wir erfuhren von anderen am Geld gescheiterten Supervisionsvorhaben. Keine Seite hatte sich bemüht, die sozialisationsbedingten Unterschiede beim Umgang mit Geld zu verstehen. Es blieb bei den Vorurteilen, »die undankbaren Ostdeutschen wollen alles geschenkt haben« und »die sowieso auf der Sahneseite sitzenden Westdeutschen können nicht genug kriegen«. – Die heftigsten Ost-West-Auseinandersetzungen in unserer Gruppe gab es im Zusammenhang mit einem von der Köhler-Stiftung geförderten Forschungsprojekt, das die Analyse unseres Gruppenverlaufes von 1987 bis 1995 zum Inhalt haben sollte. Im Rückblick fiel uns auf, dass beide Seiten versucht hatten, die Probleme, die es damit geben könnte, abzuwehren und nicht viel darüber zu sprechen. So war daraus ein typisches West-Forschungsprojekt geworden, in der Weise, dass nur die Ostseite analysiert wurde, in zum Teil entwertender Weise. Das bestätigte die Erfahrung, die Jochen Schade und ich aus der Gruppe neben vielen anderen auch bei einem Workshop des Sigmund-FreudInstituts in Frankfurt im Dezember 1995 gemacht hatten. Unter der Überschrift »Die Psychopathologie der Vereinigung« wurden psychoanalytische Thesen dargelegt, dass breite Bevölkerungsschichten der DDR aufgrund der Repressionen des totalitären Systems keine reifen Über-Ich-Strukturen ausbilden konnten. Zudem zeigten die Ostdeutschen, ähnlich wie ein schizophren Erkrankter, eine unbewusste Spaltung in eine öffentliche und eine private Identität. Es scheint ein zentraler Punkt der Psychopathologie der Vereinigung gewesen zu sein, dass der Symptomträger in der deutschen Familie einseitig festgelegt werden sollte. Jochen Schade und ich haben damals vehement auf diese projektiven Abwehrphänomene hingewiesen. Es war für uns alle schmerzlich zu erleben, dass das zunächst mit Enthusiasmus begonnene gemeinsame Forschungsprojekt über unsere Gruppe in typischer Weise gescheitert war und bis heute nicht wieder aufgegriffen werden konnte. Die Auseinandersetzungen darum waren schmerzlich, aber haben uns geholfen, die gegenseitigen Projektionen und projektiven Identifizierungen bewusst zu machen, und wir denken auch, ein gutes Stück aufzulösen. Hildegard Munzinger begegnete uns aber in der Regel vorurteilsfrei. Sie hatte noch unser DDR-Leben kennengelernt. Sie kam als Neugierige, auch als Lernende, ohne Herablassung, ohne Hochmut. Sie wollte »einfach anfangen und sehen, was möglich ist«. Wichtig war, dass sie einfach als Mensch zu uns kam! »Ja, aber das ist doch das Wichtigste in der Psycho­ analyse überhaupt«, meinte sie dazu nur lachend. Manchmal zweifelte sie auch an der Psychoanalyse: »Verhilft die Analyse nicht zu einer zu starken Individuierung und fördert sie nicht zu sehr den Narzissmus?« Wir hatten gute

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offene Gespräche darüber. Ich denke, wir konnten ihr durch unsere DDR-Erfahrung, zu der die schmerzhafte Diskriminierung von Individualität gehörte, wieder Mut machen. Nicht die Psychoanalyse ist das Problem, sie kann die Welt nicht retten, aber auch nicht verderben. Es kommt darauf an, wie wir damit umgehen. Obwohl unsere Gruppe nicht mehr zusammen arbeitet, sind viele von uns mit Hildegard Munzinger in freundschaftlicher Verbindung geblieben. Zu unserer Gruppe gehörten außer mir und Margit Venner noch Arndt Ludwig, Dagmar Völker, Jochen Schade, Gerlinde Schulz, Evelyn Daniel, Christian Ederer und Antje Habenicht. Wir alle sind Hildegard Munzinger dankbar, dass wir sie kennenlernen und erleben durften, von ihr gelernt haben und mit ihr streiten und uns gegenseitig unglaublich bereichern konnten.

5.10.2.3 Gottfried Lobeck: Vater Staat – Ein Dritter im Bunde Vieles kam zusammen: zunächst die Gelegenheit erster Kontaktnahme Dresdner psychotherapeutisch Tätiger mit westdeutschen Teilnehmern des Internationalen Symposium vom Oktober 1984 in Dresden, die im Wiedersehen auf dem Erfurter Kongress 1987 den bereits gereiften Gedanken direkteren fachlichen Austausches in den Plan münden ließ, eine Psychodrama-Ausbildung in Dresden in die Wege zu leiten. Dann stand mit Dr. Joachim Gneist ein Nervenarzt, Psychoanalytiker und als Psychodramatherapeut ein Lehrbeauftragter des Moreno-Institutes Überlingen bereit, der entsprechende Aufgeschlossenheit schon in offiziellen Kontakten zur Sektion Psychologie der Leipziger Universität gezeigt hatte. Auch waren es die schließlich zwölf Dresdner berufserfahrenen Psychotherapeuten, darstellbar als sechs Frauen, sechs Männer oder auch sechs Klinische Psychologen und sechs Ärzte sowohl ambulanter als auch klinischer Tätigkeit, die das gewachsene fachliche Miteinander in der Region auf der Grundlage der selbsterfahrenen Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie recht gut abbildeten. Und schließlich trafen wir auf behördliches Entgegenkommen, welches augenscheinlich auch das Gewicht anerkannte, das die Beantragenden durch ihr berufliches Wirken im Bezirk Dresden in die Waagschale legen konnten. Im Mai 1988 startete der erste dreitägige Block, offiziell getragen von der Regionalen Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie, der Regionalgesellschaft für Psychotherapie, der Poliklinik Weißer Hirsch Dresden sowie der Abteilung für Gesundheits- und Sozialwesen des Rates des Bezirkes Dresden. Diese Weiterbildung endete im September 1991 mit der Anerkennung als Psychodrama-Assistent. Zwar war es uns seinerzeit durchaus möglich, Psychotherapieströmungen im anderen Teil Deutschlands über die Literatur zu verfolgen, schränkte jedoch der Mangel direkter Kontakte lebendige Teilhabe ein und begrenzte dadurch deren Einfluss auf unser berufliches Selbstverständnis. Hohe Erwartungen gestalteten deswegen die freudige Spannung im Vorfeld. Die theoretischen Grundannahmen, die uns zum Psychodrama als (analytisch ausgerichtete) Gruppentherapie vorgewiesen wurden, waren bald vertraut, lagen sie doch innerhalb unseres Kenntnis- und Erwartungshorizontes. Umso überraschter registrierten wir dagegen, wie unser Lehrer mit dem Widerstand umging, der aus der von den Teilnehmern jeweils gestalteten Abwehrkonstellation der Gruppe erwuchs. War es doch für die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie nach Höck bezeichnend, dass der Leiter über fördernde,

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ermöglichende, zulassende, aber auch vermeidende und behindernde Aktivitäten sich situationsbezogen bemüht, eine progressive Entwicklung der Gruppe »von der Leiterabhängigkeit zur Autonomie, von der diffusen Gruppierung zum eigenverantwortlichen Kollektiv zu fördern und zu unterstützen« (Höck 1985). Wobei in der alltäglichen Praxis die jeweiligen Widerstandsphänomene bei den Gruppenmitgliedern schon im Beginn konsequent konfrontierend so angesprochen wurden, dass die kräftigen Spannungen aus den derart herausgefordert neurotischen Anteilen archaischer Abhängigkeits- und Autoritätsmuster einen tiefgreifenden, hochemotionalen Prozess der Auseinandersetzung in der Übertragung auf die Person des Leiters einleiteten. Das gemeinschaftliche Bewältigen dieser Situation über reifendes Durcharbeiten sollte dann zu vertrauensvollerem Sich-Öffnen wie auch eigenständigem und solidarischem Agieren in der auf diesem Wege angestrebten sog. Arbeitsphase der Gruppe führen. Deutlich anders empfahl sich uns hier der westdeutsche Leiter. Überrascht registrierten wir »nebenher«, im begleitenden Austausch unter uns, wie merkwürdig befangen wir doch bemüht waren, beispielsweise in den nacharbeitenden Gesprächen zum Tagesausklang, unsere Einwürfe und Reflexionen unhinterfragt, wie selbstverständlich an der vorgeahnten Werteordnung und Zielrichtung des Leiters auszurichten. Geradezu befreiend war dann das Erleben, uns im Freud’schen Sinne ermuntert zu sehen, alles aktuell Bewegende anzusprechen, um dann unerwartet zu erfahren, dass im Fall abwehrbedingten Widerstandsagierens weniger auf die Unangemessenheit als die dahinter stehende Kraft eines zugrundeliegenden emotionalen Musters persönlicher Not geschaut wurde. Das erlaubte, diese hier vorsichtig sich zeigenden Verspannungen sogleich oder in späteren Schritten zu tieferem Anvertrauen zu bringen und dadurch einer Bewältigung zuzuführen. »Segeln gegen den Wind« benannte unser Leiter auf unsere neugierige Anfrage seine Haltung. Somit erlebten wir ihn eher als kundigen, aktiv Sicherheit gebenden Begleiter, der das Meistern von Abhängigkeit und Autoritätsbefangenheit unter Beibehaltung seines Rollenverständnisses eher darin sah, dieses dann an den im Spiel sich formenden Figuren aktueller wie seinerzeitiger Vertreter der Macht vorzunehmen. Uns für diesen Weg zu motivieren, nutzte er seine Autorität. Zufällig fiel ein Ausbildungsabschnitt in den Oktober 1989, wodurch Abhängigkeit und Autoritätsbefangenheit plötzlich unerwartete Aktualität erhielten. Wir lebten ganz im Eindruck des Tagesgeschehens, und zwangsläufig setzte sich das Demonstrationserlebnis des Aufeinanderprallens von irritierter, aber noch bedrohender Staatsmacht und rebellierenden Demonstranten auch auf unserer Bühne in Szene. Angst, Wut, Kraft aus erlebter Solidarität und Nähe, Bedrückung und Auflehnung füllten den Raum. Erweiternd zum realen Erleben der Vortage war durch Rollenbesetzung jetzt auch die Staatsmacht verkörpernde Polizistenkette plötzlich persönlich vernehmbar. Die Bezogenheit der aufeinander stoßenden Kräfte im Kontext der Krise der Macht erschloss sich umfassender, Dynamik und Spannung des Gesamtgeschehens ließen sich klarer übersehen. Lebendig empfahl sich uns ein über eigentliche Psychotherapie hinausgehender Nutzen des Psychodramas – das Soziodrama. Das Politische zeigte sich persönlich, und das Persönliche war gleichzeitig auch im Politischen sichtbar. Diese Dimension berührte uns ebenfalls im Februar 1990, als wir einer Einladung der Münchner Psychodramagruppe folgten. Im gemeinsamen Spiel kam unerwartet deutlich

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auch eine Verschiedenheit ans Licht. Mit getauschten Rollen (Dresdner wurden zu Münchnern und umgekehrt) spielten wir eine Begegnung und staunten nicht schlecht, wie auf einmal Klischeevorstellungen, Vorurteile und dahinter liegende Ängste jeder Seite überraschend kräftig, trotz der echten Freude über die neu gewonnenen Kontakte, ihre Gestalt zeigten. Diese Wahrnehmung der Distanz bedingten, Distanz beschreibenden projektiven Verzerrungen und polarisierenden Ausformungen der gemeinsamen Angst aus zugrundeliegender Fremdheit beschäftigte uns anhaltend, jedoch in zugleich merkwürdiger Weise untergründig, gleichsam »etwas neben« der Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit. Tiefer lotender Austausch darüber ergab sich nicht, zu deutlich bestimmten die sichere Verheißung freier Selbstbestimmung und das Einladende eines demokratisch sich darbietenden Gemeinwesens jene Tage. Wir übten uns im aufrechten Gang, den uns die Westdeutschen augenscheinlich voraus hatten. Die Kontakte gerieten herzlich und lang gehegte Wünsche sahen plötzlich reale Verwirklichungswege. Und diese starken Eindrücke bekamen steten, bekräftigenden Zustrom aus den täglichen Erfahrungen. Noch eine weitere Gelegenheit fand sich in jener Zeit, in tätigem Miteinander sowohl Gemeinsamkeiten als auch Verschiedenheiten west- wie ostdeutscher Psychotherapeutenhaltungen zu sehen: Im Sommer 1990 folgten wir, eine diesmal kleine Gruppe der Dresdner Psychodrama-Adepten, der freundlichen Einladung zu einer kostenlos gewährten Weiterbildungswoche am Moreno-Institiut in Überlingen. Eine ost-west-gemischte Gruppe belebte dadurch das Teilnehmerfeld. Trotz etwa gleicher Vertrautheit mit der Methode waren wir doch beeindruckt, mit welch sicherer Offenheit und stabilem Selbstvertrauen zunächst die westdeutschen Gruppenmitglieder die Abläufe wesentlich gestalteten und sich selbst einbrachten. Wir dagegen wirkten vorsichtiger und prüften die jeweiligen Beziehungsqualitäten ausgiebiger. Gleichwohl waren wir aber auch bereit, uns vom vorgefundenen Schwung anregen zu lassen und schließlich zügiger persönlichere Berührt- und Betroffenheiten vernehmbarer einzubringen. Merkwürdigerweise änderte sich im Fortgang mit dem gemeinsamen Erreichen gefestigterer Vertrautheit diese Unterscheidbarkeit spürbar. Nun meinten wir gar zu fühlen, dass wir im Feld jetzt größerer Nähe und tieferer Bezogenheit eine Spur sicherer, offener und deutlich vertrauenweckender wirkten und damit die Entwicklung der Gruppe schließlich führend mitgestalteten. Es schien rückblickend, als ob die Geschwindigkeit, in der eine Gruppe zu verlässlicher Vertrautheit kommt, eine definierte Zeit benötigt, wobei die Zügigkeit des Durchmessens einzelner Etappen sowohl vom Individuationsmuster der jeweils agierenden Protagonisten als auch der Fähigkeit der anderen Gruppenmitglieder, sich dann Neuem anpassen zu können, abhängt. Damit zeigen offenbar nicht nur die Muster individueller Sozialisation, sondern ebenso die Prägungen gesellschaftlicher Bedingungen ihren Einfluss auf die sich formenden Gestalten von Gruppen. Und aus subjektivem Erleben meinten wir erkennen zu können, dass unsere gemischte Gruppe aus solcherart zu erklärendem gegenseitigem Mitziehen im Vergleich zu den anderen Teilnehmergruppen einen besonders guten Zusammenhalt und ein recht hohes Maß an kreativer Fähigkeit entwickelte. Zunehmend verdeutlichte sich, wie sehr diese Zusammentreffen deutsch-deutscher Psychotherapiewirklichkeiten auch von den jeweiligen Sozialisationmustern mitgestaltet wurden. Marx’ Satz »Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein« wurde konkret.

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Uns selbst widerfuhr dies auf unerwartete Weise. Gleich den Patienten nach befreiender Deutung oder zugewonnener Sicherheit im Behandlungsgang wurden wir im Zuge der gesellschaftlichen Wende allmählich sehend und gewannen über bereitliegendes, bislang jedoch augenscheinlich nicht gewagtes »Wissen« Verfügung. Indem wir, dem gruppentherapeutischen Konzept nach Höck folgend, einen Ablauf zu gestalten suchten, der im sog. Kippprozess quasi revolutionär die erlebte Übermacht des Therapeuten durch die herausgeforderte demokratische Kraft der Gruppe ablösen sollte, benannten wir gleichzeitig auch Wertvorstellung zu Organisationsformen förderlichen sozialen Zusammenlebens. Zugleich intendierten wir damit aber eine Entwicklung, die auf der Ebene der parteistaatlichen Realität keinem der Beteiligten machbar erschien. Dass uns dieser Gegenwartsbezug verschlossen blieb und in Gesprächen untereinander vordem diese Merkwürdigkeit nie in den Blick geriet, obwohl wir meinten, die Nische unserer Berufswelt auch in Bezug auf gesellschaftliche Realität »objektiv« kontrollieren zu können, war dabei das eigentlich Überraschende. Unversehens zeigte sich in dieser bewusstseinsmitgestaltenden, ja sogar bewusstseinsmanipulierenden Kraft von Vater Staat als somit ebenfalls »Dritter im Bunde« (Thomä u. Kächele 1989, S. 8) beeindruckend der immanente, stetig wirkende Einfluss gesellschaftlichen Seins. Der gewonnene aufrechte Gang im Gefolge der Ereignisse von 1989 brachte es mit sich, dass dieses Bewusstwerden eher als eigenständig erworbener Zugewinn kritischer Fähigkeit denn als Beschämung erlebt werden konnte. Selbstbewusst musterten wir nun, in welchen Zusammenhängen bei den westdeutschen Kollegen ebenso von einer »gleichartig affizierten Masse« gesprochen werden darf. So meinten wir, entsprechend der auf Wachstum und Konkurrenz ausgerichteten Wirtschaftsordnung oder dem richtungsrivalisierenden Parteienpluralismus, nun auch auf psychotherapeutischem Feld Quasiorganismen mit definierter innerer Struktur erkennen zu können, die, den vorgefundenen ökologischen Bedingungen folgend, ihre Entwicklungsmöglichkeiten durchsetzungsbereit und abgrenzend zu nutzen suchten. Autorität und Abhängigkeit bestimmten sich in solchem Fall mehr aus den Werthierarchien der unmittelbaren berufsständischen Bezugsgruppen und wirkten in diesem Rahmen normierend. Bislang hatten wir uns beispielsweise im Fundus psychotherapeutischer Nachbardisziplinen unbekümmert nach zu Bedenkendem und Anregendem umgesehen. Und besonders diese Psychodrama-Ausbildung, die wir als tiefgreifende berufliche Weiterentwicklung erlebten, diente neben der Absicht, das Neue im Ganzen seines Wesens gründlich kennenzulernen, auch dem Wunsch, damit bisheriges Vorgehen zu vervollkommnen. Da wirkte ein im Sinne marktwirtschaftlicher Konkurrenz getragener Umgang der verschiedenen Schulen hinderlich, welcher die Unterschiede der Auffassungen (über)betonte und für uns zu sehr beiseite ließ, aus der Vielfalt auch wieder das Einende synoptischer Modelle anzustreben. Die staatliche Einheit war vollzogen, eine deutliche Last war abgelegt, und ein schwer beschreibbares Empfinden schien dem noch Unvertrauten nicht nur neugierig-aufgeschlossen, sondern zuweilen auch vorsichtig-prüfend begegnen zu wollen. Der aufrechtere Gang sollte sich festigen können. Zwischen den Zeilen lässt der Schauspieler Hilmar Thate mit seiner Antwort auf die Frage zum Unterschied seines Arbeitens in der DDR und BRD eine auch uns geläufige Haltung erkennen: »Nein. Wenn man mit begabten Leuten zu tun hat, dann macht es Spaß, und

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mit Unbegabten eben keinen. Die gab’s im Osten wie im Westen. Im Grunde wurde in der DDR sogar offener gearbeitet, im Sinne, sich die Wahrheit um die Ohren zu knallen. Man durfte zwar nicht sagen, Honecker ist doof, aber zum jeweiligen Intendanten oder Regisseur schon. In der Bundesrepublik wurde mehr kaschiert.«

5.10.3 Christina Schröder: »Nicht mehr ohne Freud« – Das SigmundFreud-Symposium im Juli 1989 als öffentlicher Ausdruck des Veränderungswillens »Vom 11.–13. Juli 1989 – noch immer ahnte niemand, dass bereits wenige Wochen später die DDR anfangen sollte, endgültig auszubluten – fand in Leipzig etwas ganz Außergewöhnliches statt. Ein Kongreß mit dem Thema ›Geschichte und Gegenwartsprobleme der Psychotherapie – zur Stellung Sigmund Freuds und der Psychoanalyse‹. Und nicht nur das, sogar mit wirklich internationaler Beteiligung u. a. aus der BRD, Österreich, Ungarn, den USA« (Peglau 2001, S. 113). Mit diesen Worten beschreibt ein Teilnehmer, selbst Psychologe, Journalist und in den 1980er Jahren auf der Suche nach Eintrittspforten für die Psychoanalyse in das DDR-System, rückblickend den Stellenwert eines wissenschaftlichen Ereignisses, das nach dem Willen seiner Veranstalter eine offizielle und öffentlich beachtete Wende in der Beziehung zur Psychoanalyse einleiten sollte. Dass dieses Ziel erreicht werden konnte und auch der Begriff offiziell angebracht ist, wird insbesondere durch den Tagungsbericht der DDR-Nachrichtensendung »Aktuelle Kamera« am Abend des 12. Juli 1989 bestätigt, der nach DDR-Standards den Stellenwert eines Dokumentes besaß. Im Folgenden werden einige Hintergründe für das Zustandekommen dieses Ereignisses erörtert und seine politische Dimension beleuchtet. Die dreitägige Plenarveranstaltung wurde gemeinsam von der Karl-Marx-Universität Leipzig, hinter dieser stand das altehrwürdige Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften unter Leitung des Philosophen und Medizinhistorikers Achim Thom, und der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR unter dem Vorsitz von Michael Geyer ausgerichtet (zu Ablauf und Programm s. Thom, Schröder u. Geyer 1991; Schröder 2003). Im Zusammenhang mit dem Schicksal der Psychoanalyse in der DDR hatte die Kulturstadt Leipzig in Fachkreisen eher einen schlechten Ruf, da dort im Jahre 1953 der nationale Pawlow-Kongress stattgefunden hatte. Er diente u. a. dazu, das tiefenpsychologische Paradigma zu ersticken, das sich in Ostdeutschland während der Nachkriegszeit auf bescheidenem Niveau formieren konnte. »Auf diesem Kongreß wurde nach sowjetischem Vorbild Pawlow zum Dogma für die verschiedensten Wissensgebiete erhoben und unter anderem der Psychoanalyse eine ideologische Absage erteilt, von der sich die Psychotherapie in der DDR nicht wieder erholen konnte« (Bernhardt 2002, S. 186). Nach dem Selbstverständnis der Veranstalter sollte gerade das für 1989 geplante Symposium anlässlich des 50. Todestages von S. Freud solchen Urteilen vorbeugen. Denn es sollte den Beweis erbringen, dass es seit längerem eine intellektuelle Reformbewegung zur Wiederaufnahme der Psychoanalyse in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs gab.

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Dabei fiel die Entscheidung für den Tagungsort Leipzig aus mehreren Gründen. Hier gab es die einflussreichste und größte Einrichtung für Psychotherapie an einer Universität und die für eine solche wissenschaftliche Veranstaltung nötige Infrastruktur. Nicht zuletzt sahen die Organisatoren in dieser Wahl auch einen historischen Ausgleich für die wissenschaftliche Unvernunft des Pawlow-Kongresses, denn in der Praxis hatte es die Psychotherapie längst geschafft, wieder Anschluss an das psychodynamische Vorgehen zu finden. Laut Geyer (2000) hatte diese inzwischen einen methodischen Vorlauf von zehn bis 15 Jahren und benötigte festen theoretischen Boden sowie internationale Einbindung. Damit war es der Psychotherapie gelungen, gegenüber der Ideologie eine offensive Position einzunehmen. Träger dieser Reformbewegung war ein Bündnis zwischen Vertretern der psychosozialen Medizin und Sozialwissenschaftlern, mit dem Zweck, die selbstschädigende Ignoranz bewährter Wissensbestandteile aufzugeben und die Humanwissenschaften um eine maßgebende Theorie des Subjektes zu bereichern. Daneben lockte die Psychoanalyse natürlich auch als eine subversive Kraft zur Überwindung erstarrter Strukturen und vorenthaltener Persönlichkeitsrechte. Dieses Bündnis, zu dem auch Schriftsteller, Journalisten und andere Interessierte zählten, war ebenfalls Ausdruck einer inneren Solidarisierung der DDR-Gesellschaft, die sich gegen das demütigende »Denkverbot« richtete. Charakteristisch für diesen Prozess waren der Schutz und die Legitimation, welche die Psychotherapeuten gezielt bei marxistischen Philosophen suchten bzw. von einigen freimütig erhielten. Als exponierte Vertreter des dominierenden ideologischen Überbaus besaßen diese Deutungshoheit und eine Art Sondierungserlaubnis. So konstituierte sich z. B. 1980 wiederum in Leipzig eine Arbeitsgemeinschaft für weltanschaulich-ethische Fragen innerhalb der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, die der Philosoph Achim Thom, zugleich Vorstandsmitglied dieser Gesellschaft, leitete. Bereits 1981 richtete diese Arbeitsgemeinschaft eine kleine Freud-Tagung mit Hilfe der Psychiatrischen Klinik Bernburg aus, eine Art Generalprobe für die spätere Großveranstaltung in Leipzig. Die Bernburger Tagung hatte den 125. Geburtstag S. Freuds zum Anlass (vgl. Protokollband, hrsg. v. Katzenstein, Späte u. Thom 1981). Solche wissenschaftshistorischen Jubiläen sorgten oft nach außen hin für die formale Berechtigung ansonsten »unerwünschter« Veranstaltungen. 1981 stand das aufgeschlossene Freud-Bild der Psychotherapeuten der herkömmlichen Kritik an der sog. psychoanalytischen Psychologisierung und Biologisierung der sozialen Triebkräfte offen gegenüber, die einige Philosophen noch im Sinne der »klassischen Kontroverse« zwischen Marxismus und Psychoanalyse aus der frühen Stalinzeit vortrugen. Aber auch ihre Wortmeldungen stellten einen gewissen Fortschritt dar, denn sie widmeten sich der »klassischen Kontroverse« aus einer erweiterten historischen Perspektive und versuchten, sowohl die Brüche als auch die Kontinuität im Verhältnis zwischen Marxismus und Psychoanalyse nachzuzeichnen. Als ein weiterer Beleg für das vorauseilende Vortasten kritischer Philosophen ist der Aufsatz »Vorschläge zu Freud« zu nennen, den der Ostberliner Philosoph und Schriftsteller John Erpenbeck zusammen mit dem New Yorker Psychoanalytiker Antal Borbely im November 1987 in der Ost-»Deutschen Zeitschrift für Philosophie« veröffentlichte. Dabei handelte es sich geradezu um eine Einladung, sich mit den heuristischen Erklärungsmodellen Freuds zur Genese des Psychischen und motivational gelenkter Normbildungen zu

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beschäftigen. Borbely erlebte zwei Jahre später das Freud-Symposium in Leipzig und konstatierte bei seiner Verabschiedung von den Organisatoren, dass eine grundlegende Veränderung der DDR-Gesellschaft unmittelbar vor der Tür stehe, auf die wir selbst nur in langsamer und schrittweiser Form zu hoffen wagten. Psychotherapieexperten, Gesellschaftswissenschaftler und »Laien« wollten Freuds Werk wiederbeleben, um es anzuwenden, und konzentrierten sich deshalb auf das Ermöglichen einer eigenständigen Freud-Rezeption. Eine solche Basisarbeit setzte zunächst das Aufgeben der »editorischen Enthaltsamkeit« (Schmidt 1989) voraus. Tatsächlich erschienen in den 1980er Jahren ziemlich verstreut wichtige Originalarbeiten Freuds (zur Geschichte der Veröffentlichung der Schriften von Freud und der anhaltenden, zum Teil latenten Freud-Präsenz in der DDR s. Fritsche 1981; Nitzschke 1986; Köller 1999; Bernhardt, Lockot 2000). Dabei war die Distanz zur westlich-konventionellen Freud-Rezeption nicht nur taktisches Kalkül zur Abwehr des Misstrauens gegenüber antisozialistischen Einflüssen, sondern entsprach dem Bedürfnis nach einer von Dogmen unabhängigen geistigen Aneignung. Es ging nicht nur darum zu zeigen, dass es in allen Etappen der DDR-Geschichte nie ganz gelungen war, Freud ins gesellschaftliche Unbewusste zu verdrängen, sondern es ging vor allem um eine Verortung der Psychoanalyse als Potential für konkrete und spezifische Veränderungen der Realität. Aus der politischen Perspektive der gelungenen Abschaffung des gesamten Systems erscheint ein solcher Liberalisierungsversuch als unerheblich, prospektiv betrachtet erschien er vielen Beteiligten als der einzig vorstellbare Handlungsspielraum. Aus der Perspektive orthodoxer Psychoanalytiker erschien dieser Umgang mit Freud schon vor dem Mauerfall als eigenmächtig und verfälschend. So verließ einer ihrer Hauptvertreter vorzeitig das Leipziger Symposium aus Protest gegen die sich abzeichnende fachliche und politische Vereinnahmung Freuds. Das Leipziger Freud-Symposium stellte den Höhepunkt der beschriebenen Bestrebungen dar und gliederte sich in drei Themenschwerpunkte: – Einleitend ging es aus den o. g. Gründen um die Vielfalt und Relativität der Freud-Bilder und den Wert des anthropologischen Gehalts der psychoanalytischen Theorie, wobei vor allem Gäste aus dem Ausland über Weiterentwicklungen und Begrenzungen sprachen. Hier bestand die Intention der Veranstalter auch darin zu zeigen, dass ostdeutsche Wissenschaftler zur Erforschung der historischen Relevanz des psychoanalytischen Theoriengebäudes und seiner kulturellen und sozialen Folgen beitragen können. Diese Absicht wurde besonders durch zwei Veröffentlichungen gestützt. Im Vorfeld des Symposiums war sowohl ein Themenheft der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Karl-Marx-Universität mit dem Titel »Psychodynamik. Zum Erbe Freuds in der modernen Medizin« (Thom u. Grau 1989) als auch eine kommentierte und mit einer Biographie versehene Ausgabe früher Schriften Freuds erschienen (Kästner u. Schröder 1989). – Zweitens wurde das Verhältnis der Teildisziplinen der Psychologie zur Psychoanalyse diskutiert. Dieser Themenblock galt als besonders schwierig, da die positivistische akademische Psychologie und die mit ihr verbundenen Psychotherapieschulen im interna­ tionalen Konsens ihr eigenes Verdikt der Psychoanalyse pflegen. Die mit der Psycho­ analyse sympathisierenden Psychologen der DDR hatten deshalb eine doppelte Schranke zu überwinden.

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5.10  Ost-Ost- und Ost-West-Beziehungen in den 1980er Jahren

– Im dritten und letzten Teil stand die gesellschaftlich vertretbare Variante der »Reinstitutionalisierung der psychoanalytischen Praxis« im Mittelpunkt und zur Debatte. Auch hier wurde die Psychoanalyse als Psychologie und Psychotherapieform unter anderem behandelt, um ihre unverzichtbare Eigenqualität (insbesondere in der Aufdeckungsarbeit) und die mit ihrer Hilfe möglichen Gewinne für die individuelle und kollektive psychische Gesundheit herauszustellen. In dieser Phase des Geschehens gaben Referenten und Diskutanten die bis dahin noch spürbare Selbstzensur und die gewohnte Verschlüsselung von Kritik in Analogien und Metaphern weitgehend auf, wodurch eine brisante und spannungsgeladene Atmosphäre entstand. Deren erwartete und zugleich gefürchtete Wirkung auf die Funktionäre und Überwacher lässt sich am besten anhand des Berichtes eines informellen Mitarbeiters der Staatssicherheit transparent machen, für dessen Verständnis noch einige Vorbemerkungen nötig sind. Das Symposium musste die übliche fünfjährige Planungs- und Genehmigungsphase innerhalb mehrerer Ministerien durchlaufen, die einschließlich der Anmeldungsprozeduren für Gäste aus dem westlichen Ausland genügend Gelegenheiten für staatliche und sicherheitsdienstliche Kontrollen bot. Weil er zu keiner Zeit Auflagen erhielt oder sich Befragungen zu unterziehen hatte, ging der engere Vorbereitungsstab außerdem von einer verdeckten Beobachtung und Berichterstattung durch Inoffizielle Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im eigenen Kollegenkreis aus. Mit welchem Aufwand das MfS den direkten Verlauf des Symposiums verfolgte, ist nicht bekannt. Für alle Bürger war eine unangemeldete Teilnahme über den Kauf von Tageskarten möglich, wodurch auch offizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit Zutritt gehabt hätten. Für deren Tätigkeit gewährte das Plenum einen guten Überblick. Diese Veranstaltungsform war aber gewählt worden, um dem hochinteressierten Publikum die Kenntnisnahme aller Vorträge zu ermöglichen. Dank der Arbeit von Süß (1999) ist heute jedoch ein Sofortbericht (vom 14. Juli 1989) eines anwesenden Inoffiziellen Mitarbeiters (IM) bekannt. Dieser war ein geschätzter Kollege und leitender Psychologe eines Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie. Sein Bericht veranlasste die zuständige Kreisdienststelle des MfS dazu, das Freud-Symposium als Plattformbildung im Sinne der politischen Untergrundtätigkeit einzustufen (Süß 1999, S. 319). Zudem wurde der kommentierte Bericht an einige MfS-Bezirkverwaltungen weitergereicht. Süß (1999) will mit diesem Aktenvorgang belegen, »dass in der Berufsgruppe der Psychotherapeuten am Ende der DDR das politisch kritische Potential überwog« (S. 319). Der IM bewertete bei dieser Gelegenheit auch das politische Kräfteverhältnis im Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, dem er angehörte. Dort versuche vor allem Chefarzt Dr. Maaz vom Diakonissenkrankenhaus Halle, unterstützt von Prof. Geyer, die kirchliche Protestwelle in die Psychotherapie hineinzutragen und die SED-Genossen zu dominieren. Im Zusammenhang mit dem Freud-Symposium habe Maaz dort offen propagiert, dass die DDR-Gesellschaft krank mache und reformiert werden müsse (S. 320). Diese Aussage wurde von der Kreisdienststelle als Missbrauch der Psychoanalyse für politische Zwecke eingeschätzt. Des Weiteren führte der IM aus, im Schlussreferat des Freud-Symposiums habe Prof. Geyer verkündet, »dass wir es satt hätten, das Wort ›Psychoanalyse‹ weiterhin ängstlich zu vermeiden, obwohl in Wirklichkeit in der DDR schon seit vielen Jahren analytisch orien-

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tiert gearbeitet würde. Die Zeit sei reif, offen Farbe zu bekennen. Dann habe Prof. Geyer ›die BRD-Leute‹ aufgerufen, ›helft uns bei der Ausbildung des psychoanalytischen Gedankengutes‹. Die ›BRD-Leute‹ seien ›sofort aufgesprungen‹ und hätten gesagt, ›wir sind sofort bereit und laden euch nach Hannover ein, kommt, wir sind offen für euch‹« (Süß 1999, S. 320). Anschaulicher hätte der Informant die Botschaft der Psychotherapeuten an das politische Establishment »Nicht mehr ohne Freud!« kaum übermitteln können. Insgesamt warnte der IM vor der Verbrüderung mit dem Klassenfeind und der politischen Aufbruchstimmung des Symposiums. Ob nach solchen Berichten und Einschätzungen die Akzeptanz und Integration der Psychoanalyse in einer weiter bestehenden DDR, d. h. ohne die folgende grundsätzliche Umwälzung der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, noch einmal gebremst oder sogar unterbunden worden wären, bleibt Spekulation. Die Fanalwirkung des Freud-Symposiums überlebte sich in wenigen Wochen, wird den Beteiligten aber dennoch als das unmittelbare Erleben von Zeitgeschichte in Erinnerung bleiben.

5.10.4 Helga Hess: Das 3. Symposium der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung vom 25.–27. September 1990 Am Vorabend, eine Woche vor der Einigung Deutschlands, fand in Berlin-Ost in der Schumannstraße in den Räumen der ersten Volkskammer sowie im Gebäude der Charité das 3. Symposium für Gruppenpsychotherapie statt. Es erfolgte unmittelbar im Anschluss an den 3. Europäischen Kongress für Gruppenpsychotherapie in Budapest und bildete den Abschluss einer Epoche der bisherigen Bemühungen der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der GÄP um einen eigenständigen theoretischen und praktischen Beitrag zur internationalen Gruppenpsychotherapieentwicklung. Sie waren nahezu alle gekommen, die langjährigen Gesprächspartner und Freunde der Gruppenpsychotherapie aus der Bundesrepublik, aus Österreich, der Schweiz, aus der zu diesem Zeitpunkt noch VR Polen, der Tschechoslowakei, aus Litauen, aus Russland, der VR Ungarn, der VR Bulgarien, und natürlich aus der noch Deutschen Demokratischen Republik, hier besonders zahlreich Teilnehmer ehemaliger Selbsterfahrungsgruppen. Es waren 113 Referenten. Sie waren auch gekommen, da der Nestor der Gruppenpsychotherapie aus Ostberlin, Kurt Höck, 70 Jahre alt geworden war. Das Thema des Kongresses: »Die Bedeutung der Gruppe für die Entwicklung des Menschen« unter wissenschaftlicher und organisatorischer Leitung von Helga Hess und Christoph Seidler diente dem Anliegen, den etwas eingegrenzten Aspekt der Gruppenpsychotherapie um den Aspekt der Ethno- und Entwicklungspsychologie zu erweitern, Gruppenformen in den verschiedensten Lebensbereichen und Lebensaltern sowie ihre pathologische bzw. therapeutische Relevanz zu untersuchen. Der Gruppenaspekt, die soziale Beziehung sollte stärker unter dem Aspekt des menschlichen Lebenslaufs und seiner vielfältigen, unterschiedlichen Bedingungen, angefangen in der frühen Kindheit bis hin zum Lebensende, der Situation des Sterbens betrachtet werden. Die aktuelle historisch gesellschaftliche Situation

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schlug hier jedoch mit einer Brisanz durch, die die Wertigkeit von Gesellschaftssystemen und deren Struktur, die existentielle Situation in den Vordergrund rückte, die alle Beteiligten, Referenten und Diskutanten affektiv ergriff. Das Zusammengehen der beiden deutschen Staaten, die Wiedervereinigung, spiegelte das Zusammengehen von zwei sehr unterschiedlichen »Gruppen« zu einer Großgruppe wider, die hinsichtlich ihrer Gruppengröße, ihrer Struktur, ihrer Zielstellung sehr differierten. Die Affinität, der große Wunsch der Zusammengehörigkeit, die emotionale Wurzel für eine mögliche Kohäsion war bis dato bedingt durch die Situation von eigener Frustration und Idealisierung der BRD seitens der DDR und Altruismus seitens der BRD. Neben dem Jubiläum und der vielfältigen fachlichen direkten und indirekten Würdigung der Arbeit von Kurt Höck in den einzelnen Beiträgen war der Kongress insbesondere durch die Teilnahme von Jürgen Ott geprägt, dem langjährigen Freund und Mitstreiter für die Gruppenpsychotherapie, der nach seiner Ausreise 1985 aus Ostberlin jetzt aus Düsseldorf kam. Er brachte die Grüße von Annelise Heigl-Evers mit und leitete das abschließende Rundtischgespräch. Er trug insbesondere aus der Draufsicht aus der »neuen« Welt, aus der Erfahrung der Veränderung des Krankengutes, des Lebensstiles, seiner eigenen Entwicklung seine Gedanken bezüglich der Weiterentwicklung der Gruppenpsychotherapie im Sinne einer Hinwendung zur interaktionellen Gruppenpsychotherapie bei. Das Aufsich­ nehmen eines jeweils eigenen Risikos, wie bei »Solo sonny«, wie er in seinem Beitrag uns emotional verdeutlichte, war sein Vermächtnis. In der Grußbotschaft (deren Beginn in } Abschnitt 3.5.1.4 abgedruckt ist) reflektiert Heigl-Evers nun die brisante Situation: »So erinnere ich mich an eine exzellente Inszenierung der Dreigroschenoper von Bert Berecht durch seine Witwe Helene Weigl und ein ganz vorzügliches Kabarett. Doch war dies alles natürlich auf dem Hintergrund der Mauer zu sehen und einer Atmosphäre beklemmenden Eingeschlossenseins. Das alles ist nun anders geworden. Von Gorbatschow und seinen Mitstreitern, aber auch in vielen Köpfen von DDR-Bürgern – seit Jahren vorgedacht – wurde es 1989 in diesem Lande möglich, als der Mantel Gottes durch die Weltgeschichte wehte, wie Bismarck es einmal ausgedrückt hatte, aufzuspringen und einen Zipfel dieses Mantels zu ergreifen. Oder unter antik-mythologischem Aspekt betrachtet, den Gott Kairos, den Gott des rechten Zeitpunkts, im Vorbeieilen an der Stirnlocke zu packen. Und so kam es denn dazu, dass die schon lange intendierte Veranstaltung eine des Abschieds ist. Des Abschieds von einer 40-jährigen Epoche in der deutschen Geschichte, die vor allem Bedrängnis und Bedrückung war. Die aber, dank der Initiative und dem Einfallsreichtum der Betroffenen, auch Bemerkenswertes zustande gebracht hat. So die Psychotherapie und speziell die Gruppenpsychotherapie hier in diesem deutschen Teilstaat. Die Gruppenpsychotherapie ist in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jahren durchaus auch kritisch betrachtet worden. Der Aufschwung, den die Gruppenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie in den 1960er Jahren, speziell auch genährt von der damaligen Studentenbewegung, genommen hatte, ist längst eingemündet in die Routine der Anwendung der Therapie, Rehabilitation und Pädagogik, Didaktik und Organisation. Gerade auch im klinischen Bereich wurde mancherorts der Einzeltherapie wieder ein größerer Stellenwert eingeräumt. Wenn ich richtig informiert bin, hat es eine solche Entwicklung in den letzten Jahren auch in der DDR gegeben. Insbesondere mit einer zunehmend möglich wer-

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denden Rezeption der Werke Sigmund Freuds und der von ihm entworfenen Therapie der Einzelanalyse. Dazu mag auch die Überbetonung beigetragen haben, die kollektive Systeme einer sozialistischen Gesellschaft genießen. Das dadurch eine gewisse Sehnsucht nach den Möglichkeiten des Subjektseins, der Autonomie des Einzelnen genährt wird, ist höchst verständlich. Doch auch in den westlichen Industriegesellschaften ist die Selbstthematisierung des Menschen auf dem Boden der über Jahrhunderte entstandenen Gesellschaftsformationen eine soziologisch theoretisch Erwartbare. Es ist nach den heutig gültigen soziologischen Theorien zu erwarten, dass sich in Zukunft das individuelle Leben in einem Spannungsfeld gestalten wird, dass durch gesellschaftliche Fremd- und kollektive Mitbestimmung auf der einen Seite und durch Selbstthematisierung, durch Eigengestaltung auf der anderen Seite charakterisiert sein wird. Einflüsse dieser Art zeichnen sich im Übrigen auch in der theo­ retischen Entwicklung der Psychoanalyse ab. Freilich in umgekehrter Richtung. Die Psychoanalyse hat sich zunehmend zu einer Objektbeziehungspsychologie entwickelt und ist damit von der Ein-Personen-Psychologie, von der Zentrierung auf den isolierten Organismus weit entfernt. So wird sich auch die Diskussion dieses Kongresses, so möchte ich annehmen, im Rahmen der vorgegebenen Themen auf das Spannungsfeld zwischen subjekthafter Selbstbestimmung bzw. Selbstthematisierung und kollektivem Gebundensein konzentrieren. Ich wünsche dieser Tagung, die in einem einmaligen Grenzbezirk zwischen gestern und heute sowie morgen, zwischen Vergangenheit und Zukunft stattfindet, einen bewegenden und ergiebigen Verlauf« (Baden-Weiler, 21.9.1990). Die Tagung war getragen durch eine Offenheit, Selbst- und Fremdkonfrontation, dem Wunsch, die Situation zu verstehen, das bisherige Tun, insbesondere in der Anwendung der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie zu reflektieren, einzuordnen, auch in den gesellschaftlichen Bezug. Kurt Höck, der vier Jahre zuvor schon aus der Psychotherapie ausgestiegen war, saß schweigend, aufmerksam zuhörend da. Der gesamte Kongress wirkte selbst wie eine Art Kippvorgang – hinein in eine neue Zukunft. Anstelle des Gruppenleiters Kurt Höck wurde seine Therapieform hinterfragt, nach Manfred Vorwerg, dem ehemals führenden Sozialpsychologen, war es durchaus eine Situation der Einheit in der Differenzierung, jeder stellte sich individuell dar, trat sehr individuell mit eigener Sicht auf. Die »Gegnerposition« nach Heigl-Evers war das Bisherige, die bisherige Therapieform, der bisherige Staat, die eigene Abhängigkeit hiervon; der »Gegner« war zugleich die Zukunftsfurcht und Utopie: »Wie weiter?«. Was vor allem hinterfragt wurde, war die Stringenz der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie (IDG), gesehen als eine gesellschaftliche Widerspiegelung der Abgrenzung der »geschlossenen« Gruppen in einem stationären Behandlungssystem, das zu wenig Raum für das Individuum ließ und zugleich sowohl die Patienten als auch Therapeuten unter Leistungs- und Zeitdruck setze. Damit entstehe paradoxerweise erneut Abhängigkeit, diesmal von theoretischen Vorstellungen bzw. dem therapeutischen Regime. Die Parallele wurde zum Staat der DDR gesehen. Was in der durchaus konstruktiven Auseinandersetzung (Bartuschka, Maaz) gesehen und geschätzt wurde, war die Auseinandersetzung mit der Aggressiviät, die sich entwickelnde Dynamik. C. Seidler und M. Kneschke griffen in ihrem Referat die Attacken gegen Konzeption und Staat auf, denen wir Mitarbeiter aus dem Haus der Gesundheit auf dem

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3. Europäischen Kongress in Budapest ausgesetzt waren. Damit verhielten sie sich wie parti­ zipierende Gammas zu einem Höck-Alpha, jedoch wiederum im Sinne des »Ja, aber«. Das System der IDG war patriarchalisch, aber in der Nachkriegssituation notwendigerweise väterlich, mit der Gefahr – auch für Therapeuten – der Fixierung von Abhängigkeiten, dem Schutz gegenüber eigenen Freiheitstendenzen und notwendiger Eigenverantwortlichkeit, dem Schutz vor Zweifel an eigener Potenz und Fähigkeit. Die angezielte Lehr- und Lernbarkeit mittels der Handlungsanweisungen engten Freiräume, insbesondere in der Vorarbeitsphase, ein, vermieden Risiken, enthielten für die Gruppe die Gefahr, eine Gruppenrevolte anstelle eigener Emanzipation zu erzeugen, die zugleich eine Reife des Therapeuten und Fähigkeit zum Loslassen von seinen Dominanzansprüchen sowie Gewährenlassen der Eigenentwicklung der Einzelnen beinhalte. Eine dritte »Ja, aber«-Kritik bezog sich auf die Zumutung und Verlagerung von Zivilcourage auf den Patienten, wenn es um antizipierte Öffnung nach außen bzw. den Transfer in die gesellschaftliche Umwelt gehe. Die Kliniken als Nischen-Dasein – für Therapeuten und Patienten – bereiteten daher auch Scham gegenüber der Verlagerung des Risikos bezüglich einer nicht kalkulierbaren Umwelt auf den Patienten, dem auch Bartuschka in seinem Beitrag zustimmte. (Dies war insofern doppelt problematisch, da einzelne IM sowohl unter den Patienten als auch Therapeuten aus eigener Ängstigung die Schweigepflicht verletzten.) Die anfängliche Zentrierung der Diskussion auf die Intendierte Dynamische Gruppenmethode wurde – insbesondere im Rundtischgespräch, das Jürgen Ott leitete – um eine gesellschaftliche und zugleich politische Diskussion erweitert. Den Anfang bildete hierbei die Diskussion um die Frage eines geschwisterlichen Zusammenrückens: Sind wir Schwestern und Brüder? Oder sind wir einfach nur Frauen und Männer zweier Staaten (Mittelsten Scheidt, Kneschke, Greve)? Darüber hinaus wurden projektive Wünsche und Frustrationen geäußert: der Verlust der Illusion einer sozialistischen Staatsform als ehemalige 68er, der Verlust eines Gegengewichtes z. B. für Mittelsten Scheidt. Durch den Schweizer Battegay wurde die gesamtdeutsche Situation deutlich: »Es ist eine Krise, ich beneide Sie beinahe um diese Chance, die Sie haben, aus verknöcherten Strukturen endlich mal Ihre Rollen zu finden. Sie sind gleich zweimal geweckt – durch Hitlerdeutschland und durch die sozialistische Diktatur. Sie müssen wachen, damit Ihre demokratischen Errungenschaften wirklich als solche bleiben. Da sind Sie aufgerufen, das ist Ihre Aufgabe – auch mit Ihrem Partner, der Bundesrepublik – so zurande zu kommen, dass Sie Ihre individuellen Rechte haben [...]. Ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen – nicht wieder in eine Diktatur«. Projektionen eigener Ohnmacht wurden deutlich und auch diskutiert. Die hintergründige Zukunftsfrage »wie weiter?« wurde durch entsprechende Fremd- (Maaz, Bartuschka, Pühl) und Selbstkonfrontationen (Mittelsten Scheidt, Battegay) im Hinblick auf eine Beunruhigung durch die Diktatur einer Wohlstandsnorm hinsichtlich des weltweiten Ökologieproblemes, der Bedrohlichkeit durch den Bruderstreit der arabischen Völker, insbesondere aber hinsichtlich Israel und Palästina in durchaus persönlicher Tangiertheit weitergeführt. Mies führte dann den Bogen der politischen Diskussion zurück bzw. weiter zur professionellen Verantwortlichkeit, zum Zusammenhang von Gruppenprozess und gesellschaftlichem Prozess, wie auch bereits Erdheim in seinem Referat über »Kultur und Gesellschaft« Fragen der Entwicklung des Individuums thematisierte. Mies wies auf übergreifende Probleme in unserer Gesellschaft hin, wie

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sie gesamtgesellschaftlich und kulturell stattfinden, auf die Frage der Konformitätsbildung in der Industriegesellschaft, auf die Diskrepanz: zwischen öffentlicher und privater Sphäre, die Trennung zwischen Sinnlichem und Sozialem, die Frage der Auseinandersetzung mit Entfremdungs- und Kommunikationsprozessen. Damit wurde der Bogen zugleich auch zurückgeführt zum Ausgangsreferat von Pühl mit der Frage nach der Rolle und Bedeutung der Angst in Gruppen und Institutionen und entsprechend abgeleiteten Sozialisationsformen beim Menschen (Pühl 1988). So klang die »Gruppendiskussion« als eine Ost-West-Verständigung mit Nachdenklichkeit über die Zukunft aus, zugleich hinsichtlich Problemen der Veränderung des Krankengutes (zu den Frühen Störungen – Ott, zu einer narzisstischen Nation – Battegay), den Fragen über Modelle von Gruppen und Gesellschaft, Fragen zu therapeutischen Modellen, wie sie derzeit in Form der interaktionellen Methode Heigl-Evers bzw. nach dem Konzept von Foulkes favorisiert waren. Werner Greve griff die Thematik von Macht und Gewalt kontra Verantwortlichkeit für die Deutschen auf, Maaz unterstrich hierbei die Verantwortlichkeit als Therapeut auch in einer politischen Dimension. Die Erfahrung, dass die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie eine emanzipatorische Methode – nicht nur für die Patienten, sondern auch für die Therapeuten – war, war eine für DDR-Therapeuten relativ ungeteilte Erfahrung. Diese letzte »gemeinsame« Gruppensitzung, dieses 3. Symposium für Dynamische Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung, gestaltete sich als eine emanzipatorische Großgruppe. Sie wurde getragen von dem Mut, die Grenzen des Bisherigen zu öffnen, bei einem gleichzeitigen Gefühl gemeinsamer fachlicher Verantwortung und Verbundenheit, bei einem Respekt vor den Wurzeln unserer Emanzipation, sowohl vor dem Inaugurator Kurt Höck als auch seiner Methode.

5.11 Persönliche Berichte über die 1980er Jahre, die Vorwende- und Wendezeit 5.11.1 Jürgen Ott (1938–2003): Gute Zeiten, schlechte Zeiten – Bedeutung normativer Krisen für die Identitätsentwicklung50 Vorbemerkung des Herausgebers: Der folgende Aufsatz von 2001, dessen zweiter Teil hier abgedruckt wird, beschreibt im Original zwei kritische Lebensepisoden, von denen die zweite hier in den wesentlichen Passagen wiedergegeben wird. Die erste Lebensepisode – zwischen 1965 und 1980 – ist zwar eine schwierige Zeit, aber eine Zeit der Hoffnung und des Aufbruchs. Jürgen Ott 50 Auszug mit freundlicher Genehmigung von Gunther Kruse aus: Jürgen Ott (2001): Gute Zeiten, schlechte Zeiten – Bedeutung normativer Krisen für die Identitätsentwicklung. In: Kruse, G., Gunkel, St. (Hrsg.): ­Psychotherapie in der Zeit – Zeit in der Psychotherapie. Reihe »Impulse für die Psychotehrapie«, Bd. 6. Hannover: Hannoversche Ärzte-Verlags-Union, S. 205–223.

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5.11  Berichte über die 1980er Jahre, die Vorwende- und Wendezeit

zeichnet (in ähnlicher Weise wie in } Abschnitt 3.5.5 bei Geyer beschrieben) die Entstehung der Erfurter Selbsterfahrungsgruppe und den Einfluss dieser Gruppe auf seine persönliche Entwicklung nach. Die 1980er Jahre geben dem Schicksal Jürgen Otts eine Wendung. Diese zweite ­kritische Lebensperiode, über die in diesem Beitrag berichtet wird, ist die »gesellschaftliche Inkubationszeit des ostdeutschen Herbstes« (Engler 2000), die nicht nur das Leben Jürgen Otts, meines besten Freundes, verändern wird. Hier der Text von Jürgen Ott: [...] Kurt Höck und ich hatten eine Einladung zum Jahreskongress der Internationalen Gesellschaft für Gruppentherapie nach Kopenhagen. Es lagen zahlreiche Befürwortungen vor und wir freuten uns darauf, gemeinsam die Ergebnisse unserer theoretischen und klinischen Bemühungen um die Einführung des von Höck und seinen Mitarbeitern entwickelten modernen Konzeptes einer gut validierten Methode, der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie (Höck 1981b), in die psychotherapeutische Versorgung und in die Weiterbildung der Psychiater und Psychotherapeuten vor der internationalen Gesellschaft der Gruppentherapeuten zur Diskussion zu stellen. Für mich wäre es der erste Besuch eines wissenschaftlichen Kongresses im westlichen Ausland gewesen, entsprechend groß war meine Aufregung. Am Vortag der Reise war ich in das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen bestellt worden, um meine Reiseunterlagen in Empfang zu nehmen. Ich wurde freundlich empfangen, erledigte noch einige Formalitäten und dann lag er vor mir, der grüne Reisepass mit dem Visum für Dänemark. Das Telefon klingelte, kurz darauf erklärte mir ein Mitarbeiter, dass meiner Ausreise nicht zugestimmt werden könne und er mir die Reiseunterlagen nicht aushändigen könne. Keine Angaben von Gründen. Ich wurde gebeten, den Raum zu ver­ lassen. Zorn, Wut, Hass, Enttäuschung, Ohnmacht – dieses Gemisch von Affekten erinnere ich. Meine Nachfragen bei den Befürwortern meines Reiseantrages ergaben Achselzucken, hochgezogene Augenbrauen und die lapidare Antwort: In letzter Minute sei gegen die Reise Einspruch erhoben worden. »Der große Unbekannte«, namenlos ... Im gleichen Jahr reichte ich noch einmal eine Einladung zu Gastvorlesungen an die Universität Wien (Prof. Dr. W. Spiel) ein – also in ein eher neutrales Land. Mir wurde eine gründliche Prüfung in Aussicht gestellt. Schließlich teilte mir der Direktor der Nervenklinik in einem freundlichen Gespräch mit: Trotz zahlreicher Bemühungen und Befürwortungen sei die Einladung abgelehnt worden; ich solle der einladenden Universität Wien meine Absage mit persönlichen und nicht mit politischen Argumenten begründen. Er sei beauftragt worden, mir mitzuteilen, vom Einreichen weiterer Einladungen zu Westreisen Abstand zu nehmen. Ich könne in der DDR alles erreichen und auch wie bisher in die wissenschaftlichen Einrichtungen und zu Kongressen der sozialistischen Länder reisen. Aufenthalte in nichtsozialistischen Ländern seien für mich unrealistisch. Die Gründe für diese Entscheidung könne er mir nicht mitteilen. Und dann einer der letzten Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten: Es gab eine umfangreiche Solidaritätskampagne der DDR für Äthiopien. Außer der Betreuung von zwei kubanischen Ärzten zur Einführung der Medizinischen Psychologie und Basispsychotherapie in die medizinische Grundversorgung in Kuba oblag mir die Betreuung einer Ärztin aus

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Äthiopien, die im Rahmen einer Dissertation die Voraussetzungen für die Verbesserung der psychiatrischen Basisversorgung bearbeiten sollte. Nachdem ich diese Betreuungsaufgaben offenbar zur Zufriedenheit erledigt hatte, wurde mir die Aufgabe erteilt, jüngere ärztliche Kolleginnen und Kollegen innerhalb und außerhalb der Klinik für einen längeren Aufenthalt in Äthiopien zu motivieren. Im Rahmen dieser Aktion tauchte meine bis in die Kindheit zurückreichende Afrika-Sehnsucht ziemlich intensiv auf, so dass ich mich schließlich mit meiner Frau, die damals ihre Ausbildung in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie absolvierte, entschloss, an dieser Solidaritätsaktion teilzunehmen. Auf eine Antwort auf unsere ausführliche Bewerbung warten wir bis heute. Es war an der Zeit zu einer kritischen und selbstkritischen Positionsbestimmung. Die voraussichtliche Mitte des Lebens war erreicht. Einerseits war vieles erreicht worden: eine glückliche Partnerbeziehung, ein gesicherter Arbeitsplatz, eine angesehene Stellung in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Szene, ein guter Name bei Patienten, Studenten und Kollegen. Andererseits hatte sich herauskristallisiert, dass viele meiner Träume immer wieder an diesem »anonymen Nein« scheitern. Es war ziemlich sicher, dass ich den anderen Teil der Welt erst im Rentenalter besuchen würde. Viele jüngere Kollegen konnten jetzt schon reisen und mit meinen wissenschaftlichen Ergebnissen am internationalen Diskurs teilnehmen. Warum ich nicht? Wut, Enttäuschung, Selbstzweifel, zunehmende Unzufriedenheit, Lustlosigkeit und schließlich auch Resignation bestimmten meinen Alltag. So konnte es nicht weitergehen. Hinzu kamen atmosphärische Veränderungen in der Gesellschaft. Aus Erfurt gab es zunehmend Nachrichten von Freunden und Bekannten, die im Rahmen der durch die KSZE-Vereinbarungen von Madrid möglich gewordenen Familienzusammenführungen oder auf risikoreichen illegalen Wegen das Land verließen oder auch daran scheiterten und inhaftiert worden waren. In Berlin war die Szene eine andere: Viele Bekannte und Freunde aus der Kunstszene hatten ein Dauervisum; andere zogen sich zurück auf ihre Wochenendgrundstücke; wieder andere erkrankten psychosomatisch oder erhöhten den Alkoholkonsum. In der Gruppenszene mahnte Kurt Höck immer wieder die Bequemlichkeit an, ermutigte zu weiterer Forschung – die Resonanz war gering. Engler schreibt über diese Zeit: »Die siebziger und achtziger Jahre waren die gesellschaftliche Inkubationszeit des ostdeutschen Herbstes. Und sie waren eine Leidenszeit. Ihr höchst be­wegter Ausklang lag in unbestimmter Zukunft, und so mochte es manchmal scheinen, als wollte die soziale Lethargie, der Stillstand gar kein Ende nehmen. Darüber tröstete die eigene Be­wegung nur sehr bedingt hinweg. Man konnte sich Bildungsergebnisse verschaffen, gewiss, nur schmerzte dann der Mangel an kompetentem Austausch umso mehr; man konnte seine Woh­nung behaglich, halbwegs komfortabel einrichten, aber der Ver­fall des Hauses ließ sich aus eigener Kraft nicht verhindern; man konnte mit etwas Glück und Geld das flotteste Auto erwerben, doch waren der freien Mobilität immer engere Grenzen gesetzt. Allein die ČSSR war in den letzten Jahren noch ohne Visum zu bereisen« (Engler 2000, S. 169). Dass dies Ausdruck einer Inkubationszeit war, die schließlich zur politischen Wende führte, war damals nicht zu erahnen; obwohl ich mich heute an einen Satz erinnere, mit dem

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5.11  Berichte über die 1980er Jahre, die Vorwende- und Wendezeit

ich mich damals von dem Mitarbeiter der Staatssicherheit in der Keibelstraße verabschiedet hatte: »Wenn jemand wie ich, der viele Jahre mit großem Engagement und Lust in diesem Land auf den verschiedenen Gebieten gearbeitet hat, sich entschließt, dieses Land zu verlassen, dann muss vieles im Argen liegen. Eines Tages werden Sie sich an meine Worte erinnern.« Gleichzeitig gab es im internationalen Rahmen die verschiedenen KSZE-Vereinbarungen u. a. mit dem Hinweis auf die Möglichkeiten der Familienzusammenführung. Und so reifte langsam der Plan, dass meine Frau eine Urlaubsreise nach Kuba beantragen sollte, um, falls sich eine Gelegenheit bieten würde, die Reisegruppe anlässlich der Zwischenlandung in Gander (Neufundland) zu verlassen. 1982 beantragte meine Frau dann eine solche Reise. Im Februar 1983 kam dann die Zusage für eine Gruppenreise nach Kuba. Bis zum Beginn der Reise am 8.12.1983 verbrachten wir eine lange Zeit voller Hoffnungen, Ängste, Zweifel, Ambivalenzen. Nur nicht auffallen. Dann war es endlich so weit. Der Tag des Abfluges: Donnerstag, 8.12.1983, 12 Uhr mittags. Meine Frau mit einem Koffer voller Sommersachen auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Wird es den »richtigen Zeitpunkt« geben in dem Warteraum in Gander? Immer wieder hatten uns Kollegen erzählt, wie es in diesem Warteraum aussieht und wie gelegentlich Mitreisende bei dieser Gelegenheit in Kanada um politisches Asyl nachgesucht hatten. Ich blieb zurück. Wie wird dieses Wagnis ausgehen? Der erste Anruf meiner Frau am Sonnabend, 14 Uhr, aus Düsseldorf: Angekommen! Am Montag ein Anruf von einem »Herrn Meier«, der dann gegen Mittag in die Klinik kam, sich als Oberleutnant der Staatssicherheit vorstellte und mir mitteilte, dass meine Frau »nicht mit der Reisegruppe in Kuba angekommen« sei. Dann ging es Schlag auf Schlag: Abgeben der Schlüssel der Abteilung Forensische Psychiatrie und Psychologie, in der ich seit fast zehn Jahren gearbeitet hatte. Dienstag früh Beginn der neurologisch-psychiatrischen Tätigkeit in der Ambulanz. Mit sofortiger Wirkung Entbindung von der Verpflichtung in Forschung und Lehre. Und dann die Begegnung mit dem »Unbekannten« – freundlich, verdächtig freundlich. Viele Fragen. Ich stellte mich dumm (wie mit meiner Frau verabredet). In den nächsten Tagen dann viele Stunden Befragung oder richtige Verhöre in der Keibelstraße am Alexanderplatz – welche Ironie –, am Ort der ehema­ligen Zentrale der Gestapo. Immer wieder diese Fragen nach Hintermännern, nach der Beteiligung und Zusammenarbeit mit westlichen Organisationen, die es nicht gab. »Jetzt ist Schluss mit der Dummstellerei, Doktorchen!« und es ging mit zwei PKWs zur Durchsuchung unserer Wohnung im Prenzlauer Berg. Als Zeugen ein Ehepaar, selbsternannte »Hausmeister«. Jedes Buch wird durchgeblättert und u. U. kommentiert (bei einem Buch von Solschenitzin: »Da sehen wir doch woher der Wind weht ...«). Persönliche Fotos, viele Papiere und Briefe werden in große Plastikbeutel gepackt. Bis auf die Toilette folgt mir einer der Männer. Vier Stunden tiefster Demütigung. Schlimmer kann es nicht kommen. Jetzt ist mir alles egal. Ich werde versuchen, die persönlichen Motive für diesen Schritt darzulegen, unabhängig von den möglichen Konsequenzen, auch einer möglichen Inhaftierung wegen »Vorbereitung und Mithilfe zur Republikflucht« (auch der Gedankentäter macht sich strafbar). Und dann wieder in die Keibelstraße. Die Tonart wird härter, bedrohlicher. Zu meiner Überraschung werden mir Belege vorgelegt, biographische Episoden erzählt, die besagen,

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

dass ich schon immer »zwischen den Fronten saß«. Der Oberleutnant erinnert mich an meine Studentenzeit in Berlin, meine damalige Teilnahme an einem »Runden Tisch« mit französischen Journalisten, meine Beteiligung an der studentischen Revolte mit den dama­ ligen Forderungen nach Abschaffung der vormilitärischen Ausbildung, nach Schaffung eigenständiger Jugendorganisationen außer der FDJ u. a. Einzelheiten aus der Studienzeit in Erfurt ... Weitere Einzelheiten aus Gesprächen mit westlichen Kollegen in unserer Wohnung; Begegnungen mit Bärbel Bohley, einer der aktiven Bürgerrechtlerinnen dieser Zeit. »Dichtung und Wahrheit« – so könnte der Titel dieser Aufzeichnungen lauten, auf die sich der Gegenüber bezog. Und er versucht, mir klar zu machen, warum ich ein sog. »Sicherheitsrisiko« war, warum man mich nicht in den Westen reisen lassen konnte. Die Vergangenheit bestimmt unsere Gegenwart. Alle meine fachlichen und berufspolitischen Bemühungen um den Aufbau und Ausbau der psychotherapeutischen Versorgung, Ausbildung und Forschung konnten dieses Misstrauen aus früher Zeit – ich war damals siebzehn – nicht aufheben. Mir wurde endlich der Sinn und Hintergrund des Satzes, »In der DDR können Sie alles werden, aber Sie werden nicht ins westliche Ausland reisen!«, klar. Und unser Entschluss, dieses Land zu verlassen, wurde durch diese Gespräche nachhaltig bestätigt. »Egal, was du getan hast. Umsonst!« (Engler 2000). Eines Tages kam der Oberleutnant mit den Plastiktüten in das Zimmer, in denen die Fotos und Schriftstücke von der Wohnungsdurchsuchung steckten, und er verabschiedete mich mit den Worten: »Das war’s ...« Und ich stand mit meinen Beuteln auf dem schneebedeckten Alexanderplatz. Frei oder ...? Wie lange wird diese Zwischenzeit dauern und wie werde ich mit den zu erwartenden Schwierigkeiten umgehen? Das Enttäuschende war das Verhalten vieler Kollegen und Bekannten, die mich nicht mehr kennen wollten oder »durften«; Kollegen gingen plötzlich auf die andere Straßenseite, andere siezten mich wieder und deuteten an, dass es besser sei, nicht mehr miteinander zu sprechen; es sei für die weitere berufliche Karriere nicht förderlich, mit einem »Feind oder Verräter« Kontakt zu haben. Es reichte bis zu Versuchen der für mich bestellten »Betreuer«, mich von dieser politisch falschen Entscheidung abzubringen, jemanden in die »BRD« zu schicken, um meine Frau zur Rückkehr zu bewegen, sowie Appelle an mich, mich von der Frau zu trennen, die »den historisch falschen Weg der ewig Gestrigen« gewählt habe. Aber es gab auch andere Erfahrungen. Menschen, die sich durch die angedrohten Sanktionen nicht beeindrucken ließen. Michael Geyer setzte unsere Freundschaft unbeeindruckt fort, obwohl gerade ihm Schwierigkeiten für die weitere berufliche Laufbahn in Aussicht gestellt worden waren. Hans-Joachim Maaz und sein Hallenser Kreis solidarisierten sich öffentlich auf dem Psychotherapeutenkongress in Neubrandenburg, den ich trotz eindringlichen Verbots aufgesucht hatte, um die Reaktionen des Vorstands, dem ich immer noch angehörte, zu testen. Und neue Menschen tauchten auf: Einige entpuppten sich schließlich als solche, die mich direkt oder indirekt von meinem Entschluss abbringen sollten, mich desavouieren sollten. Aber auch viele aufrichtige Menschen, die mir in Alltagsfragen halfen, mich trösteten, mir Mut und Unterstützung zusprachen. Mit Wut und Trauer erfüllte mich die Aufforderung von Verlagen und Mitautoren, auf die Nennung meines Namens bei Neu- und Wiederauflagen von Büchern zu verzichten. Die letzte Aufforderung zum Verzicht auf meine Mitherausgeberschaft in der Schriftenreihe

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5.11  Berichte über die 1980er Jahre, die Vorwende- und Wendezeit

»Psychotherapie und Grenzgebiete« erreichte mich im Mai, am Jahrestag der »Bücherverbrennungen«; welche Ironie der Geschichte. Ich träumte (in dieser Zeit) u. a. von einem alten jüdischen Mann, der mit dem Judenstern durch die lange Straße einer Stadt geht, Häuser ohne Fenster oder Türen, kalter Wind ... Mein neuer Alltag: Jeden Montag der Besuch bei der Abteilung Innere Angelegenheiten des für mich zuständigen Stadtbezirkes Berlin-Prenzlauer Berg. Auf dem Gang die bunte Gesellschaft der Antragsteller – ein Querschnitt durch die Bewohner dieses interessanten Berliner Kiezes; Studenten, Künstler, Homosexuelle, Transvestiten, Arbeitslose. Und ich. Eine bunte, informelle Gruppe mit dem gleichen Ziel; zunehmend vertraut die Gesichter, die Aufmachungen, die Gesprächsthemen und die wichtigen Tipps: Wo bekommt man große Koffer oder Kisten; wer hat es schon geschafft? Ich fühlte mich unter den überwiegend jungen Menschen wie ein Fremder, Konservativer; zunächst misstrauisch beäugt, schließlich liebevoll mit »ach, unser Irrendoktor« begrüßt. In der Amtsstube dann immer der gleiche kafkaeske Dialog: Guten Morgen, was führt Sie her? Guten Morgen, ich wollte mich erkundigen nach dem Stand meines Antrages? Welcher Antrag? Mein Antrag auf Familienzusammenführung. Sie wissen, dass Sie einen solchen Antrag nicht stellen können. Ihre Frau hat die Republik illegal verlassen. Auf Wiedersehen. Auf Wiedersehen. Beim Herausgehen manchmal: Wie geht es denn Ihrer Frau? Woche für Woche der gleiche Dialog. »Warten auf Godot« – dieser Titel eines Becket-Stückes bestimmte den Alltag. Godot, das bedeutete in meinem Fall, eines Tages wird eine graue Postkarte in dem Briefkasten stecken mit einem Termin zur Rücksprache in der Abteilung Innere Angelegenheiten; im Klartext bedeutete der Erhalt dieser Postkarte den Beginn der Endphase. Die Zwischenzeit war bestimmt durch ein merkwürdiges Gefühl von »Nicht-mehr-Dazugehören« und doch noch auf unbestimmte Zeit da zu sein; Nicht mehr hier und noch nicht dort. Ein merkwürdiger Zustand, eine gewisse Art von Identitätsdiffusion im Sinne von Erikson (1973). Im beruflichen Alltag ergaben sich daraus gelegentlich absurde Situationen, dazu ein kleines Beispiel: Obwohl ich in der Ambulanz vorwiegend mit neurologisch-psychiatrischer Diagnostik beschäftigt war, wurden mir gelegentlich auch Psychotherapie-Patienten zugewiesen, in diesem Fall ein Mitarbeiter aus dem Berliner Parteiapparat mit einer psychogenen Symptomatik, der nach abgeschlossener Diagnostik von mir behandelt werden wollte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass ich einen Ausreiseantrag gestellt hatte (was ihm offensichtlich bereits bekannt war) und ich nicht sicher sei, wie lange ich hier noch arbeiten würde. Die Antwort: »Machen Sie sich mal keine Sorgen; bis Sie mich wieder fit gemacht haben, werden Sie schon noch bei uns bleiben.« Der Patient sollte mit seiner Prognose recht behalten. Die Zeit verging langsam. Es gibt kein Kriterium, das einem Orientierung gibt. Die täglichen Telefonate mit meiner Frau waren wichtige Tagesmarkierungen. Die täglichen Eintragungen in ein Tagebuch bedeuteten eine Möglichkeit, mich mit den schwankenden Stim-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

mungen, den Zweifeln, den Ängsten, dem Verzagen, den Unsicherheiten des Heute und Morgen so einigermaßen auseinanderzusetzen. Zeitweise erreichte das Misstrauen in alles und alle ein bedrohliches Ausmaß. Das tägliche sportliche Training hielt Körper und Geist fit. Obwohl auch im Tennis so mancher der früheren Spielpartner nicht mehr mit mir spielen wollte. Schließlich brachte ein Sportunfall beim Tennis mit einer Abrissfraktur am Daumen der rechten Hand für alle Beteiligten eine gewisse Erleichterung. Der Leiter der Ambulanz, der gleichzeitig auch einer meiner persönlichen »politischen Betreuer« war, drängte mich, diese Gelegenheit zur Krankschreibung wahrzunehmen. Das bedeute für alle weniger Schwierigkeiten. Ich könne mich auch für diese Zeit aus Berlin entfernen, z. B. an die Ostsee fahren. Er würde mich schon benachrichtigen, falls »die Sache« in Bewegung komme. Mein Misstrauen war groß, aber die Sehnsucht nach dem Meer noch größer. So fuhr ich nach Hiddensee. Ich fühlte mich dort wie Robinson, ohne Freitag. Schaute aufs Meer. Schrieb Briefe an Honecker u. a. Und so verging auch dieser Sommer. Die Heilung der Fraktur war nicht aufzuhalten. Und dann hatten sie mich wieder: Der Berliner Alltag, die Abteilung Inneres, die Nervenklinik, meine Betreuer ... Ich entwickelte in dieser Zeit merkwürdige Rituale: Koffer kaufen und Koffer packen. Bei der vorgesehenen Begrenzung auf zwei Koffer und zwei Taschen bei der Ausreise gab es mancherlei interessante Entscheidungsspiele: Was nimmst du mit, was lässt du da? Einrollen und Hochstellen der Teppiche: eine gute Übung gegen das Gefühl »Sich zu Hause zu wohl zu fühlen«; eine Übung gegen Rückfallgefährdung. Dann: Die graue Postkarte im Briefkasten! Alarm im Körper. Telefonate. Letzte Packübung. Am nächsten Morgen mit Herzklopfen zum Amt. Die Wartenden freuten sich mit mir; letzte Tipps. Dann im Zimmer der übliche Dialog. Kein Anzeichen von Ausreise. Ich blieb im Zimmer sitzen. Mein Hinweis auf die Bedeutung der grauen Postkarte wurde mit Achselzucken und einem kurzen »der Nächste« beantwortet. Draußen vor der Tür Enttäuschung, nicht nur bei mir. Die anderen fluchten und schimpften für mich: »Diese Schweine!« Ich war wie betäubt. Gegenüber in die Kneipe. Heulen bei Bier und Wodka. Dann ein langes verzweifeltes Weinen am Telefon. Untröstlich. Mach ­weiter! Eine Woche später. Wieder eine graue Postkarte. Die Erregung hielt sich diesmal in Grenzen. Dann im Amt ein anderer Dialog: »Ihrem Antrag auf Ausbürgerung aus der Deutschen Demokratischen Republik wurde stattgegeben ...« Endlich geschafft. Die besonderen Affekte blieben aus. Bürokratisches Abarbeiten der Formalitäten. Aushändigung eines vorläufigen Dokumentes mit dem Datum der Ausbürgerung: 16.12.1985. Dann nach vielerlei Bürokratie der Tag der Ausreise; 8 Uhr Dienstantritt in der Ambulanz, Untersuchung der bestellten Patienten, 11 Uhr formale Kündigung im Personalbüro und Abgabe der Schlüssel und Kittel, sehr freundliche Verabschiedung vom Direktor der Klinik mit einem »Auf Wiedersehen«, 12 Uhr Verlassen der Klinik, Verkauf des PKW »Trabant« an meine ehemalige Sekretärin, 13 Uhr Fahrkartenschalter Bahnhof Friedrichstraße. Letztes Treffen mit meiner Schwester und Schwager zur Erledigung persönlicher Dinge. Hinweis auf einige wichtige Manuskripte, die sie für mich aufheben sollten (diese waren am nächsten Morgen nicht mehr in der Wohnung aufzufinden).

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5.11  Berichte über die 1980er Jahre, die Vorwende- und Wendezeit

Mit dem vorbereiteten Gepäck im Taxi zur Friedrichstraße. Und dann gehe ich durch die Gänge des Bahnhofs Friedrichstraße – heute »Tränenpalast« genannt – die ganze Habe in zwei Koffern und zwei Taschen, die ich mir um den Hals gehängt habe. Die letzte Kontrolle. Dann der Bahnsteig. Der ganze Körper ist angespannt. Dann der erste Teil der Fahrt bis Bahnhof Zoo – Westberlin – Erleichterung – dann geht die Fahrt weiter – wieder über DDRGebiet bis Marienborn – dann die »Zonengrenze«. Die Spannung fällt ab. Geschafft. Die ganze Zeit stehe ich am Fenster und starre in die Nacht – keine weiteren Erinnerungen – nur Anspannung. Bahnhof Hannover. Meine Frau empfängt mich mit Rosen. Ein Schluck aus dem Piccolo an einer Raststätte und weiter geht die Fahrt ins Aufnahmelager Gießen. Wieder Befragungen, diesmal von Mitarbeitern der westlichen Nachrichtendienste. Es geht schnell. Der Aufenthalt im Lager bleibt mir erspart. Wir essen in der Wohnung Gießener Kollegen zu Abend. Die Anspannung bleibt – wir fahren weiter bis in die neue Wahlheimat – Bocholt, eine kleine Stadt in Westfalen. In der Nähe hatte meine Frau Arbeit gefunden, im St. Vinzenz Krankenhaus in Rhede. Die neue fremdartige Adresse »Up dem Hövel« – das unbekannte Westfalen. Wie wird der weitere berufliche Weg aussehen? Neurologie, Psychiatrie, Forensische ­Psychiatrie, Medizinische Psychologie oder Psychotherapie? Viele Möglichkeiten. Gespräche, Fragen und sehr unterschiedliche Antworten, die mehr verwirren als Orientierung geben. Die ungewohnte Situation der Arbeitslosigkeit, ein langes halbes Jahr. Der ungewohnte Umgang mit der neuen, aber doch irgendwie vertrauten Bürokratie. Schließlich ergibt sich durch die Vermittlung meiner Frau ein Gespräch mit Frau Prof. Heigl-Evers, der Leiterin ihrer Selbsterfahrungsgruppe. Die Stellenzusage in der Klinik für Psychotherapie in Düsseldorf zum 1.5.1986. Viele eidesstattliche Erklärungen über das Erreichte und Geleistete, dort, in diesem wenig bekannten Osten. Und dann wieder auf die Schulbank, in vorgerücktem Alter; Facharztprüfung in der Nervenheilkunde (West); mit einigen sehr jungen Kollegen sitze ich im dunklen Prüfungsanzug vor der Tür der Prüfungskommission (noch vor kurzer Zeit war ich jahrelang Mitglied der Zentralen Facharztprüfungskommission in der DDR). Beginn der psychoanalytischen Ausbildung im DGPT-Institut Düsseldorf. Beginn der psychoanalytischen Gruppenausbildung in Tiefenbrunn. Einsicht in die Notwendigkeit dieser berufspolitischen Akte, aber tief im Innersten erlebe ich die Fortsetzung der Kränkungserlebnisse aus zurückliegender Zeit. Das wird ein mühseliger Weg in diese neue Lebenswelt. Aber, Identität ist immer eine kreative Leistung des Einzelnen, die sich an den symbolischen Strukturen einer Gesellschaft artikulieren muss und immer – teilweise – wandlungsund veränderungsfähig bleibt. Sie ist ein geschichtliches und zusammenhängendes Ganzes, das aus einer wechselseitigen Beziehung zwischen einem andauernden inneren Sich-selbstGleichsein und einer inneren und äußeren Solidarität mit den Idealen, Werten, Ritualen und Identitäten einer Gruppe oder Gemeinschaft besteht, verbunden mit dem sicheren Gefühl innerer und sozialer Kontinuität. Das Herstellen dieser Identität in der Interaktion mit bedeutsamen Anderen ist ein lebenslanger krisenanfälliger Prozess, der in der Adoleszenz als selbstreflexiver, seelischer Vorgang beginnt und sich über die ganze Spanne eines Lebens fortsetzt« (Erikson 1973).

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

5.11.2 Andreas Peglau: Psychoanalyse im DDR-Rundfunk – eine (Vor)Wendegeschichte Was ich zu erzählen habe, führt zurück in die Rundfunklandschaft der letzten DDR-Jahre. Es war die Zeit, in der man – sollte man sich morgens entschieden haben, einen DDR-Sender anzuschalten – in den Radio-Nachrichten mit einiger Wahrscheinlichkeit als Erstes in etwa Folgendes hören konnte: »Der 1. Sekretär des Staatrates der DDR, Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Genosse Erich Honecker, besucht heute die industrielle Geflügelmastanlage ›Clara Zetkin‹ in Brandenburg an der Havel, um sich vor Ort ein Bild über den derzeitigen Stand der Erfüllung des Fünfjahrplanes zu machen.« Und das gleichlautend auf allen fünf Rundfunksendern. Denn wir hatten nur fünf Sender und die waren politisch gleichgeschaltet. Rundfunkarbeit war Klassenkampf, der Hauptgegner hieß z. B. RIAS, SFB oder AFN. 1989 war allerdings längst ein zweiter Gegner hinzugekommen: Michail Gorbatschows Glasnost- und Perestroika-Politik. Das DDR-System wurde nun also von rechts und links bedroht. Wir Rundfunkjournalisten – die meisten, wie auch ich, Mitglieder der SED – hatten den Auftrag, klarzustellen, dass es bei uns für gesellschaftliche Veränderungen wie in der Sowjetunion keine Notwendigkeit gab. Trotz aller verinnerlichten Unterwürfigkeit kamen wir dem nicht immer nach. Was wir gelegentlich in die Sendungen hineinschmuggelten, war aber – im Vergleich zu den realen Missständen – nur sehr moderate, punktuelle Kritik. Trotzdem löste es, wenn es herauskam, Stürme aus im Rundfunk-Wasserglas, führte zu intensiverer Kontrolle und Disziplinarmaßnahmen. Das hatte auch ich im September 1987 erfahren, nachdem ich in einer meiner Sendungen die Äußerung von Abiturienten nicht herausgeschnitten hatte, dass ein immer als völlig fehlerlos dargestellter Ernst Thälmann für sie als Vorbild nicht in Frage komme. Außerdem hatten mein Gesprächspartner, Professor Reiner Werner, und ich uns u. a. über mögliche psychische Grundlagen »rechter« Ideologie bei DDR-Jugendlichen verständigt – und diese Grundlagen eben nicht in erster Linie dem kapitalistischen »Gegner« in die Schuhe geschoben. Zum Eklat kam es allerdings erst, als diese Sendung von Westmedien positiv zitiert wurde – was wiederum den Verantwortlichen des DDR-Rundfunks negativ aufstieß. Und ein Jahr später, im November 1988, war eine Kollegin abgestraft worden, weil sie in einer Moderation bedauert hatte, dass »ein Sputnik abgestürzt ist« – was jeder mit der kurz zuvor in der DDR verbotenen, gleichnamigen sowjetischen Zeitschrift in Verbindung bringen konnte. Dieses »Sputnik«-Verbot wiederum schien ein weiterer Beleg zu sein, dass ohne personelle Veränderungen an der DDR-Spitze Reformen unmöglich waren. Eine vollständige DDR-Wende erwartete ohnehin niemand, geschweige denn die Auflösung des gesamten »Ostblocks«. Es gab daher auch keine großen Aufwallungen, als im selben Monat Januar 1989, in dem ich Hans-Joachim Maaz beim »12. Psychotherapiekongress« in Berlin persönlich kennenlernte, Erich Honecker verkündete, die Berliner Mauer werde noch in 50 oder 100 Jahren stehen.

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Dass ich in dieser Situation Lebenshilfe-Sendungen machen wollte mit Hans-Joachim Maaz, basierte wohl auf einer Mischung aus Mut und Naivität. Denn ich hatte ihn ja öffentlich reden hören – und wusste, dass er kein Blatt vor den Mund nahm, auch nicht, wenn es um gesellschaftliche Hintergründe seelischer Störungen ging. Ganz abgesehen davon, dass Psychoanalyse für unsere politische Führung nach wie vor als bürgerlich-dekadent galt. Insofern war eigentlich das wahrscheinlichste Szenarium, dass unsere erste gemeinsame DT-64-Sendung auch unsere letzte sein würde. Dennoch wollte ich es unbedingt versuchen. Es war für mich auch der Höhepunkt einer längeren Entwicklung. Schon als ich von 1976 bis 1981 an der Humboldt-Universität Klinische Psychologie studiert hatte, erschien mir die Psychoanalyse weit tiefgründiger, umfassender, wichtiger als alle sonstigen Ansätze, psychische Prozesse zu begreifen. Und ich empfand sie als dringend notwendige Ergänzung des Marxismus und dessen dürftigen Menschenbildes. 1984 begann ich meine Tätigkeit bei Jugendstudio DT 64 (damals noch Bestandteil des Berliner Rundfunks), ab 1987 machte ich dort Lebenshilfe-Sendungen. Nach einem Gesprächspartner, der gleichfalls von der Psychoanalyse begeistert war, suchte ich zunächst vergebens. Doch ich verfolgte, auch mit dem Hintergedanken, daraus vielleicht Rundfunkbeiträge machen zu können, ob sich nicht Anzeichen häuften für eine größere Akzeptanz gegenüber Freud. Aus einer Ecke, aus der ich es nicht erwartet hatte, kam 1987 ein hoffnungsvolles Zeichen: Die (Ost-)»Deutsche Zeitschrift für Philosophie« hatte in der November-Ausgabe den Artikel des bekannten (Ost-)Berliner Philosophieprofessors und Schriftstellers John Erpenbeck »Vorschläge zu Freud« veröffentlicht, den dieser zusammen mit dem amerikanischen Psychoanalytiker Antal Borbely verfasst hatte – an sich schon kaum zu glauben. Und darin unterzogen die beiden Autoren Freud auch noch einer, wenn auch kritischen, Würdigung, wiesen auf dessen bleibende Bedeutung – also auch für die sozialistische Gesellschaft – hin: »Die Psychoanalyse Sigmund Freuds [...] ist eines der herausragenden Ereignisse der Wissenschaftsgeschichte unseres Jahrhunderts [...] ein bis heute interessantes Modell der Verinnerlichung gesellschaftlicher Werte und Normen«, hieß es da. Das erfreute – und verblüffte mich: Wieso tat ein marxistischer Philosoph, wovor sich die allermeisten Psychologen unseres Landes drückten? Und: Wie ging es ihm, nachdem der Beitrag erschienen war – war er immer noch Professor? Ich besuchte John Erpenbeck und erfuhr: Er selbst hatte erstaunt zur Kenntnis genommen, dass sich nicht nur der Veröffentlichung dieses Artikels keinerlei Widerstand entgegengestellt hatte, sondern es auch kein »Nachspiel« gegeben hatte. Änderten sich also in diesem Bereich die politischen Richtlinien, nach denen erlaubt, verboten oder zensiert wurde? Dafür sprach auch die Tatsache, dass – nachdem 1982 bereits Freuds »Trauer und Melancholie« (Fühmann u. Simon 1982), 1985 »Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten« sowie »Psychoanalyse – Ausgewählte Schriften« in DDR-Verlagen erschienen waren, 1988 jene immerhin dreibändige Sammlung mit Freud-Schriften (recht verharmlosend als »Essays« bezeichnet) herauskam, für deren Zustandekommen sich der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann jahrelang engagiert hatte. Und diese Sammlung enthielt immerhin auch so gesellschaftstheoretisch brisante Texte wie »Jenseits des Lustprinzips«, »Die Zukunft einer Illusion« und »Warum Krieg?« (Freud 1988).

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Im Sommer 1988 bekam ich dann endlich auch einen Tipp bezüglich eines Gesprächspartners in Sachen Psychoanalyse: Da wäre vielleicht jemand, in Halle an der Saale ... Im Januar 1989 konnte ich dann, wie gesagt, Hans-Joachim Maaz wegen möglicher gemeinsamer Sendungen ansprechen. Und er hatte tatsächlich Interesse daran, sich mit seinen Ansichten durch den Rundfunk an eine breitere Öffentlichkeit zu wenden. Wir verabredeten uns zu einem ersten Interview für den 7. März 1989 in seiner Klinik. Am Montag, den 13. März 1989, ab 20.03 Uhr lief die daraus entstandene Sendung unter dem Titel »Mensch du, das ist mir nicht bewusst«. Hans-Joachim Maaz bezog sich dabei nicht nur explizit auf Sigmund Freud. Eine knappe Stunde lang sprach er über weit verbreitete autoritäre Deformierungen, lebens- und liebesfeindliche Gefühlsunterdrückung und realitätsverzerrende Neurosen – nicht etwa beim »dekadenten Gegner«, sondern in uns, in den nach vorgegebenem Sprachgebrauch doch angeblich schon »sozialistischen Persönlichkeiten« der Deutschen Demokratischen Republik. Und nichts passierte. Was ich bis heute nur unzureichend damit erklären kann, dass sich zu diesem Zeitpunkt vor der DDR-Führung bereits Probleme angehäuft hatten, die wichtiger waren, als Rundfunk-Sendungen »auf Linie« zu trimmen. Einen Monat später, im April 1989, folgte die zweite Sendung. Damit ging nun also doch ein – meines Wissens zu DDR-Zeiten einmaliger – Versuch in Serie, Erkenntnisse aus Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Körperpsychotherapie per Radio als Lebenshilfe unters Volk zu bringen. In dieser zweiten Sendung konzentrierten wir uns darauf, wie sich psychisch gesündere, sich ihrer Selbst bewusstere Menschen von unbewussteren unterscheiden. Auch hier vertrat Hans-Joachim Maaz wieder Standpunkte, wie sie sonst kaum in unseren Massenmedien auftauchten. So antwortete er z. B. auf meine Frage, ob eine gelungene analytische Therapie nicht zwangsläufig dazu führe, dass all das, woran der Patient zuvor geglaubt hatte, nun in Frage stehe: »Es ist tatsächlich so, dass er die Bezugspunkte, durch die er krank geworden ist, verlieren wird. Er muss vorhandene Normen, Einstellungen und Haltungen, an die er bisher geglaubt hat, nach denen er gelebt hat, aufgeben und neue gewinnen. Und das betrifft natürlich die wesentlichen Bereiche des Lebens: Partnerschaft, Beruf, Moral, weltanschauliche, religiöse, politische Positionen, die man plötzlich erneut überprüfen muss. Das ist sowieso meine Auffassung, dass jeder Mensch, wenn er erwachsen geworden ist, verpflichtet ist, verantwortlich dafür ist, alle Normen, die er kennengelernt hat, noch einmal kritisch zu prüfen. Und er wird viele von diesen Normen über Bord werfen müssen. Und die, die alle diese Normen unkritisch übernehmen, sind eher gefährdet, sowohl die gesellschaftliche Entwicklung zu behindern als auch selbst krank zu werden. Peglau: Heißt das, der Patient einer solchen Therapie wird ein unangepasster Mensch? Maaz: Er wird ein unangepasster Mensch hinsichtlich falscher Normen, die ihm vermittelt wurden. Ich denke, es ist wichtig, zu verstehen, dass nur unangepasste Menschen, die in der Lage und bereit sind, falsche Normen zu empfinden – weil sie sich das bewusst gemacht haben und sich kritisch damit auseinandersetzen –, dass nur solche unangepassten Menschen eine

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Gesellschaft weiterentwickeln können. Die werden nämlich ein Gespür dafür haben, was gut ist, gesund, natürlich. Und die werden auch am entschiedensten verhindern, dass sich falsche Normen weiter ausbreiten. Genau solche Menschen, denke ich, braucht eine gesunde Gesellschaft!« Am Ende dieser zweiten Sendung bot ich den Hörerinnen und Hörern eine kurze schriftliche Zusammenfassung an. Nicht viel, nur vier Blatt Papier im A5-Format. Und um diese zu bekommen, musste man auch noch einen frankierten Rückumschlag beilegen. Unglaublicherweise kamen über 1000 Zuschriften – eine für derartige Sendungen ab­solut ungewöhnliche Resonanz. Und fast alle hatten Näheres dazu geschrieben, manche mehrere Seiten lang und auf eine derartig offene Weise, wie ich es noch nicht erlebt hatte. Viele von ihnen spürten offensichtlich die sich zuspitzende Krise unserer Gesellschaft – und bemerkten gleichzeitig zunehmend, wo es auch bei ihnen selbst nicht oder nicht mehr »stimmte«. Von nun an trafen nach jeder weiteren unserer Sendungen ca. 1000 Zuschriften ein. Was heißen dürfte, dass jeweils mehrere 10.000 Menschen diese Sendungen hörten. Bis zum Oktober 1989 äußerte sich Hans-Joachim Maaz darin zu Themen wie Körpersprache und Körpertherapie, zu Träumen, frühkindlicher und erwachsener Sexualität – weiterhin ungestraft in einer Weise, die oft mit geltenden Normen kollidierte. Aber in Sachen Psychoanalyse tat sich 1989 ja noch mehr, woran ich mich auch als Journalist beteiligen konnte. Vom 11.–13. Juli 1989 – noch immer ahnte niemand, dass bereits wenige Wochen später die DDR anfangen sollte, endgültig auszubluten – fand in Leipzig etwas ganz Außergewöhnliches statt: Ein Kongress mit dem Thema »Geschichte und Gegenwartsprobleme der Psychotherapie – zur Stellung Sigmund Freuds und der Psychoanalyse«. Und nicht nur das: sogar mit wirklich internationaler Beteiligung u. a. aus der BRD, Österreich, Ungarn, den USA. Ich war überglücklich, die Verantwortlichen meines Senders überreden zu können, mich dort als Journalist akkreditieren zu lassen. Und ich führte, mit oder ohne Aufnahmegerät, so viele Gespräche wie nur möglich. Daraus stellte ich dann für das DT-64-Kultur-Magazin »Szene« eine akustische Freud-Biographie zusammen – mit deutlich aktuellen Bezügen und einer spannenden Mischung von Fachleuten aus DDR und westlichem Ausland wie dem New Yorker Psychoanalytiker Antal Borbely, dem Ulmer Psychoanalytiker Helmuth Thomä, dem Leiter des Wiener Freud-Hauses, Harald Leupold-Löwenthal, dem Leipziger Philo­ sophen und Wissenschaftshistoriker, Achim Thom. Letzteren befragte ich nach der Bedeutung, die er Freuds Buch »Totem und Tabu« zumesse, laut dem der Ursprung unserer Zivilisation im Mord einer Urhorde an ihrem tyrannischen Übervater zu suchen sei. Und er antwortete – in einer Situation, in der die ganze DDR-Gesellschaft auf Erneuerung oder zumindest auf ein Abdanken Erich Honeckers hoffte –, dass Freuds »rationaler Gedanke nicht so sehr gebunden [sei] an die historische Detailtreue des Materials. Sondern es geht einfach um die Frage, wie sich in menschlichen Kollektiven Machtstrukturen herausbilden, welche Motive den einzelnen Menschen veranlassen, solche Macht für sich in Anspruch zu nehmen und gegen andere geltend zu machen und unter welchen Bedingungen an ein Abschütteln von solchen übermächtigen

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Herrschaftsformen gedacht werden könne« (nachzulesen in ICH – die Psychozeitung, 1/1990, S. 7). Und John Erpenbeck, ebenfalls zum Kongress erschienen, ergänzte – auf die Frage, ob die Psychoanalyse für Marxisten überhaupt noch eine Bedeutung habe: »Ich glaube, dass man eine Theorie wie die Freud’sche überhaupt nicht aufheben kann wie eine streng einzelwissenschaftliche Theorie. Oder dass man sie abtun kann wie einen mystischen Entwurf. Die Freud’sche Theorie stellt ein vielfaseriges Geflecht dar aus großartigen einzelwissenschaftlichen Entdeckungen, aus metapsychologischen Überlegungen und Spekulationen und schließlich aus philosophischen Anschauungen, weltanschaulichen Entwürfen und Mythen. Hinzu kommt, dass sich im Weiterdenken des Freud’schen Werkes ein gewaltiges Material an theoretischen Überlegungen und praktischen Erfahrungen angehäuft hat. Der praktisch arbeitende Psychoanalytiker, der täglich mit Menschen umgeht, mit ihren Krankheiten, ihren sozialen und individuellen Erfahrungen, hat natürlich einen ungeheuren Schatz gesammelt, den es zu verarbeiten gilt, wenn man ernsthaft darangeht, eine philosophische Subjekttheorie zu entwickeln. Freud hat eine der ersten naturwissenschaftlich gestützten Theorien der Aneignung von Werten und Normen geschaffen. Freud beschreibt, dass und wie sie verinnerlicht werden, dass sie nicht mehr bewusst sind, doch unterbewusst und unbewusst weiterwirken. Eine der zentralen Fragen dieser Theorie ist, dass Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung die wichtigsten Voraussetzungen dieser Aneignung sind. Fehlende Entscheidungsfreiheit, fehlende Selbstverantwortung führen zur Verinnerlichung von Normen und Werten, die gesellschaftlich nicht zu verantworten sind. Insofern hat das Freudsche Werk auch eine unübersehbare gesellschaftliche Bedeutung« (ebenda). Wie sich Menschen, deren Lebensläufe durch fehlende Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortung geprägt waren, in Krisensituationen verhalten, wie wenig sie mit ungewohnten Möglichkeiten freier Entscheidung und selbstverantwortetem Leben anfangen können, das sollte sich in den folgenden Monaten an den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes einprägsam beobachten lassen. Als sich im August 1989 die ungarischen Grenzen öffneten und die ersten DDR-Bürger gen Westen entließen, konnte ich die Erkenntnis noch immer nicht an mich heranlassen, dass das Verfallsdatum unseres missratenen sozialistischen Experiments bereits überschritten sein könnte. Jede Krise ist schließlich auch eine Chance, dachte ich mir – und in diesem Fall, so hoffte ich, auch die Chance, in unserem System endlich Freuds Ideen zu etablieren. Daher beantragte ich Anfang September 1989 – während die westlichen Medien rund um die Uhr von DDR-Flüchtlingen berichteten, dabei vielfach gezielt Öl ins Feuer gossen, sich die DDR-Offiziellen in einer Mischung aus Arroganz und ohnmächtiger Wut jegliche »Einmischung« verbaten – ein Interview mit dem Stellvertretenden Minister für Kultur, Klaus Höpke, zur kulturpolitischen Bedeutung der Psychoanalyse machen zu dürfen. Und tatsächlich bekam ich sowohl vom meinem Sender als auch aus dem Kulturministerium grünes Licht. Das hatte ich schon wegen des beabsichtigten Gesprächsthemas nicht unbedingt erwartet. Zusätzlich unwahrscheinlich wurde es, weil nicht lange zuvor der Stuhl von Klaus Höpke, der für den Bereich Literatur zuständig war, wieder einmal heftig gewa-

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5.11  Berichte über die 1980er Jahre, die Vorwende- und Wendezeit

ckelt hatte, nachdem er sich erneut für einen beim Politbüro der SED in Ungnade gefallenen DDR-Schriftsteller eingesetzt hatte. Bereits 1988 war es wesentlich Höpke zu verdanken gewesen, dass die erwähnten dreibändigen Freud-Essays erscheinen konnten. Und in der DDR-Wochenzeitschrift »Weltbühne« hatte er sich im Mai 1989 in zwei Beiträgen u. a. ziemlich positiv zu Freuds, unter dem Motto »Warum Krieg?« stehenden Brief an Albert Einstein geäußert (Höpke 1989). Von diesem Interview erhoffte ich also u. a., dass einer aus der oberen Führungsriege, einer, dessen Worte wirklich Gewicht hatten, sich auch über den Rundfunk relativ offen zugunsten der Psychoanalyse äußern würde. »Peglau: Was kann ein DDR-Kulturpolitiker heute mit Freuds Gedankengut anfangen? Höpke: Was wir mit Freud und seinem Kulturbegriff anfangen können, hängt u. a. davon ab, welche Gemeinsamkeiten es zwischen der Welt gibt, die er beschrieben hat, und der unsrigen – bzw. noch gibt. Zum einen haben wir die Diskontinuität der sozialistischen Revolution – zum anderen, glaube ich, haben wir viel mit tradierten Normen, Sitten, Verhaltensweisen zu tun. Und ich meine, dass hier die kritische Aneignung Freud’scher Gedanken sehr nützlich sein kann. Wir alle haben z. B. täglich damit zu tun: Wie fördern wir Kreativität? Und wir brauchen andererseits auch eine gewisse Kompromissfähigkeit in unserer Gesellschaft. Das eine ist unverzichtbar, das andere auch – doch sind beide tief widersprüchlich. Und ich glaube, es gehört zu den Eigenschaften unserer Kultur, die wir stärker ausprägen müssen, dass wir beides haben, dass wir nicht die Kreativität durch vorzeitige Kompromissfähigkeit abschleifen und letztlich vernichten. Peglau: Freud hat 1932 in seinem Briefwechsel mit Albert Einstein geschrieben: ›Alles, was Gefühlsbindungen unter den Menschen herstellt, muss dem Krieg entgegenwirken. Alles, was bedeutsame Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen herstellt, ruft solche Gemeingefühle, Identifizierungen hervor [...] Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg‹ (Freud 1974, S. 283 ff.). In Ihren Weltbühnen-Artikeln zitieren Sie diese Sätze und bewerten Freuds Brief als einen ›frühen Baustein Neuen Denkens in den internationalen Beziehungen‹. Anschließend schreiben Sie: ›Freuds Anregungen für die von ihm als indirekt bezeichneten Wege zur Bekämpfung des Krieges [sind] von hohem Nutzen für unsere gemeinsame Gegenwart und Zukunft. Seine Überlegungen helfen uns, wenn wir uns plastisch ausmalen wollen, was geschehen und was unterbleiben muss, damit wir den friedlichen Fortbestand der Menschheit auf der Erde und mithin die Möglichkeit ihres Fortschritts zu neuen Lebensweisen weiter sichern!‹ Welche konkreten und in den nächsten Jahren bereits umsetzbaren Schritte zu diesem Ziel könnten denn Ihrer Meinung nach aus dem Gedankengut Freuds abgeleitet ­werden? Höpke: Über vertrauensbildende Maßnahmen wird inzwischen ja erfreulicherweise nicht nur geredet, sondern: Es finden welche statt. Andererseits wäre es, glaube ich, leichtsinnig, zu glauben, heute würden Gefühlsbindungen unter den Menschen frei von gesellschaftlichen Interessen sichern, dass der Schritt in diese Zukunft gelingt. Wenn Sie jetzt konkret fragen, welche Schritte da möglich wären, da habe ich vor allen Dingen die Vorstellung, dass es uns gelingen muss, alle die Elemente aus dem internationa-

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len Verkehr auszuschalten, die man letzten Endes unter psychologischer Kriegsführung einordnen muss. Die also statt einer in einer Kultur des Streits ausgefochtenen Auseinandersetzung – über Gesellschaftskonzepte, Persönlichkeitsauffassungen – eine Attacke reiten gegen ein, eben das fortgeschrittene Gesellschaftssystem. Wir erleben es heute tagtäglich in den elektronischen Medien. Franz Fühmann hat übrigens einen interessanten Beitrag dazu auch wiederum geleistet. Unter seinen ›Traumgedichten‹ findet sich der ›Traum von den zwei Schmähern‹, in dem er schildert, wie zwei ›Schmäher‹ sich gegenseitig mit Kot bewerfen, und macht darin deutlich, dass das natürlich zu überhaupt nichts führt. Und ich würde eben sagen: Die Zukunft in dieser Hinsicht liegt darin, dass wir immer weniger das Schmähen, sondern das Sehen zur höchsten Sitte erküren müssen. So dass wir einst Gedichte lesen können von den beiden Sehern, die also befähigt sind, beim Anderen zu erkennen, was interessant ist für die Gestaltung gedeihlicher Beziehungen.« Ich hätte es schon gern noch etwas konkreter gehabt. Trotzdem waren auch das gute Argumente dafür, die Psychoanalyse keineswegs als »völlig überholt« abzuschreiben – im Gegenteil: In der Situation, in der sich unser Land befand, bot die Psychoanalyse offenbar sogar einen konstruktiven Ansatzpunkt, um Streitkultur nach innen und außen anzumahnen. Daran, meinte ich, würde sich auf jeden Fall anknüpfen lassen. Denn der Vorteil unseres autoritären und zentralisierten Staatsgebildes war ja: Alles, was über die Massenmedien ging, hatte hochoffizielle Bedeutung, konnte als eine Art »Dokument« angesehen werden. Auf diese Weise, durch das Schaffen solcher »Dokumente«, so hoffte ich, könnte auch ich einen Beitrag dazu leisten, dass die Psychoanalyse vielleicht bald »hoffähig« werden würde. Und ich träumte von regelmäßigen Veranstaltungen in Studentenklubs, bei denen ein Schauspieler Freuds »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« zu Gehör bringen sollte, von Ausstellungen mit Bildern, die Patienten während ihrer Therapien gemalt hatten, von Lebenshilfe-Bibliotheken mit öffentlich zugänglicher tiefenpsychologischer Literatur ... Und ich arbeitete ein dementsprechendes Konzept für »psychoanalytische Öffentlichkeitsarbeit« aus und stellte es u. a. innerhalb eines Vorstandstreffens der »Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie« vor. Doch bald nach meinem – dann wirklich auch ausgestrahlten – Gespräch mit Klaus Höpke ging alles Schlag auf Schlag. Nach der ungarischen Grenze öffnete sich nun auch die Prager BRD-Botschaft, die Leipziger Montagsdemos begannen und gewannen wöchentlich an Zulauf, den von Honecker am 30. September zähneknirschend hingenommenen Massenausreisen folgte eine Woche darauf die »Trotz alledem!«-Feier des 40. Jahrestages der DDR. Und eine Woche später: Erich Honeckers Entthronung. Am 4. November sprudelte der Berliner Alexanderplatz nahezu über von der Erwartung eines Neuanfangs, eines endlich »richtigen Sozialismus« – so erschien es mir zumindest. Die Utopie, die Hans-Joachim Maaz zeitgleich unter der Bezeichnung »therapeutische Kultur« entwickelte (s. a. Maaz 1990), traf daher meinen Nerv: eine Gesellschaft, deren Angehörige sich mit ihren seelischen Deformierungen konfrontierten und die Weichen stellten für eine Zukunft ohne solche Deformation. Wie konnte das befördert werden? Während aus dem sich »umwandelnden« DDR-Boden neue Parteien und Vereine wie Pilze her-

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vorschossen, drängte sich die Lösung geradezu auf: einen Verein zur Förderung der Psychoanalyse bilden, zusammen mit all jenen, die auf unsere Sendungen geschrieben hatten! Gründungsmitglieder waren unter meinen Freunden, Bekannten und bisherigen Interview-Partnern schnell gefunden. John Erpenbeck und Hans-Joachim Maaz beteiligten sich, Michael Geyer, Christoph Seidler, Michael Froese – mit allen dreien hatte ich in den zurückliegenden Monaten ebenfalls Gespräche geführt –, der Rockmusiker Lutz Kerschowski, ein Ingenieur, eine Journalistin, ein Pädagoge und ein Medizinstudent. Diese Mischung sollte von Anfang an klarstellen, dass es sich keineswegs um eine reine Fachgesellschaft handelte. Was mit unseren Sendungen begonnen hatte, sollte mit anderen Mitteln fortgeführt werden: Lebenshilfe durch verständliche Weitergabe von – vor allem – psychoanalytischem, tiefenpsychologischem, körpertherapeutischem Wissen, als Grundlage für Selbsthilfe und Selbsterkenntnis. Sich an diesem Anliegen und an diesem Verein zu beteiligen, dazu lud ich die DT-64Hörerinnen und -Hörer zum Abschluss unserer Sendung vom Januar 1990 ein. Mit dem Erfolg, dass über 550 von ihnen – wohnhaft zwischen Suhl und Rügen, Bad Muskau und ­Gardelegen – umgehend der »Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e. V.« bei­ traten. Das wiederum schuf die Grundlage für eine zehnjährige erfolgreiche Arbeit dieses Vereins, eine Vielzahl öffentlicher Veranstaltungen, eine Lebenshilfe-Bibliothek, die Herausgabe von »ICH – die Psychozeitung« (von der ca. 100.000 Exemplare in Umlauf gebracht wurden) sowie für das Buch »Weltall, Erde, Ich – Anregungen für ein selbstbewussteres Leben«. Ursprünglich waren diese und andere Aktivitäten als Angebote für DDR-Bürger gedacht, doch ließ sich bereits Anfang 1990 die Gefahr (so sah ich es jedenfalls zu diesem Zeitpunkt) nicht mehr ignorieren, dass es unseren Staat bald nicht mehr geben könnte. Als dann im Februar 1990 selbst Ministerpräsident Hans Modrow zu »Deutschland, einig Vaterland« umschwenkte, knallte ich mein Parteibuch auf den Pförtnertisch in der SED-Kreisleitung Berlin-Pankow: Wenn sogar meine eigene Partei mein Land verscherbeln wollte, wollte ich mit ihr nichts mehr zu tun haben! (Heute denke ich, es gab wohl tatsächlich kaum echte Alternativen: die globale politisch-ökonomische Situation ebenso wie die Stimmungslage und Charakterstruktur der meisten von uns DDR-Bürgern und -Bürgerinnen hätten keinen eigenständigen »Dritten Weg« ermöglicht.) Am 17. März – einen Tag vor der Volkskammerwahl, die der DDR-CDU die absolute Mehrheit verschaffte – nahmen Hans-Joachim Maaz und ich eine Sendung auf über individuelle und gesellschaftliche Vergangenheitsaufarbeitung. Wir nannten sie: »Unsere Unfähigkeit zu trauern«. Ausschnitte daraus belegen die weit über 1990 hinausreichende Brisanz dessen, was Hans-Joachim Maaz schon damals aus seinen Beobachtungen schloss: »Wenn es also so kommt wie es jetzt aussieht: dass wir mehr oder weniger angeschlossen werden an die Bundesrepublik – dann heißt das ja, dass 40 Jahre Leben in diesem Land im Grunde genommen nichts getaugt haben. Ich meine damit also nicht unser politisches oder wirtschaftliches Leben – das hat offensichtlich wirklich nichts getaugt. Aber hier haben 16, 17 Millionen Menschen gelebt, die eben auch ein ganz persönliches Leben zu verantworten haben – es geht, denke ich, um die Würde des Einzelnen. Und wenn plötzlich gesagt wird: Alles, was war, taugt nichts mehr, jetzt müssen wir so leben, wie es uns die Bundesrepublik

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vorschreibt, dann kann man ermessen, wie viel Kränkung, wie viel Hass und Neid, wie viel Enttäuschung das in jedem DDR-Bürger zurücklassen muss. Und das bleibt in uns stecken, wenn das nicht eine Möglichkeit hat, dass wir das irgendwie ausdrücken können, dass wir das hinausweinen, -schreien, darüber wenigstens unsere Befindlichkeit mitteilen können. Dann bleibt das eine Zeitbombe, die sich rächen wird, wenn ein Teil der DDR-Bürger den Wohlstandsrausch nicht mitmachen wird und ein anderer Teil den Wohlstand zunächst genießen wird und dann feststellen wird: Ja und nun – war´s das? Sind wir nun wirklich glücklicher und zufriedener? Dann, denke ich, wird sich diese Bombe anfangen zu entladen. Und dann könnte durchaus passieren, dass das große Deutschland neue Ziele sucht, neue Feinde braucht, um den wahnsinnigen unausgelebten sozialen Druck irgendwohin zu richten – wenn es ein vereintes Deutschland gibt ohne psychische Revolution, ohne Trauerarbeit. Ich bin auch überzeugt aus vielen Erfahrungen, die ich mit Westdeutschen gemacht habe, dass viele von ihnen sich besonders gut, groß, reich fühlen konnten, weil wir die ärmeren, erbärmlicheren, kleineren, die kleinmütigeren, die kleinkarierteren Brüder und Schwestern waren. Das wird plötzlich auch fehlen, wenn wir im vereinten Deutschland nicht mehr die armen Hanswürste sind. Dann wird es ganz neue Erlebensweisen geben oder eine Not, einen Druck, neue Erklärungen, neue Opfer, neue arme Brüder und Schwestern zu schaffen – nur um im Gleichgewicht zu bleiben ... Ich mag mich nicht als Prophet erklären, aber da bin ich sicher: Das wird nicht lange dauern, bis es neue Feindbilder gibt. Es ist einfach eine Gesetzmäßigkeit: Wenn man nicht seinen inneren Schmerz durch Trauerarbeit auf sich nimmt, muss man nach außen irgendwie in den Krieg ziehen, gegen irgendjemanden oder irgendwas, nur um der Aggressivität, die in einem gestaut ist, irgendein Ventil, irgendeine Erklärung zu geben.« Ausreichend Probleme, bezüglich derer psychosoziale Aufklärung Not tat, gab es auch nach Anschluss und »Wiedervereinigung«. So behandelten wir nun neben nichtautoritärer Erziehung die kritiklose Unterwerfung unter neue Autoritäten, die einsetzende Verdrängung der DDR-Vergangenheit oder den in den Osten hineinschwappenden »Psychoboom«. Letzteres mit Tilmann Moser als zusätzlichem Gesprächspartner. 1991 wurden Arbeitslosigkeit und Zweierbeziehung Thema unserer Gespräche. Und im März 1991 widmeten wir uns den psychischen Grundlagen des ersten Golfkrieges, den Hans-Joachim Maaz als unbewussten Versuch interpretierte, im Nord-Süd-Konflikt neue Feindbilder zu schaffen – als Ventile für die zuvor im Ost-West-Konflikt gebundene Destruktivität. Womit er sowohl der – quer durch alle politischen Lager – verbreiteten Golf-Kriegs-Euphorie entgegentrat wie auch der herrschenden Ansicht, das Ende des Kalten Krieges würde die Welt friedlich machen. Solche Sichtweisen, so sollte sich rasch zeigen, waren bereits wieder unbequem – auch für jene, die sich mit den Resten der DDR-Rundfunksender so schnell und reibungslos wie möglich ins BRD-System integrieren wollten. Schon im Herbst 1990 waren unsere monothematischen Ein-Stunden-Sendungen durch eine »unterhaltsamere« Magazin-Struktur ersetzt worden. Anfang 1991 galt eine analytischaufdeckende Betrachtung im – nun kommerzialisierten – Jugendradio DT 64 wieder als unpassend. Diesmal hieß die Losung, unter der meine Beiträge kritisiert oder abgelehnt wurden: »Wir brauchen mehr Ausgewogenheit!«.

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Noch einmal wollte ich mich solcherart Zensur nicht anpassen. Als ich im April 1991 Jugendradio DT 64 verließ, war das auch das Ende der gemeinsamen Sendungen mit HansJoachim Maaz und der Psychoanalyse-Popularisierung über den, nun ehemaligen, DDRRundfunk.

5.11.3 Gabriele Brunnemann: Als Internistin in der Regionalgesellschaft Potsdam Familienbiographie: Das Leben eines Onkels wird 1934 von der Gestapo ausgelöscht. 1955 stirbt mein Großvater durch die Stalinisten. Nach dem Mauerbau 1961 verliert ein Onkel seine Arbeit und damit verbundenes Umfeld von heute auf morgen, ein zweiter Onkel wird als privater Fuhrunternehmer, um der Enteignung zu entgehen, von den Behörden angewiesen, die vielen Wohnungen der noch kurz vor dem 13. August 1961 Geflüchteten zu beräumen. Beide können die Spaltung des Landes nur mit innerer Spaltung aushalten. Beide werden schizophren, sterben vor der Zeit. Als 16-jährige Oberschülerin besuche ich 1966 einen Onkel in einer großen Nervenklinik. Das räumliche und menschliche Klima dort ist erschreckend. Erst nach der Wende erfahre ich von der aktiven Verstrickung dieser Klinik in die Euthanasiemorde der Nazis. 1966 gab es in der DDR nur die Widerstandskämpfer, die Nazis waren alle im Westen. Bei diesem Besuch beschließe ich, an dieser Arzt-Patienten-Atmosphäre etwas zu ändern. Anstatt Archäologie studiere ich Medizin. Ohne Jugendweihe und mit einer pazifistischen Grundeinstellung (meine Eltern versuchen, aus dem Zweiten Weltkrieg Rückschlüsse zu ziehen) ist das nicht einfach. Des Öfteren muss ich meine Grundposition als Jugendliche staatlichen Machtmenschen gegenüber vertreten, deren Tonfall mit dem Volksgerichtshof vergleichbar ist. 1974 bekomme ich meine Approbation, gehe direkt zu Kurt Höck und sage: »Ich möchte Psychotherapeutin werden, was muss ich tun?« »Internistin oder Nervenärztin werden«. Ich bekomme eine Assistentenstelle in einem kleinen Krankenhaus, werde sogleich Stations­ ärztin, 40 Betten, über 170 Stunden Nachtdienst im Monat. Mein Wunsch, mich neben der internistischen Facharztausbildung auch psychotherapeutisch weiterzubilden, beantwortet mein damaliger Chef nur mit herabwürdigenden Äußerungen. Mit einem solidarischen Ehemann im Hintergrund besuche ich anfangs Wochenendveranstaltungen aus privater Initiative. Die Herzinfarktnachsorge, die jetzt in der Poliklinik in meinen Händen liegt, und das totgeschwiegene, aber zum Himmel schreiende Alkoholproblem (»Alkoholismus ist dem System des Sozialismus nicht immanent!« – die Zahlen der Abhängigen liegen im Tresor), verlangen nicht nur Engagement, sondern auch psychotherapeutisches Wissen. 1980, inzwischen Fachärztin, nutze ich eine Situation, wo ich den Chefarzt wegen Krankheit vertreten muss, und delegiere mich selbst nach Potsdam, zur Teilnahme am Grund- und Aufbaukurs Psychotherapie. An meine Faszination erinnere ich mich noch deutlich: Genau das hatte ich 1966 gemeint – eine neue Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung. Das Erlernte trug vor Ort reiche Früchte. Zeitweise liefen zwei Parallelgruppen Autogenes Training (Hypertoniepatienten, Infarktnachsorge, Stressbewältigung), wobei diese Methode auch benutzt wurde, um aus einer gelasseneren Grundposition Probleme anzugehen, nicht, um

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»ganz ruhig« zu bleiben, wenn eigentlich Bewegung angesagt ist. »Patientengruppen« Selbstsicherheitstraining« (heute sagt man »soziale Kompetenz«) fanden im Kulturraum des Krankenhauses statt. Es gab durchaus auch SED-Mitglieder, die die Realität nicht schönten. So war die Bürgermeisterin unserer Kreisstadt bereit, Räume für ein »Alkoholiker-Dispensaire« bereitzustellen. Der Termin der Schlüsselübergabe stand schon fest. Am Abend vorher fand eine turnusmäßige Veranstaltung der Ärzteschaft mit der SED-Kreisleitung statt. Es war die Zeit, wo in den Schulen der Wehrkundeunterricht eingeführt werden sollte. Ich äußerte mich sehr eindeutig, hatte ich doch als zweites Kind einen Sohn geboren, den ich für keine Ideologie opfern würde. Am nächsten Tag rief mich die Bürgermeisterin betreten an, das »Alkoholiker-Dispensaire« war »gestorben«. Eine Nachfrage bei der Kreisärztin ergab, dass sie diese Entscheidung für richtig hielte, denn ich sei doch »politisch eine fragwürdige Person, als sozialistischer Leiter also ungeeignet«. Da waren es wiederum Gespräche mit Kollegen der Gesellschaft während Weiterbildungen oder Tagungen, die den Alltag in der »Diaspora« ermöglicht haben. Es war eine Atmosphäre, wo getan wurde, was dran war. Also auch eine Art Nische, die in der DDR Raum zum Atmen ließ. Wenn wir auch heute wissen, dass es unter uns Zuhörer gab, die gleichzeitig Zuträger waren, konnte dies die Früchte der Arbeit nicht zerstören. In meinem Fall fand sich für die Gruppenarbeit mit den Alkoholikern ein Raum unter dem Dach der evangelischen Kirche. Die Einzeltherapien integrierte ich in die Zeit der »Rheuma-Dispensaire« in der Poliklinik. Das Tagungsthema 1984, etwa »Chronisch Kranke und Sterbende«, brannte uns Ärzten im Alltag, war aber im DDR-Alltag Tabu. Dieses »Wir tun das jetzt« der ersten Hälfte der 1980er Jahre, weicht in meiner Erinnerung ab ca. 1986/87 eher einem bedachten Rückzug aufs Fachliche. Während Gorbatschow Türen öffnet, will man in der Gesellschaft vielleicht Erreichtes nicht aufs Spiel setzen. Die Jahrestagungen werden nun von 300 und mehr Kollegen in Potsdam besucht. Kann man sie noch verbieten wie ein »AlkoholikerDispensaire«? 1988 habe ich zum Thema »Trauer und Trauerstörungen« promoviert. Das Stichwort »Trauer« gab es im DDR-deutschen Wörterbuch nicht mehr. 1989 schließlich als Jahrestagungsthema »Schlaf als interdisziplinäres Problem«, zur Eröffnung sogar ein Grußwort eines Vertreters des Rates des Bezirkes Potsdam. Wer hatte den eingeladen? Dies war schon, nach dem der Wahlbetrug im Mai offenbar war. Der erstickende Sommer 89. Beginn der Montagsdemonstrationen in Leipzig, 7. Oktober 1989. Am 13. Oktober tausche ich mich im Nachtdienst mit einem Kollegen aus. Patienten mussten sich nach den Misshandlungen während der Zuführungen infolge der Demo am 7. Oktober in Berlin in ärztliche Behandlung begeben. Sie waren nicht nur körperlich verletzt, sondern die Verhafter hatten auch ihre Würde mit Füßen getreten. Der Kollege und ich sind der Meinung, dass Ärzte hier nicht mehr schweigen dürften. Mit anderen gleichgesinnten Kollegen (unter denen, wie wir später erfahren, natürlich auch Zuträger sind) verfassen wir einen Protestbrief und senden ihn an das Gesundheits- und Innenministerium der DDR. Ein Öffentlichmachen während unserer Tagung ist nicht erwünscht. So tief scheint die Angst zu sitzen, obwohl diese Gesellschaft doch gerade so viel Mut für Veränderung gegeben hat. Nach der Wende dann hat sich die politische Situation geändert. Die Zwänge sind andere. Aber die Bewegungsmöglichkeit ist deutlich größer geworden. Zehn Jahre lang habe ich die

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Gesellschaft bis 2002 im Vorstand mitgetragen. Nach dem Generationswechsel im Vorstand sind neue Blickwinkel entstanden. Für mich war es erfreulich, dass es aus meiner Sicht den jungen Kollegen bisher gelungen ist, die Probleme des Zeitgeistes, der sich in der Klientel unserer Sprechstunden abbildet, nicht auszusperren. Es zeigten sich für mich gute Verbindungen zwischen Praxis und Theorie mit Verbindung zur sozialen Ebene.

5.12 Geschichten aus dem Alltag eines Psychotherapeuten in der DDR 5.12.1 Inge Frohburg: Carl Rogers in Moskau51 Ende September/Anfang Oktober 1986 war ich in Moskau – als Leiterin eines der Austauschpraktika, die jährlich zwischen den psychologischen Instituten der Lomonossow-Universität in Moskau und der Humboldt-Universität zu Berlin durchgeführt wurden. Daran beteiligt war eine Gruppe von zehn Studierenden, und ich hatte – als alleinerziehende Mutter – meinen damals 15-jährigen Sohn Jan mitnehmen können. Dass sich zur gleichen Zeit der weltbekannte amerikanische Psychologe und Psycho­ therapeut Carl Rogers (1902–1987), der einer der Hauptvertreter der Humanistischen Psychologie ist und dessen herausragende Leistung in der Entwicklung der klientenzentrierten Psychotherapie (Gesprächspsychotherapie) besteht, in Moskau und an der Universität aufhielt, erfuhren wir wie zufällig von unserer offiziellen Betreuerin. Sie kam eines Morgens mit der »sensationellen Nachricht« und war ganz aufgeregt. Aber Genaueres wisse sie nicht. Nur das hatte sie in Erfahrung bringen können: Der Direktor des Instituts für Pädagogische Psychologie, Dr. A. Matjuschkin, hatte Carl Rogers eingeladen. Die Möglichkeit dazu war u. a. Michail Gorbatschow zu verdanken, der sich übrigens gerade in diesen Tagen in Reykjavik zu einem viel beachteten Gipfeltreffen mit Ronald Reagan aufhielt. Die Einladung erfolgte – so der Institutsdirektor Professor Matjuschkin in seiner Laudatio –, weil sich gerade die sowjetischen Psychologen dem humanistischen Anliegen von Carl Rogers und seiner praxisrelevanten wissenschaftlichen Arbeit eng verbunden fühlten und weil es enge Beziehungen zwischen seinen theoretischen Auffassungen und dem in der Sowjetunion besonders von Wygotski, Leontjew und Luria vertretenen Tätigkeitsprinzip gebe. An der Moskauer Universität waren jedoch keine offiziellen Bekanntmachungen, Plakate oder Aushänge zu finden, die auf die Anwesenheit von Carl Rogers und die geplanten Veranstaltungen hinwiesen. Was aber – wieder mal – zuverlässig funktionierte, war (personzentrierte!) Mundpropaganda.

51 Der vorliegende Text ist eine leicht veränderte Fassung der »Randnotizen zum Aufenthalt von Carl Rogers in Moskau«, erschienen in Zschr. Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, 4, 2002, 221–222.

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Ich wollte unbedingt wenigstens an einer dieser Veranstaltungen teilnehmen – das umso mehr, weil ich in den Jahren zuvor nicht zu den von Carl Rogers und seinem Team in Ungarn und anderen sozialistischen Ländern veranstalteten Workshops fahren durfte.52 »Carl Rogers live« – das war für mich deswegen eigentlich zur Utopie geworden ... Ja, sagte unsere Betreuerin, sie werde sich sofort um nähere Informationen und um eine entsprechende Erlaubnis für meine Teilnahme kümmern. Ich wollte diese Erlaubnis aber nicht nur für mich, sondern auch für die Studenten. Das allerdings – sagte sie – dürfte schwierig werden. Sie hat die Genehmigung zur Teilnahme an einer öffentlichen Vorlesung von Carl Rogers für mich dann tatsächlich in den nächsten drei Tagen erwirkt. Ich bin zu dieser Vorlesung gegangen – mit der einen Erlaubnis und mit den zehn Studenten und mit meinem Sohn. Allen trüben Prophezeiungen zum Trotz konnte ich uns erfolgreich durch mehrere Kontrollen erst des »weiteren Ringes« und dann des »engeren Ringes« schleusen. So saßen wir dann in einem großen überfüllten Hörsaal mit den üblichen ansteigenden Bankreihen, eingekeilt und mittendrin im russischen Sprachgewirr. Und wir fragten uns – aufgeregt, gespannt und plötzlich auch sehr verunsichert –, wie er wohl sein wird, der »lebendige« Carl Rogers, den wir bislang nur aus seinen Texten und aus Berichten anderer kannten. Und wir überlegten, wie er wohl gekleidet sein und welches Image er damit vermitteln würde. Rollkragen-Pullover, Jeans – Sakko? Oder dunkler Anzug, weißes Hemd und (blaue) Krawatte? In der langen über zweistündigen Wartezeit bis zum (für alle unbekannten) Beginn der Veranstaltung kamen wir auf die Idee, Carl Rogers einen Brief zu schreiben und diesen mit einem Blumenstrauß auf den für ihn reservierten Platz zu legen. Mein Sohn hat diesen Blumenstrauß – rosa Nelken – tatsächlich irgendwie und irgendwo aufgetrieben und auf dem Rückweg alle Kontrollen und Sperren des äußeren und des inneren Ringes erneut überwunden. Diese »Aktion« hat mir einen Brief von Carl Rogers eingebracht. Er schrieb ihn am 6. November 1986 aus La Jolla in Kalifornien, bedankte sich für Brief und Blumen und fuhr dann fort: »I think very well of the research done by Reinhard and Anne-Marie Tausch.« Und er legte noch einen Aufsatz »Measuring the Self and Its Changes« bei, »[...] summarizing research we did long ago, but research of which I feel proud«. Ich war sehr stolz auf diesen Brief und habe lange Zeit gedacht, ich bin die Einzige in der DDR, die ein »Original« von Carl Rogers besitzt. Welches ich aber leider niemanden zeigen und von dem ich auch nicht erzählen konnte – aus Sicherheitsgründen, weil für mich als Universitätsmitarbeiterin »Kontakte mit dem nichtsozialistischen Ausland« meldepflichtig waren. Und diese Meldung wollte ich, quasi hinter dem Rücken von Carl Rogers, nicht machen. Aus den nach seinem Tod veröffentlichten biographischen Berichten von Hans R. Böttcher, dem Professor für Sozialpsychologie an der Universität in Jena, habe ich später entnehmen können, dass auch er briefliche Kontakte mit Carl Rogers hatte.

52 In den letzten 15 Jahren seines Lebens interessierte sich Rogers zunehmend für soziale Fragen und Friedenspolitik. Er engagierte sich im Konflikt irischer Katholiken und Protestanten, in Südafrika in der Rassenproblematik und besuchte mehrere der sozialistischen Staaten. Er setzte sich mit der Möglichkeit der Vermeidung eines atomaren Konflikts auseinander und gründete 1985 das Carl Rogers Peace Project. Anfang 1987 wurde er – kurz vor seinem Tod – für den Friedensnobelpreis nominiert.

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5.12  Geschichten aus dem Alltag eines Psychotherapeuten in der DDR

Dann – endlich – kam Carl Rogers. Ein alter Mann, leise, freundlich und sehr wach. Das waren die ersten Eindrücke. Er trug einen hellen Anzug, ein offenes Hemd und die an ­Cowboys erinnernde, durch ein Medaillon gefädelte Schnur. Darauf waren wir in unseren Vorüberlegungen nicht gekommen – aber so wirkte er auf uns sofort sehr amerikanisch. Carl Rogers sprach über die zentralen Gedanken des humanistischen Ansatzes und der personzentrierten Kommunikation. Und das hat uns dabei besonders beeindruckt: Er sprach in kurzen, einfachen Sätzen – machte häufig Pausen und achtete darauf, dass sein Dolmetscher, ein junger bärtiger russischer Mann, ihm folgen konnte und Gelegenheit erhielt, seinen Text auszuformulieren. Carl Rogers schaute ihn an und wartete. Die beiden nickten sich zu. Und dann fuhr Carl Rogers fort in seinen Ausführungen. Immer wieder auf diese Weise. Bei vielen Gelegenheiten vorher hatten wir in Kliniken und Instituten die Erfahrung gemacht, dass diejenigen, die uns von ihrer Arbeit erzählten, schnell in Fahrt gerieten, ohne Punkt und Komma redeten und trotz wiederholter Hinweise immer wieder vergaßen, dass ein Dolmetscher seine Arbeit tun musste. Vielleicht – dachten wir – ist die Rücksichtnahme auf den hilfreichen und notwendigen Übersetzer ja auch eine (sehr unmittelbare und praktische) Art von Empathie und Akzeptanz. So wollten wir es sehen, und so hat es uns gefallen. Carl Rogers hat im Anschluss an seine Ausführungen geduldig, hochkonzentriert und mit beeindruckender Vitalität viele, auf kleinen Zetteln formulierte und zum Rednerpult nach vorn getragene Fragen beantwortet. Leider habe ich mir diese Fragen nicht aufgeschrieben. Nach drei Stunden hat er sich verabschiedet, freundlich und konsequent und sehr selbstkongruent: Er meinte, nun sei es genug für ihn, und er danke für die Aufmerksamkeit. Stand auf und ging. Beifall. Wir waren sehr beeindruckt von der starken persönlichen Ausstrahlung dieses Mannes, seiner sachbezogenen Konzentration und der Intensität seiner sozialen Zuwendung. Uns gefiel sein leiser, schöner Humor. Und wir bewunderten die psychische und physische Kondition, mit der er als 84-jähriger nicht nur diese Veranstaltung, sonders auch die Reise aus den USA und den Aufenthalt in die UdSSR bewältigt hat. Wir haben noch viel und oft über ihn und diese Veranstaltung geredet. Ich habe auch Studenten in späteren Jahren immer wieder davon erzählt. Theorien werden oft so viel »lebendiger«, wenn man die Menschen sieht und erlebt, die sie formuliert haben – eine Erfahrung, die ich persönlich nach der Wende noch vielfach dankbar machen konnte. Unvergesslich ist mir eine Bemerkung von Bluma Zeigarnik im Anschluss an die RogersVorlesung. Zeigarnick (1900–1988) hat in Berlin studiert, gilt als Vertreterin der gestalttheoretischen Handlungstheorie nach Kurt Lewin und ist durch den von ihr 1927 formulierten »Zeigarnik-Effekt« über das bessere Behalten von unerledigten Handlungen in die Psychologie-Geschichte eingegangen. Als 86-jährige Professorin hielt sie noch immer regelmäßig ihre wöchentlichen Psychopathologie-Vorlesungen im Psychologischen Institut der Lomonossow-Universität und wurde dazu jeweils mit einem Taxi aus ihrer Wohnung abgeholt und wieder hingefahren. Bluma Zeigarnik, vielleicht 145 cm groß, zart, zerbrechlich und mit einem ganz knittrigen Gesicht, zwei Jahre älter als Carl Rogers. »Weißt du, Kindchen«, sagte sie zu mir, »der alte Mann da aus Amerika, was der so erzählt hat – so neu und so unbekannt ist das ja nun auch wieder nicht.«

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

5.12.2 Michael Geyer: Der graue Schlapphut oder die geheime Mission 53 des Spions E. B. 008 im kalten Osten Dies ist die Geschichte des Aufstiegs von E. B. zum West-Topagenten am Rande unserer ersten Begegnung 1984 in Dresden, deren Hintergründe erst zehn Jahre später durch das Studium meiner und anderer Stasiakten in allen Einzelheiten sichtbar wurden. Es war mir als damaligem Vorsitzenden der Psychotherapiegesellschaft mit Hilfe des Vorstandes der GÄP und der International Federation for Psychotherapy (IFP) gelungen, zwischen 10. und 12. Oktober 1984 eine kleine internationale Tagung mit je 30 Kolleginnen und Kollegen aus westlichen und östlichen Ländern – getarnt als »Erweiterte Sitzung des Präsidiums der IFP« – zu organisieren. Aus Westdeutschland war immerhin der komplette geschäftsführende Vorstand der DGPT – der psychoanalytischen Dachgesellschaft – angereist (s. a. den Bericht } Abschnitt 5.10.1). Mir war klar, dass diese Tagung im Zentrum der Aufmerksamkeit von Partei und Stasi stehen würde. Unter den 14 offiziellen und ca. 50 inoffiziellen Ost-Teilnehmern war die IM-Quote signifikant höher als in der ostdeutschen Normalbevölkerung zu erwarten war. Eine Heerschar professioneller Stasibeamten versuchte in einer beispiellos dramatischen Aktion, den Agenten E. B. 008, zu enttarnen. Im Folgenden einige Ausschnitte aus der Stasiakte eines Beteiligten, die jeweils kurz kommentiert werden. Beobachtungsbericht Im Rahmen des Komplexauftrages zur Sicherung der Transitwege im Bezirk Dresden: Betr. PKW Mazda, 626 GLX, weiß, 1/0/0, BRD, GI – TX 626 Wohnhaft Decknamen Reg. Nr. des Auftragsersuchens Für die Zeit vom 11.10.84, 19.15 Uhr bis 11.10.84, 24.00 Uhr 12.10.84. 00.00 Uhr bis 12.10.84, 02.30 Uhr Am 11.10.1984 um 19.15 Uhr Wurde o. g. Pkw auf der Parkstr., aus Rtg. Gerhard-Hauptmann-Str. kommend, unter Kontrolle genommen. Die Fahrt führte zum Altmarkt, wo der PKW in der Parkzeile abgeparkt wurde. Der Fahrer

53 Beitrag anlässlich des 60. Geburtstages von Prof. Dr. Elmar Brähler, Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig (2003).

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5.12  Geschichten aus dem Alltag eines Psychotherapeuten in der DDR

Geschlecht: männlich Alter: 33–37 Jahre, Größe: 1,82–1,86 m Bekleidung: dunkelbeiger Trenchcoat, hellbeige Hose, helle Schuhe, grauer Hut, buntes Schaltuch verließ das Fahrzeug, wo er kurz verweilte. Dabei sah er sich in alle Richtungen um. Kurz darauf lief er langsamen Schrittes zur Ernst-Thälmann-Str., dabei schaute er erneut ständig nach rechts und links. An der Ernst-Thälmann-Str. verweilte er kurz. [...] Dem Beobachtungsbericht ist unschwer zu entnehmen, dass der Fahrer eines in Gießen zugelassenen PKW Mazda mit dem typischen Habitus eines BND-Geheimen (grauer Schlapphut, erdfarbene Hose, heller, aber nicht zu heller Trenchcoat und ohrenbedeckendes Haupthaar) in betont harmloser Weise konspirativ aufgetreten ist. Zu beachten ist die typische Gestik. Es handelt sich um den nur schwer zu erlernenden geheimen Kommunika­ tionsmodus, mit der sich Agenten einer Schule unter Tausenden erkennen, z. B. wenn sie Teile des Rumpfes und Kopfes in einem bestimmten Rhythmus bewegen. Anschließend verließen die Fahrzeuge die Parkplätze, wobei den zwei Pkw Trabant nicht gefolgt wurde. Die Fahrt des Pkw Mazda führte auf kürzestem Weg zur Scharfenberger Str., weiter über einen sich anschließenden Feldweg in Rtg. Autobahnbrücke. Auf halbem Weg blieb der Pkw Mazda auf dem ausgefahrenen und morastigen Feldweg stehen. Aus Rtg. Autobahnbrücke kam um 20.15 Uhr einer der zwei Pkw Trabant. Der Fahrer dieses Pkw versucht zusammen mit den Insassen des Pkw Mazda den Pkw aus dem Morast zu schieben. E. B. 008 versucht vergebens, den Eindruck eines harmlosen unbeholfenen Autofahrers zu erwecken, der mit einem lächerlichen ostdeutschen Feldweg von höchstens 50 cm Schlammtiefe nicht fertig wird und sich ausgerechnet von einem Trabant aus dem Dreck ziehen lässt. Es handelt sich offenkundig um eine besonders raffinierte Form der Kontaktaufnahme. Der tüchtige Stasimann durchschaut diese Verdunkelungsaktion und bleibt am Ball. Nach einer kurzen formlosen Begrüßung halfen die Insassen des Pkw Wartburg. Um 20.45 Uhr fuhren der Pkw Wartburg und der Pkw Mazda zurück zur Scharfenberger Str./Anfang Feldweg. Hier wurden beide Fahrzeuge abgeparkt, woraufhin die zwei Fahrer in Rtg. Autobahnbrücke liefen. Der Fahrer des Pkw Trabant fuhr inzwischen mit den anderen Personen in Rtg. Autobahnbrücke und holte die zwei Fahrer ab.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Um 21.15 Uhr wurden alle Personen ca. 300 m hinter der Autobahnbrücke, in unmittelbarer Umgebung einer Steinlaube und anderer aus Holz errichteter Lauben, festgestellt. Acht Personen saßen um ein Lagerfeuer und führten eine angeregte Unterhaltung. Die anderen fünf Personen hielten sich in der Steinlaube an einem Tisch auf, wo sie ebenfalls ein angeregtes Gespräch führten. Der Inhalt der Gespräche wurde nicht festgestellt. Die zwei genannten Pkw Trabant waren in unmittelbarer Nähe der Laube abgeparkt. Um 22.00 Uhr Wurde die Einmündung des Feldweges in die Scharfenberger Str. unter Kontrolle genommen. Die Hartnäckigkeit des Mitarbeiters von Markus Wolf zahlt sich aus. Er erlebt den absoluten Höhepunkt der Konspiration. Eine offenbar gerade im Westen erfundene unsichtbare Methode zur Abschirmung von Geheimgesprächen verhindert das gewohnte Mithören. Hier ist Eile geboten, um das Schlimmste zu verhindern. Eine Legende muss her, um einen Vorwand zu finden einzuschreiten, die Verschwörer mit der Staatsmacht zu konfrontieren und eine akute Gefahr abzuwenden. Um 2.30 Uhr wurde die Beobachtung beendet. Die Personen, die in der Laube verblieben, wurden zu einem späteren Zeitpunkt unter Anwendung einer Legende durch eine VP-Streife kontrolliert. Dabei wurden zwei männl. Personen nicht mehr festgestellt. Anmerkung: Die Volkspolizei wurde um Amtshilfe gebeten, um unter Anwendung einer Legende einen Vorwand zur offiziellen Kontrolle der feindlichen Elemente zu finden. Dies wurde sehr erfolgreich folgendermaßen praktiziert: Die Legende war: »Es gibt einen Brandstifter, nach dem gesucht werden muss«. Also hat ein Volkspolizist in einem Nachbargarten einen Holzstapel angezündet. Der Brand brachte offiziell die Staatsmacht auf den Plan. Die konnte nun alle Personen in der Umgebung befragen und deren Personalien feststellen. (Zwei männliche Personen, der damalige Heidelberger Wolfgang Senf [derzeitig Essen] und Hans Kordy [Stuttgart/Heidelberg] hatten irgendetwas in einem Hinterzimmer der Gartenlaube zu tun und »wurden nicht festgestellt«.) E. B. 008 gibt sich als Gießener Bürger aus, eher der letzte Beweis seiner Tarnung und Gefährlichkeit. So übertrifft das Ergebnis alle Erwartungen:

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5.12  Geschichten aus dem Alltag eines Psychotherapeuten in der DDR

Nach Einschätzung der Abteilung VIII lassen die Umstände der Zusammenkunft den Schluß zu, daß sie konspirativen Charakter trug. Zum Inhalt der Gesprächsthemen ist nichts bekannt. Zum Zeitpunkt des Treffens fand im Dresdner Kulturpalast die »Erweiterte Sitzung des Präsidiums der Internationalen Gesellschaft für Psychotherapie« statt. Da fünf am Treffen teilnehmende Dresdner Bürger Psychologen sind, könnte beides im Zusammenhang stehen. Ganz gleich was da gesprochen wurde, es handelt sich zweifellos um eine konspirative Zusammenkunft. Endlich wird auch der Zusammenhang mit der Psychotherapeutentagung klar. Die ganze Veranstaltung ist eine einzige Konspiration ... Das muss Folgen haben, wie der Bericht an Oberst B. ausweist: Stellvertreter Operativ Dresden, 6. November 1984 Abteilung XX Leiter Über Stellvertreter Operativ Genossen Oberst B. Durch dieTransitbeobachtung der Abteilung VIII wurde eine Zusammenkunft zwischen DDR- Bürgern und Personen des NSW bekannt (s. beiliegender Beobachtungsbericht). Die Überprüfung ergab, daß es sich vorwiegend um Angehörige der medizinischen Intelligenz handelt. Unter den 11 Personen befanden sich [...]. Quer über dem Briefkopf findet sich im Originaldokument eine handschriftliche Notiz des Oberst B., der folgenden Auftrag formuliert: »Einleitung von Maßnahmen, die zur Aufklärung des Sachverhaltes führen! Was war Sache?« Unterschrift: Oberst Bornmann Der verdienstvolle Genosse Oberst B. verlangt die brutalstmögliche Aufklärung mit dem Ziel, Folgendes herauszufinden: Was war Sache?

Schluss Leider waren die fünf Jahre bis zur Wende 1989 zu kurz, um diese Frage zu beantworten und die massierte Zusammenballung der »medizinischen Intelligenz« zu entwirren. Und so endet die Geschichte wie die meisten wahren Geschichten mit tüchtigen Agenten: irgendwo im Nebel.

Nachtrag Es spricht für die Cleverness von 008, dass er noch mehrmals unbehelligt seiner wertvollen Aufklärungsarbeit zwischen Elbe und Ural nachgehen und so seinen Beitrag zum Sieg des Abendlandes im Kalten Krieg leisten konnte.

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

Der Karriere des »Stellvertreter Operativ« Oberst B. tat dies alles keinen Abbruch. Fünf Jahre später – im Herbst 1989 – krönte er als »Leiter Operativ« seine Laufbahn mit der erfolglosen Niederschlagung mehrerer Krawalle anlässlich der viel zu langsamen Durchfahrt eines D-Zuges durch den Dresdner Hauptbahnhof, in dem die abziehenden Besetzer der Deutschen Botschaft in Prag saßen. Er leitet heute ebenso erfolgreich die Sicherheitsabteilung eines im DAX gelisteten, weltweit operierenden deutschen Konzerns. E. B. 008 lebt heute unter seinem bürgerlichen Namen, den mehrere akademische Titel schmücken, in vielen Städten Europas, darunter auch in Leipzig und Gießen. Wie viele ExAgenten vor ihm, verbringt er seine Zeit mit dem Schreiben von Büchern. Gemessen an der Zahl seiner Bücher pro Jahr ist er gerade dabei, John LeCarré zu überholen, nachdem er bereits vor zehn Jahren Graham Greene hinter sich gelassen hat.

5.12.3 Christoph Schwabe: Nicht-Märchengeschichten eines Psychotherapeuten III Im Frühjahr 1980 war ich für kurze Zeit als Musiktherapeut im Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie Altscherbitz tätig. In dieser Zeit fand in der DDR eine Kommunalwahl statt, und in diesem Zusammenhang gab es eines Tages von der Klinikleitung die Anordnung, dass acht Tage lang um diesen Wahltag herum keinerlei Beurlaubungen von Patienten erfolgen dürfen. Nachfragen nach dem Warum waren zwecklos. Ich erlebte unmittelbar die Reaktionen vieler Patienten bereits bei der Ankündigung dieser Maßnahme und war sowohl über diese massiven Reaktionen der Patienten als auch über die Maßnahme an sich entsetzt und beschloss, eine Eingabe an das Zentralkomitee der Partei, Abteilung Gesundheitswesen, zu richten und die Situation in der Klinik zu schildern sowie anzufragen, ob diese Maßnahme in der obersten Parteibehörde bekannt sei und von ihr akzeptiert würde. Ich schrieb diesen Brief in meiner Funktion als Vorsitzender der Sektion Musiktherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und nicht als Angehöriger der Klinik, weil ich dann den Dienstweg hätte einhalten müssen, was bedeutet hätte, dass der Brief niemals in Berlin gelandet wäre. Als der Einschreibebrief auf der Post war, informierte ich den Klinikchef über meine Aktion. Das war an einem Freitag, so dass in der Zwischenzeit nichts von der Klinikleitung Gegenteiliges unternommen werden konnte, so dachte ich wenigstens. Als ich am darauf folgenden Montag in die Klinik kam, wurde ich sofort in eine schwarze Limousine verfrachtet. Ich wusste nicht, wo die Fahrt mit mir hingehen sollte; sie ging aber zur Kreisärztin, die ebenfalls, hier nun vom Klinikchef über mein Unternehmen informiert war. Der Empfang war äußerst kühl, und ich spürte eine unterschwellige Aufregung bei der Dame, die bald bei ihrer Fragerei auf das zielte, was ihr offenbar am stärksten am Herzen lag. Es war die Frage an mich, ob ich über dieses Tun die westliche Presse schon informiert habe. Dann kam große Erleichterung und auch Kopfschütteln, als ich ihr versuchte klarzumachen, dass es mir nicht um einen Ost-West-Skandal gehe, sondern um die Patienten, die durch ein solches unverständliches Tun in größte Nöte gerieten.

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5.12  Geschichten aus dem Alltag eines Psychotherapeuten in der DDR

Vier Wochen nach diesem Ereignis wurde ich in die Chefetage gerufen. Dort saß er, der Chef, dazu die Parteileitung der Klinik, der Gewerkschaftsvertreter, die Chefsekretärin als Protokollantin und dazu vier Herren aus Berlin, die meine Eingabe beantworten wollten. Dies geschah wortreich und zunächst recht freundlich: Ja, diese Anweisung komme vom Ministerium, aber nicht vom Gesundheitsministerium, sondern vom Ministerium des Inneren. Ich solle doch verstehen, es gebe eine schwierige politische Lage, inzwischen auch an der Ostgrenze zu Polen. Was die politische Situation mit unseren Patienten zu tun habe, fragte ich und bekam die zögerliche Antwort, man sei auch nicht sehr glücklich über diese Entscheidung, könne aber nichts tun; die Genossen vom Inneren seien eben noch nicht so entwickelt, dass sie die Dinge »differenzierter« sehen könnten. Da ich mich mit diesen Antworten nicht zufrieden gab, bohrte ich weiter mit Fragen, ob diese Maßnahme nur im Gesundheitswesen erfolgt sei oder auch andere Bereiche betreffe. Da änderte sich sehr rasch die Stimmung der vier ZK-Vertreter, und man machte mir deutlich, dass man mir alles erklärt habe; wenn ich aber keine Ruhe geben würde, dann könnte man auch andere Saiten aufziehen. Von einigen Kollegen, die schon länger in dieser Klinik tätig waren, erfuhr ich dann, dass das eine schon oft verordnete Maßnahme sei. Selbst bei einer sportlichen Veranstaltung wie beispielsweise der damaligen Radfernfahrt, genannt internationale Friedensfahrt, wäre das so gewesen. Meine empörte Frage, warum gegen solche Dinge bisher keiner protestiert habe, blieb unbeantwortet.

5.12.4 Hans-Joachim Maaz: Die »Briefcouvert-Affäre« Seit 1984 habe ich die Kurse in Psychodynamischer Einzeltherapie konzeptionell und organisatorisch geleitet. Als Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle wurde routinemäßig all meine Post von der Poststelle des Krankenhauses erledigt. Dazu gehörte ein Stempel mit den kirchlich-diakonischen Symbolen unseres Hauses. Die angebotenen Kurse waren mit tiefenpsychologisch-psychoanalytischer Konzeption ausgeschrieben und waren erst nach jahrelangem Ringen – wegen der in Frage gestellten psychoanalytischen Orientierung – überhaupt möglich geworden. Es muss etwa 1985 gewesen sein, als ich während einer Vorstandssitzung der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR gerügt wurde, dass auf den Einladungen zu den Lehrgängen der Sektion Psychodynamische Einzeltherapie als Absender meine Arbeitsstelle im Diakoniewerk Halle angegeben und die Couverts mit kirchlichen Symbolen bestempelt waren. Dies wurde von den Genossen als politische Provokation verstanden und dies sei den »sozialistisch« orientierten Kollegen, die in staatlichen Einrichtungen angeschrieben und eingeladen worden waren, nicht zumutbar. Dieser erlebte Affront wurde zum Anlass genommen, mich zu befragen, ob denn die Psychodynamische Einzeltherapie wissenschaftlich überhaupt auf »marxistisch-leninistischer« Basis konzipiert sei. Dies war wohl der letzte Versuch, das ganze Vorhaben wieder zu stoppen. Ich erinnere mich daran, in der hitzigen Diskussion mit allem mir zur Verfügung stehenden Mut zugegeben zu haben, dass unsere Arbeit natürlich nicht marxistisch-leninis-

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

tisch begründet sei, ich mir aber gerne sagen lassen würde, wer über eine solche Therapietheorie verfüge, wie dann die Therapie-Essentials aussehen müssten, um abgleichen zu können, welche Verwandtschaft oder wesentliche Differenzen für die Therapiepraxis benannt werden müssten. Als keiner der Psychotherapie-Funktionäre darauf eine rechte Antwort zu geben wusste, war die Situation einigermaßen entschärft. Prof. Wendt hatte dazu eine Vertrauenserklärung mir gegenüber abgegeben und betont, dass wir ja keine Psychoanalyse vermitteln würden, sondern eine eigene Konzeption einer Psychodynamischen Einzeltherapie entwickelt hätten. Damit war der Weg gewiesen, dass wir den theoretischen Hintergrund unserer Weiterbildungsangebote ohne Festlegung auf eine psychoanalytische Schule zu vermitteln und zu diskutieren hatten und uns vor allem auf die therapeutische Praxis konzentrieren sollten. Und ich wurde verpflichtet, für eine »neutrale« Einladung ohne Hinweis auf meine Arbeitsstelle zu sorgen. Das war im Grunde genommen ein peinlich-lächerliches Unterfangen, die nicht mehr aufzuhaltende Entwicklung einzuschüchtern und zu behindern. Aber für die Praxis war das ein annehmbarer Kompromiss, mit dem wir leben konnten, der uns auch in unserer Kreativität stärkte und frei ließ, vielfache analytische Positionen zu integrieren und sich keiner Richtung namentlich zu verpflichten. Erst nach der Wende wurde mir bewusst, dass die verordnete Einengung insofern auch einen Vorteil bedeutete, sich mit den verschiedensten psychoanalytischen Theoremen und Paradigmen auseinandergesetzt zu haben und sie für die jeweils eigene Praxis kritisch zu würdigen, ohne durch eine institutionelle Einengung auf eine theoretische Position verpflichtet zu werden. So empfand ich es nach der Wende als höchst verwunderlich und irritierend, als ich z. B. bei einer Tagung der DGPT in Fulda die Differenzen und Konflikte zwischen Mitgliedern der DPG und DPV zur Kenntnis nehmen musste und der von uns so lang umkämpfte psychoanalytische »Himmel« von den Vertretern der unterschiedlichen psychoanalytischen Schulen schon längst zu einem Kampffeld für narzisstische Eitelkeiten und Machtbedürfnisse verdunkelt worden war. Wie unterschiedlich die Verhältnisse in Ost und West auch waren, in der Abwehr basaler Defizite und Grundkonflikte durch intellektuelle oder sogar ideologisierte Kämpfe bestand doch eine erschreckende Ähnlichkeit.

5.12.5 Hans-H. Fröhlich: Politik gegen Polithomos sowie eine Amputation in drei Schnitten Am 19. September 1985 während meiner Sprechstunde in der Ehe-, Sexual- und Familienberatungsstelle Berlin gegen 17 Uhr meldete meine Sekretärin aufgeregt irgendetwas von einem General, der mich dringend zu sprechen wünsche; es sei wichtig und er wolle keinen Termin. Der Herr war Dr. phil. Lothar Rohland, seines Zeichens »Sekretär des Generalsekretariats der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR«. Mir schwante Ungutes. In der Woche darauf war die 8. Tagung der AG Sexualtherapie der Sektion VT zum Schwerpunktthema Homosexualität geplant (} Abschnitt 5.3.4.4). Herr Rohland meinte, das Generalsekretariat (GS) habe nichts gegen Homosexuelle und die Beschäftigung mit ihnen, soweit sie wissenschaftlich und medizinisch sei. Es seien jedoch zwei Politaktivisten eingeladen worden, die feindliche Ansichten und Absichten verträten. Es handele sich um Frau

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5.12  Geschichten aus dem Alltag eines Psychotherapeuten in der DDR

Sillge (die spätere Leiterin des »Sonntagsclubs«, einer queeren Berliner Betroffenen-Initiative, und Herrn Pulz (einem späteren Bürgerrechtler und Berliner Stadtverordneten), deren Auftreten würde man in keinem Fall dulden. Das war ernst, denn ich hatte bereits meine Erfahrungen mit diesem Dachverband, der über alle medizinischen Gesellschaften der DDR thronte und diese überwachte. Diese Erfahrungen betrafen die »Medizinische Gesellschaft der DDR zum Studium der Lebensbedingungen und der Gesundheit« (MGzSLG) – eine kleine, aber feine medizinische Fachgesellschaft. Es war überhaupt die erste medizinische Gesellschaft, die in der DDR gegründet wurde. Sie ging aus der Friedensbewegung der Ärzte hervor und wurde von dem hoch angesehenen Psychiater und Greifswalder Ordinarius Hanns Schwarz viele Jahre geleitet und ihre Ergebnisse wurden in Tagungsbänden veröffentlicht. Hier soll erstmals über einen Skandal berichtet werden, der keiner sein durfte, da dieser Öffentlichkeit voraussetzt. Es soll demzufolge als »Amputation in drei Schnitten« bezeichnet werden, die das GS an einem ihrer (Mit-)Glieder vornahm: 1. Schnitt. Die o.g. MGzSLG führte im November 1974 im Berliner Filmtheater »Kosmos« an drei Tagen den ersten Kongress zum Thema Sexualität in der DDR durch. Die X. Tagung stand unter dem Motto »Sexualverhalten und unsere gesellschaftliche Verantwortung«. Mein Einleitungsreferat »Die Sexualität in der bürgerlichen Gesellschaft« durfte als einziger von 28 Beiträgen im Tagungsband (Szewczyk u. Burghardt 1978) nicht erscheinen, da eine »namhafte Fachwissenschaftlerin der DDR« (eine Philosophin Frau Dr. Frost von der KMU Leipzig) »nach eingehender Beurteilung und Prüfung« u. a. feststellte, dass »vor allem das Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht deutlich genug herausgearbeitet« wurde und eine »vor allen Dingen parteiliche Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie nicht stattfindet«. Als Kuriosität sei noch angemerkt, dass ich den gleichen Beitrag am »Lehrgang zur marxistisch-leninistischen Weiterbildung der Hochschullehrer und wissenschaftlichen Mitarbeiter« an der HUB eingereicht und damit das Studium auch im Kurs Marxistischleninistische Philosophie am 3.6.1976 erfolgreich verteidigt habe! 2. Schnitt. Die XII. Tagung der MGzSLG wurde vom 10.–12.November 1980 im HygieneMuseum in Dresden zum Thema »Menschen als Partner im Sozialismus – Möglichkeiten, Angebote, Modelle« organisiert. Schon das Kongressthema erschien dem GS suspekt, erinnerte es doch sehr an das seinerzeit propagierte westdeutsche Konzept von »Sozialpartnerschaft«. Als Stellvertretender Vorsitzender und wissenschaftlicher Leiter dieser Tagung musste ich insbesondere den 3. Tag, in dem »normabweichende Formen von Partnerschaften« behandelt werden sollten, dem »Amt. Generalsekretär der Gesellschaft für Klinische Medizin, Doz. Dr. U. J. Schmidt« ausführlich erklären. Offensichtlich passten ältere alleinstehende Menschen, Bürger mit körperlichen und psychischen Behinderungen, Menschen mit gleichgeschlechtlichen Neigungen sowie Dissoziale nicht zum »medizinischen« Menschenbild des Sozialismus. Die Referenten waren vorbereitet, die Räume reserviert, die Einladungen gedruckt und verschickt, etwa 200 angemeldete Teilnehmer hatten zum Teil schon ihre Übernachtungen gebucht. Trotzdem wurde der Kongress verboten. Unter einem fadenscheinigen Vorwand (»aufgrund einer Reihe unvorhergesehener organisatorischer Schwierigkeiten«) wurde die Tagung im September 1980 abgesagt!

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5. Kapitel  |  1980–1989: Wege der Emanzipation

3. Schnitt. Nun hatte wohl auch der Direktor des Hygiene-Museums resigniert und legte den Vorsitz der MGzSLG unter einem Vorwand nieder. Dadurch stand ich als amtierender Vorsitzender der Gesellschaft in der Pflicht. Das sollte offensichtlich in keinem Fall geschehen. Damit passierte ein einmaliger Vorgang: Der Minister für Gesundheitswesen, Prof. Dr. Mecklinger, erließ am 24. Juli 1984 die »Anweisung Nr. 7 über die Rechtsfähigkeit Medizinisch-Wissenschaftlicher Gesellschaften«, in der im 1. Abschntt die »Medizinische Gesellschaft der DDR zum Studium der Lebensbedingungen und der Gesundheit« (im Abschn. I Ziff. 1 Verf. u. Mitt. Nr. 11, S. 65) einfach gestrichen wurde! So wurde die Existenz dieser ältesten Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaft der DDR im wahrsten Sinne des Wortes gelöscht. Es war die einzige Selbstamputation der »Gesellschaft für klinische Medizin der DDR«. In Anbetracht dieser Erfahrungen konnte die Entscheidung innerhalb der AG Sexualtherapie der Sektion VT nur die geforderte Ausladung der beiden politisch aktiven Gäste sein, um die Weiterexistenz dieses Gremiums zu erhalten, wir sind nicht ins rostige Messer gelaufen. Die Ausgeladenen waren not amused, es gab auch Diskussionen innerhalb der AGM ob dieser Erpressbarkeit. Aber manchmal ist Biegsamkeit überlebenswichtig im Interesse der Sache.

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6. Kapitel

1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

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6.1  Überblick

6.1

Michael Geyer: Überblick

Die Zeit der Wende ist – objektiv betrachtet – für alle Ostdeutschen eine im wahrsten Sinne revolutionäre Zeit, die das Ende einer Epoche herbeiführt und die Gültigkeit der bisherigen Ordnung der Dinge aufhebt. Wenn die Wende »Revolution« genannt wird, wird sogleich beschwichtigend das Beiwort »friedlich« davorgesetzt, obwohl die sog. friedliche Revolution nach meiner Erinnerung auch nicht unbedingt friedlich war. Jedenfalls sind mir die blutigen Auseinandersetzungen in Dresden, Leipzig und Berlin um den 7. Oktober 1989 herum und der Anblick der bis an die Zähne bewaffneten Truppen in den Hinterhöfen der Leipziger Innenstadt vor der entscheidenden großen Demonstration am 9. Oktober noch in guter Erinnerung. Es ist jedoch zweifellos die erste siegreiche Revolution in Deutschland. In der Radikalität des Umbruches überragt sie die vorherigen deutschen Revolutionen von 1848 und 1918/19 um Längen. Viele Ostdeutsche bleiben allerdings eher beim Begriff der Wende und deren Bewertung ist längst nicht einheitlich. Sabrow (2009) erklärt diese Unsicherheit in der Benennung und Bewertung mit dem Fehlen einer verbindlichen geschichtskulturellen Meistererzählung über die DDR und ihren Untergang, wie sie sich in Bezug auf die NS-Herrschaft seit langem hergestellt habe. Zur DDR gibt es mehrere Geschichten. Den öffentlichen Diskurs beherrscht eine Vorstellung, in der die DDR als ein im Herbst 1989 mutig überwundener Unrechtsstaat vorkommt. Der sog. gewöhnliche DDR-Bürger, der vielleicht die Mehrzahl der Ostdeutschen repräsentiert, stellt insofern eine Variante dieser Erinnerung dar, als er zwar froh ist, der DDR entkommen zu sein, er aber dem Unrechtsstaat DDR nicht so nahe gekommen ist, dass er einen eigenen Opferstatus beanspruchen könnte und das Leben in der DDR – so gut es eben ging – ohne besondere Schuldgefühle genossen hat. Im Milieugedächtnis früherer DDR-Eliten wird dagegen eine vereinigungskritische Anschlusserinnerung gepflegt. In ihr erscheint die DDR als Normalstaat und die Vereinigung als koloniale Unterwerfung mit Zustimmung der Kolonisierten in gezielter Analogie zum Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 (Sabrow 2009). Der Unterwerfungsthese hängen auch einige vom Ergebnis der Wende enttäuschte Bürgerrechtler an, die die DDR lieber als reformierten eigenständigen sozialistischen Staat gesehen hätten. Die Psychotherapeuten der Wendezeit bilden schon bald diese gespaltene ostdeutsche Erinnerungslandschaft ab. Sabrow (2009) plädiert dafür, dieses schon allein deshalb hinzunehmen, weil – anders als der Nationalsozialismus – die DDR keinen Zivilisationsbruch markiert. Insofern könne diese Zeit auch – anders als der Nationalsozialismus – privat wie öffentlich erzählerisch tradiert werden. Entsprechend machte der gewöhnliche DDR-Bürger aus seiner Freude über die Chance eines neuen Lebens zwar keinen Hehl, findet aber auch, dass das alte Leben in vielen Aspekten ganz gut und erzählenswert war. Dass es im Fall der DDR ein öffentlich wie privat verteidigungsfähiges richtiges Leben trotz einer Gesellschaft, die als Diktatur bewertet werden muss, gegeben haben kann, wird durch die zahlreichen autobiographischen Zeugnisse, die bereits zur Wende die Öffentlichkeit suchen, belegt. Dass aber viele unter solchen Verhältnissen Schuld auf sich geladen haben können, die von öffentlichem Interesse ist, beschäftigt alle Deutschen. Es hat den Anschein, als könne man die Schande des »Dritten Reiches« etwas mildern durch die rasche Abrechnung mit den Schul-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

digen des DDR-Regimes, derer man habhaft werden kann. Und das waren leider nicht die, die ganz oben in den Etagen der Macht saßen, sondern in erster Linie die eher unbedeutenden Zuträger der Stasi. Die Wendezeit ist somit eine Zeit der Freude und Stolzes, eine Zeit der Enttäuschung und Kränkung, eine Zeit des Schuldbekenntnisses und der Rechtfertigung und nicht zuletzt eine Zeit der Schuldzuweisung und der Abrechnung. Dies ist der Hintergrund, auf dem sich die folgenden sog. Wendejahre betrachten lassen, in denen sich die Psychotherapeuten der DDR auf den Weg in eine neue Gesellschaftsordnung machen. Bereits im Herbst 1989 verständigen sich Mitgliederversammlungen mehrerer Gliederungen der GPPMP, als selbständige Vereinigung unter dem Dach der GPPMP weiterzuarbeiten. Wie überall im Lande versuchen auch die Psychotherapeuten, die alten Strukturen zu überprüfen und sich neu zu orientieren. Es zeigt sich, dass viele Psychotherapeuten der DDR in der Praxis durchaus mehrere Verfahren anwenden und die Entscheidung, sich auf eine methodische Richtung zu beschränken, mitunter schwierig ist. Die außerordentliche Mitgliederversammlung der GPPMP Anfang März bestimmt sehr klar die weitere Richtung der Zusammenarbeit. Der vom Vorstand angebotene Rücktritt wird abgelehnt, ebenso wird die Auflösung der Gesellschaft verworfen. Abgesehen von der Tendenz zur Bildung selbständiger Methodenvertretungen will sie eine große Mehrheit als Plattform für die anstehenden Verhandlungen mit Kassenärztlicher Bundesvereinigung und Ärztekammern nutzen. Zunächst ergibt sich eine Konkurrenz zum neu gegründeten Berufsverband, die sich jedoch mit der Bildung einer gemeinsamen sog. 12er-Kommission, die in der Folge auch in die Gesetzgebung der berufs- und sozialrechtlichen Übergangsregelungen eingeht, auflöst. In der Folge trennt sich nur die Sektion Medizinische Psychologie von der GPPMP, deren Mitglieder geschlossen in die nun gesamtdeutsche Gesellschaft für Medizinische Psychologie eintreten. Auf Länder­ ebene entstehen zunächst in Sachsen, dann in den anderen – offiziell noch gar nicht entstandenen – neuen Bundesländern Weiterbildungskreise und selbständige Regionalgesellschaften, die die bezirklich arbeitenden früheren Regionalgesellschaften ablösen. Ebenso werden Ausbildungsinstitute für alle Richtlinienmethoden und auch andere Methoden meist länderbezogen gegründet. Dabei sind die in den Jahren vor der Wende geknüpften Beziehungen zu Personen und Institutionen in Westdeutschland, die in selbstloser Weise den Aufbau der neuen Aus- und Weiterbildungsinstitute unterstützen, von entscheidender Bedeutung. An anderer Stelle misslingt die von östlicher Seite gewünschte Vereinigung. Die lange vor der Wende existierenden Beziehungen zur Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie lassen gleich nach der Wiedervereinigung den Zusammenschluss zu einer gesamtdeutschen methoden- und berufsübergreifenden Gesellschaft möglich erscheinen. Aber die westdeutschen Kollegen bleiben in ihren berufspolitischen Grenzen und lehnen ein Zusammengehen mit den in der GPPMP vorhandenen Psychologen ab. Der Plan der beiden Vorstände scheitert (} Abschnitt 6.3.2.2). Gesprächspsychotherapeuten, Gruppenpsychotherapeuten, Verhaltenstherapeuten und die Vertreter anderer Methoden suchen Anschluss an die westdeutschen Verbände (} Abschnitte 6.5.3, 6.5.4, 6.3.2.3, 6.5.5.1, 6.5.6). Die Prozesse der Integration ziehen sich teilweise über mehr als zehn Jahre hin.

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6.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit

Die zur Wende neben den Gesprächspsychotherapeuten wohl größte Gruppe der psychoanalytisch orientierten Psychotherapeuten spaltet sich auf in tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapeuten und Kolleginnen und Kollegen, die eine Qualifikation in analytischer Psychotherapie anstreben. Die Übergangsregelungen der KBV sehen auch für diese Gruppe angemessene Bedingungen vor. Die lange vor der Wende bereits verfolgte Zielstellung, Anschluss zu finden an den Mainstream der Psychoanalyse in Form einer Mitgliedschaft in der DGPT, der analytischen Dachgesellschaft, trifft jedoch für die in den neugegründeten psychoanalytischen Instituten organisierten Psychoanalytiker der neuen Bundesländer auf erhebliche Schwierigkeiten. Es dauert bis über das Jahr 2000 hinaus, bis alle Institute Mitglieder der DGPT sind (s. a. }  Abschnitt 6.5.1.1). Spätestens jedoch im Jahre 1995 sind die Psychotherapeuten in der neuen Gesellschaft angekommen. Die nächste große Herausforderung, den Anforderungen des Psychotherapeutengesetzes 1998 zur Erlangung der Approbation als Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut zu entsprechen, sieht die ostdeutschen Psychotherapeuten auf einer Höhe mit ihren westdeutschen Kolleginnen und Kollegen. Die GPPMP begleitet auch diesen Prozess aktiv und vertritt die Interessen ihrer Mitglieder im Gesetzgebungsverfahren. Spätestens jedoch zur Jahrtausendwende wird klar, dass es in Zukunft keiner besonderen Gesellschaft mehr bedarf, die Interessen von ostdeutschen Psychotherapeuten im vereinigten Deutschland wahrzunehmen. Die GPPMP löst sich 2003 in einem geordneten Verfahren auf, nachdem alle noch verbliebenen Gesellschaften und Arbeitsgemeinschaften eine eigenständige Entwicklung eingeschlagen hatten.

6.2 Michael Geyer: Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit 1990 08.–13. Januar: Die »Arbeitsgemeinschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie« (AGKB) konstituiert sich in Reinhardsbrunn als DDRSektion der Internationalen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in Psychotherapie und Psychologie (IGKB). Der Vorsitzende Heinz Hennig erklärt die »weitgehende Selbständigkeit« und den Willen der AG, sich in »föderativer Weise mit der GPPMP verbunden zu sehen«. 27. Januar: Die im Auftrag des Vorstandes (interessanterweise von einem Mitarbeiter der Charité, der später als IM »Sigmund Freud« enttarnt wird) in Berlin organisierte und von Maaz mitgeleitete Tagung der neuen AG Psychotherapie und Gesellschaft hat etwa 100 Teilnehmer. In etwa zehn – jeweils lebhaft diskutierten – Vorträgen (nach eigenen Aufzeichnungen: Böttcher, Ehle, Geyer, Haas, Israel, Kirchner, Koraus, Maaz, Rauchfuß, Röder, Schulze, Simon) wird versucht, mit den persönlichkeitsdeformierenden Einflüssen der in Auflösung begriffenen Diktatur abzurechnen und den Beitrag der Psychothe-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

rapeuten bei der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft zu bestimmen. Folgende Themen werden zur Diskussion gestellt: Folgen des DDR-Gesellschaftssystems für Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie, Ursachen und Folgen von Charakterverformungen in unserer Gesellschaft, das vormundschaftliche Denken in Erziehung, Ausbildung und Kultur, Problematik faschistischer und neofaschistischer Tendenzen und Strukturen, Forderung nach »psychischer Revolution« und »therapeutischer Kultur«, die psychologischen Grundlagen für Demokratie, Frieden und Gerechtigkeit, Sinn- und Wertorientierung in der veränderten Gesellschaft. 03. März: Außerordentliche Mitgliederversammlung der GPPMP in einem Hörsaal der Leipziger Universität mit ca. 120 Teilnehmern. Geyer formuliert im Auftrag des Vorstandes das Ziel der Mitgliederversammlung, über folgende Fragen zu entscheiden: 1. Rücktritt des Vorsitzenden, des Vorstandes und/oder 2. Auflösung der Gesellschaft? 3. Falls die Gesellschaft erhalten bleiben soll, welche Rolle soll sie künftig spielen? In einer längeren Rede charakterisiert er die progressive Rolle der Gesellschaft im Vorfeld der friedlichen Revolution, spricht jedoch auch die Notwendigkeit der Zerschlagung der alten zentralistischen Strukturen an. Er fordert die Versammlung auf, die frühere Rolle der Psychotherapeuten, insbesondere ihrer Fachgesellschaft, bei der Aufrechterhaltung des Regimes und auch die moralische Schuld ihrer Funktionäre und Mitglieder zu untersuchen. Zunächst konzentriert sich die Diskussion auf die Frage, ob die Gesellschaft aufgelöst werden oder als Dachgesellschaft juristisch autonomer Gliederungen fungieren soll (wobei einige der Methodensektionen und Arbeitsgemeinschaften – u. a. Autogenes Training und Hypnose, AG Gynäkologische Psychosomatik – einen solchen selbständigen Status bereits realisiert haben). Fast alle Diskutanten sprechen sich für ein Weiterbestehen der Gesellschaft als Dachgesellschaft selbständiger wissenschaftlicher Gesellschaften aus (85 % stimmen schließlich für das Weiterbestehen der GPPMP). Das Rücktrittsangebot des Vorsitzenden und des Vorstandes wird kurz und kontrovers diskutiert, wobei einige Mitglieder die Existenz des Vorstandes als Hindernis bei der Gründung des Berufsverbandes artikulieren. Bei der Abstimmung votieren aber nur 25 % der Mitglieder für den Rücktritt des Vorstandes. Der damit im Amt bestätigte Vorstand wird beauftragt, der Mitgliederversammlung bis zum Herbst ein neues Statut vorzulegen, das den Charakter der Gesellschaft als Dachgesellschaft repräsentiert. Diese Dachgesellschaft soll wissenschaftliche Ziele verfolgen, während die berufspolitischen Aktivitäten von dieser Gesellschaft getrennt und vom bereits in Gründung befindlichen Berufsverband wahrgenommen werden sollen. Zur Gestaltung der Beziehungen zwischen Berufsverband und GPPMP wird eine Kommission, die paritätisch mit Vertretern beider Institutionen besetzt wird, eingerichtet und mit über 90 % positiver Voten legitimiert. (Die Aufgabentrennung zwischen Berufsverband und GPPMP erweist sich bereits wenige Wochen danach als überholt und wird mit Gründung der sog. 12er-Kommission korrigiert, in der die GPPMP paritätisch vertreten ist. Die GPPMP bleibt dann weitere zehn Jahre der Dachverband der dann selbständigen ostdeutschen Psychotherapieverbände und ist der Ansprechpartner für KBV und Bundesärztekammer sowie deren Kommissionen im Prozess der Angleichung der Oststrukturen insbesondere auf dem Gebiet der Aus- und Weiterbildung, aber auch als Vermittlerin bei der Vereinigung einiger korporativer Mitglieder mit

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6.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit

Partnergesellschaften im Westen. Nachdem diese Funktionen nach der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes erfüllt worden sind, löst sich die GPPMP nach der Jahrtausendwende auf.) März bis September: Strukturen der BRD werden von der DDR übernommen, z. B. werden die neuen Länder in der heutigen geographischen Ausdehnung verwaltungstechnisch vorbereitet, Kassenärztliche Vereinigungen und Ärztekammern werden auf Länderebene gegründet. Die staatlichen Polikliniken werden in Frage gestellt, erste Ärzte und Psychologen bereiten ihre Niederlassung vor. 29. März: Gründung des Sächsischen Weiterbildungskreises für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. in Leipzig (Geyer) mit Hilfe des damaligen Vorsitzenden des Ärztlichen Weiterbildungskreises für Psychotherapie und Psychoanalyse München/Südbayern e. V., Reinhard Hirsch (Wesseling bei München), wobei Statut und Bürotechnik zur Verfügung gestellt werden. Innerhalb der nächsten zwölf Monate werden Weiterbildungskreise bzw. Gesellschaften in Thüringen (Bartuschka, Benkenstein, Venner), Sachsen-Anhalt (Wachter, Haldensleben und Thomas, Halle), Brandenburg (Kirchner u. a.) und Mecklenburg-Vorpommern gegründet. 15. April: Inge Frohburg, Humboldt-Universität Ostberlin, erhält für das Sommersemester einen Ruf als Vertretungsprofessorin auf den Lehrstuhl für Gesprächspsychotherapie am Psychologischen Institut III der Universität Hamburg. 02. Mai: Als erstes psychoanalytisches Ausbildungsinstitut der DDR wird in Leipzig das Sächsische Institut für Psychotherapie und angewandte Psychoanalyse e. V. gegründet (Geyer u. a.). Helmut Thomä und Horst Kächele (Ulm), Carl Nedelmann (Hamburg) und das Ehepaar Heigl-Evers/Heigl (Düsseldorf, Göttingen) unterstützen den Aufbau. In den Monaten darauf werden psychoanalytische Institute in Jena (Venner, Misselwitz u. a.), Berlin (Seidler u. a.), Cottbus (Kirchner u. a.) und Rostock (Wruck u. a.) mit entsprechender Unterstützung durch westdeutsche Psychoanalytiker gegründet (s. a. die entsprechenden Beiträge unten). Mai bis Dezember: Die juristisch unselbständigen Regionalgesellschaften der GPPMP schließen sich zu Ländergesellschaften (in Form rechtsfähiger eingetragener Vereine) in den Grenzen der neugebildeten neuen Bundesländer zusammen und veranstalten zum Teil öffentlichkeitswirksame Tagungen (Halle, Berlin). 30. Mai: Am Rande der Psychotherapiewoche auf der Nordseeinsel Langeoog wird von Werner Stucke (Hannover), Rita Kielhorn (Berlin), Hans-H. Studt (Berlin) als Vertreter der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) und Michael Geyer als Vertreter der GPPMP ein gemeinsamer Ausschuss der AÄGP und der GPPMP gegründet, dem zusätzlich Reinhard Hirsch von Seiten der AÄGP und Werner König und Christoph Seidler von der GPPMP angehören sollen. Dieser Ausschuss soll zunächst die Zusammenarbeit beider Gesellschaften auf dem Gebiet der ärztlich-psychotherapeutischen Weiterbildung, insbesondere auch die Aktivitäten zur Einführung eines gesamtdeutschen Facharztes für Psychotherapie koordinieren. Auch die Möglichkeit der Vereinigung der Gesellschaften wird erstmalig angesprochen. Mai: Die Wiedervereinigung erscheint als realistisches Ziel. In den in Gründung befindlichen Institutionen wie KVen und Ärztekammern wird die Angleichung an das zu erwar-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

tende bundesrepublikanische ärztliche Berufsrecht und die westlichen Weiterbildungsverordnungen und -richtlinien diskutiert. Die Frage der Anerkennung in der DDR erworbener psychotherapeutischer Qualifikationen muss dem Tempo der Entwicklung entsprechend rasch betrieben werden. Es zeichnet sich bereits ab, dass die GPPMP eine wesentliche Rolle in diesem Prozess übernehmen muss. Geyer wird zunächst sporadisch als Gast, später (Herbst 1990) als Mitglied des sog. PPP-Ausschusses (Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik) der Bundesärztekammer berufen, der die Angleichung der ärztlichen Musterweiterbildungsordnung und entsprechender Richtlinien verfolgt. Es gelingt durch Einflussnahmen auf Länder- und Bundeskammer sowie KV-Ebene, die ursprünglich in der DDR entwickelten Methoden der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie als tiefenpsychologisch bzw. analytische Gruppenpsychotherapiemethode und die Konzentrative Entspannung als Entspannungsmethode neben Autogenem Training und Progressive Muselrelaxation nach Jacobsen in der ärztlichen Weiterbildungsordnung zu verankern. Andere Funktionäre der GPPMP beteiligen sich aktiv am Aufbau der Landesärztekammern (z. B. Kirchner, der noch vor der Vereinigung 1. Präsident der ÄK Brandenburg wird, u. a.), und eine Vielzahl von GPPMP Mitgliedern werden in den Kassenärztlichen Vereinigungen aktiv. Die erst im März diskutierte Abtrennung berufsrechtlicher Frage vom Aufgabenspektrum der GPPMP erscheint bereits überholt und wird in der nächsten außerordentlichen Mitgliederversammlung am 5. Oktober (s. u.) korrigiert. 13. Juni: Unter Vorsitz von König und Geyer tagt ein 20-köpfiger Weiterbildungsausschuss, der ad hoc durch die Abgesandten sämtlicher Gliederungen der GPPMP gebildet wurde und aus Ärzten und Psychologen besteht. Es müssen die Positionen der DDR-Psychotherapeuten bei der zu erwartenden Verabschiedung von Übergangsregelungen, die deren Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung regeln werden, geltend gemacht werden. Es werden notwendige Initiativen zur Erlangung der Anerkennung des Facharztes, des Fachpsychologen der Medizin, der fachbezogenen Spezialisierung (Zusatztitel Psychotherapie) und der Qualifikation in den in der DDR vermittelten Methoden, insbesondere der Dynamischen Einzeltherapie, der Verhaltenstherapie und der Gesprächstherapie, besprochen und das weitere Vorgehen geplant. Der Weiterbildungsausschuss ermächtigt sich, die notwendigen Verhandlungen zu führen, Qualifikationen zu zertifizieren sowie die sich gebildeten seriösen Weiterbildungsinstitute anzuerkennen. Im Nachgang dieser Sitzung wird die sog. 12er-Kommission (von einigen auch 12er-Rat genannt, je sechs Mitglieder aus GPPMP und Berufsverband) gebildet, die vom Gesetzgeber als Sachverständigenkommission zur Beratung der KBV in strittigen Fragen der Qualifikation von Ost-Psychotherapeuten eingesetzt wird. 30. Juni: Währungsunion von BRD und DDR. Unbeachtet von den Akteuren beendet der Minister für Gesundheitswesen der ersten frei gewählten Regierung der DDR offiziell die Tätigkeit des Koordinierungsrates der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften einschließlich des Generalsekretariats der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften, das seit November 1989 ohnehin keine Macht mehr besitzt. 01. September: Die Universität Leipzig verleiht der Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung wieder den Status einer eigenständigen »Klinik für Psychotherapie und

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6.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit

Psychosomatische Medizin«, den sie mit der Berufung Geyers auf den zugehörigen Lehrstuhl 1983 verloren hatte (} Abschnitt 5.4.1). Im Wintersemester 1990 wird durch die Klinik eine eigene Vorlesungsreihe »Psychosomatische Medizin und Psychotherapie« gestaltet, nachdem Geyer als »Professor Neuen Rechts« im Amt bestätigt ist. Auch in Halle/Saale (Fikentscher) und Jena (Venner) konstituieren sich Lehrbereiche für Psychosomatische Medizin. Fikentscher, Universität Halle, Venner, Universität Jena, und Geyer, Universität Leipzig, werden Mitglieder der »Ständigen Konferenz der Leitenden Fachvertreter für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an den Universitäten Deutschlands«, an der Geyer seit 1988 verschiedentlich (illegal) teilnehmen konnte. 25.–27. September: Letzte psychotherapeutische Veranstaltung der DDR ist das 3. Symposium der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie mit internationaler Beteiligung in Berlin unter Leitung von Helga Hess und Christoph Seidler in den Räumen der alten Volkskammer. Es war dem 70. Geburtstag Kurt Höcks gewidmet und stellte – auch durch die von Jürgen Ott verlesene Grußadresse von Annelise Heigl-Evers – einen Abschied sowohl von der DDR-Vergangenheit als auch von der Elterngeneration der Nachkriegszeit dar (s. a. } Abschnitt 5.10.4). Anerkennung von ca. 200 in der DDR ausgebildeten Gesprächspsychotherapeuten als »Klientenzentrierte Psychotherapeutin« bzw. »Klientenzentrierter Psychotherapeut« und von 17 Ausbildern als »Ausbilder bzw. Ausbilderin in Klientenzentrierter Psychotherapie/ Gesprächspsychotherapie in der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e. V. (GwG)«. 03. Oktober: Wiedervereinigung Deutschlands. Ein Anhang zum Bundesmantelvertrag – Ärzte regelt die Anwendung des Vertrages in den Bereichen der Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Bundesländer und Ostberlins und nimmt explizit Bezug auf die Rolle der 12er-Kommission von GPPMP und Berufsverband: »Bestehen [...] Zweifel an der Qualifizierung, können die Kassenärztlichen Vereinigungen im Vertragsgebiet Ost ein Sachverständigengremium zu Rate ziehen, das aus Vertretern des Berufsverbandes der Psychotherapeuten und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie besteht.« Fachärzte für Psychotherapie dürfen im Rahmen ­dieser Übergangsregelung in Psychodynamischer Einzeltherapie und Intendierter Dy­namischer Gruppenpsychotherapie als Methoden der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie behandeln. Ärzte mit nach im Vertragsgebiet Ost anerkannter Qualifizierung »Psychotherapie« dürfen in Psychodynamischer Einzeltherapie behandeln. Nichtärzt­liche Psychotherapeuten dürfen im Delegationsverfahren in Psychodyna­ mischer Einzeltherapie und Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie als Methoden der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie tätig werden, wenn sie als Diplom-Psychologen »Fachpsychologen in der Medizin« sind, entsprechende klinische Erfahrungen sowie 250 Stunden Gruppenselbsterfahrung und 50 Stunden Einzelselbsterfahrung besitzen. Damit ist erstmalig für Psychologen ein Weiterbildungsgang zum Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapeuten möglich. Analoge Regelungen für die Anerkennung verhaltenstherapeutischer Weiterbildungen folgen. (Im 1998 verabschiedeten Psychotherapeutengesetz wird dieser Schritt für ganz Deutschland nachvollzogen.)

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

05. Oktober: Außerordentliche Mitgliederversammlung der GPPMP in Leipzig: Der Satzungsvorschlag des Vorstandes, der die GPPMP als Dachverband korporativ angeschlossener, juristisch selbständiger Gesellschaften konzipiert, wird gebilligt (beinahe alle bisherigen Gliederungen haben ihr Interesse an einer korporativen Mitgliedschaft signalisiert bzw. haben sie bereits beantragt, erste Regionalgesellschaften und Weiterbildungskreise haben ebenfalls ihre korporative Mitgliedschaft erklärt), ebenso die inzwischen erfolgten berufspolitischen Aktivitäten. Die Bildung der 12er-Kommission wird nachträglich bestätigt. Information der Mitglieder über den Stand der Beziehungen zur AÄGP und zustimmende Diskussion der Frage eines Zusammenschlusses. 10. Oktober: Die 12er-Kommission (Vors. Seidler) nominiert ihre Mitglieder und beschließt ihre erste Stellungnahme zur Übergangsregelung an die KBV. 17. Oktober: Sitzung des Gemeinsamen Ausschusses von GPPMP und AÄGP in Köln. Einigkeit wird über folgendes Prozedere und folgende Bedingungen eines Zusammenschlusses beider Gesellschaften erzielt: Die vereinigte Gesellschaft soll »Deutsche Gesellschaft für Psychotherapie« heißen und drei Sektionen (Ärzte, Psychologen, Assoziierte Mitglieder) haben. Auf den nächsten Mitgliederversammlungen beider Gesellschaften soll dieses Konzept vorgelegt und darüber abgestimmt werden. Die AÄGP wird als erste Gesellschaft im Januar 1991 tagen. 22. Oktober: Die Leitung der Lindauer Psychotherapiewochen verteilt über den GPPMPVorstand Einladungen für 1991 sowie Programme und Broschüren an die GPPMP-Mitglieder. 26.–28. Oktober: Gemeinsames Symposium der erweiterten Vorstände von AÄGP und GPPMP in der Alten Börse in Leipzig unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit. Die Fachvorträge sind eher nebensächlich. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen Podiumsdiskussionen über die Rolle der Psychotherapeuten im Transformationsprozess. Auch der geplante Zusammenschluss der beiden Gesellschaften wird breit diskutiert. 03. November: Die »Gesellschaft für Psychologie der DDR« löst sich auf. Bis zum Jahresende existiert bis auf die GPPMP keine der vor 1989 bestehenden nationalen Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR mehr.

1991 19. Januar: Die Mitgliederversammlung der AÄGP diskutiert unter Anwesenheit von König und Geyer (GPPMP) den vom Vorstand vorgeschlagenen Zusammenschluss der beiden Gesellschaften. Es wird deutlich, dass die dann neu entstehende Gesellschaft eine große Chance darstellt, die berufspolitische Zersplitterung der deutschen Psychotherapielandschaft zu beenden, indem Berufsgruppen und Methoden unter einem Dach angesiedelt werden. Aufgrund des gerade ausgebrochenen ersten Irakkrieges und eines Streiks sind nur 50 Mitglieder nach Frankfurt gereist, die mehrheitlich keine Psychologen in der Gesellschaft dulden wollen. Die Abstimmung wird verschoben. Der Vorschlag findet auch später keine Resonanz in der AÄGP (} Abschnitt 6.3.2.2). 28. Januar: Die 12er-Kommission wird durch den Vorstand der GPPMP allen Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Bundesländer in den neuen Bundesländern annonciert,

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6.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit

wird überall aktiv und unterstützt die KVen in strittigen Fragen der Qualifikation von Ost-Psychotherapeuten. 16. Februar: Krisensitzung der 12er-Kommission wegen der unsicheren Zukunft des Facharztes für Psychotherapie und des Fachpsychologen in der Medizin, da beides in der BRD-Weiterbildungsordnung nicht existiert. Die von der Sitzung ausgehenden Initiativen (z. B. Anregung von Landesgesetzen für die östlichen Ärztekammern etc.) laufen bis auf die von Kirchner geleitete Landesärztekammer Brandenburg, die den Facharzt in die Weiterbildungsordnung aufnimmt, zunächst ins Leere. Allerdings werden sie Bestandteil der deutschlandweiten Bemühungen um die Schaffung eines Facharztes für Psychotherapeutische Medizin, der schon auf dem Deutschen Ärztetag 1992 verabschiedet wird (} Abschnitt 6.3.3.2). 10. Mai: Die Sektion Medizinische Psychologie der GPPMP löst sich auf ihrer Mitgliederversammlung anlässlich einer gemeinsamen Tagung mit der Gesellschaft für Medizinische Psychologie (GMP) auf. Die Mitglieder haben aus verschiedenen (wohl am ehesten bürokratischen) Gründen auf den Zusammenschluss beider Vereinigungen verzichtet. Die Mehrheit der Anwesenden strebt eine Einzelmitgliedschaft in der jetzt gesamtdeutschen GMP an. 29. Mai: Konferenz der Vorsitzenden aller Gliederungen der GPPMP. Folgende Gesellschaften und Arbeitsgruppen besitzen die kooperative Mitgliedschaft in der GPPMP: Mitteldeutsche Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie und Psychologie e. V., Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie i. G., Institut für Verhaltenstherapie Brandenburg e. V., Thüringer Gesellschaft für Psychotherapie e. V., Gesellschaft für Kommunikative Bewegungstherapie in der Psychotherapie i. G., Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost e. V., Sächsisch-Anhaltinische Gesellschaft für Psychotherapie und psychosoziale Arbeit i. G., Sächsischer Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. sowie weitere Vereinigungen nach Abstimmung in der Mitgliederversammlung. Folgende Sektionen bzw. Arbeitsgemeinschaften haben beschlossen, keinen eigenständigen juristischen Status anzustreben und »direkte Mitglieder« der GPPMP zu werden: Sektion Dynamische Einzeltherapie, Sektion Verhaltenstherapie, Sektion Kinderpsychotherapie. AG Kommunikative Bewegungstherapie in der Psychotherapie, AG Psychodrama, AG Konzentrative Entspannung. Auch jede Einzelperson kann unabhängig von ihrer Mitgliedschaft in einer der kooperativ angeschlossenen Gesellschaften eine Einzelmitgliedschaft in der GPPMP besitzen. 30. Juni: Auflösung der Akademie für Ärztliche Fortbildung (der DDR). Da die Weiter­ bildungsordnungen der Ärztekammern den Facharzt für Psychotherapie und den Fachpsychologen in der Medizin nicht enthalten, finden bis zur Einführung des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin keine weitere Facharztweiterbildungen im Gebiet Psychotherapie mehr statt; die Fachpsychologen-Weiterbildung ist für immer beendet. 06. Juli: In Halle wird die Deutsche Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie (DGAPT) gegründet. Sie bleibt bis 1996 die Dachgesellschaft der ostdeutschen Analytiker (} Abschnitt 6.5.2.1).

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Juli: Geyer ist inzwischen offizielles Mitglied des PPP-Ausschusses der Bundesärztekammer. Dezember: Die GPPMP sieht sich bezüglich ihrer neuen Rolle erfolgreich und beginnt, sich gesamtdeutsch zu etablieren. Auszug aus dem Rundbrief des GPPMP-Vorsitzenden an die Mitglieder: »[...] inzwischen steht fest, dass unsere Gesellschaft in der nächsten Zeit keine Fusion mit einer westdeutschen Gesellschaft eingehen wird. Die Bemühungen eines Zusammenschlusses mit der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie scheiterten an der Mitgliedschaft von Psychologen. Gleichzeitig wurde in den letzten Monaten immer deutlicher, dass unsere Gesellschaft zumindest zur Wahrung des sozialen Besitzstandes ihrer Mitglieder gebraucht wird. In der Tat müsste sie gegründet werden, falls sie noch nicht existieren würde. [...] hier sind jedoch weiterhin immense berufspolitische Anstrengungen nötig, um den Übergang in ›endgültige‹ Regelungen über 1993 hinaus zu erreichen. Wir sehen es auch als Verpflichtung der GPPMP, weiterhin die Interessen der großen Zahl psychotherapeutisch engagierter Kollegen zu vertreten, deren Arbeit außerhalb der kassenärztlichen Versorgung geleistet wird (z. B. mit den in stationärer Psychotherapie üblichen Verfahren sowie auch GT, Musiktherapie u. a.) [...] Erfreulicherweise zieht die Idee einer methoden- und berufsübergreifenden wissenschaftlichen Gesellschaft auch Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern an, so dass unsere Gesellschaft auf dem besten Wege zu einer ›gesamtdeutschen‹ Gesellschaft ist«.

1992 04.–05. September: An der Universität Leipzig findet der 13. Jahreskongress der GPPMP mit 300 Teilnehmern statt, Thema: Psychotherapie zwischen Wissenschaft und Bürokratie; Themen der beiden Plenarsitzungen des ersten Tages: Gesellschaftlicher Umbruch und Psychotherapie, Psychosomatische Grundversorgung. Daneben finden zahlreiche Symposien, Arbeitskreise und Workshops statt, die oft paritätisch von Ost- und Westkollegen geleitet werden. 05. September: Mitgliederversammlung der GPPMP mit Neuwahl des Vorstandes. Im Mittelpunkt der Aussprache steht das Verhältnis zwischen den (inzwischen) zwei Berufsverbänden der Ost-Psychotherapeuten und der GPPMP, das verbessert werden soll, sowie die Notwendigkeit der Aufarbeitung der Vergangenheit der Mitglieder, insbesondere eventuelle IM-Tätigkeiten bzw. Verrat von Patienten und Kollegen. Es wird beschlossen, nach dem Vorbild der Universitäten und des öffentlichen Dienstes Ehrenerklärungen zumindest der Vorstände der GPPMP und ihrer korporativen Mitglieder einzuholen. (Dies geschieht wenig später für den neugewählten Vorstand der GPPMP.) Folgende Willenserklärung, die an alle Mitglieder verschickt werden soll, soll das Verhältnis zu den IM klären: »Psychotherapeutisch Tätige, die berufsethische Grundwerte missachtet haben, indem sie bewusst Patienten an den Staatssicherheitsdienst verraten haben, sind meiner Ansicht nach ungeeignet, psychotherapeutisch zu arbeiten! (Stempel und Unterschrift).« Es wird die Gründung einer AG Aufarbeitung der Geschichte der GPPMP (Leiter: Lobeck, Dresden, Drees, Magdeburg) beschlossen. Die Tagungen der Gesellschaft sollen jährlich mit der neugegründeten Weimarer Psychotherapiewoche (Geyer,

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6.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit

Hennig, König) verbunden werden. Die Mitglieder wählen folgenden neuen Vorstand: 1. Vorsitzender: Michael Geyer, 2. Vorsitzende: Margit Venner, 3. Vorsitzende: Erdmuthe Fikentscher, Schatzmeister: Steffen Dauer, Sekretär: Frank Bartuschka, weitere Mitglieder: Alfred Roeber, Werner König. Werner Stucke, Helmut Thomä, Hanscarl Leuner und Jerzy Alexandrowicz (polnisch-jüdischer Psychosomatiker an der Universität Krakau, der viele Jahre mit der GPPMP verbunden ist) werden zu Ehrenmitgliedern gewählt. Maaz und Geyer bekommen für ihre Verdienste für die Entwicklung der Psychotherapie die John-Rittmeister-Medaille verliehen. Dezember: Die GPPMP hat am Jahresende ca. 300 Einzelmitglieder und zusätzlich ca. 2000 Mitglieder über die zwölf korporativ angeschlossenen, juristisch eigenständigen Gesellschaften und Verbände. Allerdings gibt es nur etwa 40 Einzelmitglieder aus den westlichen Bundesländern.

1993 13.–18. September: Die erste »Weimarer Psychotherapiewoche« findet nach dem Vorbild der westlichen Psychotherapiewochen Lindau und Langeoog mit 300 Teilnehmern statt (s. den Beitrag von Geyer et al. } Abschnitt 6.4.2). 11. September: Die Sächsisch-Anhaltinische Gesellschaft für Psychotherapie und psycho­ soziale Arbeit e. V. löst sich auf bzw. geht im neugegründeten Mitteldeutschen Institut für Psychoanalyse Halle e. V. (Fikentscher, Maaz, Hennig) auf.

1994 31. Mai: Aus dem Rundbrief der GPPMP: »Die Situation der GPPMP als einer Dachgesellschaft psychotherapeutischer Verbände, aber auch als Heimstatt aller Kolleginnen und Kollegen, die sich jenseits berufsständischer und methodischer Unterscheidungen als auf wissenschaftlicher Grundlage arbeitende Psychotherapeuten verstehen, stellt sich derzeitig folgendermaßen dar: Sie hat 16 Gesellschaften und Arbeitsgemeinschaften als korporative Mitglieder und ca. 300 Einzelmitglieder. Insgesamt sind zur Zeit ca. 2700 Personen über die eine oder andere Mitgliedschaft mit der GPPMP verbunden. Die GPPMP hat sich im letzten Jahr für alle methodenübergreifenden Zielstellungen ihrer Mitglieder mit beträchtlichem Erfolg eingesetzt: für das schon erwähnte Psychologische Psychotherapeutengesetz, für alle Belange der Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, für die neuen Richtlinien im Zusammenhang mit der Zusatzbezeichnung ›Psychotherapie‹, für die Neugestaltung des Medizinstudiums im Sinne der Verbesserung medizinpsychologischer und psychotherapeutischer Ausbildung und vieles andere. [...] zum Psychotherapeutengesetz: Eine eigene Arbeitsgruppe des Vorstandes (Hennig, Roeber, Rosendahl, Barchmann, Böttcher, Gunkel) hat intensiv Einfluß auf die Gestaltung der jetzt vorliegenden Gesetzesfassung genommen. Insbesondere der berufsrechtliche Teil (Stichwort: Arzt-Patient-Kooperation statt Delegation) trägt unsere Handschrift. Leider ist es bis zuletzt nicht gelungen, den sozialrechtlichen Teil – insbesondere die geplante Zuzahlungsregelung – im Sinne unserer Patienten und des Faches zu gestalten [Die bereits im Bundes-

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tag verabschiedete gesetzliche Zuzahlungsregelung wurde durch die politische Neuausrichtung der späteren Regierung zu Fall gebracht; Anmerkung M. G.]. Für viele Mitglieder unserer Gesellschaft könnte die im Gesetz vorgesehene Übergangsregelung zur Erteilung der Approbation als Psychologischer Psychotherapeut oder Kinder-Jugendlichen-Therapeut von Bedeutung sein, daher werden die wesentlichen Punkte der Übergangsvorschrift in der neuesten Fassung (April 1994) diesem Schreiben beigelegt (s. Anlage) [...] Nächster GPPMP-Kongreß 1995: Die GPPMP wird wiederum einen gemeinsamen Kongreß mit der AÄGP (Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie) ausrichten. Der Kongreß wird vom 19.05.–21.05.1995 in Nürnberg stattfinden. Das Rahmenthema lautet: ›Krankenbehandlung durch Psychotherapie-Indikation, Fragen der Qualitätssicherung, Abgrenzung‹ [...]. Diesem Rundbrief sind folgende Veranstaltungspläne bzw. Tagungsankündigungen beigefügt: Veranstaltungsplan 1994 der Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie der GPPMP, Informationen der Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie der GPPMP, Mitteilung der Brandenburgischen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V., Veranstaltungsplan der Mitteldeutschen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und Imaginative Verfahren in der Psychotherapie und Psychologie e. V., Vorprogramm der Weimarer Psychotherapiewoche, Vorinformation über einen gemeinsamen internationalen Kongreß unserer Gesellschaft und der MartinLuther-Universität Halle, Vorprogramm des 2. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für psychotherapeutische Medizin e. V. (DGPM). Einem Teil des Rundbriefes ist ein Programm des 4. deutschsprachigen europäischen Kon­gresses für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik in Kassel vom 25.–28.08.1994 beigefügt. Weitere Kongressankündigungen: Die International Federation of Psychotherapy, der die GPPMP als Mitglied angehört, führt ihren 16. Kongreß in Südkorea durch: 21.08.–25.08.1994, Seoul/Korea, »East and West« (Integration of Psychotherapy) [...]«. Es wird mit diesem Rundbrief deutlich, dass die Psychotherapeuten im vereinigten Deutschland angekommen sind. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kann nicht mehr von ostdeutscher oder DDR-Entwicklung, sondern nur noch von der Entwicklung der deutschen Psychotherapie gesprochen werden. Das weitere Schicksal der GPPMP: 1995 wird der Jahreskongress gemeinsam mit der AÄGP mit relativ geringer Beteiligung ostdeutscher Psychotherapeuten durchgeführt. Angesichts des reichhaltigen Angebotes an wissenschaftlichen Veranstaltungen in Deutschland konzentriert sich die GPPMP die nächsten Jahre nur noch auf berufs- und fachpolitische Aufgaben. Nach Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes werden die berufspolitischen Aktivitäten stark reduziert. Im Jahre 2000 hat die Gesellschaft noch folgende dreizehn korporative Mitglieder (Vorsitzende in Klammern): 1. Brandenburgische Gesellschaft für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. (Dr. med. habil. Dieter Seefeldt, Potsdam, Heinrich-Heine-Klinik, Am Stinthorn 42) 2. Sächsischer Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. (Prof. Dr. med. Michael Geyer, Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 25, 04107 Leipzig)

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6.2  Ostdeutsche Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit

3. Thüringer Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V. (Dr. med. Margit Venner, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Abteilung Internistische Psychotherapie, Erlanger Allee 101, 07740 Jena) 4. Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie e. V. (MR Dr. med. H. Benkenstein) 5. Deutsche Gesellschaft für Analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie e. V. (Dr. med. H.-J. Maaz, Psychotherapeutische Abteilung des Evangelischen Diakoniewerkes Halle, Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik, Lafontainestraße 17) 6. Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost e. V. (Dr. phil. W. von Grüner, Dipl.Musikwissenschaftler c/o. Rudolf-Breitscheid-Straße 37, 16278 Angermünde) 7. Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse Ost e. V. (Dr. med. Heinz Gall, Falladastraße 7, 17489 Greifswald) 8. Mitteldeutsche Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie und Psychologie e. V. (MGKB) (Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Heinz Hennig, Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie der Med. Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Julius-Kühn-Straße 7, 06112 Halle) 9. Verband für Integrative Verhaltenstherapie e. V. (Dr. rer. nat. habil. H. Barchmann, Kastanienallee 80, 15907 Lübben) 10. AG Kommunikative Bewegungstherapie in der Psychotherapie (Dr. phil. Anita WildaKiesel, Pater-Kolbe-Straße 17, 04416 Markkleeberg) 11. AG Psychodrama (Dr. med. Gottfried Lobeck c/o. Gerhart-Hauptmann-Straße 9, 01465 Langebrück) 12. AG Konzentrative Entspannung (Brigitte Böttcher c/o. Bruno-Philipp-Straße 11, 01728 Hänichen/b. Dresden) 13. Sektion Gesprächspsychotherapie der GPPMP e. V. (Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernd Thomas, Am Tulpenbrunnen 3, 06122 Halle) Eine korporative Mitgliedsgesellschaft hatte sich bereits aufgelöst (Weiterbildungskreis Sachsen-Anhalt). Einige Mitglieder hatten sich verselbständigt und waren ausgetreten (z. B. die neu gegründeten analytischen Institute, die sich in Richtung DGPT orientierten und die Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie Ost) bzw. traten 2001 noch aus (Verband für Integrative Verhaltenstherapie e. V.). Die Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapeuten fanden 2000 ihre Heimstatt in der DAGG. Die anderen Gesellschaften und Arbeitsgemeinschaften wurden nach Einstellung der Aktivitäten der GPPM als selbständige Vereinigung weitergeführt und/oder fusionierten später mit gesamtdeutschen Vereinigungen.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

6.3

Deutsch-deutsche Integration in der Psychotherapie

6.3.1 Michael Geyer: Was war das Besondere an der GPPMP? – Zur Attraktivität einer ehemaligen DDR-Fachgesellschaft nach der Wende Was war das Besondere an der GPPMP, muss man sich fragen, wenn man den weiteren Weg dieser psychotherapeutischen Fachgesellschaft nach der friedlichen Revolution in der DDR verfolgt, wie er in der ostdeutschen Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit gezeichnet wird. Die Tatsache, dass die psychotherapeutische Fachgesellschaft als einzige überregionale Medizinisch-Wissenschaftliche Gesellschaft die Wende nicht nur überlebte, sondern ihren fach- und berufspolitischen Einfluss, gemessen an der Anzahl der angeschlossenen Verbände und des Mitgliederbestandes, bis 1995 noch steigerte, hat gesellschaftspolitische wie auch berufs- und fachpolitische Ursachen. An dieser Stelle sind also diejenigen Seiten der Gesellschaft zu betrachten, die ihre Attraktivität für eine nach der Wende veränderungsbereite, aber auch verunsicherte Mitgliedschaft ausmachten. Politisch hatte sich die Gesellschaft von jeher in der Nischengesellschaft DDR einen Platz eingerichtet, die eher der Loge eines Theaters glich, von dem das gesellschaftliche Leben auf der Bühne und im Zuschauerraum DDR einerseits gut zu beobachten war, andererseits es auch Möglichkeiten gab, einmal einzugreifen in das Geschehen oder auch vom Publikum gesehen zu werden, wenn man sich auffällig genug verhielt. Bis auf den 1. Vorsitzenden in den 1960er Jahren – Dietfried Müller-Hegemann – gab es unter den tonangebenden Vorstandsmitgliedern niemanden, der eine Parteikarriere anstrebte oder politische Meriten für eine Karriere in der Medizin erwerben musste. Seit 1971 waren alle Vorsitzenden (Harro Wendt, Kurt Höck, Alfred Katzenstein, Michael Geyer) ärztliche oder Psychologische Psychotherapeuten, die – wie im Fall von Wendt, Höck und Katzenstein – am Endpunkt ihres beruflichen Weges angekommen waren oder – wie in meinem Fall – »kaderpolitisch« keine Chance hatten, weiter aufzusteigen. Seit ich Mitglied des Vorstandes war (1976), habe ich auch von den der SED angehörenden Vorstandsmitgliedern weder ideologische Engstirnigkeit noch irgendeine Form politischer Militanz oder gar Verrat oder Illoyalität erlebt. Mitunter gab es natürlich mehr oder weniger peinliche Anpassungsbemühungen an die »Partei­ linie«. Bezeichnend für das Klima in diesem Vorstand waren die Versuche von Alfred Katzenstein (jener unter den Vorsitzenden, der sich am meisten um die ideologischen Grundlagen unseres Treibens sorgte), die inzwischen in der Gesellschaft beheimateten »westlichen« Psychotherapiemethoden (Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie, Psychodynamische Therapieformen) durch Einbindung des hauptamtlichen Philosophen und Medizinhistorikers Achim Thom von der Universität Leipzig in den Vorstand ideologisch kompatibel zu machen. Achim Thom war nicht nur philosophisch fundiert, sondern auch menschlich absolut integer, also ein Glücksfall für diese Aufgabe. Es ging zu keinem Zeitpunkt darum, diese Verfahren als »westlich« zu diskreditieren, wie es mit der Psychoanalyse Anfang der

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6.3  Deutsch-deutsche Integration in der Psychotherapie

1950er Jahre passiert war, sondern nach außen hin zu zeigen: Wenn man diese Verfahren im Hinblick auf die zugrundeliegenden Menschenbilder und Veränderungstheorien betrachtet, erweisen sie sich auch unter Berücksichtigung des marxistischen Menschenbildes als geeignet. Diesem Umgang miteinander entsprach auch in der Breite der Mitgliedschaft ein Klima der Toleranz und des Respektes gegenüber Andersdenkenden, des Vertrauens und kollegialen Miteinanders. Auch der Kirche nahestehende Gruppen und die nichtakademischen Berufsgruppen der Physio-, Bewegungs- und Gestaltungstherapeuten konnten sich akzeptiert und in der Gesellschaft zu Hause fühlen, auch wenn es immer wieder engstirnige Funktionäre gab, die einzelnen Mitgliedern das Leben schwer machten. (Dass diese Darstellung bei einzelnen Mitgliedern Widerspruch auslöst, deren Aktivitäten nicht im erhofften Maße unterstützt werden konnten oder die Opfer von Willkür einzelner Funktionäre der Gesellschaft oder jener Machtspiele wurden, die zweifellos in allen Vorständen solcher Gesellschaften in aller Welt ablaufen, ist verständlich, kann aber nicht die Besonderheit dieser Gesellschaft in Frage stellen.) Diese Gesellschaft war also nach meinem Empfinden – cum grano salis – immer etwas demokratischer und liberaler als das, was sonst in der DDR ablief. Trotzdem bedarf es weiterer Momente, um zu erklären, warum die GPPMP nicht einfach wie die anderen DDRGesellschaften 1990 sang- und klanglos einging. Damit sind wir bei den wesentlichen berufs- und fachpolitischen Ursachen für die Attraktivität der Gesellschaft: Sie war sowohl methoden- als auch theorie- und berufsübergreifend und bot damit eine breitere, solidere Basis für ihre Mitglieder. Als methodenübergreifende Gesellschaft hatte sie ihren Mitgliedern ermöglicht, innerhalb der Sektionen, also relativ eigenständiger Tochtergesellschaften, ihre Verfahren weiterzuentwickeln und zu lehren, ohne den Bezug zu den Vertretern anderer Methoden und zur gemeinsamen wissenschaftlichen Basis zu verlieren. Von Anfang an versammelten sich in dieser Gesellschaft »berufsübergreifend« neben Ärzten und Psychologen auch sog. mittlere medizinische Berufe. Insofern war der Name »Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie« weder sachlich zutreffend noch integrationsfreundlich. Seit dem Ende der 1970er Jahre hatte der Vorstand immer wieder vergeblich versucht, das Beiwort »ärztlich« aus dem Namen zu tilgen, da zu diesem Zeitpunkt die Berufsgruppe der Psychologen bereits 50 % der Mitgliedschaft ausmachte, zwischen 1976 und 1982 ein Psychologe – Alfred Katzenstein – auch Vorsitzender der Gesellschaft war und es durch die Existenz eines dem Facharzt für Psychotherapie gleichgestellten »Fachpsychologen in der Medizin« (spätestens seit 1980/81 also) keinen sachlichen Grund mehr gab, den ärztlichen Aspekt in der Gesellschaft dominieren zu lassen. Die Vorstände der Gesellschaften für Psychologie einerseits und Neurologie und Psychiatrie andererseits hatten allerdings ihren politischen Einfluss immer wieder erfolgreich genutzt, die Entstehung eines mit dem Namen der Gesellschaft identischen neuen Fachgebietes, dem Ärzte wie Psychologen zuzuordnen waren, zu verhindern. Die einen wollten die Ärzte, die anderen die Psychologen jeweils eigenen fachpolitischen Zielen unterordnen. Der Namenswechsel von Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie zu Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie, der auf der Mitgliederversammlung am Rande des 12. Jahreskongress der GÄP im Januar 1989 mit großer Mehrheit der Anwesenden beschlossen wurde, war also

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

ein brisanter Vorgang, da er ohne Genehmigung der Dachgesellschaft für Klinische Medizin, d. h. der Parteileitung des Ministeriums, realisiert wurde. Mit dieser Auflehnung gegen eine Bevormundung von oben hatte die Gesellschaft gerade noch rechtzeitig vor der Wende den fortgeschrittenen Integrationsprozess nichtärztlicher Berufsgruppen, insbesondere der Psychologen, auch äußerlich dokumentiert. (Es wird auch heute kaum registriert, dass dieser Akt insofern ein »gesamtdeutscher« Schritt war, als er bereits zu dieser Zeit im Vorgriff auf das Psychotherapeutengesetz 1998 den neuen medizinischen Heilberuf des Psychotherapeuten – bestehend aus einem ärztlichen, einem psychologischen und einem [pädagogischen] Kinderpsychotherapeuten – innerhalb einer solchen Fachgesellschaft nicht nur möglich machte, sondern auch eine realistische Vorstellung von dessen Machbarkeit anbot.) Wer meint, das Bild, das ich in diesem Artikel bisher von der Fachgesellschaft gemalt habe, sei angesichts der sonstigen DDR-Umstände etwas kitschig geraten, dem muss ich – abgesehen davon, dass möglicherweise doch einige nostalgische Gefühle im Spiele sind – entgegenhalten, dass die weiteren Ereignisse nicht recht zu erklären sind, berücksichtigt man nicht diese attraktiven Aspekte der Gesellschaft. In einer Zeit, wo massenhaft Leitungsgremien in Betrieben, öffentlichen Institutionen und Vereinen im Rahmen der an den runden Tischen beschlossenen Vertrauensabstimmungen gestürzt werden, wo alles, was DDR-typisch ist, in Zweifel gezogen wird und bis auf die GPPMP alle Medizinisch-Wissenschaftlichen DDR-Gesellschaften einfach verschwinden, sprechen sich die Mitglieder trotzdem für eine Weiterarbeit des Vorstandes in einer nunmehr eher föderalen Struktur der Gesellschaft aus. Wie in der ostdeutschen Psychotherapiechronik der Wende- und Nachwendezeit und in den folgenden Beiträgen über den Integrationsprozess der ostdeutschen Psychotherapeuten in das vereinigte Deutschland beschrieben wird, bildet die GPPMP mit dem aus ihr entstandenen Berufsverband ostdeutscher Psychotherapeuten eine Plattform, die die anstehenden berufs- und fachpolitischen Probleme des Annäherungs- und Integrationsprozesses im Interesse ihrer Mitgliedschaft löst. Schon im Herbst 1990 regelt ein Anhang zum Bundesmantelvertrag – Ärzte die Anwendung des Vertrages in den Bereichen der Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Bundesländer und Ostberlins und nimmt explizit Bezug auf die Rolle der 12er-Kommission von GPPMP und Berufsverband: »Bestehen [...] Zweifel an der Qualifizierung, können die Kassenärztlichen Vereinigungen im Vertragsgebiet Ost ein Sachverständigengremium zu Rate ziehen, das aus Vertretern des Berufsverbandes der Psychotherapeuten und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie besteht«. Im Dezember 1991 stehen im Rundbrief des Vorstandes an die Mitglieder zum Jahreswechsel 1992 folgende Sätze: »Gleichzeitig wurde in den letzten Monaten immer deutlicher, dass die GPPMP zur Wahrung des sozialen Besitzstandes ihrer Mitglieder gebraucht wird. In der Tat müsste sie gegründet werden, falls sie noch nicht existieren würde«. In den folgenden Jahren bietet die GPPMP den Methodensektionen und Arbeitsgemeinschaften eine Basis für Verhandlungen mit ihren Partnergesellschaften in den alten Bundesländern, so dass harmonische und würdevolle Vereinigungsprozesse bzw. Fusionen der jeweiligen Partnervereinigungen zustande kamen. Auch das Psychotherapeutengesetz von 1998 trägt noch die Handschrift der GPPMP. Das Gesetz überträgt die 1990 ausgehandelte Möglichkeit der Ausbildung Psychologischer Psychothera-

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6.3  Deutsch-deutsche Integration in der Psychotherapie

peuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten im Verfahren der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie auf ganz Deutschland. (Bis 1998 gab es in den alten Bundesländern für Psychologen lediglich die Möglichkeit der Ausbildung in analytischer Psychotherapie und Verhaltenstherapie.) Aus der heutigen Sicht hat die Gesellschaft wohl einen guten Beitrag zur Wiedervereinigung unseres Landes geleistet.

6.3.2 Psychotherapie Ost – Psychotherapie West – Eine Vereinigung auf Raten 6.3.2.1 Vorbemerkung des Herausgebers: Es wächst zusammen – ... oder auch nicht ... Wer gedacht hat, mit der Vereinigung Deutschlands erledigten sich alle psychotherapeutischen Institutionen im Osten von selbst, berücksichtigt weder die nach 45 Jahren der Teilung entstandenen charakterlichen Unterschiede der Menschen in beiden Deutschlands (Geyer 1991b, 1995) noch die starke Identifikation ostdeutscher Psychotherapeuten mit ihren in der DDR gewonnenen Vorstellungen und Modellen von Psychotherapie, die sich zum Teil deutlich von denen unterschieden, die nach dem Beitritt Ostdeutschlands in die sog. neuen ­Bundesländer kamen. Insofern verwundert es nicht, dass die Vereinigung der ostdeutschen mit ihren jeweiligen westdeutschen Partnergesellschaften in vielen Fällen zunächst scheitert. Die folgenden drei Beiträge – der eine über die misslungene Vereinigung der ostdeutschen GPPMP mit der westdeutschen AÄGP, die anderen über die gelingenden Fusionen der Ba­lint-Gesellschaften und der gynäkologischen Psychosomatik-Gesellschaften – demonstrieren das Wesen dieser Vorgänge direkt nach der Wende. Ähnlich wie es in diesen Beispielen gezeigt wird, ging die Vereinigung der »Methoden-Gesellschaften« (Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie, Analytische Psychotherapie, KB u. a.) in Abhängigkeit von der Bereitschaft der westlichen Seite, östlichen Forderungen entgegenzukommen, denen zunächst mit Verwunderung oder Unverständnis begegnet wurde, sehr unterschiedlich vonstatten. Während sich die Gesprächspsychotherapeuten und KB-Therapeuten relativ rasch einigten, dauerte die Integration der Analytischen Psychotherapeuten oder der Analytischen Gruppenpsychotherapeuten bis zur Jahrtausendwende und darüber hinaus (s. die Beiträge von Geyer zur Annäherung an die DGPT } Abschnitte 5.10.1. und 6.5.1.1). Während die ostdeutschen Medizinpsychologen keine Probleme sahen, kurz nach der Vereinigung Deutschlands in die GMP einzutreten und die alte Sektion Medizinische Psychologie der GPPMP hinter sich zu lassen, brauchten die Psychosomatiker in der AG Gynäkologie und Geburtshilfe mehr als zehn Jahre, bis sie »auf Augenhöhe« mit der Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie fusionieren konnten. In all diesen Fällen gelingender Gemeinsamkeit wurden wesentliche Positionen der ostdeutschen Psychotherapeuten berücksichtigt, sei es die Beteiligung der Psychologen an vorher »rein ärztlichen« Gesellschaften oder die Anerkennung von »DDREntwicklungen« wie die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie als akzeptable Spielart oder methodische Variante der Gruppenanalyse.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

6.3.2.2 Werner König: Der gescheiterte Versuch der Zusammenführung von GPPMP und AÄGP Diese Geschichte hat ihren Anfang im Mai 1990 auf Langeoog. Am Rande der von Werner Stucke geleiteten Fortbildungswoche wird durch die AÄGP, vertreten durch Werner Stucke (Hannover), Rita Kielhorn (Westberlin), Hans-Henning-Studt (Westberlin), und die GPPMP, vertreten durch Michael Geyer (Leipzig), ein gemeinsamer Ausschuss beider Gesellschaften gegründet. Ihm sollen von der AÄGP noch Reinhardt Hirsch (München); von der GPPMP Christoph Seidler (Ostberlin) und Werner König (Ostberlin) angehören. Dieser Ausschuss sollte sich mit den notwendigen Zusammenarbeiten der Gesellschaften befassen, wobei die Weiterbildung und die Aktivitäten zur Schaffung eines gesamtdeutschen Facharztes für Psychotherapie im Vordergrund standen. Bei diesen Gesprächen kam zum ersten Mal die Idee einer Fusion beider Gesellschaften ins Gespräch. Die Fortsetzung findet im Oktober 1990 in Leipzig bei einem gemeinsame Symposium der GPPMP und der AÄGP statt, bei dem ein gegenseitiger Austausch über die Situation in der Psychotherapie in beiden Teilen Deutschlands und die Arbeit der beiden Gesellschaften im Mittelpunkt steht. Es ist gut besucht und wird als gelungen und sehr informativ erlebt. Hier gingen auch wichtige Gespräche zwischen den Vertretern der beiden Gesellschaften weiter und bald danach wird im Mitgliederrundschreiben IV/1990 der AÄGP zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 19. Januar 1991 nach Frankfurt/Main eingeladen. Tagesordnung: »Vereinigung der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP) und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP); Beratung und Beschlussfassung über Satzungsänderungen, die sich aus dem vorigen Tagesordnungspunkt ergeben.« Begleitend schreibt der 1. Vorsitzende Werner Stucke u. a.: »Die persönlichen Kontakte zur Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie, die bereits seit Jahren, das heißt auch schon vor der Wende bestanden, haben nunmehr zu weiteren Begegnungen geführt, wozu das Treffen in Leipzig sicherlich ein Meilenstein war. Nun steht die Frage der Vereinigung beider Gesellschaften an, die in ihrer Zielsetzung weitgehend ähnlich sind. Entsprechend ist die bisherige Zusammenarbeit der Vorstände von großem Vertrauen getragen. Eigentlich gibt es nur ein Hindernis, das einer spontanen Zusammenführung entgegensteht. Unsere Kolleginnen und Kollegen in der ehemaligen DDR haben in ihrer Gesellschaft auch Psychologen aufgenommen, die psychotherapeutisch weitergebildet und tätig sind. Die Zusammenarbeit dieser beiden Berufsgruppen in der Gesellschaft war offensichtlich gut und vertrauensvoll. Unser Vorstand kann nachvollziehen, dass man bei einer Vereinigung sich von diesen erfahrenen Psychologen nicht trennen will, das heißt einen derartigen Vertrauensbruch nicht nachvollziehen kann.« Schon diese Einladung ruft im Vorfeld der Mitgliederversammlung eine Reihe doch recht unterschiedlicher schriftlicher Stellungnahmen hervor. Dazu einige Beispiele: »Mit Entsetzen habe ich im Rundschreiben IV/90 gelesen, dass Sie die Auflösung der AÄGP vorbereiten wollen. Die einzige ärztliche Fachgesellschaft in Deutschland, die 65 Jahre alt geworden ist.« »Ihre Ausführungen über die Aufnahme von Dipl.-Psychologen in unsere

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6.3  Deutsch-deutsche Integration in der Psychotherapie

Gesellschaft finde ich sehr vernünftig und damit wäre endlich die beiderseitige Aggression zu kanalisieren und vielleicht auch eine bessere Verständigung unserer beider Gruppen in der früheren BRD möglich.« »Ich beantrage die Nichtbefassung [...] auf der außerordentlichen Mitgliederversammlung. Es handelt sich bei der Beschlussempfehlung nicht um eine Satzungsänderung, sondern eine Zweckänderung des Vereines [...]. Zur Änderung des Zweckes des Vereines ist die Zustimmung aller Mitglieder erforderlich. [...] die Zustimmung der nicht erschienenen Mitglieder ist schriftlich einzuholen.« Dieser Antrag verläuft dann zwar im Sande, kostet aber, wie wohl auch beabsichtigt, in der Versammlung viel Zeit und sorgt für einen schwunglosen Beginn. Es gibt aber auch andere Töne: »[...] mit großer Befriedigung habe ich dem Mitgliederundschreiben entnommen, dass die Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der ehemaligen DDR sich mit der AÄGP vereinigen wird. Ich begrüße es dabei ausdrücklich, dass auch psychotherapeutisch ausgebildete Psychologen Mitglied unserer AÄGP werden können.« Durch den kurz vorher begonnenen Golfkrieg herrschte in diesen Tagen eine politische Verunsicherung, auf die der Vorstand der AÄGP die schlechte Beteiligung von nur 50 Mitgliedern zurückführte und unter diesen Umständen auf eine Beschlussfassung verzichten wollte. Die Versammlung wird von Stucke eröffnet, der Werner König als Vertreter der GPPMP begrüßt und sich die Zustimmung zu dessen Teilnahme einholte. Michael Geyer, der die GPPMP an erster Stelle vertreten sollte, war durch eine Autopanne verspätet und traf erst gegen Ende der Sitzung ein. Vor Eintritt in inhaltliche Diskussionen kommt es, initiiert durch obigen Antrag, zu einem Vorgeplänkel über Geschäfts- und Tagesordnung, bei dem sich nicht nur die Fronten bereits positionieren, sondern auch die Stimmung stellenweise gereizt wird. Die vom Vorstand bereits beabsichtigte Absetzung der Entscheidung über eine Satzungsänderung wird per Abstimmung bestätigt, aber nicht ohne Gegenstimmen mit zugehörigen Voten wie: »[...] das kann doch gar nicht wahr sein, [...] dass eine Vollversammlung, die ordentlich einberufen ist, sich selber impotent macht [...] wegen des Beschlusses komme ich extra her und dann wird gesagt, nein, ätsch, war alles umsonst [...]«. Danach glättet Stucke in der von ihm gewohnten Ruhe und Abgeklärtheit die Wogen wieder und leitet zum eigentlichen Thema über. Er stellt die Vorgeschichte der Idee eines Zusammenschlusses dar, die früheren Kontakte, das Symposium in Leipzig und einen Beschluss der GPPMP, sich um einen Zusammenschluss mit der AÄGP zu bemühen. Aus seiner Sicht war die bisherige Zusammenarbeit der beiden Vorstände durchweg fruchtbar und vertrauensvoll. In den Gesprächen mit der GPPMP habe sich aber gezeigt, dass die Gesellschaft nicht bereit ist, die psychologischen Mitglieder aus einem solchen Zusammenschluss auszuschließen. Der Vorstand der AÄGP habe einen Satzungsentwurf vorbereitet, der einen sofortigen Zusammenschluss einschließlich der Übernahme der Psychologen ermöglichen könnte. Danach wäre zu entscheiden, nach welchen Kriterien Psychologen in die gemeinsame Gesellschaft neu aufgenommen werden könnten. Vom Vorstand seien aber keine Vorabsprachen getroffen worden. Alle Entscheidungen sind von der Mitgliederversammlung zu treffen. Stucke verweist darauf, dass das Thema der Aufnahme von Psychologen die Gesellschaft schon lange beschäftige.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Er habe immer dafür gestanden, das Thema in Ruhe und Gründlichkeit zu beraten. »Nun kommt aber der Druck von außen und damit die Notwendigkeit der Meinungs­bildung.« Stucke verweist noch auf verschiedene nationale und internationale Gesellschaften, die gute Erfahrungen mit der Mitgliedschaft von Psychologen haben oder die Aufnahme beabsichtigen. Obwohl Stucke eine gewisse notwenige Neutralität in seiner Rolle als Vorsitzender zu wahren versucht, ist doch unverkennbar, dass er für den Zusammenschluss wirbt. Seine ProHaltung wurde wenig später dadurch belegt, dass die ebenfalls unter seiner Leitung stehende Deutsche Balint-Gesellschaft mit der Ost-Gesellschaft fusionierte und dabei Psychologen aufnahm. Dort gab es ähnliche Vorbehalte, aber die Atmosphäre war von vornherein kooperativer und Stuckes Position unangefochtener. Nach dieser Einleitung von Stucke wird König als Vertreter der GPPMP aufgefordert, seine Gesellschaft kurz vorzustellen. Die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie sei 1960 gegründet worden »und verstand sich in der Tradition der ärztlichen Gesellschaft der 1920er Jahre, die von Ernst Kretschmer kurz nach dem Krieg wieder ins Leben gerufen worden war«. Es wurde auch ein ähnlich klingender Name gewählt. Psychologen wurde der Zugang gewährt, was aber zu Beginn quantitativ keine Rolle gespielt habe. Die Gesellschaft hatte vor der Wende einen Mitgliederstand von 1700 erreicht, der sich aber danach durch Austritte korporativer Gesellschaften und einzelner Mitglieder bereits deutlich reduziert habe. »Es sind jetzt ziemlich genau 730 Ärzte und 730 Psychologen sowie 100 Mitglieder anderer Berufsgruppen.« Die Gesellschaft habe zur Beratung ihrer Zukunft zwei Mitgliederversammlungen durchgeführt. Eine Selbstauflösung sei nicht gewünscht worden. Der Vorstand wurde in seiner Arbeit bestätigt und bevollmächtigt, mit der AÄGP die Möglichkeit einer Zusammenführung zu erörtern. Dazu wurde im Oktober 1990 »ein neues Statut bestätigt, das mit dem der AÄGP mit Ausnahme der Mitgliedschaft bereits identisch ist als Einstand und Verhandlungsgrundlage«. Die Gesellschaft habe sich immer als wissenschaftliche Gesellschaft verstanden. »Sie kam auch nicht umhin und tat sicherlich an manchen Stellen gut daran, sich mit standespolitischen Fragen zu befassen.« Er zeigt sich überrascht, dass hier in der AÄGP, die doch ebenfalls eine wissenschaftliche Gesellschaft sei, bei der vorliegenden Frage, »die Standespolitik ganz vordergründig wird. Ich glaube auch, dass die Mitgliedschaft der Psychologen, was die Förderung der Wissenschaft anbetrifft und die wissenschaftliche Zusammenarbeit, kein Problem mehr ist. Es wird keiner von uns bezweifeln, dass inzwischen auch von Psychologen und aus psychologischen Instituten beachtenswerte Beiträge zur Psychotherapie erbracht werden.« König schließt seine Ausführungen mit einer persönlichen Stellungnahme. Er würde es für günstig halten, wenn eine Gesellschaft für Psychotherapie sich mit den gut ausgebildeten Psychologen solidarisiert und sie auch in ihrer Gesellschaft Mitglieder werden lässt, um den Anspruch zu erheben, als Medizinische Gesellschaft über die Teilnahme der Psychologen an der Psychotherapie und ihre Stellung in der Medizin überhaupt mit zu bestimmen. »Und ich glaube, wenn eine Gesellschaft diesen Kompetenzanspruch erhebt, dann ist sie auch gut beraten, wenn sie dann ihre Stellungnahmen auch im Verein und im Namen von Psychologen abgeben kann, die psychotherapeutisch ausgewiesen sind.«

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6.3  Deutsch-deutsche Integration in der Psychotherapie

Danach fordert Stucke dazu auf, weitere Fragen an Herrn König zu stellen. Er entschuldigt sich für das Versäumnis, nicht früher die Grüße des Ehrenvorsitzenden Prof. Enke übermittelt zu haben. Enke habe Stucke angerufen und sich für eine überraschende Verhinderung der von ihm angestrebten Teilnahme entschuldigt. Stucke: »Für ihn war es, wer ihn kennt, wird das verstehen, kein Problem, Psychologen aufzunehmen.« Kann man nur hinzufügen, dass, wer Stucke kennt, auch weiß, dass er Enke wohl kaum vergessen hatte, sondern ihn bewusst an exponierter Stelle platzierte. Denn es war jetzt schon klar, dass es für Stuckes Pläne eng werden würde. Es folgen etwa 20 Anfragen an König, oder besser gesagt, es wurden die überwiegend ab­lehnenden Meinungen zu einer möglichen Fusion zunächst in Fragen verpackt. Dabei ging es vordergründig darum, wie viele Mitglieder welche Qualifikation haben. Beim Wiederlesen im Nachhinein wurde erst deutlich, dass in den Sachfragen – sofern es überhaupt darum ging – aneinander vorbeigeredet wurde. Die Mitglieder der AÄGP wollten offenbar wissen, wie viele Mitglieder welche Abschlüsse haben, ohne dass das eindeutig formuliert worden wäre, worauf König darzustellen versuchte, über welche Strukturen an wen welche Kenntnisse vermittelt wurden. Dass abgesehen vom Facharzt so gut wie keine Abschlüsse möglich waren und die psychotherapeutisch Interessierten sich um Kenntnisse bemühten, die sie in ihrer Arbeit brauchten und für die es weder einen Abschluss noch ein besseres Geld gab, kam erst zu einem relativ späten Zeitpunkt von König in die Diskussion: »Man muss jetzt, glaube ich, Folgendes noch einmal sehr deutlich sagen. Es gab bei unseren ambulant tätigen Ärzten keine Abrechnung und auch keinerlei anerkannte Qualifizierung, sondern diejenigen, die sahen, ich brauche in meiner praktischen Tätigkeit Psychotherapie, die bemühten sich darum, die suchten Anschluss in der Gesellschaft für Psychotherapie und nutzten die dortigen Weiterbildungsangebote.« Inzwischen halbwegs im Westen angekommen kann man besser verstehen, warum man sich damals schwer vorstellen konnte, wie das funktionierte und dass noch nicht viel damit getan war, es nur deutlich auszusprechen. In diesem Zusammenhang ist das Votum eines Berliners erwähnenswert, der für die geduldige, nicht überstürzte Prüfung der Voraussetzungen für eine Fusion plädierte mit der Begründung, dass man in Berlin mehr Ost-WestKontakte habe als anderswo und dabei erst feststelle, wie wenig man noch von einander weiß und wie schwer man sich in die Situation des anderen hineinversetzen kann. Unverständlich war für manche Kollegen aus der AÄGP, warum die GPPMP sich nicht aufgelöst habe, es seien doch vermutlich die Psychologen gewesen, die dagegen waren, denn den Ärzten stehe ja die AÄGP offen. Ebenso unverständlich erschien manchen, warum das ganze Problem nicht durch Doppelmitgliedschaften aus der Welt zu schaffen wäre. Oder sollte vieleicht die Ost-Gesellschaft bestehen bleiben und » auf allgemeinpsychotherapeutischem Level so etwas wie die DGPT« werden? »Dann brauchen wir nämlich nicht die Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie als solche, an der wir auch ein durchaus historisches Interesse haben [...] aufzugeben.« Auf wiederholte Anfragen nach dem Qualifikationsniveau bei einer Aufnahme von Psychologen nahm Stucke klar Stellung: »[...] wenn überhaupt, dann nur Psychologen, die über eine entsprechende Qualifikation verfügen, keine anderen!« Das führte aber nur dazu, dass diese Angriffsfläche aufgegeben wurde, nicht zu einer Verständigung über die Qualifikationsanforderungen.

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Inzwischen war deutlich geworden, und das wurde von Stucke noch einmal zusammengefasst, dass es um zwei Fragen geht. Einmal um die der möglichen Fusion. Sie führt zur zweiten, der Frage einer Aufnahme von Psychologen in die AÄGP. Dieses Thema ist durch die Anfrage der GPPMP wieder neu aufgekommen, bestand aber für die AÄPG schon vorher und wird unabhängig von der Fusion »immer wieder auftauchen«. Die Voten, die sich gegen die Aufnahme von Psychologen und für die Wahrung einer rein ärztlichen Gesellschaft aussprachen, hatten eindeutig die Mehrheit und es würde nichts Neues bringen, sie aufzuführen. Es gab aber auch einige andere eigenständige Voten: »Ich denke, dass sich die wissenschaftliche Psychotherapie einen schlechten Dienst damit erweist, wenn sie sich spaltet in Berufsgruppen unterschiedlicher Provenienz. Ich denke, dass es sinnvoller wäre, gemeinsame Tätigkeits- und Qualifikationsmerkmale zu bündeln, um dem politischen Stellenwert der wissenschaftliche Psychotherapie in Deutschland zu mehr Nachdruck verhelfen zu ­können.« »Was wird mit dem Potential Psychologischer Psychotherapeuten, ich spreche jetzt von solchen, die im Delegationsverfahren tätig sind, die sich eigentlich viel mehr den ärztlichen Psychotherapeuten zugehörig fühlen als den Psychologen ... die gehören eigentlich uns.« »Ich bin nicht hier her gekommen, um Berufs- und Standespolitik zu machen. Und der Verlauf zeigt für mich, dass ich Mitglied in der Gesellschaft werden sollte, die fragt, ob sie Mitglied bei uns werden kann. Ich meine, das, was dort gemacht wird, ist zukunftsweisend.« Zur Aufnahme der Psychologen regt Stucke schließlich an, diese Frage zum Gegenstand einer Mitgliederbefragung zu machen. Nach kurzer Diskussion kommt es zur Abstimmung. Eine eindeutige Mehrheit spricht sich dafür aus, was wohl so zu verstehen ist, dass sich die Gegner einer Aufnahme ihrer Sache sicher waren und wohl auch sein konnten. Einer der wenigen, die dagegen stimmten, erklärt, dass er fürchte, eine solche Befragung bringe eine Schärfe in die Diskussion, die bisher vermieden werden konnte. »Und dann steht in der Auswirkung nur da, die sind gegen Psychologen. Das möchte ich vermeiden.« Gegen Ende meldet sich Frau Heigl-Evers, die sich schon in mehreren Voten weitblickend und moderat vermittelnd geäußert hatte, noch einmal zu Wort: »Ich möchte, orientiert am Prozess dieser Diskussion doch noch einmal ein bisschen für die Zukunft votieren und möchte noch einmal die Frage der Fusion aufgreifen. Ich hatte immer den Eindruck, die sei sozusagen vom Tisch. Für mich ist sie das nicht. Mir erscheint es nicht sehr sinnvoll, in einer Phase von einheitsbildenden Zusammenschlüssen, von zu erwartenden größeren Integrationen, also Stichwort Europa, jetzt partikularistischen Tendenzen nachzugeben und jetzt etwa noch wieder eine neue Gesellschaft zu gründen im Bereich der Psychotherapie. [...] ich würde mir wünschen, dass dieses Problem mit Ruhe und Geduld, also mit gründlichem Ausdiskutieren weiter in dieser Gesellschaft ein wichtiger Punkt der jeweils zu behandelnden Agenda und der zwischenzeitlichen Aktivitäten bleiben wird. [...] und ich meine, man sollte den Gott Kairos mit der berühmten Stirnlocke also dann doch lieber beim Schopfe fassen, anstatt ihn vorübereilen zu lassen. Ich bin ganz sicherlich nicht in Übereinstimmung mit der Mehrheit der Versammlung, aber das möchte ich noch gesagt haben.« Stucke beendet die Sitzung mit Dank an die Teilnehmer. Er respektiere die unterschiedlichen Meinungen, ermuntert aber die unterlegene Minderheit, »bei der Sache zu bleiben«.

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Er gehe nicht davon ab, dass Psychotherapie prinzipiell eine ärztliche Aufgabe sei, es stelle sich aber weiterhin die Frage, »ist man in einer wissenschaftlichen Gesellschaft nicht möglicherweise besser aufgehoben?« Stucke gibt den Teilnehmern mit auf den Weg: »Wir müssen die Zukunft der Psychotherapie und damit unserer Gesellschaft im Auge behalten.« Was für uns aus dem Osten an dieser Sitzung enttäuschend war, war nicht, dass es zu keiner Fusion kam, sondern dass genau der Punkt, mit dem Stucke die Versammlung entlässt, die möglichen Perspektiven der Psychotherapie, so gut wie nicht reflektiert wurden. Man stritt an einer Abzweigung des Weges darüber, wo man weiter gehen soll, ohne sich ernsthaft zu fragen, wohin die Wege wohl führen mögen – weil der dominierende Wunsch war, zu Hause zu bleiben. Wir waren in unserer Ost-Psychotherapie-Gesellschaft immer auf Veränderung und Einfluss aus und erlebten hier eine uns überraschende Angst vor Veränderung. Die bedrohlich erlebte und mehrfach angesprochene Sorge vor einer Majorisierung durch die Psychologen war ja nicht unbegründet, aber sie war doch eingebettet in eine generellere Ablehnung von Veränderung. Die wenigen Stimmen, die zu einer aktiveren Haltung in dieser Gefahrensituation aufriefen, wurden nicht ernst genommen. Mit dieser Haltung haben diejenigen, die den Psychologen am kritischsten gegenüberstanden, zu dem beigetragen, was sie am wenigsten wollten: zur Stärkung der Psychologen. Eine gründlichere Diskussion wäre ja u. a. darauf gestoßen, wie sich die Weiterbildung der Psychologen im Osten gestaltete. Der Fachpsychologe der Medizin war noch nicht alt, aber er bewährte sich, wenn auch erst kaum 50 über einen Abschluss verfügten. Der in der GPPMP unstrittige Anspruch auf eine psychotherapeutische Ausbildung für Psychologen umfasste die fünfjährige Ausbildung zum Fachpsychologen und eine anschießende dreijährige psychotherapeutische Ausbildung. Das ist ein Modell, das den Weg Facharzt und anschließende Zusatzweiterbildung auf die Psychologen überträgt. Die Ausbildung nach dem Psychotherapeutengesetz ist ja bezogen auf die Psychotherapie nicht schlecht, aber eben medizinisch defizitär. In der Diskussion kam auch auf, dass die Psychologen selbst dazu tendieren, die Maßstäbe niedrig zu halten. Es ist zu bedauern, dass die Diskussion, wie die Ärzte in dieser Situation, in der man das Psychotherapeutengesetz kommen sah, zu angemessenen Qualifikationsanforderungen an die künftigen Psychologischen Psychotherapeuten beitragen könnten, zu wenig genutzt wurde. Zwar haben beide Gesellschaften versucht, Einfluss zu nehmen, aber eine Zusammenführung der Kompetenzen beider Gesellschaften im Verein mit gut ausgebildeten Psychologen wurde nicht ernsthaft geprüft. Das hing nicht nur mit der aktuellen Situation, sondern auch mit dem unterschiedlichen Verständnis von Arbeit und Aufgaben der Gesellschaften zusammen, die gegenseitig noch zu wenig erkannt worden waren. In der GPPMP waren immer die übergeordneten Ziele, den Einfluss der Psychotherapie in der medizinischen Wissenschaft und der medizinischen Versorgung zu vertiefen und zu erweitern. Diese Ziele zu definieren und durchzusetzen ist sehr aufwendig, fordert und führt aber zu einer starken Identifizierung damit. Eine Zusammenführung mit der AÄGP hätte aus der Sicht der GPPMP ein »Zusammenraufen« und eine Neubestimmung der Ziele bedeutet. In der AÄGP hatte man mit Recht Angst vor Unruhe, genauer, man hatte Recht, wenn man Unruhe vorhersah – aber war sie zu fürchten oder war sie eine Chance?

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Mit der Arbeitsweise und Zielstellung hängt es auch zusammen, dass man in dieser Sitzung noch schlecht verstehen konnte, dass die Mitgliedschaft in einer Gesellschaft im Osten und im Westen etwas anders erlebt wurde. Wenn man uns vorschlug, doch in mehreren Gesellschaften Mitglied zu werden, so wirkte dass auf uns fast so, als schlüge man vor, in mehreren Vereinen gleichzeitig Fußball zu spielen, während die im Westen aus unserer Sicht damit umgingen, als würden sie einfach eine Zeitschrift mehr abonnieren. Kostet etwas mehr, kann aber auch was bringen. »Die AÄGP wäre nicht mehr die alte« war die Losung vieler in dieser Versammlung. Eine differenzierte Abwägung des Standes und der Zukunft der von der AÄGP vertretenen Psychotherapie wurde von der Mehrheit nicht angestrebt, weil sie eine ergebnisoffene Haltung verlangt hätte, die abgewehrt wurde. Auch die immer wieder hochgehaltene Tradition der AÄGP diente der Ablehnung von gefürchteter Veränderung und die, die sie beschworen, waren zu einem guten Teil maßgeblich beteiligt, als sie ohne Tränen, und auch ohne besondere Dringlichkeit, der Facharztlobby geopfert wurde. Mit der möglichen Zusammenführung der beiden Gesellschaften, die ihre Wurzeln in der alten AÄGP hatten, hätte doch wenigstens das uralte Ziel des Facharztes ein Thema werden müssen. Er wurde nur einmal erwähnt, ohne Resonanz. Der Hauptgrund für den schwer verständlichen Verlauf dieser Versammlung dürfte wohl in dem Schreck zu suchen sein, dass der Zusammenbruch der DDR nicht nur den Osten betreffen, sondern auch schwer kalkulierbare Nachwirkungen im Westen haben könnte. Dieser Schreck schien nicht nur nicht überwunden, sondern noch nicht einmal richtig reflektierbar gewesen zu sein. Und so wurde erst mal nostalgisch »gemauert«. Aus unserer Perspektive erlebten wir eine Diskrepanz zwischen einer kleinen Zahl von führenden Köpfen der AÄGP, denen wir uns dankbar verbunden fühlten, weil sie seit langem unter Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten Kontakte zum Osten suchten und die GPPMP wie auch eine Reihe ihrer Mitglieder unterstützten, und die wir für die AÄGP hielten – und eben der AÄGP.

6.3.2.3 Paul Franke: Die Zusammenführung der Psychosomatischen Gynäkologie Ost und West Die Aufgabe bestand für uns darin, einen Weg zu finden, beide deutschen Gesellschaften für Psychosomatische Gynäkologie zusammenzuführen. Dieses Ziel ist nie aus den Augen verloren worden, allerdings wollten wir »zusammenwachsen und nicht zusammenwuchern«. Ein möglicher Weg wäre eine Regionalisierung der Westgesellschaft gewesen. Um das vorzubereiten, änderte auf Vorschlag von P. Franke die Mitgliederversammlung auf dem 9. Symposium in Meisdorf den Namen der Gesellschaft von »Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe« in »Ostdeutsche Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe« (OGPGG). Damit wurde der Charakter einer regionalen Vereinigung betont. Allerdings lehnte die westdeutsche Gesellschaft eine Regionalisierung für sich ab, weil sie dadurch eine Zersplitterung befürchtete. So wurde 1997 eine sechsköpfige Vereinigungskommission aus je drei Mitgliedern der beiden Gesellschaften gebildet. Nach langen und auch zähen Verhandlungen konnte sie beiden Vorständen 1999 einen

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überraschenden Vorschlag unterbreiten: Beide Gesellschaften lösen sich auf und fusionieren zu einer neuen Gesellschaft! Eine neue Gesellschaft mit neuem Namen und neuem Logo. Das war für die deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften ein bisher einmaliger und noch nie praktizierter Vorgang eines wirklich gleichberechtigten aufeinander Zugehens, obwohl beide Gesellschaften sehr verschieden groß waren: Über 900 Mitglieder zählte die westdeutsche, knappe 80 Mitglieder die ostdeutsche Gesellschaft. Auf dem 10. Symposium der OGPGG in Freiburg 1999 stimmten die Mitglieder der OGPGG diesem Vorschlag mit großer Mehrheit zu. Die Vollversammlung der westdeutschen Gesellschaft stimmten dann auf dem ersten gemeinsamen Kongress (29. Jahrestagung der DGPGG und 11. Symposium der OGPGG) in Dresden vom 16.–19. Februar 2000 auf ihrer Mitgliederversammlung zu, so dass die neue gemeinsame Gesellschaft mit den Namen »Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe« 2000 in Dresden gegründet werden konnte. Wir glauben, mit dieser Form der zehn Jahre dauernden Kooperation und Vereinigung einen würdevollen Prozess vollendet zu haben, der einen Gegensatz zu der Auflösung fast aller medizinischen Gesellschaften der untergegangenen DDR bildete, aber auch im bewussten Gegensatz zu einem gewissermaßen nostalgisch-separatistischen Beharren auf der alten DDR-Formation und einer Verweigerung einer Vereinigung stand.

6.3.2.4 Sigmar Scheerer: Die Vereinigung der Balint-Gesellschaften Aus der Konferenz der Balint-Leiter in Ferch 1988 (s. a. den Beitrag von Scheerer et al. } Abschnitt 5.8.1) entwickelte sich eine Plattform der Balint-Arbeit, die die Besonderheiten der DDR-Entwicklung in einer eigenständigen »Balint-Gesellschaft der DDR« zu bewahren suchte. Vereinsrechtlich war eine solche Gründung erst in dem kurzen Zeitfenster der Existenz einer demokratischen Staatsform der DDR zwischen März und Oktober 1990 möglich und wurde auch in der letzten Septemberwoche realisiert. Die Satzung sah die typischen Formen der Zusammenarbeit aller Berufsgruppen vor, also eine ordentliche Mitgliedschaft von Ärzten aller klinischen Fachgebiete und Psychologischen Psychotherapeuten sowie die Möglichkeit der außerordentlichen Mitgliedschaft für Angehörige medizinischer Fachberufe. Diese Satzung war keineswegs mit der Satzung der bestehenden Deutschen BalintGesellschaft e. V. vereinbar. Trotzdem war die damalige Geschäftsführerin der Deutschen Balint-Gesellschaft e. V., Margarethe Stubbe, als Gast anwesend. Nach Wahl des Vorstandes und Bestätigung der Satzung wurden in einem ersten Wahlakt der Mitgliederversammlung Margarethe Stubbe, Kurt Höck und Harro Wendt zu Ehrenmitgliedern ernannt. Diese eigenwillige Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft »kurz vor Toresschluss« löste verständlicherweise Irritationen aus, da allen Beteiligten klar war, dass früher oder später eine Fusion der Gesellschaften stattfinden musste. Die Gründung führte jedoch zu Verhandlungen auf Augenhöhe, die schließlich wichtige Positionen der Kollegen aus dem Osten in einer gemeinsamen Gesellschaft berücksichtigten. Bis dahin kam es zu intensivem Austausch der Balint-Gruppenleiter beider Gesellschaften, besonders auf den Studientagungen in der Nähe der ehemaligen Grenze (Potsdam, Schierke, Hahnenklee, Hannover, Berlin). In den neuen Bundesländern etablierten sich Studientagun-

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gen nach dem Modell der Deutschen Balint-Gesellschaft in Berlin-Buch, Rostock-Warnemünde, Hohenstein-Ernstthal, Schierke, Potsdam und Bad Langensalza. Als Zeichen kollegialer Zusammenarbeit schlossen sich die Vorstände zu gemeinsamen Vorstandssitzungen zusammen. Der Durchbruch in den Verhandlungen gelang 1992 mit der Aufnahme psychologischer Balint-Gruppenleiter in die »Ärztliche« Deutsche Balint-Gesellschaft (eine Formulierung von Prof. Stucke, dem Vorsitzenden der Deutschen Balint-Gesellschaft). Die Integration der mittleren medizinischen Berufsgruppen in Form einer außerordentlichen Mitgliedschaft gelang nicht, ebenso wenig wie die Verpflichtung der ­Balint-Gruppenleiter, in mindestens zweijährigem Turnus auf Veranstaltungen der BalintGesellschaft leitend tätig zu sein, eine Forderung der östlichen Kollegen, die als »latenter Versuch stalinistischer Machtausübung« gesehen wurde. Nachdem in beiden Gesellschaften sowohl in Hahnenklee als auch in Potsdam die neue gemeinsame Satzung beschlossen wurde, kam es 1992 zur Vereinigung mit der Wahl eines Vorstandes jeweils für zwei Jahre entsprechend der Satzung. Das Gegensätzliche, Unterschiedliche und Verbindende konnte zusammengeführt werden zum Gemeinsamen, etwas, was im deutschen Vereinigungsprozess nicht immer gelang. Den »Spezialisten für Beziehungen« ist der Zusammenschluss auf Augenhöhe weitgehend gelungen.

6.3.3 D  ie strukturelle Angleichung der psychotherapeutisch-psychosomatischen Versorgung und der ärztlichen und psychologischen Weiter- und Fortbildung 6.3.3.1 Roger Kirchner und Christoph Seidler: Die Integration der ostdeutschen Psychotherapiemethoden in die kassenärztliche Versorgung im vereinten Deutschland Teil I: Die Rolle der Kommission Qualitätssicherung des Berufverbandes der Psychotherapeuten (BVP) und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) Im Prozess der Auflösung der DDR stellte sich heraus, dass die Paralysierung staatlicher Strukturen mit der Freisetzung von Selbstorganisationspotential in allen gesellschaftlichen Bereichen einhergeht. So gründeten wir im April 1990 in Berlin den Berufsverband der Psychotherapeuten mit dem Ziel einer berufsständischen Vertretung ärztlicher und Psychologischer Psychotherapeuten gegenüber staatlichen Verwaltungen und (später) öffentlich-rechtlichen Körperschaften wie Ärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen. Im Berufsverband (BVP) waren Ärzte und Psychologen organisiert, die eine mindestens dreijährige (ganztägige) Weiterbildung in Psychotherapie durchlaufen hatten, Fachärzte für Psychotherapie, Ärzte mit fachspezifischer Ausbildung in Psychotherapie sowie Fachpsychologen der Medizin. Der Verband ging hervor aus der »Sektion Spezielle Psychotherapie« der »Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP)«.

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Aus dem Weiterbildungsausschuss des BVP entstand sehr bald die »Akademie für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie«, die sich 1993 umgründete in »Deutsche Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie« (DGAPT). In der DGAPT waren nur noch die Richtungen vertreten, die sich der analytischen Tradition verbunden fühlten, nämlich die Dynamische Gruppenpsychotherapie, die Psychodynamische Einzeltherapie und das Katathyme Bilderleben. In der Sektion Spezielle Psychotherapie dagegen waren alle Richtungen vertreten: analytisch/dynamisch, verhaltenstherapeutisch und gesprächstherapeutisch orientierte. Dort fanden konstruktive und kollegiale Diskussionen statt. Das war eben das Jahr 1989! All diese Gremien sind inzwischen bedeutungslos; sie haben ihre Aufgaben erfüllt: Neben der Gestaltung des Übergangs mit den öffentlich-rechtlichen Gremien der Bundesrepublik war das auch die Auswahl der Gutachter oder der Gründungsanalytiker der sich entwickelnden psychoanalytischen Institute. Da der BVP in der Gründungsphase in eine gewisse Opposition zur GPPMP geriet, gründeten der BVP und die GPPMP gemeinsam die paritätisch besetzte »Kommission Qualitätssicherung«, in die von den fünf Ostländern und Ostberlin je zwei Vertreter (Arzt und Psychologe) entsandt wurden, den sog. »Zwölferrat« (auch 12er-Kommission genannt). Bereits im Einigungsvertrag wird ein Anhang zum Bundesmantelvertrag – Ärzte erwähnt, der die Anwendung des Vertrages in den Bereichen der Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Bundesländer und Ostberlins regelt. Dieser Anhang nimmt explizit Bezug auf die Rolle der 12er-Kommission von GPPMP und Berufsverband: »Bestehen [...] Zweifel an der Qualifizierung, können die Kassenärztlichen Vereinigungen im Vertragsgebiet Ost ein Sachverständigengremium zu Rate ziehen, das aus Vertretern des Berufsverbandes der Psychotherapeuten und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie besteht.« Im Zwölferrat fanden in der Folgezeit die wesentlichen Abstimmungen zu psychotherapeutischen Versorgungs- und Weiterbildungsaufgaben in den OstLändern statt. Der Leiter des »Arbeitsausschusses Psychotherapie des Ausschusses Ärzte und Krankenkassen der KBV«, Dr. Effer, traf auf Dr. Kirchner, Mitglied des Zwölferrates und bereits Präsident der Ärztekammer Brandenburg. Das hat eine Verständigung sehr leichtert. Es gab ja damals viele Vertreter der ostdeutschen Psychotherapie, die sich mit mehr oder weniger Berechtigung als Verhandlungspartner anboten, und für die westdeutschen Kollegen war es nicht leicht, bei dieser Gründungswelle eine Übersicht zu gewinnen. Der »Zwölferrat« war das Gremium mit Beratungs- und Verhandlungsvollmachten gegenüber der KBV zur Integration der ostdeutschen Psychotherapiemethoden in die kassenärztliche Versorgung sowie zur Schaffung von Übergangsregelungen einschließlich von Nachqualifizierungen zur Angleichung an die Psychotherapie-Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen. Dieser »Zwölferrat« betraute nun Kirchner und Seidler, damals Vorsitzender des BVP, damit, die Verhandlungen zu führen. Das bedeutete, dass wir beide bereits zwei Wochen nach der Wiedervereinigung regelmäßig fast monatlich am Tisch der Vertragsabteilung, meist in Köln, seltener in Berlin, saßen – als Sachverständige für die Fragen der Psycho­therapie/Ost.

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Unser Platz war neben den ehrenwerten KBV-Sachverständigen Dührssen, Faber und Haarstrick. Gegenüber saßen immer fünf bis zehn Vertreter der Spitzenverbände der Krankenkassen – meist junge, kluge, kritische Ökonomen.

Teil II: Die Übergangsregelungen zur Psychotherapie in den zur Bundesrepublik beigetretenen Ländern Bereits einen Monat nach der deutschen Vereinigung stellt der Arbeitsausschuss des Ausschusses Ärzte und Krankenkassen fest, dass weder die analytische Psychotherapie noch die Verhaltenstherapie für die flächendeckende Versorgung in den beigetretenen Ländern angewandt werden können. Lediglich die Psychodynamische Einzeltherapie, die bisher in den beigetretenen Ländern in größerem Umfang durchgeführt wurde (die nicht mit der in den Psychothera­pie-Richtlinien erwähnten Sonderform der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie identisch ist), und die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, die überwiegend das psychotherapeutische Hauptverfahren in der Weiterbildung zum Facharzt für ­Psychotherapie ­darstellte und in den Kliniken wie ambulant breit angewandt wurde, können im Sinne der Gebührenordnung als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie ­abgerechnet werden. Die Anzahl der Psychotherapeuten wird zu dem Zeitpunkt mit 135 ärztlichen und ca. 200 nichtärztlichen Psychotherapeuten beziffert. Fachärzte für Psychotherapie sind für Einzel- und Gruppenpsychotherapie (Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie) in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie qualifiziert, Ärzte mit fachspezifischer Spezialisierung für die Einzelbehandlung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Letzte müssen für die Gruppenbehandlung zusätzliche Nachweise er­bringen. Nichtärztliche Psychotherapeuten müssen Fachpsychologen der Medizin sein und mindestens drei Jahre an einer Weiterbildungseinrichtung der Akademie für Ärztliche Psychotherapie eigenständig therapeutisch gearbeitet haben. Weitere Voraussetzung ist eine Selbsterfahrung von mindestens 300 Stunden Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie oder 150 Stunden Dynamischer Einzeltherapie. In Zweifelsfällen haben die Kassenärztlichen Vereinigungen die Möglichkeit, die Unterlagen von der Kommission Qualitätssicherung (Zwölferrat) prüfen zu lassen. Mit den Polikliniken und Ambulatorien werden Fallpauschalen vereinbart, wenn diese Psychotherapieweiterbildung mit Supervision bereitstellen. Der nächste Schritt war die Schaffung von Übergangsregelungen für die Nachqualifizierung der Ärzte und Psychologen in den beigetretenen Ländern. Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie oder zur methodenbezogenen Spezialisierung in Psychotherapie durften tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie abrechnen, wenn sie ihre Weiterbildung bis zum 31. Dezember 1993 abschließen. Psychologen waren zur Abrechnung von tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie berechtigt, wenn sie folgende Bedingungen erfüllten: Mindestens fünfjährige Vollzeitbeschäftigung auf dem Gebiet der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie sowie mindestens 250 Stunden Supervision in diesen Verfahren und 250 Stunden Selbsterfahrung, davon mindestens 50 Stunden in Psychodynamischer Einzeltherapie.

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Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder Ärzte, die diese Weiterbildung bis zum 31. Dezember 1993 erworben haben, dürfen tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie abrechnen, wenn sie folgende Bedingungen erfüllen: 100 Stunden theoretische Ausbildung an der Akademie für Ärztliche Fortbildung Berlin, 250 Stunden Selbsterfahrung, davon mindestens 50 Stunden in Psychodynamischer Einzeltherapie, dreijährige Tätigkeit an einer Weiterbildungseinrichtung der Akademie oder fünfjährige Vollzeittätigkeit auf dem Gebiet der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie oder Psychodynamischen Einzeltherapie inklusive mindestens 250 Stunden Supervision. Verhaltenstherapie dürfen diejenigen Fachärzte und Fachpsychologen der Medizin abrechnen, die eine Verhaltenstherapie in Vollzeitbeschäftigung über fünf Jahre, einschließlich 100 Stunden Supervision, und 100 Stunden Selbsterfahrung nachweisen können. Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen bedarf einer besonderen Theoriequalifizierung in Entwicklungspsychologie und Lernpsychologie sowie einer mindestens einjährigen Krankenbehandlung von Kindern und Jugendlichen. Verhaltenstherapie als Gruppenbehandlung setzt mindestens 120 Stunden kontinuierliche Gruppentherapie mit mindestens 80 Stunden Supervision sowie 80 Stunden Gruppenselbsterfahrung voraus. Durch Johannes Helm und Inge Frohburg wurden in der DDR eine Vielzahl von Psychologen und Ärzten in Gesprächspsychotherapie (Carl Rogers) ausgebildet, insbesondere nach der Gründung der Sektion Gesprächspsychotherapie in der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (später GPPMP). So versuchten Inge Frohburg und Klaus Weise gemeinsam mit der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GwG), in der Phase der deutschen Vereinigung dieses Verfahren in die Psychotherapie-Richtlinien der KBV aufnehmen zu lassen. Da die wissenschaftliche Evaluation des Verfahrens dem 26-Fragen-Katalog als Voraussetzung zur Aufnahme in die kassenärztliche Versorgung nicht hinreichend standhielt, war eine Aufnahme als Verfahren mit einer eigenen Persönlichkeits-, Krankheits- und Therapietheorie zu dem Zeitpunkt nicht möglich. Die Vertreter der GwG konnten auch nicht akzeptieren, als tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren (insbesondere hinsichtlich der Persönlichkeits- und der Krankheitstheorie) mit einer eigenständigen Therapietheorie in die Psychotherapie-Richtlinien aufgenommen zu werden. So blieb schließlich ein erhebliches Potenzial psychotherapeutischer Kompetenz, insbesondere bei Psychologen, für die kassenärztliche Versorgung der beigetretenen Länder ungenutzt.

Teil III: Einheitliche Festlegungen der Qualifikationsvoraussetzungen für die Psychosomatische Grundversorgung In den 1970er und 1980er Jahren wurden in den Regionalgesellschaften der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (später GPPMP) Grundkurse für Psychotherapie und Medizinische Psychologie entwickelt, die theoretische Kenntnisse zu Persönlichkeits- und Krankheitstheorien sowie zur Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung vermittelten. Diese Kurse liefen in der Regel als Wochenkurse über 40 Stunden und wurden durch sog. »Problemfall-

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seminare« (später »Balint-Gruppen«), die einmal monatlich über vier Stunden angeboten wurden, ergänzt. In den 1980er Jahren entwickelten wir spezielle Gesprächstrainings zur Gestaltung der Arzt-Patient-Beziehung mit Rollenspielen und Tonbandaufzeichnungen, die in der Gruppe bearbeitet wurden. 1986 waren diese Grundkurse in Teilen des Landes Brandenburg Voraussetzung zum Erwerb des Facharztes für Allgemeinmedizin. Anfang der 1980er Jahre entwickelten wir bereits spezielle Grundkurse für Psychosomatik in Frauenheilkunde und Geburtshilfe im Rahmen der späteren Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe, die die gleiche Struktur hatten, wie die Kurse für Allgemeinmedizin, inhaltlich aber speziell für Frauenärzte konzipiert waren. In der alten Bundesrepublik gab es ähnliche Entwicklungen, z. B. in Freiburg oder in Düsseldorf, die erstmals 1987 in der Formulierung der Psychosomatischen Grundversorgung Eingang in die Psychotherapie-Richtlinien fanden, jedoch noch ohne Gesprächstraining bzw. Einübung verbaler Interventionstechniken. So erarbeitete der Arbeitsausschuss Psychotherapie der KBV auf Initiative von E. Effer 1992/93 einen neuen 100-Stundenkurs für die Psychosomatische Grundversorgung, in den die Erfahrungen aus beiden Teilen Deutschlands einflossen und der die verbindliche Voraussetzung der Abrechnung von ärztlichen Gesprächsleistungen bildet, die über eine Beratung hinausgehen und keine Psychotherapie im Sinne der Richtlinien darstellen. Der Länderausschuss der KBV hat den Kurs schließlich noch auf 80 Stunden zu Lasten der verbalen Interventionstechniken und der Balint-Gruppenarbeit gekürzt. Dennoch ermöglichte dieser Prozess eine Entwicklung, die inzwischen zur obligatorischen Implementierung der Kurse für Psychosomatische Grundversorgung in die Facharztweiterbildungen für Allgemeinmedizin und später auch für Frauenheilkunde und Geburtshilfe geführt hat.

6.3.3.2 Roger Kirchner: Die Einführung des Facharztes für Psychothera­ peutische Medizin in die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer 1978 wurde in der DDR auf Initiative der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie und maßgeblich durch das Engagement von Kurt Höck und Werner König der Facharzt für Psychotherapie als Zweitfacharzt mit einer dreijährigen Weiterbildungszeit eingeführt. Voraussetzung war der vorherige Abschluss einer klinischen Facharztweiterbildung. Die Akademie für Ärztliche Fortbildung Berlin ermächtigte stationäre und ambulante Weiterbildungseinrichtungen zur Facharztweiterbildung, in denen insgesamt eine Mindestweiterbildungszeit von drei Jahren zu absolvieren war. Theoriekurse von jeweils 40 Stunden wurden zweimal jährlich durch die Akademie über die gesamte Weiterbildungszeit veranstaltet. Die zur Weiterbildung ermächtigten Einrichtungen wendeten damals überwiegend die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie als tiefenpsychologisches Hauptverfahren an. Daneben kamen Psychodynamische Einzeltherapie, Gesprächspsychotherapie, Katathymes Bilderleben und Verhaltenstherapie zur Anwendung. Selbsterfahrung absolvierten die Weiterbildungsassistenten in Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie über 300 Stunden in sog. Kommunitäten, die die Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesell-

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schaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (später GPPMP) jährlich als zehntägige Blockveranstaltungen in Klausur durchführte. 1986 wurde der Erstfacharzt für Psychotherapie mit einer fünfjährigen Weiterbildungszeit eingeführt, wozu ein Jahr Innere Medizin und ein Jahr Psychiatrie gehörten. Bis zum Ende der DDR erwarben so ca. 80 Ärztinnen und Ärzte den Facharzttitel. Mit der deutschen Vereinigung ging es zunächst darum, den Facharzt für Psychotherapie in den ostdeutschen Ländern zu erhalten und die begonnenen ärztlichen Weiterbildungen fortzuführen. So beschloss z. B. die Kammerversammlung der Landesärztekammer Brandenburg im September 1991 den Facharzt für Psychotherapie als Erstfacharzt mit einer fünfjährigen Weiterbildungszeit mit einem Jahr Innere Medizin, wovon ein halbes Jahr Allgemeinmedizin, Kinder- oder Frauenheilkunde anrechenbar waren, und einem Jahr Psychiatrie, wobei ein halbes Jahr Kinder- und Jugendpsychiatrie anrechenbar war. Die psychotherapeutische Weiterbildung musste in zwei verschiedenen Einrichtungen absolviert werden, wobei die ambulante wie die stationäre Zeit ein Jahr nicht unterschreiten durften. Die Weiterbildung konnte einen tiefenpsychologischen oder verhaltenstherapeutischen Schwerpunkt haben. Im Mai 1991 wurden entsprechende Anträge von Frau Krause-Girth und mir zur Aufnahme des Facharztes für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin in die Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer auf dem 94. Deutschen Ärztetag in Hamburg abgelehnt. Hier wäre eine erste Gelegenheit gewesen, die Weiterbildungsordnungen nach der Deutschen Vereinigung in Ost und West anzugleichen. Die westdeutschen Verbände waren jedoch noch nicht so weit, dass sie die im Vereinigungsprozess auch für sie erforderlichen Veränderungen annehmen konnten. So scheiterte auf dem Hamburger Ärztetag auch die Etablierung der ostdeutschen F­acharztweiterbildungen für Allgemeinmedizin, Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie für die nichtklinischen Fächer wie Anatomie, Biochemie, Physiologie und Patho­ physiologie. Erst durch intensive Zusammenarbeit ostdeutscher und westdeutscher Psychotherapiegesellschaften wie der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP), der Deutschen Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie (DGAPT), der Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie (AÄGP), dem Deutschen Kollegium für Psychosomatische Medizin (DKPM) und der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatik (DGPT) sowie durch heftige Grundsatzdebatten zwischen Psychotherapeuten und Psychiatern im Ausschuss Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Bundesärztekammer wurde es möglich, im Weiterbildungsausschuss wie im Vorstand der Bundesärztekammer eine Beschlussvorlage für den 95. Deutschen Ärztetag in Köln zur Einführung eines Facharztes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mehrheitsfähig zu gestalten. Im sog. PPP-Ausschuss der Bundesärztekammer engagierten sich Prof. Janssen als stellv. Vorsitzender des Ausschusses und die Professoren Geyer (GPPMP), Hoffmann (DKPM), Studt (AÄGP) sowie ich (DGAPT) als Mitglied des Vorstands der Bundesärztekammer und Präsident der Landesärztekammer Brandenburg für das Gelingen der Facharztetablierung in der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer.

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In einer Vielzahl von Beratungen psychotherapeutischer und Medizinisch-Wissenschaftlicher Fachgesellschaften (AMWF) bereiteten wir nach dem Hamburger Fehlschlag nunmehr im Vorfeld der Gremienarbeit den Ärztetag in Köln vor. Die Psychiater lehnten den Facharzt für Psychotherapeutische Medizin ab und wollten einen Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie, den sich insbesondere das Deutsche Kollegium für Psychosomatische Medizin und die leitenden Fachvertreter für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an den Universitäten wünschten, eben dulden. Auf dem Kölner Ärztetag lehnten die Psychiater jedoch den Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ab und konnten dabei einigermaßen sicher sein, dass die Berufsverbände der Internisten und Praktischen Ärzte den Psychosomatikfacharzt ebenso ablehnen werden, da diese durch einen Psychosomatikfacharzt materielle wie ideelle Verluste im Hinblick auf die Zuständigkeit für Patientengruppen befürchteten. Und so kam es denn auch. Glücklicherweise hatte ich auf dem Ärztetag in der Vorahnung des Geschehens einen weiteren Antrag auf Einführung des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin gestellt, der nun infolge der Entlastung und Entängstigung von Internisten und Allgemeinmedizinern glücklicherweise vom Ärztetag beschlossen wurde. Obgleich die Psychotherapieverbände die gleichzeitige Einführung des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im PPP-Ausschuss mit vorbereiteten und auf dem Ärztetag unterstützten, wollten die Psychiater eben keinen fachärztlichen Psychotherapeuten neben sich dulden, welcher bereits 1926 auf dem ersten allgemeinen ärztlichen Kongress für Psychotherapie in Baden-Baden konzipiert wurde. So forderten hier Johannes Heinrich Schultz, Ernst Simmel und Arthur Kronfeld eine fünfjährige Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie, die eineinhalb Jahre Innere Medizin, eineinhalb Jahre Psychiatrie, eineinhalb Jahre Psychotherapie und sechs Monate Lehranalyse beinhaltete (Eliasberg 1927b). Der nun in die Musterweiterbildung aufgenommene Facharzt für Psychotherapeutische Medizin entsprach im zeitlichen Rahmen dem Facharzt für Psychotherapie der DDR bzw. des gegenwärtigen Landes Brandenburg. Inhaltlich war ein tiefenpsychologischer oder ein kognitiv-behavioraler Schwerpunkt erforderlich. Selbsterfahrung sowie Weiterbildung in practicando waren umfangreich und differenziert. Nicht durchzusetzen war jedoch eine Selbsterfahrung von 100 Stunden im zweiten Hauptverfahren. Dies wäre eine Möglichkeit gewesen, die Zusammenarbeit zwischen den tiefenpsychologischen und verhaltenstherapeutischen Schulen etwas zu befördern und erfahrungsgeleitete Differentialindikationen in der alltäglichen fachärztlichen Berufsausübung zu stellen. Zusammenfassend bleibt zu bemerken, dass nach fast 80-jährigem Bestreben der Einführung eines Facharztes für Psychotherapie und nach dessen 15-jähriger Erprobung in der DDR der Psychotherapiefacharzt in Deutschland heute als Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie etabliert und nicht mehr wegzudenken ist.

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

6.4 Aus- und Weiterbildung in der Zeit der Übergangs­ bestimmungen in den neuen Bundesländern 6.4.1 Die Rolle der Weiterbildungskreise und Regionalen Gesellschaften 6.4.1.1 Michael Geyer: Der Sächsische Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. Vorbemerkung Der Sächsische Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. (SWK) ist im März 2010 20 Jahre alt geworden. Seine Entwicklung steht exemplarisch für den gelungenen Aufbau neuer Strukturen in den neuen Bundesländern, für die Freisetzung von Kräften und Ressourcen durch eine veränderte freiheitliche Gesellschaftsordnung und die tatkräftige Solidarität (seinerzeit west)deutscher Kolleginnen und Kollegen.

Die Gründung Der Sächsische Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. (SWK) wird am 29. März 1990, zwölf Tage nach der ersten und einzigen freien Wahl einer DDR-Regierung am 17. März 1990, auf meine Initiative von 23 ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten aus allen Teilen Sachsens gegründet. Die Gründungsversammlung findet im sog. Ahnensaal der Abteilung für Psychotherapie des UniKlinikums der Universität Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 25, statt, die damals noch für einige Monate »Karl-Marx-Universität« heißt. Mit der Verabschiedung der Satzung durch die anwesenden 23 Personen entsteht der erste regionale Weiterbildungskreis der DDR, wobei die Gründungsmitglieder zugleich die ersten Dozenten sind.54 Es handelte sich um eine Vereinsgründung nach dem sog. DDR-Vereinigungsgesetz, das erst wenige Wochen vorher von der Volkskammer verabschiedet worden ist und bereits wesentliche Züge der (west)deutschen Vereinsgesetzlichkeit trägt. Der Eintrag in das Vereinigungsregister des Kreisgerichtes Leipzig erfolgt am 24. April 1990 unter der laufenden Nummer 53. Der SWK übernimmt – zum Teil gemeinsam mit dem zwei Monate später gegründeten Sächsischen Institut für Psychotherapie und angewandte Psychoanalyse e. V. – die Regie über

54 Es handelte sich um Karin Bach, Hans Bach, Lothar Behrends, Werner Blum, Hermann F. Böttcher, HansJürgen Enders, Wilfried Freier, Michael Geyer, Frank Härtel, Wilfried Kunz, Ulrike Linke, Ortwin Klemm, Elke Kuhfahl, Gottfried Lobeck, Günter Plöttner, Helmut Röhrborn, Jochen Schade, Bettina Schmidt, Michael Scholz, Helmut Starke, Werner Stelzer, Klaus Weise und Hans-Jürgen Wild.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

alle Aus- und Weiterbildungsaktivitäten auf dem Feld der Psychotherapie und Psychosomatischen Medizin im gerade wieder neu entstehenden Freistaat Sachsen. Die Gründungsversammlung beschließt eine Satzung, deren Vorbild die Satzung des Ärztlichen Weiterbildungskreises für Psychotherapie und Psychoanalyse München/Südbayern e. V. (ÄWK) ist, die jedoch in dem wesentlichen Punkt der Mitgliedschaft an die Verhältnisse in Sachsen angepasst worden ist. Im Gegensatz zum ÄWK ermöglicht die Satzung des SWK sowohl Ärzten als auch Psychologen und anderen Therapeuten mit einem Hochschulabschluss die Mitgliedschaft, also jenen Berufsgruppen, die bereits in der GPPMP und ihren regionalen Gliederungen zusammengearbeitet hatten. Die Gründungsversammlung wählt folgenden Vorstand: 1. Vorsitzender: Prof. Dr. med. Michael Geyer, Leipzig; 2. Vorsitzender: Dipl.-Psych. Dr. phil. Hermann Fried Böttcher, Dresden; 3. Vorsitzender: Dr. med. Helmut Röhrborn, Erlabrunn; Schatzmeister: Dr. sc. med. Michael Scholz, Leipzig; Schriftführer: Dr. med. Hannsknut Röder, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz); Betreuung der Weiterbildungskandidaten: Dr. med. Ulrike Reunert, Dresden, und Dipl.-Psych. Petra Leuteritz, Cossebaude. Der Vorstand nimmt unmittelbar nach seiner Wahl sofort die Arbeit auf und konzipiert die ersten Weiterbildungsveranstaltungen unter der Regie des Vereins. Der SWK tritt sofort nach seiner Gründung der sich gerade zur Dachgesellschaft umwandelnden Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V. (GPPMP, } Abschnitt 6.3.1) als korporatives Mitglied bei. Programmatisch beschließt die erste Mitgliederversammlung, »daß ein solcher sächsischer Weiterbildungsverein die traditionelle Philosophie der ostdeutschen Psychotherapie zu bewahren hätte, nämlich die Auffassung, 1. daß Psychotherapie eine einheitliche medizinische wissenschaftliche Disziplin ist, die mehr ist als eine Methode, d. h., daß der methodenübergreifende Aspekt von Psychotherapie zu pflegen und zu erhalten wäre, und 2. daß Psychotherapie von verschiedenen Berufsgruppen innerhalb der Medizin auszuüben wäre, und daß dieser berufsübergreifende Aspekt auch im SWK (im Gegensatz zum Konzept des ÄWK in Bayern) bestimmend sein sollte«.

Vorgeschichte Die Gründung des Sächsischen Weiterbildungskreises für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. (SWK) ist Bestandteil des in den obigen Beiträgen des Kapitels ausführlich beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesses, der einige Jahre vor der Wende beginnt. Sie ist aber nicht zuletzt auch das Ergebnis einer West-OstPartnerschaft mit dem Ärztlichen Weiterbildungskreis für Psychotherapie und Psychoanalyse München/Südbayern, die vier Jahre vor der Wende mit einem Treffen von mir mit dem Vorsitzenden des ÄWK, Reinhard Hirsch, Wesseling, der auch im Trägerverein der Lindauer Psychotherapiewoche aktiv ist, beginnt. Die zunächst lockere Beziehung intensiviert sich bereits einige Monate vor der Wende, als ich erstmalig an einer Lindauer Psychotherapiewoche teilnehmen kann. Wenige Tage nach der Grenzöffnung im November 1989 entsteht in einem Gespräch der Plan, einen Weiterbildungskreis nach dem Vorbild des ÄWK zu gründen. Reinhard Hirsch stellt seine Erfahrungen im Vereinsrecht und die Satzung des ÄWK

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

zur Verfügung. In wenigen Stunden wird die Satzung an die sächsischen Verhältnisse angepasst. Reinhard Hirsch lädt mich im Dezember 1989 zu einem Vortrag im ÄWK nach München ein. Bei dieser Gelegenheit versichert dessen Vorstand, die sächsische Gründung ideell und materiell unterstützen zu wollen. Bereits Anfang März 1990 erhalte ich im Vorgriff auf die Gründung des SWK einen wesentlichen Teil der Büroausstattung mit folgendem Vertrag überreicht: »[...] Der ÄWK übergibt als Dauerleihgabe [...] eine Computeranlage mit Drucker NEC-P2 Plus und Bildschirm. Das mitbenutzte ÄWK-Programm ist nur gesellschaftsintern zu verwenden [...]«. (Der Wert der Anlage ist heute nur erkennbar, wenn man bedenkt, dass damals im Osten ein Computer unerschwinglich war und die Anlage mit Software auch im Westen neu zwischen 10.000 und 20.000 DM gekostet hätte. Das ÄWK-Programm war eine speziell für den ÄWK programmierte Mitgliederverwaltungssoftware, die uns ebenfalls unzugänglich gewesen wäre.)

Die Herausforderungen der Wendezeit Zum Zeitpunkt der Gründung befinden sich bereits alle politischen und administrativen Strukturen im Osten im Umbruch. Es steht eine Fülle von Aufgaben an, die im Zusammenhang mit den sich neu bildenden politischen und fachpolitischen Strukturen auf dem Gebiet der DDR stehen. Nach der Volkskammerwahl im März 1990 und dem überzeugenden Votum der Bürger der DDR für die Linie Helmut Kohls überschlagen sich die politischen Ereignisse. Die Vereinigung Deutschlands rückt bereits ab April/Mai in greifbare Nähe, spätestens mit dem Beschluss zur Währungsunion, die in ungeheurer Geschwindigkeit bereits zum 30. Juni 1990 vorbereitet wird. Noch im ersten Halbjahr gründen sich Kassenärztliche Vereinigungen in der DDR mit Bezug zu Territorien, die den später gegründeten neuen Bundesländern entsprechen. Parallel werden Landesärztekammern nach dem Vorbild der westlichen Kammern gebildet. Beide Institutionen geraten unter immensen politischen Druck, in kürzester Zeit dem Westen ähnliche Strukturen aufzubauen und die Medizin im Osten der des Westens anzupassen. Eine paar Worte zu meiner persönlichen Lage in dieser Zeit: Ich gehöre zu den wenigen Universitätsprofessoren, die an der Medizinischen Fakultät Leipzig im Amt bleiben, die sowohl von den Mitarbeitern im Amt bestätigt werden als auch insgesamt vier Überprüfungen der Gauck-Behörde unbescholten überstehen. Damit bin ich zu diesem Zeitpunkt der einzige Hochschullehrer des Faches Psychosomatik/Psychotherapie der DDR, der im Amt geblieben ist und als Ansprechpartner für die Bundes- und Landesärztekammer, Länderministerien, Fachgesellschaften und Hochschullehrervereinigung des Fachgebietes zur Verfügung steht (nach der Vereinigung erhält auch Erdmuthe Fikentscher aus Halle/Saale einen Ruf auf eine Professur in Halle). Im PPP (Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik)-Ausschuss der Bundesärztekammer, in den ich zunächst kooptiert werde, kann ich behilflich sein, die Ärztliche Psychotherapieweiterbildung zwischen Ost und West zu harmonisieren. Die fach- und berufspolitischen Aufgaben im Zuge der Wiedervereinigung sind immens. Gleichzeitig kann ich mich nicht den Umstrukturierungsaufgaben an Fakultät und Universität entziehen und bin bis Ende der 1990er Jahre im Fakultätsrat und im Rektorat der

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Universität als Prorektor für Universitätsentwicklung mit dem Neuaufbau der Leipziger Universität beschäftigt. Jedenfalls bin ich damals viel mit dem Auto unterwegs, nämlich über 100.000 Kilometer im Jahr. An den neu gegründeten Weiter- und Fortbildungseinrichtungen bleibt uns nicht viel Zeit zur Einstimmung auf die neuen Verhältnisse. Es müssen sofort Ausbilder akkreditiert, Supervisoren und Lehrtherapeuten benannt werden. Kollegen, die sich niederlassen wollen, benötigen Zertifikate, die den neuen Bestimmungen und Richtlinien entsprechen, die sie der KV vorlegen können. Dazu müssen zunächst die Aussteller der Zertifikate legitimiert werden. Das bisherige zentrale Weiterbildungsgremium von GPPMP und Akademie für Ärztliche Fortbildung (Vorsitzender Werner König) verleiht der damaligen Handvoll Institutsgründer und Weiterbildungsleiter stationärer Psychotherapieeinrichtungen Anerkennungsbescheinigungen, die ihre Tätigkeit für die neuen Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern legitimieren. Der SWK wird noch vor der Vereinigung am 2. Oktober 1990 mit folgendem Schreiben ermächtigt: »[...] Der gemeinsame Weiterbildungsausschuß von GPPMP und Zentraler Fachkommission ›Psychotherapie‹ der Akademie für Ärztliche Fortbildung hat in seiner Sitzung vom 29.8.1990 den Antrag des Sächsischen Weiterbildungskreises für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. beraten. Der Weiterbildungsausschuß ist zu der Auffassung gekommen, daß die von Ihnen vertretene Institution die Gewähr bietet, auf folgenden Gebieten eine kompetente Weiterbildung zu leisten. 1. Weiterbildung zur ›Qualifizierung in Psychotherapie‹ bzw. zur Bereichsbezeichnung ›Psychotherapie‹. 2. Mitwirkung an der Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie (Weiterbildungsabschnitte, die nicht in der Weiterbildungseinrichtung erworben werden können), 3. Vermittlung von Kenntnissen an Ärzte zur Psychosomatischen Grundversorgung. 4. Weiterbildung von Psychologen mit dem Ziel der Zulassung zur Mitwirkung an der kassenärztlichen Versorgung im Rahmen des Delegationsverfahrens. Der Weiterbildungsausschuß wünscht der von Ihnen vertretenen Institution eine erfolgreiche Arbeit auf dem Gebiet der psychotherapeutischen Weiterbildung [...]« Schon kurz nach der Wiedervereinigung im Herbst 1990 kommt die psychotherapeutische ambulante Versorgung in Ostdeutschland durch eine erste Niederlassungswelle in Gang. Ein Anhang zum Bundesmantelvertrag – Ärzte regelt die Anwendung des Vertrages in den Bereichen der Kassenärztlichen Vereinigungen der neuen Bundesländer und Ostberlins und nimmt explizit Bezug auf die Rolle der 12er-Kommission von GPPMP und Berufsverband: »Bestehen [...] Zweifel an der Qualifizierung, können die Kassenärztlichen Vereinigungen im Vertragsgebiet Ost ein Sachverständigengremium zu Rate ziehen, das aus Vertretern des Berufsverbandes der Psychotherapeuten und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie besteht«. Diese Regelung, auf die im Einheitsvertrag Bezug genommen wird, muss allerdings in den neuen Bundesländern durchgesetzt werden. In meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Gesellschaft für Psychotherapie, Psycho-

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

somatik und Medizinische Psychologie e. V. und einer der Vorsitzenden des Sachverständigengremiums entwerfe ich einen Brief, den gleichlautend alle Vorsitzenden der regionalen Gliederungen der GPPMP verwenden können. Damit wende ich mich an die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen, die bis Ende 1990 keine Anstalten macht, uns als Sachverständige zu Rate zu ziehen: »[...] Es besteht Anlaß zur Sorge, daß die Versorgung psychotherapiebedürftiger Patienten im Lande Sachsen ungenügend gewährleistet ist, weil eine Reihe von grundsätzlichen Fragen der Leistungsabrechnung, der Niederlassung, der Teilniederlassung und der Ermächtigung für Ärzte und Psychologen im Fachgebiet Psychotherapie/Psychosomatische Medizin nicht geklärt sind. Zur psychologischen Psychotherapie: Im Anhang zum Bundesmantelvertrag – Ärzte (BMV-Ä) §12 Psychotherapie Anlage 1 ist festgelegt, daß die Kassenärztlichen Vereinigungen im Vertragsgebiet Ost ein Sachverständigengremium zu Rate ziehen, das strittige Fragen der Qualifizierung nichtärztlicher Psychotherapeuten klären soll und der Kassenärztlichen Vereinigung gegenüber eine Stellungnahme dazu abzugeben hat. In Absprache mit der Kassenärztlichen Bundesvereinigung besteht ein von dieser autorisiertes Sachverständigengremium, das aus Vertretern des Berufsverbandes und der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V. zusammengesetzt ist. Die Kommission hat folgende Mitglieder für das Land Sachsen: [...] [hier folgt die Aufzählung der Namen und Adressen] In meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V. und einer der Vorsitzenden des Sachverständigengremiums bitte ich Sie, die obengenannten Mitglieder dieser Kommission im Sinne der beschlossenen Übergangsregelung im Anhang zum BMV-Ä bei allen strittigen Fragen der Qualifizierung nichtärztlicher Psychotherapeuten zu Rate zu ziehen. Wir würden empfehlen, daß die Bezirksstellen sich der entsprechenden Mitglieder des Gremiums, die im Bereich der Bezirksstelle angesiedelt sind, bedienen. Aus diesem Grund übersenden wir Kopien dieses Schreibens an jede einzelne Bezirksstelle. Zur ärztlichen Psychotherapie: Bezugnehmend auf unser Schreiben an die KV Sachsen vom 5.12.1990 möchten wir als Vertreter der Fachverbände, die Ihnen als Konsultationspartner für die ärztlichen Belange der Psychotherapie zur Verfügung stehen, folgende Personen annoncieren [...] [hier folgt die Aufzählung der Namen und Adressen]«. Auf diesen Brief hin kommt die Zusammenarbeit in Gang und es entstehen die ersten freiberuflichen Praxen für ärztliche und im damals üblichen Delegationsverfahren tätige Psychologische Psychotherapeuten. In Kooperation mit der sich bildenden Weiterbildungskommission der Sächsischen Landesärztekammer, deren Vorsitzender Prof. Dr. Gruber, ein psychotherapeutisch weitergebildeter Internist und Psychosomatiker der Leipziger Universität wird, werden noch 1990 alle notwendigen psychotherapeutisch/psychosomatischen Prüfungskommissionen berufen, die sofort die Arbeit aufnehmen.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Der SWK als Forum der Aus-, Weiter- und Fortbildung in Sachsen Parallel zu den organisatorisch-administrativen Bemühungen der eigenen Legitimierung als Weiter- und Fortbildungsinstitution muss der SWK den sofort mit der Verabschiedung des Einigungsvertrags in Gang kommenden »Nachqualifizierungsbedarf« der Ärzte und Psychologen befriedigen. Nach dem Vorbild des Ärztlichen Weiterbildungskreises München/ Südbayern wird schon im Herbstsemester 1990 das erste Programmheft mit mehr als 20 Weiterbildungsangeboten versandt. Die Jahresgebühr einer Mitgliedschaft im SWK kostet 50 DM (2010 immer noch 26 Euro) und berechtigt zur preiswerten Inanspruchnahme der Bildungsangebote (zunächst ca. 10 DM pro Stunde). Viele Angebote sind überbucht, so dass zusätzliche Kurse eingerichtet werden müssen. Am Ende des Gründungsjahres 1990 zählt der SWK bereits über 380 Mitglieder. Er wächst jährlich in dieser Größenordnung: 1992 hat er 645, 1995 1176, 1996 bereits 1280 und1997 schließlich 1450 Mitglieder. Seitdem verharrt er auf diesem Niveau. Pro Semester nehmen seit 1995 ca. 700 Mitglieder mit durchschnittlich zwei Kursbelegungen die Angebote des SWK in Anspruch. In der ersten Phase geht es in erster Linie um die Nachqualifizierung unserer Mitglieder, die fast alle bereits psychotherapeutisch auf ihrem jeweiligen Level tätig waren. Hauptberuflich tätige ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten brauchten je nach Herkunft noch Selbsterfahrung, Supervision oder Theorie, um innerhalb der Übergangsbestimmungen ihre Abschlüsse zu erhalten, die ihre Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung garantierten. Allgemeinärzte und Internisten benötigten noch Balint-Gruppenarbeit oder Entspannungsverfahren für ihre Teilnahme an der Psychosomatischen Grundversorgung. Ärzte jeglicher Fachrichtung wollen ihre Weiterbildung komplettieren, um die Zusatzbezeichnung »Psychotherapie« zu erwerben, da dieser Nachweis jetzt auch ökonomisch interessant wird, nachdem es zu DDR-Zeiten ausreichte, auch ohne Ausbildungsnachweis zu arbeiten. In einer zweiten Phase, nach der Befriedigung dieser Bedürfnisse nach Nachqualifizierung, etwa 1994, wächst das Interesse besonders der jüngeren Kolleginnen und Kollegen nach einer regulären Ausbildung gemäß den gesetzlich festgelegten Weiterbildungsordnungen. In diesem Zusammenhang entwickelt der SWK dann das heutige System einer Verbindung von Baukasten-Angeboten mit einer curriculären Vollausbildung. Von Anfang an ergibt sich dabei eine Zusammenarbeit mit dem Sächsischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V., was durch die Personalunion einiger Vorstandsmitglieder beider Institute begünstigt wird. Aus-, Weiter- und Fortbildung kommen somit in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander. Im ersten Jahr seines Bestehens bietet der SWK seine Seminare, Kurse und Vorlesungen in den Räumen der Leipziger Universität oder in Praxisräumen der Dozenten an. Schon bald muss jedoch eine Geschäftsstelle mit einer festangestellten Geschäftsführerin (bis 1996 Helga Bartz, danach bis heute Barbara Manigk) eingerichtet werden. Da der SWK trotz moderater Preise rasch Rücklagen im sechsstelligen Bereich bildet, kann 1996 eine eigene Immobilie mit mehreren Seminarräumen erworben werden, die seitdem die zentrale Geschäftsführung beherbergt. Die anfängliche Konzentration auf Leipzig als Ort der Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen erweist sich in den folgenden Semestern als ungünstig, da die Teilnehmer aus den

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

ost- und nordsächsischen Regionen angesichts der Straßen- und Verkehrsverhältnisse zu lange Wege bewältigen müssen. Im Zuge der notwendigen Dezentralisierung werden zunächst Kurse in Dresden, später auch in Chemnitz angeboten. Auch das Mitgliederleben der jeweiligen Regionen konzentriert sich auf die Hauptorte der drei sächsischen Regierungsbezirke Leipzig, Dresden und Chemnitz. Der SWK wächst in atemberaubendem Tempo und überholt in puncto Mitgliederzahl bereits 1994 sein bayerisches Vorbild (ÄWK) mit 800 regulären Mitgliedern. Bis 1998 sind es 1450 Ärzte, Psychologen und andere therapeutisch tätige Berufsgruppen, die als Mitglieder den SWK nutzen.

Kooperationsbeziehungen mit anderen Gesellschaften und der Universität Leipzig Der SWK tritt kaum als Veranstalter von Tagungen und Kongressen in Erscheinung, aber er kooperiert mit wissenschaftlichen Gesellschaften und Einrichtungen, um seine Angebots­ palette jeweils wissenschaftlich attraktiv zu halten. So kooperiert er mit den Veranstaltern der Weimarer/Erfurter Psychotherapiewoche und der GPPMP und gründet bereits 1994 zusammen mit Einrichtungen der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig das »Leipziger Kolloquium für Psychosoziale und Psychotherapeutische Medizin«, zu dem monatlich bekannte Wissenschaftler des Gebietes eingeladen werden. Mit dem Psychologischen Institut der Universität Leipzig entwickelt sich über das später gegründete methodenübergreifende Institut für Psychologische Psychotherapie e. V. eine langjährige kooperative Beziehung (} Abschnitt 6.5.1.2).

Die weitere Entwicklung und Ausblick Es zeigt sich, dass die sich entwickelnden drei Standorte unterschiedlichen Aus- und Weiterbildungsanforderungen Rechnung zu tragen haben. Nach der Verabschiedung des Psychotherapeutengesetzes 1998 gliedert sich der SWK neu. Angesichts des Vorhandenseins eines großen analytischen Instituts in Leipzig (s. meinen Beitrag über das SPP } Abschnitt 6.5.1.2) fokussiert der Leipziger Zweig des SWK die methodenübergreifende ärztliche Weiterbildung und die psychologische Fortbildung, während die psychologische Ausbildung nach dem Psychotherapeutengesetz im SPP beheimatet ist. In Dresden und Chemnitz entwickeln sich unter dem Dach des SWK dagegen Institute, die sowohl die ärztliche als auch die psychologische Aus-, Weiter- und Fortbildung unter einem Dach betreiben (über das Dresdner Institut berichtet Böttcher in diesem Kapitel). Die Neuregelung der Ausbildung des Psychologischen Psychotherapeuten 1998 forciert diesen Prozess. So benötigt der SWK eine neue Satzung, die diese Aufgliederung in Regionalinstitute mit eigenen Vorständen, Ausbildungsausschüssen und Budgets regelt. 1999 übernimmt der SWK den Fachbereich Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie im an der Leipziger Universität neu gegründeten Institut für Psychologische Psychotherapie e. V., das alle Richtlinien-Verfahren unter einem Dach beheimatet und eine gemeinsame theoretische Grundausbildung nach dem Psychotherapeutengesetz anbietet. Insgesamt verkörpert der SWK e. V. nach wie vor die Idee einer Bildungseinrichtung, die an die berufs- und methodenübergreifenden Traditionen der östlichen Bundesländer

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

anknüpft und sie mit der jetzt gesamtdeutschen psychotherapeutischen Bildungslandschaft verknüpft.

6.4.1.2 Ernst Wachter und Helga Hess: Der Weiterbildungskreis in SachsenAnhalt e. V. Die sog. Wende brachte sowohl inhaltliche als auch eine strukturelle Änderung im Hinblick auf die psychotherapeutische Aus-, Weiter- und Fortbildung sowie die psychotherapeutische Versorgung mit sich. Im November 1990 wurde der Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie im Land Sachsen-Anhalt (WBK) als eingetragener Verein gegründet. Er ging im Wesentlichen aus der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Magdeburg sowie der Regionalgesellschaft des Bezirks Halle/Saale hervor, der die bisherigen Lehrtherapeuten und Dozenten insbesondere der Bezirke Magdeburg und Halle umfasste. Die Ziele der Weiterbildung waren die Erlangung des Abschlusses des Kurses »Psychosomatische Grundversorgung«; der Zusatztitel »Psychotherapie«; der Zusatztitel »Psychoanalyse« sowie der Titel »Klinischer Psychologe«. Die entsprechenden Ausbildungsbausteine wurden im Rahmen einer Weiterbildungsordnung geregelt. Grundlage dieser waren die Psychotherapie-Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen in der Fassung vom 4. Mai 1990 sowie die Psychotherapie-Vereinbarung der Übergangsregelungen für das Vertragsgebiet Ost (Anlage BMV-Ä). Für auszubildende Ärzte und nichtärztliche Psychotherapeuten (im Delegationsverfahren) wurden die entsprechenden Ausbildungsbedingungen formuliert, ebenso die Übergangsregelungen für die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – Arbeit bei Kindern und Jugendlichen. Es wurden Kriterien für Bewerbungs- und Auswahlverfahren sowie die Prüfungen formuliert und die Inhalte der theoretischen und praktischen Aus- und Weiterbildung festgelegt. Im Rahmen der praktischen Weiterbildung wurden auch die Aufgaben der Kontrolltherapeuten definiert. Es wurde der zeitliche Ausbildungsverlauf bestimmt sowie schließlich der Prüfungsmodus: Zwischenprüfung, die Vorlage von Nachweisen, Form und Inhalt einer schriftlichen sowie mündlichen Prüfung. Als eingetragener Verein mit Sitz in Haldensleben wurde zugleich eine Satzung festgelegt, in der Zweck und Gemeinnützigkeit, Mitgliedschaft, Mitgliedsbeiträge, der Vorstand, die Mitgliederversammlung und deren Aufgaben, mögliche Beiratsbildungen sowie Kriterien der Auflösung dargelegt. Am 31. August 1990 trat diese Satzung in Kraft. Zum ersten Vorstand gehörten: Dr. Ernst Wachter, Haldensleben, 1. Vorsitzender; Dr. phil. Bernd Thomas, Halle, 2. Vorsitzender; Dr. med. Paul Franke, Magdeburg, 3. Vorsitzender; Dr. rer. nat. habil. Helga Hess, Haldensleben, Sekretär; Dr. med. Ulrich Bahrke, Halle, Schatzmeister. Zu den Dozenten und Ausbildern gehörten vor allem Kollegen aus drei Krankenhauseinrichtungen sowie zwei universitären Einrichtungen aus Sachsen-Anhalt. Außer dem Ausbildungskollegium aus diesen Einrichtungen gab es mehrere Dozenten und Ausbilder, die ehemals zum Teil ambulant in Polikliniken gearbeitet und sich jetzt nach der Wende bereits niedergelassen hatten. Für Hospitationen standen für Psychotherapie bei Erwachsenen vier, für Kinder und Jugendlichenpsychotherapie zwei Einrichtungen, für suchtspezifische Therapie zwei Hospitationseinrichtungen zur Verfügung. Der Lehrkörper umfasste im Kern 34 Dozenten bzw. Ausbilder.

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

Die Geschäftsstelle des Weiterbildungskreises in Haldensleben gab für je zwei Semester, also einmal jährlich, ein Veranstaltungs- bzw. Informationsheft heraus. Traditionell wurden aufgrund der guten Bewährung die Kurse für die Psychosomatische Grundversorgung in Waldrogäsen weitergeführt. Die Theorieseminare wurden in Halle/Saale sowie in Haldensleben – gebündelt – wöchentlich bzw. als Blockseminar vierwöchentlich durchgeführt. Die Zeit des Aufbruchs zeigte sich hier nun in der möglichen Öffentlichmachung und dem offenen Bekenntnis zu psychoanalytischen und psychodynamischen Theorien. Nützlich für die Gestaltung des Weiterbildungskreises war die kollegiale Zusammenarbeit mit dem Göttinger Institut in Tiefenbrunn. Einerseits unterstützten sie den Weiterbildungskreis in Haldensleben durch Übernahme von Referaten, insbesondere zu Themen der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, wobei sie auch ihre Form der Therapie darstellten. Andererseits lernten wir Organisatoren des WBK die Arbeit in Tiefenbrunn kennen – durch persönliche Teilnahme an deren Weiterbildungskursen einschließlich Selbsterfahrung (H. Hess) sowie der vollständigen dreijährigen theoretischen und praktischen Ausbildungsform eines Selbsterfahrungsseminars bei Karl König (K. und E. Wachter). Eine Bereicherung für Halle stellte die Gastprofessur des Psychoanalytikers Prof. Klaus D. Hoppe aus Los Angeles in den Jahren 1993–1995 in Halle dar. Die Blockseminare in Haldensleben mit anfangs bis zu 70 Hörern führten u. a. zu einem intensiven Kennenlernen der Auszubildenden untereinander und trugen damit zu einer angenehmen, vertrauten Arbeitsatmosphäre bei. Die Balint-Gruppenarbeit verteilte sich bereits von Beginn an auf die Orte der acht Balint-Gruppenleiter – Halle, Haldensleben, Magdeburg, Uchtspringe, Elbingerode. Ebenso erfolgte die Ausbildung in analytischer bzw. tiefenpsychologischer Dyade am Ort der insgesamt sieben Lehrtherapeuten. Gruppenpsychotherapeutische Selbsterfahrung fand örtlich zum Teil bei entsprechenden Trainern, z. B. bei dem sehr engagierten Bernhard Schmitt in Eisleben, häufig auch zentral im Rahmen der Sektion Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie unter Heinz Benkenstein im Rahmen der Kommunitäten statt. Darüber hinaus wurden Ausbildungsmöglichkeiten in Verhaltenstherapie (drei Ausbilder), Autogenem Training und Hypnose (acht Ausbilder), Katathymen Bilderleben (neun Ausbilder), Gesprächstherapie (ein Ausbilder) angeboten. Im Rahmen des Informationsheftes erfolgte jeweils auch die Ankündigung von Spezialseminaren, Vorträgen, Symposien oder Kongressen. Am 11. September 1993 wurde das Mitteldeutsche Institut für Psychotherapie und ­Psychoanalyse Halle/e. V. (MIP Halle e. V., unter Achim Maaz und Heinz Hennig) gegründet. Damit differenzierte sich die Arbeit des Weiterbildungskreises zunehmend. Angebote des WBK erfolgten jetzt in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit dem MIP. Das Informationsheft des WBK fungierte ab 1995/96 vorübergehend als Informationsblatt für beide Vereine, sowohl den WBK als auch das MIP. Theorieangebote für alle Weiterbildungseinrichtungen wurden jetzt komplex über drei Jahre angeboten unter Angabe ihrer spezifischen Zielgruppen. Entsprechend erfolgte eine Satzungsänderung des WBK am 10. Dezember 1993 gegenüber der ursprünglichen Satzung vom 31. August 1990. Die Theorieseminare wurden jetzt anfangs am Ort des Referenten, danach in Halle, in Räumen des MIP durchgeführt. Die Arbeitsdifferenzierung zeigte sich darin, dass alle Selbsterfahrungsanteile, z. B. Lehrerfahrung und Lehranalyse in der Dyade, die Selbsterfahrung in Gruppen sowie die

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Supervision vom MIP getragen wurden. Es wurde ein Studienbuch eingeführt. Als Ziel der Ausbildung des MIP wurde der Erwerb der Befähigung zu selbständiger Ausübung in analytischer Psychotherapie genannt. Der Weiterbildungskreis orientierte sich stärker auf die Ausbildung von Ärzten aller Fachgebiete und Psychologen, um eine möglichst hohe psychotherapeutische Kompetenz aller Ärzte zu erreichen. Im Jahre 1997/98 zeigte sich auch an der nunmehr veränderten Zusammensetzung des Vorstandes des WBK diese Weiterentwicklung: 1. Vorsitzender war Dr. med. Ulrich Bahrke, Martin-Luther-Universität Halle, Schatzmeister beider Vorstände wurde Dr. phil. Wolfram Rosendahl, ebenfalls Halle. Im Jahre 1998 ging der Weiterbildungskreis mit seinen Aufgaben gänzlich im Mitteldeutschen Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse (MIP) auf. In Magdeburg bildete sich durch die Übernahme der psychotherapeutischen Abteilung der Otto-von-Guericke-Universität und Erlangung einer Professur für Psychosomatische Medizin durch Prof. Frommer aus Düsseldorf ein weiteres psychoanalytisches Ausbildungsinstitut, dem jetzt auch Paul Franke, Ludwig Drees und Ernst Wachter (außerordentliches Mitglied) angehören. Die Bildung des Weiterbildungskreises (WBK Sachsen-Anhalt e. V.) war eine engagierte Lösung im Übergang bis zu den sich nach der Wende neu konstituierenden Ausbildungs­ instituten. Sie hatte den Vorteil, dass das gesamte Potential an Lehrkräften der unterschiedlichsten psychotherapeutischen Fachrichtungen der ehemaligen Bezirke Magdeburg und Halle nach der Wende aufgefangen wurde. Insbesondere die Weiterführung der Grundkurse in Psychotherapie für Ärzte aller Fachrichtungen – als ehemals sog. kleine Psychotherapie – sowie die Balint-Gruppenarbeit bewirkten eine breite Aufgeschlossenheit für psychotherapeutisches Gedankengut in der gesamten Medizin, insbesondere bei den ambulant ­tätigen Haus- und Fachärzten von Sachsen-Anhalt.

6.4.1.3 Roger Kirchner, Frank F. Schiefer und Rainer Suske: Gründung der Brandenburgischen Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie in Cottbus In der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (später Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie) entwickelten sich in den drei Bezirken des heutigen Landes Brandenburg jeweils Regionalgesellschaften für Psychotherapie. Diese nahmen neben der Fortbildung von Ärzten und Psychologen die Weiterbildung von Ärzten auf dem Gebiet der Psychosomatik und Medizinischen Psychologie im Rahmen der Facharztweiterbildung Allgemeinmedizin, Frauenheilkunde und Psychiatrie (und Innere Medizin) wahr. Die Weiterbildung zum 1978 in der DDR etablierten Facharzt für Psychotherapie und zur fachspezifischen Psychotherapie für klinische Fächer führten im heutigen Brandenburg das Zentrum für Psychosoziale Medizin Cottbus (Leitung: Roger Kirchner), das Bergmannskrankenhaus Klettwitz (Frank-Frieder Schiefer) sowie die Rehabilitationsklinik Neu Fahrland (Leitung: Dieter Seefeldt) durch. Mit der Auflösung der DDR in den Jahren 1989/90 wurde allmählich klar, dass der gesellschaftliche Systemwandel neben der klinischen Facharztweiterbildung Psychotherapie die psychotherapeutische und psychoanalytische Weiterbildung von Ärzten und Psychologen in Privatinstituten erforderlich macht. So gründeten am 28. Juli 1990 auf Einladung von

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

Roger Kirchner in Cottbus 15 Ärzte und Psychologen aus den Bezirken Potsdam, Frankfurt/ Oder und Cottbus die Brandenburgische Akademie für psychosoziale Weiter- und For­ tbildung, deren Ziel wir zunächst darin sahen, Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter in ­Tiefenpsychologie (insbesondere Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie und Psychodynamischer Einzeltherapie), Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie zu qualifizieren. Wenngleich unserem psychotherapeutischen Selbstverständnis eine psycho­ dynamische Haltung zugrunde lag, waren wir doch sowohl durch die Ausbildung bei Kurt Höck und Harro Wendt als auch im wissenschaftlichen Diskurs in den Psychothera­ piegesellschaften über die Tiefenpsychologie hinaus in Humanistischer Psychologie und Verhaltenstherapie ausgebildet, so dass wir zu diesem Zeitpunkt noch die Idee von einem Ausbildungszentrum für Brandenburg und für alle Therapierichtungen unter einem Dach hatten. Die Verhaltenstherapeuten wollten schließlich aber nicht mitwirken, nachdem sie sich in der westdeutschen Weiterbildungslandschaft hinreichend kundig gemacht hatten und offenbar erkannten, dass integrierte schulübergreifende Psychotherapie-Ausbildung zu dem Zeitpunkt in Deutschland nicht gefragt war. Die Gesprächspsychotherapeuten (Humanistische Psychologie) hatten in Brandenburg keine Strukturen entwickelt und waren für die kassenärztliche Versorgung nicht zugelassen. Zum Vorsitzenden der Akademie wurde Roger Kirchner, Cottbus (Facharzt für Psychotherapie und Frauenheilkunde), gewählt. Stellvertreter wurden Wolfram Zimmermann, Bernau (Fachpsychologe der Medizin), und Hans Kerber, Luckenwalde (Facharzt für Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologie). Frieder Pickert, Frankfurt/Oder (Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und für Psychotherapeutische Medizin) wurde der 3. Stellvertreter und Geschäftsführer. Kerber und Kirchner waren bereits Gruppentrainer in den Selbsterfahrungskommunitäten bei Höck. So begannen wir 1991 mit der Qualifikation von Psychologen und Ärzten nach den vom Ausschuss Ärzte und Krankenkassen der KBV beschlossenen Übergangsregelungen zur Anerkennung psychotherapeutischer Leistungen von ostdeutschen Psychotherapeuten in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Wir qualifizierten ca. 50 Psychologen mit jeweils 250 Stunden Selbsterfahrung (mindestens 50 Stunden Einzelselbsterfahrung und 200 Stunden Gruppenselbsterfahrung) sowie 250 Stunden Supervision in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie. Zugleich führten wir die Kurse für Psychosomatische Grundversorgung durch, die wir im ehemaligen Bezirk Cottbus entwickelten und die schließlich 1992 für ganz Deutschland eingeführt wurden (30 Stunden Einübung von Interventionstechniken, 30 Stunden Balint-Gruppenarbeit, 20 Stunden Theorie). Mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie in Halle (eine Gesellschaft der ostdeutschen analytischen Aus- und Weiterbildungsinstitute) wurde uns klar, dass die Konzentration auf die Ausbildung von Ärzten und Psychologen in Tiefenpsychologie und analytischer Psychotherapie notwendig ist. Zum einen führte dies zur Ausund Weiterbildung von Ärzten in Tiefenpsychologie ab 1993 (Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Zusatzbezeichnung Psychotherapie). Zum anderen konzipierten wir ein Curriculum analytische Psychotherapie, welches erstmals1998 umgesetzt werden konnte.

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Unser Institut benannten wir in Brandenburgische Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie um. Tiefenpsychologie verstanden hierbei als übergreifendes Gebiet, welche alle psychodynamischen Theorien und Behandlungen umfasst. Den Begriff analytische Psychotherapie wählten wir, weil wir uns hinsichtlich der Psychoanalyse auf die psychoanalytische Krankenbehandlung konzentrieren wollten. Der Gruppenprozess innerhalb der Akademie verlief natürlich nicht konfliktfrei. Insbesondere die Beziehungen zwischen ostdeutschen und westdeutschen Psychotherapeuten bzw. Psychoanalytikern hatte eine besondere Dynamik. Gelungene erste Versuche des Verstehens der Zeit nach der deutschen Vereinigung erlebten wir auf ersten wissenschaftlichen Tagungen der Lausitzer Gesellschaft für Psychotherapie in Cottbus und in Potsdam oder des Deutschen Arbeitskreises für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie in Berlin. Eine fruchtbarere Atmosphäre wurde »exterritorial« während der Montecatini-Kongresse in Montecatini Terme, Toskana, ermöglicht, die sechsmal von der Landesärztekammer Brandenburg, der Bundesärztekammer, der Österreichischen Ärztekammer bzw. Schweizer Ärztevereinigung unter maßgeblicher Mitverantwortung der Brandenburgischen Akademie und des Deutschen Arbeitskreises für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie veranstaltet wurden. Hier durften wir, unterstützt durch die milde und in der Begegnung mit bedeutsamer Geschichte mehr Gelassenheit vermittelnde Atmosphäre der Toskana wie durch die gleichzeitige Teilnahme von Deutschen, Österreichern, Schweizern und Italienern mit erkennbarer und erlebter gegenseitiger Akzeptanz und gegenseitigem Respekt in den verschiedenen psychotherapeutischen Kursen, in Gruppenselbsterfahrung und bei Referaten und Diskussionen miteinander Arbeitserfahrungen unter unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen austauschen. Aber das waren eben immer nur zwei Wochen. Wie wäre das wohl nach 20 Jahren kontinuierlicher Zusammenarbeit gewesen? In den vergangenen 20 Jahren bildeten wir 250 Ärzte und Psychologen in Tiefenpsychologie und analytischer Psychotherapie aus. 310 Teilnehmer erhielten eine Gruppenselbsterfahrung in Gruppenanalyse (Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie) und 700 Ärzte erhielten eine Qualifizierung in Psychosomatischer Grundversorgung. 140 Ärzte und Psychologen erlernten Hypnose zu Heilzwecken oder Katathymes Bilderleben als psychotherapeutisches Zweitverfahren. Unsere Ausbildungstätigkeit hat sich beginnend in den 1980er Jahren gewandelt. Waren wir bis dahin mit unserer Wahrnehmung besonders auf das Hier und Jetzt, therapeutische Beziehung, die Übertragung-, Gegenübertragungs-Inszenierung fokussiert, so haben wir allmählich zunehmend frühkindliche Erfahrungen und Erinnerungen der Patienten in den Therapieprozess einbezogen, eine Entwicklung, die wir nachgeholt haben, zu einem Zeitpunkt, da andere begannen übertragungsfokussierte Behandlungen zu entwickeln. Mit der Einführung der Rollenspiele mit Tonband- und Videoaufzeichnungen in die Psychosomatische Grundversorgung erfuhren wir, wie wichtig das unmittelbare Beziehungserleben der Ausbildungskandidaten neben der Selbsterfahrung auch in der Therapeut-Patienten-Beziehung ist. So führten wir Anfang der 1990er Jahre die Rollenspiele obligatorisch in die Ausbildung ein und setzten sie an den Beginn vor die Theorievermittlung. Auch in der Gruppenselbsterfahrung vollzog sich seit der Mitte der 1980er Jahre eine Veränderung dahingehend, dass regressive Prozesse vielmehr Raum erhalten und biographische Arbeit

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

ausreichend möglich wird. Begünstigt wurde dies durch Förderung der Mutter- und VaterÜbertragung mittels situationsgemäßen Verhaltens des Gruppenanalytiker-Paares. Nach unserer Auffassung sind die Veränderungen in unseren Therapie- und Ausbildungsprozessen maßgeblich das Ergebnis veränderter gesellschaftlicher und Arbeitsbedingungen in Folge der deutschen Vereinigungen. Hierzu trugen die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen der Akademie bei, die letztlich auch Identität stifteten.

6.4.2 Michael Geyer, Werner König und Heinz Hennig: Die Weimarer Psychotherapiewoche55 Die zur Angleichung an die Psychotherapie-Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherungen noch 1990 erlassenen Übergangsregelungen für die Nachqualifizierungen ostdeutscher Psychotherapeuten hatten ab 1991 einen Ansturm ostdeutscher Kolleginnen und Kollegen auf die psychotherapeutischen Bildungseinrichtungen in den neuen Bundesländern zur Folge. Es entstand im Osten, wo regionale Institute und Weiterbildungskreise gerade im Aufbau waren, ein akuter Mangel an dringend notwendigen Bildungsangeboten. Die Gründung einer Psychotherapiewoche auch auf dem Gebiet der neuen Bundesländer nach dem Vorbild der außerordentlich erfolgreichen Lindauer Psychotherapiewochen, wo in mehrtägigen Blockveranstaltungen Bestandteile der zur Nachqualifizierung erforderlichen Bildungsinhalte in konzentrierter Form in Anspruch genommen werden konnten, lag also nahe. Die drei Verfasser dieses Beitrages hatten seit der Wende verschiedentlich Kontakt mit den Veranstaltern der Lindauer Psychotherapiewochen und der Langeooger Psychotherapiewoche und selbst auch an diesen Veranstaltungen als Dozenten mitgewirkt, also auch eine gewisse eigene Erfahrung mit dem Veranstaltungstyp »Psychotherapiewoche« gesammelt. Nach monatelanger Diskussion über den bestgelegenen Veranstaltungsort und geeignete Mitstreiter – und immer wieder unterbrochen durch vielfältige berufs- und fachpoli­ tische Aktivitäten der Akteure in dieser aufregenden Wende- und Aufbauzeit – kam es am 8. September 1992 schließlich zu einem Treffen von zehn Personen im sog. Ahnensaal der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik der Uni Leipzig, bei der der Trägerverein für eine ostdeutsche Psychotherapiewoche gegründet werden sollte. Rita Kielhorn, Westberlin, Reinhard Hirsch, Wesseling bei München, und Wolfgang Senf, alle erfahren in der Organisation derartiger Veranstaltungen, hatten ihre Hilfe angeboten, aktiv bei der Findung der geeigneten Satzung geholfen (unsere Satzung war eine getreue Kopie der Satzung des Trägervereins der Lindauer Psychotherapiewochen) und waren zur Gründungsversammlung angereist. Als Veranstaltungsort einer ostdeutschen Psychotherapiewoche kam nur ein in Ost und West gleichermaßen akzeptierter Ort in der Mitte Deutschlands in Frage. Weimar schien in ganz Deutschland nicht nur bekannt, sondern auch gut erreichbar. Aus den neuen Bundesländer nahmen neben den drei Verfassern des Beitrages Erd­ muthe Fikentscher, Halle, Margit Venner, Jena, H. Fried Böttcher, Dresden, und Sigmar 55 Seit 2007 wird die Psychotherapiewoche in Erfurt als »Erfurter Psychotherapiewoche« durchgeführt.

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Scheerer, Heinersdorf teil. Die vielbeschäftigten und eigentlich mit einer weiteren Aktivität überforderten Teilnehmer der Versammlung versuchen, eine akzeptable Form der Arbeitsverteilung im Vorstand zu finden. Es wird verabredet, dass das Amt des 1. Vorsitzenden regelmäßig rotieren soll. Damit erklären sich die potentiellen Vorsitzenden einverstanden und der Gründungsakt wird vollzogen. Das Gründungsprotokoll vermerkt, dass »von den Herren Geyer, Hennig und König [...] die Ziele der Vereinigung erklärt und ein Statut vorgelegt« wurde. Als erster »Vorsitzender der Vereinigung wird Herr König, als zweiter Vorsitzender Herr Geyer und als dritter Vorsitzender Herr Hennig gewählt, als weitere Vorstandsmitglieder Herr Böttcher und Herr Hirsch. Es wird eine vorläufige Begrenzung der Mitgliederzahl auf 12 beschlossen«. Der Verein wurde aufgrund der damals völlig überforderten Registergerichte erst ein halbes Jahr später, am 30. März 1993, in das Vereinsregister eingetragen. Schon die erste »Weimarer Psychotherapiewoche« (WPW), die gar nicht in Weimar, sondern in einem nahe der Autobahn gelegenen Hotel 10 km vor Weimar stattfand, war mit 350 Teilnehmern sowohl wissenschaftlich als auch wirtschaftlich ein Erfolg. In der 1. WPW wurden neben täglichen Plenarvorträgen 15 Seminare angeboten. Eine Vorlesungsreihe Psychosomatische Medizin und fünf Balint-Gruppen wandten sich vorwiegend an Teilnehmer, die die Anerkennung »Psychosomatische Grundversorgung« erwerben wollten. Die Hauptvorträge der ersten Woche waren »Familiendynamik und Familientherapie bei psychosomatischen Erkrankungen« (Wirsching), »Krankheit im Kontext neuer Orientierungen und Verluste im deutsch-deutschen Einigungsprozeß« (Geyer), »Der Ambivalenzkonflikt des Ulcuskranken« (Zander), »Behandlungsergebnisse analytischer Psychotherapie« (Senf), »Dynamische Psychotherapie bei sog. Borderlinepatienten« (Lieberz), »Altern und Wandel – Psychosoziale und psychotherapeutische Aspekte älterer Menschen im gesellschaftlichen Umbruch« (Fikentscher). Ab der 6. Tagung gab es dann Rahmenthemen wie »Der Zugang zum Problempatienten«, »Konflikt, Trauma, Defizit« und »Wer braucht welche Psychotherapie?«. Auch Probleme, die die Grenzen unseres Fachgebietes überschreiten, z. B. »Psychotherapie zwischen Anpassung und Aufbegehren« oder »Industrialisierung der Psychotherapie«, wurden im Leitthema fokussiert. Es zeigte sich, dass das Gründungskonzept der WPW, ziemlich genau in der geogra­ phischen Mitte zu tagen, aufging. Während Lindau und Langeoog durch die landschaft­liche Lage anziehen, so hatte doch Weimar viele kulturhistorische Anziehungspunkte. Wenn man in Lindau stolz berichten konnte, dass dort einmal sogar ein Reichstag stattfand, so hatte Weimar doch den III. psychoanalytischen Kongress beherbergt, der uns näher lag als ein mittelalterlicher Reichstag und aus dessen Festgruß von 1911 (Freud 1914) wir bei der Eröffnung der Weimer Psychotherapiewoche zitieren konnten: »Wir haben alle das Bedürfnis zu fühlen, dass wir nicht allein sind und dass wir einer großen Schule angehören, deren Jünger über die ganze Erde verbreitet sind. Jeder Einzelne von uns steht gegen eine Weilt von Widersachern und muss sich der Gegner behaupten und für seine Überzeugung schwere Opfer ideeller und manchmal auch materieller Natur bringen. Wir wissen es, dass unser die Zukunft ist. Allein der Mensch kann ohne die anerkennende Resonanz der­ Mitwelt nicht schaffen und leben. Er muss seinen Glauben an dem Glauben der anderen aufrichten.«

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Von Anfang an war diese Veranstaltung die einzige Veranstaltung dieser Art in Deutschland, wo sich ostdeutsche und westdeutsche Psychotherapeuten in paritätischer Zahl trafen und in Kontakt kamen. Während in Lindau und den anderen Psychotherapiewochen kaum Ostdeutsche auftauchten, ermöglichte Weimar den Ostdeutschen eine Begegnung mit westdeutschen Kolleginnen und Kollegen und half auf diese Weise, verbreitete Berührungsängste aufzulösen. Die nächsten Weimarer Psychotherapiewochen fanden dann in unterschiedlichen Orten Weimars statt, im Volkshaus, in einem Luxushotel und in einem Jugendkulturhaus. In den Zeiten der ersten Nachqualifizierung, die abgelöst wurden von den Zeiten des Psychotherapeutengesetzes, das ebenfalls mit Übergangsregelungen für niederlassungswillige Psychotherapeuten den Bedarf an derartigen Veranstaltungen aufrechterhielt, ging es der Veranstaltung gut. So lag es nahe, organisatorische Hilfe eines professionellen Unternehmens zur Tagungsorganisation in Anspruch zu nehmen. Diese Firma verschuldete nach der Jahrtausendwende durch kundenunfreundliches Verhalten den vorübergehenden Niedergang der Weimarer Psychotherapiewoche auf eine Teilnehmerzahl unter 90. Schon wenige Jahre nach der Trennung von diesem Unternehmen ging es wieder bergauf, so dass Weimar als Veranstaltungsort der 2006 wieder auf 400 Teilnehmer angewachsenen Psychotherapiewoche keinen finanzierbaren Tagungsort mehr bieten konnte und nach Erfurt umzog. 2010 sind erstmalig über 600 Teilnehmer aus allen Teilen Deutschlands in der schönen Erfurter Altstadt zu Gast und zeigen den Erfolg eines Konzeptes, das in der Nachwendezeit entstanden ist und auch als »Erfurter Psychotherapiewoche« seine Lebensfähigkeit bewiesen hat.

6.4.3 Roger Kirchner: Montecatini-Kongresse und Psychotherapiewochen in der Toskana während der Phase des Zusammenwachsens von Ost und West Die Bundesärztekammer veranstaltete seit 1965 in Montecatini Terme zwischen Pisa und Florenz jährlich internationale Fortbildungskongresse in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Ärztekammer und der Verbindung Schweizer Ärzte (FMH). Während der 1980er Jahre wurden die Kongresse von Franz Carl Loch, Saarbrücken, und Erwin Odenbach, Köln, geleitet und waren streng somatisch ausgerichtet mit gelegentlichen Seminaren für Psychosomatik oder Psychiatrie. Die Weiter- und Fortbildungskurse orientierten sich stets an der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer oder an den Qualitätssicherungs-Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. So lag es nahe, die internationalen Fortbildungskongresse der Bundesärztekammer verstärkt für die Anpassung der Weiter- und Fortbildung in Ost und West zu nutzen. 1991 hatte ich Gelegenheit, den 25. Kongress in Montecatini Terme zu erleben und unterbreitete Loch und Odenbach den Vorschlag, mich an der wissenschaftlichen Leitung zu beteiligen und die Veranstaltung um die psychotherapeutische und psychiatrische Dimension zu erweitern. Wir sahen das Ziel eines solchen Unternehmens im interdisziplinären Dialog zwischen somatisch und psychotherapeutisch tätigen Ärzten, die noch dazu aus verschiedenen deutschsprachigen Ländern und Italien kommen. Dies bedeutete auch ein

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Zusammentreffen von Ärzten aus Ost und West nach fast 30-jähriger weitgehend getrennter Entwicklung. Die milde Atmosphäre im toskanischen Frühling in einer faszinierenden Kulturlandschaft sollte den förderlichen Rahmen bilden für psycho-somatische Ost-WestBegegnungen fernab vom (ost)deutschen Wiedervereinigungsstress an den heimatlichen Arbeitsplätzen, die nicht mehr sicher waren, und wo viele noch nicht recht wussten, wohin die Entwicklung geht. 1992 bezogen wir die Brandenburgische und Sächsische Ärztekammer in die Konzeption ein und boten zunächst vier Psychotherapieveranstaltungen an. Iver Hand, Hamburg, führte ein VT-Seminar durch, Dieter Seefeldt, Potsdam eine VT-Gruppe mit Autogenem Training. Gerwin Stachura, Bonn, und Rainer Suske, Werneuchen, leiteten je eine Balint-Gruppe. Astrid Wahlstab leitete mit mir eine Selbsterfahrungsgruppe in Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie über zehn Tage, die im folgenden Jahr eine Fortsetzung fand. Insbesondere in der Selbsterfahrungsgruppe wurde es möglich, mit Teilnehmern aus Ost- und Westdeutschland, Österreich und Italien zu erfahren, wie im Verlauf des regressiven Prozesses Vorurteile, Ängste und Idealisierungen und Entwertungen abgebaut werden und unmittelbare emotionale Begegnungen stattfinden. Dabei hatten wir persönlich den Eindruck, dass die westlichen Teilnehmer ausgeprägter Merkmale einer Individuation aufwiesen und die Ostdeutschen stärker auf Bezogenheit ausgerichtet waren. Konnten wir diese Unterschiede in den Kongressveranstaltungen generell beobachten, so wurden sie doch in der Selbsterfahrungsgruppe gewissermaßen unter dem Mikroskop der Untersuchung zugänglich (Kirchner u. Wahlstab 1995). 1993 konzipierten wir eine getrennte Kongressleitung für die Psychotherapiewochen (Roger Kirchner und Heinz Benkenstein) und für den somatischen Teil (Heinrich Geidel und Justina Engelbrecht). Über 19 Tage boten wir Gesprächstraining zur Arzt-Patient-Beziehung, Balint-Gruppen, Theoriekurse zur Psychosomatischen Grundversorgung und ATKurse mit ostdeutschen und westdeutschen Gruppenleitern an. Erstmals führten wir unter der Leitung von Heinz Benkenstein eine Selbsterfahrungskommunität in Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie mit drei Trainerpaaren des Deutschen Arbeitskreises für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG) durch. 1994 übernahmen die Landesärztekammer Brandenburg und der DADG in Zusammenarbeit mit den Schweizer und österreichischen Ärzteorganisationen den Kongress, da sich die Bundesärztekammer in Montecatini Terme nicht mehr engagieren wollten, nachdem der Deutsche Ärztetag eine weitere Finanzierung ablehnt hatte. Neben einem umfangreichen somatischen Kursprogramm und der Fortführung der bisherigen Psychosomatikkurse und Gruppenselbsterfahrung erweiterten wir den Kongress um Psychoanalyseseminare (Marahrens-Schürg, Ehlers), Psychosomatik (Peseschkian), gemeindenahe Psychiatrie (Böker) und Ethik (Illhardt). 1995 kamen im psychotherapeutischen Teil des Kongresses weitere Kursleiter wie Bell, Benedetti, Lamprecht, Peciccia und Prokop hinzu, so dass wir bereits 22 Kurse und eine Selbsterfahrungskommunität mit vier Kleingruppen anbieten konnten. 1996 stellten wir den 30. Montecatini-Kongress unter das Thema »Entfremdung in Medizin und Gesellschaft« und gewannen hierfür Jürgen Moltmann, Tübingen (Theologie der Hoffnung), Johannes Rohbeck, Dresden (Philosophie), Thure von Uexküll, Freiburg

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(Psychosomatische Medizin), Gaetano Benedetti, Riehen (Psychiatrie), Johannes Agnoli, San Qurico di Mariano (Politikwissenschaften), Jürgen Ott, Düsseldorf (Gruppenpsycho­ therapie), und Eva Jäggi, Berlin (Psychotherapie), für die Hauptvorträge. Neben einer ­Selbsterfahrungskommunität mit vier Kleingruppen wurden diesmal 25 Psychotherapiekurse angeboten. In den Plenarveranstaltungen wie in den Kursen wurde das Thema ­Entfremdung des Menschen vom Mitmenschen und seiner selbst mit viel Interesse lebhaft diskutiert. Mit diesem Kongress war inzwischen eine relativ reife Form für eine interdisziplinäre psychosomatische Fortbildung entstanden, in der der Dialog zwischen Ost und West, zwischen somatisch tätigen Ärzten und ärztlichen wie Psychologischen Psychotherapeuten ausreichend Raum und Förderung erfuhr. Eine vom DADG konzipierte gemeinsame Gruppenselbsterfahrung mit dem Deutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG) in Montecatini Terme, in der Teilnehmer, Trainer und Supervisoren zu gleichen Teilen aus Ost und West beteiligt sein sollten, kam leider nicht zustande, da der DAGG zu dieser Zeit an einer solchen konkreten Ost-West-Zusammenarbeit noch nicht interessiert war. Dies wurde erst Jahre später mit dem sog. Bochterbeck-Projekt zwischen DADG und Sektion Klinik und Praxis des DAGG möglich. Bedauerlicherweise waren die Landesärztekammer Brandenburg und der DADG nicht mehr bereit, als Veranstalter Verantwortung zu tragen, so dass die Brandenburgische Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie, die einen wesentlichen Teil der Kursleiter aus den beigetretenen Ländern stellte, finanziell und organisatorisch nicht in der Lage war, das Kongresskonzept auf dem bisherigen Niveau fortzuführen. 1998 führten wir noch einmal eine kleine Psychotherapiewoche in Montecatini Terme mit zwei Selbsterfahrungsgruppen und zwei Psychosomatikkursen durch, womit die gemeinsame Ost-WestWeiter- und Fortbildung in der schönen Toskana ihren Abschluss fand.

6.4.4 Dieter Seefeldt: Von der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psycho­therapie des Bezirkes Potsdam zur Brandenburgischen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V. Nach der Wende regte ich an, dass die auf dem Territorium des neu gegründeten Landes Brandenburg existenten früheren Regionalgesellschaften Potsdam, Brandenburg und Cottbus sich zu einer neuen Brandenburgischen Gesellschaft zusammenschließen sollten. In einem etwas komplizierten Prozess kam es letztlich lediglich dazu, dass Potsdam und Frankfurt/Oder fusionierten. Sehr aktiv und bereichernd erlebten wir hier vor allem Sigmar Scheerer. De facto ist jedoch die Brandenburgische Psychotherapiegesellschaft weitestgehend mit der früheren Potsdamer Regionalgesellschaft identisch. Diese Realität drückt sich u. a. auch in der fortlaufenden Nummerierung der Potsdamer Psychotherapietagungen aus. Zwischenzeitlich wurde auf den Mitgliederversammlungen wiederholt die Frage nach dem Selbstverständnis und Statusverständnis der Gesellschaft gestellt. So hatte man sich am

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25. August 1995 einmütig und einstimmig darüber verständigt, dass die Gesellschaft in der bisherigen Richtung weitergeführt werden sollte: – interdisziplinär, – berufs-, schulen- und methodenübergreifend, – in regionaler Orientierung, – in Kooperation mit der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie e. V. (GPPMP). Michael Geyer hat als Herausgeber dieses Buches einen Zeitrahmen von 1945–1995 vorgegeben. Für die Potsdamer/Brandenburger Psychotherapiegesellschaft wäre das Jahr 2000 ein würdiges Datum für eine Bilanz, wurde doch im Jahr 2000 mit dem Thema »Wege und Entwicklungen bei Patienten und Therapeuten« die 25. Jahrestagung durchgeführt. Hauptreferate hielten u. a. Michael Geyer und Jürgen Ott. Diese Zwischenbilanz konnte viel Positives zeigen. Aber die Intention dieses Buches ist auch, aufzuzeigen, was aus den Ansätzen und Entwicklungen im Osten Deutschlands, der späteren DDR, dann dem Beitrittsgebiet, geworden ist und was weiter wirkt. So ist es sinnvoll, den Blick über das Jahr 2000 hinaus zu richten, zumal die Potsdamer Regionalgesellschaft die einzige der ehemals 15 Bezirksgesellschaften in der DDR ist, die in etwas veränderter Form weiter existiert. Exkurs zur Stasiproblematik: Dieser Problematik haben wir uns bereits 1989 auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung genähert. Auf der Jahrestagung 1990, einem dreitägigen und sehr bewegenden Symposion mit dem Rahmenthema: »Aus der Isolation in neue Strukturen – gelingt uns die emotionale Verarbeitung? – Patient, Therapeut, Gesellschaft« haben u. a. alle Teilnehmer in parallelen Gruppengesprächen diskutiert über: »Die Stasi – auch mein Problem?« sowie: »Und meine Opfer-Täter-Anteile?«. Jahre später griffen wir diese Thematik noch einmal in der Wertetagung auf. Dies sind nur einige Beispiele für Bewältigungsversuche. In Vorbereitung dieses Beitrages war in Telefonaten und persönlichen Gesprächen dennoch zu resümieren, dass man mit dieser Aufgabe noch immer nicht fertig ist. Wir stellten fest, dass mit einem gewissen zeitlichen Abstand manches jetzt wohl doch noch einmal aufgegriffen und angesprochen werden könnte. In solchen Gesprächen kam es dann aber auch zu neuem latenten oder gar manifesten Misstrauen! Ein Generationsproblem lässt sich wohl tatsächlich erst in der Dimension von Generationen bewältigen! Letztlich wurde aber auch festgestellt, dass trotz der Zuträgerei sehr viel Gutes geschehen konnte und dass trotz aller Schwierigkeiten viel Hilfreiches für Therapeuten und Patienten möglich war.

Wissenschaftliche Aktivitäten Die anfängliche Arbeitsgruppe, spätere Regionalgesellschaft und dann Brandenburgische Psychotherapiegesellschaft veranstaltete mehrere Hundert Weiter- und Fortbildungsaktivitäten, Symposien sowie wissenschaftliche Tagungen mit zum Teil sehr nachhaltigen positiven Auswirkungen. Aus didaktischen Gründen werden wesentliche Entwicklungsstufen der

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

Potsdamer Regionalgesellschaft, bzw. der späteren Brandenburgischen Psychotherapiegesellschaft, nachfolgend anhand der Jahrestagungen beschrieben. Hier lassen sich verschiedene Entwicklungsphasen unterscheiden. I. Phase Schwerpunkte: Psychotherapieverfahren und Ausbildungsformen, Vorstellung der statio­ nären und ambulanten Einrichtungen des Bezirkes, in denen psychotherapeutisch gearbeitet wurde. 1. 1976 in Treuenbrietzen: »Konzentrative Entspannung und Autogenes Training als Basisverfahren der Psychotherapie«, »Konzepte zur Entwicklung der Psychotherapie im Bezirk Potsdam«. 2. 1977 in Neuruppin: »Ausbildungsformen einschließlich Balint-Gruppenarbeit in der Psychotherapie«; »Die psychotherapeutische Versorgungssituation im Bezirk«. Hier wurden nach vorgegebenen Kriterien die stationären Psychotherapie-Abteilungen einschließlich der Sanatorien, in denen psychotherapeutisch gearbeitet wurde, vorgestellt und verglichen. 3. 1978 in Genshagen: »Suggestivverfahren und Einführung in die Hypnose«. Hier war ein Ausbildungskurs mit Gruppenarbeit integriert. Im Rahmen dieser Tagung erfolgte auch die Gründung der Regionalgesellschaft. 4. 1979 in Potsdam-Babelsberg: »Das Wort als therapeutischer Faktor«. Überblick über Gesprächstherapien einschließlich intensiver Einführung in die Gesprächstherapie nach Rogers, Tausch, Helm. Bei dieser Veranstaltung wurden auch Therapiekonzepte ambulanter Abteilungen vorgestellt und diskutiert. II. Phase Schwerpunkte: Psychologisch-psychotherapeutische Probleme in jenen medizinischen Disziplinen, die als potentielle Partner anzusehen sind: Allgemeinmedizin, Psychiatrie, Innere Medizin, Gynäkologie. Zu den Veranstaltungen wurden jeweils von einem oder mehreren profilierten psychotherapeutisch arbeitenden Vertretern des jeweiligen Faches Grundsatzreferate erbeten. Gleichzeitig hatten wir im Bezirk ansässige Exponenten dieser Disziplin persönlich eingeladen. Nach Vorträgen zur Problematik wurden in anderen Beiträgen Lösungsansätze und mögliche Strategien angeboten. Problemdiskussionen als erweiterte Forumdiskussion sollten dann eine weitere Zusammenarbeit einleiten. Ab 1980 fanden die Symposien ausschließlich im Kulturhaus »Hans Marchwitza«/Altes Rathaus in Potsdam statt. Die Veranstaltungen in dieser Phase waren: 5. 1980: »Psychotherapie und Allgemeinmedizin« und »Methodenkombination in Psychotherapie und psychosomatischer Medizin«. 6. 1981: »Psychotherapie und Psychiatrie«. Hier besonders die Problemkreise Alkoholismus, Suizid, Borderline-Syndrom. 7. 1982: »Psychotherapie und Innere Medizin« mit besonderer Berücksichtigung der psychosomatischen Medizin und der Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

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8. 1983: »Psychotherapie in Gynäkologie und Partnerbeziehung«. Am ersten Tag psychosomatische und psychotherapeutische Aspekte der Gynäkologie; am zweiten Tag Probleme der Partnerschaft. III. Phase Schwerpunkte: Interdisziplinäre Probleme 9. 1984: »Psychodynamische Aspekte bei chronisch Kranken und Sterbenden« 10. 1985: »Menschen in Extremsituationen« 11. 1986: »Schmerz als interdisziplinäres Problem und psychotherapeutisches Anliegen« 12. 1987: »Angst und Angstbewältigung als interdisziplinäres Problem und psychotherapeutisches Anliegen« 13. 1988: »Psychotherapie in der Grundbetreuung – Probleme, Erfahrungen, Konzepte, Beziehungsaspekte« 14. 1989: »Schlaf als interdisziplinäres Problem und psychotherapeutisches Anliegen« Aufgrund der zugrundeliegenden Konzepte, der Teilnehmerzahl und der erzielten Resonanz sind die Jahrestagungen ab 1985 gleichsam als Symposien im DDR-Rahmen anzusehen. Die Veranstaltungen umfassten drei Tage. Sie wurden konsequent biopsychosozial und interdisziplinär konzipiert und durchgeführt. In der Regel waren die Vormittage den Referaten vorbehalten, am Nachmittag folgten intensive themenbezogene Gruppenarbeit und Workshops. Rückmeldungen dazu gab es jeweils wieder im Plenum mit fortführender Diskussion. IV. Phase Schwerpunkte: Nach der Wende eine Mischung aus psychosozialen Problemen, Methodenvorstellungen, Abstimmungen, emotionaler Befindlichkeit, aktuellen Problemen und neuen Entwicklungen bzw. Strategien. 15. 1990: »Aus der Isolation in neue Strukturen: Gelingt die emotionale Verarbeitung?« 16. 1991: »Deutsches Ost-West-Zusammenwachsen – Versuchung, Versagung, Bewährung« 17. 1992: »Der nonverbal-kreative Therapiezugang« 18. 1993: (erstmals in Neu Fahrland in der alten Klinik): »Die psychosoziale Situation und die Anforderungen an die Therapeuten« 19. 1994: (Neu Fahrland, neue Klinik): »Das gegenwärtige Selbstverständnis von Frau und Mann – Entwicklung, Rolle, Beziehung« 20. 1995: (Neu Fahrland, Villa Siemens): »Begegnungen mit der Psychosomatischen Medizin – Rückblick, Bilanz, Perspektive« Gemeinsam mit Landesverband Berlin-Brandenburg der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin V. Phase (1996–2002) Schwerpunkte: Werteproblematik, Schmerz als Leitlinie für die mehr organisch verursachten Erkrankungen, Angst als Leitlinie für die mehr psychisch verursachten Erkrankungen, Sicherheit und Gefährdung, persönliche und gesellschaftliche Entwicklung, Spiritualität. Die Veranstaltungen dieser Phase sind überwiegend mit Kooperationspartnern oder anderen wissenschaftlichen Gesellschaften durchgeführt worden.

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6.4  Aus- und Weiterbildung in den neuen Bundesländern

Bilanzierend ist festzustellen, dass wir uns gleichsam in einer Tradition von Veranstaltungen befunden haben und befinden. Engagierte Psychotherapeuten, vorrangig Ärzte und Psychologen, arbeiten im Potsdamer Raum, in der Region Brandenburg, schon sehr lange und sehr kontinuierlich zusammen. Ein wesentliches Forum hierfür bildeten und bilden die Potsdamer Psychotherapiesymposien. Grundsätzlich geht es um Informationen und Verständigung über psychotherapeutische Methoden, die Zusammenarbeit mit potentiellen Partnerdisziplinen, wie der Allgemeinmedizin, Inneren Medizin, Psychiatrie, Gynäkologie, Kinderheilkunde. Letzteres drückt sich u. a. auch in etlichen gemeinsam veranstalteten Symposien aus. Wesentliche, zum Teil wiederholt bearbeitete Themen waren die großen Geißeln: Angst – als Leitlinie für die mehr psychisch determinierten Erkrankungen, Schmerz – als Leitlinie für die mehr organisch determinierten Erkrankungen, Stress und Stressauswirkungen in vielen Erscheinungsformen und Problembereichen, Krankheit, chronisches Kranksein, Sterben, aber auch neuerdings salutogenetische Ansätze. Die Rahmenthemen dieser größeren Symposien mit oft 200–300 Teilnehmern – zwischenzeitlich finden zahlreiche kleinere Fortbildungsveranstaltungen statt – ergeben sich aus den aktuellen Problemen, die Therapeuten selbst erleben oder für ihre Patienten bzw. ihre gemeinsame Arbeit sehen. So ist es schlüssig, dass sich bald nach der Umbruchsituation der Wende etwa 300 Psychotherapeuten zum Rahmenthema »Aus der Isolation in neue Strukturen – wie gelingt die emotionale Verarbeitung?« austauschten. Das 1991er Thema »Deutsches Ost-West-Zusammenwachsen – Versuchung, Versagung, Bewährung« ist auch aus heutiger Sicht noch als programmatisch anzusehen. Nach dem »Beitritt« fand über ein Jahrzehnt kontinuierlich auf jeder Jahrestagung abends eine Großgruppe mit dem Rahmenthema »Zur sozialen Befindlichkeit« statt. Diese verlief oft mit großen Emotionen und intensivem Ost-West-Austausch. In den letzten Jahren war jedoch wiederholt zu hören: »Jetzt merkt man oft gar nicht mehr, wer aus dem Ostern oder aus dem Westen kommt.« Die darauf folgende Phase unserer auf den Potsdamer Tagungen reflektierten Probleme betrafen die Werteproblematik, die »Angst« in verschiedenen Formen, psychosoziale Veränderungen und Gefährdungen und Orientierungssuche bis zur Spiritualität. Nach dem Generationswechsel im Vorstand finden wir wiederum eine Mischung aus Orientierungssuche, persönlicher und fachlicher Identitätsfindung sowie Berufspolitischem und Fachlich-Methodologischem. Akzente setzten hier die Symposien »Neue Gesichter der Depressionen«, »Jenseits der Sprache: Somatisierung« oder die Tagung zur Identität. Von der Potsdamer Regionalgesellschaft gingen vielfältige und zum Teil sehr nachhaltige Initiativen für andere Fachgebiete aus. Dies gilt vorrangig für die allgemeinmedizinische Grundbetreuung (s. a. } Abschnitt 5.8.2). Aus einer ganzen Palette weiterer Aktivitäten sei nur als ein spezifisches Beispiel die Schmerzmedizin herausgegriffen. Nach dem 1986 durchgeführten interdisziplinärem Schmerzsymposium, »dem ersten interdisziplinärem Schmerzsymposium im sozialistischen Lager« (Prof. Conradi, Charité Berlin) hatten u. a. der Anästhesist Gastmeier und der Nervenarzt Fischer mit speziellen Schmerzgruppen begonnen. Das waren die Keimzellen für eine spätere, sehr innovative Schmerzbezirks- bzw. -landesgesellschaft, dem Interdisziplinären Arbeitskreis der Brandenburger Schmerztherapeuten e. V. So war es dann u. a. möglich,

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1997 nach mehr als einem Jahrzehnt, eine gemeinsame wissenschaftliche Veranstaltung durchzuführen: »Schmerz als biopsychosoziales Problem – Psycho- und Schmerztherapeuten im interdisziplinären Gespräch«. Gemeinsam mit diesen Akteuren hat der Berichterstatter über ein Jahrzehnt auch an der Landesärztekammer Brandenburg den – im Gegensatz zum sehr somatisch orientierten Konzept der Bundesärztekammer – konsequent biopsychosozial konzipierten Theoriekurs für die Ausbildung der Schmerztherapeuten geleitet (Gastmeier u. Passon 2009). Summarisch lässt sich wohl festhalten, dass es trotz äußerer Turbulenzen unter den Bedingungen unterschiedlicher Gesellschaftssysteme und sehr differenter Strukturen gelungen ist, mit gewisser Kontinuität und beachtlicher Qualität als Psychotherapieinformationsbörse, Heimstatt, Begegnungsstätte, interdisziplinär, berufs-, schulen- und methodenübergreifend zu arbeiten.

6.5 Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende 6.5.1 Die psychoanalytisch begründete Psychotherapie nach der Wende – die psychoanalytischen Ost-Institute 6.5.1.1 Michael Geyer: Die Gründung analytischer Institute und die Beziehung zur DGPT Die inzwischen 20 Jahre alten analytischen Institute der neuen Bundesländer besitzen bereits jeweils eigene Gründungsgeschichten und natürlich auch Gründungsmythen. So bleibt es nicht aus, dass die damalige Zeit inzwischen in mehreren Lesarten existiert. An dieser Stelle soll eine Chronologie der Ereignisse angeboten werden, die schließlich zur Mitgliedschaft der damals entstandenen Institute in der DGPT geführt haben. Zum besseren Verständnis dieser Zeit, in der die analytischen Ost-Institute gegründet wurden, gehört die Kenntnis der unterschiedlichen Interessen- und Motivlagen der Beteiligten. Die Vorstellungen von der Annäherung des Ostens an den Westen waren auf der Seite der westlichen Akteure naturgemäß sehr uneinheitlich. Einige empfanden schon das Ansinnen, den Ostdeutschen Zugang zum Mainstream der Psychoanalyse zu gewähren, als Zumutung. Lore Schacht, eine ansonsten sehr freundliche und liebenswürdige Dame und damalige Vorsitzende der DPV von 1990 bis 1992, äußerte öffentlich sinngemäß, dass zwar nichts mit der durch das Leben in der DDR geprägten jetzigen Generation ostdeutscher Psychotherapeuten, eventuell aber doch mit deren Enkeln etwas anzufangen wäre. Wir, die wir die nicht besonders ruhmvolle Geschichte der deutschen Psychoanalyse ganz gut kannten, rieben uns die Augen. Die Mehrzahl der tonangebenden Analytiker sah damals jedoch ein, dass es wenig angemessen sei, uns mit jenen Analytikern zu vergleichen, die das »Dritte Reich« hinter sich gelassen hatten und die man ziemlich unbehelligt zur Tagesordnung hatte übergehen lassen.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Schwerer wogen die fachlichen Vorbehalte. Die Ost-Institute wurden zwar nach ihrer Gründung mit Unterstützung vieler westdeutscher Analytiker aufgebaut. Ihre Gründung selbst jedoch wurde teilweise auch von diesen – uns durchweg wohlgesonnenen Frauen und Männern – eher mit ungläubigem Staunen aufgenommen. Ich kann es nachfühlen, dass es für den in einem traditionellen analytischen Institut sozialisierten Lehranalytiker undenkbar war, dass sich Leute, die weder 800 Stunden Lehranalyse noch die bekannten Stationen des Leidensweges eines zukünftigen Lehrtherapeuten absolviert hatten und die meisten heiligen Rituale nicht ästimierten, behaupteten, sie wären Psychoanalytiker und wollten andere ausbilden. Einige waren besonders gekränkt, als sie feststellten, dass die Übergangsregelungen der Kassenärztlichen Vereinigungen diesen Akt der Usurpation auch noch legitimierten. Carl Nedelmann, von dem noch die Rede sein wird, ein treuer Freund unserer Gruppe, drückt seine Ambivalenz in einem rückblickenden Artikel des Jahres 2000 aus: »[...] Was die Grenze hingegen nicht überwinden konnte, war die praktische Handhabung der Psychoanalyse. Dafür gibt es drei Gründe: Zum einen fehlte die Möglichkeit der Lehranalyse, in deren Verlauf sich auch die Rezeption der Theorie verändert und vertieft hätte. Zum andern fehlte das Vorbild des Lehrers, der in der Art und Weise, wie er in der Kontrollstunde oder im Seminar zuhört und interveniert, zeigt, wie es geht. Zum dritten war ›kein geschützter Raum‹ vorhanden, der notwendig ist, damit sich der freie Einfall und die gleichschwebende Aufmerksamkeit entfalten können [...]«; und weiter: »Doch der gewünschte, ungestört sich allmählich entwickelnde Aufbau psychoanalytischer Praxen interferierte mit dem politisch verordneten Zwang, die Praxisbedingungen in schnellen Schritten dem Westen anzupassen. Was sich im Westen an Psychotherapierichtlinien und Aus- und Weiterbildungsordnungen im Wechselspiel zwischen Bürokratie und Fachwissenschaft über Jahrzehnte entwickelt hatte, wurde im Osten ohne Rücksicht auf lokale Zweckmäßigkeiten und Voraussetzungen in kurzer Zeit durchgesetzt. So entstand in jedem der neuen Bundesländer ein von den Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern anerkanntes psychoanalytisches Institut » (Nedelmann 2000). Entsprechend verliefen die Diskussionen im Beirat der DGPT, deren Sitzungen ich leider erst besuchen durfte, nachdem sich die größte Aufregung gelegt hatte. Sehr wohltuend waren in dieser Zeit die Berichte Helmut Thomäs über seinen eigenen unorthodoxen Ausbildungsgang zum Psychoanalytiker in der Nachkriegszeit. Auf der Ostseite waren die Verhältnisse ebenfalls nicht einheitlich. Es gab einerseits eine anfänglich kompakte Gruppe von Psychotherapeuten, die sich als Analytiker fühlten, so gearbeitet und gelehrt und auch publiziert hatten und nicht unbedingt eine neue psychoanalytische Identität oder Sozialisation in einem traditionellen analytischen Institut suchten. (Zu dieser Gruppe zählte ich mich selbst, und, um nur die damals fachpolitisch aktivsten zu nennen: Achim Maaz, Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig aus Halle, Werner König, Christoph Seidler, Michael Fröse – und andere aus dem Haus der Gesundheit Berlin –, Margit Venner, Irene Misselwitz aus Jena, Infrid Tögel und H. Fried Böttcher aus Dresden, Paul Franke, Magdeburg, Roger Kirchner aus Cottbus, Peter Wruck, Rostock. Diese Aufzählung ist keineswegs erschöpfend!) Andererseits gab es eine größere Gruppe von Kollegen, die auf der Suche nach einer psychoanalytischen Identität waren, bislang keinen Anschluss an solche Gruppen im Osten

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gefunden hatten oder auch die neue Situation zur Auseinandersetzung mit den alten Autoritäten nutzten und sich aus alten Bindungen befreiten. Diese Gemengelage komplizierte die anstehenden Verhandlungen zwischen Ost und West beträchtlich. Es brachen Konflikte zwischen, aber auch innerhalb der beschriebenen Gruppen aus. Davon kann der aufmerksame Leser auch in den anschließenden Gründungsgeschichten der Institute noch etliches finden. Während die Ost-West-Beziehungen zwischen 1990 und 1995 zunächst in ein ruhigeres Fahrwasser geraten und die Institute dank der Hilfestellungen der verschiedenen Gruppen westdeutscher Analytiker wuchsen und ihre Infrastruktur verbesserten, kommt es zu Spannungen innerhalb der ostdeutschen Analytiker. Die Frage, sollen wir eine eigene »OstDGPT« gründen oder uns anpassen an die Verhältnisse im Westen, bleibt unentschieden, solange das von der Mehrzahl der Institutsgründer verfolgte Ziel, die Ost-Psychoanalyse an den Mainstream der Psychoanalyse – das hieß seinerzeit die DGPT – heranzuführen, zeitlich in weite Ferne gerückt war. Zunächst galt es, die Bedingungen der KV zur Erlangung des Lehranalytikerstatus bzw. der Institutsanerkennung zu erfüllen. Bezogen auf die Anerkennung als Ausbildungsstätte für analytische Psychotherapie gelang dies den meisten Instituten bis 1993/94. Auch zu diesem Zeitpunkt dachte der DGPT-Vorstand nicht daran, Ausnahmeregelungen zur Erlangung der persönlichen Mitgliedschaft für unsere Gruppe Ost-Analytiker zu erlassen. Dies ändert sich erst nach einer Art Betriebsunfall des DGPT-Vorstandes: Im September 1995 erkennt die DGPT ohne genauere Prüfung auf meinen Antrag hin das Institut in Leipzig an, obwohl es die geltenden Voraussetzungen nicht erfüllte (auch nicht erfüllen konnte, nämlich mindestens drei DGPT-Lehranalytiker zu besitzen). Der Kompromiss in dieser unerfreulichen Situation: Das Institut macht keinen Gebrauch von der Anerkennung und die DGPT nimmt den Beschluss nicht zurück. Erst im Februar 1996, gut sechs Jahre nach dem Mauerfall, erlässt die DGPT Übergangsbestimmungen zur Erlangung persönlicher Mitgliedschaften der Ost-Psychoanalytiker, die hinsichtlich der notwendigen Stundenzahlen (Lehr- und Kontrollanalyse etc.) für uns völlig indiskutabel sind. Die darauf einsetzende Entwicklung ist aus der Perspektive Carl Nedelmanns, der seit dem Besuch des Internationalen Symposiums 1984 in Dresden unbeirrt an der Herstellung guter Beziehungen zwischen DGPT und unserer Gruppe arbeitet, mehrfach publiziert worden (Nedelmann 1998, 2000, s. a. Henningsen 2000). Noch im Februar 1996 findet eine Sitzung von Vertretern des Beirates der DGPT und unserer Gruppe statt, auf der uns diese Übergangsbestimmungen offeriert werden. Unsere Reaktion wird aus einem Brief von mir an Carl Nedelmann (publiziert von Nedelmann 1998), unseren Fürsprecher im DGPT-Vorstand, deutlich: »Ich habe niemanden getroffen, der auf der Grundlage der im letzten DGPT-Rundbrief veröffentlichten Vorschläge eine persönliche Mitgliedschaft beantragen würde. Die meisten sehen den Vorgang als unfreundlichen Akt und haben die Hoffnung verloren, [...] Perspektivisch ist jedoch abzusehen, dass die Bestrebungen [...], eine Ost-DGPT zu entwickeln, langfristig erfolgreich sein werden. Bis jetzt hatten die Ost-Institute, außer Halle, diesen Gedanken verworfen, [...] Inzwischen scheint die Stimmung jedoch umzuschlagen«. Karin Bell, Miglied des geschäftsführenden Vorstands der DGPT, schlägt dem DGPT-Beirat vor, Nedelmann mit der Übergangsregelung zu beauftragen. Der Beirat folgte der Empfehlung. Doch freie Hand wollte man ihm nicht lassen:

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»[...] die Kriterien, an denen gerade die Einigung gescheitert war, sollten die Grundlage der Übergangsregelung bleiben« (Nedelmann 1998). Trotzdem schlägt Nedelmann dem DGPT-Vorstand neue Kriterien vor und verhandelt darüber intensiv mit allen Parteien. Zunächst erfolgt die Gründung einer »Ost-West-Kommission«, die am 23. Juni 1996 tagt (Teilnehmer: der geschäftsführende Vorstand der DGPT, die Vorsitzende des Beirats der DGPT, die Vorsitzenden der in der DGPT gemeinsam tätigen Fachgesellschaften, die Vertreter der Institute in Rostock, Halle, Jena, Berlin und Leipzig und die drei Mitglieder des Arbeitskreises). Nach längerer Diskussion nimmt ein Vorschlag von Franziska Henningsen Gestalt an, der für die Kollegen aus dem Osten zustimmungsfähig wird: Es werden »Lehranalytiker-Konferenzen«, eingerichtet, an denen die teilnehmen sollen, die diesen Status von der DGPT anerkennen lassen wollen. Diese Teilnahme führt also ohne weitere Vorleistungen zur Lehranalytikeranerkennung. Gleichzeitig wird eine »paritätische Kommission« zur Begleitung dieses Prozesses gegründet. (Der Wortlaut der Übergangsregelung findet sich in Nedelmann 1998, S. 118–122.) Den meisten von uns war klar, dass Nedelmann, Henningsen u. a. ihr Bestes getan hatten und sich deutlich in Gegensatz zum ursprünglichen Auftrag des Beirates der DGPT gebracht hatten. Aber auch dieser stimmt schließlich zu. Die DGAPT, die Dachgesellschaft der Ost-Analytiker, spaltet sich kurz danach. Achim Maaz als Vertreter des Hallenser Instituts akzeptiert das Anerkennungskriterium der DGPT nicht. Die übrigen Institute entschließen sich zur Teilnahme an den Lehranalytiker-Konferenzen und verlassen früher oder später die DGAPT. Es versteht sich von selbst, dass dieser Prozess nicht ohne harte Auseinandersetzungen vonstatten geht. 1998 werden die ersten Lehr- und Kontrollanalytiker durch die DGPT anerkannt. Das Leipziger Institut darf sich nun DGPT-Institut nennen. 2000 werden die anderen drei OstInstitute Mitglieder der DGPT. Das Hallenser Institut wird einige Jahre später (2004) nach einem Wechsel der Institutsleitung ebenfalls Mitglied der DGPT. Bereits 1999 wird jedoch als Reaktion auf die Situation in Halle/Saale ein DGPT-Institut in Sachsen-Anhalt gegründet. In Magdeburg beantragt der inzwischen dort ansässige DGPT-Lehranalytiker Jörg Frommer gemeinsam mit anderen DGPT-Lehranalytikern aus Berlin und Düsseldorf sowie den hier ansässigen Analytikern Paul Franke und Ludwig Drees die Mitgliedschaft des Magdeburger Institutes in der DGPT.

6.5.1.2 Michael Geyer: Das Leipziger Institut und die Reinstitutionalisierung der Psychoanalyse im Osten Deutschlands56 Vorbemerkung Das Sächsische Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Leipzig (SPP) ist im Mai 2010 20 Jahre alt geworden und steht exemplarisch für den langwierigen Prozess des Anschlusssuchens von Menschen und Institutionen im Osten Deutschlands an den Mainstream der Psychoanalyse. 56 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Gekürzte Fassung eines Vortrages auf dem Symposium zum 20-jährigen Bestehen des Sächsischen Institutes für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V. in der Alten Börse Leipzig, 04.–05.Juni 2010.

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Die Gründung Das Sächsische Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V. wurde am Mittwoch, den 2. Mai 1990 unter seinem ersten Namen »Sächsisches Institut für Psychotherapie und angewandte Psychoanalyse e. V.« im sog. Ahnensaal der Abteilung für Psychotherapie des UniKlinikums der Universität Leipzig, Karl-Tauchnitz-Straße 25, gegründet, die damals noch für einige Monate »Karl-Marx-Universität« hieß. Mit der Verabschiedung der Satzung durch 15 Personen57 war das erste Institut für Psychoanalyse auf dem Gebiet der DDR entstanden, ziemlich genau 54 Jahre nach Beschlagnahmung des Leipziger Psychoanalytischen Verlags durch die Gestapo, der Auflösung der Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse und der Emigration ihrer Leiterin – Therese Benedek – in die USA. Es handelte sich um eine Vereinsgründung nach dem sog. Vereinigungsgesetz, einem der ersten Gesetze des ersten und letzten frei gewählten Parlamentes der DDR. Das neu gegründete Institut übernahm gemeinsam mit dem zwei Monate vorher gegründeten Sächsischen Weiterbildungskreises für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin die Regie über alle Aus- und Weiterbildungsaktivitäten auf dem Feld der psychoanalytisch begründeten Psychotherapieverfahren, die seit Mitte der 1980er Jahre in Leipzig entstanden waren.

Zur psychoanalytischen Genealogie des SPP Es erscheint an dieser Stelle angebracht, sich die psychoanalytische Genealogie des Institutes kurz zu vergegenwärtigen. Wir finden eine Reihe von Stammbäumen, die meist aus einer Wurzel stammen, dem Berliner DPG-Institut. Der Spiritus loci ist wohl der der Leipziger Arbeitsgemeinschaft der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse. Therese Benedek bildete in Leipzig von 1923 an bis zu ihrer Emigration 1936 eine Reihe von Psychoanalytikern aus, z. B. Scheunert, Rollenbleck, Riemann, Wartegg, Mette und Weigel. Scheunert, späterer DPV-Vorsitzender, sowie Rollenbleck und Riemann gingen nach dem Krieg in den Westen. Wartegg arbeitete seit 1950 in Ostberlin im Haus der Gesundheit. Mette wurde ein hoher Beamter im Staatsapparat der DDR und Weigel ging als Bezirksgutachter von Leipzig in den Staatsdienst, ohne jemals noch psychoanalytisch zu arbeiten. »Verwandtschaftsverhältnisse« dieser Personen zu den Gründungsmitgliedern existieren nicht. Direkten Einfluss auf die Leipziger Gründungsszene nahm Alexander Beerholdt, ein Analysand von Felix Boehm (} Abschnitt 1.4.3 ). Beerholdt führte eine Art Lehranalyse bei Helmut Starke und Lothar Behrends durch. Beide waren Gründungsmitglieder des SPP, kurze Zeit später allerdings wegen nachgewiesener Verfehlungen zu DDR-Zeiten zur Niederlegung ihrer Mitgliedschaft aufgefordert worden.

57 In der Reihenfolge der Unterschriften unter der beim Registergericht Leipzig eingereichten Satzung: Michael Geyer, Sabine Palmer, Wolfgang Behrend, Hans Bach, Helmut Starke, Günter Plöttner, Jochen Schade, Georg Dieck, Hans-Joachim Koraus, Petra Nebe, Bettina Schmidt, Maria Bauer, Dagmar Völker, Ute Uhle, Cornelia Machold, Steffi Fricke.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Beziehungen zum Berliner DPG-Institut lassen sich auch an weiteren Gründungsmitgliedern festmachen. Ich selbst wurde durch meinen ersten psychiatrischen Lehrer, Richard Heidrich, mit der Psychoanalyse bekanntgemacht, der bei Schultz-Hencke eine Lehranalyse gemacht hatte. Höck, der einige von uns – neben mir u. a. Günter Plöttner, Hermann Fried Böttcher, Rainer Härtwig, Arndt Ludwig, Ursula Feldes und viele andere – beeinflusst hatte, war theoretisch Schultz-Hencke sehr nahe und hatte bei Schneider und Schwidder auf der Couch gelegen. Die Erfurter Selbsterfahrungsgruppe, aus der ich komme, beschäftigte sich dagegen weniger mit der Neopsychoanalyse als mit anderen Strömungen. Infrid Tögel, eines der erfahrensten Institutsmitglieder dieser Zeit ist ein Schüler und Weggefährte Harro Wendts, der wiederum lange in Verbindung mit Baumeyer und Schwidder gestanden hatte.

Die Vorgeschichte Diese Gründung hat – wie alle solche Unternehmungen – eine lange Vorgeschichte. Diese Vorgeschichte besteht für jede der an der Gründung und der Entwicklung des Institutes beteiligten Personen aus sehr speziellen Erlebnissen und Erfahrungen. Jeder von uns könnte und würde sie – je nach Alter und Herkunft – mehr oder weniger anders erzählen. Als derjenige, der die Initiative zur Gründung ergriffen hat, erzähle ich sie als einen wichtigen Teil meiner persönlichen und beruflichen Entwicklung. Meine psychoanalytische Prägung verdanke ich sehr verschiedenen Einflüssen, die zum Teil 40 Jahre zurückreichen. Ich bin zunächst in der Erfurter Psychoanalytischen Selbsterfahrungsgruppe sozialisiert worden, die meinen Lebensweg zwischen 1969 und 1978 mehr oder weniger intensiv begleitet hat (} Abschnitt 3.5.5). Die Mitglieder dieser Gruppe, insbesondere Jürgen Ott, Hermann Fried Böttcher, Achim Maaz, Anita Wilda-Kiesel, Christoph Schwabe und Paul Franke, haben mich über 40 Jahre in vielfältiger Weise beeinflusst. (Sie alle sind mit substantiellen Beiträgen in diesem Buch versammelt.) Diese Gruppe interessierte 1970 auch Kurt Höck. Sein Besuch unserer Gruppe gemeinsam mit Helga Hess in Erfurt hatte das Resultat, dass Höck in uns potente Mitstreiter beim Aufbau seines Ausbildungssystems der Selbsterfahrungskommunitäten erkannte, uns ein entsprechendes Angebot machte und die Gruppe nach monatelanger Diskussion beschloss, Höck zukünftig zu unterstützen. Die Zusammenarbeit mit Höck und anderen psychoanalytisch orientierten Kolleginnen und Kollegen in den Selbsterfahrungskommunitäten bildet einen weiteren Teil dieser Vorgeschichte. Wir lasen in dieser Zeit die psychoanalytische Literatur, führten psychodynamische ­Therapien durch und lernten auf Kongressen im Ostblock so manchen Psychoanalytiker kennen. Spätestens seit dem Ende der 1970er Jahre wollte ich auf irgendeine Weise Anschluss an den psychoanalytischen Mainstream, also die IPA bekommen, dem unsere Kollegen aus Ungarn bereits nahe waren, den die Tschechen und Polen jedoch auch noch suchten. Alle bekamen im Verlauf der 1980er Jahre mindestens den Status einer provisorischen Mitgliedschaft in der IPA. Bereits 1979 hatte ich auf einer Tagung im Osten ein Vorstandsmitglied der IPA, Harald Leupold-Löwenthal aus Wien, kennengelernt, der seinerzeit im Vorstand der IPA für den Ostblock zuständig war. Dem trug ich damals das Anliegen vor, in irgendeiner Form mit der

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IPA zu kooperieren, zunächst unterhalb der Ebene offizieller Kontakte, an die damals noch nicht zu denken war. (Aus heutiger Sicht wundere ich mich, woher ich die Chuzpe nahm, mit der IPA zu verhandeln. Verstehen kann man das nur, wenn man unsere damalige Selbstdefinition als Psychoanalytiker akzeptieren kann. Sie speiste sich aus anderen Quellen als damals im Westen gewohnt, und entbehrte vieler Merkmale, die wir heute für selbstverständlich halten, aber wir dachten und fühlten uns zugehörig.) Als ich ab etwa 1980 größeren Einfluss in der GÄP – nicht zuletzt durch den Vorsitz der Gesellschaft 1982 – bekam, konnte ich mit gleichgesinnten Kollegen wie Jürgen Ott (auch nachdem er 1986 in den Westen ging), Werner König, Achim Maaz, Fried Böttcher, Sigmar Scheerer, Christoph Seidler und anderen effektivere Möglichkeiten finden, dieses Anliegen voranzubringen. Die IPABeziehung hatte allerdings noch zu DDR-Zeiten einen deprimierenden Ausgang, als ich mit Werner König 1987 zu einer Art offiziellen Besuch nach Wien zu Leupold-Löwenthal fahren und über dieses Thema weiter verhandeln konnte. (So schön die Reise war und vor allem das Erlebnis, im Behandlungszimmer Freuds in der Berggasse 19 einen Vortrag halten zu dürfen – das Ergebnis dieser Gespräche war deprimierend. Wörtlich sagte uns LeupoldLöwenthal: »Ihr könnt euch auf den Kopf stellen, ihr werdet es nicht schaffen.« Die Vorstandsmitglieder der IPA hätten auf unser Ansinnen reagiert, indem sie feststellten: »Kommunisten sind schon schlimm genug, aber deutsche Kommunisten, das ist zu viel.«) Zu unserem Glück war da jedoch bereits ein erster Kontakt mit der DGPT zustande gekommen. So hatte das Dresdner Internationale Psychotherapiesymposium 1984, das wir mit Hilfe der Internationalen Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (International Federation for Medical Psychotherapy, IFP) als »Erweiterte Vorstandsitzung der IFP« mit je 30 West- und Ost-Teilnehmern tarnten, die Möglichkeit des ersten Kontaktes mit der DGPT-Führung geboten. Immerhin war der komplette geschäftsführende Vorstand der DGPT unter Führung ihres damaligen Vorsitzenden Carl Nedelmann angereist. Nedelmann erwies sich damals als Mann mit außerordentlichem diplomatischem Geschick und blieb dann bis zur Anerkennung unserer ersten Lehranalytiker und unseres Institutes durch die DGPT ein unermüdlicher Helfer und Ratgeber. Einen besonderen Platz in dieser Geschichte verdienen die Ulmer Horst Kächele und ­Helmut Thomä. Vieles, was sich nach der Wende in der psychoanalytischen Ausbildung und Forschung getan hat, verdankt sich einer ungewöhnlichen – anfangs noch illegalen – Kooperation bereits einige Jahre vor der Wiedervereinigung. Sie begann 1986, als es mir gelang, Horst Kächele an die damalige Karl-Marx-Universität Leipzig zu einem Vortrag und Workshop zum Thema »Psychoanalyse heute« einzuladen. Von da an gab es einen intensiven wechselseitigen Austausch von Personen und Materialien, der sich über alle damals existierenden Verbote und Hindernisse hinwegsetzte. Schon 1986 konnte ich an interessierte Kollegen 50 Exemplare des gerade erschienenen und von Kächele in den Osten geschmuggelten ersten Bandes des Lehrbuchs von Thomä und Kächele verteilen. Es entwickelte sich eine außerordentliche fruchtbare Forschungskooperation, die durch die einjährige Abordnung meiner Mitarbeiterin Cornelia Albani nach Ulm noch 1990 intensiviert wurde. Auch die Beziehungen zum Ehepaar Annelise Heigl-Evers und Franz Heigl sowie die privaten und wissenschaftlichen Kontakte mit Rainer Krause (Saarbrücken) und Wolfgang Senf (Heidelberg, später Essen) haben uns die Inte­gration in die westliche Welt der Psychoanalyse erleichtert.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Der Aufbau der administrativen Basisstrukturen zwischen 1990 bis 1993 Zum Zeitpunkt der Institutsgründung Anfang Mai 1990 befinden sich alle politischen und administrativen Strukturen im Osten im Umbruch. Der bereits im März 1990 gegründete Sächsische Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin und das neu gegründete Institut für Psychoanalyse müssen eine Fülle von Aufgaben übernehmen, die im Zusammenhang mit den sich neu bildenden politischen und fachpolitischen Strukturen auf dem Gebiet der DDR stehen. Nach der Volkskammerwahl im März 1990 und dem überzeugenden Votum der Bürger der DDR für die Linie Helmut Kohls überschlagen sich die politischen Ereignisse. Die Vereinigung Deutschlands rückt bereits ab April/Mai in greifbare Nähe, spätestens mit dem Beschluss zur Währungsunion, die in ungeheurer Geschwindigkeit bereits zum 30. Juni 1990 vorbereitet wird. Noch im ersten Halbjahr gründen sich Kassenärztliche Vereinigungen in der DDR mit Bezug zu Territorien, die den später gegründeten neuen Bundesländern entsprechen. Parallel werden Landesärztekammern nach dem Vorbild der westlichen Kammern gebildet. Beide Institutionen geraten unter immensen politischen Druck, in kürzester Zeit dem Westen ähnliche Strukturen aufzubauen und die Medizin im Osten der des Westens anzupassen. An den neu gegründeten Ausbildungseinrichtungen bleibt uns nicht viel Zeit zur Einstimmung auf die neuen Verhältnisse. Wir müssen sofort Ausbilder akkreditieren, Super­ visoren und Lehrtherapeuten benennen, Zertifikate ausstellen für Kollegen, die sich niederlassen wollen und der KV etwas vorlegen müssen, was den neuen Bestimmungen und Richtlinien entspricht. Die sich auflösende Zentrale Fachkommission Psychotherapie der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR verleiht der damaligen Handvoll Institutsgründer und Weiterbildungsleiter stationärer Psychotherapieeinrichtungen Anerkennungsbescheinigungen, die ihre Tätigkeit für die neuen Kassenärztlichen Vereinigungen und Ärztekammern legitimieren. Eine sich gründende analytisch orientierte Dachgesellschaft, die DGAPT (Deutsche Gesellschaft für Analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie e. V.), der abwechselnd der Hallenser Hans-Joachim Maaz und Roger Kirchner vorsitzt, bestätigt die psychoanalytische Qualifikation der ersten Supervisoren und Lehranalytiker der neuen Institute. Schließlich, ab 1991, kommt die psychotherapeutische ambulante Versorgung in Ostdeutschland durch eine erste Niederlassungswelle in Gang. Nach dieser hektischen Anfangsphase muss sich das Institut um die bundeseinheitlich geregelte KBV-Anerkennung als Ausbildungsinstitut für tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie bemühen. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung erlässt bereits 1991 Übergangsregelungen für die Anerkennung der Ost-Ausbildungsinstitute, insbesondere die Qualifikation ihrer Supervisoren und Lehrtherapeuten. Danach bedarf es einer zusätzlichen Lehranalyse über mindestens 100 Stunden bei Lehranalytikern KBV-anerkannter Institute. Das inzwischen in »Sächsisches Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V.«, kurz SPP, umbenannte Institut erhält bereits 1992 die Anerkennung als Ausbildungsinstitut für tiefenpsychologisch fundierte und 1993 für analytische Psychotherapie. Die Bürokraten taten sich dabei nicht sonderlich schwer mit uns. Das wurde natürlich anders, als wir uns um Zugang zur DGPT bemühten.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Der lange Weg zur Mitgliedschaft in der DGPT Mein erklärtes Ziel, die Ost-Psychoanalyse irgendwie an den Mainstream der Psychoanalyse heranzuführen, war nach der Gründung des Institutes in weiter Ferne. Es gab neben denen, die uns mit offenen Armen empfingen – Kächele, die Thomäs, Nedelmann, die Heigls, Henningsen und viele andere –, von Anfang an schroffe Zurückweisungen, die das Ziel zeitweilig unerreichbar erscheinen ließen. Die wesentlichen Stationen unserer Bemühungen um Zugehörigkeit zur DGPT nach der Maueröffnung seien hier nur kursorisch skizziert (} Abschnitt 6.5.1.1): Im September 1995 erkennt die DGPT auf meinen früh gestellten Antrag hin das Institut in Leipzig an, obwohl es die damals geltenden Voraussetzungen nicht erfüllte. Der Kompromiss in dieser unerfreulichen Situation: Das Institut macht keinen Gebrauch von der Anerkennung und die DGPT nimmt den Beschluss nicht zurück. Erst im Februar 1996, gut sechs Jahre nach dem Mauerfall, erlässt die DGPT Übergangsbestimmungen zur Erlangung persönlicher Mitgliedschaften der Ost-Psychoanalytiker, die hinsichtlich der notwendigen Stundenzahlen (Lehr- und Kontrollanalyse etc.) völlig indiskutabel sind. Nedelmann schlägt dem DGPT-Vorstand neue Kriterien vor und verhandelt darüber intensiv mit allen Parteien. Der Vorschlag der »Lehranalytiker-Konferenzen«, an denen teilzunehmen zur Lehranalytiker-Aanerkennung führen sollte, sowie einer »paritätische Kommission« zur Begleitung dieses Prozesses wird schließlich von der Mehrheit der Ost-Institute akzeptiert. 1998 werden die ersten Lehr- und Kontrollanalytiker durch die DGPT anerkannt. 2000 werden bis auf Halle die Ost-Institute Mitglieder der DGPT. Das Leipziger Institut, seit 1995 bereits DGPT-Institut, nennt sich jetzt auch offiziell so.

Die weitere Entwicklung des SPP Die Supervisoren des Institutes beginnen kurz nach der Wende die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung geforderte 100-stündige Lehranalyse. Einige absolvieren eine weitere Ausbildung und streben die Mitgliedschaft in einem DPV-Institut an. Auf diese Weise und mit Hilfe neuer Mitglieder des Institutes mit westdeutscher psychoanalytischer Sozialisation kommen neue Standards und Gebräuche in unser Institut, was umgehend zu Diskussionen über Grenzen der Liberalität im SPP führt.

Die Entwicklung des Institutes nach dem Psychotherapeutengesetz Das 1998 verabschiedete Psychotherapeutengesetz stellte das Institut vor neue Aufgaben und erzwingt die Klärung schwelender Konflikte. Um die Jahrtausendwende kommt es zu offenen Auseinandersetzungen unter den Mitgliedern über den weiteren Weg des Instituts, die dem SPP einen Entwicklungsschub verleihen. Anlass ist die durch mich initiierte Gründung eines An-Institutes für Psychologische Psychotherapie der Leipziger Universität, das von vornherein als methodenübergreifend konzipiert ist und Verhaltenstherapie, Psychodynamische Psychotherapie, Analytische Psychotherapie und Gesprächspsychotherapie unter einem Dach zur Zusammenarbeit bringen will. Das SPP soll zwar weiter eigenständig exis-

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

tieren, jedoch dort den Bereich Analytische Psychotherapie besetzen. Die theoretische Grundausbildung im Sinne des Psychotherapeutengesetzes soll für alle Verfahren gemeinsam erfolgen. Das war eine ziemliche Zumutung für diejenigen Institutsmitglieder, die entweder aus traditionellen analytischen Instituten des Westens zu uns gestoßen waren oder dort inzwischen ihre psychoanalytische Nachqualifikation erhalten hatten. Diese sahen die Psychoanalyse in Gefahr. Eine andere Fraktion, die Psychodynamiker, sahen sich wiederum durch psychoanalytische Orthodoxie usurpiert. Es waren Auseinandersetzungen, die aus heutiger Sicht nur unzureichend in Klischees zu fassen sind. Jedenfalls gab es nach langen Diskussionen ein Ergebnis, das allen Mitgliedern eine Heimat im Institut bescherte. Es wurde ein Satzung erarbeitet, die eine selbständige Entwicklung und gleichzeitig die gleichberechtigte Zusammenarbeit psychodynamischer und psychoanalytischer Kolleginnen und Kollegen in entsprechend unterschiedlich geleiteten Fachbereichen ermöglichte. Die gemeinsame theoretische Grundausbildung und die entsprechende Kooperation mit dem Institut für Psychologische Psychotherapie kamen ebenfalls zustande. Inzwischen hat sich wohl diese Institutsstruktur bewährt, weil sie neuen Entwicklungen Chancen gibt. Immerhin hat sich auf dieser Grundlage die hochfrequente Psychoanalyse als Arbeitsgemeinschaft der DPV und die Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in eigenen Fachbereichen etabliert.

Ausblick 20 Jahre nach der Institutsgründung hat die Psychoanalyse in Leipzig wieder Fuß gefasst und eine stärkere Position als je zuvor. Sie hat Anschluss gefunden an verschiedene Strömungen der internationalen Entwicklung und einige Mitglieder des Institutes haben es sogar in die IPA geschafft. Die stolze Zahl von 80 Kandidaten wird hier ausgebildet und das Institut nimmt Einfluss weit in die sächsische Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft hinein. Ich bin mir ziemlich sicher, Therese Benedek wäre stolz auf ihr Leipziger Erbe.

6.5.1.3 Margit Venner und Irene Misselwitz: Wurzeln und Entwicklung des Thüringer »Instituts für Psychotherapie und Angewandte Psychoanalyse e. V.« Seit 1952 gab es an der Medizinischen Universitätspoliklinik in Jena unter Kleinsorge und Klumbies eine psychotherapeutische Abteilung, in der Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen aus der Inneren Medizin psychotherapeutisch behandelt wurden. Die Behandlung bezog sich auf ein psychophysiologisches Krankheitsmodell, es wurden symptomzentrierte Verfahren angewandt wie Autogenes Training, Hypnose, Katathymes Bilderleben und psychagogische Gespräche. Da diese Methoden nicht ausreichend waren, wurden zunehmend aufdeckende, also psychoanalytisch orientierte Methoden eingesetzt, sowohl einzeln als auch in der Gruppe. Seit 1978 gab es auch an der Universitätsnervenklinik in Jena eine Psychotherapie-­ Station, in der überwiegend tiefenpsychologisch orientierte Gruppentherapie angewandt

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wurde. Beide Abteilungen kooperierten intensiv, wobei die Psychotherapie-Abteilung der Inneren Medizin überwiegend Entwicklungshilfe leistete. Beide Abteilungen waren in Lehre und Forschung im Fach Medizinische Psychologie tätig. Hier mussten auch Lehrinhalte der ärztlichen Psychotherapie untergebracht werden, da das Fach Psychosomatik/Psychotherapie in der ärztlichen Approbationsordnung der DDR nicht vorgesehen war. Beide Abteilungen waren zur Aus- und Weiterbildung sowohl für Ärzte als auch für Psychologen ermächtigt. Im Jahre 1993 gründeten wir, die beiden Leiterinnen der genannten Abteilungen, ein Institut zur Aus-, Weiter- und Fortbildung in tiefenpsychologisch fundierter und ana­ lytischer Psychotherapie. Parallel dazu wurde von den Thüringer Psychotherapeuten der »Thüringer Weiterbildungskreis für Tiefenpsychologie und Psychotherapie« ins Leben ­gerufen. Gleichzeitig waren die Initiatoren der genannten Vereine in der Thüringer KV tätig, um die im Einigungsvertrag festgelegten Übergangsbestimmungen für das Fach zu reali­ sieren. Außerdem musste um die berufspolitische Anerkennung sowohl bei der KBV als auch bei den etablierten westdeutschen psychoanalytischen Gesellschaften gerungen werden und es mussten akzeptierte Übergangsregelungen geschaffen werden. Dies erwies sich als außerordentlich mühselig. Wir mussten feststellen, dass wir der Sprache der bundesdeutschen Bürokratie nicht mächtig waren und dies bei den westdeutschen Amtsträgern auf Unverständnis stieß. Beide Seiten dachten, fühlten und sprachen anders, wobei der Anpassungsdruck natürlich nur bei uns lag. Nachdem die KBV eine gewisse Anzahl von Lehranalytikern nach Realisierung entsprechender Übergangsbestimmungen (eine begrenzte Lehranalyse bei einem westdeutschen Lehranalytiker) bestätigt hatte, war der Weg frei für die Institutsgründung nach den Vorgaben der KBV im Jahre 1995. 1998 war es für uns möglich, Mitglied der DGPT zu werden. Für die Anerkennung unseres Instituts durch die DGPT und die Anerkennung unseres Lehranalytikerstatus mussten wir noch eine mehrjährige Gruppensupervision bei einem westdeutschen Lehranalytiker absolvieren. Diese Gruppe sollte ursprünglich sowohl von ostdeutschen als auch von westdeutschen Lehranalytikern besucht werden, was jedoch von westdeutscher Seite nicht realisierte wurde. Diese Gruppenarbeit erwies sich als außerordentlich attraktiv und ergiebig, so dass drei von ursprünglich vier Gruppen bis heute weiter existieren und zum Teil von der DGPT weiter unterstützt werden. Die DGPT hat unser Institut im Jahre 2000 anerkannt und den Lehranalytikerstatus der in Frage kommenden Kolleginnen und Kollegen ebenfalls. Die Anerkennung als Ausbildungsstätte für Psychologische Psychotherapeuten nach dem Psychotherapeutengesetz wurde im Jahre 1999 durch das Thüringer Ministerium ausgesprochen. Zu Beginn wurden an unserem Institut die niedergelassenen, in der DDR-Zeit ausgebildeten Psychotherapeuten nach den Übergangsbestimmungen nachqualifiziert. Inzwischen sind diese Bestimmungen abgelaufen und das Institut bildet Ärzte und Psychologen in tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Psychotherapie für Erwachsene und seit einem Jahr auch für Kinder und Jugendliche (nur Tiefenpsychologie) nach der Aus- und Weiterbildungsordnung der DGPT aus.

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6.5.1.4 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Die Gründung des Mitteldeutschen Institutes für Psychoanalyse e. V. (MIP) in Halle/Saale Der gesellschaftspolitische Umbruch 1989/90 machte uns führenden Psychotherapeuten in der DDR schnell klar, dass wir die wesentlichen Gestaltungsaufgaben in der Neuordnung der Psychotherapie, insbesondere in der Weiter- und Fortbildung von Ärzten und Psychologen, selbst in die Hand nehmen mussten, und zwar sowohl auf regionaler Ebene als auch in der neuen Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fachgesellschaften, Verbänden und Körperschaften öffentlichen Rechts wie Kassenärztliche Bundesvereinigung und Bundes­ ärztekammer. Es ging u. a. darum, dass unsere erprobten Therapieverfahren Eingang in die Psychotherapie-Richtlinien fanden und die Nachqualifizierung vieler Kollegen, die sich niederlassen wollten, auf einem hohen Niveau erfolgte. Auf den verschiedensten Ebenen wurde um die Umsetzung dieser Aufgaben gerungen. Schon im März 1990 wurde ein Lehrgang für Weiterbildungsleiter Psychotherapie in Berlin genutzt, die Entwicklung von künftigen Institutionen und Bildungsgängen der psychotherapeutischen Weiterbildung zu entwerfen sowie die Anerkennung von Weiterbildungsrichtlinien und -leitern und die gesamtdeutsche Anerkennung des Facharztes für Psychotherapie auf dem Hintergrund zu erwartender gesundheitspolitischer Strukturen zu betreiben. Im späteren Land Sachsen-Anhalt bildete sich schon frühzeitig 1990 ein Weiterbildungskreis, in dem sich Kollegen aus den Bezirken Magdeburg und Halle engagierten. Die Vorstände der regionalen Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie des Bezirkes Halle und Magdeburg waren bestrebt, eine Landesgesellschaft zu gründen (Protokoll vom 13. August 1990). Die alle neuen Länder umfassende Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) fungierte dann als Dachgesellschaft und Sachverständigenkommission für die wesentlichen Psychotherapieverfahren. Hilfreich waren in diesem Prozess auch meine Aktivitäten bei der Ärztekammerbildung Sachsen-Anhalt, ich (Erdmuthe Fikentscher, E. F.) wurde 1. Vorsitzende des Ausschusses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Landesärztekammer Sachsen-Anhalt sowie 1992 als Mitglied im Weiterbildungsausschuss für alle Fachgebiete berufen. Eine weitere ostdeutsche Aktivität war die Gründung der Akademie für psychodynamische Therapie und Tiefenpsychologie e. V. mit dem 1. Vorsitzenden H.-J. Maaz, in die besonders die Aktivitäten der Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie einflossen. Zur Sicherstellung der ambulanten Versorgung wurde am 12. September 1992 zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt, dem Arbeitskreis niedergelassener Psychologen im Berufsverband Deutscher Psychologen (BDP) Sachsen-Anhalt und der Sachverständigen Kommission der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP), die zugleich als Sachverständigenkommission für Psychotherapie bei der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt tätig war (vertreten durch H.-J. Maaz und H. Hennig), ein Protokoll zur Umsetzung der Psychotherapie-Richtlinien in Sachsen-Anhalt unterschrieben, das das für Deutschland neue »Kooperationsmodell« zwischen Ärzten und Psychologen ermöglichte. Durch die Teilnahme an psychotherapeutischen Fachtagungen, insbesondere der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung, seit Frühjahr 1990 (bei denen E. F. bald als gewähl-

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ter Gast des Vorstandes auch an Abschlusskolloquien von Kollegen teilnehmen konnte) und an den zweimal jährlich stattfindenden Treffen der leitenden Fachvertreter für Psychotherapie und Psychosomatik der deutschen Universitäten wurde deutlich, dass wir unsere Bemühungen in Richtung analytische Ausbildung vertiefen und strukturieren mussten. Auf Empfehlung meines Onkels (E. F.) und DPV-Analytikers, Prof. Dr. Joachim Scharfenberg, war Ende 1990 Prof. Dr. Klaus Hoppe aus Los Angeles (USA) zu uns nach Halle gekommen, um sich über die politischen und fachlichen Veränderungsprozesse zu informieren. Es gelang, für ihn eine dreisemestrige Gastprofessur an der Universität von 1991 bis 1992 einzurichten, anschließend war er noch einige Jahre in Altenburg tätig. Damit schufen wir gute Bedingungen für Vorlesungen und Seminare in analytischer Psychotherapie und ermöglichten auch eine vertiefte praktische Ausbildung (dyadische Selbsterfahrung, Lehranalyse und Super­ vision). Zusätzlich kamen noch andere wichtige Psychoanalytiker wie Horst Kächele und Helmut Thomä aus Ulm, Carl Nedelmann aus Hamburg und Tomas Plänkers aus Frankfurt zu Seminaren und Supervisionen nach Halle. Auf der Ebene der methodenspezifischen Fachgesellschaften gab es wesentliche Veränderungen und Neugründungen. So wurde von der AGKB-DDR schon im Juli 1990 die »Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie und Psychologie e. V.« (GKB) in Halle gegründet. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde der Vereinsname im Februar 1991 in »Mitteldeutsche Gesellschaft für Katathymes Bilderleben in der Psychotherapie und Psychologie e. V.« (MGKB) verändert. Das Ausbildungscurriculum basierte auf psychoanalytisch bzw. tiefenpsychologisch orientierten Vorstellungen. Des Weiteren wurde 1991 die Deutsche Gesellschaft für analy­ tische Psychotherapie und Tiefenpsychologie e. V. (DGAPT) von den Fachgesellschaften »Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie e. V.«, »Mitteldeutsche Gesellschaft für Katathymes Bilderleben e. V.«, Sektion Dynamische Einzelpsychotherapie der GPPMP (als Dachgesellschaft) und der Weiterbildungskreise für ­analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie der Länder Berlin (Ost), Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gegründet, deren 1. Vorsitzender Roger Kirchner wurde. Die DGAPT war wichtiger Austausch- und Verhandlungspartner mit den westdeutschen analytischen Gesellschaften, insbesondere der DGPT. In den ersten drei Jahren des deutschen Einigungsprozesses war die Anerkennung ostdeutscher ärztlicher und Psychologischer Psychotherapeuten in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie, Verhaltenstherapie sowie Psychotherapie im Kindes- und Jugend­ alter erreicht worden. Die DGAPT sah für sich die Aufgabe, die Weiterbildung und psychotherapeutische Versorgung in analytisch begründeten Therapieverfahren in den ostdeutschen Ländern nach hohen Qualitätsstandards zu befördern, auf der Grundlage der Zusammenarbeit mit den Landesärztekammern und Kassenärztlichen Vereinigungen, den Berufsverbänden der Psychotherapeuten und den entsprechenden Institutionen auf Bundesebene. Von vornherein war von uns eine multimodale Vorgehensweise konzipiert, da fundierte Erfahrungen aus den unterschiedlichen Richtungen eingebracht wurden. Die relative Unabhängigkeit gegenüber Dogmen und theoretischen Spekulationen machte uns den integrativen Gedanken unter dynamischen Gesichtspunkten besonders wertvoll.

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Die zweite Mitgliederversammlung der DGAPT am 30. Oktober 1993 führte zu einer Veränderung, nicht alle Untergliederungen waren weiter bereit mitzuwirken, beendeten ihre Mitgliedschaft und zum 1. Vorsitzenden wurde H.-J. Maaz gewählt. Parallel zu diesen Bemühungen für eine ostdeutsche analytische Fachgesellschaft liefen in Halle die Vorbereitungen für die Gründung des Mitteldeutschen Institutes für Psycho­ analyse und Tiefenpsychologie e. V. (MIP). Als erste Lehranalytiker wurden Erdmuthe Fikentscher, Heinz Hennig und Hans-­ Joachim Maaz anerkannt, unser Ausbildungscurriculum fand volle Bestätigung. Unsere verschiedenen Wurzeln spiegelten sich in dem multimodalen Konzept unterschiedlicher Zugangswege wider, wir erlebten einen vielfältigen fachlichen Austausch bei gleichzeitig solidem methodischem Vorgehen (Maaz, Hennig u. Fikentscher 1997). Mit Schreiben vom 23. Juli 1993 teilte Dr. Dahm von der KBV mit, dass das MIP als erstes ostdeutsches Ausbildungsinstitut für tiefenpsychologisch fundierte und analytische Psychotherapie gemäß § 3.3. der Vereinbarung über die Anwendung der Psychotherapie in der kassenärztlichen Versorgung und gemäß § 3.2. der Anlage 1 zum Arzt-/Ersatzkassenvertrag über die Anwendung von Psychotherapie in der vertragsärztlichen Versorgung in die Liste der Ausbildungsinstitute der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aufgenommen worden war. In dieser von der KBV veröffentlichten Liste vom 2. August 1993 wird das MIP als 35. Ausbildungsinstitut aufgeführt. Die konstituierende Sitzung des MIP fand am 11. September 1993 statt, 15 Mitglieder waren anwesend, es erfolgte die Wahl des ersten Vorstandes mit Dr. Hans-Joachim Maaz als 1. Vorsitzenden, Prof. Dr. H. Hennig als 2. Vorsitzenden, Dr. H. Tschersich als Geschäftsführer/Sekretär, Dr. Wachter als Vorsitzender des Ausbildungsausschusses, Frau Dr. H. Hess als Vorsitzende des Unterrichtsausschusses, Frau Prof. Dr. E. Fikentscher als Vorsitzende des Prüfungsausschusses und als Schatzmeister Dr. W. Rosendahl. Durch die KBV war noch Dr. Schulz als Lehranalytiker anerkannt worden, vom MIP wurden Dr. Drees, Dr. Wachter, Frau Dr. Hess und Frau Dr. Haas, Dr. Schmitt, Dr. Jäckel, Dr. Franke, Dr. Brandenburg, Dr. Höhne und Dipl.-Psych. Morich ernannt. Als Lehrtherapeuten- und Lehranalytikerkandidaten wurden Dr. Tschersich, Dr. Rosendahl und Dr. Bahrke benannt. Neben der Besetzung der Ausschüsse ging es um weitere Aufgaben wie Statut und Satzung, Wahlordnung, Geschäftsordnung des Vorstandes und Gebührenordnung. Diese Aufgaben sollten unter der Leitung des Geschäftsführers bis zur nächsten Sitzung am 17. Dezember 1993 erarbeitet werden. Ein vorübergehender Ausschuss zur Erarbeitung der Richtlinien für die Ausbildung wurde von Dr. Maaz geleitet. In der zweiten Sitzung wurden Satzung, Wahlordnung, Geschäftsordnung für den ­Vorstand, Gebühren-, Beitrags- und Honorarordnung, Entwurf der Ausbildungsrichtlinien für die Übergangsregelung, der Entwurf des Unterrichtsplanes und die Organisation der Ausbildung beraten und beschlossen. Die Satzung des Mitteldeutschen Institutes für ­Psychoanalyse wurde allen Mitgliedern nochmals zugesandt und um schriftliche Stellungnahme gebeten. Am 4. Januar 1994 wurden in der dritten Mitgliederversammlung nach Diskussion die Satzung des Vereins, Geschäfts- und Wahlordnung angenommen, es erfolgte ein Beschluss zur Ausbildungs- und Prüfungsordnung entsprechend Übergangsregelung des Institutes,

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gleichzeitig wurde ein Studienbuch entworfen. Die Erarbeitung eines gemeinsamen Theorieprogramms des MIP erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Weiterbildungskreis SachsenAnhalt. Schon am 20. April 1994 war die nächste Sitzung des MIP erforderlich. So wurden weitere Gastdozenten und Gastanalytiker wie Frau Dipl.-Psych. Brunotte, Herr Prof. Dr. Klaus Hoppe und Frau Dr. Hochauf bestimmt. Es wurden einstimmig Regelungen zur Gleichwertigkeit der Ausbildungsanteile innerhalb der Übergangsregelungen beschlossen, wobei die drei Säulen der vollständigen Ausbildung entsprechend der Curricula im Katathymen Bilderleben, in der Gruppenselbsterfahrung und in der Dyade als Voraussetzungen angesehen und Übergangsregelungen beim Fehlen einer der Säulen aufstellt wurden. Der Geschäftsführer wurde beauftragt, die Eintragung des MIP beim Vereinsregister am Kreisgericht Halle/Saale zu befördern. Viele weitere Beratungspunkte gehen aus dem Protokoll dieser und späterer Mitgliederversammlungen und Vorstandssitzungen hervor. Neben der Entwicklung des Theorie- und Seminarprogramms und dem Austausch der Erfahrungen in den verschiedenen Ausschüssen ging es oft auch um Beratung von Einzelfällen. In der Mitgliederversammlung am 19. November 1994 wurde nochmals betont, dass mit den Ausbildungskandidaten ein Weiterbildungsvertrag abzuschließen ist. Als Ausbildungskandidaten entsprechend Übergangsregelung kamen nur solche Kollegen in Frage, die langjährige Erfahrungen und Weiterbildungen in Psychotherapie (mindestens fünf Jahre) entsprechend den drei Säulen nachweisen konnten. Neben der analytischen Ausbildung stellte sich das Institut immer auch der Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie sowohl für Psychologen als auch für Ärzte, die die Ausbildungsschritte für die Zusatzbezeichnung »Psychotherapie« oder im Rahmen der Facharztausbildung für Psychotherapeutische Medizin einzelne Bausteine am MIP absolvieren konnten. Neben Mitgliederversammlungen und Vorstandssitzungen bildete sich bald die Tradition heraus, dass Klausurtagungen im Sinne eines zwanglosen Erfahrungsaustausches aller Lehrtherapeuten und Lehranalytiker des MIP stattfanden. So organisierte Dr. Paul Franke am 2./3. September 1995 in Barby die erste Klausurtagung. Die anwesenden Lehranalytiker und Lehrtherapeuten gaben in den teilweise sehr persönlich vorgetragenen Mitteilungen ein Bekenntnis zu einem multimodalen integrativen Ansatz der Psychoanalyse, in die das klassische analytische Setting, aber auch Katathym-Imaginative und körpertherapeutische Methodik einbezogen sind. Dies sollte auch über den Zeitraum der Übergangsregelung des MIP hinaus gelten. Die Anwesenden verständigten sich auf prozessbezogene Wahl des Settings, wobei die Couch die Leitfunktion haben sollte. Die Reife der Kandidaten und die Qualität der analytischen Beziehung sollten ausschlaggebend sein für die Wahl des aktuellen Settings. Diese Konzeption diente der Erweiterung von Übertragungsmöglichkeiten, der Mobilisierung und Bearbeitung von latenten Rivalitäten unter den Analytikern, der Dynamisierung von Widerständen und wechselseitigen Weiterführung und Klärung bisher unbewältigter Themen. In diesen Jahren wuchs auch der Austausch und die Diskussion über Kooperationsmöglichkeiten zwischen ostdeutschen und DPV-Instituten, es gab eine Ost-West-Kommission, die zwei Mal jährlich tagte und zunächst sehr bereichernd war. Zunehmend wurden aber

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Fragen der Strukturbildung und Anpassung von westlicher Seite drängend gestellt. Es gab einen regelmäßigen Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden, Dr. Maaz, und der Vorsitzenden der DGPT, Frau Dr. Bell, auch um die Anerkennung als DGPT-Institut. Der Erfahrungsaustausch der Lehranalytiker und Lehrtherapeuten am MIP in Barby führte zu einem Beschluss, dass Dr. Maaz die anderen ostdeutschen Institute anschreiben sollte zur Absprache über die kommenden Verhandlungen mit der DGPT. Zentraler verbindender Gedanke war, dass der eigene ostdeutsche Weg in der Analyseausbildung ohne Auflagen der DGPT anerkannt werden sollte. Es wurde die erste größere Tagung der DGAPT vorbereitet mit dem Thema »Analytische Psychotherapie in den neuen Bundesländern«. In der Folge fand ein Gespräch der Vorsitzenden der KBV-anerkannten Ost-Institute (Halle, Leipzig, Berlin und Rostock) mit der DGPT statt, um die Frage der Einzelmitgliedschaft in der DGPT für Ost-Analytiker zu klären, die nicht nach den Bedingungen der DGPT ausgebildet wurden. Die Position des Vorsitzenden des MIP, Dr. Maaz, wurde vom Vorsitzenden der DGPT, Herrn Dr. Höhfeld, nicht akzeptiert, vor allem auch, weil es dafür keine Unterstützung von den anderen Ost-Instituten gab. Es wurde eine kurzfristig anberaumte Mitgliederversammlung am 21. Januar 1996 erforderlich, in der die weiteren Verhandlungen mit der DGPT und die grundsätzliche Position des MIP beraten werden sollten. Im September 1996 wurde in Lindau der Antrag des Arbeitskreises Ost-West an die Mitgliederversammlung der DGPT zum Erwerb der persönlichen Mitgliedschaft, zur Ermächtigung von Lehr- und Kontrollanalytikern und zur Anerkennung von Instituten in den neuen Bundesländern beraten. Auch im Vorstand der DGAPT wurde dieses Papier ausführlich diskutiert und kritisch gewürdigt und ein Gegenvorschlag der Mitgliederversammlung der DGPT zur Diskussion gestellt, wobei Dr. Maaz unser Interesse an einer kooperativen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit der DGPT stets betonte. Diese Verhandlungen mit der DGPT füllten auch weitere Mitgliederversammlungen des MIP aus, wobei die Mitglieder den neuen Vorschlag ablehnten und Dr. Maaz beauftragten, an Dr. Nedelmann eine Stellungnahme zu schreiben. Eine längere Zeit ging es auch um die von Dr. Kirchner und Dr. Seidler vorgeschlagene Gründung eines »Kollegiums der Ost-Institute«, an dem durchaus Interesse seitens der Mitglieder des MIP bestand. Hinsichtlich der Rolle und Funktion der DGAPT wurde festgestellt, dass diese eine unabhängige analytische Fachgesellschaft sein sollte, die wissenschaftlich frei und nicht durch Richtlinien, Auflagen und Anerkennungsfragen beeinflusst werden sollte. Die nächste Klausurtagung – verbunden mit Mitgliederversammlung – war am 14./­ 15. Dezember 1996 auf Schloss Meisdorf. Wesentliche Tagungsordnungspunkte waren die Klärung des Verhältnisses der Ost-Institute untereinander, der Situationen gegenüber der DGPT, das Weiterbildungsprogramm und die Organisationsstrukturen sowie das Innenverhältnis im MIP, wobei es besonders um konzeptionelle Verständigung ging. Vom 31. Mai bis 1. Juni 1997 fand eine Klausurtagung in Barby/Elbe, organisiert von Herrn Dr. Franke, statt. Die Falldarstellungen von Mitgliedern ergaben einen anschaulichen und tieferen Einblick in individuelle Arbeitsweisen der Kollegen. Möglichkeiten der persönlichen Verwicklung im analytischen Prozess wurden reflektiert. Zentrale Beziehungs- und Arbeitsstörungen konnten in ihrer szenischen und inhaltlichen Botschaft verstanden und bearbeitet werden. Des Weiteren wurden drei Arbeitsgruppen beschlossen (analytische Ima-

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ginationstherapie, körpertherapeutische Interventionen im analytischen Setting, analytische Gruppe). Weiterhin wurde die zweite Arbeitstagung der gemeinsam von DGAPT, MIP und Universität Halle veranstalteten Arbeitstagung »Integrative Praxis des multimodalen Modells« vorbereitet. Der Vorsitzende, Herr Dr. Maaz, erläuterte den Briefwechsel zwischen ihm und dem Vorsitzenden DGPT, Herrn Höhfeld, bezüglich der Konditionen einer DGPTMitgliedschaft des MIP und der von Herrn Maaz vorgeschlagenen Kooperation zwischen den analytischen Gesellschaften DGAPT und DGPT. Vorstand und Beirat der DGPT bedauerten die Ablehnung der Mitgliedschaft des MIP unter den Bedingungen der DGPT und auch die Absage für die Beteiligung an der »Paritätischen Kommission«. Weiterhin war aber die DGPT an einem regelmäßigen fachlichen Austausch und an berufspolitischen Absprachen interessiert. Eine institutionalisierbare Kooperation wurde nicht vereinbart. Es wurde deutlich, dass der Vorsitzende, Herr Dr. Maaz, das Bemühen um Eigenständigkeit und Vertreten des spezifischen Weges in der analytischen Psychotherapie mit multimodalem und integrativem Ansatz für psychoanalytische und tiefenpsychologische Methoden weiter vertreten will. Herr Dr. Rosendahl berichtete über die Sitzung des Kollegiums der Ost-Institute mit Erarbeitung eines einheitlichen Prüfungsstandards zur gemeinsamen Anerkennung von Ausbildungsanteilen sowie Austausch von zahlreichen organisatorischen Fragen. Am 13./14. Dezember 1997 fand im Hotel Löwenhof in Magdeburg die nächste Klausurtagung des Institutes mit gleichzeitiger Mitgliederversammlung statt. Die Berichte umfassten die DGPT-Tagung in Fulda, die Sitzung des Kollegiums der Ost-Institute sowie Vorbereitung der DGAPT-Tagung vom 27.–29. März 1998 in Halle. Des Weiteren wurden ein gruppenanalytisches Konzept, die multimodale analytische Ausbildung und die praktischen Auswirkungen sowie die Weiterbildungssituation diskutiert. Ein wichtiger Bestandteil war auch wieder ein Fallbericht, der besonders unter behandlungstechnischen Aspekten erörtert wurde. Die Neuwahl des Vorstandes brachte keine Veränderung. Hans-Joachim Maaz führte für weitere zwei Jahre das Institut. Im September 1998 war eine erweiterte Vorstandssituation erforderlich, um die Veränderungen und Entwicklungen in Aus- und Weiterbildung durch das Psychotherapeutengesetz zu beraten. Die Bedeutung des MIP für den Weiterbildungsprozess »Psychologischer Psychotherapeut« lag darin, dass es eine kompetente Einrichtung zur Erlangung des staatlichen Abschlusses/Approbation darstellte. Es musste dafür noch ein gesondertes curriculäres Weiterbildungsangebot erstellt werden, um die Landesanerkennung des Institutes zu erreichen. Im Januar 1999 wurde auf der Mitgliederversammlung die Entwicklung des Institutes angesichts des Psychotherapeutengesetzes besprochen, ab 1. Januar 1999 galten die neuen Psychotherapie-Richtlinien und Vereinbarungen. Wie schon in Sachsen-Anhalt üblich, fiel das Delegationsverfahren durch direkte Überweisung an die Psychologischen Psychotherapeuten weg. Vom Institut war zu organisieren, dass für die psychiatrische Weiterbildung Ausbildungsplätze und Hospitationen durch Kooperationsvereinbarungen vorgehalten werden konnten. Der Prüfungsausschuss konnte von neun seit 1997 erfolgreich mit dem Kolloquium abgeschlossenen Weiterbildungen berichten. Insgesamt waren bis zu der Mitgliederversammlung am 8. Januar 2000 eine erfreuliche Entwicklung im Institut und eine breite Auswirkung in die Region festzustellen. Die Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosoma-

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tik und Tiefenpsychologie e. V. (DGPT) gestaltete sich zunächst weiterhin schwierig und mit unterschiedlichen Vorstellungen, die in den nächsten Jahren zu klären waren. Immerhin ließen sich nach 2000 mancherlei Irritationen beheben und ein allmähliches Annähern des MIP an die DGPT konnte erreicht werden. Dies führte schließlich 2004 zur Mitgliedschaft des MIP in der DGPT als freies Institut.

6.5.1.5 Christoph Seidler und Michael Froese: Endlich Freiheit, endlich Psychoanalyse? – Zur Gründungsgeschichte der »Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin« (APB)58 Mit dem Titel unserer ersten Arbeitstagung 1997 »Wege zur Psychoanalyse« meinten wir die Suche nach Spuren der Psychoanalyse in der ehemaligen DDR. Und da die meisten von uns durch den Kanal »Haus der Gesundheit« gegangen sind, geht es zu allererst um Spuren der Psychoanalyse im Haus der Gesundheit und den Weg von dort in die heutige Situation. Es sei zunächst an die Daten der Anfangszeit von Psychotherapie im Haus der Gesundheit Berlin erinnert: Am 1. Oktober 1949 wurde dort die psychotherapeutische ­Abteilung gegründet. Bis 1956 wurde hier fast ausschließlich einzelanalytisch behandelt; die Thera­ peuten waren Analytiker oder Ana­lytiker in Ausbildung, zumeist im Westberliner SchultzHencke-lnstitut. Ab 1956, verstärkt ab 1964 mit Entstehen der Neurosenklinik Hirschgarten, nahm die Gruppenpsychotherapie an Bedeutung zu. Ab 1973 wurde das Klinikregime rein gruppenpsychotherapeutisch. Die Gruppenpsychotherapie bezeichnete Kurt Höck von nun an als »Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie«. Wie viel/wie wenig Psychoanalyse mit der »Intendierten« transportiert wurde, ist eine wichtige Frage, der wir heute nachgehen müssen. Unter den beschriebenen Bedingungen der DDR und der mit ihr möglich gewordenen Selbsterfahrung in Psychodynamischer Psychotherapie war diese Methode außerordentlich prägend und für viele Kollegen unserer Gruppe in ihrem Selbstverständnis als psychodynamisch arbeitende Therapeuten identitätsstiftend. Ihre Spuren finden sich sicher noch heute. Um unseren Umgang mit der psychoanalytischen Tradition einordnen zu können, ist natürlich eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie unumgänglich. Diese Auseinandersetzung fand nach 1990 mehrfach und unter verschiedenen Aspekten statt – vgl. u. a. Bartuschka (1992), Froese und Seidler (1994), Froese (1999), Froese und Misselwitz (2001), Seidler und Froese (2002) – und dauert bis heute an. Wir wollen sie daher in unserem Beitrag nicht noch einmal aufgreifen.

Die Situation am Haus der Gesundheit Mitte der 1980er Jahre Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung Lassen Sie uns einen Blick zurückwerfen auf das Jahr 1985: Gerade wird Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU. Aufbruchstimmung im sozialistischen Lager, auch in der DDR. Kurt 58 Gekürzte und aktualisierte Fassung des Beitrages der Autoren »Endlich Freiheit, endlich Psychoanalyse?!« (Seidler u. Froese 2002).

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Höck wird 65, es ist der Höhepunkt seiner Ära. Kollegen aus dem In- und Ausland, auch staatliche Stellen gratulieren. Die entscheidende Anerkennung seiner Lebensleistung staatlicherseits bleibt aber aus. Mit Recht – kann man heute sagen –, denn das von ihm entwickelte Konzept war zwar auf dem Boden der kollektivistischen Gesundheitspolitik als Gruppenmethode passend erschienen. Mit seinem psychodynamisch-analytischen Grundverständnis und der Idee einer Befreiung des Einzelnen aus der Abhängigkeit von der Autorität durch kollektives Aufbegehren war es in seinem Kern demokratisch-emanzipativ und für das politische Denken der DDR subversiv. Auch für uns überraschend realisierte sich in der friedlichen Revolution auf wundersame Weise das Kernkonzept unserer Gruppenmethode im gesellschaftlichen Raum. Das Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung (IfPN) besteht zu dieser Zeit aus drei Abteilungen: Ambulanz und Weiterbildung: Wir sind 16 akademische Mitarbeiter, davon die Hälfte ­Ausbildungsassistenten zum Facharzt für Psychotherapie oder zum Fachpsychologen. 2000 Neuzugänge pro Jahr werden behandelt mit Autogenem Training, Verhaltenstherapie in Form von Progressiver Relaxation und Selbstsicherheitstraining, sog. multimodale Syndromgruppen für die Behandlung von psychosomatisch Erkrankten (Hochdruck, Migräne, Ulcuskrankheiten), Gesprächstherapie als konfliktzentriertem Verfahren, Einzelgesprächen und Gruppenpsychotherapie. Neurosenklinik Berlin-Hirschgarten mit 28 Betten, organisiert nach dem Prinzip der »Therapeutischen Gemeinschaft«, mit täglichen Gruppengesprächen und – integriert in den Gruppenprozess – vielfältigen kreativen und nonverbalen Begleitmethoden. Über die ambulant-stationäre Verzahnung wurde schon viel berichtet. Forschungsabteilung mit einer psychologischen Leiterin, einem Mathematiker, einem Physiker und drei technischen Mitarbeitern. Ein Prinzip bestand darin, dass alle Behandler auch wissenschaftlich tätig waren. Gruppenprozessforschung ist neben Epidemiologie neurotisch-funktioneller Störungen ein zentrales Thema des Forschungsprojektes »Psychonervale Störungen« des Ministeriums für Gesundheitswesen. Zur Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie gibt es drei Habilitationen, zwölf Dissertationen, Diplomarbeiten, eine eigene Schriftenreihe Psychotherapieberichte mit jährlich vier Heften (1985). Die Entwicklung der »Intendierten« nimmt ab 1986 einen eigenen Verlauf: Benkenstein ­leitet die achte Kommunität ausdrücklich in der Absicht, die Selbsterfahrung des Einzelnen und sein einmaliges Gewordensein in das Zentrum zu rücken, d. h., stärker regressive Prozesse zu ermöglichen. Dabei zeigen sich Probleme bei den Trainern, insbesondere das Agieren von Gegenübertragungen. Aus hauptsächlich diesem Grund geht eine Gruppe von ihnen 1988 für vier Wochen in eine stationäre Einzel- und Gruppen-Selbsterfahrung. Das Setting dieser vertieften Selbsterfahrung lässt sich als analytische Gruppe unter Einbeziehung körperorientierter Methoden und der Nutzung von zusätzlichen Verfahren wie Musik-, Gestaltungs- oder Bewegungstherapie beschreiben. Von da an und verstärkt nach der Wende entwickelt sich die »Intendierte« immer mehr in die Richtung der Gruppenanalyse.

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1987 wird die ungarische psychoanalytische Vereinigung Mitglied der IPV. Mit den ungarischen Analytikern verbinden uns seit jeher enge Beziehungen in der Gruppenprozessforschung, aber auch in der Ausbildung: Hidas war Ko-Leiter der zweiten Ausbildungskommunität. Er hatte 1974 auf Drängen von Höck einen wichtigen Vortrag über Gegenübertragung gehalten, der sehr moderne Psychoanalyse darstellte. Der damalige Vorsitzende der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (A. Katzenstein), interessanterweise ein Remigrant aus den USA, fragte damals politisch korrekt: »Wollen Sie wirklich den Atommeiler der Psychoanalyse in unsere Psychotherapielandschaft stellen?« Die Idee des Atommeilers war gar nicht so schlecht. Aber die »kritische Masse« wurde erst 1988 erreicht, als nämlich die Sektion Dynamische Einzeltherapie einen großen Kongress mit deutlich psychoanalytischer Ausrichtung abhielt. Ein Jahr zuvor findet der III. Budapester IPV-Kongress (nach 1918 und 1923) aus Anlass der Aufnahme der ungarischen psychoanalytischen Vereinigung in die IPV statt. Bei diesem Kongress entstehen persönliche Bekanntschaften mit westdeutschen und Westberliner Psychoanalytikern, die zum Teil noch heute bestehen. Gleichzeitig erscheint das Lehrbuch von Thomae und Kächele in ungarischer Sprache. Die deutsche Ausgabe kommt auf eben diesem Umweg in die DDR. Es wird für viele von uns das Lehrbuch für die analytische Weiterbildung. Im gleichen Jahr verabreden Seidler für die Sektion Gruppenpsychotherapie und Maaz für die Sektion Dynamische Einzeltherapie, gemeinsam die Balint-Gruppenarbeit zu verbessern, theoretisch zu untermauern und Gruppenleiter auszubilden. Das geschieht unter der Annahme, dass diese beiden Sektionen der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der psychoanalytischen Tradition verpflichtet blieben und sich folglich auch um die BalintArbeit zu kümmern hätten. Das sagen wir jetzt schon sehr offen. 1987 findet in Erfurt ein internationales Psychotherapiesymposium in nie dagewesenen Dimensionen statt. 250 westdeutsche und Westberliner Psychotherapeuten und Psychoanalytiker kommen. Die Begegnung mit so vielen Kollegen aus dem Westen wird zu einem wunderbaren kollegialen Zusammentreffen. Von daher stammen freundschaftliche Beziehungen bis heute. 1987 gibt es aber auch hausintern massive Veränderungen: Höck, der eigentlich nach seiner Pensionierung wissenschaftlicher Mitarbeiter bleiben will, wird perfide von Partei und staatlicher Leitung zur Aufgabe gezwungen. Seidler wird neuer Chefarzt des IfPN. Er hat nicht die Autorität Höcks, bleibt eher Primus inter pares. Allein das schon führt zu einer Demokratisierung, die im Übrigen auch beabsichtigt ist. Mit ihm beginnt eine spürbare Öffnung. Jetzt wird die Einzeltherapie neu konzipiert, zunächst über die Fokaltherapie nach Malan (Christa Ecke), später auch die Psychodynamische Einzeltherapie. Sie spielt in der Gründungszeit des Ostberliner psychoanalytischen Institutes überhaupt eine große Rolle. Kulawik, neben Wendt, Tögel und Maaz, einer der vier Ausbilder in Psychodynamischer Einzeltherapie, supervidiert Therapien, bereitet den Stamm der Lehrtherapeuten auf die Essentials der Psychodynamischen Einzeltherapie vor und nimmt so einen relativ großen Einfluss bis zu seinem Tod 1993. Froese übernimmt die Aufgabe, die Fortbildung im Institut zu organisieren.

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Diese Veranstaltungen – freitagnachmittags – beschäftigen sich damals mit Körperarbeit, Gestalttherapie, Adlerianischer Analyse, analytischer Fokaltherapie, familientherapeu­ tischen Konzepten und last, not least mit diversen Freud-Texten. Die dreibändige FreudAusgabe erscheint 1988 im Verlag Volk und Welt. Herausgeber ist Dietrich Simon, ein ­Germanist, also kein Arzt, kein Psychologe. Als wir das Weiterbildungsinstitut 1990 gründen, können wir auf ein lebendiges Institutsleben zurückgreifen. In den Vorwendejahren wird die Beschäftigung mit der Psychoanalyse immer intensiver. Im Überschwang der Wendezeit entwickeln wir die Vorstellung, dass es jetzt gut sei, sich möglichst das vollständige Spektrum analytisch geprägter Psychotherapiemethoden anzueignen. Bis wir erfuhren, welche Traditionen und Institutionen der analytischen Aus- und Weiterbildung sich natürlich im Westen herausgebildet hatten. Vor dem Mauerfall bestand unsere wissenschaftliche Bibliothek hauptsächlich aus Sonderdrucken und Fotokopien wichtiger Fachbücher: also endlich Öffnung, endlich Freiheit, endlich Psychoanalyse – und zwar in allen ihren Spielarten! Im Januar 1989 kommen zum Kongress der »Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie«, die sich von da an »Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP)« nennt, Han Groen-Prakken aus Amstelveen und Alex Moser aus Zürich als Vertreter der Europäischen Psychoanalytischen Föderation (EPF) überraschend und zu einem Spezialsymposium, das zu leiten Seidler damals die Ehre hatte. Es war erstaunlich, wie viele bis dahin dezidierte Analysegegner sich plötzlich als ehemalige Analytiker zu erkennen gaben, zumindest eine Lehranalyse hatten. Die Wende wirft ihre Schatten voraus. Auf diesem Kongress wird die Sektion Spezielle Psychotherapie ge­gründet, die alle spezialisierten Psychotherapeuten zu vereinen vorhat. Es beginnen hochinteressante Diskussionen z. B. um das Wesen der Neurose. Gesprächstherapeuten, Verhaltenstherapeuten und analytisch orientierte Therapeuten treten in eine relativ vorurteilsfreie Diskussion. Das geht bis zum Herbst 1989. Dann werden die Diskussionen berufspolitisch. Die Sektion Spezielle Psychotherapie gründet den »Berufsverband der Psychotherapeuten«, der alle hochqualifizierten Psychotherapeuten – Ärzte und Psychologen – vereinen soll, und gemeinsam mit der GPPMP als »Kommission Qualitätssicherung« die Ausbildungsstandards verantwortet und die Verhandlungen mit der KBV und anderen Stellen führt und so den Übergang in die Psychotherapie/West regelt. Aber da verlassen wir schon die Vorphase der Wende, die noch einiges zu bieten hat: Vom 11.–13. Juli 1989 findet anlässlich des 50. Todestages Freuds in Leipzig ein Symposium statt: »Geschichte und Gegenwartsprobleme der Psychotherapie – Zur Stellung Sigmund Freuds und der Psychoanalyse« – wie schon eine kleine Tagung 1981 in Bernburg – unter der Federführung des Philosophen und Medizinhistorikers Achim Thom. Norman Elrod (1989) überschreibt später seinen Tagungsbericht: »Psychoanalyse in der DDR anscheinend im Kommen – aber welche? Eine Art Modeschau in Leipzig«. Wir beide sind übrigens Autoren (Froese 1989) bzw. Ko-Autoren (Geyer, König, Maaz u. Seidler 1989c) von Beiträgen. Es gibt außerordentlich interessante Diskussionen. Für uns ostdeutsche Psychotherapeuten stellt das auf diesem Symposium praktizierte öffentliche Bekenntnis zu Freud einen weiteren Schritt in Richtung der Emanzipation von den noch bestehenden bzw. empfundenen Einengungen des Denkraumes innerhalb unseres Faches dar und wird als sehr befreiend erlebt.

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Der Kontakt mit den realen Analytikern aus dem Westen gibt uns eine Ahnung davon, wie es sein könnte, wieder Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu sein. Im Oktober 1989 ist die ungarische psychoanalytische Vereinigung erneut Gastgeber eines Treffens der Europäischen Psychoanalytischen Föderation (EPF) in Budapest. Unter der Leitung von Han Groen-Prakken treffen sich vorwiegend deutsche und Schweizer ­Psychoanalytiker mit potentiellen Kandidaten aus den Ostblockländern, insbesondere aus Litauen, Polen, ČSSR, Jugoslawien. Auch für die DDR sind fünf Plätze reserviert. Trotz ­Propaganda werden aber nur drei besetzt: Kruska und Seidler aus Berlin und Schmidt aus Leipzig. Der Herbst ist heiß 1989 in der DDR ...

Eine euphorische Zeit Zu Weihnachten 1989 tauchen relativ überraschend in Berlin zwei Mitglieder der IPA, die viel zu jung verstorbene Kirsten Ravenskog aus Lund/Schweden und David Scott aus Philadelphia in Berlin auf. Sie kon­sultieren die drei Teilnehmer am Budapester Treffen zu Fragen der Situation in der Sowjetunion, Polen, die Tsche­choslowakei und die baltischen Staaten. Die IPA hat längst Vorstellungen darüber, wie die Psychoanalyse in diese Länder kommen kann. Danach sollen z. B. die amerikanische psychoanalytische Vereinigung die Sowjetunion »übernehmen«, die skandinavischen Länder die baltischen Staaten. Unsere Hoffnung ist, dass die DDR von der EPF betreut würde. Aber da ist bereits klar, dass für die DDR die DPV zuständig wird. Als wir jedoch später das Dossier von Rickmann über Müller-Braunschweig und Böhm aus dem Jahr 1945 lesen, wird in Erinnerung gerufen, dass die IPA Kundschafter ausgesandt hatte. 1990 gründen wir als allererstes den »Verein zur Förderung der Psychoanalyse«; in der untergehenden (Modrow-)DDR gibt es endlich ein Vereinsrecht. Die DPV-Tagung im März 1990 in Tübingen ist für die immerhin sechs DDR-Psychotherapeuten in vielen Beziehungen überraschend. Unser Empfang ist überaus herzlich, die wissenschaftlichen Vorträge hochinteressant. Daneben finden Abschlusskolloquien statt, zu denen nur ordentliche DPV-Mitglieder zugelassen sind. Seidler hat Glück und darf hinein, die anderen fünf jedoch nicht. Diese Abgrenzung erscheint uns damals verwunderlich. Überraschend auch ein ernstgemeintes Angebot, die Altersgrenze der DPV gelte nicht für Leute aus der DDR, wir könnten ja, so dynamisch wie wir seien, mit einer Ausbildung durchaus noch anfangen. Am 24. März 1990 findet das »1. Gesamtberliner Arbeitstreffen« im Haus der Gesundheit statt, organisiert von Höhfeld und Seidler. Zuvor gibt es in Berlin eine Reihe von kleineren Treffen und Veranstaltungen. Fast regelmäßige Einladungen zu Veranstaltungen im IfP, zu privaten Treffen mit Kollegen vom Abraham-Institut, vom BIPP, mit dem AOK-lnstitut, dem Institut am Helgoländer Ufer, mit der DGPT – es ist ein Rausch! Die Neugier aufeinander ist riesengroß, die Bereitschaft zu teilen ganz ernst gemeint. Unsere Institutsbibliothek füllte sich. An dieser Stelle sei das großzügigste Geschenk beispielhaft genannt: Frau Kollegin Dorothea Fuchs-Kamp überließ uns große Teile ihrer Bibliothek, darunter die FreudAusgabe von Image-Publishing London und fast die komplette »Psyche«-Ausgabe. Inzwischen sind aus dem Weiterbildungsausschuss des Berufsverban­des der Psychotherapeuten (BVP) die »Akademie für Tiefenpsychologie und psychoanalytische Therapie«

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geworden. Später wird daraus die Fachgesellschaft »Deutsche Gesellschaft für psychoanalytische Therapie und Tiefenpsychologie« (DGAPT). Diese wissenschaftliche Gesellschaft ernennt auch die Lehrtherapeuten für die 1987 eingeführte »Lehrerfahrung in der Dyade«, die sich langsam in die Richtung einer Lehranalyse entwickelt. Die Lehrtherapeuten aus dem Haus der Gesundheit initiieren im Juni 1990 das Weiterbildungsinstitut – zunächst noch als Dependance der DGAPT – und schließlich am 11. September 1990 als eigenen Verein. Spätestens 1991 endete diese Phase. Jetzt werden Klinik und Forschungsabteilung geschlossen, bis auf wenige freundschaftliche Beziehungen frieren die interinstitutionellen Kontakte ein. Die Schließung der Klinik Hirschgarten des Hauses der Gesundheit ist kein Einzelfall: Vier von sechs Psychotherapie-Kliniken im Osten Berlins werden zugemacht. Damit endet jede stationär-ambulante Verzahnung, die sich besonders in der Psychotherapie als segensreich erwiesen hat. Ende 1997 wird auch die Psychotherapie-Station im Klinikum Steglitz geschlossen. Damit hat auch die Freie Universität Berlin keine analytisch orientierte stationäre Psychotherapie-Abteilung mehr. Endlich Freiheit, endlich Psychoanalyse? Der Wind weht kalt in Deutschland.

Eine unterkühlt-paranoide Periode In diese Zeit hinein fallen die ersten Mitteilungen darüber, dass auch PsychotherapeutenKollegen für die Staatssicherheit gearbeitet haben. Das Ausmaß der Bespitzelungen stellt sich erst nach und nach heraus, denn wie die meisten IM geben auch unsere Kollegen nur zu, was bekannt geworden ist. Bis dahin schweigen oder lügen sie. So beschließen wir, alle Institutsmitglieder überprüfen lassen. Das führt dazu, dass IM Grabowski (Hans Eichhorn), IM Charlotte Lorenz (Monika Kneschke) und IM Sigmund Freud (Alexander Schulze) enttarnt werden. Die Genannten sind drei aktive Kollegen aus dem Kreis der analytisch orientierten Gruppe, die in Ostberlin kaum 15 Kollegen umfasst. Unsere Enttäuschung damals ist größer als das Verlusterleben. Es war nicht zu verhindern, dass die drei als niedergelassene Psychotherapeuten tätig sind. Es ließ sich aber verhindern, dass sie Psychoanalytiker ­ werden. Herr Lürßen vom Berliner Abraham-Institut hat 1990 sehr konstruktive Vorstellungen: Die erforderlichen Lehranalysen könnten von Lehranalytikern »in statu nascendi« gemacht werden, also solchen, die noch nicht berufen sind, bei denen das aber bevorstehe. Dann wären das keine Lehranalysen im DPV-Sinn, sie also träfe kein Makel, und doch wären es Lehranalysen. Wir könnten ab Praktikantenstatus in die Ausbildung einsteigen, die Kosten würden sich am AOK-Niveau orientieren. Wir kommen nicht dazu, das zu diskutieren und wirklich darüber nachzudenken, denn diese Vorschläge werden allesamt von der DPV abgelehnt. Noch im April 1990 haben wir vor – in dem Fall Peter Kutter vom Institut für Psychoanalyse der J. W. Goethe-Universität Frankfurt und die Mitarbeiter aus dem Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung –, über ein gemeinsames Forschungsprojekt, die Psychoanalyse in die DDR einzuführen. Dieses scheitert an der Zustimmung der Deutschen Forschungsgesellschaft. Nachdem ein Jahr später, also 1991, ein mit dem Vorstand der DPG gemeinsam entwickeltes Projekt an der DPG-Mitgliederversammlung – und wie sich her-

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umgesprochen hat, vorwiegend an den Berliner Kollegen – eben­falls scheitert, beginnt die Frustration für uns ihre bekannte therapeutische Wirkung zu entfalten: Wir werden uns unserer eigenen Möglichkeiten bewusst und sagen uns: »Herr, wir sind’s«! So etwas nannten wir früher einen Kippprozess, womit das aggressive Aufbegehren gegen unerträgliche Zustände von Hoffnung, Abhängigkeit und Ohnmacht gemeint ist. Ein Kollege aus München, der hier nicht genannt werden soll, schreibt uns: »Lassen Sie sich nicht mit der DPV oder DPG oder anderen Sekten ein, sondern orientieren Sie sich an der DGPT. Wenn Sie ein analytisches Institut aufbauen wollen, dann wird es zwischen 7 und 20 Jahren dauern.« Tatsächlich sind mit der DGPT, wie zuvor schon mit der KBV und der Ärztekammer, Kompromisse zustande gekommen, die den Bedürfnissen der Ost-Kollegen entsprechen. Während der paranoiden Phase werden die Qualitätsfragen durch Ideologie erheblich in Wolle gefärbt. Begriffe wie »Unterwerfung auf der Westcouch« machen unter ostdeutschen Kollegen die Runde und erschweren den entscheidenden Schritt, die Lehranalyse zu beginnen, erheblich. So scheiden sich die Geister: Für manche, besonders ältere Kollegen kommt es einer narzisstischen Kränkung gleich, im reiferen Alter noch einmal auf die Couch zu gehen. Andere machen bald begeistert von der Möglichkeit Gebrauch, einen psychoanalytischen Prozess selbst zu erleben. Im Mai 1993 beginnen die meisten von uns ihre Lehranalyse von meist mehreren 100 Stunden.

Die Mühen der Ebene Was wir erleichtert begreifen konnten, war die Rolle der Diskretion, die Rolle von Intimität, von Zeit, Regression und Abhängigkeit. Natürlich gab es in der DDR auch eine ärztliche Schweigepflicht, und wir haben sie ernst genommen. Dass die analytische Diskretion, absolute Offenheit gegen absolute Diskretion, ein moralisches und ein technisches Gebot darstellen, hatten wir gruppentherapeutisch Sozialisierten bis dahin so nicht erlebt. Abendländisches Effizienzdenken und unsere neoanalytische Herkunft hatten uns auch einen eigenartigen Blick auf die Zeit vermittelt: Wir hatten in den Intendierten Dynamischen Gruppen immer eher die Sorge, ein ineffektives Glasperlenspiel zu betreiben. Und zu den besonderen Vorzügen dieser Lehranalysen in höherem Alter gehörte noch etwas: Wir konnten unsere Lehranalysen bei institutsfremden Analytikern erleben. So nahmen wir uns später vor, die Lehranalysen unserer Kandidaten auch außerhalb des Institutes stattfinden zu lassen. Endlich Freiheit, endlich Psychoanalyse!? Erst im Jahre 2010 erscheint diese alte Forderung im Rahmen der Gruppierung der »Freien Institute« der DGPT wieder denk- und umsetzbar. In der Zwischenzeit wird klar, es geht gerade in Berlin ums Geschäft und um die Einhaltung von Weiterbildungsrichtlinien. Jetzt haben wir es mit dem gleichen Dilemma zu tun, mit dem sich alle anderen Institute in Deutschland herumschlagen. Obwohl das NonReporting-System sehr segensreich ist, spielen Institutsfragen in den Lehranalysen und umgekehrt eine wichtige Rol­le. Mit diesem Dilemma müssen wir aber leben. Gehofft hatten wir, manche Strecke leichter gehen zu können, und initiieren eine Vortragsserie mit verdienstvollen und erfahrenen Psychoanalyti­kern unter dem Thema: »Wenn ich heute ein analytisches Institut gründen würde, welche Fehler würde ich vermeiden?« Nicht zufällig

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kommen die Referenten von weit her: Isabella Deuerlein aus München, Mario Erdheim aus Zürich, Suzanne Maiello aus Rom. In diese Zeit fällt auch der endgültige Abschied vom Haus der Gesundheit – und das sowohl räumlich als auch hinsichtlich unbewusst fortgeschleppter Loyalitäten. Nun finden wir zu einer Identität, die eigentlich ein Prozess ist: Wichtig ist uns das Offenhalten von Übergängen, die Haltung einer andauernden Entwicklungsposition. Wir sehen uns als Lehrende und Lernende zugleich. Wir sind mit dem Erlangen des Lehranalytikerstatus weder fertig noch unangreifbar. Viele von uns haben eine Genesis, wie wir sie beschrieben haben. Es gibt aber auch Anhänger von Lacan, eine Absolventin des psychoanalytischen Seminars Zürich, bekannt wegen seiner ethno-psychoanalytischen Orientierung, eine Gruppe macht eine regelrechte Ausbildung in kleinianischer Analyse, die Auseinandersetzung mit der Neoanalyse ist längst nicht abgeschlossen. Inhaltlich sind wir sehr stark auf Freud zurückgegangen. Die Objektbeziehungstheorien von Kernberg hatten wir schon vor der Wende ziemlich ausführlich rezipiert, ebenso die Selbstpsychologie von Kohut – allerdings nur theoretisch. Seit Chris Jaenicke, ein Vertreter der intersubjektiven Selbstpsychologie, an unserem Institut ist, befassen wir uns mit ihr auch praktisch.

Fazit Wir haben unseren Beitrag mit der Frage, endlich Freiheit, endlich Psychoanalyse (?) begonnen. In der emotions- und reflexionsfeindlichen Atmosphäre der DDR fühlten wir uns als Pioniere einer psychoanalytisch orientierten Aufklärung und sind es unter teils schwierigen, teils förderlichen äußeren Bedingungen auch gewesen. Auf diese Weise hatten wir unseren Platz gefunden. Wie sehr wir uns angepasst hatten, auch um in dieser Weise subversiv wirken zu können, wurde uns erst nach der Wende klar. Wir hatten noch analytische Väter im Berliner Haus der Gesundheit, dem späteren Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung. Aber die deutsche Teilung trennte uns auch von der psychoanalytischen Community. Anfang der 1970er Jahre begann Kurt Höck mit Mitarbeitern und Kollegen eine eigene Form der Gruppenpsychotherapie zu entwickeln. Sie stellte einen Versuch dar, Psychoanalyse unter den politischen Bedingungen der DDR für die Patientenbehandlung und Ausbildungszwecke zu verwenden. Die meisten von uns haben zunächst die Selbsterfahrung in Gruppen und erst danach in einer Lehranalyse gemacht. Das war eine so wichtige Erfahrung, dass wir sie unseren Kandidaten nicht vorenthalten wollen. Schließlich sind sowohl die Dyade als auch die Gruppe Konfigurationen des intersubjektiven Feldes, das die Gruppenanalyse »Matrix« nennt. Aus der kommen wir, die umgibt uns – und die sollten wir (selbst-)erfahren. Heute sind wir Mitglieder eines »freien« psychoanalytischen Institutes. Die Mitgliedschaft in der DGPT, dem Dachverband der analytischen Institute, haben wir gewollt. Die Anbindung an eine psychoanalytische Fachgesellschaft oder an die Internationale Psychoanalytische Vereinigung ist zurzeit nicht mehrheitsfähig. Zu unserem Vermächtnis aus der DDR-Zeit gehört gerade wegen der besonderen ostdeutschen Geschichte die ausdrückliche Berücksichtigung psychohistorischer Fragen. Schon

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bald nach Gründung des Institutes haben wir begonnen, uns mit Fragen des Verhältnisses von Gesellschaft und Psychoanalyse zu beschäftigen. Dabei konnten wir Besonderheiten ostdeutscher Lebensläufe beschreiben. Zentrale Bedeutung kommt dabei direkten und weitergegebenen Traumatisierungen, aber auch subtraumatischen seelischen Verletzungen zu. Wir haben dazu eine spezifische Arbeitsform entwickelt, die psychohistorische BalintGruppe. Dort kann in einem analytischen (Gruppen-)Setting untersucht werden, wie politisch-historische Momente der Vergangenheit in einer konkreten Übertragungsbeziehung wieder auftauchen.

6.5.1.6 Peter Wruck: Zur Geschichte des Instituts für Psychotherapie und Psychoanalyse Mecklenburg-Vorpommern (IPPMV) e. V. Überblick Das IPPMV ist am 30. Juni 1990 (Gründungsversammlung) unter dem Namen »MichaelBalint-Institut Rostock (MBIR) für Psychotherapie und angewandte Psychoanalyse e. V.« gegründet worden. Es änderte in der Folgezeit mehrfach seinen Namen. Das wäre von wenig Interesse, wenn mit diesen Umbenennungen nicht wesentliche strukturelle und berufspolitische Veränderungen einhergegangen wären, die den Übergangszeitraum von 1990 bis 1996 in Mecklenburg-Vorpommern kennzeichnen und in seiner regionalen Eigenheit beschreiben können. Außerdem sind in diesem Zeitraum wesentliche Schritte gegangen worden, die nachvollziehbar machen, auf welche Weise der Übergang von ersten psychoanalytischen Versuchen seit 1979 im Rahmen der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP) bis zur Anerkennung als freies Institut der DGPT (11. Februar 2000), der psychoanalytischen Dachgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland und als staatlich anerkannte Ausbildungseinrichtung für Psychologische Psychotherapeuten (21. März 2001) gelingen konnte. Am 19. Juni 1991 beschlossen die Mitglieder die Umbenennung in »Institut für Psychotherapie und Tiefenpsychologie Rostock (IPTR) e. V. und berücksichtigten damit heftige Proteste aus dem Michael-Balint-Institut Hamburg der DPV, zu der bis heute nicht nur enge Verbindungen bestehen, sondern in der inzwischen die größte Gruppe von Institutsmitgliedern auch Mitglied ist. Auf einer gemeinsamen Sitzung (23. November 1994) des IPTR mit den Mitgliedern der Akademie für Psychodiagnostik, Psychotherapie und Tiefenpsychologie des Landes Mecklenburg-Vorpommern e. V. Schwerin ist der Beitritt aller interessierten Akademiemitglieder und das Ruhen der Tätigkeit der Akademie beschlossen worden. Das IPTR wurde daraufhin in »Institut für Tiefenpsychologie und psychoanalytische Therapie Mecklenburg-Vorpommern (ITPT) e. V. mit Sitz in Rostock umbenannt. Für den Beitritt waren drei Gründe ausschlaggebend: 1. Es zeichnete sich ab, dass nur das Rostocker Institut Aussicht hatte, von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung als Ausbildungseinrichtung gemäß PsychotherapieVereinbarungen anerkannt zu werden, weil die bundesweit geforderte sog. Nachanalyse (100 Stunden Lehranalyse bei einem Lehranalytiker eines anerkannten Ausbildungsinstitutes) von keinem Akademiemitglied, wohl aber von neun Institutsmitgliedern nachgewiesen

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werden konnte. 2. Für die Schweriner Akademie waren die Ausbildungsstandards der DGAPT, für das Rostocker Institut die der DGPT maßgeblich. Eine Lehranalytikerin der DPG und der DGPT, die aus den alten Bundesländern in den Raum Schwerin verzogen und Mitglied der Akademie geworden war, unterstützte die Orientierung auf die DGPT. 3. Das Rostocker Institut war seit seiner Gründung im Juli 1991 in der West-Ost-Kommission der DPV durch den Vorsitzenden vertreten und strebte langfristig eine Ausbildung nach IPVStandard an. Im Zusammenwirken mit interessierten Mitgliedern anderer Institute in den neuen Bundesländern (Dresden, Halle, Jena, Leipzig) und Vertretern mehrerer DPV-Institute war eine Arbeitsgruppe entstanden, in der langfristig und systematisch berufspolitische und wissenschaftliche Rahmenbedingungen sowie konkrete Schritte erörtert wurden, die für die Entwicklung der Psychoanalyse in diesen Ost-Instituten zu machen waren. Es wurde der Status »Gast des Vorstandes der DPV« geschaffen und 16 ostdeutschen Kollegen am 19. Mai 1995 zuerkannt. Sechs davon kamen vom Rostocker Institut. Kurz zuvor, am 5. Mai 1995, wurde das ITPT in die Liste der anerkannten Ausbildungsinstitute der Kassenärztlichen Bundesvereinigung aufgenommen. Als Ausbildungsleiter wurden Frau Dr. med. Stieber-Schmidt (Lübstorf) und Herr Dr. med. Peter Wruck (Rostock) und etwa ein Jahr später Frau Dr. med. Elvira Lüdemann (Rostock) aufgeführt. Alle waren bereits als Ausbildungsleiter für Psychotherapie und Psychoanalyse durch die Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern bevollmächtigt worden. Am 1. März 1996 treten auch die Mitglieder der Greifswalder Arbeitsgemeinschaft für Psychotherapie und Psychoanalyse dem ITPT bei und die Mitgliederversammlung beschließt am 1. Mai 1996 den gegenwärtigen Institutsnamen sowie eine Satzungsänderung, wonach Rostock weiterhin Hauptsitz des IPPMV ist. Ein Nebensitz besteht seitdem in Greifswald, denn über das Karl-Abraham-Institut in Berlin waren zwei Kolleginnen seit dem 18. März 1995 ebenfalls Gast des Vorstandes der DPV. Außerdem war auch ein Psychoanalytiker der Deutschen Gesellschaft für Individualpsychologie (DGIP) bereits Mitglied.

Michael Balint und die deutsch-deutsche Verständigung Seit Januar 1983 arbeitete in Rostock ein regionales Ausbilder-Problemfallseminar (PFS) regelmäßig (1 x monatlich, ganztägig). Dazu hatten sich neun ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten zusammengefunden, die – zunächst unter Leitung von P. Wruck, dann in gemeinsamer Intervision – ambulante Dynamische Einzelpsychotherapien gegenseitig supervidierten und ihre Erfahrungen mit der Leitung von PFS in Wismar (ab 1984) und Rostock (ab 1979) austauschten. Man folgte ursprünglich dem Modell, das Harro Wendt gemeinsam mit Infrid Tögel 1971 in Uchtspringe eingeführt hatte, welches sich an BalintGruppen orientierte, zusätzlich aber diagnostische Aspekte favorisierte. Mit dem Übergang zur Intervision wurden jedoch zwei unterschiedliche Anliegen bedeutsamer und veränderten den Teilnehmerkreis. Einzelne Teilnehmer verließen nach und nach die Gruppe und schlossen sich dem Maaz’schen Konzept oder einer überregionalen Balint-Arbeit an. Die Mehrheit aber rang um eine vertiefte psychoanalytisch orientierte Langzeitbehandlung und um psychoanalytische Identität. Sie setzten die Gruppenarbeit fort, suchten Kontakte zu Psychoanalytikern der IPA und waren nach der Wende die Gründungsmitglieder des Insti-

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

tuts in Rostock. Der Name »Michael Balint« wurde zum Symbol für eine psychoanalytische Orientierung unter DDR-Bedingungen. Dass das Institut mit dieser Entscheidung in Konflikt zum Michael-Balint-Institut in Hamburg geraten konnte, zu dem bereits Kontakte bestanden, war wohl provinziell-naiverweise niemandem bewusst. Wie war es zur deutsch-deutschen Zusammenarbeit im Norden gekommen und was hat sie gekennzeichnet? Ausgangspunkt war ein zunehmendes Unbehagen unter den Teilnehmern der Intervisionsgruppe, das sie tapfer auf sich nahmen, aber nicht ausreichend verstehen konnten. Alle waren engagiert, mochten sich im Großen und Ganzen gegenseitig und doch kamen immer wieder aggressive Spannungen auf, die die Verständigung behinderten. Man führte dies auf Konkurrenzaspekte zurück, was als Erklärung jedoch zu kurz griff. Man ging mit der Psychoanalyse schwanger, das war klar. Warum konnte man sich in der Inter­ vision nicht aus Verstrickungen entbinden, wovon die anderen regionalen PFS, die BalintArbeit im engeren Sinne, weitgehend frei waren? Der Wunsch nach einem Geburtshelfer, nach Supervision der Intervisionsgruppe schwoll jedenfalls an. Rückblickend ist eine gewisse Tragik in der Arbeit der Intervisionsgruppe festzustellen, die auf dem Irrtum beruhte, ohne ausreichende Abstinenz und Neutralität in einer befreundeten Gruppe die von Balint geforderten Einstellungsänderungen ohne Lehranalyse herbeiführen zu können: »Und dies bedeutet eine, wenn auch begrenzte, so doch beträchtliche Umstellung der Persönlichkeit des Arztes« (Balint 1955, S. 372). Mit zunehmender Symmetrie in den Beziehungen, mit dem Wandel von Supervision zu Intervision im Ausbilder-PFS, setzten Abspaltungen der Psychoanalyse-Ideale von ihren Trägern ein und der Abwehraspekt von Idealisierung wurde zu lautem Widerstand, entfachte einen Bruderkrieg. Wer immer nun seinen Fall im Ausbilder-PFS vorstellte, war als Person ungenügend präsent oder wenigstens durch die Autorität eines Leiters geschützt. Er lief Gefahr, als Individuum dem Ideal geopfert zu werden. Außerdem konnte man sich fatalerweise nicht vor ideologischen Infektionen schützen, die in der DDR allgegenwärtig waren. Obwohl das begehrte Objekt unterschiedlich war – an die Stelle des Sozialismus, den man für die Intervisionsrunden ausgesperrt glaubte, trat die Psychoanalyse –, blieb die tiefere Bedeutung von Einstellungsänderung verwischt. Der Gruppe drohte eine »Sexualüberschätzung« (Freud 1905, S. 52) der Psychoanalyse und die Bildung eines Fetischs, »in dem der Wilde seinen Gott verkörpert sieht« (S. 52). Diese Art von Bedrohung im demokratischen Wandel ist für den Fall dieser Gruppe nicht spezifisch und an anderer Stelle (Wruck 1999) für die Nachwendezeit im Osten an zwei Beispielen von wissenschaftlichen und kassenärztlichen Antragsverfahren skizziert worden. Hier ist sie aber ganz offensichtlich Teil einer Entwicklung weit vor der Maueröffnung, die sowohl gesellschaftliche Perversionen als auch Freiheitsbedürfnisse vorangebracht hatte. Letzteres entstand also folgerichtig und nicht zufällig in Form eines exhibitionistischen Wunsches, sich als Intervisionsgruppe vor psychoanalytischen Eltern zu zeigen, um bewundert zu werden. Bewusst stellte es sich sehr viel sachlicher dar. Die Schwierigkeit, für den Begriff von einer nach Balint erforderlichen »Umstellung der Persönlichkeit« des Arztes die libidinöse Besetzung und somit den konstruktiven Sinn zu wahren, wenn sich die Beziehungsstruktur ändert, hatte aber noch zwei weitere Aspekte. Erstens hatte Balint die Gegenübertragung des Arztes auf seinen Patienten quasi zur Ausbildungsprämisse für die Einstellungsänderung erklärt. Ihre Verwendung könnte sogar

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

eine »lange eigene Lehranalyse« ersetzen! Das förderte die Hoffnung der vom Mainstream der Psychoanalyse Abgeschnitten. Sie machten sich daran, den Therapeuten anstelle des Patienten in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Diese Tendenz wurde besonders durch die Einflüsse der Gesprächspsychotherapie, wie sie in der DDR von Helm vertreten wurden, verstärkt. »Das Problem ist für die Gesprächstherapie [...] in der Tat der Therapeut, [...] der [...] dem Patienten und sich [selbst] Identifizierungen ermöglicht oder versagt« (Wruck 1983, S. 583). Zweitens sollte, im Unterschied zu Balints Anliegen, die persönlichkeitsändernde Erfahrung in diesem »Selbsthilfe-Seminar« nicht mehr in Grundzügen an organisch orientierte Ärzte vermittelt werden. Nun sollte psychoanalytische Methodik unter den psychoanalytischen Autodidakten – notgedrungen ohne Lehranalyse – vertieft werden. Auf diese Weise wurde die Gegenübertragung oftmals aus einem Instrument der Erkundung der Übertragungen des Patienten in eine Offenbarung der Übertragungen des Therapeuten verwandelt, an denen seine Persönlichkeitsdefizite dingfest gemacht werden konnten. Die von Balint bereits 1955 benannte Gefahr, dass »das Gruppentraining in eine ganz gewöhnliche, eindeutige Therapie ausarten« könnte (Balint 1955, S. 384), war zwar bekannt. Sie konnte aber nicht verwertet werden. Der Glaube, durch Abschaffung einer Hierarchie, also durch Proklamation von Intervision anstelle von Supervision, das Problem lösen zu können, hatte offensichtlich die oben beschriebene Abspaltung des Ideals von den Individuen verdeckt. In Nedelmanns Einführung in die Methodik der Balint-Gruppe ist ein Satz zu lesen, den er den Rostockern nach der Grenzöffnung persönlich vermittelt hat: »Dieser methodische Hinweis [zur Bedeutung der Gegenübertragung in der Fortbildung] bedeutet nicht, dass nun der Arzt im Mittelpunkt des Interesses stünde« (Nedelmann 1989, S. 23). Eine persönlich vermittelte Botschaft, die die Teilnehmer der Rostocker Intervisionsgruppe früher als 1989 hätten gebrauchen können. Auf der 2. Freud-Tagung im Sommer 1989 fragte Peter Wruck (Rostock) Rainer Richter (Hamburg), ob er im norddeutschen Raum, möglichst grenznah zur DDR, jemand kenne, der eine regelmäßige psychoanalytische Supervision der Rostocker Intervisionsgruppe übernehmen könne. Am 21. Juli 1989 schrieb dieser: »[...] meine Supervisionszusage von Leipzig kann ich Ihnen nun definitiv bestätigen. Ich gehe davon aus, daß ich in etwa vier bis sechs Wochen eine Einreisebewilligung für den grenznahen Verkehr erhalten werde, so dass wir uns Anfang September 1989 treffen könnten, um alle weiteren Details zu besprechen.« P. Wruck sollte im Hinblick auf eine kontinuierliche Supervision »Möglichkeiten für ein Dienstvisum« erkunden. Dieser hatte bereits mit einem Schreiben vom 3. April 1989 an den damaligen Bezirksarzt Rostock versucht, Unterstützung für einen psychoanalytischen Supervisor aus dem Westen zu bekommen, was aber gegenteilige Folgen nach sich zog. Der ab Juli versuchte Briefverkehr und selbst telefonische Bemühungen beider Seiten wurden durch die Stasi bzw. staatliche Stellen be- und teilweise verhindert, so dass die erste Begegnung zwischen beiden Seiten erst nach der Grenzöffnung möglich wurde. Auch das gab es noch trotz der Euphorie des Wendegeschehens. Ein erstes gemeinsames Gruppentreffen fand schließlich am 21. und 22. April 1990 in Rostock statt. Daran nahmen zwölf Teilnehmer aus Hamburg und Bad Schwartau (alle DPV) und zehn Teilnehmer aus Rostock und Wismar (alle Mitglied der Intervisionsgruppe)

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

teil. Unterkunft und Verpflegung für die Hamburger Teilnehmer finanzierte die GÄP des Bezirkes Rostock. Sie bestätigte den Hamburgern für die steuerliche Absetzbarkeit der Fahrtkosten auch die Teilnahme an einem Wochenendseminar. In Vorbereitung dieses Treffens stimmten die Organisatoren beider Seiten schriftlich eine Agenda ab, die für den ersten Tag allgemeines Kennenlernen und Erfahrungsaustausch zwischen beiden Gruppen und am Abend einen gemeinsamen Barbesuch in Warnemünde vorsah. Am nächsten Morgen war eine dreieinhalbstündige Fallbesprechung vorgesehen. Die Rostocker Gruppe stellte sich als Rahmen einen Innenkreis vor, in dem sie selbst – möglichst wie gewohnt – arbeiten konnte, und einen Außenkreis, in dem die Überzahl der Hamburger Platz nehmen sollte. Dieses Setting war in der Balint-Arbeit für Großgruppen international verbreitet und hatte auch in der DDR Resonanz gefunden. Noch heute ist dieser Rahmen z. B. in der Schweizer Balint-Gesellschaft üblich. Es entsprach daneben dem ursprünglichen Wunsch der Rostocker, die eigene Arbeit – die an Grenzen gestoßen, aber selbstverständlich nicht von den oben benannten exhibitionistischen Tendenzen frei war – vorzustellen und analysieren zu lassen. Während jene Hamburger, die auch später die kontinuierliche Zusammenarbeit über viele Jahre fortsetzten, sich dieses Setting gut vorstellen konnten, verwarf die Überzahl der Hamburger, die noch am selben Tag wieder abreisen wollten, das Programm kategorisch. In teilweise halbstark anmutendem Gestus drängten sie die Rostocker, doch gleich einen Fall vorzustellen. Knapp ein Jahr später wurde diese Situation in einer Veröffentlichung von Hamburger Teilnehmern so beschrieben: »Die ostdeutschen Kollegen reagierten irritiert über die offensichtliche Freiheit, die sich ein Teil der westdeutschen Gruppe nahm [...] Die ostdeutschen Kollegen gerieten unter Druck und drängten einen Mann ihrer Gruppe dazu, vorzeitig einen Fall vorzutragen; dazu erklärte er sich schließlich bereit« (Burzig u. Richter 1991). 1994 folgte ein Rückblick, in dem die Autoren »das Kleingruppengeschehen wie eine Vorwegnahme der Konflikte im Großkollektiv der wiedervereinigten Deutschen« sehen (Burzig u. Berger-Burzig 1994, S. 776). Im mehrjährigen gemeinsamen Fallseminar zwischen Hamburgern und Rostockern (alle vier bis sechs Wochen vier Stunden bis 1999) wurde diese Ausgangssituation wiederholt besprochen. Irritiert von dem »Kleingruppengeschehen« waren schon damals beide Seiten, allerdings darunter nur jene Teilnehmer, die auch wirklich die Zusammenarbeit fortgesetzt haben. Das waren weder alle Westdeutschen noch alle Ostdeutschen. Einer gewissen Vorwegnahme »der Konflikte im Großkollektiv der wiedervereinigten Deutschen« ist wohl zuzustimmen, dennoch befindet sich die Kluft nicht undifferenziert zwischen West und Ost, wie Burzig und Berger-Burzig es sehen. Jene Westdeutschen, die bereit waren, den Ostdeutschen wegen ihrer schwierigen Bedingungen entgegenzukommen, täten dies aus Schuldgefühlen, die die Ostdeutschen bei ihnen erzeugt hätten, und außerdem sei die Ursache in einer Vereinzelung und einem dyadischen Lustgewinn westdeutscher Psychoanalytiker zu sehen, erklärten sie. »Deshalb ist es ihnen nicht wichtig, ob ihr individuelles Verhalten ihren Kollegen oder sogar der eigenen Methode [...] schadet [...] Die Zukunft wird zeigen, ob Integration wirklich Innovation im Sinne eines therapeutisch-wissenschaftlichen Fortschritts bedeutet« (Burzig u. Berger-Burzig 1994, S. 780). Die Zukunft hat gezeigt, dass das IPPMV inzwischen nicht nur ehemals ost- und westdeutsche Mitglieder vereint und lange schon seine Ausbildung nach DGPT-Standard durch-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

führt. Es ist dabei, neben der sonstigen psychotherapeutischen und psychoanalytischen Ausbildung von Kandidaten, unter den Ost-Mitgliedern auch den Standard für hoch­ frequente Psychoanalysen (vierstündig) auf DPV-Niveau zu heben. Schaut man zurück auf die Problematik, die einige Westdeutsche mit dem Großgruppensetting (Innen- und Außenkreis) in der Balint-Arbeit hatten, dann ist nicht anzunehmen, dass so viele Psychoanalytiker davon noch nichts gehört und es für eine Erfindung der Rostocker gehalten haben. Es scheint eher plausibel, den Stein des Anstoßes in der symbolischen Zurücksetzung zu sehen. In der Regel sitzen nämlich die Newcomer im Außenkreis. Die erhoffte Souveränität von »Eltern«, die das verstehen, ist, wie der Alltag zeigt, durchaus unterschiedlich verteilt. »Der Vorsprung, den die West-Analytiker gegenüber den Ost-Kollegen haben, wird oft auf der Ebene von Geschwisterrivalitäten artikuliert und ausgetragen, was der Sache wenig dient, wenn diese Konflikte nur agiert und nicht bearbeitet werden können (Henningsen 1996, S. 17).

Die Zeit davor Die Gründung des IPPMV und der Weg des Instituts im Zeitraum zwischen 1990 und 1996 sind nicht ohne einen Blick auf die Zeit davor zu verstehen. Dieser Blick muss sich auf die psychotherapeutische Arbeit selbst richten. Es ist nicht leicht, diese in kurzer Form repräsentativ darzustellen. Deshalb soll auf eine Reflexion der regionalen Balint-Arbeit verzichtet und die Problematik der Fallarbeit in der Intervisionsgruppe nur exemplarisch dargestellt werden. Wie sah die Fallarbeit aus, dass sich die Teilnehmer berechtigt fühlten, ihre Fälle nach der Wiedervereinigung im Rahmen der Antrags-Psychotherapie als analytische Einzeltherapie weiterzuführen und neue zu beginnen? Dies wird anhand einer ambulanten persönlichkeitszentrierten Einzeltherapie mit zwei Sitzungen à 45 Minuten pro Woche beschrieben, die am 5. Mai 1989 begonnen hatte und im Februar 1995 beendet werden konnte. Die Finanzierung wurde pauschal, wie alle anderen medizinischen Leistungen auch, von der einheitlichen Sozialversicherung der DDR bzw. durch das Gehalt als angestellter Arzt getragen. Das konnte bis 30. Juni 1991 fortgesetzt werden. Auf der Basis einer Ermächtigung durch die Kassenärztliche Vereinigung wurde die Behandlung danach in eine tiefenpsychologisch fundierte Einzeltherapie und nach Bestätigung des analytischen Prozesses durch einen Gutachter in eine analytische Einzeltherapie umgewandelt. Im Antragsverfahren wurden auf diese Weise 300 weitere Leistungen bewilligt, während zuvor schon 190 Sitzungen stattgefunden hatten. Der Fall ist wiederholt im Rahmen der Rostocker Intervision und danach in der gemeinsamen Rostock-Hamburger Supervisionsgruppe vorgestellt worden. Eine Kontrollanalyse erfolgte zusätzlich ab September 1990 bei einer DPV-Psychoanalytikerin. Erstmalig wurde der Fall im Juli 1989 nach drei diagnostischen und sechs therapeutischen Sitzungen, wie üblich unter dem Aspekt von initialen, stabilisierenden, auslösenden und chronifizierenden psychischen Faktoren (Höck u. König 1976), vorgestellt und auf dynamische psychische Zusammenhänge hin untersucht. Danach wurde die letzte (manchmal auch eine problematische) Therapiestunde mittels Tonbandmitschnitt vorgestellt. Die Therapeut-Patient-Beziehung stand im Fokus der Betrachtung.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Es handelte sich um eine 47jährige Lehrerin, die seit einer zehnwöchigen stationären Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie nicht mehr suizidal war und fast keine Asthma­anfälle mehr hatte. Sie ließ sich nach der Therapie von ihrem Mann scheiden, was unkompliziert und sehr schnell ging. Drei Monate nach der Scheidung kehrten Ängste, Kopfschmerze, Schuldgefühle und Selbstwertzweifel verstärkt zurück. Früher hatte sie diese Beschwerden zwar gelegentlich bemerkt, jedoch angesichts teils dramatischer Asthmaanfälle nicht als Leiden angesehen. Unter Albträumen leide sie, seit sie Kinder habe, viel mehr. Zwei Arten wiederholten sich bis heute: Einerseits träume sie, dass ihren Kindern Grausamkeiten passieren: Ein Brücke breche entzwei und sie hänge auf einer, die Kinder auf der anderen Seite. Die Kinder würden entführt und sie müsse ansehen, wie das Blut spritze, weil ihnen die Schädeldecke geöffnet werde. Andererseits gäbe es in ihren Träumen dienstliche und private Gespräche, die kein Ende nehmen wollten. Wenn am Tage dann ähnliche Situationen vorkämen, sei sie unsicher, was Traum und was Wirklichkeit sei und müsse »höllisch aufpassen«, dass sie sich bei Absprachen nicht wiederhole oder Offenes für erledigt halte. Nun stellte der Therapeut unter dem Aspekt der initialen psychischen Faktoren die frühe Lebensgeschichte der Patientin vor: Sie wurde während des Zweiten Weltkrieges geboren, als der Vater bereits an der Front war, und lebte zunächst bei der Mutter. Diese verstarb 1945 an Tuberkulose. Sie habe an ihre Mutter nur eine einzige Erinnerung, die wie ein Traum wirke, dies aber keinesfalls sei: Sie sei an das Bett der Mutter gegangen. Mutter habe sie gestreichelt und ihr ein Bild mit Blumen gezeigt. Sie habe als Kind heimlich von ihrer Mutter geträumt und gehofft, dass sie – wie die Kriegsgefangenen – plötzlich wieder zu Hause sei. Die Patientin kam zu den Großeltern mütterlicherseits und wurde vom Vater, als dieser 1947 aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückkam, »gewaltsam« zu den Großeltern väterlicherseits gebracht, die sie bis dahin nicht kannte. 1948 heiratete der Vater und holte sie in seine Familie, in der kurz nach einander zwei eheliche Geschwister (Schwester –7, Bruder –8) geboren wurden. Der Kontakt zu den Großeltern mütterlicherseits war ihr vom Vater streng verboten worden. Später erfuhr sie, dass der Vater die jüngere Schwester ihrer Mutter im Hause der Großeltern vergewaltigt habe, nachdem er aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war. Der Vater hielt der Patientin, obwohl er sie zu sich geholt hatte, immer wieder vor, dass sie nicht seine Tochter, sondern eine undankbare Last sei. Die Mutter habe sowohl mit seinem damaligen Kompaniechef als auch mit ihm geschlafen und dieser habe ihn gezwungen, sie zu heiraten. Er tue nur seine Pflicht. Die Stiefmutter habe ihre leiblichen Kinder der Patientin gegenüber bevorzugt. Gekränkt habe sie aber schon als Kind viel mehr, dass sie sich gegen den brutalen Vater nicht wehren konnte. So haben alle Familienmitglieder von ihm Prügel bezogen, wenn er verspätet nach Hause kam und die Familie schon mit der Mahlzeit begonnen hatte. Als sie später Stenotypistin gelernt hatte und Geld verdiente, habe sie die übrige Familie vor dem Vater beschützen können. Sie war inzwischen körperlich kräftig entwickelt und der Vater hatte Respekt, vielleicht sogar Angst bekommen. Im 20. Lebensjahr sei es ihr zu viel geworden und sie sei zu den Großeltern mütterlicherseits gezogen, die vier Zugstunden entfernt gewohnt haben. Dort begannen die Asthmaanfälle, die im weiteren Leben allmählich häufiger und stärker wurden. Von den Phantasien in der Intervisionsrunde wurden zwei notiert: Dem Therapeuten werde »bei der Vorgeschichte noch allerhand blühen« und »Liebe scheint sie zu ersticken.«

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Die weitere Lebensgeschichte wurde unter dem Aspekt der stabilisierenden psychischen Faktoren vorgestellt: Ihre Tochter habe sie erst nach Symptombeginn entbunden und alleine aufgezogen, weil sie Verantwortung für eine dreiköpfige Familie nicht übernehmen konnte. Über mehrere Stufen entwickelte sie sich von einer Stenotypisten über Heimerzieherin zur Diplom-Psychologin. Sie habe in kurzer Zeit viele verschiedene Arbeitsstellen mit wachsender Verantwortung gehabt. Mit ihrer Tochter wohnte sie drei Jahre lang in dem EOS-Internat, dass sie bald leitete. Die Tochter sei sehr oft krank gewesen und bekam Asthma, wie sie selbst, und hatte zusätzlich Hautekzeme. Die Tochter habe sie zeitweilig in Wochenkrippen gegeben, in der Regel aber nur in Tages-Kindereinrichtungen gehabt. Schließlich habe sie einen Mann geheiratet, den sie nicht liebte, der ihr aber »ein ruhiges Fahrwasser« bot und ihre Tochter adoptierte. Sie verstehe nicht, warum sich ihre eigenen Asthmaanfälle, die sich schon fast verloren hatten, in der Ehe wieder verstärkten. Kurz nach Abschluss des Studiums habe sie ihren Sohn nach acht Monaten Schwangerschaft entbunden. Nach einem Babyjahr habe sie zwei Jahre lang verkürzt gearbeitet. Dann sei der Mann mit dem Studium dran gewesen und sie sei wieder voll als Lehrerin eingestiegen, bis sie wegen des Asthmas 14 Monate arbeitsunfähig geschrieben war. Nach der Gruppenpsychotherapie habe sie eine Freistellung als Lehrerin bekommen und als Sachbearbeiterin gearbeitet, wo sie noch immer tätig sei. Im PFS wurde kurz diskutiert, welchen Anteil Arbeitswechsel und stationäre Gruppen­ psychotherapie am Verschwinden des Asthmas gehabt haben könnten. Als chronifizierende psychische Faktoren wurden berichtet: Sie sei »regelrecht in die Arbeit geflüchtet«, habe aber auch viele Wochenstunden wegen Allergietests, Desensibilisierungen und schließlich Schlafstörungen, Händezittern und innere Unruhe bei wechselnden Ärzten zugebracht. Wenn die Ärzte nicht wechselten, dann wechselte sie. Auch Autogenes Training habe man ihr beibringen wollen. Es hatte keinen Erfolg, sie sei dabei regelrecht wild geworden. Der Psychologe, der ihr ohnehin unsympathisch gewesen sei, habe sie wegen ihrer Undiszipliniertheit beschimpft und der Psychiaterin gesagt, dass sie ihr »mit Medikamenten das Maul stopfen« solle. Auch während der stationären Gruppenpsychotherapie vor einigen Wochen habe man es ihr erneut aufdrängen wollen. Sie habe sich zunächst dagegen gewehrt, dann habe sie einfach so getan wie die anderen Patienten und hatte ihre Ruhe. Eine Teilnehmerin sagte: Das fühlt sich an, als ob sie aus einem Laufrad gesprungen sei. Jemand fügte hinzu, dass es fast unmöglich sei, aus der Volksbildung rauszukommen. Er kenne einige Lehrer, die berentet werden mussten, weil ein Wechsel unmöglich war. Jemand sagte: Der Psychologe ist Herr X gewesen, der ist manchmal wirklich unmöglich. Als auslösende psychische Faktoren wurde vorgetragen: Die Patientin musste entgegen ihrer Erwartung mit und nach der Scheidung erleben, dass sich fast alle gemeinsamen Bekannten auf die Seite des Ehemannes schlugen, weil sie ihn

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

bedauerten. Auch die Tochter bedauere ihren Vater und die Patientin sei während der Exploration unter starken psychischen Druck geraten, als der Therapeut daraus schloss, dass die Tochter mehr zum Vater als zu ihr neige. Die Tochter sei zu rücksichtslos und egoistisch, klagte die Patientin und: So kann und will ich nicht sein! Die Ursache für ihre Schuldgefühle liege in ihrer Inkonsequenz. Wegen des Asthmas und wegen der Ekzeme habe sie ihr zu viel durchgehen lassen. Die Patientin habe etwas gegen rücksichtslose Menschen, weil ihr eigener Vater so war. Der Therapeut sagte darauf: »Es ist schmerzlich, wegen der Inkonsequenz ihrer Tochter gegenüber glauben zu müssen, dass diese so sei, wie Ihr Vater war, obwohl Sie als Mutter für sich und ihre Tochter immer etwas anderes gewollt haben.« In der letzten diagnostischen Stunde habe die Patientin sich beim Therapeuten entschuldigt, weil sie in der vorigen Stunde gar nicht hätte sagen können, was sie eigentlich wollte. Sie habe mit Männern große Schwierigkeiten. Das gehe so weit, dass sie während der Ehe nachts nicht schlafen konnte, wenn der Mann neben ihr lag. Sie sei in die äußerste Ecke des Bettes gekrochen und bei jedem Geräusch aufgefahren. Wenn sie sich als Frau angesprochen fühle, fühle sie sich sofort benutzt und oft auch missbraucht, und wenn man sie nicht genug beachte, dann schufte sie über ihre Kräfte hinaus. Das hätten alle ihre Chefs sehr schnell spitzgekriegt. Sie wisse es und könne es aber nicht ändern. Danach sei eine Therapievereinbarung über eine ambulante persönlichkeitszentrierte Langzeittherapie im Liegen abgeschlossen und in der nächsten Stunde begonnen worden. Die Teilnehmer der Intervisionsgruppe griffen die Phantasie, was dem Therapeuten durch die Patientin alles geschehen könnte, wieder auf und bedauerten ihn zunächst. Dann wurde als dynamischer psychischer Faktor herausgestellt, dass die Patientin in jedem Mann, also auch im Therapeuten »pure Brutalität« sehe, auch wenn sie sich in ihrer Vernunft zügeln könne. Den ersten Mann, der potent genug war, ihr ein Kind zu machen, das sie nicht wirklich gewollt habe, servierte sie ab. Damit habe sie sich quasi am Vater gerächt, der sie aus der Geborgenheit bei den Großeltern weggeholt und seiner Brutalität ausgesetzt habe. Dann habe sie offensichtlich einen »ruhigen Vertreter« geheiratet, der ihr erst wie eine Mutter erschienen war und sich dann in Wehleidigkeit verdrückt habe. Im nächsten Schritt wurde gefragt, wo der Therapeut eigentlich seine Gegenübertragungsangst lasse. Er müsse doch fürchten, nun als nächster Mann dran zu sein, der für den Vater zu büßen habe. Der Therapeut neige zu einem Helferkomplex, sonst hätte er sie doch nicht übernehmen müssen. Jemand warf ein, dass die Träume der Patientin an eine psychotische Gefährdung denken lassen. Der Therapeut habe vielleicht so schnell mit der Behandlung begonnen, weil er sich überschätze. Alle wüssten ja, dass er einerseits viel leiste, andererseits aber auch ein bisschen rücksichtslos sein könne. Daraus könnte sich eine Gefahr für die Behandlung entwickeln, so dass aus einer Behandlung eine Chronifizierung würde. Daran müsse man immerhin denken, denn mit dem Vorbehandler sei es ja auch schiefgegangen. Davor müsse man den Therapeuten und auch die Patientin schützen. Es war erhebliche Spannung aufgekommen und jemand schlug vor, jetzt lieber das Band zu hören, als dieser Frage weiter zu folgen. Aus heutiger Sicht ist zu sehen, dass die Teilnehmer erkannt hatten, dass der Therapeut mit den Wünschen der Patientin identifiziert war und sich vielleicht als besserer Mann präsentiert hatte, der sich ihrer annahm. Möglicher-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

weise war die Gegenbesetzung also abgespalten. Sie hatten aber weder ihren eigenen Neid erkannt noch ihre projektive Identifizierung mit dem Vaterhass, den sie beschrieben, sonst wäre die Suche der Patientin nach dem Mutterobjekt nicht verborgen geblieben. Die Psycho- und Gruppendynamik ist damit natürlich nur auf ein Blitzlicht verkürzt. Es möge aber reichen, um nachvollziehbar zu machen, woraus seit weit mehr als einem Jahr vor der Grenzöffnung das Bedürfnis resultierte, für das Ausbilder-Problemfallseminar eine psychoanalytische Gruppensupervision zu finden. Auch sollte etwas deutlicher geworden sein, worauf sich der Anspruch der Rostocker gründete, für psychoanalytische Einzeltherapien ermächtigt zu sein, und woher mit der Wende augenblicklich die Bereitschaft kam, sich Lehr- und Kontrollanalytiker zu suchen, die sich Übergangsregeln vorstellen konnten.

6.5.2 Die DGAPT 6.5.2.1 Hans-Joachim Maaz: Die DGAPT – ihre Wurzeln, die Geschichte und die multimodale Konzeption Die Suche und das Streben nach psychoanalytisch begründeten Therapieformen war in der DDR immer lebendig geblieben, wenn auch vielfach ideologisch verketzert und theoretisch und praktisch erheblich erschwert. Im Wesentlichen wuchsen tiefenpsychologisch-psychoanalytische Erfahrungen und Praxis über drei Methoden: die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, die Psychodynamische Einzeltherapie und die Katathym-Imaginative Psychotherapie. Innerhalb der Fachvertreter der Psychotherapie in der DDR kam die wesentliche Gegnerschaft zu den psychodynamischen Methoden von den Kollegen und Kolleginnen, die psychotherapeutische Konzepte der Anpassung, Beruhigung, Konfliktdämpfung zum Ziel hatten, so von den Vertretern der »rationalen Psychotherapie«, dem Autogenen Training und der Hypnose, der Gesprächspsychotherapie und der Verhaltenstherapie. Das Besondere an den theoretischen Auseinandersetzungen dabei war, dass die psychoanalytisch orientierten Methoden mit einer politisch-ideologischen Diffamierung als einer »bürgerlichen Irrlehre« zu kämpfen hatten, wobei alle konfliktdämpfenden Methoden in Gefahr waren, eine systemimmanente Verleugnung und manipulierende Unterdrückung und Beruhigung zu unterstützen. So sahen viele von den psychodynamisch orientierten Psychotherapeuten in ihrer Arbeit auch eine subversive Tätigkeit gegen die Repression des politischen Systems mit einer therapeutischen Zielstellung zu einer freieren, kritischeren und selbstverantwortlichen Lebensform. Mit der politischen Wende in der DDR begannen intensive Bemühungen der weiteren Etablierung von psychoanalytisch begründeten Therapieformen. Unter Leitung von H.-J. Maaz wurde am 31. März 1990 die »Akademie für Psychodynamische Therapie und Tiefenpsychologie« in Halle/Saale gegründet. Mitglieder wurden alle interessierten Kolleginnen und Kollegen aus den bisherigen Sektionen und Arbeitskreisen der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie, der Psychodynamischen Einzeltherapie und der KatathymImaginativen Psychotherapie. Die Gründungsmitglieder wurden sich einig, die Aus- und Weiterbildung in Psychodynamischer Einzel- und Gruppentherapie nun fest zu etablieren,

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dafür Institute zu gründen mit dem Ziel, für eine kassenfähige Psychotherapie, orientiert an der Richtlinien-Psychotherapie der Bundesrepublik, auszubilden. Dabei sollten aber unbedingt auch die spezifischen theoretischen und praktischen Erfahrungen aus der bisherigen psychotherapeutischen Tätigkeit in der DDR gewürdigt bleiben und integriert werden. Parallel zu diesem ersten gemeinsamen Lehrinstitut hatte ich zum 6. Juli 1991 zur Bildung einer »Gesellschaft für Psychodynamische Therapie und Tiefenpsychologie« eingeladen, die an diesem Tag als »Deutsche Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie« (DGAPT) gegründet wurde. Dr. Kirchner/Cottbus wurde als 1. Vorsitzender gewählt, wobei seine gegebene Kompetenz für die anstehenden Organisations-, Verwaltungs- und Integrationsverhandlungen ausschlaggebend war. Die neu gegründete Gesellschaft hatte sich folgende Aufgaben gestellt: – die in der DDR gewachsenen psychoanalytisch begründeten Methoden zur Anerkennung bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im System der Richtlinien-Psychotherapie zu bringen, – ein gemeinsames Curriculum aus den drei Methoden (Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, Psychodynamische Einzeltherapie, Katathym-Imaginative Psychotherapie) für die Aus- und Weiterbildung zu erarbeiten, – Kriterien für die Berufung von Lehrtherapeuten/Lehranalytikern zu finden und festzulegen, – Voraussetzungen zur Etablierung der Psychoanalyse in den neuen Bundesländern zu schaffen, – Berufung von Lehranalytikern, die von der KBV anerkannt werden können, – Erarbeitung von Strukturen, wie die bestehenden psychotherapeutischen Gesellschaften, Weiterbildungskreise und Institute im Osten vernetzt werden und zusammenarbeiten können, – eine fachliche und strukturelle Verbindung zu den westdeutschen Fachgesellschaften, vor allem zur DGPT, zu finden. Ernsthafte Konflikte unter den führenden Vertretern dieser Bemühungen entstanden erstmals, als die Forderung von westlicher Seite aufkam, zur Anerkennung einer Ost-Psychoanalyse müssten die Therapeuten noch 100 Stunden auf einer »West-Couch« als Lehranalyse absolvieren. Damit wurde schnell klar, dass auch im Vereinigungsprozess der Psychotherapeuten die Machtfrage gestellt war und die Erwartung, dass wir uns möglichst reibungslos an die westdeutschen Verhältnisse anpassen sollten und damit eigene Entwicklungen mit theoretisch und methodisch spezifischen Erfahrungen bei der bürokratischen Integration keine Rolle spielen sollten. Der Streit darüber mit dem Bedürfnis, unsere bisherige Arbeit auch inhaltlich zu vertreten und zu würdigen, führte mit einer Wahlveranstaltung zu einem Führungswechsel der DGAPT. Am 30. Oktober 1993 wurde Dr. Maaz als Vorsitzender der DGAPT gewählt. Seit dieser Zeit wurde das Modell eines geschäftsführenden mit einem erweiterten Vorstand aus dem Zusammenschluss der Organisationen aufgegeben und ein führender Vorstand der Gesellschaft – von den Mitgliedern direkt – gewählt. Unter Vorsitz von Hans-Joachim Maaz wurden anfangs Heinz Hennig, Agathe Israel, Hartmut Tschersich und Frank Höhne und

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

später auch Erdmuthe Fikentscher, Cornelia Baumgärtner (Kästner), Ulrike Gedeon, HansJörg Klemm, Grit Langer in den Vorstand gewählt und waren engagiert tätig. Mit großer Mehrheit wurde bei dieser Wahl beschlossen, dass wir eine offizielle Anerkennungs-Nötigung für noch 100 Stunden auf einer »West-Couch« nicht akzeptieren können, es aber selbstverständlich jedem Kollegen/jeder Kollegin freigestellt bleibe, aus Neugier, persönlichem Weiterbildungsinteresse und weiterem Selbsterfahrungsbedürfnis neue Angebote und Möglichkeiten zu nutzen. Damit war formal entschieden, dass wir unsere bisherige psychotherapeutische Kompetenz entsprechend bewahren und würdigen und mit den neuen Möglichkeiten weiterentwickeln wollten. Die Auflage für 100 Stunden West-Couch war vor allem für die Ausbildungsleiter und Lehrtherapeuten aus der DDR ein kränkendes Angebot, weil damit die erreichte Kompetenz prinzipiell in Frage gestellt wurde und das über Jahre gewachsene Selbstverständnis, für die eigene Ausbildung selbst zu sorgen, die individuellen und institutionellen Möglichkeiten und Begrenzungen kritisch zu reflektieren und im harten Ringen gegen vielfache Widrigkeiten immer wieder Wege der Weiterentwicklung zu finden, entwertet werden würde. Auch das Verhältnis zu den Schülern und die bisherigen Aus- und Weiterbildungsleistungen würden prinzipiell in Frage geraten, wenn akzeptiert werden würde, dass erst nach weiteren 100 Stunden Lehranalyse im Westen die »richtige« Kompetenz erworben sei. Eine Verständigung unter uns ostdeutschen Psychotherapeuten und den westdeutschen Standesvertretern darüber ist leider nicht mehr wirklich gelungen. Die konflikthaften Interessenlagen waren vielgestaltig: Unterschiedliche individuelle Kompetenzen und Bedürfnisse wurden nicht mehr besprochen, sondern in unterschiedlichen Positionen ausgetragen. Unbewältigte Übertragungskonflikte zwischen Lehrtherapeuten und Schülern/Kandidaten wurden nicht mehr weiter analysiert, sondern ausagiert, indem sich vor allem Vertreter der Schülergeneration den neuen »Vätern« und »Müttern« des Westens zuwandten. Die konkurrierenden Fachgesellschaften und Institute des Westens (DGP, DPV) versuchten nun auch im Osten Fuß zu fassen und dafür Unterstützer in den neuen Bundesländern zu finden, die sich dabei schnellere Anerkennung erhoffen konnten. Der Umgang mit Anerkennungsfragen durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die westdeutschen Fachgesellschaften war sehr unterschiedlich, wobei die KBV ein größeres Verständnis entwickelte für die Kompetenzen und Existenzfragen ostdeutscher Psychotherapeuten. Die beruflichen Existenzfragen, gepaart mit dem Bedürfnis nach narzisstischer Stabilisierung, haben die Zusammenarbeit innerhalb der DGAPT schnell zerstört und schließlich dazu geführt, dass die neu gegründeten Ost-Institute sich auf eigene Möglichkeiten und Vorteile für die Anerkennung konzentrierten, unter Vernachlässigung gemeinsamer Interessen und der bisherigen Zusammenarbeit. Es entstand auch ein Konkurrenzkampf zwischen Vertretern des in der DDR bereits etablierten »Facharztes für Psychotherapie« und den Vertretern der Psychoanalyse des Westens, die Ärzte und Psychologen gemeinsam vertreten mit einem Streit darüber, ob die fachärztlichen Leistungen nicht aufgewertet werden müssten. Die Spannungen aus narzisstischen Kränkungen der führenden ostdeutschen Fachvertreter, aus Existenzunsicherheit, unterschiedlichen Auffassungen zu unseren Methoden

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

(Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, Psychodynamische Einzeltherapie, Imaginationstherapie, Körperpsychotherapie) und einer Generation, die mit ihren bisherigen Erfahrungen und ihrem Weiterbildungsstand keine sofortige Führungsfunktion im Osten hätten übernehmen können – verstärkt durch eine Politik des »divide et impera« von westlicher Seite –, haben die Bedeutung der DGAPT zunehmend in Frage gestellt. Die führenden Repräsentanten der DGAPT zerstritten sich in vier unterschiedliche Positionen: – Die DGAPT sollte fortan lediglich ein Zusammenhalt für technische, organisatorische und bürokratische Belange sein (Geyer). – Die DGAPT sollte eine Fachgesellschaft für die Psychoanalyse im Osten mit spezifischer Integration unserer Methoden sein (Maaz, Hennig). – Die DGAPT müsse »in die Welt gehen« und sich den westlichen Fachgesellschaften anschließen (Seidler). – Der Facharzt sollte gegenüber der Psychoanalyse favorisiert und damit die DGAPT überflüssig werden (Kirchner). Eine Einigung darüber ist nicht mehr gelungen. So wurde mit einer Wahlveranstaltung am 26. April 1996 die Orientierung der DGAPT unter Vorsitz von H.-J. Maaz neu bestimmt als eine eigenständige analytische und tiefenpsychologisch orientierte Fachgesellschaft in Deutschland. Die daran interessierten Kolleginnen und Kollegen einigten sich in der neuen Satzung auf einen multimodalen und integrativen Ansatz innerhalb der analytisch begründeten Psychotherapiemethoden. Von der DGAPT wurden folgende Tagungen durchgeführt: – 1995 in Halle: Symposium »Der Stellenwert der analytischen Psychotherapie« während des Internationalen Kongresses zur Kurzzeittherapie«, – 1998 in Halle: »Zur integrativen Praxis analytischer Psychotherapie«, – 1999 in Warnemünde: »Multimodale Praxis der Psychotherapie«, – 2003 in Weimar: »Der Körper in der tiefenpsychologisch fundierten und analytischen Psychotherapie«.

6.5.2.2 Hans-Joachim Maaz, Ulrike Gedeon und Hans-Jörg Klemm: Die Sektionen der DGAPT Nachdem eine Verständigung unter uns ostdeutschen Psychotherapeuten über die Ziele und Funktion der DGAPT nicht gelungen war, wurde in einer Wahlveranstaltung am 26. April 1996 die Orientierung der DGAPT unter Vorsitz von H.-J. Maaz neu bestimmt als eine eigenständige analytische und tiefenpsychologisch orientierte Fachgesellschaft in Deutschland. Die daran interessierten Kolleginnen und Kollegen einigten sich in der neuen Satzung auf einen multimodalen und integrativen Ansatz innerhalb der analytisch begründeten Psychotherapiemethoden. Dazu wurde zur Gründung von Sektionen aufgerufen, die die Multimodalität und Integration realisieren sollten. Vorgeschlagen wurden eine Sektion Analytische Körperpsychotherapie, ­Sektion Analytische Gruppentherapie, Sektion Analytische Imaginationstherapie, Sektion Analytische Fokaltherapie (Psychodynamische Einzeltherapie), Sektion Weibliche und männliche Spezifika in analytischer Psychotherapie, Sektion Transkulturelle Psychoanalyse.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Die Sektionen Analytische Körperpsychotherapie, Psychodynamische Einzeltherapie, Das Weibliche in der Psychotherapie, Männliche Identität in Psychotherapie und Gesellschaft haben sich innerhalb der DGAPT konstituiert. Die Gruppentherapeuten haben ihren Weg als Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppentherapie (DADG) innerhalb des Deutschen Arbeitskreises für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG) gefunden. Die Imaginationstherapie konnte sich in der »Mitteldeutschen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie und Psychologie e. V.« (MGKB) etablieren. Seit ihrer Gründung werden von den Sektionen regelmäßig Seminare, Workshops und Arbeitstagungen angeboten, die Selbsterfahrung und Weiterbildung ermöglichen. Zur Veranschaulichung der Sektionsarbeit sei die Arbeit der Sektion Das Weibliche in der analytischen Psychotherapie und Tiefenpsychologie der DGAPT skizziert. Die Gründung dieser Sektion erfolgte im Frühjahr in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit 44 Gründungsmitgliedern in Halle/Saale. Als 1. Vorsitzende wurde Friederike Beier gewählt, die einen wesentlichen Anteil an der Bildung der Sektion hatte. Vorausgegangen waren zwei Initiativen: Die eine ging von den Frauen der ersten Ausbildungsgruppe für Körperpsychotherapie, geleitet von H.-J. Maaz, aus (1980er Jahre). Diese Frauen luden während einer Tagung der DGAPT 1998 zu einem Seminar »Das Weibliche« ein mit energiegeladener Entschlossenheit, als Frauen ein gemeinsames Projekt zu entwickeln. Die zweite Initiative ging von den Frauen der Ausbildung zur Psychodynamischen Einzeltherapie (Chorin) aus, die bereits 1997 eine eigene Arbeitsgruppe gebildet hatten. So schlossen sich 1999 Psychotherapeutinnen unterschiedlichster Ausbildungsherkunft zusammen, mit dem Anliegen, informativ, forschend und auch selbsterfahrungsbezogen als Sektion unter dem Dach der DGAPT am Thema der »Weiblichen Identität« zu arbeiten. Letztlich vereinte die Frauen das Bedürfnis nach Gemeinschaft mit Frauen mit der Sehnsucht nach Orientierung und Solidarität, Achtsamkeit, Bestätigung, Mitgefühl und respektvollem Miteinander – also nach guter Mütterlichkeit und Partnerschaftlichkeit untereinander. Gleichsam bestand der Wunsch, Lebendigkeit und Kraft mit Frauen zu erleben und zu genießen. Kurz nach der Gründung fand das erste Arbeitstreffen der Sektion mit über 30 Teilnehmerinnen statt. Ein wesentliches Ergebnis der Tagung war die Bildung zweier Arbeitsgruppen mit den Themen: »Weibliche Manipulation in Beziehungen« und »Das Weibliche im Spannungsbogen zwischen früher Sehnsucht und realer Beziehung«. Ein Jahr lang trafen sich diese Arbeitsgruppen regelmäßig, um ihre Themen selbstkritisch vor allem durch Einbringen eigener Erfahrungen zu bewegen. Zur zweiten Arbeitstagung der Sektion ein Jahr später stellten diese zwei Gruppen ihre Arbeitsergebnisse in eindrücklicher Weise szenisch und inhaltlich vor. Die Weiterentwicklung der Themen »Sehnsucht und Manipulation« gelang dann mit der Erarbeitung der Hintergründe, womit ein reger Austausch über die Unsicherheiten mit weiblicher Identität eröffnet wurde. Ebenfalls an diesem Wochenende fand eine Mitgliederversammlung mit der Neuwahl des Vorstandes statt. Als neue Vorsitzende wurde Dr. Ulrike Gedeon gewählt, die ein neues Arbeitskonzept mit dem Schwerpunkt themenzentrierter spezifischer Selbsterfahrung vorstellte, wobei es vor allem um die Auseinandersetzung mit der eigenen Weiblich-

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

keit, Mütterlichkeit und Partnerschaftlichkeit sowie mit der eigenen Therapeutenrolle ging. Die folgenden alljährlichen Arbeitstreffen standen nun unter verschiedenen Themen: »Eva und Lilith – die zwei Gesichter der Weiblichkeit« nach dem Eva-Lilith-Mythos (in »Der Lilith-Komplex« von Hans-Joachim Maaz), »Die integrierte Frau«, »Frau in Beziehungen«, »Eigenständigkeit und Bezogenheit«, »Möglichkeiten und Grenzen als Frau und Therapeutin«, »Werden und Vergehen«. Als Gastdozenten der Arbeitstagungen der »Frauensektion« wurden H.-J. Maaz als Vorsitzender der DGAPT und H.-J. Klemm als Vorsitzender der Sektion Das Männliche in der Gesellschaft geladen. Sektionsübergreifend berichtete Ulrike Gedeon zu den Tagungen der »Männer-Sektion« über die Erfahrungen der Frauen, was einen regen und konstruktiven Austausch ermöglichte. Ebenfalls unter Leitung von Ulrike Gedeon wurden zahlreiche Workshops und Selbsterfahrungswochenenden sowohl für Kolleginnen als auch für Patientinnen durchgeführt. Im Verlauf dieser jahrelangen Arbeit der Frauen in der Sektion gelang es gemeinsam, spannende, schmerzhafte und oft verunsichernde Themen zu bewegen und einen großen Erfahrungsschatz für das partnerschaftliche Miteinander unter Frauen und für die persönlichen und beruflichen Beziehungen im eigenen Umfeld zu sammeln. Für die psychotherapeutische Arbeit wurde immer wieder die Frage bewegt, ob es geschlechtsspezifische Besonderheiten in den Therapien gibt. Dabei wurde herausgearbeitet, dass in therapeutischen Beziehungen immer wieder das Problem bei Therapeutinnen entsteht, besonders (falsch) »mütterlich« zu sein (also zu lange gewährend in bedingungslosem Verständnis zu bleiben) auf Kosten auch notwendiger »väterlicher« Konfrontation gegenüber neurotischem Ausagieren. Es gibt aber auch Therapeutinnen, die mangelnde mütterliche Fähigkeiten durch besondere väterliche Herausforderungen überdecken wollen.

6.5.3 Christoph Seidler: Selbsterfahrung mit der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie während der Wende Probleme mit den Formen einengender, kontrollierender, unterdrückender Autoritätsausübung waren in den 1950er und 1960er Jahren überall im Osten und auf andere Weise im Westen gegenwärtig. Es lag damals nahe, die Entwicklung in den Gruppen zentral mit der Aufhebung autoritärer Unterdrückungsverhältnisse in Verbindung zu bringen. Die Überwindung der Autorität feierte in ganz Deutschland fröhliche Urstände: Vatermord nach Freud, Angriff auf den Leiter nach Slater, Kippprozess nach Höck, Trauma – Abwehr – Latenz – Wiederkehr des Verdrängten lautet Freuds Algorithmus von der Vaterbeseitigung durch die Brüder. Das hat Philip Slater für die Gruppenanalyse ausgearbeitet: Er beschrieb den Sturz des »vergotteten« Gruppenleiters durch die Brüdergemeinde. Die Nach-68erGruppenanalyse (West) habe das – dem Vernehmen nach – später anders gesehen: Der Gruppenleiter sei Diener der Gruppe, so wie es Foulkes vorschlägt. Aber das ist ein weites Feld ... Unser zu DDR-Zeiten berühmt-berüchtigtes Phasenkonzept jedoch, dessen zentraler Punkt der Kippprozess ist, welches bewiesen, beforscht, differenziert und ausgebaut wurde, hatte schon fast den Charakter einer anthropologischen Konstante bekommen. Und doch

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

fiel es in sich zusammen, als die DDR zusammenbrach. Die Überwindung der Autorität, Freuds Vatermord, der Angriff auf den Leiter nach Slater und der Kippprozess wurden in dieser Umbruchszeit gegenstandslos. So gesehen hat die Geschichte des Untergangs der DDR nicht bloß Höck und Co., sondern auch Slater und Freud widerlegt. Es handelt sich also um eine spannende Geschichte. 1985 kam Gorbatschow an die Macht. Das änderte das politische Umfeld fundamental. Eigentlich beginnt hier die Wende. Das zeigte sich auch innerhalb der Gruppentherapieorganisation. 1986 übernahm Heinz Benkenstein die Leitung der Süd-Kommunitäten, die Nord-Kommunitäten übernahm Waldemar Gunia, über diese kann ich persönlich aber nichts berichten. Heinz Benkenstein führte die Linie von Jürgen Ott weiter, der 1986 in den Westen gegangen war. Benkenstein war der Meinung, dass bisher die biographische Dimension in der Gruppenselbsterfahrung zu kurz gekommen sei. Das hatte Konsequenzen: Gemeinsam mit Achim Maaz führte er für erfahrene Trainer der IDG eine sog. »Therapie der Therapeuten« durch. Sie fand als stationäre Gruppe statt und dauerte vier Wochen. Es galt, regressive Prozesse zu vertiefen und so frühe Formen des Erlebens zugänglich zu machen. Ein solches Experiment ist heute undenkbar.

»2. Wende in Deutschland: geringe Einflüsse auf Selbsterfahrungsgruppen« titelte Heinz Benkenstein seine Betrachtungen über die Kommunität X. Diese startete im September 1989 und ging über die Wendejahre 1990/91. Über diese Kommunität ist schon viel geschrieben worden. Sie veränderte die Auffassung vom »Intendieren« noch einmal substanziell. Auf dieses Thema komme ich noch einmal zurück. Zuvor gestatte ich mir einen Rückblick. Da ich die Tücken der Gewusstheitssyndrome kenne, will ich mich nicht allein auf meine Erinnerung verlassen und zitiere immer wieder Zeitgenossen, die dabei waren. Als aus der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR durch Vereinsgründung der Deutsche Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG) hervorging, übernahm Heinz Benkenstein den Vorsitz. Das Glück der Wende wich langsam einem verlustreichen Chaos. Erst 1993 fand die erste wissenschaftliche Tagung des DADG im vereinten Deutschland statt. Ich zitiere aus dem Vorwort der Publikation dieser Tagung, weil in ihr viel von der damaligen Atmosphäre eingefangen ist:

Die Gruppe, eine verlorene Utopie? »Am 6. und 7. 11. 1993 fand in Berlin die X. Tagung des Deutschen Arbeitskreises für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG) statt. Sie trug den Titel ›Indi­viduation contra Bezogenheit? Teil II‹ und nahm damit ausdrücklich Bezug auf die letzte Tagung mit gleichem Thema der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Aus dieser Sektion ist der DADG durch Vereinsgründung hervorgegangen.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Tagungsort war damals wie heute Berlin – die Stadt Deutschlands, in der die Widersprüche seit jeher am deutlichsten ablesbar waren. Die Stadt, die auch heute wieder dem Haß näher ist als der Versöhnung. Damals – vor, während und nach der IX. Tagung vom 28. bis 30. September 1989 – stanken die gesellschaftlichen Mißstände gegen den Himmel. Es war die Zeit der großen Demonstrationen in Leipzig und anderenorts. Die untergehende DDR-Staatsmacht konnte nur noch mit Polizei und Stasi-Gewalt reagieren. Diese Vorgänge mußten die Tagungs­ teilnehmer und das Tagungsprogramm beschäftigen. Das Thema der Tagung nahm aber insbesondere die Kommandokollektivierung aufs Korn. Nur auf den ersten Blick ein Paradoxon: Die Gruppenpsychotherapeuten waren in der ehemaligen DDR die Hüter der Individualität. Sie wehrten sich gegen die Kollektivierung und gegen die Diskriminierung der Subjektivität und des Unbewußten. Das gesellschaftliche Sein bestimmt ja nicht nur das gesellschaftliche Bewußtsein, sondern eben auch das gesellschaftliche Unbewußtsein. Dieses gesellschaftlich Unbewußte ist für die Gruppenpsychotherapeuten nicht nur das vom Bewußtsein nicht Zugelassene, sondern zugleich ein Ort der Kreativität. Heute stinken die gesellschaftlichen Mißstände wiederum gegen den Himmel: Massenarbeitslosigkeit, beängstigender Rechtsradikalismus haben den Traum von Freiheit und Demokratie erheblich relativiert. Politisierung der Gruppenpsychotherapeuten war 1993 von den Organisatoren mit gemeint. Es gibt elegantere Kongresse, wissenschaftlich höherwertige Kongresse, aber es gibt wohl keinen Kongreß, der so unmittelbar im aktuellen Zeitgeist verankert war wie dieser. Das zeigte sich schon am Rahmen. Die Tagung am 6. November fand im Hörsaal der Nervenklinik der Charité statt. Es war kalt, schlecht geheizt, die Teilnehmer saßen in Mänteln da. Das Mittagessen war in einer Gaststätte geplant, diese hatte aber überra­schend, ohne Angabe von Gründen, geschlossen. Der Abend wiederum fand in einem Szene-Literaturcafé mitten im Prenzlauer Berg statt. Die Liedermachergruppe ›Pension Volkmann‹ sang alte und neue zeitkritische Lieder. Dem Café gegenüber befindet sich ein Asylantenheim, dessen Bewohner regel­mäßig durch Brand- und Morddrohungen in Schrecken versetzt werden. Während der Vorstellung erschien die Polizei, weil es eine Anzeige gegen das Literaturcafé durch Anwohner gegeben hatte. Es war warm, die Atmosphäre war sehr herzlich, und man konnte sich, umgeben von flackernder Feindseligkeit, sehr gut unterhalten. Auf der Tagung ging es neben wissenschaftlichen Inhalten also auch um Gesell­ schaftskritik. Damit nicht nur die Kritik der gesellschaftlichen Mißverhältnisse, sondern auch politische Strategien für deren Lösung erörtert werden konnten, war der Jugendse­nator (Thomas Krüger) von Berlin eingeladen. Er mußte jedoch kurzfristig absagen. Auf diese Weise ist ein Diskurs mit Politikern nicht zustande gekommen. Die drei Workshops fanden am Sonntag im Haus der Gesundheit am Alexanderplatz parallel statt. Es gab ein gemeinsames Abschlußplenum, das viele Fragen aufwarf und Gegensätze und Widersprüche offenließ: – Kehren wir zur wissenschaftlichen und therapeutischen Arbeit zurück oder werden wir uns weiter politisieren?

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– Wollen wir der Konzeption der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie treu bleiben und sie weiterentwickeln? – Von welcher Stelle an beginnt so etwas wie ›Verrat‹ an der Intendierten, wenn wir den Prozeß lediglich in einen psychoanalytischen Prozeß umnotieren? – Innerhalb der Konzeption haben wir längst psychoanalytisch gearbeitet. Mit der wissenschaftlichen Bearbeitung der Zusammenhänge zwischen den mikrosoziologischen Prozessen und den individuellen Verläufen ist erst in den letzten Jahren begon­nen worden. Besteht vielleicht genau darin die Chance für die Gruppenpsychotherapie, wenn die Dialektik von sozialpsychologischen und psychoanalytischen Dimensionen weiter vertieft und konzeptualisiert werden kann? – Utopia heißt: Kein Ort. Nirgends. Ist die ›Intendierte‹ nicht durch den Untergang der DDR auf makabere Weise heimatlos geworden? Kann sie in der neuen Gesellschafts­ ordnung vielleicht besonders viel an heilsamen Erfahrungen bewirken oder ist das nur Utopie? – Ist der Wille zur Verständigung zwischen den Gruppenpsychotherapeuten Ost und Gruppenpsychotherapeuten West vorhanden? Ist es nicht viel einfacher, die alten und die neuen Klischees zu bemühen und mit gegenseitiger Abwertung zu reagieren? – Auffällig ist der Grad der Unbekanntheit im Westen. Unbestritten ist, daß die Entwicklungen der letzten zehn Jahre fast völlig unbekannt sind und sich viele Kritiken an der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie auf längst verlassene Positionen beziehen. Wenn sich die ›Intendierte‹ in die analytisch begründeten Gruppenverfahren einreihen will und muß, dann muß sie auch viel breiter veröffentlicht werden. Diese Publikation könnte ein Anfang sein. Andererseits hatte die Gruppenpsychotherapie zu DDR-Zeiten etwas Exotisches in den Augen der anderen – linken – Deutschen. Heute tritt sie mit einem anderen Anspruch auf und trifft auch auf harte Konkurrenz. Diese Veröffentlichung gibt die Vorträge ungeschönt wieder. Unabhängig davon, wie weit diese Vorträge wissenschaftlich auch tragen – sie sind fast alle Zeugnisse von sehr persönlicher Verwundung, Enttäuschung und Erfahrung. Diese großartige Zeit ist so reich an Enttäuschung, daß ihr kaum noch eine Utopie standhalten kann. So enttäuscht von sich und der Gesellschaft sind wohl die Leute aus dem Westen nicht« (Benkenstein, Kirchner u. Seidler 1995, S. 9 ff.). Soweit dieses Zitat und ich möchte heute hinzufügen: »Nur durch Enttäuschung kommt der Mensch zu Verstand«, sagt der junge Karl Marx. Nun möchte ich den enttäuschten Heinz Benkenstein zu Wort kommen lassen: »Wer, um alles in der Welt, hat den Begriff ›Wende‹ in die deutsche Sprachlandschaft gebracht? Es ist wohl keine Zuordnung möglich zu Personen oder Gruppen – er ist über uns gekommen, aber nicht gegangen. [...] Wie immer Wende interpretiert wird – sie soll Veränderung im Sinne von Richtungswechsel und Zielneuorientierung nahe legen, ja suggerieren. Dennoch halte ich die Bezeichnung nicht für zufällig, eher für schicksalhaft, sie steht mehr oder weniger für ein unbewusstes Programm, das Ängste und Wünsche umfasst und Ver-

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gangenheit abwehrt. Die so genannte Wende begann für mich zweifelsohne in Deutschland im Jahre 1945. Nur damals nannte man je nach Standort diesen Beginn Zusammenbruch oder Befreiung. Ich möchte hier keinen historischen Exkurs über die letzten 50 Jahre betreiben, aber zu unserem Thema ist dieser Bezugsrahmen, wie ich meine, unverzichtbar. Impliziert doch die Fragestellung letztendlich eine Sichtweise, die nahezu automa­tisch davon ausgeht, dass zwei verschiedenartige Staatsgebilde mit geistig-kultureller Eigenbedeutung spezifische Entwicklungen nahmen und durch die Wende zusammenge­führt wurden. Dem Zeitgenossen liegt es sicher nahe, automatisch und damit auch vordergründig Ost kontra West und umgekehrt zu empfinden. Das ist ideologische Oberfläche der viel zitierten zwei Seiten ein und derselben Medaille. Mittendrin steckt der Mensch in seinem Geworfensein, eingespannt in seiner Existenz, die zu beleben war, in Ost und West gleichermaßen. Uns war aufgefallen, daß die dramatischen Wendeereignisse in den Gruppengesprächen kaum eine Rolle spielten. Das ist fraglos der Rede wert: ›Es ist die Erfahrung des Drinnen und Draußen einer Gruppe oder die relative Unstörbarkeit des Systems Gruppe, selbst unter außerordentlichen Bedingungen, wie es die Wendezeit – 1988 bis 1991 – darstellen sollte.‹ Das wirft natürlich einige bedenkliche Fragen auf – z. B.: Stimmt die immer wieder geäußerte Behauptung, daß in den Gruppen der DDR auf Grund der angeblichen Allgegenwärtigkeit der Staatsmacht wesentliche Bereiche ausgespart blieben bzw. Offenheit und Öffnung der Persönlichkeit kaum oder gar nicht möglich waren? Also eigentliche Selbsterfahrung gar nicht stattfinden konnte, sondern auch hier die doppelte Buchführung in Sachen Seelen­ leben eine bedeutsame Verfälschung und Verfremdung hervorrief? Warum wird eine an­geblich so gravierende Sozialisation beziehungsweise ihre Sollbruchstelle nicht deutlicher thematisiert? Vielleicht ist das auch nur eine Frage, die sich ein Ossi stellt. Meine Antwort: Ideologische Konflikte, Widersprüche, staatlich verordnete Lügenhaftigkeit und doppelte Moral sind letztlich Oberflächenkonflikte, die mehr oder weniger bewußt sind, die, sagen wir es poetisch, nicht in die Seele dringen. Es war zu jeder Zeit jedem bekannt, was hier mit Menschen geschah und was Menschen mit sich geschehen ließen. Die Probleme waren bewußt und zwecks Lebensbewältigung ein wenig mehr oder weniger zur Seite gestellt. Das sogenannte Verbogensein durch oder in einer repressiven Gesellschaft berührt nur die Oberfläche, ist austauschbar gegen bewußte Probleme und Konflikte in anderen Formen staatlicher Organisation, zum Beispiel Demokratie. Für viel bedeutsamer und entscheidender halte ich die Mechanismen, Abläufe und Vorgänge, die gemeinhin mit ›archaisch‹ oder ›kollektives Unbewußte‹ bezeichnet werden. Hier schließt sich für mich der Bogen, der – man verzeihe mit dieses zugespitzte Beispiel – in unfaßbarer Deutlichkeit im ehemaligen Jugoslawien sichtbar wird, sichtbar wird in aggressiven Mordtaten, Vergewaltigungen und Unglaublichkeiten unter der Decke des Krieges beziehungsweise ausgelöst durch eine verfehlte und phantasielose Realpolitik. War damit zu rechnen, gibt es unmittelbare Zusammenhänge mit den Lebensumständen und politischen Verstrickungen in diesem Lande? [...] Auch hier sind Zweifel an der Interpretation, an das einfache und direkte In-Beziehung-Setzen von politischen Verhältnissen und Individuation angebracht. Die Dinge sind

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wohl etwas komplizierter, als uns vorschnelle, wenn auch geschmeidig und scheinbar plausibel erscheinende Erklärungen, weismachen wollen« (Benkenstein 1995, S. 40 ff.). So flucht und wettert Heinz noch eine ganze Weile – auch das sehr lesenswert – mit allem Recht der Welt, gegen die damals grassierende Diskriminierung der IDG, die ja gewissermaßen unser Lebenswerk darstellt, an dem sich keiner leichtfertig vergreifen sollte. Und tatsächlich ist dieser Befund in seiner Bedeutung gar nicht zu überschätzen, und er bestätigte sich auch, als zunehmend »Westsozialisierte« in die Selbsterfahrungsgruppen kamen. Die »Oberflächenkonflikte« beschäftigten die Gruppen nie sehr lange. Das wirft in der Tat eine Reihe von Fragen auch an eine Psychoanalyse auf, die psychohistorische Gesichtspunkte einbezieht: Ab wann dringt denn Geschichte nennenswert in die Seele, was liegt darunter bereit? Es sei daran erinnert, dass in Deutschland fast 30 Jahre Psychoanalyse und Psychotherapie betrieben wurde, ohne dass Nazizeit und Krieg Erwähnung fanden, und fast 50 Jahre, bis die auch Leiden der Deutschen in das Bewusstsein treten durften – in West und Ost. Und ich bin der Auffassung, dass die gemeinsame deutsche Geschichte, insbesondere von Nazizeit, Krieg und Nachkrieg, und deren Umgang die Grundlagenmatrix der Deutschen mehr verbindet, als die DDR-BRD-Geschichte sie trennt. Aber (mündliche Mitteilung von Irene Misselwitz 2010): »Ich erinnere, dass Gruppenmitglieder und Trainer eine große Trauer verband [...] Es war eine geteilte Erfahrung, über die wir allerdings wenig gesprochen haben [...] Ich denke, wir brauchten auch diese sprachlose Gemeinsamkeit in der Trauer, dies stellte einen gewissen Schutzraum [...] in einer Welt, die uns fremd war und in der wir uns sehr vereinzelt, unbeholfen, geängstigt und unsicher fühlten. Ich wundere mich, dass ihr das scheinbar vergessen habt!« Nun noch einmal Heinz Benkenstein, wieder etwas sachlicher: »In diesen Betrachtungen bin ich nicht auf methodische-methodologische Probleme und Veränderungen sowie auf das theoretische Konzept der Gruppenselbsterfahrung im Sinne der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie eingegangen«. Das will ich im Folgenden nachholen.

3. Wende in Deutschland: Massive Einflüsse auf Selbsterfahrungsgruppen Verluste auf der einen Seite, Gewinne auf der anderen veränderten das Bild der Gruppenpsychotherapie im Osten grundsätzlich. Zunächst einige Verluste: – Abwicklung der Klinik Hirschgarten und damit des ambulant-stationären Fließsystems. Dabei besonders schmerzhaft: Die Klinikleiterin verschwand im Westen, als ihre IMTätigkeit aufflog. Das beschleunigte die Schließung der Klinik erheblich. Dem folgte die Schließung fast aller Psychotherapie-Kliniken im Osten (nicht nur Berlins) und schließlich auch im Westen. – Abwicklung des IfPN. – Fast vollständiges Erliegen der ambulanten Gruppenpsychotherapie im Osten, wie vorher schon im Westen. Damit lag die Gruppenkompetenz brach, und brachliegende Kompetenz ist immer kränkend. – Der Verlust des Autoritätsvorsprunges der Gruppentherapeuten war unübersehbar. – Der Zusammenhalt unter den Mitstreitern wurde immer geringer.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Die Konkurrenzen um die Kandidaten verschärften sich. Schließlich wurden vermehrt lokale Selbsterfahrungsgruppen durchgeführt, die nicht die Bedingungen einer Kommunität erfüllen. Damit entfällt die Kommunität als Treffen von Experten, die sich gegenseitig supervidieren, die gemeinsam experimentieren und so die Gruppentherapie weiterentwickeln. Unabhängig von dem Qualitätsverlust, der mit diesem Prozess einhergeht, liegt immer auch so etwas wie Verrat in der Luft, was die Solidarität, nun gerade der Gruppenleute, unterläuft. Nicht zu vergessen: der Ausbruch des Irakkrieges und des Jugoslawienkrieges; und jeder Krieg ist eine Niederlage der Menschheit. Einige Gewinne: – Die Übergangsregelungen für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie sahen obligat die Teilnahme an einer Kommunität vor – schließlich ist die »Intendierte« das am besten elaborierte und evaluierte tiefenpsychologische Therapieverfahren in der DDR gewesen. Infolge dessen boomte die Gruppenselbsterfahrung, während die Gruppenpsychotherapie schwächelte. – Roger Kirchner gelang es, die Kommunitäten nach Montecatini Terme zu transportieren. Diese toskanische Variante war sehr lehrreich: Die Gruppensitzungen mussten mit vielerlei italienischen Verführungen konkurrieren. Manche Teilnehmer machten nur halbtags Gruppenselbsterfahrung, manchen Trainern waren die abendlichen Exkursionen wichtiger als die Trainerbesprechungen ... Hier galt nicht nur der Gruppenprozess, sondern es ging um die Möglichkeiten jeder einzelnen Sitzung im Hier und Jetzt. – Die sich eröffnenden Möglichkeiten (z. B. Lehranalysen), in die psychoanalytische Kultur hineinzuwachsen, vervollständigte die Gruppenkultur um den Beitrag der differenzierteren Gegenübertragungswahrnehmungen der Trainer. Gleichwohl war zu erleben, dass sich der Wahrnehmungsfokus in dieser Zeit deutlich auf den Einzelnen verschob und auch dadurch die Gruppenarbeit beeinflusste. – Nach dem großen Glück der Wiedervereinigung gab es eine lange Phase der unterkühlten Paranoidie, aber immer gab es Bemühungen um eine Zusammenarbeit von und mit Westkollegen. Dieser Prozess der vorsichtigen und kritischen Annäherung hat manchmal gekränkt, entmutigt, aber immer wieder zur Klärung veranlasst, auch der eigenen Positionen.

Rückwirkungen auf Theorie und Praxis Jene Kommunität X, die Benkenstein so kritisch beleuchtet, hatte im Inneren eine Weichenstellung von damals unabsehbaren Folgen: Der zweite Durchgang (September 1990) fand in einem ehemaligen Stasi-Hotel in Dranse statt – das stellte sich erst dort heraus. Die Kellnerinnen funktionierten flott, die Atmosphäre unter dem Personal war sehr autoritär. Das mag (neben der Zeitgeschichte) mitgewirkt haben bei der Überlegung, die Kommunikative Bewegungstherapie (KBT) ganz der Gruppe zu überlassen. Intendieren bestand von nun an also nur noch im Zur-Verfügung-Stellen eines Möglichkeitsraumes, genauso wie es beim Malen und in den Gruppenstunden selbst schon immer war.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Das führte zu einer erheblichen Verdichtung der Kohäsion der Gruppe, einer vertiefenden Regression, damit Anschluss an sehr frühe Beziehungserfahrungen. Es ging viel mehr um Zugehörigkeit als um Autorität. Vielleicht weil die Trainerpaare in Halle eine solche Beziehungssicherheit erworben hatten, war es auch möglich, intensive ödipale, besonders erotische Erfahrungen in der Gruppe zu machen und zu besprechen. Am Ende dieses Durchganges haben wir wieder mehr strukturiert. Das war der Ausgangspunkt einer Entwicklung, die noch nicht abgeschlossen ist und zurzeit folgenden Zwischenstand hat: Nach einem Tag mit vier Gruppensitzungen trifft sich die Gruppe ohne Leiter für eine Stunde zum Malen (Themen sind Gruppenbild 1, 2, 3 usw.). Danach findet noch eine Großgruppe statt. In der nachfolgenden Trainerbesprechung wird der Tag ausgewertet und eine gemeinsame Gruppendeutung gesucht, die dann als ermutigende Instruktion für die nächste KBT festgehalten wird. Z. B.: »Jedes Gruppenmitglied hat jetzt die Möglichkeit, mit der Gruppe noch einmal etwas zu tun, was ihm wichtig ist und möglich erscheint«, oder »Sie haben jetzt die Gelegenheit, ihre Gefühle zu zeigen und die Verletzungen, die Sie dabei befürchten«. Die Kommunität X war auch die erste Kommunität, in der ich den Kippvorgang nicht erlebte, das Kernstück unseres Phasenmodells.

6.5.4 Gesprächspsychotherapie nach der Wende: Inge Frohburg: Gesprächspsychotherapie III – Zurück in die Zukunft Das erste Jahrzehnt nach der »Wiedervereinigung Deutschlands« war im allgemeinen und speziell auch und besonders für die Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR gekennzeichnet durch die Notwendigkeit, ihr (berufliches) Selbstverständnis zu hinterfragen, ihre Arbeitsmöglichkeiten zu klären und nach Wegen zu ihrer Realisierung zu suchen. Dabei ging es zum einen um die Anerkennung der in der DDR erworbenen psychotherapeutischen Qualifikationen und zum anderen um die Einordnung in die existierenden bzw. eventuell neu zu bildenden fach-, berufs- und gesundheitspolitischen Organisationsstrukturen. Dieser Prozess war seitens aller Beteiligten von unterschiedlichen Erwartungen und Bestrebungen bestimmt, die nicht leicht auszuhandeln und miteinander in Einklang zu bringen waren und zunächst bei den Psychotherapeuten aus den jetzt neuen Bundesländern sehr zwiespältige Gefühle auslösten.

Die Anerkennung als Psychotherapeut Mit dem Abschluss als Fachpsychologe der Medizin hatte seit 1981 ein großer Teil der psychotherapeutisch tätigen Psychologen eine staatlich anerkannte Qualifikation erworben, die einer Facharztausbildung entsprach und die zur eigenständigen Ausübung von Psychotherapie sowohl befähigte und als auch berechtigte. Eine solche Qualifikationsmöglichkeit gab es in der (alten) Bundesrepublik nicht. Psychotherapeuten aus den jetzt neuen Bundesländern sahen sich deshalb genötigt, die Legitimation für ihre tradierte psychotherapeutische Tätigkeit nach dem in der BRD gültigen

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

»Heilpraktikergesetz«59 bei den jeweiligen Länderbehörden (neu) zu erwerben. Sie haben sich in der Folgezeit jedoch auch engagiert in die laufenden Diskussionen zur Vorbereitung des 1999 verabschiedeten »Psychotherapeutengesetzes«, das die »Heilpraktiker-Regelung« wenigstens teilweise überflüssig machte, eingebracht. Davon berichtet u. a. Pabel (2009).

Die Anerkennung als Gesprächspsychotherapeut Im Zusammenhang mit den 1990 einsetzenden Neuorientierungen galt es auch in fachlicher Hinsicht, sich mit der »neuen Verwandtschaft« bekannt zu machen – mit dem Ziel, Teil der »großen Familie« zu werden. Ostdeutsche Gesprächspsychotherapeuten hatten sich zunächst – u. a. einer Empfehlung der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der DDR (bis 1989 Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR) zur Gründung juristisch eigenständiger methodenspezifischer Psychotherapieverbände folgend – als eingetragener Verein registrieren lassen, sich dann aber noch im Laufe des Jahres 1990 entschlossen, sich der renommierten 1970 gegründeten Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e. V. (GwG), dem zur damaligen Zeit mit 7500 Mitgliedern stärksten Fachverband für Psychotherapie und Beratung mit Sitz in Köln, anzuschließen.60 Im Verlauf von langwierigen und schwierigen Verhandlungen zwischen den Vereinsvorständen aus Ost und West zeigte sich, dass die von den Vertretern aus der ehemaligen DDR angestrebte Lösung, die in der DDR ausgebildeten Gesprächspsychotherapeuten bzw. -Ausbilder aufgrund ihrer Qualifikation, ihrer klinischen Erfahrungen und der oft jahrelangen Lehr- und Ausbildungstätigkeit als Gruppe in die GwG auf- bzw. zu übernehmen, nicht zu realisieren war. Die GwG-Vertreter strebten vielmehr eine Einzelentscheidung an und setzten diese letztendlich auch durch – mit dem erklärten Ziel, das Fortbestehen eines anerkannt hohen fachlichen Niveaus des Verbandes und seiner einzelnen Mitglieder zu sichern (BoeckSingelmann 1991a). Offenbar bestand die Befürchtung, dass die aus der DDR kommenden Gesprächspsychotherapeuten aufgrund ihres »Insel-Daseins« sowie wegen ihrer in mancher Hinsicht anderen Ausbildungs- und Praxisbedingungen dem tradierten Standard der GwG nicht genügen könnten.61 59 Das »Heilpraktikergesetz« regelt in der BRD die »Bestallung« (= Berufsausübungserlaubnis) für Personen, die ohne eine ärztliche Approbation heilkundlich tätig werden wollen. Dieses aus dem Jahre 1939 stammende Gesetz hatte in der DDR keine Gültigkeit. Ein längerfristig vorbereitetes und im September 1990 in die noch bestehende Volkskammer der DDR eingebrachtes »Rahmenkammergesetz für nicht-ärztliches Hochschul-Personal im Gesundheitswesen«, das auch die Psychologischen Psychotherapeuten einschloss, ist nicht mehr verabschiedet und auch nicht in den Einigungsvertrag aufgenommen worden. 60 Im Folgenden wird nur auf die Zusammenarbeit mit der GwG eingegangen. Es bestand zudem Kontakt zu der sehr kooperationsbereiten Ärztlichen Gesellschaft für Gesprächspsychotherapie (ÄGG). Da diese Kooperation jedoch nur eine relativ geringe Anzahl von gesprächspsychotherapeutisch interessierten Ärzten betraf und es in diesem Zusammenhang vorwiegend um Ausbildungsprogramme in klientenzentrierter Gesprächsführung für Ärzte in der Grundversorgung ging (Schreiben von Dr. med. di Pol an Dr. Frohburg vom 8. Februar 1990), bleibt diese Thematik hier unberücksichtigt. 61 ����������������������������������������������������������������������������������������������� In vorangegangenen Zeiten aus der DDR in die BRD übergesiedelte Gesprächspsychotherapeuten wurden einer solchen Prüfung nicht unterzogen.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Dass man in der DDR auf keinen Fall ein »richtiger Gesprächspsychotherapeut« werden könnte, meinte im Übrigen auch Prof. Eugene Gendlin von der University of Wisconsin62, als er mir bei meinem allerersten Besuch einer wissenschaftlichen Tagung der GwG in Köln im Februar 1989 sagte: »What – you have never been in La Jolla?! Than you can’t understand anything of client centered therapy.« In La Jolla im San Diego Country in Kalifornien hatte Carl Rogers 1963 – nachdem er seinen Lehrstuhl an der University of Wisconsin zurückgegeben hatte – ein Center for Studies of the Person gegründet und seitdem mit seinen Mitarbeitern zahlreiche erlebnis- und erfahrungsaktivierende Encounter-Gruppen durchgeführt. An ihnen haben auch viele Kollegen aus Europa und insbesondere Deutschland und Österreich teilgenommen und damit quasi ihre »höheren Weihen« erhalten. Aber: Was wusste Gendlin über die DDR? Für den Erwerb des Zertifikats »Klientenzentrierte Psychotherapeutin in der GwG« bzw. »Klientenzentrierter Psychotherapeut in der GwG« sowie für die Erlangung des AusbilderStatus wurden für die in der DDR ausgebildeten Gesprächspsychotherapeuten63 besondere Regelungen getroffen und spezifische Anforderungen gestellt (vgl. Tabelle 5). Um das Zertifkat »Klientenzentrierte Psychotherapeutin in der GwG« bzw. »Klientenzentrierter Psychotherapeut in der GwG« haben sich im Laufe des Jahres 1991 insgesamt 207 der ca. 300 (psychologischen) Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR – mit wenigen Ausnahmen mit Erfolg – beworben (internes Arbeitsmaterial der GwG)64. Zusätzlich sind 18 Zertifikate für »Ausbilder bzw. Ausbilderin in Klientenzentrierter Psychotherapie/ Gesprächspsychotherapie in der GwG« vergeben worden (namentlich veröffentlicht im Nachtrag zur Ausbilderliste in GwG-Zeitschrift 85, Februar 1992, S. 52). Über die Erteilung der jeweiligen Zertifikate hat eine von den Ost-West-Vorständen paritätisch besetzte sechsköpfige Anerkennungskommission entschieden. Der gesamte mit enormem Organisationsaufwand und sehr vielen umfangreichen Schriftstücken und Aktenbündeln verbundene Anerkennungsprozess war bis zum Jahresende 1992, für Ausbilder bis zum Herbst 1993 abgeschlossen. Dass sowohl die Antragstellungen als auch nachfolgend die Erteilung der Zertifikate ebenso wie die Teilnahme an den Seminaren für die Nachqualifizierung der Ausbilder kostenpflichtig65 waren, hat uns – ganz nebenbei – deutlich gemacht, dass Ausbildung auch eine finanzielle Seite hat. 62 Eugene Gendlin (geb. 1926) lernte Carl Rogers bereits während seines Studiums kennen und arbeitete von 1957 bis 1963 mit ihm an einem Forschungsprojekt zur klientenzentrierten Psychotherapie bei schizo­phrenen Patienten. Gendlin war Nachfolger von Carl Rogers an der University of Wisconsin sowie Gründer und bis 1976 Herausgeber der Zeitschrift »Psychotherapy: Theory, Research and Practice«, dem offiziellen Organ der Abteilung Psychotherapie der American Psychological Association (APA). Durch die stärkere Betonung körperlicher Empfindungen erweiterte er die klientenzentrierte zur erlebensorientierten Psychotherapie. 63 ���������������������������������������������������������������������������������������������������� In der DDR gab es sowohl umgangssprachlich als auch im Schrifttum nur geschlechtsneutral »Gesprächspsychotherapeuten«. Die »und -innen«-Formulierung und das »große I« sind uns erst im westlichen neudeutschen Vokabularium begegnet. 64 Zum Vergleich: Der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (dgvt) lagen nach meinen Kenntnissen bis Ende 1991 insgesamt ca. 200 Anträge auf Fachanerkennung von Verhaltenstherapeuten aus der DDR vor. 65 ������������������������������������������������������������������������������������������������������� Für die Antragsstellungen waren 50 DM, für die Zertifikatserteilung nochmals 100 DM und für das Ausbilder-Zertifikat 400 DM zu zahlen. Der Ausbilder-Kursus 1991 in Berlin kostete 200 DM, der Ausbilder-Kursus 1993 in Leipzig 400 DM.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Tabelle 5: Anforderungen der GwG zur fachlichen Anerkennung der in der DDR ausgebildeten Gesprächspsychotherapeuten Voraussetzungen für den Erwerb des Zertifikates »Klientenzentrierte Psychotherapeutin in der GwG« bzw. »Klientenzentrierter Psychotherapeut in der GwG« für in der DDR ausgebildete Gesprächspsychotherapeuten (Quelle: Ausschreibung vom 28.09.1990, veröffentlicht in GwG-Zeitschrift Heft 81, Januar 1991, S. 80) 1. Diplom in den universitären Studiengängen (Klinische) Psychologie bzw. Medizin und/oder postgradualer Abschluss als Fachpsychologe der Medizin. 2. Abgeschlossene Ausbildung in Gesprächspsychotherapie bei einem von der Gesellschaft für Psychologie der DDR anerkannten Ausbilder für Gesprächspsychotherapie. 3. Mindestens zweijährige Gesprächspsychotherapie-Praxis im Umfang von mindestens 200 Stunden mit diagnostisch unterschiedlichen Patienten(gruppen), zu belegen durch Arbeitsnachweise und fünf Falldokumentationen. Voraussetzungen für den Erwerb des Zertifikates »AusbilderIn in Klientenzentrierter Psychotherapie in der GwG« für in der DDR ausgebildete und tätige Ausbilder für Gesprächspsychotherapie zusätzlich zu 1. und 2. (Quelle: Interne Unterlagen der GwG: Ausschreibungstext vom 10.03.1991) 4. Mindestens fünfjährige Gesprächspsychotherapie-Praxis im Umfang von mindestens 1000 Stunden mit diagnostisch unterschiedlichen Patienten(gruppen), zu belegen durch Arbeitsnachweise und fünf Falldokumentationen. 5. Nachweis der Qualifikation als Gesprächspsychotherapie-Ausbilder der Gesellschaft für Psychologie der DDR. 6. Mindestens dreijährige Gesprächspsychotherapie-Ausbildungspraxis im Umfang von mindestens 40 Stunden/Jahr. 7. »Nachqualifikation« in drei mehrtägigen Seminaren, um »Kenntnisse über das Gesundheitswesen der BRD zu erlangen, mit den Richtlinien der GwG vertraut zu werden und in die Verhältnisse der Bundesrepublik mit ihrer Marktwirtschaft etc. eingeführt zu werden« (Boeck-Singelmnann 1991b, S. 65).* 8. Kooperative Ausbildertätigkeit mit einem/einer AusbilderIn aus den alten Bundesländern, um die »Integration zu fördern« und »die Startchancen der AusbilderInnen in den neuen Bundesländern zu verbessern« (Boeck-Singelmann 1991b, S. 65).** *

Die Ausbilderseminare bzw. -kurse fanden vom 12. bis 13. November 1990 in Buckow, vom 29. November bis 1. Dezember 1991 in Berlin und vom 20. bis 22. Mai 1993 in Leipzig statt. ** Da sich die geforderte kooperative Ausbildung zumeist aus organisatorischen Gründen nicht realisieren ließ, wurde diese Forderung später fallengelassen (Protokoll AK-Ost II 20.–22. Mai 1993 und Schreiben GwG vom 9. Juli 1993 an Dr. Frohburg).

Die zur Integration der Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR in die GwG getroffenen Vereinbarungen ließen trotz unterschiedlicher Interessenlagen und der Probleme bei der Bewältigung von Detailfragen das grundsätzliche Bemühen um gegenseitiges Verstehen und Entgegenkommen erkennen, so dass auf dieser Grundlage letztendlich doch einigermaßen zufriedenstellende Übereinkünfte erzielt werden konnten. Dennoch war es für viele Gesprächspsychotherapeuten und auch Ausbilder aus den nunmehr neuen Bundesländern demütigend und schwer zu akzeptieren, dass sie ihre gesprächs­ psychotherapeutische Kompetenz und Existenzberechtigung erneut nachweisen mussten. Sie hatten sich die bedingungslose Anerkennung ihres fachlichen Potentials und damit auch ihrer Funktion als kompetente und erfahrene Leistungserbringer in der psychotherapeutischen Krankenversorgung gewünscht. Das umso mehr, als sie durchweg in Einrichtungen des Gesundheitswesens angestellt waren und in ihren 43¾-Stunden-Arbeitswochen tagtäg-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

lich (gesprächspsychotherapeutischen) Umgang mit (stationären und/oder ambulanten) Patienten hatten. Dieser unmittelbare Praxiskontakt war – wenngleich in geringerem Umfang – auch bei den Gesprächspsychotherapeuten aus dem universitären Bereich gegeben, da ihre Mitarbeit an der diagnostischen und therapeutischen Arbeit der Institutsambulanzen obligatorisch war. Nicht-(Be-)Achtung erfuhr die Gesprächspsychotherapie-Ost leider u. a. auch in einer 1999 erschienenen Publikation, in der sich der Autor – obwohl er die Gesprächspsychotherapie in Deutschland darstellen wollte – ausschließlich auf deren Entwicklung in Westdeutschland, also der alten Bundesrepublik bezog (Hockel 1999). Die Entwicklung der Gesprächspsychotherapie, die bis 1989 in der DDR stattgefunden hat, wurde gänzlich ausgeblendet und blieb so auch im Hinblick auf die vom Autor diskutierte kassenärztliche (Nicht)Anerkennung der Gesprächspsychotherapie völlig unberücksichtigt. Das ist nicht nur kränkend, sondern vor allem deshalb bedauerlich, weil damit nicht unerhebliches Tatsachenmaterial und Argumentationspotential nicht genutzt wurde (Frohburg 2000). Das »Vergessen« der Tatsache, dass es auch in der DDR Psychotherapie gegeben hat, ist allerdings nicht nur ein Problem(chen) der Gesprächspsychotherapeuten. Davon zeugt u. a. auch die historisch orientierte Darstellung von Kommer und Wittmann (2002), die die Entwicklungsetappen der Psychotherapie in Deutschland ebenfalls ausschließlich auf die alte Bundesrepublik bezieht und damit das Nachtragen vergessener Daten zur Entwicklung der Psychotherapie in Ost-Deutschland bzw. der DDR provoziert hat (Frohburg 2004). Eine erfreuliche Anerkennung meines eigenen Engagements für die Gesprächspsychotherapie war dagegen meine Berufung als Vertretungs-Professorin auf den vakanten Lehrstuhl für Gesprächspsychotherapie von Professor Reinhard Tausch am Psychologischen Institut III der Universität Hamburg bereits für das Sommersemester 1990 – zu einer Zeit, als es die DDR noch und West-Geld für uns noch nicht gab. Ein »Trabant« in der Tiefgarage der Universität – das war eine mittlere Sensation. 1993 wurde ich dann »Professorin neuen Rechts« an meiner alten Alma Mater Berolinensis.

Die sozialrechtliche (Nicht-)Anerkennung Für Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR war der Einstieg in das Gesundheits- und Versorgungssystem der Bundesrepublik in besonderem Ausmaß schwierig und kritisch. In der DDR war Gesprächspsychotherapie eine allen Versicherten zustehende Pflichtleistung der Sozialversicherung (s. zweite Fußnote in } Abschnitt 5.3.3). In der BRD dagegen gehört(e) sie nicht – wie psychoanalytische, tiefenpsychologische orientierte und Verhaltenstherapie – zu den Leistungen, die von den Krankenkassen für die gesetzlich Krankenversicherten finanziert werden, d. h., der Gesprächspsychotherapie fehlte die sozialrechtliche Anerkennung. Diese Regelung resultiert aus den – fachlich umstrittenen, aber bis heute geltenden – Psychotherapie-Richtlinien66. 66 Die vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (BAÄK) verfassten Psychotherapie-Richtlinien regelten 1967 die Einführung und fortan die Durchführung der Psychotherapie in der Kassenärztlichen Versorgung. Sie sind (in überarbeiteten Fassungen) auch heute noch Arbeitsgrundlage des Gemeinsamen

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Das gesamte Prozedere der sozialrechtlichen (Nicht-)Anerkennung der Gesprächs­ psychotherapie haben ihre Protagonisten aus der DDR zunächst mit Verwunderung, Befremden und Unverständnis, später mit Empörung und Zorn zur Kenntnis genommen. Nicht nachzuvollziehen war für uns ebenso wie für die Gesprächspsychotherapeuten der alten Bundesrepublik, dass der Einbeziehung der Gesprächspsychotherapie in die kassenärztliche Regelversorgung Widerstände entgegengesetzt wurden, die mit einer sachlichen und fachgerechten Bewertung des Verfahrens und mit den Interessen der Versicherten schwerlich in Einklang zu bringen sind. So hatten wir uns einen demokratischen Entscheidungsprozess nicht vorgestellt. Für eine befristete Übergangszeit wurde von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) die Möglichkeit geschaffen, die Tätigkeit ostdeutscher Gesprächspsychotherapeuten als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie abzurechnen. Abgesehen davon, dass hier als Kompromiss ein »Etikettenschwindel« initiiert wurde, machte es diese Regelung unmöglich, den Umfang und die Indikationsbereiche der in den neuen Bundesländern realisierten Gesprächspsychotherapien zu erfassen und auszuweisen. Da der Ausgang der seit 1987 währenden Bemühungen der westdeutschen Gesprächspsychotherapeuten um die Aufnahme ihres Verfahrens in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung in den 1990er Jahren nicht abzusehen war, haben sich viele Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR im Interesse ihrer Existenzsicherung notgedrungen und verständlicherweise zu einer psychoanalytischen, tiefenpsychologisch orientierten oder verhaltenstherapeutischen Zusatzqualifizierung bzw. Ausbildung entschlossen. Für das Verfahren Gesprächspsychotherapie bedeutete das jedoch nicht nur einen erheblichen folgenschweren Substanz- und Prestigeverlust, sondern auch eine gravierende Beeinträchtigung ihres Versorgungspotentials und ihrer potenziellen »Marktchancen«. Bereits Ende der 1990er Jahre drohten die neuen Bundesländer zu einer »Gesprächspsychotherapie-freien Zone« zu werden.

Stasi-Verstrickungen? Es ist davon auszugehen – und wir sind zu DDR-Zeiten davon ausgegangen –, dass einzelne Teilnehmer unserer studentischen und kollegialen Ausbildungsgruppen zur Gesprächspsychotherapie Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit waren und möglicherweise oder besser: wahrscheinlich auch über die Arbeit in diesen Ausbildungsgruppen, über deren Teilnehmer, über uns Ausbilder und die besprochenen bzw. diskutierten Themen berichtet haben. Dazu ist uns jedoch zu keiner Zeit irgendetwas Konkretes bekannt geworden. Auch bis heute hat es keinen Hinweis auf wie auch immer geartete Verletzungen der Schweigepflicht oder anderweitigen politisch motivierten »Amtsmissbrauch« gegeben und – um eventuell erneuten Nachfragen vorzubeugen – auch aus der Einsicht in diverse Stasiakten Bundesausschusses (G-BA), der 2004 Rechtsnachfolger des BAÄK wurde und als Beschlussgremium der Selbstverwaltung von Leistungserbringern und Leistungsträgern, die durch die Kassenärztliche Bundesvereinigung sowie die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Spitzenverbände der Krankenkassen vertreten werden, fungiert (Rüger, Dahm u. Kallinke, 2003).

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

hat sich mit Bezug auf die Gesprächspsychotherapie bzw. einzelne Gesprächspsychotherapeuten nichts »Ehrenrühriges« ergeben. Allerdings liegt dem Ausschuss für ethische Angelegenheiten und Beschwerden der GwG eine Information einer ehemaligen Patientin aus dem Jahre 2004 vor, die nach ihren Angaben als Jugendliche von ihrem (Gesprächs-)Psychotherapeuten, der Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit in besonderem Einsatz gewesen sein soll, zu ihrem Nachteil denunziert und unberechtigt in ein Spezialkinderheim eingewiesen worden sei. In diesem Fall konnte von Seiten des Verbandes leider keine Klärung erreicht werden, da dieser Psychotherapeut seine Mitgliedschaft in der GwG während des laufenden Beschwerdeverfahrens aufgekündigt hat (nach Informationen des Bundesgeschäftsführers der GwG, Karl-Otto Hentze, 2009).

Veränderungen in der Berufspraxis Psychologen arbeiteten in der DDR grundsätzlich im Angestelltenverhältnis, im ambulanten Bereich überwiegend in Polikliniken67. Die bereits Anfang der 1990er Jahre erfolgte Schließung der meisten Polikliniken der DDR bedeutete deshalb für viele Gesprächspsychotherapeuten – wie für andere Psychologische Psychotherapeuten auch – den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Umstellung auf die in der alten und nun neuen gesamtdeutschen Bundesrepublik geltenden Versorgungsstrukturen auf die privat- und sozialrechtlichen Finanzierungsregularien und die im Einzelfall geltenden Behandlungsbedingungen war sowohl für die Berufsgruppe der Psychologischen Psychotherapeuten als auch für die (potentiellen) Patienten außerordentlich schwierig und zunächst mit vielen Unklarheiten und Unwägbarkeiten verbunden. Ungewohnt waren beispielsweise für die in der DDR eigenverantwortlich arbeitenden Psychologischen Psychotherapeuten – vielfach postgradual qualifizierte Fachpsychologen der Medizin – das Delegationsprinzip, das die Aufnahme einer Psychotherapie bei einem Psychologen von der Überweisung eines Arztes abhängig machte. Ungewohnt und verwirrend waren auch die diversen Sonderregelungen zur Finanzierung (gesprächs-)psychotherapeutischer Praxis beispielsweise über ein »Kostenerstattungsverfahren«, die »TK-Regelung« als Absprache zwischen der Techniker-Krankenkasse und dem Berufsverband der Psychologen oder die »DPTV-Empfehlungsvereinbarung« mit den Bundesverbänden der Betriebsund Innungskrankenkassen. 67 Polikliniken waren die wichtigsten ambulanten Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens der DDR. Sie verfügten jeweils über mindestens vier Fachabteilungen, Spezialdispensaires und/oder Be­ratungsstellen und konnten als Funktionseinheit selbständig sein oder zu größeren Betrieben (Betriebspoliklinik) oder Hochschulen (Universitätspoliklinik) gehören. Die Mitarbeiter in den Polikliniken der DDR Tätigen waren staatliche Angestellte, hatten festgelegte Arbeitszeiten und wurden nach Tarif bezahlt. Ausnahmen vom Poliklinik-Prinzip bildeten (einige wenige) Spezialisten sowie in größerem Umfang Zahnärzte mit jeweils eigener Praxis (zum Für und Wider von Polikliniken in der DDR s. Merten u. Gerst 2006). Nach 1990 wurden die Polikliniken der DDR entgegen den Festlegungen des Staatsvertrages sehr schnell und rigoros aufgelöst bzw. in einigen Fällen in Ärztehäuser umgewandelt, die dann als Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaft geführt wurden oder den Charakter privatwirtschaftlich geführte Gesellschaften (z. B. GmbH) annahmen.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Und völlig neu war für uns die Begründungspflicht für Psychotherapie und damit das Gutachterverfahren, d. h. die Tatsache, dass es eines gesonderten umfänglichen Antrages und der Entscheidung bestimmter Gutachter bedurfte, um im konkreten Fall die Leistungspflicht der Krankenkassen für eine medizinisch notwendige Psychotherapie zu sichern. Und wir fragten uns: Welche Erfahrungen liegen einer solchen Regelung zugrunde? Welches Ausmaß an Skepsis und welche Zweifel verbinden sich mit ihr im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit der Psychotherapie bzw. die professionelle Seriosität der Psychologischen Psychotherapeuten? Und wir waren zugleich verwundert über die Inserate in Fachzeitschriften, die erkennen ließen, dass die »Erstellung von Psychotherapie-Anträgen« offenbar zu einem gefragten (Neben-)Erwerb für »Ghostwriters« geworden ist – mit dem Versprechen »versierter Psychotherapeuten«, »professionelle Formulierungen von Antragsberichten« in »rechtssicherer Ausfertigung« vorzulegen, den Antragstellern die »lästige, zeitraubende Arbeit« für Erst-, Umwandlungs- und Fortführungsanträge abzunehmen und/oder »individualisierte Berichte mit Hilfe von benutzerfreundlicher Software« zu erstellen. Hinsichtlich der Rahmenbedingungen der psychotherapeutischen Arbeit der Gesprächspsychotherapeuten lässt sich mit Bezug auf vorliegendes Zahlenmaterial auch für sie feststellen, dass sie in den 1990er Jahren, dem allgemeinen Trend folgend, zunehmend als »Freiberufler« tätig geworden sind. Das war zugleich mit einem zunehmenden Rückzug aus stationären Einrichtungen verbunden und dadurch (mit)bedingt mit einem deutlich reduzierten Angebot an Gruppen-Gesprächspsychotherapie (Frohburg 1998). Aus unseren Untersuchungen im Kontext der »International Study for Development of Psychotherapists« (} Abschnitt 5.3.3) wissen wir außerdem, dass es auch Unterschiede bei den Patienten gibt, die vor und nach der Wende von Gesprächspsychotherapeuten behandelt wurden. Diese Unterschiede betreffen 1. die Altersstruktur: Zur Jahreswende 1994/95 wurden seltener sowohl jüngere als auch ältere Patienten behandelt als zu DDR-Zeiten, 2. die Beschwerdebilder: Zum Untersuchungszeitpunkt wurden seltener als zuvor Patienten mit neurotischen und psychosomatischen Störungen und häufiger Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, Psychosen und Suchterkrankungen behandelt, und 3. den Störungsgrad, der deutlich zugenommen hat (Frohburg 1998).

Aus- und Weiterbildung An der Humboldt-Universität zu Berlin konnte die universitäre Ausbildung in Gesprächspsychotherapie nach meiner Berufung auf den 1993 neu geschaffenen Lehrstuhl für Psychotherapie noch bis zu meiner Pensionierung im Jahre 2003 in der tradierten Form fortgeführt werden. Danach erfolgte – wie in allen anderen psychologischen Universitätsinstituten – eine Konzentration der klinischen Ausbildung auf verhaltenstherapeutische Methoden. Eine Qualifikation in Gesprächspsychotherapie wurde in den 1990er Jahren in keinem der Ausschreibungstexte für die Lehrstühle Klinische Psychologie/Psychotherapie an den psychologischen Instituten deutscher Universitäten verlangt. 40 % der Ausschreibungen erforderten von einem Universitätsprofessor für dieses Fachgebiet überhaupt keine Psychotherapie-Ausbildung (!), bei den auf eine Therapierichtung festgelegten Ausschreibungen ergibt sich ein

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Verhältnis von etwa 3:1 zugunsten der Verhaltenstherapie. Das hatte zur Folge, dass bereits Ende der 1990er Jahre 80 % dieser Lehrstühle an die Verhaltenstherapie gebunden waren. Der »Siegeszug« der Verhaltenstherapie an den psychologischen Universitätsinstituten in Ost- und Westdeutschland ist Ausdruck des dominierenden, allerdings auch umstrittenen »wissenschaftlichen Zeitgeistes«, der einen naturwissenschaftlich geprägten Erklärungsansatz mit all seinen Facetten gegenüber einem sozialwissenschaftlich geprägten Verstehensansatz auch in der Psychotherapie präferiert. Da sich die Studierenden nachgewiesenermaßen häufig bereits während ihres Universitätsstudiums für die postgraduale Ausbildung in einem bestimmten Psychotherapieverfahren entscheiden (Frohburg 1995a), ist die der Humanistischen Psychologie zugeordnete Gesprächspsychotherapie durch ihre »Vertreibung« aus den Universitäten offenkundig benachteiligt bzw. in ihrer weiteren Entwicklung gefährdet. Die fehlende sozialrechtliche Anerkennung ihres Verfahrens wirkte sich für die Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR besonders nachteilig auch auf ihre Möglichkeiten in der postgradualen Aus- und Weiterbildung aus. Die Ausbilder in Gesprächspsychotherapie waren als Partner in den sich in den neuen Bundesländern vielerorts gründenden Ausbildungsinstituten für Psychotherapie und in den regionalen Weiterbildungskreisen nicht gefragt, da sich deren – vorrangig von Ärzten getragenen – Aktivitäten ausschließlich auf die psychotherapeutischen Richtlinien-Verfahren konzentrierten. Und an der Gesprächs­ psychotherapie interessierte Ausbildungskandidaten haben sich dann doch lieber auf die sichere Seite begeben und ihre Ausbildung in einem ihre späteren Arbeitsmöglichkeiten und ihre Existenz garantierenden psychotherapeutischen Richtlinien-Verfahren begonnen. Eine eigenständige staatlich anerkannte postgraduale Ausbildung in Gesprächspsychotherapie ist in der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht möglich. Anfang der 1990er Jahre ist es gelungen, eine Kooperation zwischen dem Psychologischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Berufsverband der Psychologen e. V. (BDP) – vertreten durch die Berliner Psychologenakademie – aufzubauen. Aus dieser Zusammenarbeit resultierte ein methodenübergreifendes Curriculum zur postgradualen Ausbildung von Klinischen Psychologen/Psychotherapeuten, in dem die Ausbildungsteilnehmer wahlobligatorisch die Schwerpunkte Tiefenpsychologische Psychotherapie, Verhaltenstherapie und auch Gesprächspsychotherapie belegen konnten. Mit diesen konzeptionellen Festlegungen sollten die Entwicklungen der Psychotherapie in den neuen Bundesländern und insbesondere auch die Erfahrungen aus der Ausbildung zum Fachpsychologen der Medizin ebenso berücksichtigt werden wie die Empfehlungen, die in dem Gutachten zu einem Psychotherapeutengesetz (Meyer et al. 1991) für die Ausbildung Psychologischer Psychotherapeuten gegeben wurden. Die Akkreditierung dieses Ausbildungsprogramms durch die Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen erfolgte im September 1992. Ein erster Durchgang wurde von 1992 bis 1995 realisiert (Frohburg, Nitz u. Schiller 1994). Das Konzept einer methodenübergreifenden Ausbildung mit einer wahlweisen Schwerpunktsetzung auf wissenschaftlich begründete Verfahren – einschließlich der Gesprächspsychotherapie – geriet jedoch in Widerspruch mit den Bestimmungen des seit 1999 gültigen Psychotherapeutengesetzes (BGBl. I S. 1311) und wurde nicht weiterverfolgt.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Das wissenschaftliche Leben Die zeitgebunden mit den Neuorientierungen, Umstrukturierungen und »Abwicklungen« verbundenen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in den neuen Bundesländern haben sich zunächst auch auf das wissenschaftliche Leben lähmend ausgewirkt: Die universitären Forschungsmöglichkeiten waren deutlich reduziert. Das hing zum einen mit den personellen Umstrukturierungen an den Universitäten und den langwierigen Evaluationen zusammen, denen sich alle wissenschaftlichen Mitarbeiter aus der DDR stellen mussten und die für sie zumeist zeitraubend, perspektivisch verunsichernd und teilweise auch demotivierend waren. Das (zu meist nur geringe) Forschungsinteresse praktisch tätiger (Gesprächs-)Psychotherapeuten fiel fast vollständig dem Suchen nach neuen Berufsperspektiven zum Opfer. Damit im Zusammenhang waren – jedenfalls bezogen auf die Gesprächspsychotherapie – die bewährten Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen Mitarbeitern der Universität und den Forschungspartnern in der klinischen Praxis weggebrochen und neue Verbindungen unter den gegebenen Bedingungen nicht aufzubauen. Anträge zur Finanzierung von Forschungsvorhaben einschließlich eventuell Promotionsvorhaben bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder irgendwelchen Stiftungen waren für ein sozialrechtlich nicht anerkanntes Psychotherapieverfahren wie die Gesprächspsychotherapie von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die für die 1990er Jahre charakteristische Krise der Gesprächspsychotherapie in den neuen Bundesländern spiegelt sich auch in ihrer (jetzt geringen) Präsenz auf den einschlägigen wissenschaftlichen Veranstaltungen wider (s. Tab. 3 in } Abschnitt 4.5.3.1). Es ist – weder an den Universitäten noch in den klinischen Praxis – gelungen, die über 20 Jahre hinweg verfolgten Forschungsintentionen zur Eruierung von Effekt-konstituierenden und -moderierenden Indikations- und Prozessbedingungen weiterzuführen.

Rück-Besinnung An die ersten zehn Jahre nach dem Anschluss der DDR an die BRD denke ich – hier vorrangig bezogen auf die Gesprächspsychotherapie und die Gesprächspsychotherapeuten aus der DDR – als an eine Zeit mit notwendigen und teilweise schwierigen Umstellungen und Anpassungen, mit beruflichen Verunsicherungen und meist unfreiwilligen fachlichen Neuorientierungen. Es war und ist noch heute schwer zu verstehen und hinzunehmen, dass ein so vielseitig einsetzbares, wirksames und bewährtes Verfahren wie die Gesprächspsychotherapie nicht in das kassenärztliche Versorgungssystem integriert ist und damit seine Anwendung in der klinischen Praxis blockiert, es seiner Möglichkeiten zur Forschung und Weiterentwicklung beraubt und die verfahrensspezifische Aus- und Weiterbildung be- bzw. verhindert wird. Die (schnelle) Veränderung dieser anachronistischen Situation war auch aus meiner Sicht als Gesprächspsychotherapeutin aus der DDR im Interesse des Verfahrens Gesprächspsychotherapie, der Gesprächspsychotherapeuten und – das vor allem! – im Interesse ihrer potentiellen Patienten dringend erforderlich. Schon sehr bald nach 1990 hatte ich mir vorgenommen, an der Realisierung dieses Vorhabens aktiv mitzuarbeiten.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

6.5.5 Verhaltenstherapie nach der Wende 6.5.5.1 Hans-H. Fröhlich und Wolfram Kinze: Zur Entwicklung der Verhaltenstherapie nach der Wende: Übergangsregelungen – Fachkommission – Institutionalisierung der Aus- und Weiterbildung Psychotherapie in der DDR wurde praktiziert von Ärzten und Psychologen, die sich in ihrem beruflichen Alltag mit psychisch gestörten Patienten befassten und dabei erfahren hatten, dass psychotherapeutische Verfahren in vielen Fällen für eine Besserung unverzichtbar waren. Das entsprechende theoretische Rüstzeug erwarb man sich – im Wesentlichen in eigener Initiative – durch Fachliteratur, Austausch mit Kollegen und Hospitationen, Tagungen und Kurse sowie Mitarbeit in den Fachgesellschaften. Eine berufsrechtliche Anerkennung als »Psychotherapeut« existierte nicht. Nach der Übernahme des Systems der gesundheitlichen Versorgung der Bundesrepublik durch die ostdeutschen Länder wurde es für alle, die weiterhin Psychotherapie betreiben und nunmehr auch gesondert abrechnen wollten, von existentieller Bedeutung, aus der bisherigen Passion eine anerkannte Profession zu machen. Zunächst blieb unklar, wie diesbezügliche Regelungen praktisch zu bewerkstelligen wären und wer die Federführung für die neuen Länder übernehmen sollte. In der Sektion VT der GPPMP trafen sich aktive Verhaltenstherapeuten und einigten sich, den Psychiater Dr. med. habil. Kinze und den Fachpsychologen Dr. rer. nat. habil. Barchmann zu beauftragen, mit der KBV in Köln Kontakt aufzunehmen. Es ging um die Übertragung der Psychotherapie-Vereinbarung bzw. der Psychotherapie-Richtlinien auf die neuen Bundesländer und ihre im Umbruch befindlichen Strukturen. Dabei musste die ­psychotherapeutische Versorgung aufrechterhalten und weiterentwickelt werden. Hierzu bedurfte es Übergangsregelungen, die gemeinsam auszuhandeln waren und Kompetenzen auch an ostdeutsche Kollegen übertrugen. Das war Neuland für alle Beteiligten, nicht immer einfach zu bestellen, aber letztlich im gemeinsamen Bemühen um Qualität und Praktikabilität lösbar, nicht zuletzt dank der sachlichen Kompetenz von Dr. Effer und Dr. Dahm, KBV. Nach der Anhörung in der KBV am 10. April 1991 in Köln wurde der Sektion VT der Auftrag erteilt bzw. die Erlaubnis gegeben, ein »Sachverständigengremium zur Anerkennung der Fachkunde für Verhaltenstherapie im Rahmen der Übergangsregelungen für die neuen Bundesländer« zu bilden. Diese Fachkommission der Sektion VT hatte die Aufgaben, ­– für klinische Fachärzte und Fachpsychologen der Medizin, die mindestens fünf Jahre Behandlung in Vollzeitbeschäftigung einschließlich 100 Stunden Supervision und 100 Stunden Selbsterfahrung sowie vier ausführlich dokumentierte Behandlungen in der selbständig durchgeführten Verhaltenstherapie nachweisen konnten, die Fachkunde in VT zu bestätigen; ­– für Verhaltenstherapie als Gruppenbehandlung bei nachweisbaren mindestens 60 Doppelstunden kontinuierlicher Gruppenbehandlung mit mindestens 40 Doppelstunden Supervision und mindestens 40 Doppelstunden Selbsterfahrung die Fachkunde für VTGruppenbehandlungen zu bescheinigen;

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

–­ bei Zweifeln der zuständigen KV an der Qualifizierung im Vertragsgebiet Ost die vorgelegten Unterlagen zu prüfen und der anfordernden KV gegenüber eine Stellungnahme abzugeben; ­– notwendige Auflagen zu erteilen, wenn die o. g. Voraussetzungen nicht vollständig erfüllt waren. Die Fachkommission wurde aus fünf Mitgliedern des Vorstands gebildet (Fröhlich, Kinze, Mehl, Stoiber, Strauß). Sie nahm ihre Tätigkeit im September 1991 damit auf, eine Vorschlagsliste in VT ausgewiesener, qualifizierter, in Praxis, Aus- und Weiterbildung renommierter Kollegen, die dem Vorstand i. d. R. seit Jahren bekannt waren, zusammenzustellen, zu diskutieren und zu verabschieden. Sie wurde zur Grundlage für die Sofortanerkennung der Fachkunde Verhaltenstherapie in der kassenärztlichen Versorgung von 35 Kollegen am 9. September 1991. Auf der Grundlage von Rundbriefen an die Mitglieder der Sektion VT und den zwischenzeitlich veröffentlichten Übergangsregelungen der KBV erreichte ab Januar 1992 eine Flut von Anträgen auf Erteilung der Fachkunde in VT mit den entsprechenden Unterlagen und Belegen die Fachkommission. Die Prüfung der eingereichten Unterlagen erfasste alle verhaltenstherapeutischen relevanten Bereiche: Klinischer Facharzt bzw. Fachpsychologe der Medizin, praktische Tätigkeit, Weiterbildung, Falldokumentationen, Supervision und Selbsterfahrung. Die Sitzungen der Fachkommssion fanden regelmäßig statt. Die Entscheidungen wurden den Antragstellern zeitnah und schriftlich mitgeteilt, wobei es drei Möglichkeiten gab: ­– Zuerkennung der Fachkunde mit Zustellung des Zertifikats der Sektion VT, ­– Zurückstellung des Antrags mit konkreten Auflagen, um den Antrag dann erneut zu prüfen, ­– Ablehnung, da die Voraussetzungen für eine Anerkennung im Sinne der Übergangsregelungen nicht gegeben sind und damit Verweis auf die reguläre Ausbildung entsprechend der Therapierichtlinien. Mit dem Auslaufen der Verlängerung der Übergangsregelungen der KBV zum 31. Dezember 1994 beendete die Fachkommission ihre Tätigkeit. In diesen gut drei Jahren hat die – ehrenamtlich tätige – Fachkommission in »Feierabendtätigkeit« 16-mal bis in die späten Abendstunden »getagt«, gesichtet, geprüft, diskutiert, abgewogen und letztlich verantwortungsvoll und manchmal auch »schweren Herzens« entschieden – letztlich auch über noch zu leistende berufliche Anstrengungen, berufliche Existenzen und berufliche Entwicklungswege. Die Vorbereitungen und Materialsichtungen zwischen den Sitzungszeiträumen und besonders der mit diesen Anträgen und Entscheidungen verbundene Schriftverkehr waren immens. Die Ergebnisse der Fachkommissions-Tätigkeit – in nackten Zahlen ausgedrückt – waren: Die Fachkunde für Verhaltenstherapie konnte letztlich 107 Kollegen erteilt werden! Von diesen Kollegen hatte im Zeitraum der Übergangsregelungen mehr als jeder vierter Antragsteller Auflagen zu erfüllen, um die Fachkunde zertifiziert zu bekommen (28 %). Die Auflagen bezogen sich zumeist auf nicht erfüllte Voraussetzungen in VT-Selbsterfahrung und Supervision. Sehr hilfreich war, dass das im Aufbau befindliche Aus- und Weiter-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

bildungsinstitut für Verhaltenstherapie, das IVT (Brandenburg), einen Großteil des Nachqualifizierungsbedarfs in eigens dafür eingerichteten Kursen und Veranstaltungen realisieren konnte. Bei 24 Kollegen mussten Ablehnungen aus den verschiedensten Gründen erteilt werden. Das bedeutete, dass knapp jeder fünfte Antrag abgewiesen wurde (18,5 %). Die Reaktionen auf die Ablehnungen waren naturgemäß nicht positiv und erfreulich. Sie reichten von Einsicht (z. B. bei Abschluss als Fachpsychologe für Technische Arbeitshygiene) über Unverständnis (»ich habe die Verhaltenstherapie in H. aufgebaut!«) bis zum Einlegen von Widerspruch (z. B. bei hauptamtlicher Tätigkeit für das MfS). Einige Kollegen wollten konkrete(re) und differenzierte(re) Begründungen der Ablehnung, eine Kollegin bemängelte »die äußere Form des Bescheides«, ein Antragsteller wollte die Bearbeitungsgebühr zurückerstattet haben (!). Der Protest erreichte sogar eine KV, deren Rechtsabteilung der Sektion VT vorwarf, ihre Kompetenzen zu überschreiten und darauf verwies (damit drohte?), dass »Entscheidungen des Vorstandes bzw. der Fachkommission der Sektion Verhaltenstherapie in vollem Umfang der Nachprüfung durch die Sozialgerichte unterliegen, inzidenter [...] auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft werden« können. Generell war die Zusammenarbeit mit der KBV und den KVen jedoch sehr konstruktiv. Die Tätigkeit der Sektion VT wurde respektiert und die Entscheidungen der FK akzeptiert. Alles in allem ist zu bilanzieren und zu konzedieren, dass die Fachkommission nicht unwesentlich mit dafür gesorgt hat, die Versorgung der Ostdeutschen und Ostberliner Bevölkerung mit indizierter und qualifizierter Verhaltenstherapie als Kassenleistung in diesen Zeiten des Übergangs, der Umstrukturierungen und der Anpassung an die RichtlinienPsychotherapie gut und erfolgreich zu ermöglichen. Auch konzeptionell und institutionell war die Sektion VT gut auf die zukünftigen Aufgaben, die sich mit dem kommenden PTG abzeichneten, vorbereitet, indem sie sich als Verband für Integrative Verhaltenstherapie (VIVT) neu gründete und dem im Aufbau befindlichen Institut für Verhaltenstherapie (IVT Brandenburg) durch enge Kooperation und personelle Verflechtungen einen wissenschaftsorganisatorischen und fachwissenschaftlichen Background bot. Nach Aushandeln der Übergangsregelungen und Arbeitsaufnahme der Anerkennungskommission für die Fachkunde in VT wurde deutlich, dass praktische Möglichkeiten eröffnet werden mussten, um die individuellen Auflagen für die Nachqualifizierungen erfüllen zu können. Grundsätzlich wäre dies in KBV-anerkannten Ausbildungsinstituten möglich, für Teilnehmer aus den neuen Bundesländern aber sowohl organisatorisch wie auch finanziell kaum zu leisten gewesen, zumal durch die Institute vorrangig nur curricular strukturierte Gesamtpakete angeboten wurden. Deshalb beriet der Vorstand der Sektion VT über Selbsthilfemaßnahmen, frei nach Paul Watzlawicks Einsichten über die Leistungsfähigkeit von »Münchhausens Zopf«. Die bereits zertifizierten Verhaltenstherapeuten fanden sich zusammen und gründeten einen Verein, der die Nachqualifizierungen in Theorie, Selbsterfahrung und Supervision mit eigenen Kräften und unter Einbeziehung von Referenten aus den alten Bundesländern durchzuführen vermochte. In der von Leistungsbereitschaft, Optimismus und freigesetzten Innovationsfähigkeiten getragenen Situation unmittelbar nach der Wende war es möglich, auch unter anfangs sehr

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

bescheidenen Rahmenbedingungen bezüglich räumlicher und technischer Ausstattung, eine engagierte und anspruchsvolle Ausbildung zu vermitteln. Die KBV billigte die eingereichten Ausbildungsunterlagen. Es zeigte sich jedoch sehr bald, dass eine weitergehende bzw. »reguläre« Ausbildung nur von einem durch die KBV anerkannten Institut angeboten werden darf, wenn die Abschlüsse berufsund sozialrechtlich anerkannt werden sollen. Dabei war die Anerkennung eines neu gegründeten Instituts durch die KBV daran gebunden, dass zunächst ein komplettes Curriculum gemäß den Richtlinien der KBV und der Krankenkassen durchgeführt worden war. Dank der Erfahrungen, die in der Organisation der Nachqualifizierungskurse gesammelt worden waren, und dank der konstruktiven, wenn auch immer sehr kritischen Kooperation mit Herrn Dr. Dahm, dem entsprechenden Referatsleiter der KBV, gelang es, das Institut für Verhaltenstherapie (Brandenburg) aufzubauen, zunächst mit vorläufiger, seit 1995 dann mit voller Anerkennung. Die Geschäftsführung lag in den Händen des Psychologen Dr. Barchmann und des ­Psychiaters/Kinderpsychiaters Dr. Kinze, Lübben. Referenten, Supervisoren und Selbsterfahrungsleiter rekrutierten sich vorrangig aus den aktiven Verhaltenstherapeuten, die ihre Chancen gleich nach der Wende ergriffen hatten, eigene Praxen eröffneten oder in den ­Kliniken innovativ tätig wurden. So konnte die Ausbildung praxisorientiert und auch nach den aktuellen berufs- und sozialrechtlichen Standards umgesetzt werden, was zu einer hohen Akzeptanz seitens der Ausbildungsteilnehmer führte. Parallel zu den Ausbildungen von Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten wurden im Rahmen der Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern für die Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für die Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, aber auch für die fach­ gebundene Psychotherapie als Zusatzqualifikation für klinisch tätige Fachärzte die entsprechenden Weiterbildungsinhalte vermittelt. Die Regionalisierung des IVT (Brandenburg) schaffte die Voraussetzungen, super­ vidierte Patientenbehandlungen in den Lehrpraxen vor Ort (in allen neuen Bundesländern sowie in Berlin) durchzuführen, die Seminare bzw. Gruppenarbeit in Theorie und Selbsterfahrung jedoch als Blockveranstaltungen in der Seminarstätte Leibsch bei Lübben zu absolvieren. Damit wurde auch Teilnehmern die Ausbildung zugänglich gemacht, die »auf dem flachen Land« leben und arbeiten sowie in peripheren Kooperationskliniken ihre »praktische Tätigkeit« leisten. Zwischenzeitlich wurden zahlreiche weitere VT-Ausbildungsinstitute in den neuen Bundesländern gegründet, in unterschiedlicher Trägerschaft, zumeist mit regionalen Schwerpunkten, so dass eine Ausbildung in Verhaltenstherapie gegenwärtig flächendeckend angeboten werden kann. Zunehmend liefen beim IVT auch Anforderungen und Anfragen zusammen – Fortbildung, Berufspolitik, Kontakte zu Therapieeinrichtungen und Therapeuten –, die über Kompetenzen und Arbeitsvoraussetzungen eines Ausbildungsinstitutes hinausgingen. 1996 wurde deshalb der Verband für Integrative Verhaltenstherapie (VIVT) als e. V. gegründet, letztlich in der Nachfolge der Sektion VT der GPPMP. Der Verband befasst sich mit der Anwendung der Verhaltenstherapie in Behandlung, Prävention und Rehabilitation von Patienten mit psychischen Störungen sowie mit der Qua-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

litätssicherung in der VT. Er steht sowohl ärztlichen wie auch psychologischen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten offen. Einzelne Arbeitsgruppen befassen sich mit speziellen Problemen, vermitteln Hypnose bzw. Entspannungsverfahren, erarbeiten Qualitätsstandards. Wesentliche Aufgaben wurden mit der Organisation und Durchführung der Qualifikation für Leiter von regionalen IFA-Gruppen (»Interaktionsbezogene Fallarbeit«, entspricht den Balint-Gruppen der psychodynamischen Therapierichtungen) sowie des strukturierten Erfahrungsaustauschs von Selbsterfahrungsleitern übernommen. Durch den Aufbau von Landesgruppen werden regionale Möglichkeiten und Anforderungen praxisnäher bearbeitet. Jährlich wird eine länderübergreifende Tagung mit wissenschaftlichen Themen, berufspolitischen Fragestellungen und praktischem Erfahrungsaustausch in thematischen Arbeitsgruppen durchgeführt. Einzelheiten sind über das Internet einzusehen. Der VIVT ist Mitglied in der AGR, der Arbeitsgemeinschaft der Richtlinien-Verbände, und des GK II, des Gesprächskreises aller relevanten psychotherapeutischen Berufs- und Fachverbände, wobei er sich darum bemüht, speziell die Belange der ostdeutschen Psychotherapeuten zu vertreten.

6.5.5.2 Ilona Stoiber: Weiterbildungsmaßnahmen zum Suchttherapeuten nach 1990 Aufgrund der Weiterbildungsaktivitäten bis zum Jahre 1990 wurden im Rahmen der inzwischen gegründeten Gesellschaft gegen Alkohol- und Drogengefahren (GAD) im Jahre 1991 Kriterien für die Zertifizierung »Suchttherapeut/in der GAD« festgelegt. Die Prüfung der persönlichen Nachweise oblag den Landesgruppen der GAD: ­– Mitgliedschaft in der Gesellschaft gegen Alkohol- und Drogengefahren (GAD), ­– fünfjährige Tätigkeit im Suchtbereich (Stichtag 21. September 1991), ­– Nachweise der theoretischen Weiterbildung zur Suchtproblematik (200 Stunden), ­– Fallbesprechungen, -dokumentationen (200 Stunden), ­– funktionsbezogene Selbsterfahrung in Seminaren, Arbeitsgruppen, -kreisen oder -gemeinschaften (200 Stunden). Um die Weiterbildungstätigkeit auf dem Gebiet der Verhaltenstherapie im Suchtbereich kontinuierlich fortzusetzen, bemühten wir uns ab 1991 um Maßnahmen, die Anerkennungskriterien der Leistungsträger unterliegen und diese erfüllen. Hervorzuheben ist die »Zusatzqualifikation Suchttherapeut/in – verhaltenstherapeutisch orientiert« für DiplomSozialarbeiter, Diplom-Sozialpädagogen, Diplom-Psychologen und Ärzte. Zunächst bestand der Wunsch, ein Weiterbildungsangebot in öffentlich rechtlicher ­Trägerschaft zu schaffen, was leider nicht zu verwirklichen war. Mit unserem Angebot im Rahmen der Gesellschaft gegen Alkohol- und Drogengefahren haben wir an die Voraussetzungen und Erfahrungen aus der Zeit der DDR angeknüpft, die vorhandenen Ressourcen genutzt, Teilnehmer deutschlandweit (länderübergreifend) erreicht und allseitige Aner­kennung erworben. Parallel zum ersten Kurs 1992 bis 1994 mit 33 Teilnehmern kam die zu­ständige Kommission des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) zu der Überzeugung, die Maß-

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

nahme zur Anerkennung durch die Leistungsträger und Träger zu empfehlen. Die Inhalte und die Durchführung der Maßnahme stehen im Einklang mit den Kriterien der Leistungsträger für Suchttherapien einschließlich der Spitzenverbände der Krankenkassen für die »Zusatzqualifikation Soziotherapeut – verhaltenstherapeutisch orientiert« oder länderspezifisch »Sozialtherapeut«. Die fortlaufend präzisierte und weiterentwickelte Konzeption wurde zusammen mit Kollegen des Landschaftsverbandes Westfalen/Lippe erarbeitet, die auch an der Umsetzung mitwirkten und sich während der ersten Kurse mit hohem persönlichem Aufwand engagierten. Spezialisierte Dozenten, qualifizierte Ausbildungsleiter und Supervisoren aus Ost und West vermittelten theoretische Grundlagen, leiteten Gruppenarbeit mit Selbsterfahrung an und begleiteten die Fallarbeit einschließlich deren Dokumentationen. Diesen Mitarbeitern, die inzwischen in eigener Praxis oder als Leiter von Einrichtungen in Berlin, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Brandenburg tätig sind, sei nochmals sehr herzlich gedankt. In den ersten zehn Jahren schlossen 87 Teilnehmer die zertifizierte Maßnahme erfolgreich ab, nach 2001 bis 2009 nochmals 109 Teilnehmer. Für die einzelnen Jahrgänge gab es verschiedene Ausschreibungen. Ihnen sowie der Konzeption der Weiterbildungsmaßnahme »Zusatzqualifikation Suchttherapeut/in – verhaltenstherapeutisch orientiert« sind alle Details zu entnehmen. Weiterentwicklungen ergaben sich aus den sich erweiternden Tätigkeitsprofilen für Suchttherapeuten. Die Träger der berufsbegleitenden Weiterbildungsmaßnahme wechselten. Traditionsgemäß boten wir regelmäßig auch Weiterbildungsmaßnahmen »Zusatzqualifikation Suchtkrankenhilfe« für Mitarbeiter/-innen aus anderen Berufen, wie Krankenpfleger, -schwestern, Erzieher, Pädagogen, Arbeitstherapeuten, abstinent lebende Abhängige (die in der Suchtkrankenhilfe tätig sind), aktive Vertreter von Selbsthilfegruppen in der Suchtkrankenhilfe an. Nach der dafür erarbeiteten Konzeption und den entsprechenden Ausschreibungen schlossen 32 Teilnehmer diese Weiterbildung ab. Das Besondere unserer Weiterbildungsmaßnahmen war wahrscheinlich, dass die gesamte Leitungstätigkeit ehrenamtlich erfolgte, die Kurse dadurch auch kostengünstig waren. Dieses aus der Zeit der DDR stammende Engagement ist nicht mehr zeitgemäß, es wird sich wahrscheinlich ändern.

6.5.6 Heinz Hennig und Erdmuthe Fikentscher: Die Gründung der Mitteldeutschen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben e. V. (MGKB) mit eigenem Ausbildungsinstitut – Vom Katathymen Bilderleben (KB) zur Katathym-Imaginativen Psychotherapie (KIP) Das Internationale Symposium im August 1990 Das 1985 angedachte, seit 1988 intensiv vorbereitete Internationale Symposium »Psychotherapie mit dem Katathymen Bilderleben« fand in der Zeit vom 22.–25. August 1990 in Halle/ Saale statt. Mitten in den Wirren der politischen Umbruchszeit, nach dem Fall der Mauer und kurz vor dem Beitritt der DDR zur alten Bundesrepublik gelang es trotz erheblicher organisatorischer Probleme, mehr als 400 Teilnehmer (davon mehr als 200 Teilnehmer aus westlichen Ländern) an die Universität nach Halle zu holen.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Dieses erste nach dem Mauerfall im Osten Deutschlands veranstaltete Symposium mit einer originär psychoanalytisch orientierten Themenstellung war zugleich das erste öffentliche und freie Forum für psychoanalytisch bzw. tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie an der Universität Halle nach 1933. Dieses Symposium bot Gelegenheit für eine breite fachliche und persönliche Ost-WestBegegnung, nicht nur für Psychotherapeuten aus Gesamtdeutschland, sondern darüber hinaus auch für Ost- und Westeuropäer im weitesten Sinne. Nicht zuletzt lockte diese erste freie Ost- und Westbegegnung im psychotherapeutischen Rahmen eine Reihe von Teilnehmern aus den USA bzw. Australien an, wobei unsere Tagung nicht zuletzt auch von der spannenden politischen Entwicklung in Gesamteuropa profitierte. Neben einigen Hauptvorträgen im Plenum (M. Geyer, H. Leuner, H. Hennig, J. Körner, W. Pieringer, R. Richter, T. v. Uexhüll, E. Wilke u. a.) wurden in zehn Arbeitsgruppen und 18 Workshops von 110 Referenten bzw. Arbeitsgruppenleitern nicht nur imaginationstherapeutische Themenstellungen bearbeitet. Nicht wenige Plenarvorträge, Arbeitsgruppen oder Workshops beinhalteten darüber hinaus grundsätzliche psychodynamische Fragestellungen, wobei praxisbezogene integrative Konzepte dominierten. Wesentlichen Anteil an dem insbesondere nach dem erstaunten Urteil der westlichen Tagungsteilnehmer hohen Niveau der Veranstaltungsbeiträge hatten die Mitglieder der AGKB-DDR, deren Beiträge zumeist als ausgesprochen praxisorientiert, klinisch relevant und weniger orthodox imponierten, d. h., der psychodynamische Aspekt psychotherapeutischen Wirkens bestimmte überwiegend die Themen. Hieraus ergaben sich im Verlauf des Symposiums lebhafte, oftmals kontroverse Diskussionen insbesondere zwischen den Teilnehmern aus Ost- und Westeuropa. Die besondere Rolle der Beziehung als wesentliche Wirkdimension jeder psychodynamisch orientierten psychotherapeutischen Intervention, also auch in der Arbeit mit dem KB zu betonen, war bereits seinerzeit aus den Beiträgen der Referenten aus der AGKB-DDR deutlich zu erkennen. Sämtliche Tagungsbeiträge sind in zwei Bänden publiziert (Hennig, Fikentscher u. Rosendahl 1992; Leuner, Hennig u. Fikentscher 1993).

Die Gründung der Mitteldeutschen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben mit eigenem Institut Nach der politischen Wende in der DDR und den damit verbundenen freien Wahlen ergaben sich nunmehr hinreichende rechtliche Voraussetzungen für die Gründung einer eigenen gemeinnützigen Vereinigung für unsere bisherige Arbeitsgemeinschaft für KB. Am 6. Juli 1990 wurde die »Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie und Psychologie e. V.« (GKB) in Halle gegründet. Mit der alsbald folgenden Wiedervereinigung Deutschlands wurde der Vereinsname nach einem einstimmigen Vorstandsbeschluss am 20. Februar 1991 in »Mitteldeutsche Gesellschaft für Katathymes Bilderleben in der Psychotherapie und Psychologie« e. V. (MGKB) verändert. Damit sollte nicht nur die Eigenständigkeit der Gesellschaft mit ihren besonderen strukturellen und inhaltlichen Traditionen in Deutschland gewahrt werden. Vielmehr wollten wir unter Betonung der mitteldeutschen kulturellen Quellen eine angemessene Ausgangsposition für die nunmehr notwendigen Verhandlungen zwischen den Vorständen der AGKB (Göttingen) und der

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MGKB (Halle) schaffen. Der Vorstand der MGKB erarbeitete auf der Grundlage des bisherigen Ausbildungskonzeptes der früheren AGKB-DDR ein erweitertes Ausbildungscurriculum, das bis auf wenige Modifikationen bis heute Gültigkeit hat. Die Aus- und Fortbildungskonditionen der MGKB und der AGKB waren damit vollständig kompatibel; hiermit war die wesentlichste Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung der Ausbildungsbausteine für die Ausbildungskandidaten zum KB-Therapeuten erreicht. Ferner wurde eine verbindliche Liste der Lehrtherapeuten und Dozenten erstellt. Eine weitere Entwicklung zumindest organisatorisch-formaler Art begann, als sich sehr rasch erste bilaterale Gespräche zwischen den Vorständen der AGKB und der MGKB über eine gemeinsame deutsche Vertretung des KB z. B. für gesundheitspolitische Verhandlungen oder im internationalen Rahmen notwendig machten; für die Zukunft erschien eine kontinuierliche und organisierte Zusammenarbeit sinnvoll. Am 19. November 1991 (Buß- und Bettag) trafen sich erstmalig die Vorstände der MGKB und der AGKB zu einer ersten gemeinsamen Beratung dieses Projektes unter Leitung der beiden seinerzeitigen Vorsitzenden H. Leuner und H. Hennig. Schließlich verständigte sich die Mehrheit der anwesenden Vorstandsmitglieder darauf, einen Dachverband zu gründen, der beide Gesellschaften als korporative Mitglieder umfasst und die Autonomie beider Gesellschaften nicht berührt. Dieser Dachverband sollte die Bezeichnung »Deutsche Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie« (DGKB) tragen. Grundsätzlich ging es nicht um »Anschluss« oder »Beitritt«, sondern um den allmählichen Aufbau eines gemeinsamen Gremiums, dessen demokratische Kontrolle durch die örtlichen Organisationen (AGKB, MGKB) garantiert sein soll. Der Dachverband sollte sich eine eigene Satzung geben, wobei jedoch die Satzungen der beiden die DGKB bildenden Vereine hiervon unberührt blieben. Wenngleich sich das Umsetzen dieses Projektes in eine juristisch akzeptable Form noch fast 20 Jahre hinzog (die vereinsrechtliche Akkreditierung der späterhin »Deutschen Gesellschaft für Katathym-Imaginative Psychotherapie e. V. (DGKB)« erfolgte im Verlauf des Jahres 2010), so ergab sich aus diesen ersten gemeinsamen Diskussionen in den nächsten Jahren eine stetig intensiver werdende Zusammenarbeit auf den Ebenen der Vorstände, verschiedener Arbeitsgruppen und gemeinsamer Dozententreffen. Wenn auch manche Gespräche oder Verhandlungen im Verlauf der nächsten Jahre nicht ohne Konflikte abliefen und zumindest anfänglich nicht nur für Außenstehende sehr zähflüssig wirkten, so entwickelten sich in Arbeitsgruppen, die sich mit inhaltlichen Fragestellungen des KB und seiner Position in der Psychotherapie in Deutschland beschäftigten, sehr rasch eine zunehmend konstruktive Atmosphäre. So erwies sich die Auffassung des KB als eine tiefenpsychologisch fundierte, psychodynamische Methode, wie sie von der MGKB eingebracht wurde, realistischer als ein ursprünglicher Ansatz der AGKB, das KB als ein eigenständiges Verfahren mit einem umfänglichen Ausbildungskonzept in die Richtliniendiskussion einzubringen.

Vom Katathymen Bilderleben (KB) zur Katathym-Imaginativen Psychotherapie (KIP) Inzwischen prosperierte die MGKB zusehends, obwohl mit dem Ausbildungsgang keine obligatorische Mitgliedschaft in der Gesellschaft verbunden war. Hinzu kam, dass Anfang der 1990er Jahre wir beide (Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig) auf Lehrstühle inner-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

halb der Medizinischen Fakultät der Universität Halle berufen wurden, was in vielfältiger Weise zumindest im Osten Deutschlands für die Weiterentwicklung des KB genutzt werden konnte: Bisher schwerer zugängliche Kontakte zu führenden akademischen Fachvertretern der deutschen und internationalen Psychotherapieszene konnten geknüpft werden. Auf Initiative von Erdmuthe Fikentscher stieß Prof. Dr. Klaus Hoppe zu uns, einer der führenden Psychoanalytiker aus Kalifornien und Mitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, der uns als Gastprofessor in Halle den Zugang zu Fachkollegen in den USA erleichterte und uns in der MGKB mehrere Jahre für intensive Supervisionen und Lehrtherapie (auch Lehranalyse) zur Verfügung stand. Dies galt auch für die enge Kooperation mit dem gerade gegründeten »Mitteldeutschen Institut für Psychoanalyse in Halle«, zu dem stetig enge Kontakte bestanden und bestehen. Nunmehr bildeten sich sowohl aus der AGKB als auch der MGKB heraus Arbeitsgruppen, deren Ziel es war, das traditionelle Konzept von H. Leuner erkennbarer mit interaktionellen Denkansätzen zu erweitern. Als Ergebnis der sich über mehrere Jahre hinziehenden Diskussionen wurde in einem Grundsatzpapier die Leuner’sche Begrifflichkeit zum imaginationstherapeutischen Ansatz des KB modifiziert oder erheblich verändert, zum Teil gänzlich aufgegeben. Die KIP ist hier eindeutig als dynamische Psychotherapie definiert, das »Konzept der Projektionsneurose gilt als verabschiedet« (Hennig u. Rosendahl 1999). In diesen Zeitraum fällt übrigens die allmähliche Ablösung der Begriffsbezeichnung »Katathymes Bilderleben« (KB) für diese Methode und die Einführung des neuen Begriffs »Katathym-Imaginative Psychotherapie«. Diese Veränderung wurde durch die Internationale Gesellschaft für Katathymes Bilderleben (IGKB) mitgetragen. In der MGKB stieg die Mitgliederzahl inzwischen auf über 400 an, die Anzahl der Ausbildungsseminare nahm sowohl regional als auch zentral deutlich zu. Die zentralen Weiterbildungsseminare fanden bis 1995 weiterhin in Reinhardsbrunn (Thüringen) statt, nach einem Übergangsjahr in Friedrichroda (Thüringen) wird hierfür bis heute das Schlosshotel Meisdorf (Sachsen-Anhalt) genutzt. Der Vorstand der MGKB berief in den neuen Bundesländern Länderbeauftragte, der Dozentenkreis erweiterte sich zusehends. Die zentralen Intensivseminare waren in den frühen 1990er Jahren überfüllt, die Ausbildungskandidaten kamen zum Teil auch aus Ungarn, der Tschechischen Republik und Bulgarien. Gastdozenten der AGKB, sowie aus den KIPGesellschaften in Österreich und den Niederlanden bereicherten das Seminarangebot zusätzlich. Im Januar 1993 nahm H. Leuner selbst am Zentralen Weiterbildungsseminar der MGKB im Schlosshotel Reinhardsbrunn teil. Ein viel beachteter Vortrag und ein Sonderseminar »Die konsequente Hier-und Jetzt-Strategie in der Psychotherapie« bereicherte diese Veranstaltung neben den freundschaftlichen Gesprächen am Rande des Seminars. Die MGKB engagierte sich in der Folgezeit sowohl fach- und berufspolitisch als auch gesundheitspolitisch über den regionalen Rahmen hinaus. So wirkten Vorstandmitglieder der MGKB aktiv in der damaligen psychotherapeutischen Dachgesellschaft im Osten Deutschlands, der »Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische ­Psychologie« (GPPMP). Die MGKB gestaltete oft federführend die damalige fachpolitische und inhaltliche Arbeit des ostdeutschen analytischen Dachverbandes »Deutsche Gesellschaft für Analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie« (DGAPT). Neben dem Mit-

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

wirken in unterschiedlichen Berufsverbänden hatte der Vorstand erheblichen Einfluss auf bestimmte Übergangsregelungen nach der politischen Wende in der DDR bzw. den neuen Bundesländern. Beispiele hierfür sind u. a. der seinerzeit in enger Zusammenarbeit mit der Sektion Dynamische Einzeltherapie in der GPPMP und dem Deutschen Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppentherapie der DGAPT erarbeitete Entwurf eines Curriculums zur Ausbildung von Psychotherapeuten für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie der DGAPT, das zwar im ostdeutschen Raum damals als Übergangshilfe genutzt werden konnte, gesamtdeutsch jedoch nicht durchsetzbar war. Dennoch enthielt dieser Entwurf wesentliche Elemente, die sich in den modernen Konzepten dynamischer Psychotherapieansätze wiederfinden lassen. Hier ist im Übrigen der Ursprung des bis zum heutigen Tag wirksamen Konzeptes eines multimodalen Ansatzes in der analytischen (psychodynamischen) Psychotherapie zu finden. Folgerichtig war die MGKB in vielerlei Hinsicht in die Gründung und spätere Arbeitsgestaltung des Mitteldeutschen Institutes für Psychoanalyse (MIP) in den Jahren 1992/93 in Halle eingebunden. Den imaginationstherapeutischen Ansatz in der analytischen Psychotherapie vertraten viele Dozenten der MGKB, die gleichzeitig Lehranalytiker oder Analytiker im MIP waren (und sind), in Vorträgen auf unterschiedlichen Fachtagungen der DGAPT und entsprechenden Publikationen (Maaz, Hennig u. Fikentscher 1997, u. a.). Nicht unwesentlich war der Einfluss der MGKB in der Kommission für Qualitätssicherung in der Psychotherapie der GPPMP (zugleich Sachverständigenkommission der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt). So konnte bereits 1992 zur Absicherung einer qualifizierten psychotherapeutischen Versorgung im Land Sachsen-Anhalt eine Vereinbarung getroffen werden, die für Psychologische Psychotherapeuten einen direkten Zugang zur Abrechnung von Leistungen über die gesetzlichen Krankenkassen bzw. die Kassenärztliche Vereinigung Sachsen-Anhalt (KVSA) ermöglichte. Damit war nicht nur ein eigenständiger Psychologischer Psychotherapeut dem späteren Psychotherapeutengesetz vorweggenommen, sondern auch das diskriminierende Delegationsprinzip auf der Landesebene außer Kraft gesetzt. Diesem Kooperationsverfahren stimmten in einem unterschriebenen Protokoll sämtliche Vertreter der Kassen, der KVSA, der Ärztekammer und der Berufsverbände zu. Die MGKB engagierte sich mit ihren Vertretern in einem sehr breiten Spektrum von fach- und berufspolitischen Aufgabenfeldern. Nicht nur im Osten Deutschlands waren daher Themenstellungen zur KIP auf allen wichtigen Psychotherapietagungen und Psychotherapiewochen vertreten. Die stete enge Verbindung mit der Universität Halle wurde sorgfältig gepflegt. Über die unter Leitung von Erdmuthe Fikentscher stehende Arbeitsgruppe Analytische Imaginationstherapie an der Medizinischen Fakultät konnten im Verlauf dieses Jahrzehnts mehrere eigene Tagungen bzw. Kongresse und Symposien ausgerichtet werden. Erwähnt seien hier beispielhaft der Internationale Kongress »Kurzzeitbehandlung und Krisenintervention in der Psychotherapie und Psychosomatik« 1995 in Halle sowie das Internationale Symposium »Kränkung und Krankheit – Katathym-Imaginative Psychotherapie bei somatischen Erkrankungen und Missbrauchstraumen« im Juni 2000. Die ausführlichen Beiträge dieser Veranstaltungen sind in Buchform publiziert (Hennig u. Fikentscher 1996; Bahrke u. Rosendahl 2001).

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Nicht zuletzt seien die regelmäßigen Beiträge der MGKB-Dozenten auf den internationalen Kongressen der IGKB erwähnt. Herausragend war u. a. das große Engagement anlässlich der Veranstaltung in Thun (Schweiz) im Juli 1998 (Hennig u. Rosendahl 1999). Zur Geschichte der MGKB finden sich in dem Festvortrag zum Internationalen KIP-Kongress 2004 in Göttingen von H. Hennig eine Fülle weiterer Einzelheiten, die insbesondere das Wirken der AGKB-DDR/MGKB im Zeitraum der politischen Wende in Ostdeutschland beschreiben (Hennig 2005). 1995 kam es anlässlich des Internationalen Kongresses für Kurzzeittherapie zu einer der letzten längeren Begegnungen mit Hanscarl Leuner vor seinem Tod 1996. Er war offensichtlich von den freimütigen und weniger konservativen Diskussionen, die diesen Kongress prägten, sehr beeindruckt, mehrfach äußerte er sich über die angenehme »warme Kongressatmosphäre«, später auch schriftlich. Ein letztes Interview konnten wir mit H. Leuner anlässlich des Vorstandstreffens im gleichen Jahr in Halle aufzeichnen. Dieses Interview nutzten wir als Teil eines Films über die KIP, den wir H. Leuner widmeten. Unabhängig davon existiert auch eine Videoaufzeichnung des gesamten Interviews (Medienzentrum 1998a 1998b, 1999). Gleichzeitig entstand ein weiterer Videofilm, der die Gruppenarbeit mit der KIP in den Mittelpunkt stellt (Medienzentrum 1998b). Seit 1993 ist die MGKB an einem multizentrischen Forschungsprojekt beteiligt, das zunächst von Dr. Elisabeth Richter-Heinrich, späterhin, über einen gewissen Zeitraum hin federführend, von Dr. Ulrich Bahrke mitgestaltet wurde. Zu dieser Studie sind bis etwa 2001 erste Ergebnisse publiziert worden, die u. a. Aussagen zur Wirksamkeit der Methode bei Depressionen und Angstsymptomen zuließen (Wietersheim et al. 2001). Im hier beschriebenen Jahrzehnt setzte die MGKB das begonnene Konzept einer interaktionell-psychodynamischen Methode konsequent fort. Die analytische Beziehungsarbeit, verbunden mit tiefenpsychologisch-fokussierendem Aufarbeiten von Konflikten mit Imaginationen, das Umgehen mit dem Konzept des Zentralen Beziehungskonfliktthemas nach Luborsky (1995) und die Nähe zum sozial konstruktiven Übertragungsparadigma nach Gill (1996) lassen bis heute intensive Kooperationen mit dem Mitteldeutschen Institut für Psychoanalyse in Halle (MIP) zu. So beteiligte sich mit ihrem psychodynamisch orientierten Ansatz in der Imaginationstherapie das Institut der MGKB in vielfältiger Weise an der Aus-, Fort- und Weiterbildung ärztlicher und Psychologischer Psychotherapeuten im Osten Deutschlands. Ferner waren die Seminarangebote der MGKB mit dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1999 für Nachqualifizierungen im Rahmen von Übergangsbestimmungen deutschlandweit gefragt. Nicht zuletzt war die MGKB mit ihrem Institut in die Neuordnung der gesamten Ausbildungs- und Versorgungsstruktur in den neuen Bundesländern (in besonderer Weise im Land Sachsen-Anhalt) in erheblichem Umfang eingebunden.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

6.5.7 Ulrike Haase, Axel Reinhardt und Christoph Schwabe: Die Gründung und der Ausbau der Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen sowie die Gründung der DMVS e. V. – Beweggründe und Position in der gesamtdeutschen Musik­ therapielandschaft Aufbruch Am Ende der 1980er Jahre hatte sich die Musiktherapie in der DDR als eigenständiges Methodensystem im Rahmen der Psychotherapie etabliert. Neben der Arbeit an ihrer Ausdifferenzierung für den klinisch-psychotherapeutischen Bereich gerieten in dieser Zeit zunehmend die außerklinischen Anwendungsfelder, wie Pädagogik, Behindertenarbeit und Gesundheitsvorsorge, in den Blickpunkt, was seinen Niederschlag u. a. in der Entwicklung des Konzepts der »Musikalischen Elementarerziehung« fand (Schwabe u. Rudloff 1993). Dies erwies sich im Nachhinein wie die weise Voraussicht einer Entwicklung, die aber so keiner geahnt hatte. Brach doch nach 1989 der größte Teil des Gesundheitssystems der untergegangenen DDR zusammen und damit auch die Position, die die Musiktherapie in ihm innegehabt hatte. Dafür taten sich neue Arbeitsfelder auf, vor allem in der sozialtherapeutischen und sozialpädagogischen Arbeit, z. B. mit sozial gefährdeten und verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen sowie mit Menschen, die aufgrund ihrer Behinderungen in Heimen und anderen Einrichtungen leben. Aber auch in der Prävention und Rehabilitation sowie in der (Sonder-)Pädagogik eröffneten sich neue Arbeitsmöglichkeiten. Dies spiegelte sich auch in der Klientel wider, die sich für eine Ausbildung in Musiktherapie interessierte. Es waren in der Mehrzahl nicht mehr Hochschulkader, sondern Menschen mit Fachschulberufen aus dem Erziehungs- und Betreuungsbereich, der Pflege und der Sozial- bzw. Sonderpädagogik, die über die Musiktherapie neue Zugänge und therapeutische Wege für ihre Klienten suchten. Christoph Schwabe und Axel Reinhardt beschreiben bereits im } Abschnitt 4.5.6.2 die Entwicklung des Berufsbildes eines Musiktherapeuten in den 1980er Jahren, das zu DDRZeiten nicht realisiert werden konnte, das sich aber für die neuen Bedingungen in seinen Grundprämissen als durchaus praktikabel erweisen konnte. »Das Berufskonzept sah vor, einen Musiktherapeuten mit Fachschulausbildung, vergleichbar dem der Physio- oder Ergotherapeuten, zu entwickeln sowie in besonderen Fällen die Möglichkeit einer zusätzlichen Hochschulqualifikation zu ermöglichen« (Schwabe und Reinhardt). Da die Sektion Musiktherapie die Aus- und Weiterbildungskurse bis dato organisiert hatte, mussten neue Organisationsformen geschaffen werden, die diese Aufgabe übernehmen konnten. Im Gegensatz zum Zeitgeist im Vorfeld des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik war es den verantwortlichen Vertretern wichtig, alles das weiterzuführen bzw. auf die neuen Bedingungen anzuwenden, was sich bisher in der Ausbildung wie in der Berufsausübung als gut und unabhängig von bestimmten Gesellschaftssystemen erwiesen hatte. Die Prämisse lautete: Kooperation ohne das Aufgeben der eigenen Spezifik und Geschichte.

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

So gründete am 4. Januar 1990 »eine Handvoll Getreuer und ich [Christoph Schwabe] in der Alten Schmiede zu Vollmershain das Sächsisch-Thüringische Institut für musiktherapeutische und -pädagogische Gruppenarbeit« (Schwabe 1995). Dieses Institut sollte die Tradition der berufsbegleitenden Kurse in Musiktherapie und Musikalischer Elementarerziehung auf Fachschulniveau fortsetzen. Der bereits zu DDR-Zeiten im Berufsbild avisierte, aber nicht realisierte HochschulMusiktherapiestudiengang sollte zum Wintersemester 1991 an der Dresdner Musikhochschule in Kooperation mit der Medizinischen Akademie Dresden etabliert werden, nachdem die erste demokratisch gewählte Hochschulleitung Christoph Schwabe mit der Ausarbeitung einer entsprechenden Studienkonzeption beauftragt hatte. Leider war dieses Projekt zum Scheitern verurteilt, da das Sächsische Kultusministerium nicht rechtzeitig um Genehmigung ersucht worden war und daraufhin dem Studiengang die Anerkennung verwehrte. Die Studenten wurden, nachdem sie schon zwei Semester studiert hatten, exmatrikuliert. Diese Katastrophe, denn als solche wurde sie von den Studierenden und Lehrenden damals durchaus erlebt, sollte sich schließlich in des Wortes eigentlichem Sinn wiederum als Wende zum Positiven erweisen. Inzwischen war nämlich mit der Deutschen Musiktherapeutischen Vereinigung Ost e. V. (DMVO e. V.) eine Organisationsform geschaffen worden, deren Anliegen die Pflege und Weiterentwicklung des im Osten Deutschlands entwickelten musiktherapeutischen Konzepts war. Für alle Fragen im Zusammenhang mit der Aus- und Weiterbildung etablierte sich innerhalb der DMVO e. V. der Rat für Aus- und Weiterbildung, der am 4. Januar 1991 das erste Mal zusammentrat. Er setzte sich für eine neue institutionalisierte Form einer Ausbildungseinrichtung ein, die über die Möglichkeiten des oben beschriebenen SächsischThüringischen Instituts hinausging. Sie sollte den neuen Erfordernissen der Praxis mit ihrer breit gefächerten Klientel gerecht werden sowie eine qualitative und quantitative Synthese aus grundständiger und berufsbegleitender Ausbildung schaffen. Die Geburtsstunde dieser Einrichtung, der Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen, schlug im Frühjahr 1992. Bevor deren weitere Entwicklung geschildert wird, sollen im Folgenden die Verbandsarbeit und die Berufspolitik im Mittelpunkt der Darstellung stehen.

Die Gründung der Deutschen Musiktherapeutischen Vereinigung Ost e. V. (DMVO e. V.) und ihr berufspolitisches Gewicht im vereinigten Deutschland Die Entscheidung über die Gründung der DMVO e. V. fiel auf der ersten Gründerversammlung am 16. Juni 1990 in Berlin (West), die sich am Rande des 1. Berliner Arbeitstreffens des Instituts für Angewandte Musiktherapie e. V. zur Theorie und Methodik der Musik­ therapie konstituiert hatte. An der Gründerversammlung nahmen hauptberuflich tätige Musiktherapeuten, Psychologische Psychotherapeuten aus dem klinischen und polikli­ nischen Arbeitsfeld sowie psychotherapeutisch tätige Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen aus der noch bestehenden DDR teil. Ihre Zusammensetzung spiegelte damit repräsen­tativ diejenigen Berufsgruppen wider, die die Entwicklung der Musiktherapie in Ostdeutschland in Praxis, Aus- und Weiterbildung sowie Forschung bis dahin wesentlich getragen hatten.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

In der Zeit vor der Gründungsversammlung hatte der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Musiktherapie e. V. (DGMT e. V.), des größten Musiktherapieverbandes der Bundesrepublik, offen für den Beitritt der Sektion Musiktherapie zur DGMT e. V. geworben. Schon damals herrschte dort die abwegige Vorstellung, man könne durch steigende Mit­ gliederzahlen die Legislative zu einer Lösung der Berufsbildproblematik bewegen, ohne sich mit den offenen inhaltlichen Fragen zum Fach auseinanderzusetzen. Auch innerhalb des Vorstandes der Sektion Musiktherapie gab es Stimmen, die eine Fusion mit der DGMT e. V. befürworteten. In der Gründerversammlung setzten sich jedoch diejenigen Kräfte durch, die für die Schaffung eines eigenständigen Fachverbandes eintraten, in dem es möglich sein würde, die historisch gewachsene Musiktherapiekonzeption Ostdeutschlands zu bewahren und weiterzuentwickeln. Mit der ersten Mitgliederversammlung am 17. November 1990 in der Kreispoliklinik Freital bei Dresden wurde diese Entscheidung Wirklichkeit. Die Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost e. V. (DMVO e. V.) wurde gegründet. Damit war ein Schritt vollzogen, der mit Blick auf die Entwicklung der Musiktherapie Ostdeutschlands nur als folgerichtig bezeichnet werden kann. Diese hatte eine Konzeption hervorgebracht, die sich qualitativ und hinsichtlich ihres innovativen Potenzials so stark von den in der Altbundesrepublik entwickelten Musiktherapieauffassungen unterschied, dass eine Fusion mit anderen Fachverbänden einer Nivellierung und damit dem Verlust des eigenen unverwechselbaren Profils gleichgekommen wäre. Wie realistisch und zukunftsweisend diese Einschätzung war, zeigte sich in der dynamischen Entwicklung der DMVO e. V. zu einem der bedeutendsten musiktherapeutischen Fachverbände in Deutschland. Besonders muss in diesem Zusammenhang auf den Einfluss der DMVO e. V. auf die Berufspolitik im vereinigten Deutschland hingewiesen werden. Die DMVO e. V. betrat die berufspolitische Bühne in einer Situation, die Susanne Metzner, damals Vorstandsmitglied eines westdeutschen Musiktherapieberufsverbandes, wie folgt beschreibt: »Durch die Vielfalt der Verbände war es zu Überschneidungen der Kompetenzbereiche gekommen, was nicht nur Konkurrenz, sondern vor allem Leerstellen der berufspolitischen Arbeit nach sich zog. Die Verständigungssituation zwischen den Verbänden war desolat, es konnte wohl mehr von einer Missverständigung die Rede sein« (Metzner 1997). Jahrzehntelange Konfliktunfähigkeit und Machtstreben hatten dazu geführt, dass die notwendige Bündelung der Kräfte für die weitere inhaltliche Auseinandersetzung mit den essentiellen Fragen des Faches unterblieb. Die Schere zwischen dem Anspruch, Musiktherapie als Regelleistung der Krankenkassen zu etablieren, und ihrer theoretischen Fundierung sowie der forschungsspezifischen Absicherung wurde immer größer. Als in diesem Kontext angesichts des herannahenden 8. Weltkongresses für Musiktherapie die Verbandslandschaft neu strukturiert und ein Dachverband gegründet werden sollte, kam es zu einer Zuspitzung der vielschichtigen Konfliktlage. Es ist in ganz besonderem Maße der DMVO e. V. zu danken, dass in dieser Situation eine konstruktive Entwicklung in Gang gesetzt werden konnte. »Als ein möglicher Ausweg aus dem Scheitern schien sich einzig und allein die inhaltlich auf die Musiktherapie bezogene Auseinandersetzung und Verständigung als Basis für alle weiteren berufspolitischen Schritte zu eignen, ein Vorgehen, das im Wesentlichen von der DMVO e. V. vorgeschlagen wurde« (Metzner 1997).

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

So wurde im Jahr 1994 die Kasseler Konferenz musiktherapeutischer Vereinigungen in Deutschland gegründet. Am 19. März 1996 legten die Vertreter der DMVO e. V. neun Thesen zur Musiktherapie zur Prüfung auf Konsensfähigkeit vor, auf deren Grundlage die Entwicklung eines schulenübergreifenden Konsenses zur Musiktherapie möglich wurde. Am 4. Juli 1998 wurden die »Kasseler Thesen zur Musiktherapie« verabschiedet, die die gemeinsam erarbeiteten Positionen zu den theoretisch-wissenschaftlichen Grundlagen der Musiktherapie, Ausbildungsschwerpunkten, konzeptionellen Voraussetzungen und Anwendungsbereichen zum Inhalt haben.

Die Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen Die Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen wurde im Frühjahr 1992 von Christoph Schwabe und Helmuth Rudloff als privatrechtliches Ausbildungsinstitut im Status eines wirtschaftlichen Zweckbetriebs der DMVO e. V. auf Schloss Crossen in Thüringen gegründet. Sie nutzte von Beginn an ihre größeren Freiheiten gegenüber den staatlichen Ausbildungen, das Studium nach ihren Vorstellungen, d. h. berufsführend, zu organisieren. Das betraf vor allem die enge Verzahnung von Selbsterfahrung und Theorie, um die Entwicklung einer handlungsfähigen therapeutischen Kompetenz der künftigen Musiktherapeuten zu gewährleisten. Die Ausbildung war berufsbegleitend organisiert. Außer dem wissenschaftlichen Leiter Christoph Schwabe und dem Geschäftsführer Helmuth Rudloff arbeitete die Akademie ausschließlich mit Honorarkräften. Die ersten Kurse, die angeboten wurden, waren Studiengänge in Aktiver Gruppenmusiktherapie (AMT), Regulativer Musiktherapie (RMT) und Musikalischer Elementarerziehung (MEE). Die Akademie wurde relativ schnell bundesweit wahrgenommen und bekam Ausbildungsteilnehmer aus ganz Deutschland. Sie erweiterte und vertiefte ihr Lehrangebot kontinuierlich. Die Nachfrage nach einer musiktherapeutischen Qualifikation für Mitarbeiter aus der sozialen Betreuungs- und Förderarbeit erhöhte sich ständig, während die der Teilnehmer aus dem klinisch-psychotherapeutischen Bereich sank. So hatten die bewährten und konzeptionell gut ausgestatteten Kurse in Aktiver und Regulativer Musiktherapie immer weniger Teilnehmer, während die Wünsche der Interessenten aus den außerklinischen Bereichen die Kapazität der Akademie und ihrer Honorarkräfte zeitweise überstieg. Das eigentliche Problem aber stellte die Entwicklung einer angemessenen Ausbildungskonzeption für diese Teilnehmer dar, die aufgrund ihrer Vorbildung und der Art ihrer Berufspraxis vor allem therapeutisch-pädagogisch ausgerichtete Spielvorschläge erwarteten, mit denen sie ihre Klientel »therapieren«, beruhigen bzw. disziplinieren können – eine Erwartung, die einer Ausbildung mit psychotherapeutischem Charakter diametral entgegen stand. Die Besinnung auf die konzeptionellen Wurzeln der Musiktherapie, ihr biopsychosoziales Krankheits- und Therapieverständnis sowie ihr handlungsorientiertes, psychotherapeutisch ausgerichtetes Vorgehen führte zur Erarbeitung konzeptioneller Prämissen, die übergreifend über klinisch-psychotherapeutische oder außerklinische Anwendungsfelder gültig sind. Dies betrifft die Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit, der Selbstausdrucksfähigkeit und der Fähigkeit zum konstruktiven Umgang mit Emotionalität in Beziehungsprozessen.

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Ausgehend von diesen Grundannahmen entwickelten Christoph Schwabe und Ulrike Haase das Konzept der Sozialmusiktherapie, das 1998 in der gleichnamigen Buchveröffentlichung seinen Niederschlag fand und an der zahlreiche Kollegen aus der Praxis mitwirkten. Bereits 1993 wurde der erste Ausbildungskurs Sozialmusiktherapie (SMT) an der Akademie etabliert. Die Herausgabe einer eigenen Publikationsreihe, der »Crossener Schriften der Musiktherapie«, war von Beginn an ein wichtiges Standbein wissenschaftlicher Arbeit an der Akademie, der von den späten 1990er Jahren an zahlreiche wissenschaftliche Tagungen folgten. Im Zuge der fortschreitenden Akademisierung des Berufsbildes erkannten die wichtigsten privatrechtlichen Ausbildungsinstitute Deutschlands und der Schweiz die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit über Schulen- und Ländergrenzen hinweg. Sie schlossen sich Anfang 1995 zur »Ständigen Ausbildungsleiterkonferenz Musiktherapie« (SAMT) zusammen. Anliegen der Konferenz waren die Gewährleistung der Gleichberechtigung sowohl des staatlich akademischen als auch des privatrechtlichen Zugangs zum Beruf des Musiktherapeuten sowie die Erarbeitung gemeinsamer Qualitätskriterien in der Ausbildung. Die Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen prägte die inhaltliche Arbeit der SAMT von Anfang an in entscheidendem Maße mit.

6.5.8 Kommunikative Bewegungstherapie 6.5.8.1 Anita Wilda-Kiesel: Die Kommunikative Bewegungstherapie nach 1990 Mit der Einheit Deutschlands veränderten sich die Ausbildungsbedingungen. Die Ausbildung zum Fachphysiotherapeuten wurde abgeschafft, da es in der BRD so etwas nicht gab. Der Fachphysiotherapeut an sich hatte aber Bestandsschutz. Für einige Jahre konnten die speziellen Methoden Kommunikative Bewegungstherapie und Konzentrative Entspannung nicht gelehrt werden. Wie es bis heute Tradition ist, schrieb ich Ende des Jahres 1991 einen Rundbrief mit dem folgenden Inhalt an die Mitglieder der Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie: »Das Jahr 1991 geht zu Ende. Für viele Mitglieder brachte es schwierige Arbeits- und Lebensbedingungen, aber auch neue Anforderungen, wie z. B. den Weg in die Selbständigkeit, in deren Folge einige langjährige Mitglieder aus der Arbeitsgruppe ausgeschieden sind [...]« Zu dieser Zeit plante der Vorstand der AG Kommunikative Bewegungstherapie die Gründung eines eingetragenen Vereins. Eine Rücksprache mit Prof. Dr. M. Geyer, ergab, dass die Arbeitsgruppe auch als selbständige AG in der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) bleiben könnte. So wurde die AG ein korporatives Mitglied der GPPMP und konnte unter diesem schützenden Dach ihre Arbeit sehr gut fortsetzen.

Die Fortbildung zum Therapeuten für Kommunikative Bewegungstherapie Die erste Aktivität nach der Wende war eine Mitgliederversammlung im Oktober 1991, auf der die weiteren Aufgaben und Pläne beraten wurden. Im Mai 1992 trafen sich alle Mitglie-

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der in Leipzig, um über ein neues Angebot in der Fortbildung zu beraten. Im Laufe der Jahre hatten sich einige Fachphysiotherapeuten so profiliert und so viel theoretische und praktische Erfahrung gesammelt, dass sie in der Lage waren, die Methode in Kursen an interessierte Physiotherapeuten weiterzugeben und als Lehrtherapeutinnen zu arbeiten. Diese Kolleginnen fanden sich unter meiner Leitung zusammen und erarbeiteten die künftigen Inhalte einer Fortbildung zum Therapeuten für Kommunikative Bewegungstherapie. Während des Treffens im Mai 1992 wurden die Inhalte mit den 50 Teilnehmern erprobt, besprochen und das Curriculum festgelegt. Vier Gruppen hatten parallel zueinander zu dem Thema »Möglichkeiten und Grenzen der Kommunikativen Bewegungstherapie« gearbeitet. Sie diskutierten gemeinsam in einer Großgruppe die Ergebnisse. Der Start in eine neue Weiter- bzw. Fortbildung war gelungen, denn von den zehn Gruppenleitern waren fünf (Erika Eichhorn, Eveline Fredrich, Elfruna Orthmann, Anette Tögel und Dörthe Maria Zorr) bereit, mit mir diese Fortbildung in Kommunikativer Bewegungstherapie anzubieten. Im Vergleich zur Konzeption der Fortbildung zum Fachphysiotherapeuten wurden 150 Stunden geplant, die auf zehn Wochenenden, mit einem Abstand von mindestens vier Wochen verteilt wurden. Das 1993 eingeführte Curriculum hat sich bis auf wenige Änderungen über die Jahre bewährt. Im Lehrplan stehen: ­– 120 Praxisstunden als Selbsterfahrung, verbunden mit einer Reflexion der Inhalte, des methodischen Vorgehens und des Leiterverhaltens und ­– 30 Theoriestunden zu den Themen: die Ebenen der Therapie, die Therapeut-PatientBeziehung, die Gruppenentwicklung, Bedürfnisstrukturen, Therapeutenverhalten, Übertragung/Gegenübertragung und die Sprache in der Therapie. Besonders wichtig war den künftigen Lehrtherapeuten eine Trennung der Erfahrungsebenen. Die Praxis mit Selbsterfahrung und Reflexion wird räumlich von der rationalen Ebene getrennt. Während der Selbsterfahrung in der Kommunikativen Bewegungstherapie leiten stets zwei Lehrtherapeuten die Gruppe an. Dabei ist einer aktiv, er arbeitet mit der Gruppe, der andere übernimmt die Beobachterposition. Die Analyse der Praxis findet auf einer anderen Ebene, in einem Nebenraum oder zumindest sitzend um einen Tisch statt. Ziel der Analyse ist das rationale Verstehen des therapeutischen Geschehens. Dazu gehören: in welchem Zeitraum der Therapie die jeweiligen Aufgabenstellungen und Übungen in welcher Form angewandt werden und wie sich der Therapeut in unterschiedlichen Therapiesitua­ tionen verhält sowie welches Erleben und Verhalten sich während einer Gruppenstunde entwickeln. Das Ziel der Fortbildung ist es, Therapeuten auszubilden, die einerseits über die Selbsterfahrung erleben können, welche starke emotionale Belastung die Therapie hervorrufen kann, andererseits sollen die künftigen Therapeuten nach jeder praktischen Einheit die inhaltlichen und didaktischen Prinzipien mit den Lehrtherapeuten erläutern können und das Erlebte auch rational aufarbeiten. So ist diese Fortbildung keine Therapie, sondern sie hat die Befähigung zur Anwendung der Methode am Patienten zum Ziel. Der relativ große Abstand zwischen den einzelnen Kursen ist ebenfalls erforderlich, um den Teilnehmern Zeit zu lassen, über ihre Erfahrungen nachzudenken, eventuell schon diese oder jene Übung in der bisherigen Therapie zu erproben und um die allgemeine Belastung

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

in Grenzen zu halten. Da festgeschrieben wurde, dass die Teilnehmer schon mit psychisch Kranken arbeiten, wenn sie zur Fortbildung kommen, blieben Ätiologie und Pathogenese und Kenntnisse über die Psychotherapie dem Selbststudium vorbehalten. Eine Prüfung, in der die Teilnehmer ihre erworbenen praktischen und theoretischen Fähigkeiten nachweisen müssen, beendet die Fortbildung. 1993 fand der erste Lehrgang zur Fortbildung zum Therapeuten für Kommunikative Bewegungstherapie statt. Der Bedarf an Therapeuten war so groß, dass schon 1994 der vierte Lehrgang, in dem jeweils maximal 16 Teilnehmer ausgebildet werden, durchgeführt wurde. Die o. g. sechs Lehrtherapeutinnen bereicherten mit ihrem speziellen Fachwissen und ihrer langjährigen Berufserfahrung als Fachphysiotherapeuten die Inhalte der Fortbildung. Seit dem Jahr 2000 arbeitet Anette Tögel als Bewegungstherapeutin in der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin der Universität Leipzig. Mit ihrer Kompetenz und mit der Unterstützung vom Ärztlichen Direktor Prof. Dr. M. Geyer, wurde die Kommunikative Bewegungstherapie an der Klinik ihres Entstehens wieder zu einem beachteten und geachteten Bestandteil der Therapie. A. Tögel gehört zu den ersten Lehrtherapeuten für Kommunikative Bewegungstherapie.

Die Gründung der Akademie für Kommunikative Bewegungstherapie (AKB) Im November 2004 löste sich die Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) auf. Die Arbeitsgruppe Kommunikative Bewegungstherapie gründete einen Verein mit dem Namen »Akademie für Kommunikative Bewegungstherapie« (AKB), deren Aufgabe weiterhin die Fortbildung zum Therapeuten für Kommunikative Bewegungstherapie und die Weiterbildung der Mitglieder ist. Zu diesem Zeitpunkt gab ich meinen langjährigen Vorsitz an Anette Tögel weiter. Im Jahr 2007 gab es bei der Fortbildung eine erhebliche Veränderung. Schon im Herbst 2001 war Dörthe Maria Zorr aus dem Lehrtherapeutenteam ausgeschieden, für sie kam Gesine Seifert, die in der Gemeindenahen Psychiatrie/Tagesklinik in Leipzig arbeitet, neu ins Team. Die vier Lehrtherapeuten der »ersten Stunde«, Erika Eichhorn, Eveline Fredrich, Elfruna Orthmann und ich, übergaben ihre Lehrtätigkeit an neue, von ihnen im Laufe der Jahre ausgebildete Kolleginnen. Mit Anette Tögel und Gesine Seifert als die langjährig bewährten Kolleginnen arbeiten nun Grit Koldewitz, Berlin, Sabine Piotrowski, Elbingerode, und Elena Gäbel aus Halle. Im Jahr 2010 fand der 18. Lehrgang zur Fortbildung zum Therapeuten für Kommunikative Bewegungstherapie statt. Die Akademie für Kommunikative Bewegungstherapie hat zurzeit in ihrer Arbeitsgruppe über 70 Mitglieder, die an den von der AKB angebotenen Weiterbildungen regelmäßig teilnehmen und den Erfahrungsaustausch in Bezug auf neue Entwicklungen in der Therapie weiter pflegen. Im August 2007 gab es eine weitere wichtige Etappe für die Kommunikative Bewegungstherapie. Brigitte Böttcher, Fachphysiotherapeutin, und seit 1983 zuständig für die Weitergabe und Weiterentwicklung der Konzentrativen Entspannung, konnte einen großen Erfolg in ihrem langjährigen Mühen um einen Fachphysiotherapeuten verbuchen. Es gibt wieder einen Fachphysiotherapeuten für psychosoziale Medizin in Sachsen (Gesetz über die Wei-

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terbildung in den Gesundheitsfachberufen im Freistaat Sachsen vom 04.11.2002 und der Verordnung Nr. 8 vom 13.07.2007 des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales). Die Kommunikative Bewegungstherapie ist mit 100 Stunden, von 575 Stunden insgesamt, Bestandteil dieser Fortbildung. Die ersten Absolventen haben 2010 ihre Qualifizierung abgeschlossen.

6.5.8.2 Brigitte Böttcher: Die Konzentrative Entspannung (KoE) nach 1990 Die Konzentrative Entspannung (KoE) nach Wilda-Kiesel gehörte bis zur Wende zum Me­thodeninventar der Physiotherapeuten auf dem Gebiet der Körperwahrnehmung und Entspannung. Aber auch Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten integrierten die KoE im Zusammenhang mit Entspannung und Stressbewältigung in ihre Arbeit. In } Abschnitt 4.5.7.1 wird darüber von Anita Wilda-Kiesel und in } Abschnitt 5.3.8.2 von mir berichtet. Der Rückblick auf Übergänge und Verbindungen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Umbruch 1989 sei zunächst vorangestellt: Im Jahr 1989 bis 1990 kam es zu gesellschaftlichen Veränderungen in der DDR, die sich auch auf die Fachphysiotherapeutenausbildung und die Fortbildung KoE auswirkten. Es fand noch die 3. Arbeitstagung der Arbeitsgemeinschaft Konzentrative Entspannung in der Sektion Autogenes Training und Hypnose vom 8.–10. November 89 in der Kureinrichtung und Fachklinik Bad Berka statt. Sie widmete sich dem Therapeutenverhalten in der KoE und der Umsetzung von Entspannungstherapie in der Allgemeinmedizin. Es war eine Tagung mit Ärzten, Psychologen, Physiotherapeuten als Referenten und wiederum ca. 30 Teilnehmern. In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 fiel die Mauer. Am Morgen des 10. November 1989 gemeinsam an der Bushaltestelle nahe der innerdeutschen, nun geöffneten Grenze zu stehen, war allen ein deutliches »Körpererlebnis« psychophysischer Art: Wir erlebten diese freudvolle »Entspannung« mit der Arbeitsgruppe gemeinsam! Das Jahr 1990 begann mit einer Großveranstaltung der Gesellschaft für Orthopädie und ca. 700 Physiotherapeuten und Ärzten vom 15.–17. Januar 1990 in Leipzig. Es waren ­Themen im Zusammenhang mit dem Therapeutenverhalten in der Diskussion. Von Böttcher wurde aufgrund der KoE-Ausbildungserfahrungen das Thema »Motivation des Patienten durch gezieltes Therapeutenverhalten« übernommen. Zur gleichen Zeit ereigneten sich im Land die heftigsten politischen Bewegungen: Montagsdemos, Stasi-Auflösung und geöffnete Grenzen! Getragen von dieser Atmosphäre wurde der Vortrag mit großer Resonanz aufgenommen. Als sich im Mai 1990 die Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) unter Vorsitz von Michael Geyer in eine Dachgesellschaft mit fach- und berufspolitischer Orientierung umwandelte, um bisherige Fachentwicklungen vor Verlust zu bewahren, waren die Methoden Kommunikative Bewegungstherapie und Konzentrative Entspannung durch Wilda-Kiesel und mich mit im Vorstand vertreten. Auch in dieser neuen Formation blieben die körperorientierten Methoden nicht außen vor, sondern waren mit den dafür zuständigen Physiotherapeuten als außerordentliche Mitglieder in einer ärztlichen Dachgesellschaft. Die Neuorientierung nach der Wendezeit verlief über verschiedene Etappen. Auch die Orientierung der einzelnen AGs war nicht sofort gegeben. Tatsache war aber, dass weitere

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6.5  Die Entwicklung der Methoden und Verfahren nach der Wende

Ausbildungen zum Fachphysiotherapeuten nicht mehr stattfanden! Im Einigungsvertrag ist zwar der Bestandsschutz der Fachphysiotherapeutenausbildung festgeschrieben (Bundesinstitut 2000), aber er hatte keine Relevanz in der Praxis. Als sich in Sachsen 1991 die aus dem Westen kommenden Berufsverbände der Physiotherapeuten formierten, gründete sich 1991 im Landesverband Sachsen der Physiotherapeuten (im Zentralen Verband der Krankengymnasten ZVK) eine AG Konzentrative Entspannung. Unter diesem Dach fanden für Physiotherapeuten die weiteren KoE-Kurse statt. Zu verschiedenen Tagungen in den folgenden Jahren ist über die KoE referiert worden, 1995 beim Ärztekongress in Dresden, 1996 bei der Tagung des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin, 1999 und 2003 bei den Tagungen der Integrativen Physiotherapie in München. 2002 fand eine bemerkenswerte Tagung im Universitätsklinikum Dresden, Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik (Klinikleiter Peter Joraschky), statt: »Sand im Getriebe – Befindlichkeiten von Therapeuten zwischen Physiotherapie und Psychotherapie« (Böttcher 2002). Die Begegnung zwischen dem Psychotherapeuten Helmuth Stolze, Anita Wilda-Kiesel und mir als Referenten dieser Tagung machten die gemeinsamen Wurzeln der Körperarbeit deutlich und die individuellen Entwicklungen in großen Zeiträumen (Böttcher u. Wilda-Kiesel 2005) begreiflich. Erfahrungen der berufsübergreifenden Zusammenarbeit in der psychosomatischen Ambulanz der Poliklinik für Psychosomatik der Universitätsklinik Dresden werden vorgestellt, aus welcher ein physiotherapeutisch-psychosomatisches Problemfallseminar (Böttcher u. Köllner 2000) und eine physiotherapeutische Begleitung des Konsiliardienstes bei Schwangeren mit psychosomatischen Körpersymptomen hervorgehen. Im Oktober 2003 fand die 7. Erlabrunner Regionaltagung für psychotherapeutische Medizin statt (wiss. Leitung Helmut Röhrborn).Vorträge zur Kommunikativen Bewegungstherapie (Wilda-Kiesel) und KoE (Böttcher) waren die Hauptreferate. 1990 gründete sich der Sächsische Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und psychosomatische Medizin (Vorsitzender Michael Geyer). Da die Konzentrative Entspannung als Relaxationsverfahren in den Empfehlungen der Bundesärztekammer für die gesamtdeutsche Weiterbildungsordnung Psychotherapie aufgeführt ist (Geyer u. Hirsch 1994), wird diese von der Landesärztekammer Sachsen als Bestandteil der Weiterbildung Psychotherapie bestätigt und im Sächsischen Weiterbildungskreis kontinuierlich angeboten. Die Möglichkeit der spezialisierten Verordnung Physiotherapie für psychosoziale Medizin gibt es aber bis heute nicht! Aufgrund einer anderen Verbandsstruktur der Krankengymnasten in den alten Bundesländern war die Anbindung der Physiotherapeuten an die Ärzteverbände keine Option. Eine störungsspezifische Physiotherapie bei psychisch mitbedingten Körperstörungen ist damit bis heute nicht heilmittelrelevant. Veröffentlichungen zur Konzentrativen Entspannung erfolgten seit 1991 in der Fachzeitschrift »Krankengymnastik – Zeitschrift für Physiotherapeuten« im Richard-Pflaum-Verlag München, welcher sich mit der damaligen Chefredakteurin Antje Hüter-Becker für die integrativen Themen der Physiotherapie des Ostens interessierte. Im Jahre 2004 kam es zu einer erfolgreichen sächsischen Initiative mit Vertretern der Landesverbände der Physiotherapeuten (Zentralverband der Krankengymnasten, ZVK und Verband Physikalische Therapie, VPT), dem Dresdner Regionalinstitut (DIPP) im Sächsi-

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

schen Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und psychosomatische Me­dizin (SWK) und dem Ausbildungsinstitut Heimerer-Akademie Leipzig/Torgau. Vom sächsischen Sozialministerium wurde einem Curriculum für die Weiterbildung in den Gesundheitsfachberufen zum Fachphysiotherapeuten für psychosoziale Medizin zugestimmt, bestätigt mit dem Gesetzblatt 8/2007 des sächsischen Sozialministeriums (SächsGfbWBVO 2007).

6.5.9 Autogenes Training und Hypnose. Wolf-Rainer Krause: Hypnose und Autogenes Training nach der Wende Zum Ende der Sektion Autogenes Training und Hypnose kann ich selbst nichts Authentisches berichten. Ich war seinerzeit selber mit der Übernahme einer Chefarztposition in einer niedersächsischen Hypnoseklinik beschäftigt bzw. mit Ansiedlungen von Investoren im heimatlichen Harz. Beides bedurfte autogener Gelassenheit. Trotz mehrfacher schriftlicher und mündlicher Bemühungen ist es auch nicht gelungen, mit dem langjährigen Vorsitzenden, Gerhard di Pol, darüber ins Gespräch zu kommen. Mir war sehr daran gelegen, primär die Sektion geschlossen in die Deutsche Gesellschaft für ärztliche Hypnose und Autogenes Training (www.dgaehat.de), gegründet von J. H. Schultz und Sektion der International Society of Hypnosis (ISH), zu überführen. Dies scheiterte, da wir in der DDR etwa 50 % der Mitgliedschaft Psychologen aufwiesen. Diese konnten zu der Zeit keinesfalls Mitglied dieser ärztlichen Gesellschaft werden. Erst während meiner nunmehr langjährigen Vorstandsmitarbeit und deutlicher Verjüngung des Gesamtvorstandes konnten Psychologen über den Gaststatus Zugang zu der Gesellschaft erlangen. Erst nach und nach konnten alle für eine gesamtdeutsche Gesellschaft so wichtigen Landesstellen (bis auf Sachsen) von ausgebildeten Mitgliedern besetzt werden. Eine angenehme Herausforderung war die Vorstandsarbeit von dem Zeitpunkt an, als regelmäßig Jahrestagungen in Blankenburg am Harz durchgeführt wurden. Das wissenschaftliche Archiv wurde von dem kürzlich verstorbenen verdienstvollen Kölner Professor R. Lohmann übernommen und ist – im Übrigen auch ergänzt durch die vielen nicht zitierten DDR-Arbeiten – in der Blankenburger Tagesklinik abends und an den Wochenenden ungestört zu benutzen. Aus der Zusammenarbeit mit dem Braunschweiger Zahnarzt Jürgen Staats und vielfachen Weiterbildungen für Zahnärzte resultierte das Büchlein »Hypnotherapie in der zahnärztlichen Praxis« (Staats u. Krause 1995). Diese Arbeit wurde mit der Berufung von Staats und Krause in den Wissenschaftlichen Beirat der wohl mit dem größten Zuwachs versehenen deutschsprachigen Hypnosegesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Hypnose (DGZH; www.dgzh.de), gewürdigt. Ehemalige Mitglieder der seinerzeitigen Sektion finden sich aber auch in der MiltonErickson-Gesellschaft (MEG) und der Deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie (DGH). Zwischen diesen Gesellschaften herrscht weiterhin ein recht harter Wettbewerb, aber auf der Ebene der deutschsprachigen Hypnosegesellschaften gemeinsam mit zwei österreichischen und zwei Schweizer Fachgesellschaften ist es nunmehr zu einer ausgewogenen Zusammenarbeit gekommen. Vornehmlich für Psychologen bietet auch die Deutsche Gesellschaft für Entspannungsverfahren Weiterbildungskurse an.

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6.6  Schicksale stationärer und ambulanter Psychotherapie-Abteilungen nach der Wende

Die wissenschaftlichen Leistungen und Aktivitäten im Rahmen der DDR-Hypnose wurden mit Ehrenmitgliedschaften von Alfred Katzenstein und Gerhard Klumbies in den gesamtdeutschen Fachgesellschaften geehrt.

6.6 Schicksale stationärer und ambulanter PsychotherapieAbteilungen nach der Wende 6.6.1 Psychotherapie und Psychosomatik an ostdeutschen Universitäten nach der Wende 6.6.1.1 Michael Geyer: Psychotherapie und Psychosomatik an der Universität Leipzig in der Wende- und Nachwendezeit Die Veränderungen der Universität in der Wendezeit Die politische Wende in Ostdeutschland, die von den Leipziger Großdemonstrationen des Oktober 1989 ausgeht, wird von den Mitarbeitern der Klinik hautnah erlebt und mitgestaltet. Die Klinik liegt wenige Fußminuten vom Leipziger Innenstadtring entfernt, auf dem am 9. Oktober zunächst 70.000, an den folgenden Montagen mehr als 200.000 Menschen aus dem gesamten mitteldeutschen Raum friedlich ihren Veränderungswillen ausdrücken. Da die Demonstrationen 18 Uhr beginnen, wird mein montags um 17 Uhr stattfindende Doktorandenseminar entsprechend abgekürzt. Nach dem unerwartet gewaltlosen Verlauf der ersten Großdemonstration am 9. Oktober, an der ich und meine Studenten mit großer Angst teilnehmen, geraten die anschließenden Märsche zu Volksfesten. Während sich Studenten und ein überschaubarer Teil der Hochschullehrer in der Teilnahme an den Demonstrationen solidarisieren, versucht die Fakultätsleitung im Verein mit Partei- und Gewerkschaftsleitung das Rad der Geschichte aufzuhalten. Die auf Veränderung drängenden Professoren sollen beschwichtigt werden. Z. B. bekommt die Klinik nach meinem Antrag, den gewaltigen Verwaltungsapparat von SED und Einheitsgewerkschaft von der Universität zu entfernen, um endlich die Freiheit von Forschung und Lehre zu gewährleisten, der in der Vollversammlung der Hochschullehrer ohne Unterstützung bleibt, umgehend die Zusage für eine Generalreparatur des Klinikdaches, das seit fünf Jahren undicht ist. Schon im November räumen die ersten Bonzen freiwillig das Feld. Partei und Staat und Stasi nahestehende Professoren, die eine fachliche Reputation besitzen, nutzen die Grenz­ öffnung und nehmen Chefarztstellen in westdeutschen Krankenhäusern ein. Im Laufe des Jahres 1990 kommt es zu ersten Evaluationen der Hochschullehrer und politischen Ent­ lassungen. Von ca. 45 ordentlichen Professoren und Klinikchefs bleiben nach der ersten ­Entlassungswelle 1990/1991 noch acht im Amt (einige klagen sich erfolgreich wieder ein). Als einer der im Amt bestätigten Professoren beteilige ich mich sowie der Oberarzt der ­Klinik, Günter Plöttner, neben den vielfältigen fachpolitischen Aufgaben jener Zeit (s. a. die

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

Psychotherapiechronik dieser Jahre } Abschnitt 6.2), am Neuaufbau von Fakultät und Universität. Über das gesamte erste Jahrzehnt bin ich in der Medizinischen Fakultät im Berufungsgeschehen beschäftigt sowie in der Universitätsleitung bis 1998 als Prorektor für Universitätsentwicklung zuständig für den strukturellen Umbau und Neuaufbau der zum Teil bis auf den letzten Mann »abgewickelten« Fakultäten der Universität. (Um sich das Ausmaß des Wandels zu vergegenwärtigen, sollte man wissen, dass in dieser Zeit etwa 10.000 Mitarbeiter der Universität entlassen werden müssen, der geringere Teil aus politischen Gründen.)

Die Veränderungen der Klinik Für die Klinik zeigt sich als erster sichtbarer Erfolg der Wende noch vor der Wiedervereinigung am ersten September 1990 die Wiederherstellung ihres selbständigen Status. Sie heißt jetzt »Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin« und bekommt drei Hochschullehrerstellen zugesprochen (je eine C4-, C3- und C2-Stelle). Die Klinik konnte angesichts des zu niedrig bemessenen Personalschlüssels zu DDR-Zeiten nur mit Unterstützung zahlreicher Hospitanten und Facharztkandidaten funktionieren. Nach dem Beispiel gut ausgestatteter westlicher Hochschulkliniken kann die Klinik das wissenschaftliche Stammpersonal von bis dahin fünf Mitarbeitern auf 15 Mitarbeiter aufstocken. Der klinische Betrieb verändert sich in zweierlei Hinsicht. Zum einen verändern sich die Krankheiten und Störungen unserer Patienten. Das nach dem Wegfall des Zwangskorsetts »DDR-System« nicht nur ein Mehr an Freiheit, sondern auch ein Wegfall von stützenden Elementen einen Zuwachs an Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ bringen würde, war zu erwarten und ist auch eingetreten. Dem steht eine dramatische Abnahme der neurotischen Störungen bei Lehrern gegenüber, die vor der Wende immerhin etwa ein Viertel der Patientenschaft ausmachen. Neben den Persönlichkeitsstörungen machen dieses Defizit die bereits seit 1991 schlagartig zunehmenden Essstörungen in Form der Bulimia nervosa wett, die in der DDR fast unbekannt waren und den veränderten Anforderungen an die jungen Frauen geschuldet sind, nicht nur enorm leistungsfähig, sondern auch noch attraktiv und insbesondere gertenschlank zu sein. Natürlich ist auch die Konkurrenz unter den Psychotherapieeinrichtungen gewachsen. Durch die gute Personalausstattung und die nun gesamtdeutsch vorhandenen zusätzlichen Qualifikationsmöglichkeiten der Mitarbeiter ist die Klinik in der Lage, die individuellen Therapieangebote auszuweiten.

Der Aufbau der Lehre in der Psychosomatik Mehr noch als der klinische Betrieb verändert sich der Lehrbetrieb im Fach Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Die studentische Ausbildung in diesem Fach im Osten hatte gegenüber der im Westen ein eher niedriges Niveau (es gab schlicht kein eigenständiges Lehrgebiet im Fach) und lebte bis dahin in erster Linie von fakultativen Lehrangeboten engagierter Hochschullehrer, die damit auf die Bedürfnisse einer Gruppe besonders am Fach interessierter Studenten reagieren. Im Vorgriff auf die – keineswegs schon in Sichtweise befindlichen – neuen Verhältnisse wird im Herbst 1989 eine eigenständige große Vorlesung

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6.6  Schicksale stationärer und ambulanter Psychotherapie-Abteilungen nach der Wende

mit zwei Wochenstunden und einem praktischen Unterricht im Plan des Wintersemesters durchgesetzt, die auch gute Resonanz unter den Studenten findet. Ab 1991 wird der Lehrbetrieb bereits nach der westdeutschen Studienordnung durchgeführt und die (zunächst noch) wenigen Mitarbeiter sind anfangs durch die neuen Aufgaben, insbesondere die studentischen Praktika, erheblich belastet. Deutlich wird, wie die bessere Position des Faches im studentischen Unterricht das Fach insgesamt aufwertet. Es ist in der Lehre zu einem großen Fach avanciert und wird entsprechend auch in der Fakultät respektiert und in die Gemeinschaft der klinischen Fächer aufgenommen. Die von vornherein als selbständige Abteilung der Klinik geplante Medizinische Psychologie und Soziologie wird ebenfalls gut ausgestattet und entwickelt unter dem neuberufenen Gießener Medizinpsychologen Elmar Brähler einen umfangreichen Lehrbereich und eine der effektivsten Forschungsabteilungen der Universität. Diese Abteilung verleiht der Fakultät wichtige Impulse bei der strukturellen Neuausrichtung und in der Forschung.

Forschung Trotz der Vielfalt der Aufgaben beim Neuaufbau der Universität und Fakultät gelingt es, die Kontinuität der Forschungsarbeit auf den Forschungsfeldern der Klinik zu bewahren. Günter Plöttner und Bettina Schmidt, später Antje Gumz, setzen die klinische Prozessforschung (Geyer et al. 1991b, 1991c; Geyer u. Plöttner 1996; Heuft et al. 1998; Villmann et al. 2000) und die psychosomatische Versorgungsforschung in multizentrischer Anbindung fort (Schmidt et al. 2003; Schmidt u. Geyer 1998). Bemerkenswerte Beispiele für die entstehenden neuen Möglichkeiten kooperativer Forschung stellen die um die Wende in die Klinik eintretenden neuen Mitarbeiterinnen Cornelia Albani und Aike Hessel dar. Schon 1986, nach einem Workshop Horst Kächels, Universiät Ulm, in Leipzig, war es zu einer ungewöhnlichen »konspirativen«, weil damals offiziell nicht möglichen, Forschungskooperation gekommen, die sich zwei Jahre später, beim ersten internationalen Kongress der Society for Psychotherapy Research in Ulm im Hinblick auf Auswertungsmethoden zum zentralen psychodynamisch-psychoanalytischen Konzept der Übertragung (CCRT, FRAMES, PERT) in der Beteiligung an der ersten deutschen Arbeitsgruppe zum Zentralen Beziehungskonflikt Thema (ZBKT) fortsetzt. Ein Stipendium der Breuninger-Stiftung Stuttgart ermöglicht es schon 1990 meiner damaligen Doktorandin Cornelia Albani, diese Entwicklung mitzugestalten. Sie kann ihre Dissertation sofort nach der Wende weitgehend in Ulm in Zusammenarbeit mit Horst Kächele, Manfred Cierpka, Dan Pokorny u. a. durchführen. Mit dem Enthusiasmus der damaligen Leipziger Aufbruchstimmung erlernen 15 Leipziger Doktoranden die Methode und beginnen, eine Reihe von Forschungsthemen zu bearbeiten. Bereits 1992 erscheint, von Cornelia Albani federführend gestaltet, die revidierte Fassung des Manuals zur ZBKTMethode (Luborsky 1992). Auf Grundlage dieser methodischen Entwicklungen und umfangreicher Untersuchungen von Beziehungsmustern an nichtklinischen Stichproben (Albani et al. 1999a, 1999b, 2000, 2001; Cierpka et al. 1995, 1998) wird ein multizentrischer Forschungsantrag an die Deutsche Forschungsgemeinschaft erfolgreich auf den Weg gebracht. In einem gemeinsamen Projekt der Universitäten Leipzig, Ulm und Göttingen

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können wir die Beziehungsmuster einer großen Zahl jungen Frauen mit psychoneurotischpsychosomatischen Störungen untersuchen (Albani et al. 2000). 1997 kann unsere LeipzigUlmer Arbeitsgruppe in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Folgeprojekt die Reformulierung der kategorialen Strukturen der ZBKT-Methode vornehmen (Albani et al. 1999a, 1999b). Inzwischen sind diese Strukturen unter dem Begriff ZBKTLU (LU steht für Leipzig-Ulm bzw. Logically Unified) international anerkannt und es liegen zahlreiche Übersetzungen und Anwendungen vor. Aike Hessel übernimmt nach ihrer klinischen Ausbildung den Bereich Versorgungsforschung und führt in Kooperation mit Elmar Brähler mehrere große epidemiologische Studien durch (s. a. Brähler und Geyer 1995, Brähler et al. 1996). Elmar Brähler, bis dahin Universität Gießen, hatte kurz nach der Wende den Ruf auf den ersten Leipziger Lehrstuhl für Medizinische Psychologie und Soziologie erhalten und ist der Klinik ein exzellenter Partner und Gestalter der epidemiologischen Ost-West-Studien und der Versorgungsforschung, die den psychischen und sozialen Unterschieden in der Allgemeinbevölkerung nachgehen und deren Entwicklung über lange Zeiträume dokumentieren. Cornelia Albani und Aike Hessel (Hessel et al. 1998, 1999, 2000) habilitieren sich zur Jahrtausendwende mit den Ergebnissen ihrer Arbeit innerhalb dieser fruchtbaren Kooperationsbeziehungen.

Fazit Die Leipziger Universitätsklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin gehört zweifellos zu den Gewinnern einer Wende, die zwar in der ehemaligen Karl-Marx-Universität das Unterste zuoberst kehrt, die Klinik aber in jeder Hinsicht bereit findet, die Chancen der deutschen Einheit und einer neuen Gesellschaftsordnung zu nutzen. Etwa Mitte der 1990er Jahre hat sich die Klinik auf die neuen Verhältnisse gut eingestellt und bietet den Patienten, die gegenüber den DDR-Zeiten auch deutlich höhere Ansprüche stellen, einen qualitativ hochwertigen Therapiestandard. In der Lehre und in der Forschung erringt die Klinik eine gute Position im Kanon der klinischen Fächer. Gegen Ende des alten Jahrtausends stößt die Klinik allerdings an ihre räumlichen Grenzen und sie bereitet sich auf den Umzug vor, der sie einige Jahre später in einer großzügig ausgestatten Einrichtung näher am Hauptklinikum sieht. Ich selbst, seit 2008 im Ruhestand, schätze mich glücklich, dass ich diese Zeit des Wandels und des Aufbruchs erleben und mitgestalten durfte.

6.6.1.2 Erdmuthe Fikentscher und Heinz Hennig: Die Gründung der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik und des Institutes für Medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1990–2000 Die Gründung der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin Die Umbruchzeit 1989/90 ermöglichte uns Psychotherapeuten an der Halleschen Universität viele Aktivitäten zu mehr Freiheit in Krankenbehandlung, Lehre und Forschung, aber auch außerhalb im Gestalten der politischen Rahmenbedingungen. Das brachte zahlreiche

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6.6  Schicksale stationärer und ambulanter Psychotherapie-Abteilungen nach der Wende

Aufgaben, Ämter und Verpflichtungen mit sich, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, die aber mit viel Elan von uns angegangen wurden. In der Medizinischen Fakultät gab es schon Anfang 1990 einen Umbruch, in geheimen Wahlen wurden die Leiter der provisorisch gebildeten Zentren bestimmt, um die alten Strukturen abzulösen. So wurde ich [Erdmuthe Fikentscher] Direktorin des Humanökologischen Zentrums, das alle Psychound Hygienefächer umfasste. Gleichzeitig fanden ab Herbst 1991 bis zum Sommer 1992 persönliche und fachliche Evaluierungen für alle akademischen und leitenden Mitarbeiter in Personalkommissionen statt, in die ich als stellvertretende Vorsitzende berufen wurde. Nach Einschätzung der persönlichen Eignung berief eine aus westdeutschen Professoren und ­Mitarbeitern des »Mittelbaus« der Einrichtungen zusammengesetzte Berufungskommission 25 C4- und C3-Professoren nach schriftlicher und mündlicher Vorstellung, die den weiteren Aufbau der Medizinischen Fakultät zu leisten hatten, das hieß, in akademischen Berufungskommissionen mitzuarbeiten bzw. diese zu leiten (ich hatte die Leitung von drei und in sieben weiteren mitzuwirken, auch an anderen Universitäten wie Jena und Leipzig). Die Struktur der Halleschen Medizinischen Fakultät war hinsichtlich der Ausstattung von Professuren sehr begrenzt konzipiert, da zwei Medizinische Fakultäten mit Vorklinik- und Klinikteil in dem kleinen Land Sachsen-Anhalt weiter bestehen sollten. Ich wurde im Sommer 1992 auf die C3-Professur für Psychotherapeutische Medizin und Psychosomatik berufen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es schon zahlreiche Aktivitäten der Neustrukturierung und qualitativen Verbesserung der theoretischen Ausbildung meiner Mitarbeiter, aber auch der Kollegen in ganz Halle/Saale und dem weiteren Umfeld, besonders für die psychologischen Kollegen, die sich niederlassen wollten und dafür in den »Richtlinien-Psychotherapien« nachqualifiziert werden mussten. Ein glücklicher Umstand führte dazu, dass Prof. Dr. Klaus Hoppe (1986) aus Los Angeles (USA), der nach der Fachausbildung in Deutschland als DPV-Psychoanalytiker Jahrzehnte in den USA gearbeitet und gelehrt hatte, zu uns nach Halle kam. Es gelang in schwierigen Verhandlungen mit der Universität, eine dreisemestrige Gastprofessur für ihn einzurichten. Anschließend war er, über 70-jährig, noch einige Jahre in Altenburg tätig. Damit schufen wir gute Möglichkeiten für Vorlesungen, Seminare und methodisch vertiefte praktische psychoanalytische und tiefenpsychologische Ausbildung (auch dyadische Selbsterfahrung, Lehranalyse und Supervision). Er begleitete die politischen und fachlichen Transformationsprozesse mit hohem Interesse und schrieb darüber auch zwei Theaterstücke. In den Aufbaujahren waren zahlreiche interessante Gäste zu Vorträgen, Vorlesungen, Seminaren oder Ausbildungskursen an der Klinik. Besonders gern erinnere ich mich an die wiederholten Besuche von Annelise Heigl-Evers, die uns als emeritierte Professorin wesentliche Impulse in analytischer Gruppentherapie gegeben hat (1995). Andererseits konnte ich auf Vortragsreisen auch das Interesse für unsere Arbeit besonders mit dem Katathymen Bilderleben wecken. Die vielfältige und umfangreiche Korrespondenz gibt ein anschauliches Bild dieser Aufbruchjahre. Im Sommer 1992 wurde durch Ablösung des bisherigen Lehrstuhlinhabers und Klinikdirektors, Helmut Späte, die C4-Stelle für Psychiatrie frei, die zunächst kommissarisch und dann nach dem Votum der Berufungskommission mit Prof. Dr. Andreas Marneros besetzt wurde. Inzwischen war eine klare Trennung und Verselbständigung der Klinik für Psychiat-

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rie, Klinik für Neurologie und der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik vorgenommen worden. In dem Strukturplan der Medizinischen Fakultät war die C3-Professur Medizinische Psychologie als Sektion der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik zugeordnet, was fachlich nicht gerechtfertigt war und umfangreiche Bemühungen zur Verselbständigung als Institut erforderlich machte, auch indem formal ein Zentrum für Psychiatrie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie gebildet wurde (die Interimszentren hatten sich mit den Neuberufungen aufgelöst). Aus den anfänglich sehr beengten räumlichen Verhältnissen ergab sich nach Umzug der Neurologie ins Klinikum Kröllwitz, das systematisch als neuer Hauptstandort der universitären Medizin in Halle ausgebaut wurde, die Möglichkeit, einen ganzen Pavillon mit drei Etagen für die Klinik zu sanieren. So entstanden ein stationärer und ein tagesklinischer Bereich. Die Mal- und Gestaltungstherapie, Bewegungstherapie und Musiktherapie hatten erstmals ausreichend räumliche Möglichkeiten, die durch die verschiedensten neuen Materialien mit Leben erfüllt werden konnten. Die Mitarbeiterzahl war deutlich gewachsen, zusätzlich konnten durch Forschungsprojekte im Laufe der Jahre bis zu 15 akademische Mitarbeiter an der Klinik tätig sein; es gab einen klinischen und poliklinischen Oberarztbereich. Schon 1991 führte ich die Vorlesung für Psychotherapie und Psychosomatik – entsprechend dem Gegenstandskatalog für die Medizinstudentenausbildung – ein (Fikentscher 1992). Daraus erwuchsen ab 1992 die zweistündige Hauptvorlesung und ein zweistündiges wöchentliches Praktikum sowie ergänzende Vorlesungen und Seminare. Unser Anliegen war von Anfang an, durch Patientenvorstellungen und Videos die Studenten sehr praxisnah und anschaulich auszubilden. Die Aufgeschlossenheit der Studierenden war groß und der Vorlesungsbesuch ebenso wie in der Medizinischen Psychologie sehr rege, die Mitarbeit der Studenten sehr interessiert, aber auch kritisch (Bahrke, Bandemer-Greulich u. Fikentscher 1999). Regelmäßig wurde die Wahlfachmöglichkeit in der AiP-Zeit zur Vertiefung der Kenntnisse genutzt. Von Anfang an gestaltete sich die inhaltliche Zusammenarbeit mit dem späteren Institut für Medizinische Psychologie sehr intensiv, sowohl was die Vernetzung der Lehre als auch der Forschung sowie der Aufgaben in Weiter- und Fortbildung von Ärzten und Psychologen betraf. Wichtige Höhepunkte waren gemeinsam gestaltete Tagungen. Schon im August 1990 war nach jahrelanger Vorarbeit – belastet durch behördliche einengende Vorgaben, z. B. mit vielen, auch für die geplanten bundesdeutschen und aus dem westlichen Ausland kommenden Teilnehmer auszufüllenden Antragsformularen – das Internationale Symposium »Psychotherapie mit dem Katathymen Bilderleben« ein emotionaler und fachlicher Höhepunkt (} Abschnitt 6.5.6), der nunmehr auch zur freien Veröffentlichung aller Tagungsbeiträge führte (Hennig, Fikentscher u. Rosendahl 1992; Leuner, Hennig u. Fikentscher 1993). Weitere gemeinsame große Tagungen, die von uns in Zusammenarbeit mit der Mitteldeutschen Gesellschaft für Katathymes Bilderleben gestaltet wurden, waren der große Internationale Kongress »Kurzzeitbehandlung und Krisenintervention in der Psychotherapie und Psychosomatik« 1995 in Halle (Hennig u. Fikentscher 1996), wo sich Vertreter aller wesentlichen methodischen Ausrichtungen – von Verhaltenstherapie bis Psychoanalyse – zum kritischen und anregenden Dialog trafen sowie das Internationale Symposium »Kränkung und Krankheit – Katathym-Imaginative Psychotherapie bei somati-

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schen Erkrankungen und Missbrauchstraumen« im Juni 2000. Die Beiträge des Kurzzeit­ psychotherapiekongresses erschienen 1999 schon in zweiter, überarbeiteter Auflage. 2001 erschien – herausgegeben von Bahrke und Rosendahl – »Psychotraumatologie und Katathym-Imaginative Psychotherapie«. Neben diesen großen Kongressen gestalteten wir in der Klinik regelmäßig Fachtagungen zu bestimmten Themen. Dabei lag uns auch der Kontakt zu den ambulant praktizierenden Kollegen am Herzen, ihre Fragen und Probleme wurden aufgegriffen. Zwei Buchveröffentlichungen sind ein Beispiel dafür (Fikentscher u. Bahrke 1997; Konzag u. Fikentscher 1997). Mit wesentlichen Beiträgen gestalteten wir auch die Tagungen der in den neuen Bundesländern gegründeten »Deutsche Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie« (DGAPT), die wiederum auch eng mit dem Mitteldeutschen Institut für Psychoanalyse (MIP) kooperierte. Besonders lag mir am Herzen, die Forschungsaktivitäten sowohl breit gefächert als auch auf einem soliden methodischen Boden systematisch auszubauen. Die Themen reichten von Untersuchungen der Auswirkung des gesellschaftlichen Wandels auf Psychotherapiepatienten, besonders im Ost-West-Vergleich (Bahrke et al. 2000; Fikentscher et al. 1992, 1994, 1998, 2000a, 2000b; Konzag u. Fikentscher 1993, 1994, 1997, 1998; Konzag et al. 2000a, 2000b, 2001; Schadeberg et al. 2000), der Traumatisierung bei politisch Verfolgten in der DDR und deren langfristige Folgen (Bandemer-Greulich et al. 1998; Fikentscher 1996, 1997; Fikentscher et al. 1996, 1997; Lukas u. Fikentscher 1994), verschiedenen Projekten zu Essstörungen (Bahrke u. Fikentscher 1997). Als wesentlichen Forschungsschwerpunkt entwickelten wir Projekte zur Untersuchung des chronischen Rückenschmerzes und der Optimierung der Rehabilitationszuweisung (Bahrke, Fikentscher u. Walliser 1997). Besonders in Zusammenarbeit mit orthopädischen Kollegen bearbeiteten wir Fragestellungen einer multiprofessionellen Rehabilitation (Uhlemann et al. 2001) auf der Grundlage mehrerer Drittmittelprojekte. Daraus erwuchs auch ein Forschungsverbund (Slesina u. Fikentscher 1998). In den klinischen Arbeiten bildeten Untersuchungen zur Behandlung mit der KatathymImaginativen Psychotherapie eine wichtige Rolle (Fikentscher u. Küster 1999; Fikentscher u. Henze 2001), wir beteiligten uns an einer multizentrischen Evaluationsstudie zur KIP, die Ulrich Bahrke jahrelang wesentlich betreute (Bahrke 1997). Besonders anregend war für mich die jahrelange Mitarbeit bei der Herausgabe der Fachzeitschrift »Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie« sowie die Herausgabe der Reihe »Psychosoziale Medizin« im Hogrefe-Verlag zusammen mit Prof. Dr. Elmar Brähler, ab dem vierten Band zusätzlich mit Prof. Dr. Bernhard Strauß. Bis zum Jahr 2000 wurden sieben Bände herausgegeben. Die Themen waren vielfältig und die dargestellten Untersuchungen waren hinsichtlich des Theoriehintergrundes und der Methodik sehr fundiert. Während meiner Arbeit als Prorektorin für Forschung und Nachwuchsförderung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg konnte ich in meiner Klinik ein Videolabor mit guter Aufnahmetechnik sowie Beobachtungsraum mit Einwegspiegel einrichten. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten haben wir vielseitig für die Ausbildung der Medizinstudenten, aber auch der Kollegen in der Weiter- und Fortbildung genutzt. In Zusammenarbeit mit dem Medienzentrum der Universität und dem Mitteldeutschen Rundfunk (MDR)

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entstanden mehrere Filme (} Abschnitt 6.5.6), u. a. zur Durchführung des Katathymen Bilderlebens einzeln und in der Gruppe sowie Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen, die auch für die verschiedensten Ausbildungsaufgaben sehr nützlich waren.

Die Gründung des Institutes für Medizinische Psychologie Aus der 1993 mit meiner [Heinz Hennig] Berufung zum Professor für Medizinische Psychologie entstandenen Sektion Medizinischen Psychologie wurde nach einigen Kämpfen am späteren Zentrum für Psychiatrie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie 1995 das Institut für Medizinische Psychologie gegründet und ich wurde zum Direktor des Institutes ernannt. Über die eigenen vielfältigen Lehranforderungen dieser Fachdisziplin hinaus war die Arbeitsweise des Institutes von Beginn an durch eine enge Kooperation insbesondere mit der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik verbunden. Diese Verbundenheit der Medizinischen Psychologie mit der Psychotherapie und der Psychosomatik ergab sich schon allein dadurch, dass sich sowohl in den Gegenstandskatalogen dieser Fachdisziplinen für die Lehre als auch für die klinische Forschung und Versorgung eine Reihe von beabsichtigten Interferenzen ergeben. Nicht zuletzt kommt der Medizinischen Psychologie im Rahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung von ärztlichen und Psychologischen Psychotherapeuten eine besondere Bedeutung zu. Ohne das in medizinischen Fachdisziplinen unverzichtbare Junktim von Lehre und Praxis wird die Medizinische Psychologie ihrer Aufgabe, zum einen eine spezielle angewandte Psychologie zu sein und zum anderen als Querschnittdisziplin in der Medizin zu wirken, nicht gerecht. Die Medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät in Halle hat ihren Ursprung in dem 1971 vom damaligen Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Neurologie, Prof. Dr. Rennert, erteilten Auftrag an mich, eine zunächst fakultative Lehrveranstaltung (Vorlesung) »Psychologie in der Medizin« zu übernehmen. Diese Lehrveranstaltung löste die damalige einstündige Vorlesung zur Medizinischen Psychologie innerhalb des Lehrangebotes für Psychiatrie für Studierende der Medizin ab. H. Rennert (1987) förderte diese Fachdisziplin seinerzeit nachhaltig. Er erkannte sehr bald die Emanzipation dieser Fachdisziplin von der Psychiatrie und ihre Bedeutung als Querschnittdisziplin in der gesamten Medizin. Als Vorsitzender der Sektion Medizinische Psychologie in der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie in der DDR organisierte er 1971 ein international hochkarätig besetztes Symposium »Medizinische Psychologie« nicht nur als »Bestandsaufnahme der Medizinischen Psychologie«, sondern vorrangig, um »mittels eines größeren Forums eine Gelegenheit zu schaffen, dass sich Mediziner und Psychologen in ihrem letztlich gemeinsamen Anliegen [...] besser kennen und verstehen lernen« (Rennert, Liebner u. Rösler 1972). 1977 mündete dann diese Lehrveranstaltung in das vom damaligen Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR (MHF) vorgegebene Lehrprogramm für das Lehrgebiet Medizinische Psychologie zur Ausbildung in den Grundstudienrichtungen Medizin und Stomatologie (MHF 1977), das 1982 durch differenzierte Lehrprogramme ergänzt wurde. Schon seinerzeit war es stets mein Anliegen, den Studierenden eine praxisrelevante Medizi-

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nische Psychologie nahezubringen, die Forschung in enger Kooperation mit den konservativen und operativen somatischen Fachdisziplinen zu gestalten und die psychotherapeutische Praxis für das Fach zu garantieren (Hennig 1992). Zur täglichen Routinearbeit aller Mitarbeiter in der seinerzeitigen Klinischen Psychologie, der späteren Arbeitsgruppe Medizinische Psychologie, zählten daher psychodiagnostische und psychotherapeutische Versorgungsleistungen, wobei sich vorzugsweise tiefenpsychologisch orientierte und psychodynamische Konzepte bzw. Interventionen zu Schwerpunkten im Halleschen Institut herausbildeten. In der personellen Besetzung mit qualifizierten Diplom-Psychologen (nach 1981 in der DDR Fachpsychologen der Medizin) habe ich konsequent auf eine solide psychotherapeutische Qualifikation geachtet, die neben sachkundigen empirischen Psychologiekenntnissen und überzeugender Vermittlung des medizinpsychologischen Wissensstandes an Studierende der Medizin einen hohen Stellenwert hatte. Nach intensiven Vorstandsverhandlungen vereinigten sich im Verlauf der Frühjahrstagung am 10. Mai 1991 in Berlin die bisherige Sektion Medizinische Psychologie der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) in den neuen Bundesländern mit der Gesellschaft für Medizinische Psychologie (GMP) aus der alten BRD zur »Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie« (DGMP). Die Entwicklung der Fachdisziplin in der DDR wurde in einem gemeinsamen Referat von Ehle, Szewczyk, Rösler und mir (1991) vorgestellt. Bereits hier zeigte sich der in vielfacher Weise eher klinisch-praxisorientierte Ansatz des bisherigen Fachkonzeptes in der DDR, wenngleich die grundsätzlichen theoretischen Orientierungen in Ost- und Westdeutschland nicht wesentlich voneinander abwichen. Schon in der Herbsttagung der neuen Gesellschaft des Jahres 1991, die von der Abteilung Medizinische Psychologie an der Universität in Halle/ Saale gemeinsam mit der DGMP ausgerichtet wurde, konnten eher psychodynamisch-­ psychotherapeutisch konzipierte Themen und Arbeitskreise eingebracht werden, die dann über ein Jahrzehnt die Diskussion zur Ausrichtung der Fachdisziplin mitprägten. Beispielhaft seien die Themen der Vorträge von W. Pieringer (Graz) »Krankheit als kreativer Prozess« und mein eigener »Quo vadis – Medizinische Psychologie« genannt. Die Arbeitskreise »Medizinpsychologische Dienste« (H. Pohlmeier, Göttingen, und H. Hennig, Halle) sowie »Haut und Psyche« (K.-M. Taube, W. Rosendahl und D. Selle, Halle) wurden wesentlich von diesem klinisch orientierten Konzept geprägt. Der späterhin von H. Pohlmeier und mir inangurierte Arbeitskreis »Der Mensch in der Krise« (späterhin auf der Jahrestagung der DGMP in Münster 1997 umbenannt in »Krisenintervention und Medizinische Dienste«) arbeitete über fast ein Jahrzehnt erfolgreich in der Mitgestaltung des Faches als eine klinische Disziplin. Auch die unter hallenser Federführung veranstalteten Symposien »Ost-WestAspekte I und II« (H. Hennig und W. Slesina) anlässlich des gemeinsamen Kongresses der DGMP mit der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Soziologie (DGMS) 1996 in Leipzig waren nicht unwesentlich psychotherapeutisch beeinflusst. Sowohl in der Lehre als auch in der Forschung dominierten Themenstellungen mit möglichst praxisrelevanten klinischen und vorwiegend psychodynamisch orientierten Inhalten, die meist unmittelbar oder mittelbar psychotherapeutische Interventionen berührten. Die Akzeptanz entsprechend gestalteter Lehrveranstaltungen des Faches durch die Studierenden an der Medizinischen Fakultät ließ sich seinerzeit nicht nur in den übervollen

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Hörsälen ablesen, sondern war mit entsprechenden Evaluierungsstudien zu belegen (Selle, Rosendahl u. Hennig 1999). Eine Reihe von Arbeitstagungen spiegeln diese psychodynamisch-therapeutische Konzeption der Medizinischen Psychologie an der Universität in Halle ebenso wider wie zahlreiche drittmittelgeförderte Projekte, die letztlich in unterschiedlichen medizinischen bzw. psychologischen Dissertationen und Buchpublikationen (u. a. Rosendahl 1995; Dauer u. Hennig 1999) mündeten. Schließlich ragt hier ein gemeinsames von der Volkswagen-Stiftung gefördertes Projekt zwischen dem Institut für Medizinische Psychologie an der Medizinischen Fakultät in Halle und der Medizinischen Fakultät an der Universität Tartu in Estland mit dem Titel »Medizinische Psychologie in der klinischen Praxis« heraus. In einem gemeinsamen Symposium im Jahr 1997 wurden in Tartu (Estland) strukturelle und inhaltliche Entwicklungen des Faches diskutiert und in einem Leitfaden in deutscher und estnischer Sprache publiziert (Rosendahl, Hennig u. Saarma 1997). Zusammenfassend wird nochmals auf das ausgeprägt integrative und interdisziplinäre Verständnis des Faches am damaligen Institut für Medizinische Psychologie an der Universität in Halle verwiesen, das mit seiner Einbettung in das damalige Zentrum für Psychiatrie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie seine klinischen Traditionen bewahrt und weiterentwickelt hatte, ohne das Vermitteln eines soliden psychologischen Grundwissens für Studierende der Medizin zu vernachlässigen.

6.6.2 Schicksale stationärer Psychotherapie-Abteilungen Sachsens vor und nach der Wende 6.6.2.1 Helmut Röhrborn: Vorbemerkung Der heutige Freistaat Sachsen umfasst im Wesentlichen das Gebiet der drei Bezirke Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt), Dresden und Leipzig. In allen Bezirken gab es in der Endzeit der DDR stationäre Psychotherapie-Abteilungen außerhalb der psychiatrischen Fachkrankenhäuser mit sehr unterschiedlicher Geschichte. Auf dem Gebiet des heutigen Freistaates existierten fünf solcher Einrichtungen, die, selbständig geleitet, als Fachkliniken für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im heutigen Sinne angesehen werden können. Das waren im Bezirk Leipzig die Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung der Klinik für Psychiatrie der KarlMarx-Universität, die unter Psychotherapeuten legendäre »KT«, benannt nach dem Standort Karl-Tauchnitz-Straße in Leipzig (Prof. Dr. Geyer), im Bezirk Dresden die psychotherapeutische Abteilung des Bezirkskrankenhauses Dresden-Neustadt (Chefarzt Dr. Blum), im Bezirk KarlMarx-Stadt die Pawlow-Klinik Augustusburg (Chefarzt Stopat), die Abteilung für klinische Rehabilitation und Psychosomatik-Klinik Riedstraße des Bezirkskrankenhauses »Friedrich Wolf« Karl-Marx-Stadt (Chefarzt Dr. Röder) und, im gleichen Bezirk gelegen, aber zum Gesundheitswesen Wismut gehörend, die Klinik für funktionelle Erkrankungen des Bergarbeiterkrankenhauses »Dr. Georg Benjamin« in Erlabrunn (Chefarzt Dr. Röhrborn). Stationäre Psychotherapie war aber selbstverständlich nicht auf diese fünf Abteilungen beschränkt. So gab es stationäre Psychotherapie sowohl durch einzelne Nervenärzte und

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andere Mitarbeiter auf den Stationen als auch in strukturell abgehobenen Abteilungen in den Fachkrankenhäusern/Fachkliniken für Psychiatrie und Neurologie, aber auch in Kliniken anderer Fachgebiete. Es muss in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass mit dem Zweitfacharzt für Psychotherapie, den Fachärzte klinischer Fächer erwerben konnten, eher die Gemeinsamkeiten der Psychotherapie und Psychotherapeuten betont wurden. Die spätere Trennung in die Fächer Psychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatische Medizin und Psychotherapie deutete sich allenfalls an. Eines hatte alle Psychotherapie in den Krankenhäusern gemeinsam. Sie war nicht bindend in den Strukturen des Gesundheitswesens vorgesehen, sondern es gab sie dort, wo engagierte Enthusiasten den notwendigen Kampfgeist und langen Atem aufbrachten, mit dem sie sich in der Medizin und den staatlichen Strukturen durchzusetzen vermochten. Daneben bedurfte es aber auch einer gehörigen Portion Glück und regional günstiger Umstände, damit solche Bemühungen dauerhaft Erfolg hatten. Die folgenden Beispiele sollen das verdeutlichen. Nach der Wende wurde an der Universität Dresden endlich ein Lehrstuhl für das Fachgebiet mit Klinik und Poliklinik geschaffen (Prof. Dr. Joraschky). In den Städtischen Kliniken Görlitz, ehemals Bezirkskrankenhaus wurde die östlichste Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Deutschlands eingerichtet (Chefarzt Dr. Rothe). Es entstanden mehrere psychosomatische Rehabilitationskliniken. Ein wichtiger Impuls für die stationäre Psychotherapie/Psychosomatik in Deutschland ging 1993 von Sachsen aus. Durch mehrere günstige Umstände befördert, konnte, unter Federführung von Professor Geyer für diesen Abschnitt, erstmals in einem Landesbettenplan die Psychotherapie/Psychosomatik als bettenführende Hauptfachabteilung mit Richtzahlen für Bettenbedarf und durchschnittliche Verweildauer ausgewiesen werden (Krankenhausplan 1994). Trotz einer lebhaften Fachdiskussion über die Richtzahlen, die sich aus den tatsächlichen Verhältnissen in Sachsen und einem notwendigen Kompromiss mit den Forderungen der Administration erklärten, folgten die anderen Bundesländer nach und nach dem sächsischen Beispiel. Von den stationären Abteilungen für Psychotherapie, aus ideologischen Gründen war in der DDR die Bezeichnung »Psychosomatik« nicht üblich, gingen vor allem im letzten Jahrzehnt vor der Wende trotz aller ideologischer und materieller Hemmnisse vielfältige Impulse fachlicher und organisatorischer Art für die Psychotherapie im jeweiligen Umfeld und darüber hinaus aus. Neben der stationären Psychotherapie waren das ambulante und konsiliarische Patientenbetreuung, Kurse in Psychotherapie für Ärzte und andere medizinische Fachkräfte, Aus- und Weiterbildung der Klinischen Psychologen in Psychotherapie und vieles andere. Erinnert sei auch daran, dass mit der staatlichen Weiterbildung zum Fachpsychologen der Medizin diese einen ähnlichen Stellenwert bekommen hatten wie die der Ärzte. Auch in den Regionalgesellschaften für Ärztliche Psychotherapie der Bezirke waren die Klinikmitarbeiter organisatorisch und fachlich vertreten. Von den fünf Krankenhausabteilungen der Psychotherapie/Psychosomatik, die es zum Zeitpunkt der Wende in Sachsen gab, existieren zwei heute nicht mehr. Aber auch deren Geschichte steht exemplarisch für die stationäre Psychotherapie in der DDR. Leider können hier keine originären Berichte der damaligen Leiter folgen. Allerdings konnte ich ein sehr

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ausführliches Gespräch mit dem Chefarzt in Ruhe der Klinik für Psychotherapie »I. P. Pawlow«, Wilfried Stopat, führen, auf dem die folgende kurze Darstellung beruht. Im Zuge der Gründung von sog. Schlaftherapie-Kliniken Mitte der 1950er Jahre in der DDR wurde diese Klinik im Bezirk Karl-Marx-Stadt eingerichtet. In dem ruhigen Erholungsort Augustusburg stand ein Haus zur Verfügung, das, als Erholungsheim vor dem Ersten Weltkrieg für die sächsische Gendarmerie gebaut, im Zweiten Weltkrieg als Lazarett und danach als Allgemeinkrankenhaus gedient hatte. 60 Betten standen hier für die Schlaftherapie zur Verfügung. Chefärztin von 1955 bis 1965 war eine Internistin, Frau Dr. med. von Klitzing. Nach Übernahme der Leitung durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Wilfried Stopat wurde durch ihn die forcierte Ruhebehandlung rasch in ein überwiegend auf Gruppenpsychotherapie beruhendes aktivierendes und konfliktbearbeitendes, später klar psychodynamisches Konzept überführt. W. Stopat war Teilnehmer der ersten Selbsterfahrungskommunität bei Kurt Höck, so dass folgerichtig dessen Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie die methodische Grundlage der Arbeit war. Differenzierte Begleittherapien wie Rollenspiele, Maltherapie, Gestaltungstherapie, Bewegung nach Musik, Kommunikative Bewegungstherapie ergänzten die täglichen Gruppenpsychotherapiesitzungen. Trotz stets knapper personeller Besetzung und der Notwendigkeit, die Mitarbeiter auch selbst für ihre Aufgaben zu befähigen, konnte mit 48 Betten diese intensive Gruppenpsychotherapie bis nach der Wende fortgeführt werden. Die Klinik war bei Einweisern, Fachpsychotherapeuten, Patienten und der Bevölkerung bekannt und hoch geachtet. Die »PawlowKlinik« war ein Begriff. Nach der Wende allerdings wurde es immer schwieriger, die Klinik, zudem einziges Krankenhaus des Kreises Flöha, als selbständige Einrichtung zu erhalten. Der Übergang im Jahre 1997 in das Kreiskrankenhaus Zschopau, in dem erstmals eine psychiatrische Abteilung von Chefarzt Dr. G. Wagner aufgebaut wurde, war somit folgerichtig. Ende 1996 ging Chefarzt W. Stopat in den Ruhestand. Kurzzeitig übernahm ab 1. Januar 1997 Chefarzt G. Wagner die Leitung der Klinik. Diese zog dann Mitte desselben Jahres mit Patienten und Personal in die neue Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Krankenhauses Zschopau. Damit fand allerdings die Geschichte der selbständigen Psychotherapie-Klinik mit psychosomatischem Hintergrund ihr Ende. Auch über die Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus Karl-Marx-Stadt kann kein eigener Beitrag folgen. Durch den Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Psychotherapie Dr. med. H. Röder wurde am Klinikum Küchwald 1983 innerhalb der Medizinischen Klinik eine Psychotherapie-Abteilung aufgebaut. Erstmals in der DDR wurde sie auch offiziell als Psychosomatische Abteilung bezeichnet (Röder 2008). Diese Abteilung wurde wenige Jahre vor der Wende im Verbund mit einer Abteilung für kardiologische Rehabilitation unter schwierigen materiellen Bedingungen die Keimzelle der selbständigen Klinik Riedstraße für klinische Rehabilitation und Psychosomatik des Bezirkskrankenhauses (Chefarzt Dr. H. Röder). Die Arbeitsweise war ebenfalls klar psychodynamisch ausgerichtet mit Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, aber auch Einzelpsychotherapie. Leider konnte diese Klinik nicht als stationäre Krankenhausabteilung der Psychosomatik erhalten werden. Sie wurde mit Jahresbeginn 1994 an einen privaten Träger übergeben. Heute steht dort der Neubau einer Klinik für psychosomatische Rehabilitation mit verhaltenstherapeutischer Ausrichtung.

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Über die Universitätsklinik für Psychotherapie und Psychosomatik Leipzig wurde in diesem Buch bereits in den entsprechenden Abschnitten der Kapitel 2 bis 6 ausführlich berichtet. Gerade von dieser Klinik gingen seit ihrer Gründung vielfältige, die Psychotherapie der DDR prägende Impulse aus. Sie haben auch die sächsischen Einrichtungen nachhaltig beeinflusst. So habe auch ich während einer Hospitation Ende der 1970er Jahre in der »KT« viele Anregungen erhalten, die auch den Aufbau der Erlabrunner psychosomatischen Klinik beförderten. Von den fünf Krankenhaus-Abteilungen der Psychotherapie/Psychosomatik, die es zum Zeitpunkt der Wende in Sachsen gab, existieren also zwei nicht mehr. In den folgenden Abschnitten wird über zwei Kliniken, die nach der Wende ihren Wirkungsbereich vergrößern konnten, von den ehemaligen Leitern berichtet. Auch mit Blick auf die neuen Kliniken in Dresden und Görlitz ist somit eine positive Bilanz der Entwicklungen im Freistaat Sachsen festzustellen.

6.6.2.2 Helmut Röhrborn: Psychotherapie im peripheren Versorgungskrankenhaus – Die Erlabrunner Psychosomatik Über die Anfänge der Psychotherapie/Psychosomatik hatte der erste fachliche Leiter, Dr. phil. Siegfried Schnabl, in }  Abschnitt 2.6.3 berichtet. Das Erlabrunner Bergarbeiterkrankenhaus, erster Krankenhausneubau in der DDR, verdankt seine Entstehung dem Uranbergbau. 1972 wurde die Psychotherapie-Abteilung aus der I. Medizinischen Klinik herausgelöst und als Zentrale Klinik des Gesundheitswesens Wismut erweitert. Erste Chefärztin der Klinik für funktionelle Erkrankungen war von 1972 bis Ende 1978 Frau MR Dr. med. Margita Janke, der ich am 1. Januar 1979 folgte. Der Name orientierte auf funk­ tionelle Krankheitsanteile, vermied den damals ideologisch problematischen Begriff »Psychosomatik« und war durch Vermeidung des mit Vorurteilen beladenen Wortes »Psychotherapie« Schutz für Patienten. Ein eindeutiger Versorgungsauftrag verpflichtete dazu, alle von Ärzten des Gesundheitswesens Wismut zugewiesenen Patienten mit somatisch nicht ausreichend beeinflussbaren Krankheitsverläufen zu diagnostizieren und im Fall nachweisbarer funktioneller und psychogener Anteile auch zu behandeln. Anfangs lag ein Schwerpunkt entsprechend den Forderungen der übergeordneten Leitung auf sportlichen und konditionierenden Maßnahmen in Verbindung mit Entspannungstherapie, insbesondere dem Autogenen Training. Der bisherigen Arbeitsweise folgend stand aber Einzeltherapie durch psychotherapeutische Gespräche im Vordergrund. Kontinuität war auch durch den Klinischen Psychologen Dr. H. Schirbock gegeben, der seit 1963 mit Dr. Schnabl das Profil der Abteilung geprägt hatte. Eine Auswahl gut psychotherapeutisch behandelbarer neurotisch Kranker und Abweisung anderer war nicht möglich, da Betriebsangehörige aufgenommen werden mussten. Für die Verantwortlichen der Klinik galt das auch für alle anderen Patienten, mehr als zwei Drittel der Belegung. Alle wurden einer umfassenden körperlichen und psychologischen Diagnostik unterzogen. Durch die zur Verfügung stehenden Mittel des großen Krankenhauses mit für DDR-Verhältnisse guter medizintechnischer Ausstattung, die Herkunft der ärztlichen Kollegen aus der Inneren Medizin sowie ein mit psychologischer Testdiagnostik und

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zwei psychologisch-technischen Assistentinnen gut ausgestattetes psychodiagnostisches Labor war das gut möglich. Ab Ende der 1970er Jahre wurde die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie nach Höck eingeführt. Rasch zeigte sich allerdings, dass nur einem Teil der Patienten mit dieser Methode zu helfen war. Für viele ältere Patienten mit funktioneller Organsymptomatik ohne Psychogenese-Einsicht (heute somatoforme Störungen) musste ein anderes Vorgehen gewählt werden. So wurde schrittweise ein eigenes Konzept entwickelt, das, als symptomzentrierte Gruppenpsychotherapie bezeichnet, mit Regulativer Musiktherapie nach Schwabe und Begleittherapien einschließlich täglicher Gruppengespräche arbeitete. Die Bezeichnung ging zurück auf das von Schwabe (1983) formulierte Kausalitätsprinzip der Gruppenpsychotherapie. Davon ausgehend legten Kunz und Röhrborn (1991) eine Erweiterung für die gesamte Psychotherapie unter der Bezeichnung »Tätigkeitstheoretische Charakteristik psychotherapeutischen Handelns« vor. Mit dem Wesen symptomzentrierter und persönlichkeitszentrierter Psychotherapie hatten wir uns schon seit Anfang der 1980er Jahre auseinandergesetzt (Röhrborn 1987). Hier fand sich die theoretische Basis für das differenzierte Methodenspektrum der Klinik. Das Profil der Klinik war Mitte der 1980er Jahre ausgestaltet. Keinen angemeldeten Patienten als ungeeignet abzuweisen war von allen akzeptiertes Prinzip. Jeder wurde nach Aufnahme einer ein- bis zweiwöchigen Diagnostik durch einen Arzt und einen Psychologen unterzogen. Danach folgte eine Fallkonferenz, in der beide Diagnostiker ihre Sicht ausführlich vortrugen. Im Ergebnis wurden eine Diagnose als handlungsleitende Hypothese sowie eine psychodynamische Kurzformel erarbeitet, die psychotherapeutische Strategie und der behandelnde Psychotherapeut festgelegt sowie das Therapieprogramm zusammen mit dem Patienten in einem Therapievertrag fixiert. Für die Therapie standen die beiden nach heutiger Terminologie als tiefenpsychologisch zu bezeichnenden Gruppenpsychotherapie-Konzeptionen in geschlossenen Gruppen mit zweimaliger stationärer Nachbehandlung von je einer Woche im Halbjahresabstand, verschiedene Einzeltherapien, auch mit konfliktzentrierten und verhaltenstherapeutischen Anteilen, klassische Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie, Entspannungstherapien, Hypnotherapie, Ergotherapie mit Gestaltungs-, Mal- und sog. Beschäftigungstherapie, Bewegungstherapien und psychotherapeutisch orientierte Physiotherapie und überwiegend rezeptive Musiktherapie zur Verfügung. Zum Grundprogramm für alle Patienten gehörten Autogenes Training, zweimal täglich zur Einleitung der Ruhezeiten mit Musik eingeleitete Tonband-Fremdsuggestionen in den Krankenzimmern, eine abendliche Besinnliche Stunde (rezeptive ungerichtete Einzelmusiktherapie) sowie körperliche Konditionierung durch Frühsport, Gymnastik und Wandern in Leistungsgruppen. Diese intensive und individuelle Therapie ermöglichte eine erfolgreiche Behandlung auch bei chronifizierten Krankheitsbildern. Zunehmend wurden komplizierte Patienten auch aus renommierten psychiatrischen Kliniken überwiesen. Trotz langer Behandlungsdauer, auch in der DDR ein Ärgernis für Kostenträger und Bergbaubetriebe, konnte die durchschnittliche Verweildauer für eine Psychotherapie-Klinik scheinbar niedrig gehalten werden. Das aber war dem statistischen Effekt durch Wartezeiten nach Diagnostik auf den Therapiebeginn in den geschlossenen Gruppen und den Gruppennachbehandlungen

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geschuldet. Erfolgreiche Arbeit und ein überregional guter Ruf der Klinik ließen die Wartezeiten steigen. Diese betrugen vor der Wende bei nicht dringlichen Fällen tatsächlich mehr als ein Jahr. Sie waren ein ständiger Albtraum für die Verantwortlichen der Klinik. Räumliche Enge, Möbel aus den 1950er Jahren, eine uralte Beschallungsanlage für die Krankenzimmer, ein einziges Fernsehgerät, selbstverständlich schwarz-weiß, nur mit dem ersten Programm des DDR-Fernsehens in schlechter Qualität, kein Telefon für Patienten prägten die bescheidenen materiellen Bedingungen. Aber die notwendigen Improvisationen und die Beteiligung von Patienten bei Arbeiten ließen ein Miteinander entstehen, das im Fall des Gelingens wie von Konflikthaftigkeit therapeutisch genutzt werden konnte. 1989 wurden retrospektiv die kompletten Patientenjahrgänge 1985/86 ausgewertet. Das ergab zum Teil Überraschendes. Der Altersdurchschnitt war höher als in anderen Psychotherapie-Kliniken, der Männeranteil mit 45,7 % sehr hoch, geschuldet der Arbeit im Betriebsgesundheitswesen des Männerbetriebes Bergbau. Ca. 40 % der Patienten wurden nach einem der beiden Gruppenpsychotherapie-Konzepte behandelt, aber bei 30 % erfolgte eine individuell unterschiedliche Einzelpsychotherapie. Nach minimal zwei, maximal fünf Jahren erfolgte eine schriftliche Nachbefragung aller Patienten. Bei einer hohen Antwortquote von 71,5 % gaben 72,7 % einen Dauererfolg an. Dabei waren die Erfolgsangaben bei den beiden Gruppenpsychotherapie-Konzepten am höchsten. Wir sahen unsere differenzierte Arbeitsweise in der Klinik damit als in der Praxis bestätigt an (Röhrborn 1996a). So ging die Klinik in den Umbruch der Jahre 1989 und 1990. Erster Erfolg war es, handstreichartig Zimmer und besseres Mobiliar einschließlich eines Farbfernsehers der sog. Dispensaire-Station für höhere Leitungskader der SDAG Wismut zu übernehmen. Dazu musste ein vor Jahren zugesetzter Gang wieder geöffnet werden. Der Zuwachs an Kapazität war uns bei den langen Wartelisten sehr willkommen. Natürlich gab es auch Versuche und Wünsche, die Psychotherapie im Krankenhaus zu liquidieren. Die bösesten Spitznamen der Klinik waren über Jahre »Faultier-Farm« und »Klinik für erkrankte Funktionäre«. Dabei fanden sich unter den Patienten kaum Funktionäre, die meist Stigmatisierung fürchteten, dafür aber überdurchschnittlich viele Arbeiter und Lehrer, die unter ihrem Beruf litten. Von der anderen Seite her blickten Vertreter einer psychosomatischen Rehabilitation, die es vor der Wende in der DDR nicht gab, begehrlich auf die Klinik, die sie gern aus dem Verbund des Krankenhauses herausgelöst und mit Schwimmbad, aber wenig psychotherapeutischem Personal versehen, zu einer Abteilung für Psychosomatische Rehabilitation umstrukturiert hätten. Dank der Unterstützung des neuen Trägers, des Landkreises Schwarzenberg, konnte beides verhindert werden. In der Folgezeit schmolzen die Wartelisten ab, aber trotz schrittweiser Erhöhung der Bettenzahl blieb es bei zwar kürzeren, aber im Einzelfall schmerzhaften Wartezeiten. Nach und nach besserten sich auch die materiellen Bedingungen. Ab Mitte der 1990er Jahre erhielt die Klinik durch Bettenabbau in anderen Kliniken des Hauses immer mehr Räume. Drei Stationen konnten rekonstruiert werden, die ersten Zimmer erhielten Nasszellen, und eine große Abteilung mit ausreichend Platz für Ergotherapie, Musiktherapie und psychotherapeutische Physiotherapie wurde eingerichtet. Vorher stand für Gestaltungs- und Kunsttherapie nur eine alte Infektionsschleuse zur Verfügung. Holzplatten auf zwei Badewannen ermöglichten in großer Enge Arbeitsplätze, auch für Gruppen. Selbst Rollstuhlfahrer mussten hier einge-

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gliedert werden. Nach langem Zögern erhielt das Krankenhaus Fördermittel für die Klinik – sicher nicht ursächlich, aber zeitlich nach einem Besuch des Sächsischen Staatsministers für Soziales und Gesundheit, der durch den vollbesetzten Raum geschleust wurde. Neue Mitarbeiter kamen hinzu, u. a. auch Kolleginnen und Kollegen aus den alten Bundesländern. Durch die Einstellung von Musiktherapeutinnen konnte ein eigener Arbeitsbereich Musiktherapie aufgebaut werden. Musiktherapie hatte die Klinikarbeit seit Ende der 1970er Jahre als Besonderheit ausgezeichnet, mit »Besinnlicher Stunde«, Weckmusiken und vor allem der Regulativen Musiktherapie. Nach der Wende wurde rasch ein umfangreiches musiktherapeutisches Konzept mit einer Reihe von Methoden der aktiven Musiktherapie aufgebaut. Nach der Wende brachen traditionelle Einweisungsbereiche weg, neue kamen hinzu, besonders aus den Regierungsbezirken Chemnitz und Dresden. Fast schlagartig stieg die Zahl der Patienten mit depressiven Dekompensationen und Ängsten, mit Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten, oft bei emotional instabiler Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Patientinnen mit Bulimia nervosa kamen erstmals Anfang der 1990er Jahre in die Klinik. Viele Patienten waren arbeitslos, zu DDR-Zeiten eine seltene Ausnahme (Röhrborn 1993). Das bis Ende der 1980er Jahre ausdifferenzierte Klinikkonzept erwies sich den neuen Anforderungen gewachsen. Allerdings änderten sich die Fachsprache und damit die Bezeichnungen der Therapieverfahren. So war das Konzept jetzt als überwiegend tiefenpsychologisch fundiert einzuordnen unter differentialdiagnostisch begründeter Einbeziehung von wesentlichen Elementen der Verhaltenstherapie und anderer Konzeptionen. Beide Gruppenpsychotherapie-Konzepte konnten erhalten werden, auch die Arbeit mit geschlossenen Gruppen und den zweimaligen stationären Nachbehandlungen. Die Ergebnisse blieben gut, wie im Rahmen einer umfangreichen Studie belegt werden konnte (Wosch und Röhrborn 2009). Ab Mitte der 1990er Jahre wurden ohne grundlegende Veränderungen Differenzierungen der therapeutischen Verfahren möglich. Nach dem Vorbild der Musiktherapie-Konzeption wurden Konzeptionen der Ergotherapie und der psychotherapeutischen Physiotherapie ausgearbeitet, die einen indikationsgerechten Einsatz der verschiedenen Techniken bei den individuellen Psychotherapien und eine reibungsarme Zusammenarbeit der beteiligten Therapeuten ermöglichten. Für die »Jugendstation« wurde für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, selbstverletzendem Verhalten, Essstörungen ein multimodales Therapiekonzept entworfen und schrittweise umgesetzt. Inzwischen hat die Psychosomatik ausreichende räumliche Bedingungen. Das Haus, in dem mit der Psychotherapie auf der Station 22 begonnen wurde, steht heute mit 76 Betten auf vier in sich spezialisierten Stationen und einer Tagesklinik mit zehn Plätzen ganz zur Verfügung. Damit verkörpert die Erlabrunner Psychosomatik den Typ einer großen Fachklinik im Versorgungskrankenhaus und belegt auch mit ihrer Existenz und der raschen Entwicklung nach 1990 die Notwendigkeit stationärer Psychotherapie im Krankenhaus neben psychosomatischer Rehabilitation. In der Entwicklung seit 1956 spiegelt sich die Entwicklung des Faches in ganz Deutschland. Es war wohl die feste Verankerung der Klinik in der medizinischen Grundversorgung einer Region, die die Schließung in der Wendezeit verhindert und das Aufblühen im vereinigten Deutschland ermöglicht hat.

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6.6.2.3 Gottfried Lobeck: Die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Weißer Hirsch des Städtischen Krankenhauses Dresden-Neustadt Die seit 1990 sich öffnenden Möglichkeiten beförderten oder erzwangen Veränderungen, die sich für die Dresdner Klinik glücklicherweise fast immer als vorteilhaft erwiesen. Da aus ökonomischer Sicht und Gründen des Personalaufwandes die Aufgabe des Standortes der Abteilung am Elbhang ins Auge gefasst werden musste, wurden die vorgesehene Rekonstruktion und Erweiterung von Gebäuden der Medizinischen Klinik Weißer Hirsch so geplant, dass auch für die psychotherapeutische Abteilung Raum entstand. Dadurch gewann der Gedanke Überzeugungskraft, bei dieser Gelegenheit die psychosomatische Station der Medizinischen Klinik mit der psychotherapeutischen Abteilung zur Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie zu vereinen, was mit dem Jahreswechsel 1992/93 Wirklichkeit wurde. 1996 erfolgte dann der Umzug ins Klinikum Weißer Hirsch. Eine Tagesklinik konnte endlich eröffnet werden (ärztliche Leitung Frau Aslaug Sternisko), und anlässlich einer baulichen Erweiterung durch die Verlegung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie ins Klinikum ermöglichte ein finanzieller Zuschuss des Sozialministeriums unserer Klinik ­weitere Räume. 24 Betten und 16 tagesklinische Plätze bilden seither die Behandlungskapazität ab. Schwer traf uns der plötzliche Tod von Chefarzt Werner Blum Ende 1992. Der Bestand der Klinik schien gefährdet. Nach reiflicher Überlegung stoppte ich den eingeleiteten Gang in die Niederlassung, übernahm kommissarisch die Leitung und bewarb mich später um die ausgeschriebene Chefarztstelle. Das langjährig eingespielte und sehr gut ausgebildete Team der Psychotherapeuten und erfahrenen Mitarbeiter ließ eine flache Hierarchie zu, die es mir ermöglichte, eine kleine Patientengruppe selbst zu betreuen und so auch in praktischem Tun dem Ziel näher zu kommen, die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie über neu gewonnene Erfahrungen aus Kontakten mit anderen Vorgehensweisen zeitgemäß zu entwickeln. Allein schon der kräftig wachsende Zustrom schwer betroffener Patienten forderte dies. Die entgegenkommend ermöglichte psychoanalytische Ausbildung samt Lehranalyse und die danach umfassend gesuchte Weiterbildung in Psychotraumatologie wurden dafür wesentlich. Nötige Weite fand die angestrebte Integration auch in den von Margraf und Sprenger (1999) initiierten Schwedensteiner Gesprächen 1997 und 1998 in Pulsnitz, die nahelegten, über eine stete interaktive Theorienkonkurrenz die Möglichkeit übergreifender Grundannahmen auszuloten (Lobeck 1999). Wenn nun Verhaltenstherapeuten (Zaudig et al. 1998, S. 91 ff.) die Exposition ihrer Patienten mitfühlend begleiten und dabei Erinnerungen traumatisierender Szenen, die mit den geweckten Emotionen aufsteigen, »von der Seele reden lassen«, dann unterscheidet sich das nicht grundsätzlich vom Vorgehen von Sampson und Weiss (zit. nach Thomä u. Kächele 1989, S. 355 ff.), wo der Analytiker die in die Übetragungsatmosphäre tretenden Emotionen rezenter seelischer Erschütterungen angstfrei annimmt, damit deren Bewusstwerden fördert und so für ein korrigierendes Durcharbeiten aufschließt. Ein aus diesen Gegebenheiten gedachtes vereinheitlichendes Modell besitzt allerdings erst dann heuristischen Wert, wenn es das an die Gedächtnisspuren seinerzeit traumatisie-

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render Situationen gebundene, oft apokalyptische Maß damaliger Affekte angemessen berücksichtigt. Denn genau dort liegen die behandlungstechnischen Herausforderungen, die von den Schulen auf dann jeweils eigenen Wegen zu meistern sind. Für diese Aufgabe benötigten wir reichlich Zeit, während der wir leider manchem Patienten nicht ausreichend gerecht wurden und aus Misserfolgen lernen mussten. Hilfreich wurde uns die Annahme, dass traumatische Situationen vorsprachlicher Zeit, deren Folgen Gerd Rudolf als depressiven Grundkonflikt beschreibt (1996, S. 125 ff.), oder schwere seelische Traumata späterer Jahre, die im Augenblick des Geschehens (partiell) in peritraumatischer Dissoziation (»Schreckstarre«) erlebt wurden, eine spezifische, abgrenzbare Form von Unbewusstheit nach sich ziehen. Reflexionsvermögen ist an Sprachfähigkeit gebunden. Da die Gedächtnisinhalte traumatischer Situationen aus vorsprachlicher Zeit (depressiver Grundkonflikt) oder dem Erleben in peritraumatischer Verfassung (bildgebende Verfahren belegen hier eine Hemmung von Sprachzentren und präfrontalen Rindenregionen, van der Kolk 2000, S. 216) in einer »sprachlosen Verfassung« des seelischen Apparates entstehen, haben sie ausschließlich impliziten Zugang. Sie können nur durch aktuell evozierte emotionale Muster in die Gegenwart geholt werden und bergen so immer die Gefahr, dass der alte Schrecken bei unzureichender therapeutischer Begleitung nun retraumatisierend wiederum zu peritraumatischer Dissoziation führt. Eine Falle schnappt zu, denn erneut ist den Betroffenen jede Möglichkeit entzogen, aus eigener Kraft das alte Erlebensmuster zu korrigieren. (Sollten die gelegentlichen Desintegrationserscheinungen bei den ersten Selbsterfahrungskommunitäten solch einem Vorgang geschuldet sein?) Wir stellten dieses Phänomen als Fallenmechanismus auf zwei Tagungen vor. Aus diesen Modellvorstellungen ordnete sich nun unser Vorgehen, den Erfahrungen der Psychotraumatologie folgend, in der Weise, dass die Annäherung an unbewältigte Erlebniserinnerungen von einem zunächst zu festigenden »vernünftigen Ich« des Patienten vorgenommen wird, welches sich stets der therapeutischen Begleitung eines erfahrenen, tief mitfühlenden und gleichzeitig ermutigenden Therapeuten sicher sein kann. Da wir ungeschmälert in der Gruppenpsychotherapie unser wesentliches therapeutisch wirksames Mittel sahen, kam es nun entscheidend darauf an, durch aktives therapeutisches Einwirken auf die Formung der Gruppe eine Übertragungsatmosphäre zu fördern, die dem Einzelnen eine solch qualifizierte Begleitung gewährt. Das ergibt sich nicht von selbst und bedarf steten Bemühens aller am Prozess Beteiligten. Wir wähnten uns hier nie vollkommen, waren aber stolz, dass uns eine Untersuchung des Behandlungserfolges, vorgenommen von der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik der Technischen Universität Dresden (Simmich 2009; persönliche Mitteilung), bescheinigte: »Während Patienten, welche die stationäre Psychotherapie aus einer ›Kurhaltung‹ heraus unternahmen (korrespondierend mit dem Fehlen einer krisenhaften therapeutischen Episode als Paradigma einer Dynamikänderung), in der 1-Jahres-Katamnese wieder auf das Maß des ursprünglichen Beschwerdedrucks zurückkehrten, zeigten jene Patienten, die die Behandlung zu einer intensiven inneren Auseinandersetzung nutzten, eine weitere gravierende Symptombesserung im Katamneseintervall mit nunmehr starken Effekten, standardisiert am Ausgangsmaß des Beschwerdedrucks. Auch die differentielle Betrachtung nach Persönlichkeitsstruktur brachte weiteren Aufschluss: So profitierten entgegen meinen

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Erwartungen auch strukturschwache Patienten von der beziehungs-orientierten stationären Gruppenpsychotherapie und konnten diese Effekte im Katamneseintervall halten«.

6.6.3 Dieter Seefeldt: Vom Kliniksanatorium Heinrich Heine Potsdam/ Neu Fahrland zur BfA-belegten psychosomatischen Rehabilitationsklinik Ort und Lage Vier Kilometer nördlich vom Potsdamer Zentrum befindet sich Neu Fahrland. Ein kleiner Flecken, ohne eigentliche Ortsstruktur, der jedoch sehr malerisch an fünf Seen liegt. Dort im Heinenholz, »In herber Schönheit der märkischen Landschaft« (Theodor Fontane), ließ Karl Friedrich von Siemens sich nach Plänen des Architekten Otto March in den Jahren 1909– 1911 auf einer Halbinsel ein schlossähnliches Anwesen errichten. Nach seinem Tod verkaufte die Familie das Anwesen an die Siemens und Halske AG. 1943 wurde aus dem schon bombardierten Berlin eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Nachrichten- und Funktechnik nach Neu Fahrland verlegt. Hier wurden Elektroaggregate für V2-Raketen und Torpedos entwickelt und ausprobiert. Im April 1945 besetzte die Rote Armee den Heinenhof. Später funktionierte man das Haus als Lazarett für sowjetische Soldaten um. 1952 übergab die sowjetische Militäradministration den Besitz an die Sozialversicherung des damaligen Landes Brandenburg mit der Maßgabe, diesen für das Gesundheitswesen zu nutzen.

Das Sanatorium und Kliniksanatorium 1952 entstand hier zunächst ein Diätsanatorium. Nach weiteren gravierenden Umbaumaßnahmen, Kapazitätserweiterung und verbessertem Diagnostik- und Therapierepertoire profilierte sich 1956 die Einrichtung zum Kliniksanatorium, vergleichbar dem Status der Kurkliniken der ehemaligen BRD. In Neu Fahrland wurden Patienten mit erheblichen Schweregraden aus der Gastroentrologie (chronisch-entzündliche Darmkrankheiten wie Morbus Crohn und Colitis ulcerosa oder gastrektomierte Patienten) und der Nephrourologie (z. B. schwer nierenkranke Patienten mit erheblicher Retention oder später sogar Nierentransplantierte) behandelt. Die nierentransplantierten Patienten wurden erstmals in Europa überhaupt in unserer Klinik rehabilitiert. Dies war möglich durch ein nur fünf Kilometer entfernt gelegenes Großklinikum und Direkteinweisungen durch Universitätskliniken, insbesondere auch der Berliner Charité. Im Kliniksanatorium arbeiteten Spezialisten aus verschiedenen medizinischen Disziplinen: Fachärzte für Innere Medizin, für Allgemeinmedizin, für Physiotherapie, für Psychotherapie, für Sportmedizin sowie Klinische Psychologen. Als Beratungsärzte waren Röntgenologen, Urologen, Nephrologen und später Neurologen tätig. Die Arbeit der ärztlichen Leiter war zunehmend von ganzheitlichem Denken und Handeln geprägt. Kooperationsverträge und Forschungsvereinbarungen mit der Charité Berlin,

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dem Krankenhaus Friedrichshain, der Medizinischen und Urologischen Klinik der Medizinischen Akademie Magdeburg, der Universität Halle, dem Haus der Gesundheit Berlin und dem Zentralinstitut für Ernährung Potsdam-Rehbrücke garantierten eine wissenschaftlich fundierte medizinische Betreuung. Nicht zufällig fand 1968 in Neu Fahrland zu der Thematik »Psychologische und psychotherapeutische Probleme im Kur- und Bäderwesen«, ein Gemeinschaftssymposium der Gesellschaften für Physiotherapie und Psychotherapie der DDR, statt, von dem nachhaltige Impulse ausgingen.

Die Psychosomatische Abteilung Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen, mit schwerwiegenden Organerkrankungen, wie Colitis ulcerosa, mit Organerkrankungen mit somato-psychischen Entwicklungen, mit komplizierten Zustände nach Operationen sowie Patienten, bei denen die Notwendigkeit bestand, Bewältigungsstrategien zu erwerben, erforderten die Einbeziehung der psychosozialen Dimension in Diagnostik und Therapie. Basierend auf dem bisherigen Klinikkonzept und der Praxis einer ganzheitlichen Medizin kam es 1974 folgerichtig zur Gründung der ersten psychosomatischen Abteilung des Kur- und Bäderwesens der DDR, der Keimzelle der heutigen Psychosomatik. Neben den Hauptindikationen des Hauses wurden bereits damals chronische Schmerzsyndrome sowie allgemeinere psychosomatische Syndrome, die man heute als somatoforme Störungen bezeichnet, einschließlich Migräne und Tinnitus, behandelt. Den theoretischen Hintergrund bildeten der biopsychosoziale Monismus, das erweiterte Stressmodell und ein Konzept des Hirnphysiologen Akert für die Therapie psychosomatischer Krankheiten. In Diagnostik und Therapie wurde sehr konsequent biopsychosozial gedacht und gehandelt. Als Spezifikum sei die Methodenkombination von Physio-, Körpertherapien und Psychotherapie genannt. Dabei handelt es sich um eine moderne Form der Verhaltensmedizin, allerdings unter stärkerer Berücksichtigung der Physiotherapie und Sporttherapie als in den mehr psychologisch orientierten Konzepten und mit ausdrücklich interdisziplinärer Methodenkombination! Die Differentialindikation und Differentialtherapie sowie der stadiengerechte Einsatz des Methodenrepertoires waren eine Stärke der Neu Fahrländer Einrichtung. Unter kliniksanatoriellen Verhältnissen existieren für eine Psychotherapie einerseits zahlreiche begünstigende, aber andererseits auch limitierende Bedingungen. Daraus ergeben sich spezifische Formen psychotherapeutischen Herangehens, ein eher konflikt- und symptomzentriertes Vorgehen, Anbehandlungen mit nachfolgenden Überweisungen oder zumindest Erarbeitung eines psychodynamischen Konzeptes und Motivierung zur Psychotherapie. Die Psychotherapiemethoden waren konfliktzentrierte Einzel- und themenzentrierte und psychodynamische Gruppengespräche, Antistressbewältigungsprogramme sowie diverse Entspannungsmethoden. Kontinuierlich eingesetzt wurden die gestufte Aktivhypnose, ein fremdsuggestiv unterstütztes Autogenes Training mit diversen Modifikationen und meist in der Form der gezielten Organübung, z. B. auch mit einer speziellen Nierenübung, die Konzentrative Entspannung, diverse Atemtechniken, Yogaelemente und Biofeedbackverfahren (Seefeldt 1990).

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Die Weiterbildung Die Gründung der psychosomatischen Einrichtung und deren Leitung durch mich hatte der damalige Bezirksarzt mit der Bedingung verknüpft, dass im Territorium Ärzte anderer Disziplinen psychologisch-psychotherapeutisch weitergebildet werden. An diesen an der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens durchgeführten Psychotherapieweiterund -fortbildungen haben auch alle Ärzte und Psychologen sowie zahlreiche Schwestern und Physiotherapeutinnen der Klinik, letztere zumindest an den Basiskursen, teilgenommen. So ist erklärlich, dass die Klinik letztlich über eine große Zahl psychosomatisch ausgebildeter Mitarbeiter verfügte.

Die Dispensaire-Abteilung Neben der Intention der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, die Psychotherapieweiter- und Fortbildung zu dezentralisieren, gab es eine andere wesentliche Entwicklungslinie. Ebenfalls auf der Basis eines Gedankengutes von Kurt Höck ging es um die Integration und Spezialisierung der Psychotherapie im Rahmen eines gestuften Systems der Diagnostik und Therapie. Bei der Übertragung dieser Vorstellungen auf den Bezirk Potsdam hatte ich auf dem Gelände des Kliniksanatoriums den Neubau einer psychosomatischen Klinik vorgeschlagen. Diese sollte im Gegensatz zur bisherigen Praxis bei Direkteinweisung und ambulanter Nachbetreuung eine angemessen lange Therapie ermöglichen. Als die Realisierung sich abzeichnete, kam es zu wesentlichen Limitierungen. Letztlich wurde die neue psychosomatische Abteilung »Stationäres Dispensaire« genannt. Hier konnte zumindest nach einem erweiterten Stresskonzept gearbeitet werden.

Die Wende 1989 wurde in diesem Teil Deutschlands vieles anders – auch in der auf einer wunderschönen Halbinsel gelegenen Klinik. Eine wahre Odyssee begann. Nur in Kürze: Es gab zahlreiche unseriöse Angebote, die sich vorwiegend auf die Immobilie richteten und das Schicksal der Mitarbeiter und potentieller Patienten außer Acht ließen. Gegen viele Widerstände bemühten sich die ärztlichen Kollegen, die bisherigen fachliche Traditionen fortzusetzen, zu vertiefen und zu erweitern. Dies galt vorrangig für die Psychosomatik. Dieser sehr konflikt- und problemreiche Prozess führte u. a. über die »Abwicklung«, die juristische Auflösung der Klinik einschließlich Arbeitslosigkeit des Personals, verschiedene GmbH-Bildungsversuche und einige fast vollzogene Trägerübernahmen zur privaten Trägerschaft im Rahmen der Dr.-Ebel-Fachkliniken. Wir hatten in der Dr. Ebel gehörenden Vogelsbergklinik ein psychosomatisches Konzept gesehen, das dem von uns geplanten und umsetzbaren nahe kam. Die Dr.-Ebel-Gruppe hatte auch unsere Forderungen akzeptiert. Diese beinhalteten: Übernahme des gesamten Personals, 60 % des Westgehaltes und Mitsprache beim Therapiekonzept. Voraussetzung hierfür war jedoch die Belegungszusage der BfA für 197 Betten, davon 72 psychosomatisch zu belegende.

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Die Gutachter der LVA Berlin und der BfA waren bei ersten Besuchen in Neu Fahrland ganz offensichtlich sehr verwundert und überrascht, dass auf der anderen Seite der Berliner Mauer bereits jahrzehntelang psychosomatisch gearbeitet worden war. Nach intensivem Befragen und Prüfen wurde Neu Fahrland als belegungsfähige Einrichtung akzeptiert. So wurde die Klinik als erste und lange Zeit einzige psychosomatische Kapazität in den neuen Bundesländern von der BfA belegt. Die Wunschindikationen waren Psychosomatik im engeren und weiteren Sinne an der Grenze zur Inneren Medizin und Orthopädie, wo auch die fachliche Kompetenz lag. Realität und Notwendigkeiten waren jedoch anders. Es waren zunächst alle mit psychosomatischen Störungen und Problemen eingewiesenen Patienten aufzunehmen. Mit einiger Überzeugungsarbeit gelang es, dass Patienten mit den für die Klinik schwer zu behandelnden Essstörungen schon zu jener Zeit in die alten Bundesländer gegeben worden sind. Aber es gab neue Irritationen. Die Siemens AG hatte einen Rückgabeantrag für das Gelände des ehemaligen Heinenhofes gestellt. Damit war die Klinikexistenz wiederum gefährdet. Um lange Ungewissheiten zu vermeiden, einigten sich Siemens AG und Sozialministerium auf außerverfahrensrechtlichem Wege. Die Siemens AG erhielt das märchenhafte Anwesen zurück und der Klinik wurde auf Erbpachtbasis ein unbebautes Teilstück für einen Ersatzneubau zur Verfügung gestellt.

Die neue Klinik In dem im Februar 1994 bezogenen Neubau waren 108 Psychosomatik- und 107 somatische Betten untergebracht. Die Klinik entsprach allen damaligen Qualitätskriterien einer modernen Fachklinik mit dem auf 45-jähriger Klinikerfahrung beruhenden Therapiekonzept, einem erfahrenen interdisziplinären multiprofessionellen Behandlungsteam, hohen qualitativen räumlichen und apparativen Voraussetzungen mit bestmöglichen Bedingungen für Unterbringung, Diagnostik und Therapie sowie der durch kontinuierliche Kontrolle belegten Prozess- und Ergebnisqualität. In der Abteilung I, dem somatopsychischen Bereich mit Erkrankungen aus dem Bereich der Inneren Medizin und aus dem Bewegungsbereich, wurden Patienten aufgenommen, bei denen schwerpunktmäßig organmedizinische Diagnostik und Therapie erfolgten, aber gleichzeitig auch die psychosozialen Faktoren berücksichtigt wurden. Die Aufenthaltsdauer betrug meist vier Wochen. Im Fall des Überwiegens der psychosozialen Faktoren als Ursache von Erkrankungen und Störungen wurden die Patienten in der Abteilung II, dem psychosomatischen Bereich, mit durchschnittlich sechs bis acht Wochen Aufenthaltsdauer eingewiesen. Trotz langjährig bewährter Klinikleitung durch einen habilitierten Doppelfacharzt wurde das ärztliche Direktorat nun mit einem »Kenner unseres Systems« besetzt. Als dieser sein Amt antrat, waren alle wesentlichen äußeren Turbulenzen abgeklungen und die entscheidende Arbeit eines Umbruchs getan. Die Klinik befand sich in sicherem Fahrwasser. Mit den nun vorhandenen Voraussetzungen konnte Rehabilitation nach bundesdeutschem Standard durchgeführt werden. Dies galt noch in größerem Maße für die psychosomatische Rehabilitation.

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Zum psychosomatischen Therapiekonzept Das Neu Fahrländer Therapiekonzept war über einen Zeitraum von zehn Jahrzehnten empirisch und pragmatisch im Sinne einer integrativen Psychosomatik entwickelt worden. Die Psychotherapie ist im diagnostischen Vorgehen und in der therapeutischen Begegnung/ Beziehung tiefenpsychologisch fundiert. Für die Therapie steht ein breites Methodeninventar zur Verfügung. Neben tiefenpsychologischen Verfahren bilden körperorientierte Behandlungsformen und verhaltenstherapeutische Techniken weitere Schwerpunkte. Letztere kommen insbesondere bei Patienten mit definierten Symptomenkomplexen, wie z. B. Phobien und Schmerzsyndromen, zum Einsatz. Den mehrseitigen Therapiezugang charakterisiert besonders auch die ausgewogene Kombination von Physio- und Psychotherapie. Immer gilt es, den Patienten »abzuholen«, sein Krankheitsverständnis zu berücksichtigen und in die gemeinsamen Überlegungen einzuordnen. Gemeinsam mit den Patienten ist der angemessenste Problemzugang anzustreben und nach der bestmöglichen Lösung zu suchen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer adaptiven Indikationsstellung, die ein differenziertes Behandlungsmodell voraussetzt. Dafür hatten wir ein Stufenmodell konzipiert und realisiert (Seefeldt 1992).Das bedeutet auch die Zuordnung somatischer und psychosomatischer Verfahren in unterschiedlicher Akzentuierung.Die Stufen entsprechen u. a. Techniken zum Zugang zum Patienten. Sie können im adaptiven Therapiegeschehen überall impliziert sein. Bei einsprechendem Therapiefortschritt ist es möglich, von einer in eine andere Stufe überzugehen. Mitunter durchlaufen Patienten während des Aufenthaltes alle Stufen eines Therapieprogrammes. Bei jedem Patienten kommt eine weitestmöglich auf seine individuelle Situation abgestimmte psychosomatische Komplextherapie zum Einsatz. Die eingewiesenen Patienten bildeten hinsichtlich der Psychotherapieeignung eine sehr heterogene Population. Nach Erfahrungen der Klinik waren etwa folgende Gruppen unterscheidbar: ­– Patienten mit Persönlichkeitsstörungen, ­– Patienten mit umschriebenen Krankheitssymptomen und Schwierigkeiten, konfliktzentriert zu arbeiten, ­– Patienten mit funktionellen bzw. psychovegetativen Syndromen, ­– Patienten, mit denen im Sinne der Krankheitsbewältigung zu arbeiten war, ­– Patienten mit geringer bzw. fehlender Therapieeignung und -motivation, mit massiver Somatisierung, zum Teil auch mit Rentenbegehren.

Die Klientel Durch die BfA als Hauptbeleger, in der Psychosomatik als fast ausschließlichem Beleger, wird eine gewisse soziologische Population vorgegeben. Obwohl insgesamt aus allen Bundesländern stammend, kommen die Patienten vorrangig aus den neuen Bundesländern. Es handelt sich um multimorbide Problempatienten, so auch eine summarische Wunschindikation des Haupteinweisers für unsere an der Berliner Peripherie befindliche Klinik. Die Erkrankungen umfassen ein sehr breites Indikationsspektrum innerhalb der Psychosomatik.

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Zu etwa einem Drittel ist eine Risikopopulation vertreten mit Langzeitarbeitslosen, Langzeiterkrankten, oft mit latentem oder manifestem Rentenbegehren. Ein Teil der Patienten ist nach dem Prinzip »Reha vor Rente« eingewiesen worden. Eine »Renten-Entwicklung« ist oft bereits vorhanden, sie wird jedoch meist erst gegen Ende des Aufenthaltes deutlich. Die Patienten bringen sozusagen die sozialen Probleme des Landes in die Klinik. Es zeigt sich, dass die Frauen jenseits der 40 die eigentlichen Verlierer der Wende waren, weil überproportional arbeitslos. Wir erlebten eine Vielzahl von Patienten mit biographischen Brüchen, mit massiven Identitäts- und Selbstwertproblemen.

Reha-Krise Vor allem durch einen veränderten Zuzahlungsmodus und ein geändertes Bewilligungsverhalten der Hauptbeleger kam es 1997 zu einer neuerlichen »Reha-Krise«. Diese betraf auch die Heinrich-Heine-Klinik mit einem zwischenzeitlichen Belegungsrückgang auf 60 %. Arbeitszeitverkürzungen, freiwilliger Gehaltsverzicht des Personals und Entlassungen waren nur einige Konsequenzen. Unsere Bewältigungsversuche bestanden u. a. in der Erschließung neuer Indikationsbereiche. So hatten wir das Konzept und die Realisierungsvoraussetzungen für eine Fachabteilung für Parkinson-Betroffene geschaffen. Diese Abteilung ist aus politischen Gründen an eine andere Klinikgruppe gegeben worden und existiert jetzt in Beelitz. Erfolgreicher war die Klinik bei der recht anspruchsvollen und schwierig zu behandelnden Tinnitus-Klientel. Hier gelang es in kurzer Zeit einen bald von der Tinnitus-Liga und den Belegern, insbesondere der BfA, sehr akzeptierten Behandlungsschwerpunkt zu etablieren. Die Schmerztherapie als langjähriger klinikspezifischer Schwerpunkt wurde weiter ausgebaut. Neu hinzu kam die Betreuung von Patienten mit Psychotraumastörungen.

Konflikte der Therapeuten Einige Mitarbeiter verfügten bereits über negative Vorerfahrungen mit dem neudeutschen Wort »Abwicklung«. Existenzangst, latent oder manifest, gab es z. B. während der RehaKrise auch unter dem Personal. Aber auch andere Ängste gab es: vor Veränderungen, vor dem Leistungsdruck, dem eigenen Versagen angesichts einer immer schwerer gestörten Patientenklientel. Die Risikopopulation mit Langzeitarbeitslosen und Langzeiterkrankten belastete ohnehin schon über mehrere Jahre emotional. Außerdem befinden sich die RehaÄrzte permanent in mehreren Grundkonflikten. Dies betrifft besonders die in der Psychosomatik tätigen Kollegen. Einerseits sind sie Somatotherapeuten, zum anderen Psychotherapeuten. Gleichzeitig haben sie als sozialmedizinische Gutachter zu fungieren, von den Patienten oft als Richter und damit systemimmanente Gegner angesehen, was wiederum die psychotherapeutische Arbeit behindert. Zu erwähnen wären auch die traditionellen Konflikte einer Klinik, die gleichermaßen sog. somatische und psychosomatische Patienten unter einem Dach beherbergt. Hier ist eine spannungsreiche Atmosphäre zwischen Somato- und Psychotherapeuten garantiert. Dazu

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kommen Konflikte mit Kassen und Trägern; Projektionen vielerorts. Für einen kritischen Leiter war das drohende Ausbrennen der Mitarbeiter ein Dauerthema. Zur Bewältigung wurde jedoch manches getan. Beispielhaft nennen wir strukturelle und systemische Veränderungen und insbesondere interne und externe Supervisionen.

Wissenschaftliche Aktivitäten und Impulse, die von der Heinrich-Heine-Klinik ausgingen Von der Heinrich-Heine-Klinik gingen vielfältige wissenschaftliche Impulse aus. Dies erfolgte in der Form von wissenschaftlichen Untersuchungen, Forschungsprojekten, Publikationen, populärwissenschaftlichen Darstellungen in Presse, Funk und Fernsehen sowie den Aus-, Weiter- und Fortbildungen lokal, regional oder in nationalem Rahmen. Themenorientiert werden nachfolgend die Aktivitäten unter überwiegend psychosomatischen Gesichtspunkten aufgelistet. Den in der Psychosomatik Verantwortlichen ging es auch generell um Einstellungsänderungen gegenüber psychosomatischen Patienten (»Patient o. B.«) auf den Ebenen Patient, Medizin und Gesellschaft. In der Medizin wurde ein Paradigmenwechsel angestrebt von dem mehr somatischem über ein somatopsychisches Konzept hin zum biopsychosozialen Modell in der Diagnostik und Therapie. Besonders wirkungsvoll konnten diese Vorstellungen im Bereich der allgemeinmedizinischen Grundversorgung und in der Schmerzmedizin umgesetzt werden (s. diesbezügliche Beiträge in diesem Buch) (Seefeldt 1989, 1990). Aber es ging auch um die Integration psychologisch-psychotherapeutischen Denkens und Handelns in weitere Disziplinen. So gab es besonders zahlreiche und vielfältige Kontakte zur »Nadeltherapie« (so mussten sich zu jener Zeit die in der DDR tätigen Akupunkteure und Neuraltherapeuten nennen) und zur Manualtherapie. Das Stresskonzept und Stressbewältigungsstrategien bildeten einen besonderen Arbeitsschwerpunkt (Seefeldt u. Ullrich 1980, 1986, 1989). Ein Spezifikum der Neufahrländer Klinik war die Komplextherapie mit einer Kombination von Physiotherapie und Psychotherapie bei kontinuierlicher Einbeziehung körper- psychotherapeutischer Techniken sowie mit der Differentialindikation und Differentialtherapie dieser Methoden (Seefeldt 1990). Die angewandte Komplextherapie wurde immer differenzierter. Spezielle Programme sind entwickelt worden für chronifizierte Schmerzstörungen, für chronisch komplexe Tinnitus-Störungen, für somatoforme Störungen und für posttraumatische Belastungsstörungen (Seefeldt 1990). Aus den besonderen Bedingungen eines Kliniksanatoriums und der zu betreuenden Klientel erwuchsen spezifische Anforderungen. Dies galt besonders auch für Entspannungstechniken. Entspannungsverfahren bildeten im komplexen Therapieprogramm der Klinik ein fast obligates Modul. Problematisch war hier jedoch besonders die Zeitbeschränkung auf durchschnittlich vier Wochen. Deshalb wurde zum Vermitteln der Entspannungsreaktion vielfach experimentiert und modifiziert. So konnte nach persönlicher Korrespondenz mit dem Entwickler des Autogenen Trainings J. H. Schultz u. a. eine spezielle Nierenübung entwickelt werden (Seefeldt 1982).

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Zum Biofeedback wurde ab 1975 besonders intensiv und extensiv geforscht. Auf der Basis unterschiedlicher Parameter (PGR, EMG, Temperatur und Atmung) wurden diverse Biofeedbackvarianten entwickelt und erprobt, die u. a. zu den ersten zwei Biofeedback-Serienproduktionen der ehemaligen DDR geführt haben (Salz u. Seefeldt 1981; Seefeldt u. König 1989). Von der Klinik sind in Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Partnern mehrere Untersuchungen zur Erfassung der Effektivität von Kuren bzw. Rehabilitationsmaßnahmen durchgeführt worden. Dies geschah u. a. mit der Medizinischen Klinik der Medizinischen Akademie Magdeburg, dem Haus der Gesundheit Berlin sowie der Medizinischen Hochschule Hannover: »Evaluation psychosomatischer Rehabilitationen in ost- und westdeutschen Kliniken sowie die Beeinflussung von Risikopopulationen, einschließlich eines Katamneseprojektes« (Zielke 1999).

Kontakte und Kooperationen Während sich der Neustart hinsichtlich struktureller und ökonomischer Bedingungen schwierig gestaltete, haben wir in jener Zeit jedoch vielfältige und hilfreiche Unterstützung durch Kollegen aus den alten Bundesländern und Westberlin erhalten. Namentlich sei Prof. Friedhelm Lamprecht (Klinik Schömberg im Schwarzwald, später Ordinarius für Psychosomatik in der Medizinischen Hochschule Hannover), als ständiger Unterstützer der Klinik und persönlicher Förderer erwähnt. Nach der Wende kooperierte die Klinik verstärkt mit den verschiedenen Einrichtungen des Territoriums. Als nach Jahren im Berliner Umland weitere psychosomatisch profilierte Reha-Kliniken entstanden waren, kam es im Rahmen von Qualitätssicherungsmaßnahmen besonders zur Zusammenarbeit mit diesen.

Eine Bilanz Unter dem Rahmenthema »Integrierte Medizin« hatte der damalige ärztliche Direktor, Dr. Koch, am 24. April 1999 zu einer wissenschaftlichen Festveranstaltung geladen: »Fünf Jahre im neuen Haus«. Der 91-jährige Doyen der deutschen Psychosomatiker, Thure von Uexküll, war aus Freiburg angereist und hielt das Hauptreferat über sein wissenschaftliches Modell einer integrierten Medizin, das das offene System Mensch und die Passung zwischen Arzt und Patient bzw. Passungsstörungen als Schwerpunkte enthält. Der Berichterstatter hatte auf dem Symposium über integrative Aspekte in der Geschichte der Heinrich-Heine-Klinik referiert. In Orientierung an den von Uexküll’schen Maximen stellte er gemeinsam mit seinen Mitarbeitern fest, dass man auf einem guten Weg sei, auf dem allerdings noch einige Etappen zurückzulegen seien. Das dann doch vieles ganz anders kam, wäre ein völlig neues Kapitel in der Geschichte der Heinrich-Heine-Klinik. Abschließend ist festzustellen: Bei der Heinrich-Heine-Klinik in Potsdam/Neu Fahrland lässt sich eine Entwicklungslinie von der »Schule fürs Leben« über die erste psychosomatische Abteilung des Kur- und Bäderwesens der DDR und der ersten von der BfA in den neuen Bundesländern psychosomatisch belegten Klinik zum größten »Zentrum für Psychosomatik und Psychotherapie« in Ostdeutschland verfolgen.

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6.7  Berichte und neue Identitätssuche zur und nach der Wende

Dank Mit dem Wissen um die Verfälschungstendenzen des episodischen, des biographischen Gedächtnisses, zumal bei persönlich sehr berührenden Themen, und darauf vertrauend, dass die Gruppe klüger ist, habe ich zwei ehemalige Kolleginnen befragt und konsultiert. Ich bedanke mich für vielfältige Anregungen und Unterstützung bei Frau Dr. Ursula Kaszubowski und Frau Dr. Inge Gusko, beide ehemals langjährig und hoch engagiert als Oberärztinnen im Kliniksanatorium, bzw. Heinrich-Heine-Klinik, tätig.

6.7 Berichte und neue Identitätssuche zur und nach der Wende 6.7.1 Wolfgang Kruska: Berliner Verhältnisse Teil II Das Jahr 1989 wird vermutlich jeder Deutsche in Erinnerung behalten. Wir Ostdeutsche besonders. Mit allen Deutschen teilen wir das Ereignis der Wiedervereinigung. Manche Sachen haben wir für uns, die Leipziger ihre Montags-Fürbitt-Gottesdienste, wir Berliner – wesentlich später – die Versammlungen in den Kirchen, die große, vom Kulturbund organisierte Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, das Erlebnis der Maueröffnung vom 9. zum 10. November 1989 und die Besetzung der Stasi-Zentrale im Januar 1990. Es schloss sich eine sehr aktive Zeit des Neubeginns an, bald im Hinblick auf die am 3. Oktober 1990 vollzogene Wiedervereinigung. Es entstanden neue Parteien, Gruppierungen, Bündnisse, Runde Tische, Vereine und Vereinigungen. Es wurde für Verbesserungen demonstriert, auch für die Lage der Ärzte, Krankenschwestern und der übrigen Mitarbeiter des Gesundheitswesens. Dann leerten sich allmählich wieder die Kirchen und die Plätze, Politik wurde nicht mehr auf der Straße, sondern wieder in Sälen, Zimmern und auch Hinterzimmern ausgetragen. Das ist alles schon über 20 Jahre her. Am stärksten habe ich die große Demonstration auf dem Alexanderplatz (ob 500.000, ob 800.000 Teilnehmer, ist müßig zu diskutieren) in Erinnerung. Die Wiedervereinigung, an die ich immer geglaubt habe, war eine großartige Zugabe, aber eher wie die endliche Einlösung eines Versprechens. Das Gefühl von Freiheit und Aufbruch auf dem Alexanderplatz und die ruhige und unerschütterliche Entschlossenheit bei der Mahnwache vor und der Besetzung der Normannenstraße haben uns befähigt, selbstbewusst und freundschaftlich unseren Platz in dem wiedervereinigten Berlin zu finden. In Ostberlin gab es 1989 an jedem psychiatrischen Fachkrankenhaus eine psychotherapeutische Abteilung. Im Klinikum Buch war die psychotherapeutische Abteilung traditionell in der Neurologie angesiedelt. Mit dem Institut für Psychotherapie im HdG (nur im Namen gleich, sonst in Organisation und Aufgabenstellung einem Westberliner psychoanalytischen Institut völlig verschieden) existierte eine große ambulante Einrichtung, in der jährlich um

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

die 3000 Patienten behandelt wurden. Dieses Institut verfügte über eine außeruniversitäre, sehr fruchtbare Forschungsabteilung unter Helga Hess. In einigen Stadtbezirken (Köpenick, Prenzlauer Berg) gab es kleine psychotherapeutische Ambulatorien. Jede größere Poliklinik, und davon gab es einige Dutzend, die meisten als sog. Betriebspolikliniken, hatte in der Regel auch Psychologen als Mitarbeiter, deren Qualifizierungsgrad sich ständig erhöhte. Für die Psychologen wurde 1981 der Fachpsychologe der Medizin eingeführt. Sie leisteten auch den weitaus größten Teil der Versorgung. Die Ärzte hatten in der Regel einen Erstfacharzt (meist Neurologie/Psychiatrie oder Innere Medizin) und dann den Zweitfacharzt für Psychotherapie, den es ab 1978 gab (Erstfacharzt für Psychotherapie 1989). Allerdings gab es von psychotherapeutisch tätigen Ärzten in Ostberlin nur eine Handvoll, vielleicht zwölf bis 15 ambulant, stationär, in der Kindertherapie tätig zusammengenommen. Eine systematische Ausbildung gab es im Bereich von Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, in Gesprächstherapie und in Verhaltenstherapie, dann zunehmend in Dynamischer Einzeltherapie. Eine systematische Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter und analytischer Therapie nach westlichen Kriterien (Theorieausbildung, Lehranalyse, kontrollierte Behandlungen) gab es in Ostberlin jedoch nicht. Zumindest die ambulant tätigen Psychotherapeuten lebten in einer ganz komfortablen Nischenexistenz. Dem stand in Berlin(-West) eine ganz anders aufgebaute Struktur der psychotherapeutischen und psychoanalytischen Ausbildung gegenüber. Die Ausbildung zum Psychotherapeuten innerhalb der Richtlinien-Psychotherapie (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Therapie, Verhaltenstherapie) erfolgte an zur Weiterbildung befugten Instituten. Die Institute bildeten nach ihren theoretischen Modellen aus, die dann auch die Therapie bestimmten. Am stärksten frequentiert war das Institut für PT Berlin in der Koserstraße, das 1947 von Schultz-Hencke gegründet worden war. Weiterbildungsinstitut der DGP war ferner das Institut am Helgoländer Ufer (gegründet 1981). Das BIPP in der Nassauischen Straße, 1983 gegründet, verstand sich als Freies Institut. Das Berliner Psychoanalytische Karl-Abraham-Institut verstand sich als Nachfolgeinstitut der Gründung durch K. Abraham 1920. In diesem Sinne wiederbelebt wurde es 1950, dem Jahr der endgültigen Spaltung der seit 1910 bestehenden DPG, die allerdings schon im »Dritten Reich«, 1938, aufgelöst worden war. Das C. G.-Jung-Institut in Berlin, gegründet 1977, war der jungianischen Richtung der PA verpflichtet. In Bildung war seit 1990 das Alfred-Adler-Institut in der Wilmersdorfer Straße. Nach den Vereinbarungen im Einigungsvertrag wurden die in der BRD gültigen Gesetze einschließlich, wenn auch vorläufig, des Grundgesetzes (auf die versprochene echte neue Verfassung werden wir wohl bis zum Sanktnimmerleinstag warten) und sämtliche staatlich-administrativen Regelungen für das »Beitrittsgebiet« übernommen (über die wirtschaftliche »Wiedervereinigung«, über diese Mischung von Ignoranz und Dilettantismus, Gier und Untreue wollen wir hier nicht reden, obwohl ihre Auswirkungen, vermutlich nicht nur hier in Berlin, ein Dauerthema für unsere Patienten sind). Das Besondere an Berlin ist, dass die bundesrepublikanischen Verhältnisse, das medizinische Versorgungssystem, das Rechtssystem, das Schulsystem usw. schon lange in (West-)Berlin existierten, während sie in den neuen Bundesländern, im sog. Beitrittsgebiet, neu aufgebaut wurden mit hinzugezogenen Experten aus den alten Bundesländern, aber doch vorwiegend mit Menschen aus dem eigenen Bundesland. In Berlin hingegen musste eine ausschließliche Anpassung an die

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6.7  Berichte und neue Identitätssuche zur und nach der Wende

bereits bestehenden und jahrzehntelang tradierten Verhältnisse erfolgen. Das machte es gleichzeitig leichter und schwerer. Ein großes Problem war die Umstellung der Finanzierung ärztlicher und psychotherapeutischer Tätigkeit. Bestimmte Therapieformen, wie das ambulant-stationäre Fließsystem, die tagesstationären Behandlungen in den kleinen Zentren, bestimmte Formen der Intensivgruppentherapie, waren nicht mehr in diesem System unterzubringen. Auch die Neurosenklinik Hirschgarten und die Forschungsabteilung am HdG sind abgewickelt worden. In der DDR gab es die Sozialversicherung der DDR, die für Gesundheit und Rente zuständig war. In der BRD und in Westberlin gab es über 300 gesetzliche Kassen, zahlreiche private Kassen und mindestens ein halbes Dutzend größere Rententräger (die dann auch für Rehabilitation zuständig waren) sowie eine schwer zu erhebende Zahl unterschiedlichster Versorgungswerke. Relativ rasch erfolgte das Zusammenwachsen in der Ärztekammer. Bei der Wahl zur Delegiertenversammlung 1990 waren die Ostberliner Ärzte mit etwa einem Drittel der Delegiertensitze angemessen vertreten und entsandten dann Ingrid Reisinger (als stellv. Kammerpräsidentin) und mich in den Vorstand. Der Kammerpräsident blieb Dr. Erich Huber. Auch bei der ersten gemeinsamen Wahl zur Vertreterversammlung, also dem Gremium nur für die niedergelassenen und ermächtigten Ärzte, ging etwa ein Drittel der Sitze an Ostberliner Kollegen. Diese Repräsentanz ist von großer praktischer Bedeutung und als angemessene Vertretung in den Gremien auf allen Ebenen daher unabdingbar. Dass das in den Anfangsjahren nach der Vereinigung so gut gelang, hatte zwei Gründe. Der erste, wichtigere Grund: Nach all den Jahren der politischen Stummheit und Abstinenz nahmen die Ärzte in Ostberlin ihr Wahl- und Mitbestimmungsrecht intensiv wahr. Der zweite Grund war eine von vornherein auf Zusammenarbeit orientierte Wahlgruppierung, die sich Berliner Integration nannte und die in Ost und West breite Unterstützung fand, die auch noch nicht in den bisherigen Berliner Klein-Klein-Krieg der Fraktionen in ÄK und KV verwickelt war. Logistisch unterstützt und getragen wurde diese Vereinigung vom VirchowBund, einer Nach-Wende-Gründung. Auf dem Gebiet der Psychotherapie fand dergleichen zwischen Ost- und Westberlin zwar informell, aber nicht institutionalisiert statt. Es gab durchaus Interesse füreinander, und Westberliner Kollegen kamen in großer Zahl, z. B. im März 1990 zu einem Kennlerntag ins HdG. Eingeladen hatten C. Seidler (Ostberlin) und K. Höhfeld (Westberlin). Eine feste Zusammenarbeit mit Westberliner Instituten ergab sich nicht. Es kamen aber eine Reihe von Psychoanalytikern aus Westberlin in unser neues Ostberliner Institut, die APB, die wir neben dem Berufsverband der Psychotherapeuten schließlich gegründet hatten, als Dozenten, Supervisoren, Lehranalytiker, aber auch als Berater bei dem absoluten Neuland der Institutionalisierung. Das war außerordentlich befruchtend und hat die Arbeit in unserem Institut sehr interessant gemacht. Wir haben in dieser Zeit mit der DGPT als Rahmengesellschaft hervorragende Erfahrungen gemacht. Besonders haben wir K. Höhfeld in Bezug auf unsere Außenkonfiguration und Einbindung, E. von Strachwitz in Bezug auf die Binnenstruktur des Instituts zu danken. Nicht vergessen seien die Westberliner Kollegen, bei denen wir unsere (Nach-)Lehranalysen machen durften. Diese Nach-Lehranalysen hielten wir für einen sowohl notwendigen, aber auch durchaus zumutbaren Beitrag zur Weiterentwicklung unserer psychoanalytischen

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Kompetenz. Auch die später folgenden Lehranalytikerkonferenzen, die ja ursprünglich mit Psychoanalytikern aus West und Ost beschickt werden sollten, was am mangelnden Interesse westdeutscher Kollegen scheiterte, und die dann reine Ost-Veranstaltungen wurden, waren dank der Kompetenz erfahrener westdeutscher Psychoanalytiker ein großer Gewinn. Ich gestatte mir hier, Rolf Klüwer noch einmal herzlich zu danken. Die Psychologischen Psychotherapeuten wurden sehr von der damaligen Vereinigung der Kassenpsychotherapeuten, die vorwiegend von Verhaltenstherapeuten getragen wurde, unterstützt mit Rat, Tat und Logistik bei der Aufgabe, in dem veränderten System Fuß zu fassen. Allerdings ging auch dabei nichts ohne die KV und ihre PT-Kommission, die von Adelheid Barth-Stopik sachlich und wohlwollend, den Belangen der Ostberliner Kollegen gegenüber aufgeschlossen, geleitet wurde. Das ist jetzt alles über 20 Jahre her. Manches war doch sehr verschieden, um vieles tut es mir heute leid. Dabei waren Ärzte und Psychotherapeuten in der Wendezeit noch privilegierte Leute, mit einer klaren Aussicht auf einen Platz innerhalb der Gesellschaft; sehr anders bei vielen Hochschulkadern, sowohl Natur- als auch Geisteswissenschaftlern; noch mehr betroffen die über 100.000 Menschen, deren Arbeitsplatz in der Industrie verlorenging. Aber wir haben auch gewonnen, vor allem eine größere Möglichkeit zur Freiheit. Trotz mancher Mühen der Ebenen verdient die Erfahrung von Offenheit, Solidarität und AufeinanderZugehen unbedingt, bewahrt zu werden.

6.7.2 Jochen Schade: Freiheit und Psychotherapie – Ist politische 68 Freiheit eine Bedingung für psychotherapeutische Arbeit? Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich gehe davon aus, dass Sie den Titel meines Vortrages richtig – nämlich als eine rhetorische Frage – verstanden haben. Es kann ja kein vernünftiger Zweifel sein, dass in der DDR – also unter den Bedingungen der politischen Unfreiheit – erfolgreich Psychotherapie betrieben wurde, und meine OstKollegen wären mit Recht entsetzt, wenn einer aus ihrer Mitte das bestritte. Also könnte ich die Antwort ganz kurz und lakonisch fassen und den Vortrag mit einem »Ja« beginnen und beenden. Aber das hieße ja dann doch, die Lakonie zu weit zu treiben. Und wir müssen den Blickwinkel auf die Frage nur ein klein wenig ändern und schon verliert sie ihre Unvernunft. Ich erinnere mich an Begegnungen mit westdeutsche Psychoanalytikern, bei denen sie freundlich und ungläubig fragten: »Gab es bei Ihnen wirklich Psychotherapie?« Plötzlich erscheint die Frage nicht mehr rhetorisch, sondern höchstens uninformiert. Für diese Westkollegen stand offenbar fest, dass eine bedeutende Form der Psychotherapie – für die Fragenden wahrscheinlich die einzig relevante –, also die Psychoanalyse, nur unter der Bedingung politischer Freiheit stattfinden kann, und so gesehen, haben sie natürlich genauso recht wie der DDR-Kollege, der sich empört gegen den Zweifel an der Existenz der Psychotherapie in der DDR verwahrt. 68 Vortrag auf der Sächsischen Regionaltagung der DGPM in Leipzig am 26. September 2009.

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6.7  Berichte und neue Identitätssuche zur und nach der Wende

Denn an eine freie Entfaltung einer psychoanalytischen Kultur mit unabhängigen Instituten, einer mühelosen Verbindung zum westlichen Ausland, freien wissenschaftlichen Publikationsmöglichkeiten war in der DDR nicht zu denken. Die Psychoanalyse war politisch verpönt und missliebig – wenn auch nicht ausdrücklich verboten – und erst in den letzten Jahren der DDR gab es vorsichtige und mutige Versuche von Psychotherapeuten, sich der Theorie und Praxis der Psychoanalyse zu nähern. Jetzt haben wir schon zwei Varianten einer möglichen Antwort auf die Titelfrage. Ja, es gab klinisch gute und erfolgreiche Psychotherapie. Nein, die freie wissenschaftliche Entwicklung einer wichtigen Therapieform, nämlich der Psychoanalyse, war unmöglich. Ich möchte Ihnen einige typische Missverständnisse zwischen westdeutschen und ostdeutschen Psychotherapeuten beschreiben, die in den ersten Jahren relativ grobschlächtig daherkamen und die zumindest im Bereich des Faktischen auch geklärt werden konnten, aber in feinerer und subtiler Gestalt bestimmen sie bis heute das Gespräch und die Konflikte zwischen westdeutschen und ostdeutschen Psychotherapeuten. Ich rede u. a. aus der Erfahrung eines regelmäßigen Treffens zwischen West-Analytikern der DPV und Ost-Kollegen, das 17 Jahre in Stadtlengsfeld und später in Jena stattfand und vor einigen Wochen mit dem letzten Treffen endete und in dem es regelmäßig um die gegenseitigen Missverständnisse ging. Ich möchte den Vortrag dialogisch aufbauen und Ihnen ein fiktives Gespräch zwischen einem ostdeutschen und einem westdeutschen Psychotherapeuten vorstellen. Ich gehe weiter als Habermas. Ich unterstelle nicht nur die Bedingungen einer idealen, also gewaltfreien und gleichberechtigten Gesprächssituation. Ich konstruiere auch zwei ideale Gesprächspartner. D. h., beide Dialogteilnehmer haben einige freundliche Geduld und sogar selbstkritisches Potenzial. Sie werden gestehen, so oft kommt das ja im realen Leben nicht vor! Aber warum nicht träumen? Gelegentlich führe ich – der Wahrheit und des Unterhaltungswertes wegen – einige uneinsichtige, etwas grobe Gesellen von beiden Seiten ein: Herr O: Wie können Sie bezweifeln, dass wir psychotherapeutisch arbeiten konnten! Natürlich halfen wir Patienten durch sachkundigen, verständnisvollen und empathischen Umgang, analytisch formuliert, indem wir uns als »gutes Objekt« zur Verfügung stellten. Wir wissen doch heute, dass eine hilfreiche Beziehung das wichtigste Element des Therapieerfolges ist. Herr W: O. k. Sie konnten helfen mit der Anwendung gewisser theoretisch anspruchsloser Varianten der Psychotherapie. Sobald die Psychotherapie theoretisch fundiert ist und die Freiheit des Denkens und die Orientierung auf Wahrheit eine zentrale Rolle spielen, ist sie für eine Diktatur unerträglich. Da gilt, dass die Analyse subversive Energie hat und die herrschenden Lügen zu unterminieren droht. O: Da stimme ich schon mit Ihnen überein! Aber wer definiert denn Psychotherapie? Wer sagt denn, dass sie an Freiheit und Wahrheit orientiert sein muss? Ist nicht die Psychotherapie gerechtfertigt, die dem Patienten effektiv in seinem Leiden helfen kann? W: Aber auch praktisch stelle ich mir vieles sehr schwierig vor. Die Patienten vermieden politische Themen, um sich oder den Therapeuten nicht zu gefährden. Sie konnten auch nicht sicher sein, ob der Therapeut vielleicht ein Stasizuträger war und vice versa natür-

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lich. Viele Themen wurden doch nicht oder nur unter äußerster Vorsicht angesprochen und manchmal sogar vor den Angehörigen verschwiegen. Ich sprach mit einem Flüchtling aus der DDR, der über seine geplante Flucht jahrelang mit keinem Menschen reden konnte. Er wurde schwer depressiv, ging in eine Psychotherapie, musste aber seinen Konflikt auch hier verbergen. Er litt noch jahrelang später unter depressiven Schuldgefühlen und tiefreichendem Misstrauen. Ich kann mir vorstellen, dass eine wahrheitsorientierte Psychotherapie unter diesen Bedingungen sehr schwer zu etablieren war. Herr O: Da gebe ich Ihnen recht! Und wir wissen ja aus späteren Untersuchungen, dass tatsächlich Stasispitzeltätigkeit und therapeutische Arbeit in Einzelfällen nicht unvereinbar waren, wenn sie auch äußerst selten vorkamen. Aber wir wissen, dass politische Rücksichten, Redeverbote, Misstrauen usw. den Verlauf nicht weniger Therapien stark beeinträchtigten. Erneut Herr O: Aber noch einmal zu den von ihnen gepriesenen Idealen des Wahrheits­ strebens und der Freiheit. In der DDR-Gesellschaft bestanden andere Prioritäten. Hier wurde auf eine vertrackte Weise Solidarität und Gleichheit teils staatlich verordnet, teils aber auch in Nischenkulturen gelebt, während Werte wie Freiheit oder Wahrheit sowohl offiziell ungeliebt waren, als auch in großen Teilen der DDR Bevölkerung keinen hohen Stellenwert hatten. Das hatte natürlich auch einen Einfluss auf die Psychotherapie, von der sich doch eine gewisse Vielfalt in den letzten Jahren der DDR entwickelt hatte. Sie haben sicher schon gehört, dass die zwei wichtigsten Formen die Intendierte Dynamische Gruppentherapie und die Gesprächstherapie nach C. Rogers waren. Sie antworteten jede auf ihre Art auf die gesellschaftlichen Bedingungen in der DDR. Es gäbe gewiss viel Positives über die Intendierte Dynamische Therapie zu sagen, zumal sie auch eine große Affinität zur Psychoanalyse hatte, ich möchte mich aber auf einen problematischen Punkt konzentrieren. Sie stellte die Aggression und die Rebellion gegen die Macht des Gruppenleiters in das Zentrum ihrer Theorie. Andererseits übten die Gruppenleiter ihre Macht auf eine zum Teil wirklich erschreckend unnachsichtige Weise aus, so dass diese Therapieform, einerseits die realen Autoritätsverhältnisse in der DDR reproduzierte, andererseits den Aufstand gegen sie in einem geschützten Mikromilieu probte und propagierte, aber keinen Ansatz machte, den selbstbewusstem Umgang mit den Mächtigen in die reale Szene der sozialistischen Gesellschaft zu überführen. Annette Simon sagte einmal: Der Umgang mit der Macht wurde ihr zum Fetisch. Fetisch können wir es nennen, weil die Macht und der Widerstand gegen sie zu einer Obsession für die Protagonisten dieser Therapieform wurde, aber andererseits nur Surrogat für eine reale Opposition und Widerstandsbewegung in der Gesellschaft war. Die Gesprächstherapie nach Rogers stellt in gewisser Weise ein Komplement und eine Alternative zu der dynamischen Therapie dar. Denn bei dieser Form wurde die Aggression weitgehend ausgeblendet. Es geht um Authentizität, um Empathie, um Gefühlsechtheit usw., während die Probleme der Macht, der Unterdrückung, der Aggression und des Hasses in den Hintergrund rücken. Im Zentrum stehen ein idealisiertes Menschenbild und ein idealisiertes Bild menschlicher Kommunikation. Hier fanden Verhaltensweisen der für die DDR typischen Nischenkulturen wie Freundeskreise, Lesekreise usw. wie

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Gleichheit und zwischenmenschliche Wärme Eingang in eine therapeutische Kultur und bekamen eine wissenschaftliche Legitimation als wirksames Agens in der Psychotherapie. In diesen therapeutischen Kreisen gewannen Einstellungen wie Solidarität und Mitgefühl eine große Bedeutung, wahrscheinlich weil beide Teilnehmer des therapeutischen Dialogs auf ähnliche Weise unterdrückt und entmündigt waren. Diese Einstellung erzeugte aber auch viele Rollenkonfusionen und Grenzverletzungen sowie das Bestreben, keine Hierarchie zwischen Therapeuten und dem Patienten entstehen zu lassen. Herr W Grobian: Hören Sie doch mit diesem Gesäusel auf! Vertrauen und Solidarität! Und das in einem System, das von der Stasi durchseucht war. Herr O kleinmütig: Ja, aber flächendeckend war die Stasi trotz dieses Namens nicht. Ich selbst habe in einem großen Freundeskreis keinen Stasispitzel gefunden und ich kann mich auch an keine Therapie erinnern, in der Stasitätigkeit faktisch eine Rolle gespielt hat. Aber auch grundsätzlich haben Sie natürlich recht. Teile der schrecklichen gesellschaftlichen Realität, u. a. die Stasi, wurden weitgehend verleugnet und ausgeblendet. Herr W: Ich bin ein wenig enttäuscht, dass Sie die faktische Anwesenheit oder Abwesenheit von Stasitätigkeit in den Mittelpunkt stellen. Analytisch gedacht geht es doch um die ständige, »virtuell flächendeckende«, seelische, aber oft weitgehend verleugnete Präsenz der Stasi. Herr O schaut zustimmend und schuldbewusst. Herr W Grobian: Außerdem bezweifle ich entschieden, dass in der DDR-Psychotherapie Einstellungen wie Solidarität oder Mitgefühl zentral waren. In den Polikliniken waren viele Psychologen schlecht ausgebildet, reagierten pädagogisch und autoritär oder beschränkten sich auf Entspannungsverfahren. Herr O jetzt weniger kleinmütig und allmählich auftrumpfend: Ja, aber es gab in den letzten Jahren eine intensivere Ausbildung in den beiden oben geschilderten Verfahren, die Einführung des Facharztes für Psychotherapeutische Medizin, sogar eine Publikation Freud’scher Texte und einen großen Freud-Kongress. Es ist eine interessante Perspektive zu überlegen, was ohne die Wende in der Psychotherapieszene der DDR noch entstanden wäre. Außerdem gab es in den Zentren einige Psychotherapie-Kliniken, die sehr gut arbeiteten und ein breites und differenziertes Angebot hatten (Gruppen, kommunikative Bewegung, sehr gute Musik- und Gestaltungstherapien). Ich bin mir nicht sicher, ob sie den damaligen westdeutschen, selbst den heutigen gesamtdeutschen Therapiekliniken nachstanden. Das passt sicher genau in die gesellschaftliche Bevorzugung von Gruppen und Kollektiven gegenüber dem Individuum und der individuellen Entwicklung. Auf dem Gebiet der Beziehungsgestaltung in langen Einzeltherapien gab es die mit Abstand größten – ja dramatischen – Defizite. Herr W: Ich fand Ihre Ausführungen sehr spannend. Ich habe gelernt, dass verschiedene Ursachen das Fehlen der Psychoanalyse in der DDR begründen. Die Geringbewertung des Individuums, die oben schon beschriebene Unvereinbarkeit des Freiheits- und Wahrheitsanspruches der Psychoanalyse mit einer Diktatur. Andererseits stand die Distanz zwischen dem Patienten und dem Therapeuten in der Psychoanalyse dem spontanen

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Empfinden der DDR-Bürger entgegen. Werte wie Abstinenz und Neutralität sind mit Bedürfnis nach Nähe, nach Gleichheit, nach Konsens nicht ohne weiteres zu vereinbaren. Herr W fortfahrend und sichtlich emotional beteiligt: Ich kenne das besonders von vielen Supervisionen mit ostdeutschen Kollegen. Ihr ständiges Lamento war: Das Setting ist zu streng, das Ausfallsstunden-Honorar inhuman usw. Das Setting in den Therapien der Ossis wurde schlecht beachtet und dadurch kam es oft zu überfürsorglichen und damit übergriffigen oder auch zu pädagogischen und latent aggressiven Interventionen, und zwar unabhängig davon, welche Therapieform die Kollegen vorher gelernt hatten. Die Etablierung und Bewahrung des Settings war für alle der schwierigste Lernschritt. Verzeihen Sie den harten Ton! Aber da kann ich wirklich ungeduldig werden. Herr O hat sich gefangen und will sich aus der Defensive befreien: Ja, jetzt haben wir wieder die gewohnte Hierarchie und die eingeübte Dynamik. Der Westler urteilt von oben herab über den Ossi, aber fasst sich nicht an seine eigene Nase. Ich kann mit der Kritik von westdeutschen Kollegen besser umgehen, wenn sie ihr System auch kritisch betrachten. Das vermisse ich oft. Z. B. gehen Sie automatisch und völlig naiv davon aus, dass in den westlichen Demokratien Freiheit und Wahrheitsstreben ohne weiteres möglich sind. Sie denken nicht daran, dass es andere Freiheitsbeschränkungen außer den politischen gibt. Vielleicht hilft da Habermas mit seiner Unterscheidung zwischen Systemwelten und Lebenswelten. Das System sind die staatlichen und ökonomischen Makrostrukturen wie Politik, das Rechtssystem, Verwaltung und staatliche Bürokratie. Das System übt einen ständig größer werdenden Einfluss auf die Lebenswelt der Bürger aus. Lebenswelten sind die überschaubaren Einheiten, in denen wir konkret leben (Familie, Nachbarschaft, Vereine, Freundeskreise). Dort – und besonders in der Familie – entstehen die Ressourcen, aus denen die Gesellschaft schöpft wie Liebe, Zuneigung, Empathie, Freundlichkeit. Die Systeme haben ganz andere Währungen als Geld, Macht, Prestige usw. Im Osten liegt es auf der Hand, dass das System (Partei, Staatsapparat, Staatssicherheit, staatliches Gesundheitswesen) einen immensen kontrollierenden und repressiven Einfluss auf die Lebenswelt der Psychotherapie hatte. Ebenso wenig ist aber zu leugnen, dass auch hier lebensweltliche Ressourcen wie Empathie, Wohlwollen, gegenseitige Anerkennung auch in therapeutischen Gruppen und therapeutischen Dyaden wirksam waren. Viele Kollegen schöpften gerade daraus, waren engagiert, haben ihr Bestes gegeben, ihren Altruismus, ihre Freundlichkeit und haben sich sehr mühsam zum Teil privat fortgebildet und fühlen sich jetzt abgebügelt, weil sie nicht genügend ausgebildet waren und unvermeidbaren repressiven Zwängen des Systems ausgeliefert. Weiterhin Herr O, der allmählich Oberwasser bekommt: Außerdem können Sie nicht im Ernst behaupten, dass es im Westen keinen Einfluss der Systemwelten auf die Lebenswelt oder auf die Psychotherapie gibt. Da gibt es auch externe Faktoren wie Versicherungen, organisiertes Gesundheitswesen, politische Entscheidungen. Aktuell wird das Arztgeheimnis nicht gleicher Weise geschützt wird wie vordem. Ein ganz eigenes Thema ist die durchgehende Ökonomisierung des Lebens und auch der Medizin, zu deren Betrieb ja die Psychotherapie gehört. Da ist noch viel Denk- und Aufklärungsarbeit zu leisten, um deren mächtigen Folgen für die Psychotherapie zu verstehen.

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Und es gibt interne systemische Einflüsse, durch die Autorität von Psychotherapiegesellschaften und psychotherapeutischen Instituten, durch Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Richtungen. Und vor allem gibt es eine Tendenz zum Dogmatismus und der Rechthaberei, die der Freiheit des Geistes nicht dient. Alle diese Vorgänge haben auch einen mehr oder weniger verdeckten Einfluss auf die unmittelbare persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient. Es ist naiv anzunehmen, dass derartige Faktoren irrelevant sind und eine unabhängige sozusagen jungfräuliche psychotherapeutische Arbeit möglich ist. Also, ich bezweifle nicht, dass der Unterschied zur DDR immens ist, aber – so groß er sein mag –, er ist sozusagen nur quantitativ und nicht kategorial, absolute Freiheit und die uneingeschränkte Möglichkeit nach Wahrheitsstreben gibt es in keinem gesellschaftlichen System. Übrigens kann man ja an der nachlassenden Bedeutung der analytischen Sozialpsychologie und Kulturtheorie sehen, dass die gesellschaftliche Relevanz psychoanalytischen Denkens nachlässt. Die Analyse beschränkt sich in der Regel auf das klinische Setting. Das ist für meine Begriffe schon ein Hinweis auf die beginnende gesellschaftliche Blindheit der Psychoanalyse. Herr W, endlich auch einmal kleinlaut: Ich gebe ihnen recht, da gibt es viel Unbildung oder Desinteresse unter den Kollegen. Herr O Grobian: Seien wir doch einmal ehrlich. Bei uns gab es Machtmissbrauch und Denkverbote usw., aber bei Ihnen gibt es das doch auch. Wo ist denn da der Unterschied? Die Menschen sind doch überall schlecht. Herr W Grobian: So ist das, wenn man Ossis nur den kleinen Finger gibt! Herr W: Wir wollen doch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Es ist unredlich und intellektuell völlig unangemessen, beide Systeme auf diese Weise gleichzusetzen. Damit ebnet man jede Differenz ein und verhindert eine wirkliche Analyse. Dieses Denken dient dann als Alibi und verkommt zur Generalentschuldigung. Herr O Grobian: Bekommt einen roten Kopf ist aber auf keine Weise überzeugt. Herr W: Ich stehe der Frage des gesellschaftlichen Einflusses auf die Psychotherapie auch in den Demokratien sehr offen gegenüber und wäre Ihnen dankbar für eine etwas konkretere Beschreibung. Was beunruhigt Sie da? Wo sehen Sie Gefahren? Herr O: Ich möchte mich auf einen Punkt beschränken. Ich meine nicht so sehr äußere Bedrohungen wie politische Verbote usw., sondern innere Beschränkungen der Therapeuten, in dem sie fragwürdige gesellschaftliche Standards und Vorurteile nicht hinterfragen. Vielleicht sind sie dem herrschenden Zeitgeist oder dem gesellschaftlichen Unbewussten zu sehr ausgeliefert. Ich denke dabei an die Bedeutung des Geldes, die Ungleichverteilung gesellschaftlicher Macht, das universale Tauschprinzip und die Herrschaft des Konkurrenzdenkens, den Einfluss der Kulturindustrie, Entfremdungsvorgänge der Gesellschaft usw. Die unbewusste und unreflektierte Teilhabe an derartigen Einstellungen könnten die Freiheit unseres Denkens wesentlich einschränken und z. B. uns dabei behindern, unangepassten Menschen mit alternativen oder rebellischen Einstellungen gerecht zu werden.

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Herr W enttäuscht: Jetzt entfernen wir uns aber von unserer Ausgangsfrage. Lassen Sie mich mit Fontane antworten: Das ist ein zu weites Feld. Und Ihre Antwort hat nicht sehr viel zur Klärung beigetragen. Es sind die bekannten Topoi der linken Gesellschaftskritik und der Frankfurter Schule. Herr O beharrlich: Sie gehen schnell darüber hinweg, aber das ändert doch nichts an der Relevanz und dem Wahrheitsgehalt dieser Thesen. Der elegante Verweis auf Fontane ist vielleicht auch nur Ausdruck von Denkfaulheit. Aber Ich gebe Ihnen recht, dass wir hier nicht tiefer in die Materie eindringen können. Übrigens idealisieren Sie die Analyse, besonders aber die organisierte Psychoanalyse. Die ist nicht nur subversiv. In einem kritischen Licht gesehen, gehört sie zum Establishment und ist eine gesellschaftliche Anpassungsagentur, die in sich autoritär strukturiert ist und eine autoritäre Ausbildung organisiert. Übrigens gibt es zahlreiche bedeutende Philosophen, die nicht nur die herrschende kapitalistische Gesellschaft fundamental kritisieren, sondern die auch die ideologischen und sozialen Verstrickungen der Psychoanalyse in diese Gesellschaft thematisieren. Denken Sie an Foucault und Deleuze. Allerdings sind das Autoren, die von der etablierten Psychoanalyse weitgehend ignoriert werden. Herr W will seine vorübergehende Schwäche verbergen und geht wieder zum Angriff über: Jetzt sehen Sie doch, wie weit das Feld ist, und ich habe Sie im Verdacht, von schwierigen Themen ablenken zu wollen. Bisher haben wir nur über unmittelbare gesellschaftliche Einflüsse auf die Psychotherapie geredet, aber es geht ja auch um die inneren Realitäten der Therapeuten. Die jahrzehntelange Erfahrung politischer Unfreiheit und Subalternität muss doch Folgen für den Charakter haben? Vielleicht sogar zu Deformierungen des Charakters führen, die die Fähigkeit zur psychoanalytischen Tätigkeit einschränken. Herr O betroffen, aber auch amüsiert: Oh – diese Argumente kenne ich gut. Nach der Wende habe ich sie oft genug gehört. Orginalton Herr Grobian West 1992: Die Psychoanalyse ist nicht für Ihre Generation gemacht, sondern höchstens für die nächste oder übernächste. Sie selbst sind durch Ihre – natürlich unverschuldete – Existenz im repressiven System derartig beschädigt, dass eine gründliche Analyse scheitern muss. Insbesondere ist wahrscheinlich Ihr Über-Ich unreif, rigide und entwicklungsunfähig. Orginalton von einer Dame mit dem merkwürdigen Doppelnamen Frau W Grobian-Moderat 1993: Institutsgründungen im Osten halte ich für unmöglich. Das ist eine Sache der übernächsten Generation. Jüngere und weniger geschädigte Kollegen sollten in den Westen gehen und dort eine Ausbildung machen. »Go west«. Später können sie eventuell zurückkommen und im Osten eine neue Entwicklung der Psychoanalyse begründen. Herr W: So weit ging das!! So würde ich es natürlich nicht formulieren, aber man könnte schon darüber nachdenken, ob das Leben in einem autoritären Staat nicht Auswirkungen auf den Charakter hat. Herr O: Da stimme ich Ihnen zu und bin wahrscheinlich in einem erheblichen Dissens zu den meisten DDR-Bürgern und auch Psychotherapeuten. Ich bin davon überzeugt, dass 40 Jahre Prägung in einem autoritären Staat zu schmerzhaften und beschämenden Folgen für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit führen. Es geht nicht um schwerwiegende Charakterpathologien. Ich gehe davon aus, dass unsere Doppelzüngigkeit, unsere

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6.7  Berichte und neue Identitätssuche zur und nach der Wende

Subalternität, unsere ständige Erfahrung von Angst und Demütigung Spuren hinterlassen haben. Ich habe persönlich in meiner Lehranalyse intensiv über diese Prägungen gearbeitet und bin dankbar für den Raum und das Verständnis, das ich dort gefunden habe. Die Defizite, die ich bei mir registrierte (Schwierigkeit, mich öffentlich kritisch zu äußern, Schwierigkeit, an der Autorität Kritik zu üben, Neigung zur übertriebenen Konsensbildung und Konformität usw.), hätte ich allerdings in keinem Augenblick so schwer eingeschätzt, dass sie meine Befähigung zur analytischen Tätigkeit einschränken. Einwurf: Herr W Mittelgrob: Die Kollegen, die die seelischen Folgen der Diktatur bezweifeln, sollten sich nur moderne Umfragen zur Demokratiegesinnung der Deutschen anschauen. Sie stimmen darin überein, dass die Ostdeutschen eine verstärke Anfälligkeit für autoritäres, demokratiefeindliches Denken haben, und zwar in einem erschreckenden Umfang. Und dazu kommt die verstörende Verharmlosung der DDR-Repression. Herr W beschwichtigend: Jetzt fällt mir etwas Wichtiges ein. Die groben Westkollegen, die Sie zitiert haben, leiden möglicherweise unter einem eigenen Trauma und haben auf Sie projektiv reagiert. Denn Ähnliches haben Ihnen wahrscheinlich amerikanische, englische oder jüdische Analytiker nach dem Krieg zu bedenken gegeben. Herr O: Alle tieferen Gespräche über die Ost-West-Differenz führen häufig auf die gemeinsamen Wurzeln und damit auf unsere faschistischen Eltern und Großeltern und auf die Neigung der Deutschen zur Errichtung autoritärer oder gar totalitärer staatlicher Strukturen. Es wird über deren seelische Entsprechung, nämlich totalitäre innere Objekte, spekuliert und deren verstärkte Präsenz in Deutschen sowie über deren intergenerationelle Weitergabe. Ich finde diese Diskussion sehr schwierig und glaube nicht an spezifische totalitäre innere Objekte, die unter den Bedingungen der Diktatur entstehen sollen. Die Fähigkeit zu autoritären und destruktiven Haltungen und Handlungen gehört für mich zur Conditio Humana und die kleinianische Psychoanalyse hat viel dazu beigetragen, sie von Grund auf zu verstehen. Die Charakterveränderungen, die ich beschrieben habe, finden sich auf einer anderen, »reiferen« Ebene und sind besser mit solchen Vokabeln wie mangelnde Zivilcourage, Neigung zur Konformität, Konfliktscheu zu beschreiben. Herr W: Ich verstehe Ihren Schlenker, aber mir ging es eher um die Ähnlichkeit der Psychotherapiesituation 1945 in Deutschland und 1989 in der DDR. Wahrscheinlich gab es selbst unter dem Terrorregime der Nazis, das an Brutalität die späte DDR bei weitem übertraf, klinisch erfolgreiche Psychotherapie, trotz der Vernichtung der Freud’schen Psychoanalyse. Obwohl ich eingestehen muss, dass diese Vorstellung etwas Grauenvolles hat. In der Therapiesituation mussten ja sowohl der Patient als auch der Therapeut die mörderische Brutalität des Regimes verleugnen. Nach dem Krieg war die Analyse in Deutschland vernichtet, später gespalten. Der Neuanfang gelang nur mit der Hilfe englischer, amerikanischer und jüdischer Lehrer. Viele verantwortungsvolle Psychoanalytiker gehen davon aus, dass die Zerstörung der Psychoanalyse jahrzehntelange Folgen hatte und dass erst in den letzten Jahren der Anschluss an das internationale Niveau gelang. Insofern sind die Äußerungen der groben Westkollegen über die langen Zeiträume, die die Psychoanalyse zur Entwicklung braucht, nicht gar so verrückt. Herr O: Herrmann Beland geht davon aus, dass die blockierte Fähigkeit der Nachkriegsdeutschen, analytisch zu denken, mit den tiefen Schuldgefühlen wegen des Holocaust

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

und der Vernichtung der Psychoanalyse in Zusammenhang stehen. Den Gedanken verstehe ich gut, wenn ich auch seinen Wahrheitsgehalt nicht wirklich beurteilen kann. Ich bin sicher, dass ähnliche Schuldgefühle bei Ostdeutschen und den Ost-Psychotherapeuten der Wendegeneration nicht bestanden, denn schließlich lebten sie nicht in einem mörderischen totalitären System und waren in der Regel nicht aktiv am destruktiven Herrschaftsgeschehen beteiligt. Ich vermute, dass bei vielen DDR-Bürgern nicht die Schuld-, sondern die Schamdynamik überwiegt. Scham über die Anpassungsbereitschaft, die mangelnde Zivilcourage, die Subalternität, das so sehr verspätete Aufbegehren gegen die Parteienherrschaft und die allgemeine Repression. Diese Scham hat sicher weit weniger Tiefenwirkung als die Schuldgefühle der Mitlebenden im »Dritten Reich«. Außerdem kenne ich viele DDRTherapeuten, die sich damit intensiv und schmerzhaft auseinandersetzen. Eine Gleichsetzung der seelischen Spätfolgen des Nazireiches und der DDR halte ich deshalb für leichtfertig und denunziatorisch. Herr W: Ich glaube, wenn wir Zuhörer hätten ... Herr O: Eine absurde Vermutung! Herr W fortfahrend: ... gäbe es schon eine heftige Verwunderung darüber, dass wir anlässlich einer so einfachen Frage zu derartig abgründigen Themen gelangen. Wir denken offenbar beide psychoanalytisch. Die Psychoanalyse dringt von der Oberfläche in die Tiefe und untersucht unbewusste oder latente individuelle und gesellschaftliche Vorgänge. Sie ist eben keine rein therapeutische Disziplin, sondern immer auch Psychologie des Unbewussten in einem sehr allgemeinen und weitreichenden Sinn. Insofern braucht sie politische Freiheit dringender und grundsätzlicher als psychotherapeutische Disziplinen, die sich auf die klinische Situation und auf die Optimierung der klinischen Wirksamkeit beschränken. Relativ friedlicher Abschied. Verabredung auf ein Bier irgendwann.

6.8 Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten nach der Wende 6.8.1 Irene Misselwitz: Teile und herrsche – Eine Wendegeschichte aus gruppendynamischer Sicht Als leidenschaftliche Gruppenpsychotherapeutin habe ich über zwei Jahrzehnte in der von mir geleiteten Psychotherapie-Abteilung der Universitätsnervenklinik in Jena mit geschlossenen Gruppen gearbeitet. Das Phasenmodell der Intendierten Dynamischen Gruppenpsychotherapie nach Höck diente mir als Orientierung, um einen effektiven therapeutischen Prozess innerhalb eines vorgeschriebenen Zeitumfangs zu ermöglichen. In den Zeiten der friedlichen Revolution im Herbst 1989 wurde mir bewusst, dass dieses Gruppenmodell auch

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6.8  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten nach der Wende

zum Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge beitragen kann. Gerade die Entwicklung einer Gruppe aus Angst und Abhängigkeit heraus in Richtung zu Auseinandersetzung und Verantwortungsübernahme (Kippprozess) wurde für mich zum Symbol dieser Zeit. Meine Kenntnisse der Gruppendynamik halfen mir in dieser Zeit, gesellschaftliche Prozesse zu verstehen und mich konstruktiv einzubringen. Mir war immer klar, dass Veränderungen in der DDR nur von vielen und nur gemeinsam erreicht werden können, ähnlich wie auch ein Kippprozess in der Therapie von der Gruppe als Ganzes getragen werden muss. Das ist die Voraussetzung für eine neue Gruppenatmosphäre, in der dann die individuellen Neurosen und anderen Störungen mit Gewinn gemeinsam bearbeitet werden können. Dazu möchte ich jetzt eine Geschichte vom Oktober 1989 erzählen, etwa vier Wochen vor dem Mauerfall: Als eine von 15 Bürgerinnen und Bürgern der Stadt war ich gemeinsam mit dem Superintendenten Udo Siebert in das Rathaus geladen, um dem Bürgermeister und den Parteigremien der Stadt, der Universität und der Großbetriebe die Forderungen und Vorstellungen der Bürger über die dringend notwendigen Veränderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu überbringen. Mein Part war, über die Probleme im Gesundheitswesen sowie über die seelischen Niederschläge gesellschaftlicher Missstände zu sprechen. Die »ganze Stadt« war auf den Beinen. Es war für unsere kleine Gruppe schwer, uns ins Rathaus durchzukämpfen. Wir wurden als Verräter beschimpft, dass wir uns »mit denen« einließen. Die »Oberen« sollten gefälligst herauskommen und mit allen sprechen. Ich fühlte mich sehr unwohl und zweifelte sogar an unserer Strategie. Mir fiel der Slogan »teile und herrsche« ein. Höck hatte damit immer ein Therapeutenverhalten gegeißelt, wenn es dem Therapeut nicht gelang, die ganze Gruppe an der Auseinandersetzung mit den Gruppenleitern zu beteiligen, sondern regressive Untergruppenbildungen förderte. »Teile und herrsche« – das sollte »denen« auf keinen Fall gelingen, nahm ich mir fest vor. Wir mussten die Draußenstehenden unbedingt einbeziehen. Aber wie? Als Erstes sorgte der Superintendent dafür, dass das »Bürgergespräch« über Lautsprecher nach draußen übertragen wurde. Nachdem wir unsere Anklagen und Forderungen unter tosendem Beifall der Draußenstehenden vorgetragen hatten, gingen sowohl der Bürgermeister als auch die Parteiführungen relativ weich damit um, akzeptierten vieles, versprachen vieles, baten auch um Verständnis, dass nicht alle Missstände so schnell beseitigt werden könnten. Sie wurden also recht schnell mit unserer kleinen Gruppe fertig und erwarteten nun, dass wir brav nach Hause und wieder zur Tagesordnung übergehen sollten. Das »teile und herrsche« funktionierte hier offenbar genauso wie in einer Therapiegruppe. Wir waren einen Moment recht ratlos, alles schien nutzlos verpufft. Als unser »Gruppenleiter«, der Superintendent, auch nicht weiterwusste, nahm ich mir ein Herz und holte mir das Mikrophon noch einmal und hielt eine flammende Rede, über die ich mich selbst wunderte. Ich sagte, dass wir ja nur eine kleine Gruppe hier seien und dass alle da draußen dazugehörten und wir zu ihnen. Alle Bürger da draußen seien unzufrieden und hätten ein Recht, ebenso ihre Vorstellungen und Forderungen vorzutragen. Der tosende Beifall von draußen unterstützte den Druck, dem sich die Genossen plötzlich wieder ausgesetzt sahen. Das machte mir Mut, konsequent meine Forderung nach einem öffentlichen Bürgergespräch immer wieder zu wiederholen. Die Genossen

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

mussten dem schließlich notgedrungen nachgeben und eine Woche später fand dann wirklich das öffentliche »Einwohnerforum« auf Jenas größtem öffentlichem Platz statt. Ich war froh und erleichtert, dass es gelungen war, die uralte Herrschaftsstrategie »teile und herrsche« dank meiner guten Gruppenausbildung zu durchbrechen.

6.8.2 Ilona Stoiber: Geht Verhaltenstherapie nur mit Pawlow? Zum Zeitpunkt der Wende von der DDR zur BRD fühlte ich mich auf dem Gebiet der Verhaltenstherapie relativ gut informiert. Ein großer Teil meines täglichen Tuns war der Weiterbildung, Öffentlichkeitsarbeit und der Organisation der gesellschaftlichen Tätigkeit in den Arbeitsgemeinschaften/-gruppen gewidmet. Ich war dank meiner westdeutschen Kollegen umfangreich mit Literatur versorgt und konnte sie damals noch lesen (was mir heute nicht mehr gelingt). Als Vorsitzende der Sektion/AG Verhaltenstherapie hatte ich den Kontakt zu den Aktiven der DDR in dieser Fachrichtung. Da traf ich 1991 auf die Suchtbeauftragte der Bundesregierung, die ebenfalls Diplom-Psychologin war, und sie sagte zu mir: »Verhaltenstherapie haben Sie gemacht? Geht denn das, nur allein mit Pawlow?« Da ich sprachlos schwieg, kam mir der Berliner Drogenbeauftragte zu Hilfe: »Lassen Sie mal, Frau Stoiber, für die aus Bonn war die Berliner Mauer der Eiserne Vorhang, hinter dem Sibirien begann.«

6.8.3 Irene Misselwitz und Margit Venner: Sprechen in der Psychotherapie Viele Psychotherapeuten in der DDR hatten in diesem Fach eine Nische gesucht, um dort die Chance zu haben, anders zu denken, zu reden und zu handeln, als es das Regime vorschrieb. Natürlich war das zum Teil ein Selbstbetrug, denn zwischen dem Nischendasein und der sozialistischen Realität mussten auch Psychotherapeuten einen mehr oder weniger kunstvollen Spagat machen. Auch die Psychotherapie war keine »Insel der Seligen«. Das Fach selbst war an sich schon eine Infragestellung des Systems, denn seelische Not sollte es von der Theorie her nur im Kapitalismus geben. Da jedoch psychische Störungen und die Notwendigkeit von deren Behandlung nicht verboten werden konnten, musste das Fachgebiet offiziell in den Universitätskliniken und Landesfachkrankenhäusern etabliert werden. Als DDR-Bürger rechneten wir ständig mit der Möglichkeit der Überwachung. Dies betraf auch den klinischen Alltag. Wir fanden besondere Lösungen für die Verständigung, zum Schutz unserer Patienten, aber auch für uns selbst. Im Alltag war es uns in allen Lebensbereichen selbstverständlich, die politische Gesinnung des Gegenübers zu erfassen und sich im Gespräch und Verhalten darauf einzustellen. In der Psychotherapie war dies natürlich besonders wichtig. Psychotherapeutische Prozesse gehen mit regressiven Bewegungen einher und wir Psychotherapeuten hatten an dieser Stelle auch eine Schutzfunktion für unsere Patienten. Wir mussten akzeptieren, dass Patienten uns manche Dinge aus ihrem gesellschaftlichen Alltag nicht mitteilen wollten. Andererseits

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6.8  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten nach der Wende

mussten wir sie auch vor zu großem Mitteilungsbedürfnis bezüglich riskanter Themenbe­ reiche schützen. Biographische Arbeit in der Gruppentherapie war dadurch nur eingeschränkt möglich. Die Fokussierung auf das Hier und Jetzt stand eindeutig im Vordergrund unseres Arbeitens. Auch das Sprechen in Andeutungen und mit lautloser Mimik und Gestik gehörte zum Alltag der Verständigung bei gesellschaftspolitischen Themen. Bei entsprechenden Themen blieb einiges manchmal im Vagen, Missverständlichen. Auch die Führung der Krankenakten musste sich unseren besonderen Bedingungen anpassen: Wir behandelten auch Patienten aus Funktionärskreisen (von der Ministergattin bis zum kleinen Parteisekretär) und ebenso Oppositionelle, Ausreisewillige und Aussteiger. Für diese Patienten führten wir Akten, die sich auf die klinischen Daten und das körperliche Befinden bezogen. Alles andere musste man sich merken. Mit einzelnen Patienten gingen wir während der Konsultationen zur beiderseitigen Sicherheit je nach Jahreszeit in den langen Klinikfluren oder im Klinikgelände spazieren, um vermuteten Abhöranlagen zu entgehen. Durch den Systemwechsel und die Öffnung der Stasiakten wurde vieles, was wir vorher nur vermutet hatten, offengelegt. Nur selten ließen sich die damaligen Verstrickungen, wie im folgenden Beispiel, klären und aufarbeiten. Frau A, 1948 geboren, litt seit mehreren Jahren an multiplen psychosomatischen Beschwerden und hatte 1988 mit gutem Erfolg eine stationäre Gruppenpsychotherapie in der Universitätsnervenklinik Jena absolviert. Im Januar 1990 erkrankte sie erneut. Weder ambulante noch stationäre Behandlungen konnten das Beschwerdebild lindern. Die Gründe blieben uns zunächst unklar. Im Herbst 1990 war sie dann arbeitslos geworden. Sie hatte mit verstärktem depressivem Rückzug reagiert und nur wenige Initiativen zur Arbeitsplatzsuche unternommen. Frau A stammte aus gutbürgerlichem christlichen Milieu und wurde sehr autoritätsabhängig erzogen. Unter dem Einfluss des Ehemannes, einem staatstreuen SED-Mitglied, trat sie aus der Kirche aus, brach alle Westkontakte ab und wurde wie ihr Mann im Staatsapparat tätig. Während der stationären Gruppentherapie hatte sie sich von einem Familienfreund, der MfS-Angestellter war, dazu überreden lassen, einen Mitpatienten zu bespitzeln. Nach der Wende und den Enthüllungen über Regierung und MfS wurde ihr die Verwerflichkeit ihres Handelns bewusst. Sie quälte sich sehr mit Selbstvorwürfen und Schuldgefühlen, wagte jedoch nicht, sich irgendjemandem anzuvertrauen. Da der Mitpatient ein bekannter Oppositioneller war, konnte er seine Stasiakte bereits im Frühjahr 1990 einsehen und entdeckte die ehemalige Mitpatientin unter den auf ihn angesetzten 19 Informanten. Auf seinen Wunsch hin kam ein erneutes ambulantes Gruppentreffen zustande, an dem auch Frau A teilnahm. Es war eine sehr bewegende Sitzung für uns alle, die fast den ganzen Tag dauerte. Frau A bemühte sich sehr, sich mit ihrer Lebensgeschichte und der damit zusammenhängenden Systemverstrickung auseinanderzusetzen. Das ermöglichte echte Begegnungen nach dem schweren Schock in der Gruppe. Es war ein beeindruckender Anfang, gemeinsam

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6. Kapitel  |  1990–1995: Wende- und Nachwendezeit

über die belastende und belastete Vergangenheit zu sprechen, den ich so nicht wieder erlebt habe. Frau A vertraute der Gruppe unter Tränen ihre Gewissensqualen an, dass der Tag, an dem der Mitpatient sie mit dem Aktenfund konfrontiert hatte, der schlimmste, aber auch der entscheidendste in ihrem Leben gewesen sei. Sie habe in der Folgezeit oft daran gedacht, sich das Leben zu nehmen. Es sei für sie furchtbar und körperlich schmerzhaft, mit dieser Schuld zu leben. Sie könne sich jetzt selbst nicht mehr verstehen. Seit der Wende habe sie in Angst vor der Aufdeckung gelebt und zunehmend unter psychosomatischen Symptomen gelitten. Sie spüre aber jetzt, dass die Enttarnung und die innere Auseinandersetzung ihr große Erleichterung bringen. Sie hatte nach der Wende an unterbrochene Lebenslinien angeknüpft und wieder Zugang zum christlichen Glauben und zur Kirche gesucht und gefunden. Dies hatte ihr die Kraft gegeben, an dem Gruppentreffen teilzunehmen. Sie wollte nicht wieder in den Staatsdienst zurück, obwohl man ihr das inzwischen angeboten hatte. Sie wollte sich nicht erneut verpflichten lassen, nicht mehr Autoritäten vertrauen, sondern nur noch dem eigenen Gefühl. Das tue auch ihrem schmerzenden Körper gut. Ein Jahr später schrieb sie mir: »Mir ging es in diesem Sommer ganz prima, ich fühlte mich so wohl wie nie zuvor [...]. Die ganzen Aufregungen der letzten Jahre haben auch eine ganz entscheidende Wende in der Beziehung zu meinem Mann gebracht. Wir sprechen über Dinge, die vorher einfach nicht möglich waren [...] wir sind beide von Ideologien gebrannte Kinder. Wir konnten beide die Vergangenheit nicht einfach abschütteln, sie ist ständig gegenwärtig. Und es ist schwer, damit zu leben. Ich muss aufpassen, dass es nicht in Depressionen umschlägt [...]«. Die beschriebenen besonderen Strategien der Verständigung zwischen Therapeut und ­Patient waren uns so selbstverständlich in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir sie erst im Nachhinein definieren können. Das genannte Beispiel zeigt, dass wir trotz aller Vorsicht unsere Patienten und uns nicht vollständig schützen konnten. Jedoch haben wir auch unter diesen Bedingungen den meisten unserer Patienten wirksam helfen können. Sie konnten aus Krankheit, Verzweiflung und depressiver Inaktivität herausfinden und trotz des repressiven Systems den für sie stimmigen Weg zwischen Anpassung und Auflehnung finden. Dies traf auch für den oben beschriebenen Patienten und die Informantin aus der Gruppe zu.

6.8.4 Hans-H. Fröhlich: Einmal geheim – immer geheim! Eigentlich könnten sie einem ja leidtun: Vor der Wende geheim und jetzt, wo die berufliche Existenz in die neue Zeit gerettet werden soll, glaubten die Antragsteller auf Fachkunde der VT auch, geheim bleiben zu müssen und zu können. Von 131 Antragstellern waren vier Psychologen in Einrichtungen des Ministeriums für Staatssicherheit hauptamtlich klinisch tätig. Was hatten sie gemein?

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6.8  Geschichten aus dem Alltag des Psychotherapeuten nach der Wende

1. In den mit ihnen geführten Gesprächen dominierte der Gesamteindruck einer auffälligen Unauffälligkeit. 2. Sie waren in den Arbeitsgruppen sowie als Teilnehmer von Weiterbildungen der Sektion VT völlig unbekannt. 3. In allen Anträgen versuchten sie, die Institution, in der und für die sie tätig waren, zu kaschieren, indem vom Zentralen Medizinischen Dienst, vom Sportklub Dynamo, vom Regierungskrankenhaus, vom Ministerrat der DDR oder vom Ministerium für Innere Angelegenheiten die Rede war. 4. In den geforderten VT-Weiterbildungs- und Qualifizierungsbestandteilen wurde regelrecht »rumgeeiert«. Hier ein paar Kostproben: ­ – »Ständige Fortbildung entsprechend der Weiterbildungsordnung des Zentralen Medizinischen Dienstes (ZMD)«. ­ – Teilweise wurde versucht, Kurse, WB-Bestandteile u. a., die im Rahmen der Fachausbildung tatsächlich erbracht wurden, nochmals als VT-Weiterbildung »zu verkaufen«. ­ – »Kommunikationstraining«, bescheinigt von einer Psychiaterin mit hohem Dienstrang, sollte Selbsterfahrung suggerieren. ­ – Verschiedene Kollegen aus dieser Einrichtung bildeten »Fachteams« und »bescheinigten« sich damit gegenseitig Supervision, auch als »kollegiale Supervision« benannt. ­ – Ein Kollege argumentierte besonders dreist. In seinem Widerspruch gegen die Ablehnung seines Antrags verwies er auf seine »berufsbegleitende Selbsterfahrung« und seine »psychologischen Sprechstunden in verschiedenen Diensteinheiten, in denen ich psychodiagnostisch und psychotherapeutisch methodenübergreifend arbeitete«. Die angeforderte Arbeitsbescheinigung des Bundesverwaltungsamtes wies für den fraglichen Zeitraum jedoch eine Tätigkeit als operativer Sachbearbeiter bzw. operativer Mitarbeiter im Bereich Aufklärung aus! Vertuschen, täuschen, leugnen, manipulieren – aus Angst oder alter Gewohnheit? Wie ging die Fachkommission nun mit diesen Kandidaten um? Fair und sachlich. Es galt ein Beschluss der GPPMP und der Sektion VT, dass grundsätzlich Supervision und Selbsterfahrung, die in Einrichtungen und Kollektiven des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit oder in seinem Rahmen erfolgten, nicht anerkannt werden. Angesichts der Undurchschaubarkeit und fehlender Kontrollierbarkeit durch Fachgremien kann keine Beurteilung der Qualität solcher interner Weiterbildungsaktivitäten vorgenommen werden. Zwei dieser Klinischen Psychologen bekamen entsprechende Auflagen zur Nachqualifizierung. Zwei Anträge wurden abgelehnt, jedoch wurde – aufgrund nachweisbarer VT-Voraussetzungen – den Kollegen eine verkürzte zweijährige Ausbildung konzediert. Beide Antragsteller erhoben Widerspruch. In nochmaliger ausführlicher Auseinandersetzung mit den angeführten Argumenten blieb die Fachkommission bei den ursprünglichen Entscheidungen.

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Anhang

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I  Auszeichnungen und Preise

I

Auszeichnungen und Preise

I.1 Michael Geyer: Die John-Rittmeister-Medaille (1979) Seit Mitte der 1970er Jahre wurde im Vorstand das Fehlen einer Möglichkeit beklagt, das Engagement verdienstvoller Mitglieder und Funktionäre der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie bei der Entwicklung der Disziplin Psychotherapie und ihrer Institutionalisierung in der Medizin zu würdigen. Als Symbolfigur für eine Verdienstmedaille kam nur eine Persönlichkeit in Frage, die mit den ideologischen Prinzipien des Staates in Übereinstimmung zu bringen ist. Es gab nur einen Psychotherapeuten, mit dessen Leben und Sterben eine solche Übereinstimmung herzustellen war. Dr. med. John Karl Friedrich Rittmeister, geboren am 21. August 1898 in Hamburg, gestorben am 13. Mai 1943 unter dem Fallbeil im Zuchthaus Berlin-Plötzensee (s. a. Bräutigam 1987), war einer der wenigen Mediziner und der einzige deutsche Psychotherapeut und Psychoanalytiker, der im antifaschistischen Widerstand eine wesentliche Rolle gespielt hat. Aufgewachsen als ältester Sohn in einer großbürgerlichen Hamburger Kaufmannsfamilie, wurde Rittmeister 1917 nach seinem Abitur noch zum Kriegsdienst eingezogen. Ab 1919 studierte er in Marburg, Göttingen, Kiel, Hamburg und München Medizin, wo er von 1926 bis 1929 auch eine psychiatrisch-neurologische Ausbildung absolvierte. In einer darauf folgenden Volontärs- und Assistentenzeit an der Psychiatrischen Klinik Burghölzli in Zürich kam er mit dem Kreis um C. G. Jung und marxistischen Zirkeln in Kontakt, engagierte sich auch politisch und organisierte Hilfe für Emigranten aus Deutschland. 1937 erhielt er deswegen nach einem Volontariat in der Heilanstalt Münsingen wegen »kommunistischer Umtriebe« keine weitere Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz. 1938 war er zunächst Oberarzt unter Heinrich Schulte an der Nervenklinik Waldhaus in Berlin-Nikolassee und ab Kriegsbeginn bis zur Verhaftung Mitarbeiter und Oberarzt der Poliklinik des Berliner Göring-Instituts, dem von Matthias Heinrich Göring geleiteten Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie (DIPFP), wo er sich bei Werner Kemper einer Lehranalyse unterzog, aber auch an Hilfsaktionen für Juden und ausländische Arbeiter beteiligte. Dort lernte er die Krankenschwester Eva Knieper kennen, die er 1939 heiratete. Um beide bildete sich unter Rittmeisters Führung ein den Nationalsozialismus ablehnender Kreis junger Leute. Ende 1941 lernte Rittmeister Harro Schulze-Boysen kennen, mit dessen Ansichten er in allen wesentlichen Punkten übereinstimmte. Rittmeister und SchulzeBoysen entwarfen die programmatische Schrift »Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Land«, in der die politische und militärische Lage analysiert wurde und die später einige hundert Mal vervielfältigt an hauptsächlich akademische Kreise verschickt wurde, laut Reichskriegsgericht »Das niedrigste und gefährlichste Machwerk des Schulze-Boysen«, dessen Mitautorenschaft Rittmeisters der Hauptgrund für das Todesurteil war. Rittmeister selbst gab französischen Kriegsgefangenen Obhut in seiner Wohnung, verfasste auch selbst wohl einige Flugblätter. John Rittmeister wird am 26. September 1942

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Anhang

gemeinsam mit seiner Frau Eva festgenommen, am 12. Februar 1943 zum Tode verurteilt und am 13. Mai 1943 in Berlin-Plötzensee ermordet. Eva Rittmeister wird zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und im April 1945 aus der Haft entlassen. 1977/78, zur Zeit der Stiftung der Medaille, war man noch davon ausgegangen, dass er Mitglied der sog. Roten Kapelle, einer Spionagegruppe um Harro Schulze-Boysen, die man damals als sowjetisch gelenkt vermutete, gewesen sei. Als Spion hat sich John Rittmeister aber nicht betätigt. (Auch die Rote Kapelle war nicht sowjetisch gelenkt.) Er bezeichnete sich selber vor Gericht als Linkspazifisten, sah sich mehr als Aufklärer und Wissenschaftler. Damals ebenfalls nicht bekannt war die Mitarbeit Rittmeisters bei der Erarbeitung des sog. Diagnose-Schemas der DIPFP, eines Katalogs zur diagnostischen Kennzeichnung von Patienten, dessen einzelne Diagnosen, wie J. H. Schultz schreibt, ein »Todesurteil« waren, wobei anklingt, dass sie den Nazis die Möglichkeit gaben, ihre Träger der Aktion zur Vernichtung lebensunwerten Lebens zuzuführen (Knebusch 2005, S. 187 ff.). (Der Kommission gehörten neben Rittmeister und Schultz u. a. Felix Boehm, Werner Kemper, Carl MüllerBraunschweig und Harald Schultz-Hencke an.) Dieser Zwiespalt in der Bewertung eines mutigen Mannes, der zweifellos sein Leben einer humanistischen Vorstellung vom eigenen anständigen Leben geopfert hat, hätte wohl auch die damalige DDR-Genehmigungsbehörde für Auszeichnungen überfordert. Ende 1977 wurde erstmalig im Vorstand der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (GÄP) die Stiftung einer »John-Rittmeister-Medaille« für besondere Verdienste um die Entwicklung der Psychotherapie diskutiert. Bereits am 20. April 1978 wurde nach einer von Ernst Peper vorgenommenen Literaturrecherche beschlossen, die Stiftung beim Präsidium der Dachgesellschaft für Klinische Medizin zu beantragen. Diese genehmigte die Auszeichnung mit einigen unbedeutenden Veränderungsauflagen der Verleihungsordnung am 29. November, so dass die Plakette bereits auf dem Jahreskongress vom 11.–13. September 1979 erstmalig verliehen werden konnte. Zur ersten Verleihung war Eva Rittmeister-Hildebrand, die Witwe Rittmeisters, in Leipzig anwesend. Sie selbst wurde die erste Trägerin einer John-Rittmeister-Medaille. Insgesamt wurde die Medaille an 21 Personen verliehen: 1979: Eva Rittmeister, Alexander Mette, Karl Leonhard, Harro Wendt, Christa Kohler. 1980: Irene Blumenthal, Kurt Höck, Gerhard Klumbies, Alfred Katzenstein. 1982: Hans-W. Crodel, Hans Marchand. 1983: Hans Szewczyk. 1985: Hans Schaeffer. 1988: Wolfgang Rittmeister, Hamburg (Bruder von John Rittmeister, anlässlich des 90. Geburtstages von John Rittmeister). 1989: Werner Dummer, H. Fried Böttcher, Werner Blum, Dieter Seefeldt. 1992: Michael Geyer. 1993: Hans-Joachim Maaz. 1994: Günter Plöttner.

I.2

Michael Geyer: Der Oskar-Vogt-Preis (1982)

Die Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie hatte bereits auf ihrer Sitzung am 20. April 1978 beschlossen, neben der John-Rittmeister-Medaille für Verdienste um die Entwicklung der Psychotherapie, die das Engagement der Mitglieder und Funktionäre bei der Entwicklung der Disziplin Psychotherapie und ihrer Institutionalisierung würdigen sollte, auch einen Preis für besondere wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Psychotherapie

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I  Auszeichnungen und Preise

und Psychosomatik zu stiften. Alexander Mette, zu dieser Zeit bereits 80 Jahre alt, spendet der Gesellschaft eine größere Summe für einen wissenschaftlichen Preis (Anmerkung: die genaue Summe war nicht zu eruieren, da die Kassenbücher für den Zeitraum zwischen 1973 und 1980 fehlen). Er knüpft die Spende an die Forderung, dieser Preis solle nicht mit seinem Namen verbunden werden. Als Symbolfigur für einen solchen Preis bot sich der 1959 verstorbene Hirnforscher und Mediziner Oskar Vogt an, Mitglied der ehrwürdigen Deutschen Akademie der Naturforscher (Leopoldina), die in Halle/Saale ihren Sitz hat, sowie der Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. 1950 hatte er den DDR-Nationalpreis erhalten. Obwohl nach dem Krieg immer in Westdeutschland zu Hause, kam er als »gesamtdeutscher« Wissenschaftler und Freund der Sowjetunion für eine solche Stiftung in Frage. Oskar Vogt (6.4.1870–31.7.1959), bedeutender Hirnforscher und Hypnoseforscher, war von 1930 bis 1937 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung Berlin, bis er von den Nationalsozialisten als Sozialist entlassen wurde. Er ging mit seiner Frau, der französischen Hirnforscherin Cécile Vogt, nach Neustadt im Schwarzwald, wo er das private Institut für Hirnforschung und Allgemeine Biologie bis zu seinem Tod leitete. Von Mitte 1925 bis Mitte 1927 sezierte Vogt in 30.000 Schnitten das Gehirn Lenins. Er stellte fest, dass es bei Lenin eine außergewöhnliche Häufung von Pyramidenzellen in der dritten Hirnrindenschicht gab. Daraus schlussfolgerte er, dass Lenin eine besonders ausgeprägte Assoziationsfähigkeit besessen habe, und bezeichnete ihn als einen »Assoziationsathleten«. Diese Erkenntnis war jedoch auch schon zu dieser Zeit stark umstritten. Oskar Vogts Zusage für die Hirnuntersuchung Lenins fiel etwa mit seiner Ernennung zum Auswärtigen Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR 1925 zusammen. Aber er stellte für seine Arbeit die Bedingung, dass in der Sowjetunion ein Institut für Hirnforschung zu gründen und dafür qualifizierte Mitarbeiter auszubilden seien. Diesem Wunsch wurde entsprochen, und in Moskau entstand eine 1926 eingeweihte und 1928 offiziell mit Dekret bestätigte wissenschaftliche Einrichtung nach Maßgaben von Vogt. Bis 1930 übte er die Funktion eines Direktors aus, die dann von S. A. Sarkissov, einem der inzwischen herangebildeten Nachwuchswissenschaftler, eingenommen wurde. Am Ende seiner langjährigen wissenschaftlichen Arbeit konnte er auf acht Ehrenpromotionen zurückblicken. 1922 war er einer der Kandidaten für den Nobelpreis für Medizin. Der Vorstand beschließt die Stiftung des Oskar-Vogt-Preises für besondere wissenschaftliche Leistungen in der Vorstandssitzung am 13. März 1980. Preisträger wurden 1982, 1985 und 1989 folgende Personen:

1982 1. Preis (1500 Mark): Michael Geyer für seine Habilitation zum Thema »Psychosoziale Merkmale bei Herzinfarktgefährdeten – Untersuchung in einer großstädtischen Population 49-bis 59-jähriger Männer«. 2. Preis (800 Mark): Michael Fröse für seine Dissertationsschrift zum Thema »Vergleichende Analyse der interpersonellen Beziehungen im sozialspychologischen Training und in der Gruppenpsychotherapie«.

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Anhang

3. Preis (600 Mark): Roger Kirchner für seine Dissertationsschrift zum Thema »Die Be­handlung der neurotischen Paarbeziehung mit intendierter dynamischer Gruppen­ psychotherapie«.

1985 1. Preis (2000 Mark): Forschungskollektiv »Gruppenpsychotherapieforschung« im Haus der Gesundheit Berlin unter Leitung von Kurt Höck: Christa Ecke, Michael Froese, Helga Hess, Veit Klahre, Monika Kneschke, Christoph Seidler. 2. Preis (800 Mark): Norbert Göth, Bernburg, für seine Promotion-B-Arbeit zur Indikationsforschung. 3. Preis (500 Mark): Nina Breckow für ihre Promotionsarbeit, die sich in das Rahmenthema »Integration der Psychotherapie« einordnet.

1989 Zwei 1. Preise à 1000 Mark für Helga Hess für ihre Habilitationsschrift zur Gruppenpsychotherapieforschung und Frau Erdmuthe Fikentscher für ihre Habilitationsschrift zur psychosozialen Lehrergesundheit.

II Bildungsprogramm Facharzt für Psychotherapie 197869 1. Bildungsziel Ziel der Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie ist die selbständige Ausübung der Psychotherapie mit ihren spezifischen Methoden der Prophylaxe, Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe vorwiegend von Neurosen, psychosomatischen und anderen wesentlich psychosozial mitbedingten Erkrankungen. Voraussetzung der Weiterbildung zum Facharzt für Psycho­therapie ist die staatliche Anerkennung als Facharzt in einer anderen klinischen Fachrichtung (Neurologie-Psychiatrie, Innere Medizin, Gynäkologie und Geburtshilfe, Kinderheilkunde, Haut- und Geschlechtskrankheiten, Allgemeinmedizin usw.). Der Facharzt für Psychotherapie übernimmt Aufgaben in der me­dizinischen Betreuung, der Forschung und der Weiterbildung. Seine Einsatzbereiche sind stationäre und ambulante Einrichtungen des staatlichen Gesundheitswesens und des Hochschul­wesens.

69 Auszug aus: Ministerium für Gesundheitswesen der DDR, Akademie für Ärztliche Fortbildung (1978) (Hrsg.): Weiterbildung zum Facharzt. Bd. 3 der Reihe »Dokumente zur Aus- und Weiterbildung der Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern und anderen medizinischen Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialwesen der Deutschen Demokratischen Republik«. Berlin: Ministerium für Gesundheitswesen, S. 201–206.

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II  Bildungsprogramm Facharzt für Psychotherapie 1978

Der Facharzt muß imstande sein, Patienten mit Neurosen, psychosomatischen und anderen wesentlich psychosozial mitbedingten Erkrankungen in qualifizierter Form zu betreuen und an der weiteren Erforschung dieser Erkrankungen und der Weiterentwicklung fachspezifischer Methoden mitzuarbeiten. Der Facharzt für Psychotherapie muß befähigt sein, auf den Ebenen der Grundbetreuung und der spezialisierten ambulanten Betreuung weiterbildend tätig zu werden und die Organisation der medizinischen Betreuung auf dem Gebiet der genannten Erkrankungen anleitend zu unterstützen. Entsprechend dem interdisziplinären Charakter der Aufgabenstellung der Fachrichtung arbeitet der Facharzt für Psychotherapie in enger Kooperation mit Vertretern der Fachrichtungen Klinische Psychologie, Neurologie und Psychiatrie, Innere Medizin, Allgemeinmedizin, mit dem Begutachtungswesen, mit Beratungsstellen, insbesondere im Rahmen der Suizidprophylaxe und der Ehe- und Familienberatung, sowie mit Rehabilitationseinrichtungen zusammen. Zur Unterstützung der Therapie und Prophylaxe von Neurosen, psychosomatischen und anderen wesentlich psychosozial mitbedingten Erkrankungen und Störungen leistet der Facharzt für Psychotherapie auch populärwissenschaftliche Arbeit. Der Facharzt für Psychotherapie muß über die gesundheitspolitisch bedeutsamen Entwicklungstendenzen informiert sein, die Beziehungen weltanschaulicher Probleme zu theoretischen Grundfragen der Fachrichtung kennen und die ideologischen Aspekte der theoretischen und methodischen Auseinandersetzungen in der Fachrichtung überblicken. Zur Erfassung der individuellen Besonderheiten des Einzelfalles und der daraus abzuleitenden therapeutischen Zielstellung bedarf der Facharzt für Psychotherapie fundierter wissenschaftlicher Kenntnisse der marxistisch-leninistischen Auffassungen vom Menschen, seiner sozialen Beziehungen und Lebensformen und deren Entwicklungstendenzen in unserer Gesellschaft. Der Facharzt für Psychotherapie muß die den marxistisch-leninistischen Positionen und den gesellschaftlichen Bedingungen gemäßen ethischen Prinzipien des Verhaltens gegenüber Patienten und Mitarbeitern gründlich beherrschen und differenziert realisieren. Für die von ihm zu leistende Anleitungs- und Fortbildungstätigkeit verfügt er über Grundkenntnisse der sozialistischen Leitungswissenschaften und pädagogischer Prinzipien.

2. Fachspezifische theoretische und praktische Bildungsinhalte 2.1. Erweiterung und Vertiefung des Grundlagenwissens nach den Anforderungen der Fachrichtung –­ gesellschaftswissenschaftliche Grundkenntnisse Kenntnisse der marxistisch-leninistischen Kritik bürgerlicher Ideologien (als Voraussetzung zur Aneignung der unter 2.2.1. genannten Bildungsinhalte) –­ Psychiatrie Kenntnis der wichtigsten Krankheiten aus dem Gebiet der Psychiatrie, die sich in Symptomen oder Syndromen äußern, die auch bei Neurosen auftreten; Kenntnis der wichtigsten psychotherapiebedürftigen Erkrankungen in der Psychiatrie

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(Psychosen, organische Hirnerkrankungen, Suchten, abnorme Persönlichkeiten und sexuelle Deviationen) und ihrer somatischen Therapie, soweit sie im Rahmen spezieller psychotherapeutischer Behandlungen weitergeführt bzw. mit diesen kombiniert werden muß; Kenntnis der Grundlagen der forensisch-psychiatrischen Begutachtung ­ Innere Medizin – Kenntnis der wichtigsten Krankheiten der Inneren Medizin, die sich in Symptomen oder Syndromen äußern, die auch bei Neurosen auftreten Kenntnis psychosomatischer Erkrankungen, insbesondere der Diagnostik und der somatischen Therapien, die im Rahmen spezialisierter psychotherapeutischer Behandlungen weitergeführt werden müssen; Kenntnis der Differentialindikation und Kombination psychotherapeutischer und somatischer Behandlungen bei psychosomatischen Erkrankungen ­– Sozialhygiene und medizinische Soziologie Kenntnis der allgemeinen Zusammenhänge zwischen sozialen Verhältnissen und Morbidität sowie der allgemeinen Morbiditätsstruktur und deren Entwicklung; Kenntnis der epidemiologischen Forschungsmethoden Der Facharzt muß diese Erkenntnisse auf alle psychotherapiebedürftigen Erkrankungen übertragen können –­ Neurophysiologie und Neuropathophysiologie Grundkenntnisse ausgewählter Gebiete wie Schlaf-Wach-Regulation, Stress und vegetative Regulation innerer Organe 2.2. Spezielle Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Fachrichtung 2.2.1. Theoretische Fachkenntnisse ­– Fähigkeit zur selbständigen kritischen Aneignung und Wertung der wichtigsten historischen und modernen Richtungen der Neurosenlehre, Psychosomatik, der psycho- und soziodynamischen Richtung der Psychiatrie und Psychotherapie in ihrer historischen und methodischen Relativität ­– Kenntnis und Fähigkeit zur konstruktiven Weiterentwicklung der theoretischen Auffassungen, der Erkenntnisse über psychosomatische Erkrankungen und der psychotherapeutischen Entwicklungsrichtungen in der DDR und in den anderen sozialistischen Ländern ­– auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus wissenschaftlich fundiertes Verständnis charakteristischer Entwicklungstrends sozialer Beziehungen und Lebensformen der Menschen in unserer Gesellschaft zur Erreichung realistischer therapeutischer Ziel­ stellungen und so weit als möglich von Einseitigkeiten freie Klärungen psychosozialer Quellen von Neurosen, psychosomatischen Erkrankungen und an diese angrenzenden Störungen (Suchten, Psychosen, Dissozialität) 2.2.2. Psycho- und Soziodiagnostik ­– Kenntnis der wichtigsten historischen und modernen Neuroseklassifikationen, der mehrdimensionalen Klassifikation der Suchten, der endogenen und körperlich be-

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II  Bildungsprogramm Facharzt für Psychotherapie 1978

gründbaren psychischen Erkrankungen, ausgedehnte praktische Erfahrungen mit der in der DDR verwandten Klassifikation der Neurosen und der mehrdimensionalen Diagnostik psychotherapiebedürftiger psychiatrischer bzw. körperlicher Erkrankungen ­– Beherrschung der Erhebung neurosenpsychologisch orientierter Anamnesen, ausführlicher neurosenpsychologischer Explorationen und orientierender Kurzexplorationen bei allen psychotherapiebedürftigen Erkrankungen ­– Diagnostik von psychischen Fehlentwicklungen bei Suchten, endogenen und somatischen Erkrankungen ­– Beherrschung der Indikation, Interpretation, Auswertung und Aussagefähigkeit der speziellen neurosediagnostischen Verfahren entsprechend dem neuesten Stand (Neurosensiebteste, Verfahren zur Ermittlung des Neurotizismus und neurosen­relevanter Persönlichkeitsmerkmale) ­– Kenntnis des neuesten Standes und der praktischen Methodik in der Verlaufs- und Erfolgsbeurteilung psychotherapeutischer Behandlungen 2.2.3. Psychotherapeutische Verfahren ­– Beherrschung psychotherapeutischer Gesprächsführung in methodischer Variabilität, Beherrschung der Indikation von Einzelgesprächen in Verbindung mit einer definierten therapeutischen oder diagnostischen Zielstellung (konfliktzentriertes Gespräch; gezielte Kurztherapie; Einzelgespräche in Kombination mit anderen Verfahren; Einzelgespräche in kritischen Situationen einer Therapie auf der Grundlage anderer Methoden; Einzelgespräche in bestimmten Krankheitssituationen, z. B. drohende Suizidalität) ­– Beherrschung der Gruppenpsychotherapie, ihrer Indikationen in Verbindung mit einer definierten therapeutischen Zielstellung bei Fähigkeit zu methodischer Variabilität (geschlossene Gruppen; offene Gruppen: stationäre Gruppen; Erfassung und Steuerung der gruppendynamischen Prozesse in therapeutischen Gemeinschaften mit mehreren Gruppen; ambulante Gruppen) ­– Beherrschung der Indikation und Anwendung des autogenen Trainings in Kurs-, Gruppen- und Einzelvermittlung, Beherrschung von Indikation und Methodik gezielter Organübungen und formelhafter Vorsatzbildungen, Kenntnis verwandter Entspannungsverfahren ­– Kenntnis der Prinzipien der Verhaltenstherapie und Erfahrung in der Anwendung ihrer wichtigsten Methoden und deren Indikationen auf der Grundlage definierter therapeutischer Zielstellungen ­– Erfahrung und Kenntnisse der Methodik der Hypnose, ihrer Indikation und Kontraindikation; Kenntnis des modernen Standes der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Suggestion, um die Rolle der Suggestion im Rahmen anderer Therapien abschätzen und kritisch werten zu können ­– gründliche Kenntnis der die Psychotherapie ergänzenden Me­thoden (Arbeitstherapie, Gestaltungstherapie, Bewegungstherapie u. a.), indizierte Einordnung dieser Methoden in Therapiekonzepte auf der Grundlage definierter therapeutischer Zielstellungen ­– Fähigkeit zur fachlichen Anleitung der auf diesen Gebieten tätigen Kader

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2.2.4. Begutachtung Spezielle Kenntnisse der versicherungsrechtlichen Begutachtung bei Neurosen, psychosomatischen und anderen wesentlich psychosozial mitbedingten Erkrankungen 2.3. Spezielle Kenntnisse aus anderen Fachgebieten nach den Anforderungen der Fachrichtung ­– Psychologie Kenntnisse der Entwicklungspsychologie, der Persönlichkeits-Psychologie, der Sozialpsychologie und der Lernpsychologie, soweit sie zur Klärung ätiopathogenetischer Probleme und für bestimmte therapeutische Ansätze eine theoretische Grundlage bilden ­– vergleichende Verhaltensforschung Kenntnis der zum Verständnis der Psychophysiologie der Emotionen notwendigen entwicklungsgeschichtlichen Sachverhalte 2.4. Spezielle Methoden, über die der Facharzt Grundkenntnisse besitzen soll ­– Kenntnis der Möglichkeiten und der Aussagefähigkeit methodischer psychologischer Diagnostik, die der Facharzt nicht selbst beherrscht, für die er aber die Indikation stellen muß, wie: differenzierte Leistungsdiagnostik (u. a. bei Hirnschädigungen oder zerebrovaskulärer Insuffizienz), differenzierte Intelligenzdiagnostik, Eignungsprüfungen u. a. ­– Grundkenntnisse der modernen Methoden psychiatrischer Therapie und Rehabilitation ­– Kenntnis des Aussagevermögens der wichtigsten diagnostischen Methoden auf dem Gebiet der Inneren Medizin ­– Kenntnis der Methoden und Indikationen bei der dringlichen Behandlung akuter Krisen psychosomatischer und psychiatrischer Erkrankungen ­– Kenntnis der Methoden und Organisationsformen der Gefährdetenbetreuung

3. Hinweise zum Ablauf der Weiterbildung Die Weiterbildung dauert in der Regel drei Jahre. Über Ausnahmen entscheidet die zentrale Fachkommission. Als Voraussetzung für die Aufnahme einer Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie müssen Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie internistische Grundkenntnisse und Fachärzte für Innere Medizin psychiatrische Grundkenntnisse nachweisen oder diese durch eine in der Regel einjährige Tätigkeit in diesen Fachrichtungen erwerben. Für Fachärzte anderer Fachrichtungen, die die Weiterbildung zum Facharzt für Psychotherapie anstreben, sind individuelle Festlegungen zu treffen, die zum Erwerb entsprechender internistischer und psychiatrischer Kenntnisse führen. Die Weiterbildung erfolgt in zwei der zugelassenen Weiterbildungseinrichtungen. Die Weiterbildungszeit in einer Einrichtung sollte 1/2 Jahr nicht unterschreiten. Die Weiterbildung muß auch mindestens 1/2 Jahr ambulant und 1/2 Jahr stationär erfolgen. Durch den Weiterbildungsleiter und auch durch den Leiter der zweiten Weiterbildungseinrichtung ist nach l/2jähriger Tätigkeit in der jeweiligen Einrichtung zur Eignung als

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III  Thesen und Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder

Facharzt für Psychotherapie Stellung zu nehmen. Bei mangelnder Eignung können die Leiter der Einrichtungen der zentralen Fachkommission Vorschläge und Empfehlungen für Weiterführung oder Abbruch der Weiterbildung unterbreiten. Ebenso muß die Abschlußbeurteilung eindeutige Stellungnahmen aus beiden Einrichtungen zur Eignung als künftiger Facharzt für Psychotherapie enthalten.

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Lehrveranstaltungen und Leistungsnachweise

Der Nachweis der Befähigung zur Psychotherapie ist durch erfolgreiche Teilnahme an fachspezifischen Weiterbildungskursen und Veranstaltungen der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR und der Gesellschaft für Psychotherapie zu erbringen. Dazu gehört insbesondere auch der Nachweis von Fähigkeit und Bereitschaft zu ausreichender Selbsterkenntnis in dazu geeigneten Veranstaltungen. Die Erreichung des Bildungszieles erfordert neben der praktischen Tätigkeit in den Weiterbildungseinrichtungen ein umfangreiches Selbststudium der Fachliteratur.

III Thesen und Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder 1973 und 1982 III.1 Prager Psychotherapiethesen70 Die Repräsentanten der Psychotherapie sozialistischer Länder (VR Bulgarien, ČSSR, DDR, SR Jugoslawien, VR Polen, SR Rumänien, UdSSR, VR Ungarn), die sich vom 13.–15.3.1973 auf Initiative der Psychotherapeuten der ČSSR in Prag versammelt haben, stellen fest, daß dieses Symposium einen wertvollen ersten gemeinsamen Beitrag zur weiteren Entwicklung der Psychotherapie in den sozialistischen Ländern darstellt. Deshalb sind sie übereingekommen, die Ergebnisse dieses Symposiums den Psychotherapeuten ihrer Länder und den zuständigen gesellschaftlichen Organisationen und staatlichen Organen zur Kenntnis zu bringen. Sie einigten sich auf folgende Prinzipien der weiteren Zusammenarbeit:

I. Grundsätze für die Entwicklung der Psychotherapie in den sozialistischen Ländern 1. Im Mittelpunkt jeder psychotherapeutischen Tätigkeit steht der Mensch in seinen Wechselbeziehungen zu seiner gesellschaftlichen Umwelt. Theoretische Grundlagen und die Methoden der Psychotherapie werden daher in den sozialistischen Ländern bestimmt 70 Publiziert in: M. Hausner, S. Kratochvil, K. Höck (1975). Psychotherapie in sozialistischen Ländern. Leipzig: Thieme.

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durch die sozialistische Gesellschaftsordnung durch die ihr zugrundeliegende Ideologie und durch ihre Normen, Erfordernisse und weitreichenden Möglichkeiten der allseitigen Entfaltung des Menschen. Es kann davon ausgegangen werden, daß die Psychotherapie im Zusammenhang mit der Entwicklung des Gesundheitswesens in den sozialistischen Ländern zunehmend an Bedeutung gewinnt, wobei die Zielstellung, der Umfang und das Tempo der Förderung der Psychotherapie von den jeweils verschiedenen historischen und konkreten gesell­ schaftlichen Bedingungen bestimmt werden. Die Prinzipien sozialistischer Gesundheitspolitik und das humanistische Grundanlie-gen des sozialistischen Gesundheitswesens beinhalten die Aufgabe, das zunehmende Bedürfnis der Bürger nach optimaler gesundheitlicher Betreuung zu befriedigen. Dies gilt im Hinblick auf den Wandel der Morbiditätsstruktur mit relativer Zunahme neurotischfunktioneller Störungen in besonderem Maße für die Anwendung der Psycho­therapie. Prognostisch läßt sich erwarten, daß eine systematische und kontinuierliche Förderung und Entwicklung der Psychotherapie in den sozialistischen Ländern einen wichtigen Beitrag zur Meisterung der technischen Revolution, zur Steigerung des sozialistischen Lebensgefühls und der Arbeitsproduktivität sowie zur Verbreiterung und Qualifizierung der Prophylaxe, Therapie und Rehabilitation in vielen medizinischen Disziplinen und dem Gesundheitswesen leisten wird. Es ist zu erwarten, daß die Entwicklung der Psychotherapie positiven Einfluß auf bestimmte psychokorrektive Zielstellungen außerhalb der Medizin wie z. B. in Pädagogik, Rechtspflege etc. nehmen kann. Das Symposium hat ergeben, daß in den sozialistischen Ländern bereits eine große Zahl von Formen und Methoden der Psychotherapie vorhanden ist, die den Anforderungen des sozialistischen Gesellschaftssystems entsprechen und unter Berücksichtigung nationaler Gegebenheiten zunehmende Verbreitung finden sollten. Es besteht Übereinstimmung darin, daß die Psychotherapie in starkem Maße interdisziplinären Charakter besitzt und nicht einem medizinischen Fachgebiet allein zu- oder nachgeordnet werden kann. Indessen führt ihre systematische Entwicklung und Förderung zu bestimmten institutionalisierenden Konsequenzen (Herausbildung psychotherapeutischer Zentren, systematische Prozeß- und Effektivitätsforschung, z. T. in internationaler Abstimmung, Aus- und Weiterbildung psychotherapeutischer Fachkräfte usw.).

Vereinbarung über Form und Aufgaben der weiteren Zusammenarbeit

1. Zur Entwicklung und Festigung der Zusammenarbeit sozialistischer Länder auf dem Gebiet der Psychotherapie wird es für erforderlich gehalten, weitere Symposien über Psychotherapie in Abständen von wenigen Jahren gemeinsam durchzuführen. Das nächste Symposium wird im Jahre 1975 in der VR Polen stattfinden, weitere sind in der UdSSR und der DDR geplant. Zur Entwicklung des breiten wissenschaftlichen Erfahrungsaustausches sollen darüber hinaus gemeinsam zu veranstaltende Kongresse bzw. nationale Kongresse über Psychotherapie mit starker Beteiligung der anderen sozialistischen Länder stattfinden. 2. Im Ergebnis der Übereinkunft bezüglich der Notwendigkeit, die Psychotherapie in den sozialistischen Ländern gemeinsam entsprechend den Prinzipien der Kooperation die-

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III  Thesen und Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder

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ser Staaten zu entwickeln, bildet sich nach dem 1. Symposium über Psychotherapie eine Arbeitsgruppe »Psychotherapie sozialistischer Länder«, die sich aus jeweils zwei nationalen Repräsentanten zusammensetzt. Die Entsendung und der Wechsel nationaler Repräsentanten bedarf der vorherigen Bestätigung bzw. Entscheidung durch die hierfür zuständigen nationalen gesellschaftlichen oder staatlichen Organe. Die Funktion des Sekretärs der Arbeitsgruppe wird einem nationalen Repräsentanten jenes Landes übertragen, in dem das letzte Symposium über Psychotherapie durchgeführt wurde. Die Aufgaben der Arbeitsgruppe bestehen zunächst darin, – das nächste Symposium sozialistischer Länder über Psychotherapie vorzubereiten, – den multilateralen und bilateralen Kontakt nationaler Organisationen der Psychotherapie und den Informationsaustausch zu fördern, – gemeinsame Bemühungen um die Entwicklung der psychotherapeutischen Forschung sowie der Aus- und Weiterbildung von Psychotherapeuten anzuregen, – getragen von der gemeinsamen Verantwortung für die Förderung der Psychotherapie in den sozialistischen Ländern über die nationalen Repräsentanten den Ministerien für Gesundheitswesen und anderen nationalen gesellschaftlichen und staatlichen Organen notwendige lnformationen über Stand und Perspektiven der Zusammen­ arbeit auf dem Gebiet der Psychotherapie zur Verfügung zu stellen und von diesen Anregungen entgegenzunehmen. Den nationalen Gesellschaften, Sektionen und Arbeitsgemeinschaften für Psycho­ therapie und außerhalb solcher Gremien wirkenden Psychotherapeuten wird im Sinne der 13. Konferenz der Gesundheitsminister sozialistischer Länder in Ulan-Bator im Juli 1972 nahegelegt, sich gegenseitig zum frühestmöglichen Termin (2–3 Jahre im voraus) über ihre perspektivischen Veranstaltungsvorhaben internationalen Charakters zu informieren und detaillierte Angaben zum Programm spätestens bis zum 30. Sept. des laufenden Jahres für Veranstaltungen des nächsten Jahres zu übermitteln. Die Arbeitsgruppe »Psychotherapie« sozialistischer Länder und die nationalen Organisationen der Psychotherapie in sozialistischen Ländern sollten weitestgehend Übereinkunft bezüglich psychotherapeutischer Grundsatzfragen und der Vertretung gemeinsamer Interessen in internationalen Gesellschaften und Organisationen herbeiführen und sich gegenseitig weitestmöglich über besondere Aspekte derartiger Mitgliedschaften informieren und konsultieren. Die nationalen Organisationen der Psychotherapie und die Teilnehmer des 1. Symposiums sozialistischer Länder über Psychotherapie werden ersucht, – zu prüfen, ob die Herausgabe einer internationalen mehrsprachigen Zeitschrift in Übereinstimmung mit der Auffassung der Teilnehmer am 1. Symposium über Psychotherapie unter Berücksichtigung nationaler Gegebenheiten als zweckmäßig angesehen wird, welche Realisierungsmöglichkeiten und Anforderungen hinsichtlich Auflage, Umfang und Erscheinungsrhythmus gesehen werden; – die Voraussetzungen für die Herausgabe einer Information über alle psychotherapeutischen Institutionen in den sozialistischen Ländern (Ort, Art, Größe, Mitarbeiterzahl, Methoden, Name des Leiters) durch entsprechende Mitteilung an den Sekretär

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der Arbeitsgruppe »Psychotherapie sozialistischer Länder« zu schaffen und eine Namensliste aller Psychotherapeuten vorzubereiten; – ihren Einfluß dahingehend geltend zu machen, daß Übersetzungen wissenschaftlicher Arbeiten für die Veröffentlichung in anderssprachigen Zeitschriften ohne Schwierigkeiten und rasch zustande kommen.

III. Schlußbestimmungen 1. Das vorstehende Ergebnisprotokoll wird in nationalem Rahmen wirksam nach Bestätigung seitens der hierfür zuständigen gesellschaftlichen oder staatlichen Organe. Eine entsprechende Mitteilung ist beim Sekretär der Arbeitsgruppe »Psychotherapie sozialistischer Länder« (bis zu deren Konstituierung bei Herrn MU Dr. Hausner, ČSSR) zu hinterlegen. 2. Am 1. Symposium sozialistischer Länder über Psychotherapie nicht vertretene sozialistische Länder können der im Ergebnisprotokoll fixierten Übereinkunft durch ein – Abschnitt III, Abs. 1 – entsprechendes Verfahren jederzeit beitreten. 3. Die unter III, 1 und 2 vorgenommene Bestätigung ist unbefristet wirksam, sofern nicht eine entgegenlautende Entscheidung hierfür zuständiger nationaler Organisationen oder staatlicher Organe beim Sekretär der Arbeitsgruppe hinterlegt wird. 4. Die Arbeitsgruppe »Psychotherapie sozialistischer Länder« kann sich konstituieren, sobald vier oder mehr nationale Bestätigungen des Ergebnisprotokolls einschließlich der Benennung der nationalen Repräsentanten vorliegen. Sofern bis dahin nicht mehr als vier nationale Bestätigungen des Ergebnisprotokolls vorliegen, kann die Konstituierung der Arbeitsgruppe frühestens am 1. Oktober 1973 stattfinden. Später erfolgende natio­nale Bestätigungen des Ergebnisprotokolls und Benennungen nationaler Repräsentanten bringen keine Einschränkung der Mitgliedschaft mit sich. 5. Die Einberufung zur konstituierenden Sitzung der Arbeitsgruppe »Psychotherapie so­zialistischer Länder« erfolgt durch einen seitens der ČSSR zu benennenden nationalen Repräsentanten, im Verhinderungsfall durch einen nationalen Repräsentanten aus der DDR. 6. Die Arbeitsgruppe »Psychotherapie sozialistischer Länder« ist keine juristische Person, sie besitzt keinen Etat. Für die Teilnehmer des l. Symposiums sozialistischer Länder über Psychotherapie Prag, den 15. März 1973 gez. gez. gez. gez. gez. gez. gez.

M. M. Kabanov Pertorini M. Hausner Prázic K. Höck Atanasov Leder

(UdSSR) (Ungarn) (ČSSR) (FDRJ) (DDR) (Bulgarien) (Polen)

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III  Thesen und Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder

III.2 Die Potsdamer Empfehlungen Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder anlässlich des IV. Symposions vom 26.–29. Oktober 1982 in Potsdam-Cecilienhof – »Potsdamer Empfehlungen«

I. Lageanalyse der Situation der Psychotherapie in den sozialistischen Ländern In den 10 Jahren, die seit dem ersten Prager Symposion und der Bildung der Arbeitsgruppe sozialistischer Länder vergangen sind, ist die Leistungsfähigkeit der Psychotherapie in den sozialistischen Ländern als medizinische Querschnitt- und Spezialdisziplin in bedeutsamer Weise und unterschiedlichem Maße gewachsen. In der VR Bulgarien wurden Gruppenmethoden der Psychotherapie eingeführt, das Prinzip der therapeutischen Gemeinschaft ausgebaut und Psychotherapiekader ausgebildet. In der ČSSR wurden ökonomische Formen der Psychotherapie in Form von tagesklinschen Betreuungsformen entwickelt, die psychotherapeutische Ausbildung des mittleren medizinischen Personals institutionell geregelt und die therapeutische Telefonhilfe erweitert. Im Rahmen der Tätigkeit der psychotherapeutischen Sektion wurden etwa 500 Psychotherapeuten (Ärzte und Psychologen) ausgebildet. Mit der Methodologie der Ausbildung beschäftigt sich in der Tschechischen Sozialistischen Republik das Kabinett für Psychotherapie der psychiatrischen Klinik in Prag, in der Slovakischen Sozialistischen Republik bildet die psychotherapeutische Sektion der psychiatrischen Gesellschaft in Bratislava aus. In der DDR wurde der Facharzt für Psychotherapie eingeführt, 40 stationäre psychotherapeutische Abteilungen mit mehr als 800 Betten geschaffen, das Netz der ambulanten Betreuung bedeutend erweitert und ein erster Schritt der Integration der Psychotherapie in die Allgemeinmedizin mit der Fortbildung von 3000 Ärzten der Grundbetreuung getan. Im Rahmen der eigenständigen Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie der DDR wurden 12 Regionalgesellschaften gebildet. In der VR Ungarn wurden selbständige Lehrstühle für Psychiatrie und Klinische Psychologie sowie eine Fachgesellschaft für Psychiatrie mit einer bedeutenden Sektion für Psychotherapie geschaffen, die über 600 Mitglieder vereint. Außerdem sind fünf psychotherapeutische und Kriseninterventionsabteilungen mit 150 Betten und Ambulanzen gebildet worden. Die Fachausbildung von klinischen Psychologen mit hohem psychotherapeutischen Anteil im Rahmen des Institutes für ärztliche Fortbildung wurde eingeführt. In der VR Polen wurde die systematische Ausbildung von Psychiatern und klinischen Psychologen im Rahmen des Zentrums für medizinische Fortbildung auf dem Gebiet der Psychotherapie geregelt. Die Milieutherapie unter Einsatz von Medizinern, Psychologen, Sozialhelfern und Teilnahme von Laienhelfern ist eingeführt worden. An den medizinischen Hochschulen haben sich psychotherapeutische Forschungsabteilungen mit stationärem Anteil etabliert. Ein Forschungsprojekt im Rahmen eines ministeriell geleiteten Vorhabens mit dem Thema »Neurosen und ihre Behandlung« wurde realisiert. Eine eigene Psychotherapiezeitschrift wurde gegründet.

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In der Sowjetunion entwickelte sich das Netz der psychotherapeutischen Kabinette in den allgemeinen Polikliniken und Sanatorien und in den arbeitsmedizinischen Bereichen in der Schwerpunktindustrie, die Inbetriebnahme von psychotherapeutischen Abteilungen in psychiatrischen Krankenhäusern. Das Netz der Lehrstühle für Psychotherapie an der Akademie für Ärztliche Fortbildung hat sich erweitert. Über achttausend Ärzte wurden an diesen Lehrstühlen aus- und weitergebildet.

II.

Schlußfolgerungen

Obwohl der erreichte Entwicklungsstand der Psychotherapie in den einzelnen Ländern noch unterschiedlich ausgeprägt ist, die internationale vertragsgebundene Forschungskooperation sich relativ langsam entwickelt, die Aus- und Weiterbildung von unterschiedlicher Quantität und Qualität ist, wurde insgesamt durch die Zusammenarbeit der Arbeitsgruppe eine Ausgangsbasis erreicht, die gute Voraussetzungen zur Bewältigung wichtiger gesundheitspolitischer Aufgaben bietet und ihren Ausdruck in ersten multinationalen Publikationen und wissenschaftlichen Monographien fand. Im Hinblick auf die zunehmenden Anforderungen an das Gesundheits- und Sozialwesen in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft stellen sich die Psychotherapeuten der sozialistischen Länder bewußt der Hauptforderung nach systematischer Erschließung gesundheitspolitisch bedeutsamer Reserven in der Betreuung durch wissenschaftlich fundierten Umgang mit den psychosozialen Ursachen, Bedingungen und Folgen menschlichen Krankseins in der gesamten Breite der Medizin durch Qualifizierung der Beziehungen zwischen Heilpersonal und Patient. Das beinhaltet die Erweiterung der einseitig somatischen Betrachtungsweise durch Integration biologischer, psychischer und sozialer Aspekte entsprechend der marxistischen Auffassung von Gesundheit und Krankheit. Die Veränderung des konservativ-einseitigen Denkens in der Medizin ist von entscheidender Bedeutung für die Lösung solcher Probleme wie ­– überhöhter Krankenstand, ineffektive Verordnung von Medikamenten ­– Frühinvalidität ­– Arznei- und Genußmittelmißbrauch ­– Anwachsen von psychosozial bedingten Störungsgruppen.

III. Empfehlungen Die Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder empfiehlt den nationalen Gesellschaften und Sektionen für Psychotherapie, sich an die Gesundheitsministerien ihrer Länder mit der Bitte zu wenden, die nächste Konferenz der Gesundheitsminister sozialistischer Länder zur Beratung notwendiger Maßnahmen zu nutzen, die den Umdenkungsprozeß in der Medizin entsprechend dem marxistischen Verständnis von Krankheit und Gesundheit beeinflussen. In diesem Zusammenhang empfiehlt die Arbeitsgruppe, die vorhandenen Potenzen der Psychohygiene, Psychoprophylaxe, Medizinischen Psychologie, Psychotherapie und Deontologie zu nutzen und als Problemdiskussion in die Tagesordnung aufzunehmen.

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III  Thesen und Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder

Dabei ergeben sich folgende Schwerpunkte 1. Entwicklung, Förderung und Intensivierung einer systematischen Forschungsarbeit auf dem Gebiet der medizinischen Psychologie, Psychotherapie und Psychoprophylaxe auf der Grundlage vertraglicher Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Staaten Diese Forschungsarbeit sollte sich auf folgende Schwerpunkte konzentrieren: ­– theoretisch-methodologische Aspekte der Psychotherapie unter besonderer Berücksichtigung einer dialektisch-materialistischen Betrachtungsweise der Wechselbeziehung zwischen bewußten und unbewußten Prozessen ­– Untersuchungen zur Ätiopathogenese ausgewählter psychonervaler Erkrankungen unter psychologischem, soziologischem und psychophysiologischem Aspekt ­– Untersuchungen zur Indikation und Effektivität von Therapiemethoden im Rahmen einer differentiellen Psychotherapie ­– Untersuchungen zur Klärung der Wirkmechanismen psychotherapeutischer Prozesse unter Berücksichtigung klinischer, psychologischer, psychophysiologischer und sozialpsychologischer Parameter zur Optimierung psychotherapeutischer Methoden ­– Vorbereitung von transkulturellen und arbeitsteiligen Untersuchungen in den einzelnen Ländern durch Abstimmung der Nomenklatur, des diagnostisch-therapeutischen Methodeninventars und vergleichbarer Dokumentation ­– Voraussetzung hierfür sind der Aufbau und die Profilierung von Forschungszentren, die Nutzung von interdisziplinären sowie multilateralen Forschungskapazitäten und die systematische Qualifizierung von Forschungskadern. 2. Die Ausarbeitung von abgestimmten Formen und Methoden der Aus- und Weiterbildung von Ärzten, Psychologen, Krankenschwestern und anderem Heilpersonal auf dem Gebiet der Psychotherapie Dies bezieht sich auf ­– Studenten der Medizin und Psychologie ­– Ärzte der verschiedenen Fachrichtungen in der Facharztweiterbildung ­– Fachärzte für Allgemeinmedizin und anderer klinischer Fachrichtungen in der fachspezifischen psychotherapeutischen Qualifizierung ­– spezialisierte Psychotherapeuten (Fachärzte und Fachpsychologen) ­– Schwestern und sonstiges Heilpersonal Voraussetzungen dieser Entwicklung sind ­– die Schaffung von Lehrstühlen für Psychotherapie (in Verbindung mit medizinischer Psychologie) an den medizinischen Hochschulen ­– die Einrichtung von Lehrstühlen für Psychotherapie an den zentralen Einrichtungen für die postgraduale Weiterbildung der Ärzte und Psychologen ­– die Entwicklung von Möglichkeiten für die spezifische Weiterbildung des mittleren medizinischen Personals

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­– die Ausbildungsaktivitäten sollten unter Einbeziehung der Potenzen medizinisch-wissenschaftlicher Gesellschaften erfolgen. 3. ­– ­– ­– ­– ­– ­– ­–

Die Entwicklung ökonomischer und effektiver Betreuungsmodelle, insbesondere für Psychohygiene und Psychoprophylaxe Familien-, Ehe- und Sexualberatungen Betreuung von Kindern und Jugendlichen Dispensaire-Betreuung von Risikogruppen in Schwerpunktbetrieben Betreuung in verschiedenen Rehabilitationsprozessen die psychotherapeutische Mitbehandlung somatischer Krankheiten Neurosen, funktionelle Störungen, psychosomatische Krankheiten, Psychosen, Suchten und sozial Gefährdete.

Voraussetzungen dafür sind nach Ansicht der Arbeitsgruppe eine akzentuierte zentrale Unterstützung des Umdenkungsprozesses in der Medizin durch ­– die Integration medizinpsychologischer und psychotherapeutischer Bildungsinhalte in medizinische und soziale Disziplinen ­– die zentrale Planung geeigneter organisatorischer Maßnahmen zur Verbesserung sowie Nutzung und Ausbau bereits bestehender bewährter Formen psychotherapeutischer Basisbetreuung ­– Förderung und Unterstützung bei der Entwicklung des wissenschaftlichen Lebens im Bereich der Psychotherapie durch Bildung eigenständiger medizinisch-wissenschaftlicher Organisationsformen. 4. Zur weiteren Qualifizierung der Arbeit der Psychotherapeuten sozialistischer Länder empfehlen wir, den Status der Arbeitsgruppe zu verändern und als Beratungsorgan der nationalen medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften und der Gesundheitsministerien zu nutzen.

IV. Zur Tätigkeit der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder Die Arbeitsgruppe hat beschlossen, ihren Arbeitsmodus zu präzisieren und Kommissionen für Forschung, Aus- und Weiterbildung, Entwicklung von Betreuungsmodellen sowie Öffentlichkeitsarbeit- und Information zu bilden. Diese Kommissionen bestehen aus jeweils einem nationalen Vertreter aller beteiligten sozialistischen Länder. Die Kommissionen arbeiten zwischen den Sitzungen der Arbeitsgruppe nach Arbeitsplänen und sind ihr rechenschaftspflichtig. Die Arbeitspläne beinhalten entsprechend den Arbeitsgegenständen folgende Schwerpunkte ­– die Erfassung aller für die Arbeitsthematik der Kommissionen bedeutsamen Informationen ­– die Unterstützung der Qualifizierung und Erarbeitung neuer Methodeninventare entsprechend den spezifischen Arbeitsinhalten ­– die Entwicklung von Strategien der Überführung wissenschaftlich fundierter Ergebnisse innerhalb des Themas der Kommission in die Praxis der einzelnen Länder.

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III  Thesen und Empfehlungen der Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder

V. Diese Resolution trägt Empfehlungscharakter und wird den Ministerien der Teilnehmerländer durch die Dachgesellschaften übergeben. Es wird empfohlen, die inhaltlichen Orientierungen dieses Dokumentes in den Fachzeitschriften zu veröffentlichen. Potsdam, den 29.10.198 Die Arbeitsgruppe der Psychotherapeuten sozialistischer Länder unterzeichnet:



Doz. Dr. Geyer Sekretär

für die VR Bulgarien Doz. Dr. Atanassow, Sofia für die ČSSR

Doz. Dr. Bouchal, Brno Dr. Hausner Dr. Zuha Doz. Dr. Skala, Prag Vertreter des Gesundheitsministeriums (Konsultant)

für die DDR

Doz. Dr. Geyer, Erfurt Doz. Dr. Höck, Berlin Prof. Dr. Katzenstein, Berlin Dr. A. Kriegel Vertreter des Gesundheitsministeriums

für die VR Ungarn

Dr. Hidas, Budapest Doz. Dr. Tringer, Budapest Dr. Panetz, Budapest Dr. J. Füredi Vertreter des Gesundheitsministeriums (Konsultant)

für die VR Polen

Prof. Dr. Leder, Warschau Doz. Dr. Alexandrowicz, Krakow

für die UdSSR

Prof. Dr. Kabanow, Leningrad Prof. Dr. Karwassarskij, Leningrad Prof. Dr. Roshnov, Moskau Dr. Tschurkin, Moskau Vertreter des Ministeriums für Volksgesundheit

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IV Die Rodewischer Thesen 1963 Rodewischer Thesen – Verabschiedet beim Internationalen Symposium über psychiatrische Rehabilitation vom 23. bis 25. Mai 1963 in Rodewisch im Vogtland (DDR) Empfehlungen – »Die Rehabilitation psychisch akut und chronisch Kranker« Je klarer über die klinisch-medizinische Führung des Kranken hinaus seine soziale Wiedereingliederung als ärztliche Aufgabe erkannt und bejaht wird, desto konsequenter müssen klinisch-medikamentöse Therapie und sozial wirksame Heil- und Betreuungsmethoden integriert werden in einer komplexen rehabilitationsgezielten Therapie. Moderne medikamentöse Behandlungsverfahren und aktive Soziotherapie, beide unter optimalen Heilbedingungen, bilden eine untrennbare Einheit im Denken und Handeln der Ärzte und des Pflegepersonals. Bei den akut Kranken muß vom frühestmöglichen Zeitpunkt an in allen Behandlungsmaßnahmen über das »Antipsychotische« hinaus der Rehabilitationscharakter erkennbar sein (Rückführung ins tätige, freie und verantwortliche Leben). Bei den chronisch Kranken gilt es, diese unter psychohygienisch positiv wirksame heilfördernde Bedingungen zu stellen, sich nicht mit der Auffassung von der Irreparabilität sogenannter, zumindest fraglicher Defektzustände abzufinden, sondern weit stärker als bisher die klinischen Heilmaßnahmen anzuwenden. Das Schwergewicht aller Rehabilitationsmaßnahmen liegt bei den Kranken, die einen höhergradigen krankheitsbedingten biologischen, psychischen und sozialen Leistungsabfall aufzuweisen haben. Alle medizinisch-sozialen Rehabilitationsmaßnahmen – institutionellen oder administrativen Charakters – können erst dann als ausreichend angesehen werden, wenn es gelingt, die chronischen Verlaufsformen der Psychosen und die Ausbildung sogenannter Defektzustände – zumindest der graduellen Ausprägung nach – zu reduzieren und einen großen Prozentsatz von Menschen mit chronisch verlaufenden psychischen Erkrankungen beruflich und sozial wieder einzugliedern, ihnen zu einem Leben in sozial verantwortlicher wie freier Verfügbarkeit zu verhelfen. Hierbei ist Folgendes vordringlich: 1. Unabhängig von allen hypothetischen Vorstellungen über das Wesen und die Nosologie der Psychosen, ihrer chronischen Verlaufsformen, insbesondere auch der sogenannten Defektbildung ist in jedem Falle eine aktive therapeutische Einstellung zu fordern. Keine Diagnose einer Psychose rechtfertigt die sichere Annahme eines schicksalsmäßigen Verlaufes und mit ihr die fatalistische Einstellung zu ihren Behandlungsmöglichkeiten. Die umfassende Rehabilitationsbehandlung (»komplexe Therapie«) reicht in undogmatisch kombinierter Anwendung von den neuroleptischen Psychopharmaka über die vielfältigsten Methoden der Arbeitstherapie bis zu den gruppenpsychotherapeutschen Verfahren: die Anwendung neuroleptischer Psychopharmaka soll der wissenschaftlichen Erkenntnis folgend kurmäßig (kurzzeitig begrenzt hoch dosiert) und langfristig (niedrig dosiert, sogenannte Dauereinstellungen) unter ständiger ärztlicher Kontrolle stationär wie ambulant erfolgen. 2. Optimale Therapie kommt nur unter optimalen Bedingungen optimal zur Wirkung. Die psychiatrischen Krankenhäuser und Kliniken müssen ihre allgemeinen Bedingungen,

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IV  Die Rodewischer Thesen 1963



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unter denen sie therapieren, kritisch überprüfen. Die besonderen aus der Anstaltstradition übernommenen Maßnahmen, die den psychisch Kranken »anders« als einen anderweitig Erkrankten im Krankenhaus behandeln, sind Zug um Zug zu beseitigen. Akut und chronisch Kranke können zum überwiegenden Teil auf völlig offenen Krankenstationen geführt werden. Entscheidend für die Öffnung der Krankenstation ist ein durchdachtes rehabilitatives Heilregime, der fürsorgliche Geist des Personals, die damit geschaffene Heilatmosphäre und die aktive Einstellung zur komplexen Therapie. Aus vorwiegend geschlossenen Heilund Pflegeanstalten haben sich vorwiegend offene psychiatrische Fachkrankenhäuser zu entwickeln. Das umfassende Sicherungsprinzip der Heil- und Pflegeanstalt muß einem umfassenden Fürsorgeprinzip des Fachkrankenhauses weichen. Die Rehabilitation wird erleichtert durch Profilierung der Krankenstationen mit jeweils besonderer Betonung der therapeutischen Inhalte entsprechend der Zusammensetzung der Patienten. Insbesondere sind die klinischen Stationen für akut Erkrankte von denen für chronisch Kranke zu trennen, wobei die jeweils besondere Struktur des Krankenhauses und die örtlichen Bedingungen gewahrt bleiben sollen. Ganz besonders ist eine Differenzierung von Jugend- und Alterstationen erforderlich. Bei verstärkter ärztlicher Besetzung und mit erreichter Bettenauflockerung werden die psychiatrischen Fachkrankenhäuser in dem ihnen zukommenden Maße auf entsprechenden Fachstationen Neurosebehandlungen übernehmen. Durch planvolle Reorganisation und Modernisierung müssen die psychiatrischen Krankenhäuser und Kliniken personell, materiell und institutionell in die Lage versetzt werden, allen Anforderungen der modernen komplexen psychiatrischen Therapie zu entsprechen. Die noch bestehenden Unterschiede in den Haushalts- und Stellenplänen gegenüber den allgemeinen Krankenhäusern sind unberechtigt und müssen beseitigt werden. Bei erreichter Stabilität der ärztlichen Versorgung im Bereich der Psychiatrie wird im Sinne des Dispensaire-Systems die nachgehende Fürsorge als kontinuierliche Arbeit eines Kollektivs aus Psychiatern, Psychologen und Fürsorgerinnen zu entwickeln sein. Dieses Kollektiv soll engste Verbindung zu den Produktionsbetrieben unterhalten und Arbeitsplatzstudien ermöglicht bekommen. Damit ist ein umfassendes System der psychiatrischen Außenfürsorge mit besonderer Betonung der nachgehenden Fürsorge aufund auszubauen. Es ist unerläßlich, daß jeder Kreis neben mindestens einem Psychiater mindestens eine hauptamtliche psychiatrische Fürsorgerin besitzt, die entweder ihre Anleitung vom regional zuständigen Fachkrankenhaus erhält und mit diesem eng verbunden arbeitet oder die sogar unmittelbar zum Kader des Fachkrankenhauses selbst gehören sollte. Dringend erforderlich sind Übergangslösungen zwischen kontinuierlichen arbeitstherapeutischen Einsätzen auf der einen Seite und der vollen Erwerbsarbeit andererseits, zwischen der ambulanten Krankenbetreuung und der stationären Krankenbetreuung bisheriger Art. In dieser Hinsicht muß die Errichtung von an die Fachkrankenhäuser angeschlossenen beschützenden Werkstätten, befürsorgten Patienten-Wohnheimen, psychiatrischen Tages- und Nachtkliniken gefordert werden.

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7. Die gewaltige soziologisch-gesellschaftliche Bedeutung der psychischen Krankheiten als Volkskrankheiten ist weit stärker als bisher herauszustellen, auf geeignete Weise zu popularisieren mit dem Ziel einer wirksamen Prophylaxe, der unbedingten Früherfassung und Frühbehandlung von psychisch Kranken. Mit allen geeigneten Mitteln der Volkserziehung ist der Intoleranz psychisch Kranken gegenüber zu begegnen. 8. Amtliche oder gesetzliche Zwangsmaßnahmen psychisch Kranken gegenüber sind auf das nur unbedingt erforderliche Minimum zu beschränken. Die humane Grundhaltung des sozialistischen Lebensstils muß darin zum Ausdruck kommen, daß alles vermieden wird, was geeignet ist, psychisch Kranke in der Öffentlichkeit zu diffamieren und sie außerhalb der Gesellschaft zu stellen. In besonderer Weise sind bestehende Gesetze und Verordnungen daraufhin zu korrigieren. In Arbeit befindliche Gesetze und Verordnungen haben dies gebührend zu berücksichtigen. 9. Durch die Ministerien für Gesundheitswesen sollte ein intensiver Erfahrungsaustausch auf internationaler Basis über Fragen der psychiatrischen Rehabilitation organisiert und gefördert werden. Durch das Vergeben von Forschungsaufträgen an psychiatrische Facheinrichtungen, die sich besonders intensiv mit den Fragen der psychiatrischen Rehabilitation befassen, soll die wissenschaftliche Bearbeitung dieses Bereiches vorangetrieben werden, wobei den Fragen der sogenannten Krankheiten und dem Verhalten der Kranken außerhalb des Krankenhauses besondere Aufmerksamkeit zu widmen ist. Forschungsarbeiten an psychiatrischen Facheinrichtungen des Gesundheitswesens sollen in Absprache bzw. mit unterstützender Beteiligung der regional zuständigen Hochschulkliniken vorgenommen werden. 10. Im Bereich der Psychiatrie ist eine enge Koordinierung der praktischen sowie der wissenschaftlichen Tätigkeit der medizinischen Facheinrichtungen des Hochschulwesens und denen des Gesundheitswesens erforderlich. Im Hochschulunterricht müßten die Möglichkeiten und die Bedingungen einer umfassenden medizinisch-sozialen Rehabilitation für akut und chronisch Kranke mehr als bisher dargestellt werden. Soweit die Hochschulkliniken aufgrund ihrer besonderen Struktur und ihrer betonten Aufgabenstellung keine umfassenden Möglichkeiten aller Bereiche der medizinisch-sozialen psychiatrischen Rehabilitation bei sich selbst entwickeln können, so sind die Studierenden mit den rehabilitativen Maßnahmen der psychiatrischen Fachkrankenhäuser, insbesondere mit den Maßnahmen der Sozio- und Arbeitstherapie im Rahmen des Kollegbetriebes auf geeignete und ausreichende Weise bekanntzumachen. Hochschulkliniken und psychiatrische Fachkrankenhäuser, soweit letztere dazu die Voraussetzungen erfüllen, sollen sichtbarer als bisher die Ausbildung der Studierenden und der Fachärzte gemeinsam tragen, sollen auch gemeinsam Forschungsaufträge erledigen. Jeder Facharzt für Psychiatrie und Neurologie sollte vor Übernahme einer selbständigen Tätigkeit sowohl mindestens ein Jahr in einer Hochschulklinik als auch ein Jahr in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus im Rahmen seiner Fachausbildung tätig gewesen sein.

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IV  Die Rodewischer Thesen 1963

Empfehlungen – »Arbeitstherapie« Die Arbeitstherapie ist ein Teil der Komplextherapie aller psychischen Erkrankungen. Sie wird ärztlich verordnet und ist eine therapeutische und rehabilitatorische Maßnahme. Im Rahmen der psychiatrischen Einrichtung stellt die Arbeitstherapie zahlreiche ökonomische Probleme. Dennoch ist der wirtschaftliche Wert dieser Therapie von sekundärer Bedeutung. Ihre Hauptaufgabe ist nicht, Werte zu schaffen, sondern dem psychisch kranken Menschen bei der Stärkung bzw. Integrierung seines Selbstbewußtseins und seines Kontaktstrebens zu helfen. Der Akzent liegt nicht auf der Quantität der Produktion und der Qualität der Produktion, sondern auf dem individuellen Erlebnis, wieder tätig zu sein und etwas zu schaffen, das seinen Wert auch für die Gesellschaft hat, d. h., Arbeitstherapie muß stets sinnvoll gestaltet werden und sollte schöpferische Kräfte wecken. In diesem Sinne gilt die Forderung Simons nach »aktiver psychiatrischer Therapie« auch heue noch. Notwendig ist frühestmöglicher Einsatz der Arbeitstherapie, unter Umständen schon während der körperlichen und medikamentösen Behandlung, jeweils nach Sachlage des Einzelfalles. Im akuten Stadium der Erkrankung kann auf ärztliche Anordnung die Arbeitstherapie (nach Babajan) in passiver Form angewendet werden. Nach Abklingen der akuten Erscheinungen gewinnt die aktive Arbeitstherapie an Bedeutung. Das ärztliche Ziel ist, über die Arbeitstherapie eine frühestmögliche Entlassung des Kranken zu erreichen. Günstigenfalls führt die Arbeitstherapie zur Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß; stets sollte sie die Zurückführung in die prämorbide soziale Struktur des Erkrankten anstreben oder die Voraussetzungen hierfür schaffen. Die Arbeitstherapie soll möglichst von den ausgebildeten Arbeitstherapeuten angeleitet werden. Festlegung des Ausbildungsganges und des Berufsbildes für Arbeitstherapeuten ist notwendig. Da die Arbeitstherapie eine therapeutische Maßnahme ist, kann der Patient im stationären Bereich lediglich eine Arbeitsbelohnung erhalten. Die Arbeitstherapie wird in den psychiatrischen Einrichtungen in verschiedenen Formen angewandt, z. B. zur Verbesserung des Milieus, sie kann in landwirtschaftlichen Arbeiten bestehen; zum anderen können Teilfertigungen für Industriebetriebe durchgeführt werden, die jedoch nicht an Produktionsauflagen und Termine gebunden sein dürfen. Von Betrieben, die Arbeitsauflagen geben, ist die geleistete Arbeit entsprechend an die Einrichtung zu vergüten. Ein angemessener Anteil muß für Zwecke der Patientenbetreuung unmittelbar zur Verfügung gestellt werden. Eine wissenschaftlich überzeugende Klärung der Wirkung der Arbeitstherapie ist noch nicht gelungen. Versuche in dieser Richtung bleiben so lange hypothetisch, bis die pathophysiologischen und neuropathologischen Grundlagen der Psychosen – insbesondere der endogenen – aufgehellt sind. Unsere bisherigen Therapieformen haben sich empirisch entwickelt. Dies gilt für die Arbeitstherapie ebenso wie für die Pharmakotherapie der Psychose. Es muß Ziel der Forschung sein, für die jeweiligen Krankheitsbilder die günstigsten arbeitstherapeutischen Möglichkeiten, die den größten therapeutischen Effekt haben, zu finden. Ein Patient, der durch Komplextherapie gut gebessert ist und in der Lage ist, unter fachlicher Anleitung und Fürsorge gute Arbeit zu leisten, aber nicht in das häusliche Milieu

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entlassen werden kann, muß in eine beschützende Umgebung entlassen werden. Es sind hierfür neue, noch nicht überall gebräuchliche Lösungen zu finden, z. B. Kollektive in der Landwirtschaft, Wohnheime mit Arbeitsmöglichkeiten in Industriebetrieben und anderen Einrichtungen, z. B. Tagesstationen und Nachtsanatorien. Außerdem ist die weitere Einrichtung von Heilwerkstätten zu planen. Ein Erfahrungsaustausch zwischen den sozialistischen Ländern über Möglichkeiten der Verbesserung der Arbeitstherapie ist notwendig. Thesen zum Rahmenthema Kinderpsychiatrie – Teilgebiet Probleme des Schwachsinns Eine völlige Neuorientierung auf dem Gebiet des gesamten Schwachsinns ist notwendig. Die Problematik ist heute wichtiger und aktueller als früher. Es müssen wissenschaftliche Ergebnisse erarbeitet werden hinsichtlich Ursachenforschung, Behandlungs- und Erziehungsmethoden. Die Gesellschaft muß von den Bedürfnissen der großen Zahl der Schwachsinnigen etwas erfahren, um helfend einzugreifen und die Sorge um die Schwachsinnigen nicht nur den Pädiatern, Psychiatern, Psychologen und Pädagogen zu überlassen. Warum ist die Gesamtproblematik des Schwachsinns heute wichtiger denn je? a) Durch Rückgang der Säuglingssterblichkeit (Prophylaxe, Frühgeburten-Stationen) bleiben mehr geschädigte Kinder am Leben. b) Folgezustände von zerebralen Erkrankungen im Säuglings- und Kleinkindalter, die zum Schwachsinn führen, sind heute häufiger als früher durch die Erfolge der modernen medikamentösen Behandlung. c) Bedeutende Entdeckungen auf dem Gebiet der Schwachsinnsforschung wurden in den letzten Jahren gemacht, die neue prophylaktische und therapeutische Wege zeigen, z. B. Stoffwechselstörungen durch Enzymdefekte (Prophylaxe bei Phenylketonurie). Es müssen folgende Punkte erarbeitet werden: 1. System einer gut organisieren Früherfassung aller intellektuell und charakterlich auffällig werdenden Kinder. 2. Einrichtung von Beobachtungskliniken: Teamarbeit: zwischen Pädiater, Psychiater, Neurologen, HNO- und Augenarzt, Orthopäden, Psychologen und Pädagogen mit folgenden Aufgaben: a) umfassende klinische Diagnostik b) Festlegung eines Ausbildungs- und Förderungsplanes c) Vorschläge zu einer guten Organisation einer Neuropsychiatrischen oder einer neurologisch und psychiatrischen Beobachtungsklinik.

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V  Autorenkurzbiographien

V Autorenkurzbiographien Born, Helmut, Jahrgang 1914, Arzt, Studium der Medizin in Rostock, Freiburg, München Graz und Leipzig, Kriegsdienst als Arzt, Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, seit 1953 Leitender Arzt bzw. Chefarzt einer Medizinischen Klinik am Krankenhaus DresdenNeustadt bis zum Ruhestand 1980, Ehrenmitglied der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR 1980. Böttcher, Brigitte, Jahrgang 1943, Physiotherapeutin, Fachschulstudium Zwickau (1970), medizinisch geprüfte Kosmetikerin, Fachphysiotherapeutin für funktionelle Störungen und psychische Erkrankungen (1973), Lehrtherapeutin Konzentrative Entspannung (KoE) in der Gesellschaft für Orthopädie und der GÄP der DDR, bis 1989 Physiotherapeutin im stationären und ambulanten Bereich (St. Joseph-Stift Dresden, Poliklinik am Universitätsklinikum, leitende Physiotherapeutin in Polikliniken), nach 1990 Fachphysiotherapeutin im Bezirkskabinett für Gesundheitserziehung Dresden, im städtischen Pflegeheim für geistig Behinderte, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Dresden, ab 1998 freiberufliche Fachphysiotherapeutin im psychosozialen und präventiven Bereich (Ambulanz der Psychosomatik im Uniklinikum, in Schulprojekten mit Gesundheitsamt und der Volkshochschule, Referentin für KoE in der Fortbildung Psychotherapie), vor der Wende Vorsitzende der AG KoE in der Sektion Autogenes Training und Hypnose, nach der Wende für die KoE im Vorstand der Dachgesellschaft für Psychotherapie, Psychoanalyse und Medizinische Psychologie (GPPMP), Leiterin der AG KoE im Landesverband Sachsen der Physiotherapeuten (ZVK), interessiert an der Schul- und Gesundheitspolitik zwischen Historie und Neuzeit, gern tätig mit Kindergruppenarbeit, Gründerin des Vereins Physiotherapeuteninitiative zur Gesundheitsförderung in öffentlichen Einrichtungen mit Gemeinschaftscharakter e. V. (2005). Publikationen zur Konzentrativen Entspannung und physiotherapeutisch-psychosomatischen Problemfallseminaren. Böttcher, Hermann Fried, Jahrgang 1937, Psychologe, Studium in Leipzig, Dipl.-Psych., Dr. phil., Fachpsychologe der Medizin, Psychoanalytiker, Gruppenpsychotherapeut, Lehrund Kontrollanalytiker (DGPT, SWK, SPP), Gruppenlehranalytiker (DAGG). Facultas docendi für Psychologie 1971 (Universität Leipzig), 1964–1976 angestellter Psychologe in der Abteilung für Psychotherapie und Neurosenforschung der Universität Leipzig und 1977–2002 in der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie Dresden-Weißer Hirsch. Mitglied der Vorstände der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR 1971– 1973 und der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie 1969–1989. Mitbegründer der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, des Sächsischen Weiterbildungskreises für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V., des Sächsischen Institutes für Psychoanalyse, der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Dresden; Gründer der Regionalen Arbeitsgemeinschaft Klinische Psychologie des Bezirkes Dresden der Gesellschaft für Psychologie der DDR 1979 und des Dresdner Institutes für Psychodynamische Psychotherapie des SWK 2000. Forschung: Psychoprophylaxe in der Industrie (Kooperation Ungarn–DDR 1970–1978), Gruppenstrukturforschung. John-Rittmeister-Medaille der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR.

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Brüll, Inge, Jahrgang 1940, Ärztin, Dr. med., Studium 1958–1964 HU Berlin. 1965–1980 Institut für Cortico-viscerale Pathologie und Therapie der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1971 Fachärztin für Innere Medizin/Kardiologie, 1980–1991 Klinik für Psychotherapie Berlin-Buch, 1983 Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, seit 1991 niedergelassen als Ärztin für Psychotherapeutische Medizin. Mitbegründerin der APB e. V., Arbeit im Vorstand und in Gremien der APB. Seit 1996 Lehranalytikerin, 2002 Lehranalytiker in der DGPT, Balint-Gruppenleiterin. Mitglied der DGPT. Publikationen: Mitarbeit in: Seidler, C., Froese, M. (Hrsg.) (2010), DDR-Psychotherapie zwischen Subversion und Anpassung, Berlin, Edition Bodoni. Brunnemann, Gabriele, Jahrgang 1950, Ärztin und Psychotherapeutin, Medizinstudium in Greifswald und Berlin, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin, Zusatzbezeichnung Psychotherapie, tiefenpsychologisch arbeitend, Balint-Gruppenleiterin. Vor der Wende: Leitung internistischer Poliklinik (Kardiologie, Rheumatologie, Psychosomatik, Sucht). Nach der Wende: Niederlassung; zurzeit ausschließlich Psychotherapie. Oktober 1989 Mitinitiatorin eines Ärzte-Protest- und Arbeitskeises, 1992 bis 2002 Vorstandsmitglied der Brandenburgischen GPPMP. U. a. Arbeit mit Lehrern und Schülern (Ziel: Kommunikationsverbessserung, Gewaltprävention). Bühler, Brigitte, Jahrgang 1940, Ausbildung zur Ehe- und Lebensberaterin durch das Evangelische Zentralinstitut für Familienberatung (Berlin/West), Zusatzkurse in Paarberatung, Ausbildung zur Supervisorin/EKFuL, Tätigkeit als Lehrsupervisorin, Mitgliedschaft in der DGS. Tätigkeit als Ehe- und Lebensberaterin und Supervisorin bei der Stadtmission Dresden, Mitarbeiterin im Amt für Innere Mission und Hilfswerk der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens für Aus- und Weiterbildung von Mitarbeitern in der offenen Sozialarbeit und Eheberatung, Mitglied im Beirat für Ehe- und Lebensberatung beim Diakonischen Qualifizierungszentrum Berlin (Ost), Leitung von Ausbildungen zu Ehe- und Lebensberatung im Auftrag des Diakonischen Qualifzierungszentrums (Leitungsteam), Leitung von Seelsorgegrundkursen vor der Wende, Mitarbeit bei Aus- und Weiterbildung von kirchlichen Sozialarbeiterinnen. Leiterin der Psychologischen Beratungsstelle des Diakonischen Werkes Pirna e. V. 1991 Mitarbeit bei Kursen für Psychologen, die in eine kirchliche Beratungsstelle wechseln wollen. Mitglied im Ausbildungsausschuss der EKFuL. Crodel, Hans-Walter, Jahrgang 1919, Arzt, Studium an der Militärmedizinischen Akademie Berlin, daneben Psychologiestudien. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Psychotherapie. Ab 1953 Mitarbeit und Leitung zahlreicher Ausbildungskurse in Klinischer Psychotherapie. Mitarbeit beim Aufbau der GÄP und ihrer Sektionen seit den frühen 1960er Jahren. Chefarzt der Medizinischen Klinik des Bezirkskrankenhauses Halle/Saale und Aufbau einer stationären psychotherapeutischen Abteilung, der »Hufelandstation«. Mitglied der Kankenhauskommission Innere Medizin des Bezirkes Halle. 20 Jahre Leitung der Revisionskommission der GÄP. 20 Jahre Leitung der Sektion Medizin der Urania. Wissenschaftliche Tätigkeit: Zahlreiche Vorträge auf Kongressen der GÄP. Lehrtätigkeit im Rahmen der Evangelischen Akademie. John-Rittmeister-Medaille der GÄP. Nach der Vereinigung Niederlassung als Internist und Psychotherapeut. Leitsatz: Alterius non sit qui suus esse potest.

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V  Autorenkurzbiographien

Curschmann, Dieter, Jahrgang 1938, Arzt, Studium an der Universität Rostock. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Balint-Gruppenleiter und Ausbilder in Psychosomatischer Grundversorgung. Bis 1971 Assistenzarzt an der Medizinischen Universitätsklinik Rostock, anschließend Leiter einer staatlichen Arztpraxis, ab 1983 Chefarzt und Ärztlicher Direktor eines Medizinischen Versorgungsbereiches in Bad Sülze. Seit 1990 in eigener Praxis als Internist und Psychotherapeut tätig. Vorstand der AG Psychotherapie in der Allgemeinmedizin der GÄP und Gesellschaft für Allgemeinmedizin. Vorsitzender einer Kreisgruppe des Naturschutzbundes und Mitglied des Ökologischen Ärztebundes. Publikationen: Verschiedene Publikationen zur Psychosomatischen Grundversorgung. Gemeinsam mit Scheerer und Suske (2009), Rezepte schreiben ist leicht, ABER ..., Berlin, Logos. di Pol, Gerhard, Jahrgang 1932, Arzt, Medizinstudium in Leipzig. OMR Dr. med., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychotherapeutische Medizin. Gesprächspsychotherapeut und GT-Ausbilder der Sektion GT der GÄP. Bis 1969 Oberarzt der Universitäts-Nervenklinik Leipzig. Anschließend bis 1990 Ärztlicher Direktor der Fachpoliklinik für Psychotherapie der Stadt Leipzig. Nach der Wende Medizinjournalist und Repräsentant des Deutschen Ärzteblattes für die neuen Bundesländer. Vorstandmit­ gliedschaften: GÄP zwischen 1971 und 1976, Sektion GT und AG Konzentrative Entspannung. Vorsitzender der Sektion Autogenes Training/Hypnose und der Regionalgesellschaft Leipzig der GÄP. Publikationen: (1983), Fibel für autogenes Training (gemeinsam mit König und Schaeffer), Jena, G. Fischer. – (1983), Taschenbuch psychiatrischer Therapie (gemeinsam mit O. Bach u. H. Weise), Leipzig: Thieme. – Frohburg, I., di Pol, G., Thomas, B., Weise, K. (Hrsg.) (1986), Forschung und Praxis in der GruppenGesprächspsychotherapie (GGT), Berlin, Gesellschaft für Psychologie der DDR. Dittmann, Christiane, Jahrgang 1955, Psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, Studium der Psychologie an der Technischen Universität Dresden, Dipl.-Psych., Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, anerkannt 1991 und Ausbildung in analytischer Psychotherapie bei Erwachsenen, abgeschlossen 2004 am MIP Halle e. V. Ausbildung in systemischer Familientherapie von 1990 bis 1992 im vft München. Von 1982 bis 1995 tätig im LKH Uchtspringe (SALUS GmbH). Seit 1995 niedergelassen in eigener Praxis in Gardelegen. Supervisorin für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Ebersbach, Ute, Jahrgang 1959, Ärztin, Studium der Medizin in Rostock, Dr. med., Fachärztin für Pädiatrie, Zusatzbezeichnung Psychotherapie, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Zusatzqualifikation »spezielle Psychotraumatherapie (DeGPT)«, vor, während und nach der Wende leitende Kinderärztin der Abteilung für Pädiatrie in einer Poliklinik, seit 1992 in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Fachklinikums in Uchtspringe, seit 2008 Chefärztin. Ecke, Christa, Jahrgang 1946, Psychologin. Studium der Sozialpsychologie in Jena, Fachpsychologin der Medizin, Psychoanalytikerin, Lehranalytikerin, Supervisorin der DGPT, Gruppenlehranalytikerin, Supervisorin des DADG. Vor der Wende angestellte Klinische

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Psychologin, seit 1996 niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin. Gründungsmitglied und Schriftführerin des Berufsverbandes der Psychotherapeuten, Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin APB), Vorsitzende der APB seit 2007. Forschungsgebiet: Gruppenprozessforschung. Spezifika: therapeutische Frauengruppen. Ehle, Gisela, Jahrgang 1943, Medizinstudium Sofia und Berlin, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Prof. Dr. sc. med. Subspezialisierung psychodynamische Psychotherapie 1987, analytische Körperpsychotherapie 1998, Familientherapie 2002. Professur für Medizinische Psychologie 1987 an der Charité Berlin. Bitte um Entpflichtung bei Übernahme der ÄAPO 1993. Seitdem niedergelassen als Psychiaterin und Psychotherapeutin. Vorsitzende der Sektion Medizinische Psychologie der GÄP. Vorstandsmitglied der GÄP und GfPN der DDR. Forschungsschwerpunkte: Psychosentherapie, Coping, Essstörungen. Publikationen: (1992), Ich finde nicht mein Maß, Berlin, Verlag Gesundheit. Fikentscher, Erdmuthe, Jahrgang 1941, Ärztin, Studium in Halle. Prof. Dr. med. habil., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse. Lehranalytikerin des MIP, vor 1989 Oberärztin und Dozentin an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLH-W). Seit 1992 Universitätsprofessorin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, seit Januar 1993 Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik der MLH-W. Gründungsmitglied der Mitteldeutschen Gesellschaft für Katathym-Imaginative Psychotherapie (MGKB), eines der drei Gründungsmitglieder des MIP. Stellvertretende Vorsitzende der MGKB, Vorstandsmitglied des MIP, stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie (GPPMP) ab 1992, Prorektorin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 1990 Gründung des Wohlfahrtsverbandes AWO, bis 1992 Landesvorsitzende, Forschungsfelder: Psychische Probleme bei Pädagogen, Formen von Traumata und Therapie bei politisch Verfolgten, Persönlichkeitsmerkmale als Indikatoren für Essstörungspotential bei Diabetes mellitus. Publikationen: (1994), Politische Gewalt und psychotherapeutische Erfahrungen am Beispiel der ostdeutschen Situation nach 1945, Heidelberg, Barth. – Leuner, H., Hennig, H., E. Fikentscher (1993), Katathymes Bilderleben in der thera­ peutischen Praxis, Stuttgart/New York, Schattauer. – Hennig, H., Fikentscher, E. (1996), Kurzzeittherapie in Theorie und Praxis, Lengerich-Berlin, Pabst. Franke, Paul R., Jahrgang 1939, Arzt, Studium der Medizin in Magdeburg und Halle, Dr. med., Frauenarzt 1971, Facharzt für Psychotherapie 1980, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse. Psychoanalytiker, Musiktherapeut. Trainer für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, Balint-Gruppenleiter, Lehr- und Kontrollanalytiker (DPG, DGPT) im IPM Magdeburg und MIP Halle, Gruppenlehranalytiker DAGG. Stationsarzt und Leiter des Arbeitsbereichs Psychosomatik der Frauenklinik der Medizinischen Akademie Magdeburg, ab 1990 Oberarzt an der Universitäts-FrauenKlinik Magdeburg, 1994 Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Niederlassung in Magdeburg. Gründer und Vorsitzender der AG Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe, später Ostdeutsche Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe von 1979–1996; 1982–1989 Mitglied des Vorstandes der

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V  Autorenkurzbiographien

Gesellschaft für Medizinische Psychologie der DDR, Mitglied der erweiterten Vorstände der GPPMP (1982–1989) und der International Society of Psychosomatic Obstretics and Gynecology (1992–1995), Mitbegründer der Institute für Psychoanalyse in Halle (MIP) 1993 und in Magdeburg (IPM) 1999. Umfangreiche Mitarbeit in KV und Ärztekammer. Forschungsschwerpunkte: Soziale Gynäkologie und Psychosomatische Gynäkologie. 77 Veröffentlichungen, davon 55 Buchbeiträge. U. a. Franke, P., David, M. (Hrsg.) (2002), Der andere Weg zum gleichen Ziel. Akademos. 1999 Ehrenmedaille der Katholischen Universität Leuven (Belgien), 2000 Bundesverdienstkreuz, 2001 Ehrenpräsident der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe, 2010 Ehrenmitglied des Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie Magdeburg (IPM). Froese, Michael, Jahrgang 1947, Sozialpsychologe, Studium der Psychologie und Sozialpsychologie in Berlin und Jena. Dr. phil., Psychologischer Psychotherapeut. Lehr- und Kontrollanalytiker DGPT, APB. Gruppenanalytiker. Tätigkeit im Haus der Gesundheit Berlin von 1974–1991. Seitdem niedergelassen als Psychoanalytiker in Berlin und Potsdam. Mitarbeit in mehreren Sektionen und Arbeitsgemeinschaften der GÄP/GPPMP. Nach der Wende Mitgründer der APB. Gründungsmitglied und Leiter der Psychohistorischen Arbeitsgruppe der APB. Forschungsfelder: Gruppenprozessforschung, Geschichte und Kultur der Psychoanalyse. Publikationen: Zahlreiche Publikationen zur Gruppenprozessforschung und zur Geschichte der Gruppenpsychotherapie und Psychoanalyse (s. Literaturverzeichnis), zuletzt gemeinsam mit Seidler (2009), Traumatisierungen in (Ost-) Deutschland, Gießen, Psychosozial-Verlag. Frohburg, Inge, Jahrgang 1937, Psychologiestudium HUB, Prof. Dr. rer. nat. habil., Fachpsychologin der Medizin, Gesprächspsychotherapeutin, Ausbilderin in der GwG, Lehrbeauftragte der Berliner Akademie für Psychotherapie u. a. 1971–1990 wissenschaftliche (Ober-)Assistentin, 1990–1993 a. o. Dozentur für das Fachgebiet Klinische Psychologie/ Psychotherapie jeweils an der HUB, 1990 Vertretungsprofessur Universität Hamburg. 1993 Berufung zur Universitätsprofessorin neuen Rechts für das Lehrgebiet Klinische Psychologie/Psychotherapie an der HUB, 1969–2003 Mitarbeit im und zeitweise Leitung des Ambulatoriums des Lehrbereichs Klinische Psychologie am Institut für Psychologie der HUB, seit 2003 im Ruhestand. 1978–1990 Gründung und Leitung der Thematischen AG Gesprächspsychotherapie in der Gesellschaft für Psychologie und 1981–1990 Gründung und Leitung der AG bzw. Sektion Gesprächspsychotherapie in der GÄP, zeitweise Vorstandsmitglied der GÄP und der GwG, seit 1992 Mitglied und zeitweise Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates der GwG, 2002–2004 Mitarbeit in der Psychotherapeutenkammer Berlin. Forschungsfelder: Indikationsdiagnostik und Veränderungsmessung, Gesprächspsychotherapie, Psychotherapie-Ausbildung. Publikationen: (1988), Psychotherapie-Ausbildung. Ein Beitrag zur wissenschaftlichen Begründung von Zielstellungen, Inhalten und Methoden, Z. Psychol. Suppl. 10. – (2007), Zwölf Beiträge zum sozialrechtlichen Anerkennungsverfahren der Gesprächspsychotherapie, Köln, GwG-Verlag. – Ehrenmitgliedschaften: Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Fröhlich, Hans-H., Jahrgang 1940, Priv.-Doz. Dr. rer. nat. et jur. habil., Dipl.-Psych., Fachpsychologe der Medizin (1981), Verhaltenstherapeut (DGVT, 1990), Psychologischer Psy-

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chotherapeut (1999), Fachpsychologe für Rechtspsychologie (BDP/DGPs, 2001). Wissenschaftlicher Assistent und Oberassistent am Institut für Strafrecht (1965–1977), Lehrbeauftragter für Psychologie an der Sektion Rechtswissenschaft HUB (1978–1988). Forensisch-psychologischer Gutachter an der Abteilung Gerichtspsychiatrie der Charité (1966–1977). Leiter der Ehe-, Sexual- und Familienberatung Berlin-Friedrichshain (1978–1990). Tätigkeit im Sozialmedizinischen Dienst für Familienplanung, Eheberatung und Schwangerschaft (SMD)/Gesundheitsamt Berlin Friedrichshain-Kreuzberg (1991–2005). Nach Rehabilitierungsverfahren (1991) Priv.-Doz. für Kriminologie, Forensische Psychologie und Kriminalpsychologie am Institut für Kriminalwissenschaften der Juristischen Fakultät HUB (1991–2005). Vorstandsmitglied und Leiter der AGr Sexualtherapie der Sektion VT (1981–1990). Im Vorstand der Medizinischen Gesellschaft zum Studium der Lebensbedingungen und der Gesundheit (1972–1984). Mitarbeit im Vorstand der Sektion Ehe und Familie und der AG Ehe- und Sexualberatung (ESB, 1981–1990). Stellvertretender bzw. amtierender Vorsitzender der Sektion VT der GPPMP (1991–1996). 1. Vorsitzender von Ehe und Familie. Gesellschaft für Familienplanung, Partnerschafts- und Sexualberatung, LV Berlin (1991–1994). Anerkennung als politisch Verfolgter nach Ber. Reha G (1998). Spezialgebiete: Jugendkriminologie, Paarund Sexualtherapie. Publikationen: (1974), Psychologische Probleme der Täterpersönlichkeit (mit H. Dettenborn), Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften. – (1984), Forensische Psychologie – Lehrbuch (mit H. Dettenborn u. H. Szewczyk), Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften. – (1997), Leben in der Zweierbeziehung, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. – Auszeichnung: Fichtepreis 1. Klasse der HUB (1971). Gedeon, Ulrike, Jahrgang 1961, Ärztin, Studium der Medizin in Leipzig, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin/ Psychoanalyse; analytische und Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, Körperpsychotherapie, Psychoanalyse, Neuraltherapie. Lehrtherapeutin für Psychodynamische Einzeltherapie und Körperpsychotherapie am CIT. 1998–2008 Oberärztin an der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik des Diakoniewerkes Halle. Seit 2008 in eigener Praxis. Vorsitzende der Sektion »Das Weibliche in der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse« der DGAPT. Vorstandsmitglied der DGAPT, Vorstandsmitglied des CIT. Geyer, Michael, Jahrgang 1943, Prof. Dr. med., Arzt, Studium in Sofia, Leipzig, Erfurt. Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytiker, Lehr- und Kontrollanalytiker (DGPT, SPP, SWK, AfP), Gruppenanalytiker (DAGG). 1983–2008 Abteilungsleiter/Direktor der Uni-Klinik Leipzig für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, 1990–2008 Lehrstuhl Psychosomatik Universität Leipzig. Seit 1998 und hauptberuflich nach Emeritierung (2008) Wissenschaftlicher Leiter der Akademie für Psychotherapie Erfurt. 1990–2002 Mitglied des Fakultätsrats für Medizin und 1994–1998 Prorektor für Universitätsentwicklung der Universität Leipzig. Vorstandsmitglied GÄP/GPPMP 1976–2004. 1990 Mitgründer SWK Leipzig und SPP Leipzig. 1998 Mitgründer des IPP Leipzig und der AfP Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Psychosomatische Epidemiologie, psychotherapeutische Prozessforschung, Versorgungsforschung. Publikationen: U. a. Hrsg. Zschr. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie 1987–2007. Autor und Herausgeber von mehreren

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V  Autorenkurzbiographien

Büchern, u. a.: (1985), Das ärztliche Gespräch, Berlin, Volk und Gesundheit. – (1989), Methodik des psychotherapeutischen Einzelgesprächs, Leipzig: Barth. – Geyer u. Plöttner (2008), Die Psychodynamische Psychotherapie und ihre Therapeuten, Gießen, ­Psychosozial-Verlag. – Ehrenmitglied des SPP e. V. sowie der Psychosomatischen Ge­sellschaft Polens, Ehrenpräsident des SWK e. V. Oskar-Vogt-Preis für Psychotherapieforschung 1982, John-Rittmeister-Medaille 1992. Goldhan, Wolfgang, Jahrgang 1934, studierte Violoncello, Orgel, Gesang, Dirigieren, Musikwissenschaft, Bibliothekswissenschaft, Phonetik und Kommunikationswissenschaft und Medizin. Konzerttätigkeit sowie wissenschaftliche Vorträge an Universitäten im In- und Ausland und bei Rundfunk und Fernsehen. Musiktherapeut im Wilhelm-GriesingerKrankenhaus ab 1972, Vorstandstätigkeit in der Gesellschaft für Rehabilitation. Promotion Dr. phil. Berlin 1972. Gollek, Sabine, Jahrgang 1958, Dipl.-Psych., Studium der Medizinischen Psychologie an der Staatlichen Universität und am Bechterew-Institut Leningrad. Dr. rer. nat., Fachpsychologin der Medizin. Approbierte Psychologische Psychotherapeutin, Klientenzentrierte Psychotherapeutin GwG. Tiefenpsychologische und gesprächspsychotherapeutische Ausbildung. Angestellte Psychologische Psychotherapeutin, leitende Psychologin an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Psychische Gesundheit des Universitätsklinikum Leipzig. Mitglied der GwG (berufspolitisches Engagement im Regionalrat Sachsen, Sachsen/Anhalt und Thüringen), des Berufsverbandes deutscher Psychologen, der GSW Leipzig. Dozentin und Selbsterfahrungsleiterin am Institut für Psychologische Therapie e. V. Leipzig seit 2000, dessen 1. Vorsitzende 2004, 2005 sowie seit 2009; Leiterin des Fachbereichs Gesprächspsychotherapie. Mitglied des Schlichtungsausschuss der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer. Gräßler, Wolfgang, Jahrgang 1943, Arzt, Studium der Medizin in Leipzig, 1972–1976 theologisches Fernstudium. Dr. med., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Zusatzbezeichnung Psychotherapie, Ausbildung in tiefenpsychologisch orientierter Psychotherapie und Logotherapie, Ausbilder in der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (Ost). Bis 1990 ambulanter Nervenfacharzt in staatlichen poliklinischen Einrichtungen im Kreis Mittweida/Sachsen. Ab 1991 eigene Niederlassung als Facharzt und Psychotherapeut in Frankenberg/Sachsen. 2. Vorsitzender der GLE-Ost e. V., die gemeinsam mit Heinz Gall 1990 gegründet wurde. Forschungsfeld: kollektive Neurosen nach Frankl. Publikationen: (2001), Animal sociale (mit Heinz Gall), Bonn, Djre. – (2006), Sinn und Sein, Königswinter, Djre. Haase, Ulrike, Jahrgang 1952, Dipl.-Physikerin, Leiterin der Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen, Supervisorin; Studium der Physik in Leipzig, MusiktherapieAusbildung in Dresden und Crossen, Ausbildung zur Klavierpädagogin in Dresden; Musiktherapeutin der DMVS e. V.; Lehrmusiktherapeutin und Supervisorin (DMVS); vor 1989 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Akademie der Wissenschaften der DDR, nach 1989 selbständige Klavierpädagogin und Dozentin an der Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen; 1993–2002 Mitglied und später Vorsitzende des Rates für Aus- und Weiterbildung der Deutschen Musiktherapeutischen Vereinigung Ost e. V., seit 2002 Vorstandsmitglied der Deutschen Musiktherapeutischen Vereinigung Ost

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e. V. (seit 2006 Namensumbenennung in »Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung zur Förderung des Konzeptes nach Schwabe«, DMVS e. V.); Publikationen (Auswahl): Schwabe, C., Haase, U. (1998), Die Sozialmusiktherapie. Crossener Schriften zur Musiktherapie, Bd. VII, 3 (neu überarb. Aufl. 2008), Bad Klosterlausnitz, Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen. – Haase, U., Stolz, A. (Hrsg.) (2005), Improvisation – The­rapie – Leben. Materialien zur 2. Wissenschaftlichen Tagung der Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen. Crossener Schriften zur Musiktherapie Bd. XVI, Bad Klosterlausnitz, Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen. Hennig, Heinz, Jahrgang 1935, Dipl.-Psych., Prof. Dr. phil. habil., Fachpsychologe der Medizin, Psychologischer Psychotherapeut, Lehr- und Kontrollanalytiker im MIP Halle/Saale, Dozent der MGKB Halle. Vor der Wende: a. o. Dozent für Medizinische Psychologie und Leiter der Abteilung Medizinische Psychologie an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Universität Halle, Vorstandsmitglied in den Sektionen Medizinische Psychologie bzw. Klinische Psychologie mehrerer Fachgesellschaften, Gründung der AGKB-DDR in der GPPMP. Nach der Wende: Professor für Medizinische Psychologie und Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie im damaligen Zentrum für Psychiatrie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der Universität Halle, Gründung der MGKB, Mitbegründer des MIP, der DGAPT und der Weimarer Psychotherapiewoche, Vorstandsmitglied der DGMP. Forschungsfelder: Imaginationen als Psychodynamische Psychotherapie – psychotherapeutische Versorgungsforschung – Klinische Aspekte der Medizinischen Psychologie – Arbeitslosigkeit und Gesundheit. Publikationen: (1990), Psychotherapie mit dem Katathymen Bilderleben,Leipzig, Thieme. – (1996), Kurzzeitpsychotherapie in Theorie und Praxis (mit E. Fikentscher u. a.), Lengerich u. a., Pabst. – (1997), Analytische Therapie im multimodalen Ansatz (mit H. J. Maaz u. E. Fikentscher), Lengerich u. a., Pabst. – (2007), Beziehung und therapeutische Imaginationen (mit E. Fikentscher u. a.), Lengerich, Pabst. – Ehrenmitglied der DGAPT, Ehrenvorsitzender der MGKB. Hess, Helga, Jahrgang 1940, Dipl.-Psych., 1958–1963 Humboldt-Universität Berlin, Priv.Dozt. Dr. rer. nat. habil., Fachpsychologin der Medizin, Gruppenpsychotherapeutin. Nach der Wende Lehrtherapeutin, Lehranalytiker im MIP Halle/Saale. Ab 1963 Mitarbeiterin, ab 1972 Wissenschaftliche Oberassistentin im IfPN des Hauses der Gesundheit Berlin, ab 1991 Leitende Psychologin im LKH Haldensleben, ab 1999–2006 Niederlassung in eigener Praxis (analytische Einzel- und dynamische Gruppenpsychotherapie) in Magdeburg. Vorstandsmitglied der Sektion Klinische Psychologie der Gesellschaft für Psychologie der DDR (1988–1990), der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie (1983– 1990), der Sektion Dynamische Gruppenpsychotherapie der GÄP ab 1984, ab 1987–1991 Vorsitzende. Ab 1991 Vorstandsmitglied im WBK Sachsen-Anhalt. Mitglied der IAGP (1986), der SPR (1990), des Berufsverbandes deutscher Psychologen (1990). Langjährige Mitarbeiterin (1963–1987) von Kurt Höck. Forschungsfelder: Methodenentwicklung im Rahmen psychotherapeutischer Versorgungsforschung (z. B. BFB,VFB, BFB-K, BFBKK, MMPI-Skalen) und empirischer Gruppenpsychotherapie (SGF, Soziogramm, Sozio­ physiologie, Effektivitätsermittlung) sowie Gruppenpsychotherapie-Prozessforschung. Publikationen s. unter Literatur: Hess 1986, 1990a, 1990b, 1996a, 1996b, 2000, 2001. Virchow-Medaille 1979, Oskar-Vogt-Preis 1985; 1989.

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V  Autorenkurzbiographien

Israel, Agathe, Jahrgang 1949, Ärztin, Studium in Jena, Dr. med., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytikerin, Lehranalytikerin der DGPT, Dozentin und Supervisorin am Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Berlin(-Friedrichshain)/Ausbildungsinstitut der VAKJP sowie Lehranalytikerin der APB. Gruppenlehrtherapeutin, Balint-Gruppenleiterin. 1973–1988 Bezirkskrankenhaus Leipzig-Dösen, 1988–1999 Chefärztin am Fachkrankenhaus für Psychiatrie Berlin-Lichtenberg. Mitbegründerin von Kindheit e. V., 1999 Mitbegründerin und Leiterin des VAKJP-Instituts Berlin(-Friedrichshain). Seit 2000 niedergelassene Psychoanalytikerin, Mitbegründerin der analytischen Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie (SKEPT) als Therapiemethode und anerkanntes Richtlinien-Verfahren. Publikationen: (2007), Der Säugling und seine Eltern. Die psychoanalytische Behandlung frühester Entwicklungsstörungen, Frankfurt a. M., Brandes & Apsel – (2008), Früh in der Welt. Das Erleben des Frühgeborenen und seiner Eltern auf der neonatologischen Intensivstation (gemeinsam mit I. Kerz-Rühling), Frankfurt a. M., Brandes & Apsel. – (2008), Krippenkinder in der DDR, Frankfurt a. M., Brandes & Apsel. Kinze, Wolfram, Jahrgang 1942, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Dr. med. habil.; Verhaltenstherapie; Dozent, Supervisor, Prüfungskommission für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten; 1977–2007 Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Lübben/Spreewald, 1991–2007 Leitender Arzt der Fachklinik Lübben; Mitbegründer und Vorstandsmitglied des Ausbildungsinstitutes für Verhaltenstherapie (IVT Brandenburg GmbH); Vorstandsmitglied des Verbandes für Integrative Verhaltenstherapie (VIVT); Arbeitsschwerpunkte: ADHS, ­Störungen des Sozialverhaltens, Glaubhaftigkeitsbegutachtung; Autor und Mitherausgeber: (1991), Aufmerksamkeit und Konzentration im Kindesalter, Berlin, Verlag Gesundheit. – (2002), Das aufmerksamkeitsgestörte und hyperaktive Kind (2. Aufl.), Weinheim/ Basel, Beltz. – (2010), Entwicklungslinien in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Praxishandbuch Forensische Kinder- und Jugendpsychiatrie, Berlin, beziehungsweise-braWiss.-Verlag. Kirchner, Roger, Jahrgang 1946, Arzt, Studium in Jena. Dr. med., Facharzt für Frauenheilkunde, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin. Analytiker und Gruppenanalytiker. Lehranalytiker und Supervisor der Brandenburgischen Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie (BATAP) in Cottbus. Gruppenlehranalytiker und Supervisor des DADG/DAGG, Balint-Gruppenleiter DBG. Bis 1993 Leiter des Zentrums für Psychosoziale Medizin Cottbus, seit 1994 Praxis für Psychotherapeutische Medizin/Psychoanalyse. Vor der Wende: Vorsitz Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie Bezirk Cottbus. Seit der Wende: Vorsitz Berufsverband der Psychotherapeuten (BVP), Vorsitz Deutsche Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie (DGAPT), Vorsitz Brandenburgische Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie in Cottbus (BATAP), Stellvertretender Vorsitz Deutsche Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin (DGPM), Stellvertretender Vorsitz Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie (DADG), Präsident der Lan-

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desärztekammer Brandenburg1990–1994. Publikationen: (Hrsg.) (1994), Psychosoziale Medizin im vereinten Deutschland, Lengerich u. a., Pabst. – Benkenstein, H., Kirchner, R., Seidler, C. (Hrsg.) (1995), Die Gruppe – eine verlorene Utopie?, Lengerich u. a., Pabst. – Seidler, C., Kirchner, R., Benkenstein, H. (Hrsg.) (1997), Individuation contra Bezogenheit. Habsucht und Neid, Lengerich u. a., Pabst. – Oskar-Vogt-Preis der GÄP. Klemm, Hans-Jörg, Jahrgang 1966, Dipl.-Psych., Studium in Jena. Psychologischer Psychotherapeut für Tiefenpsychologie und Psychoanalyse. Körperpsychotherapeut (DGAPT), seit 1998 in eigener Praxis in Jena. Lehrtherapeut für Psychodynamische Einzeltherapie in der DGAPT und im CIT. Vorstandsmitglied in DGAPT und CIT, Vorsitzender der Sektion Männliche Identität in Psychotherapie und Gesellschaft der DGAPT, Leiter der AG Männliche Identität im CIT. Klumbies, Gerhard, Jahrgang 1919, Arzt, OMR Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin und für Psychotherapie. Direktor der Medizinischen Universitäts-Poliklinik Jena. Emeritus seit 1984. Gründungsmitglied der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie, im Vorstand Schriftführer. Vorsitz der Sektion Hypnose und Autogenes Training der GÄP. Forschungsfelder: Psychotherapie bei inneren und Nervenkrankheiten, Hypnose- und vergleichende Verhaltensforschung. Publikationen: H. Kleinsorge, G. Klumbies (1959), Psychotherapie in Klinik und Praxis, München/Berlin, Urban & Schwarzenberg. – G. Klumbies, G. Schaeffer, B. Bauer (1971), Patientenzeichnungen als Ausdruck psychischer Fehlhaltungen, Jena, G. Fischer. – (1974), Psychotherapie in der Inneren und Allgemeinmedizin, Leipzig, Hirzel. – Ehrenmitgliedschaften: Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, Österreichische Gesellschaft für wissenschaftliche Hypnose, Deutsche Gessellschaft für Hypnose und Autogenes Training, Milton-Erickson-Gesellschaft für klinische Hypnose. John-Rittmeister-Medaille der GÄP; Lifetime Award der Deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie. König, Werner, Jahrgang 1935, Arzt, Studium der Medizin und Psychologie in Leipzig, Prof. Dr. med., Dipl.-Psych. Facharzt für Innere Medizin und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Zusatzbezeichnung Psychoanalyse. Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut am Institut für Psychotherapie und Psychosomatik des BDA Berlin, der Berliner Akademie für Psychotherapie und des Instituts für Psychotherapie Potsdam. 1973–2000 Chefarzt der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses Berlin, 1973–1996 Vorstandsmitglied der GÄP/GPPMP. Vorstandsmitglied des Landesverbandes der DGPM. Gründungsmitglied der GÄP und der DGPM. Publikationen: Höck, K., König, W. (1976), Neurosenlehre und Psychotherapie, Jena, Fischer. – (1972/5. Aufl. 1982) (Hrsg.), Psychologie im Gesundheitswesen, Berlin, Volk und Gesundheit. – (2004), Die Leitung von Balintgruppen, Köln: Deutscher Ärzte-Verlag. – Ehrenmitglied der Deutschen Balint-Gesellschaft. Krause, Wolf-Rainer, Jahrgang 1949, Medizinstudium an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Facharztweiterbildung in der Universitäts-Nervenklinik Halle und Nervenklinik der Charité, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Klinische Geriatrie, Chiropraxis, Forensik. Dozent und Therapeut für Autogenes Training und Hypnose der DGÄHAT. Vor der Wende Stellvertreter des Chefarztes. Sekretär der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezir-

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V  Autorenkurzbiographien

kes Magdeburg, Mitgliedschaften: Neues Forum Blankenburg, Landesfachausschuss Gesundheit und Soziales – CDU, Fach- und Prüfungskommission der Ärztekammer Sachsen-Anhalt – Psychiatrie und Psychotherapie. Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für ärztliche Hypnose und autogenes Training. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Entspannungsverfahren in der DGPPN. Mitgründer des Psychotherapieinstitutes Braunschweig – Göttingen, Mitgründer und Leiter des Institutes für psychiatrische Begutachtung (IPB) am Harz-Klinikum Wernigerode – Blankenburg. Forschungsfelder: Hypnose, Photoakustische Stimulierung, Suizidologie. Publikationen: J. H. Schultz (1994), Hypnosetechnik. Praktische Anleitung zum Hypnotisieren für Ärzte. 9. Auflage. Bearbeitet und ergänzt von G. Iversen und W.-R. Krause, Stuttgart/Jena, Gustav Fischer. – Staats, J., Krause, W.-R. (1995), Hypnotherapie in der zahnärztlichen Praxis, Heidelberg, Hüthig. – Psychyrembel. Klinisches Wörterbuch. Mitarbeit an mehreren Auflagen. Stumm et al. (2005), Personenlexikon der Psychotherapie. Wien/New York, Springer. Kruska, Barbara Maria, Jahrgang 1947, Psychologische Psychotherapeutin, Studium der Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Dipl.-Psych., Fachpsychologin der Medizin, Gruppenpsychotherapie, TP, Psychoanalyse, Lehranalytikerin (DGPT), 1973– 1980 als Psychotherapeutin angestellt im HdG Berlin, von 1981–1992 angestellt im stationären, später auch ambulanten psychotherapeutischen Bereiches des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses Berlin zum Teil mit Leitungsfunktionen, ab 1992 in eigener Praxis niedergelassen; seit 1994 Mitglied im Zulassungsausschuss für Ärzte und Psychotherapeuten an der KV Berlin, Mitbegründerin der APB. Forschungsinteressen: wechselseitige Beeinflussung von Psychotherapie und sozialem Umfeld der Patienten, Effektivitätsuntersuchungen in analytischen Behandlungen. Kruska, Wolfgang, Jahrgang 1940 (Königsberg/Ostpreußen), 1945 Flucht nach Vorpommern, Arzt. Studium der Medizin 1959–1965 an der Humboldt-Universität zu Berlin, dort auch Dr. med. Facharzt für Neurologie/Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapie, Zusatzbezeichnung Psychoanalyse. Dozent, Supervisor, Lehranalytiker (DGPT) an der APB. Berlin. 1967–1970 (nach Pflichassistenz und einem halben Landarztjahr) Facharzt­ ausbildung in Wuhlgarten (später Grisinger-Krankenhaus), anschließend ebenda drei Jahre Abteilungsarzt der Psychotherapie-Abteilung. 1973–1980 Haus der Gesundheit Berlin, Abteilung für Psychotherapie, zunächst als Facharzt, dann als Oberarzt der Ambulanz. Von 1980–1991 Aufbau und Leitung der ambulanten Fachabteilung für Psychotherapie Berlin-Köpenick. Von 1991–2007 als niedergelassener Nervenarzt und Psychoanalytiker ebenda tätig. Während der Wendezeit Sprecher der ambulant tätigen Ostberliner Ärzte, Teilnahme an den Runden Tischen des MfG. Geschlossener Eintritt dieser Gruppierung in den Virchow-Bund, Kooption als Stellvertretender Vorsitzender des Berliner Landesverbandes, des dann NAV-Virchow-Bundes bis 2006. Von 1990–1998 Delegierter der Berliner Ärztekammer und mehrfach des Deutschen Ärztetages. Von 1990–1992 Vorstandsmitglied der ÄK Berlin, dann in die Vertreterversammlung der KV Berlin gewählt, dort tätig geworden in der Psychotherapie- und in der Satzungskommission. 1990 Mitbegründer der APB, seit 1994 (mit C. Seidler) unbefristete Weiterbildungsbefugnis für Psychotherapie und Psychoanalyse. Forschungsgegenstand: Ätiopathogenese der Neurosen, Gruppenprozesse. Veröffentlichungen dazu: 1982, 2001.

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Leuschner, Gert-Günter, Jahrgang 1945, Psychologe, Studium der Psychologie in Dresden, Aspirantur in Rostock, Priv.-Doz. Dr. phil., Fachpsychologe. Psychologischer Psychotherapeut, Verhaltenstherapeut, Gruppentherapeut (VT), Hypnotherapie (MEG), Dozent, Lehrtherapeut und Supervisor IVT, Fallgruppenleiter (IFA). Vor der Wende angestellter Psychologe im Krankenhaus, danach Psychotherapeut in eigener Praxis. Publikationen: (1990), Psychologische Aspekte chronischer Erkrankungen, Selbstverwirklichung und Fremdbestimmung von Patienten und Personal. In: Thiele, W. (Hrsg.), Das Gesundheitswesen der DDR: Aufbruch oder Einbruch?, Sankt Augustin, Asgard-Verlag Hippe. – (1993), Lehrergesundheit aus medizinischer Sicht. In: Gudjons, H. (Hrsg.), Entlastung im Lehrerberuf. Hamburg, Bergmann und Helbig. – (1998), Der psychologische Anteil bei der Therapie des Krebskranken. In: Günther, H. (Hrsg.), Krankheitsbewältigung und Lebensqualität, Regensburg, Roderich. Lobeck, Gottfried, Jahrgang 1942, Arzt, Studium der Medizin in Berlin und Dresden, Dr. med, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapie, Zusatzbezeichnung Psychoanalyse, Ausbildung in Psychodynamisch Imaginativer Traumatherapie, einschließlich EMDR. Lehr- und Kontrollanalytiker sowie Lehrtherapeut und Supervisor (Tiefenpsychologie). Lehrtherapeut für Gruppen am Sächsischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V. und am Sächsischen Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und psychosomatische Medizin e. V. Nach Abschluss der Facharztausbildung Neurologie/Psychiatrie an der Neurologisch-Psychiatrischen Klinik der Medizinischen Akademie Dresden 1974 Leiter der Nervenabteilung der Poliklinik Dresden-Weißer Hirsch, 1979 Wechsel zur Klinik für Psychotherapie des Krankenhauses Dresden-Neustadt, 1981 Oberarzt, 1987 Facharzt für Psychotherapie, 1993 kommissarischer Leiter der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie am Krankenhaus Dresden-Neustadt, 1967 Berufung zum Chefarzt der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie, 2007 Verabschiedung in den Ruhestand. Ludwig, Arndt, Jahrgang 1950, Arzt, Studium in Berlin und Dresden, Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker (DPV, IPA, DGPT), Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, Ausbildungen in Psychoanalyse (AlexanderMitscherlich-Institut Kassel), Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie (Höck/ Ott), Gesprächspsychotherapie, Regulativer Musiktherapie, KBT, Autogenem Training und Hypnose (Ablationshypnose nach Klumbies). Lehr- und Kontrollanalytiker (DPV, SPP) und Gruppenanalytiker (DADG, SPP). Vor der Wende Aufbau und Leitung einer Psychosomatisch-gynäkologischen Abteilung innerhalb der Frauenklinik am Klinikum »Heinrich Braun« in Zwickau, nach der Wende Aufbau einer Schwangerenkonfliktberatung, Niederlassung in eigener psychotherapeutischer Praxis in Zwickau. Mitbegründer der späteren ostdeutschen psychosomatisch-gynäkologischen Gesellschaft, nach deren Zusammenschluss mit der westdeutschen Schwestergesellschaft Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der DGPFG. Kommissionsarbeit zur Angleichung der unterschied­lichen Regelungen beim Schwangerschaftsabbruch in Ost- und Westdeutschland. Mitaufbau, zurzeit Vorsitzender des SPP Leipzig. Mitglied im DPV-Vorstand. Forschungsschwerpunkte: Psychosomatische Gynäkologie, Schwangerschaftskonflikt, Geschichte der Psychoanalyse. Publikationen: Ludwig, A., Franke, P. (1988), Zur Problematik der Schwangerschaftskonfliktberatung, Zeitschrift für ärztliche Fortbildung, 82, 495–499.

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V  Autorenkurzbiographien

Maaz, Hans-Joachim, Jahrgang 1943. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie – Psychoanalyse. Ausbildung in Autogenem Training, Hypnose, KB, Psychodynamischer Einzeltherapie, Psychoanalyse, Intendierter Dynamischer Gruppentherapie, Körperpsychotherapie. Lehrtherapeut und Lehr- und Kontrollanalytiker am MIP, CIT, DGAPT. 1968–1973 Assistenzarzt Bezirkskrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie Bernburg. 1973–1980 Abteilungsleiter Neurologie und Psychiatrie Poliklinik Beeskow. 1980–2008 Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Diakoniewerk Halle. 1976–1980 1. Vorsitzender der RG für ärztliche Psychotherapie der DDR Frankfurt/Oder. 1976–1984 Vorstandsmitglied in den Sektionen Autogenes Training/Hypnose und Intendierte Dynamische Gruppentherapie. 1984 Gründungsmitglied der Sektion Psychodynamische Einzeltherapie und seit 1986 1. Vorsitzender. 1989 Gründungsmitglied der DGAPT, seit 1993 1. Vorsitzender der DGAPT. 1993 Gründungsmitglied des MIP und von 1993–2001 1. Vorsitzender des MIP. 1997 Gründungsmitglied und 1. Vorsitzender der Sektion Analytische Körperpsychotherapie in der DGAPT. 2001 Gründungsmitglied und 1. Vorsitzender des Choriner Instituts für Tiefenpsychologie und psychosoziale Prävention. 1992 John-Rittmeister-Plakette der GPPMP. 1994 Hildegard-von-Bingen-Medaille. Publikationen u. a.: (1990), Der Gefühlsstau, Ein Psychogramm der DDR, Berlin, Argon-Verlag. – (1997) (Hrsg.), Psychodynamische Einzeltherapie, Lengerich u. a., Pabst. – (1997), Analytische Psychotherapie im multimodalen Ansatz (gemeinsam mit Hennig u. Fikentscher), Lengerich u. a., Pabst. – (2001), Integration des Körpers in die analytische Psychotherapie, Lengerich u. a., Pabst. – (2003), Der Lilith-Komplex, München, Beck. – (2007), Die Lie­ bes­falle, München, Beck. Mehl, Brigitte, Jahrgang 1931, Dipl.-Psych., Fachpsychologin der Medizin, Studium der Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin 1953–1958. Verhaltenstherapeutin. Tätigkeit: Beratung und Therapie in der Neuropsychiatrischen Beratungsstelle BerlinFriedrichshain von 1962–1992, Honorartätigkeiten in der Kinderneuropsychiatrischen Beratungsstelle Oranienburg und im Diakonissenhaus Teltow. Leitung der Arbeitsgruppe Verhaltenstherapie am geistig behinderten Kind der Sektion Verhaltenstherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Ehrenamtliche Teilnahme am Privat­ engagement Autismus der Familie Dr. Eichhorn, Kleinmachnow. Misselwitz, Irene, Jahrgang 1945, Ärztin, Studium in Jena, Dr. med., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie 1976, Fachärztin für Psychotherapie 1986, viele Jahre im Vorstand der Regionalgesellschaft für Psychotherapie tätig, Psychoanalytikerin (DPV, IPA, DGPT, DAGG), Lehr- und Kontrollanalytikerin, vor der Wende als Leiterin der Psychoptherapiestation der Universitätsnervenklinik »Hans Berger« tätig, Lehrbeauftragte für das Fach Psychopathologie für Psychologiestudenten, seit 1993 niedergelassen in eigener Praxis als Psychotherapeutin und Analytikerin, Gründungsmitglied des Instituts für Psychotherapie und Angewandte Psychoanalyse e. V., Sitz Jena, seit 2004 Vorsitzende des o. g. Instituts (IPPJ). Wichtigste Forschungsfelder: Psychoanalyse gesellschaftlicher Traumata und Transformationsprozesse beim Individuum und in Großgruppen, Auswirkungen der DDR-Krippenerziehung auf die heutige Elterngeneration, zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zu diesen Themen.

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Neumärker, Klaus-Jürgen, Jahrgang 1940, Arzt, Medizinstudium an der HU Berlin, Prof. Dr. med. Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Kinder- und Jugendpsychiatrie – Verhaltenstherapie. Ab 1966 Tätigkeit an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité. 1966 Promotion bei K. Leonhard. 1975 Habilitation. 1981 Berufung auf den Lehrstuhl für Kinderneuropsychiatrie an der HU Berlin, Charité, als Nachfolger von Prof. Dr. med. Dagobert Müller. 1986 WHO-Stipendiat bei Sir Michael Rutter, Department of Child and Adolescent Psychiatry, University of London. 1987 Ernennung zum Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie an der Medizinischen Fakultät der Charité als Nachfolger von Prof. Dr. med. H. A. F. Schulze. 1990–1992 Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Nervenheilkunde am Universitätsklinikum Charité. Bis 2002 Geschäftsführender Direktor der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Charité Campus Mitte. Ab 2003 Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an den DRK Kliniken Berlin/Westend. Ende 2005 Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Charité und den DRK Kliniken Berlin durch Erreichen der Altersgrenze. Ott, Jürgen, 1938–2003, Arzt, Medizinstudium HU Berlin und Medizinische Akademie Erfurt. Prof. Dr. med, Dr. rer. pol. Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie Psychotherapeutische Medizin. Honorarprofessor der Hochschule der Künste Berlin. Bis 1973 Oberarzt der Nervenklinik der Medizinischen Akademie Erfurt, 1974–1986 Oberarzt der Abteilung für Medizininische Psychologie und Forensische Psychiatrie der Charité Berlin, nach Ausreise aus der DDR 1986–2003 Oberarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universität Düsseldorf. Vorstandsmitglied der GÄP 1971–1986. Vorstandsmitglied der Sektionen Gruppenpsychotherapie und Medizinische Psychologie bis 1986. Forschungsfelder: Psychodynamische Psychotherapie bei unterschiedlichen Ströungsgruppen, Gruppenpsychotherapieforschung u. a. bei jugendlichen Straftätern, Ausbildungsforschung. Publikationen u. a.: (1980), Psychotherapie – Integration und Spezialisierung (mit H. Hess u. W. König), Leipzig, Thieme. – (1997), Lehrbuch der Psychotherapie (4. Aufl.) (mit A. Heigl-Evers, F. Heigl), Stuttgart, G. Fischer. – (2002), Die psychoanalytisch-interaktionelle Methode (mit A. Heigl-Evers u. F. Heigl), Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. Peglau, Andreas, Jahrgang 1957, Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut (TP/PA) in eigener Praxis in Berlin. 1985–1991 Redakteur bei Jugendradio DT 64, 1990–2002 Mitbegründer/Vorstandsvorsitzender der Gemeinschaft zur Förderung der Psychoanalyse e. V. (später Ich e. V.), 1990–1998 verantwortlicher Redakteur von ICH – die Psychozeitung. – (Hrsg.) (2000) Weltall, Erde ... Ich. Anregungen für ein (selbst)-bewussteres Leben. – Interessiert sich insbesondere für Ausrichtungen der Psychoanalyse, die deren individualitäts- und gesellschaftsveränderndes Potenzial berücksichtigen, sowie für bestimmte Aspekte der Psychoanalysegeschichte. Veröffentlichungen dazu u. a.: (2010), Psychoanalytische Schriften im Nationalsozialismus, Zschr. Psychosozial 120. Petersen, Henriette, studierte von 1967 bis 1971 Psychologie in Jena und Berlin kam nach politischer Haft 1972 nach Hamburg, wo sie von 1975 bis 1978 ihr Studium abschloss. Sie war lange in einem psychiatrischen Fachkrankenhaus tätig, ist heute als Psychologische Psychotherapeutin und Supervisorin in eigener Praxis tätig und nimmt seit 1991 Lehraufträge an der Universität Hamburg wahr.

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V  Autorenkurzbiographien

Pienitz, Marianne, Jahrgang 1949, analytische Kunsttherapeutin grad.; Sonderpädagogin BA; Gesprächstherapeutin nach Rogers; Graduierung Supervisionsbefähigung; Psychotherapeutin ECP; Rehabilitationspäd. Erzieherin, Dozentin für Kunsttherapie AFP Erfurt; Gestaltungstherapeutin im Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie Leipzig; Gründerin des Jugendhauses Leipzig e. V. 1990 und 15 Jahre Vorstandsvorsitzende. Plöttner, Günter, Jahrgang 1943, Arzt, Studium der Medizin in Leipzig, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie/Neurologie, Facharzt für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Zusatzbezeichnung Pychoanalyse, DGPT, Ausbilder/Lehrtherapeut, Gründungs-u. Leitungsmitglied im SWK, SPP, IPT, Leitender Oberarzt, stellvertretender Direktor der Universitätsklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin ­Leipzig, wissenschaftliche Lehr- und Unterrichtstätigkeit im Bereich der Human- und Zahnmedizin bis 2009. Bearbeitung von Forschungsthemen psychosomatischer Epidemiologie, Wirksamkeits- und Therapieprozessforschung, Qualitätssicherung psycho­ therapeutischer Verfahren, Vorstandsmitglied und Dozent der Weimarer bzw. Erfurter Psychotherapiewoche. Publikationen: Plöttner, G., Geyer, M. (1991), Begleitdiagnostik des therapeutischen Prozesses und der Supervision in der stationären Gruppentherapie. In: Hess, H. (Hrsg.), Psychotherapie und Grenzgebiete, Bd. 11, Leipzig, Barth, S. 76–82. – (2004), Psychotherapeutische Versorgung und Versorgungsforschung. In: Plöttner, G. (Hrsg.), PPM Psychotherapie – Psychosomatische Medizin, Bd. 1, Leipziger Universitätsverlag. – Geyer, M., Plöttner, G. (Hrsg.) (2008), Psychodynamische Psychotherapie und ihre Therapeuten, Gießen, Psychosozial-Verlag. – John-Rittmeister-Medaille. Reinhardt, Axel, Jahrgang 1955, Musiktherapeut, Musikstudium in Leipzig, Dipl.-Mus., Musiktherapie-Ausbildung am Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung der KMU Leipzig, Lehrmusiktherapeut und Supervisor der Deutschen Musiktherapeutischen Vereinigung Ost e. V., vor 1989 Musiktherapeut an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der Medizinischen Akademie »Carl Gustav Carus« Dresden, danach an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums »Carl Gustav Carus« Dresden, vor 1989 mehrere Jahre Mitglied des Vorstandes der Sektion Musiktherapie der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, 1990–1995 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Musiktherapeutischen Vereinigung Ost e. V. (DMVO e. V.), Mitbegründer der Deutschen Musiktherapeutischen Vereinigung Ost e. V., langjähriges Mitglied der Kasseler Konferenz musiktherapeutischer Vereinigungen Deutschlands. Forschungsarbeiten zur Methodologie, Effektivität und Effizienz musiktherapeutischer Prozesse im psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungskontext, Spezialisierung auf die Behandlung ich-struktureller Störungen. Publikationen: (2006), Stellung, Bedeutung und Effektivität der Musiktherapie in der Behandlung psychiatrischer Patienten, Aachen, Shaker-Verlag. – (2004), Improvisation als Strukturangebot und Reifungsraum für Patienten mit ­Störungen auf Borderline-Persönlichkeitsorganisations-Niveau. In: Crossener Schriften zur Musiktherapie, Bd. XVI, Crossen, Akad. für Angewandte Musiktherapie. – (2008), Methodologische Handreichungen für den medizinisch-klinischen Bereich. In: Crossener Schriften zur Musiktherapie, Bd. VII, Crossen, Akad. für Angewandte Musiktherapie. Richter-Heinrich, Elisabeth, Jahrgang 1926, Studium der Psychologie an der Universität Leipzig, Dipl.-Psych., Fachpsychlogin der Medizin. Berufliche Tätigkeit: 1958 Oberassisten-

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tin; Humboldt-Universität zu Berlin, 1959–1962 Wissenschaftliche Assistentin am Institut für kortiko-viszerale Pathologie und Therapie der Akademie der Wissenschaften Berlin-Buch. 1962–1991 Leiterin der Abteilung Psychophysiologie; Zentralinstitut für Herz- und Kreislauf-Regulationsforschung der ADW in Berlin-Buch. Ab 1991 psychotherapeutische Praxis. Dozentin für Psychosomatik in der postgradualen Fortbildung von Ärzten und Psychologen zu Psychotherapeuten. 1973–1991 Mitglied im Rat für ­Psychologie beim Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR, 1970–1983 Vorstand der Gesellschaft für Neurowissenschaften, Sektionsvorstand »Klinische ­Psychologie« der Gesellschaft für Psychologie in der DDR. 1978–1991 Leiterin der AG Psychophysiologie der Gesellschaft für Psychologie der DDR. Publikationen: (1971), ­Psychophysiologische Reaktionsprofile von Hypo- und Hypertonikern, Deutsches Gesundheitswesen, Heft 32, 1481–1489. – (1981), Long term application of behavioral treatments in essential hypertensives, Pergamon Press and Brain Research Publication, Physiology & Behavior, Vol. 26, 915–920. – Richter-Heinrich, E., Miller, N. E. (1980), Biofeedback – Basis problems and clinical applications, Amsterdam/New York/Oxford, North-Holland Publishing Company. Röhrborn, Helmut, Jahrgang 1942, Arzt, Studium der Humanmedizin in Leipzig, Dr. med., Facharzt für Innere Medizin, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie/Psychoanalyse, Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, Regulative Musiktherapie, Balint-Gruppenleiter, Lehrmusiktherapeut der DMVO für Regulative Musiktherapie, 1979–2007 Chefarzt der Klinik für funktionelle Erkrankungen des Bergarbeiterkrankenhauses Erlabrunn, später Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik, stellvertretender Ärztlicher Direktor des KKH Erlabrunn, heute Kliniken Erla­brunn gGmbH, vor der Wende Vorstandsmitglied der Sektion Musik Bewegung Gestaltung, Vorsitzender der Regionalen Arbeitsgemeinschaft Wismut sowie der interdisziplinären Arbeitsgruppe Psychotherapie in der Inneren Medizin der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR, nach der Wende Gründungsmitglied und Vorstandsmitglied des Sächsischen Weiterbildungskreises für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. (SWK), Vorstandsmitglied und Schatzmeister der Vereinigung der leitenden Ärzte der Psychosomatisch-Psychotherapeutischen Krankenhäuser und Abteilungen in Deutschland e. V. (bis 2007), Arbeiten zu methodologischen Fragen der Musiktherapie und Psychotherapie, Verlaufs- und Ergebnisforschung der Regulativen Musiktherapie, Mitherausgeber (mit C. Schwabe, 3. Aufl. 1996), Regulative Musiktherapie. Entwicklung, Stand und Perspektiven in der psychotherapeutischen Medizin, Jena/Stuttgart, G. Fischer. – Ehrenvorsitzender des Chemnitzer Institutes des SWK, Ehrenmitglied der DGPM. Roloff, Dorothea, Jahrgang 1939 (Königsberg/Ostpreußen), 1946–1952 Internierung als Spezialistenkind in der Sowjetunion. Ärztin, verheiratet, zwei Töchter (1964 und 1966). Medizinstudium in Jena und Dresden, Dr. med., Fachärztin Neurologie/Psychiatrie, Zusatzbezeichnungen Psychotherapie und Psychoanalyse. 1965–1989 ambulant tätige Poliklinikärztin, Wechsel an die Psychotherapeutische Tagesklinik in Dohna/Heidenau und angestellte Nervenärztin am dortigen Stadtkrankenhaus. 1993–2007 niedergelassene ärztliche Psychotherapeutin. 1975–1983 Grundkurse Neurosenlehre und Autogenes

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V  Autorenkurzbiographien

Training in Dresden. 1975–1990 Vorstandsarbeit in der Regionalgesellschaft für Psychotherapie Dresden. 2000–2006 Leitung der Dresdener Institutsambulanz der Ausbildungsinstitute SPP und SWK. Beratender Fachausschuss für Psychotherapie bei der KV Sachsen. Vorstandsarbeit im bvvp (Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten). Vorträge: »Psychiatrische Aspekte der Seelsorge«, Pfarrkonvent Meißen-Lommatzsch, 1977. »Angst als Lebensphänomen« im Arbeitskreis Arzt und Seelsorge der Evangelischen Kirche 1978. »Was bleibt – psychische Folgen des Inselaufenthaltes in der SU für die damaligen Kinder«, Tagung zum 60. Jahrestag des Abtransports deutscher Wissenschaftler und ihrer Familien in die Sowjetunion, Technische Universität Dresden, 2006. Rösler, Hans-Dieter, Jahrgag 1927, Studium der Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Dipl.-Psych. Dr. rer. nat. habil, o. Prof., Fachpsychologe der Medizin, 1979–1989 Hochschullehrer für Klinische (Medizinische) Psychologie an der Universitäts-Nervenklinik Rostock. Stellvertretender, 1990 Vorsitzender der Gesellschaft für Psychologie der DDR, 1981–1991, Vorsitzender der Fachkommission Klinische Psychologie an der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR. Seit 1992 im Ruhestand, bis 1994 Lehrstuhlvertretung (Entwicklungspsychologie) am Fachbereich Psychologie der Universität Gießen. Forschungen zur Klinischen Entwicklungspsychologie der Lebensspanne, Publikationen: (1963), Leistungshemmende Faktoren in der Umwelt des Kindes, Leipzig, J. A. Barth. – Rösler, H.-D., Szewczyk, H. (1987), Medizinische Psychologie – Ein Lehrbuch für Studenten, Berlin, Volk und Gesundheit. – Kleinpeter, U., Gebelt, H., Rösler, H.-D., Tuchscheerer, G. (1984), Leitfaden der Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, Leipzig, G. Thieme. – Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychologie 1994. Schade, Jochen, Jahrgang 1946, Studium der Medizin in Leipzig, Dr. med., 1977 Facharzt für Pathologie, verheiratet mit Dr. Maria Schade, zwei Kinder, 1982–1991 Assistent an der Klinik für Psychiatrie an der Universität Leipzig (Prof. Weise, Schwerpunkt: Sozialpsychiatrie). 1988 Facharzt Neurologie und Psychiatrie, seit 1988 offen engagiert in der Oppositionsbewegung der DDR, Gründungsmitglied des »Demokratischen Aufbruch« in Leipzig, später Wechsel zu »Demokratie Jetzt«. Niederlassung als Ärztlicher Psychotherapeut, 1993 Zusatztitel Psychoanalyse, 1990 Mitbegründer des Sächsischen Instituts für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V. und seither dort tätig als Dozent, Lehranalytiker und in Leitungspositionen (Vorstand, Vorsitzender, Leiter des Ausbildungsausschusses Psychoanalyse bis heute), von 1992–1997 Psychoanalytische Ausbildung am Karl-Abraham-Institut (DPV) in Berlin, 2000 Lehranalytiker der DGPT, Mitglied und beauftragter Lehranalytiker der DPV (IPA). Wissenschaftliches Interesse, Publikationen und Vorträge vor allem auf dem Gebiet der analytischen Sozialpsychologie und der psychoanalytischen Kulturtheorie. Meine intensivste Erfahrung eines gesellschaftlichen Glücksgefühls war die frühe Beteiligung an der Leipziger Montagsdemonstrationen von Ende September bis November 1989 und die Gesamterfahrung gesellschaftlicher Wirksamkeit in der Zeit der friedlichen Revolution, u. a. an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Dazu gehört auch die aktive Beteiligung bei der Etablierung der Psychoanalyse in Ostdeutschland. Scheerer, Sigmar, Günter, Reinhard, Jahrgang 1942, Arzt, Studium Humanmedizin, Humboldt-Universität zu Berlin. Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Weiterbildung in Intendierter Dynamischer Gruppen­

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psychotherapie, Psychodynamischer Einzeltherapie. Lehrtherapeut, Dozent, Supervisor, Balint-Gruppenleiter und Weiterbilder für Balint-Gruppenleiter in der BATAP sowie deren Gründungsmitglied. Vorstandsmitglied in der Deutschen Balint-Gesellschaft e. V. seit 1990. Von 1970–2009 Landarzt in Ostbrandenburg, seit 1981 auch anteilig als Facharzt für Psychotherapie tätig. Forschungsinteressen: Psychosomatik und Psychotherapie in der Allgemeinmedizin. Publikationen: (1988), Medizinische Psychologie in der allgemeinärztlichen Praxis (gemeinsam mit Schmidt und Suske). In: Szewczyk, H. (Hrsg.) (1988), Medizinpsychologie in der ärztlichen Praxis, Berlin, Volk und Gesundheit. – (2001), Der Hausarzt, sein Patient und die Beziehung – Brandenburgische Impressionen, Zschr. Balint, 2, 46–56. – (2009), Rezepte schreiben ist leicht, ABER ... (gemeinsam mit D. Curschmann und R. Suske), Berlin, Logos. Schiefer, Frank-Frieder, Jahrgang 1949, Arzt, Dr. med., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse. Psychoanalytiker, Gruppenanalytiker, Dozent, Lehr- und Kontrolanalytiker, Balint-Gruppenleiter – BATAP. Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum Niederlausitz; Mitgründer und 1998–2008 Vorstandsmitglied BATAP. Schmidt, Bettina, Jahrgang 1950, Ärztin, Studium in Leipzig, Fachärztin für Innere Medizin – Psychotherapie. Dozentin, Lehrtherapeutin und Supervisorin am SPP Leipzig und SWK Leipzig. Bis 1990 als Internistin an der Medizinischen Universitätsklinik (Poliklinisches Institut), nach der Wende bis 2010 Oberärztin und Leiterin der Poliklinik an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Leipzig. Mitbegründerin des SWK und des SPP Leipzig. Forschungsfelder: Psychophysiologie, Psychosomatik,Versorgungsforschung. Publikationen: (1990), Psychodiagnostisches Basisprogramm für Internisten (Mitautorin). Zeitschrift für die gesamte Innere Medizin und ihre Grenzgebiete, 45, 512–514. – (1995), Multizentrische Studie (BMBF) zur Qualitätssicherung in der psychotherapeutischen Grundversorgung Mitautorin). – (1998), Trainingsprogramm »Ärztliches Basisverhalten«. Eine Maßnahme zur Qualitätssicherung in der Psychosomatischen Grundversorgung (gemeinsam mit M. Geyer). Zeitschrift für Allgemein Medizin, 74, 312–317. Schnabl, Siegfried, Jahrgang 1928, Psychologe, Dr. phil. habil. (1969), Psychologischer Psychotherapeut, Sexualtherapeut. Nach Kriegsende Neulehrer an einer Grundschule. Ab 1948 Studium der Klinischen Psychologie an der Universität Leipzig, dort ab 1953 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter. 1956–1973 Tätigkeit im Erzgebirge als Psychotherapeut. 1969 erschien sein Standardwerk »Mann und Frau intim«, der erfolgreichste Ehe- und Sex-Ratgeber der DDR mit 18 Auflagen und über eine Million verkaufter Exemplare. Nach einem wissenschaftlichen Arbeitsverbot 1973 in der DDR leitete er 1973–1993 die Ehe- und Sexualberatungsstelle in Karl-Marx-Stadt/Chemnitz und war danach als Sexualberater für Pro Familia in Aue tätig. 1977–1987 Konsultant für die Pan American Health Organization. Forschungsfeld: sexuelle Funktionsstörungen und ihre Epidemiologie, Sexualtherapie. Publikationen: (1969), Mann und Frau intim – Fragen des gesunden und des gestörten Geschlechtslebens, Rudolstadt, Greifenverlag. – (1972), Intimverhalten, Sexualstörungen, Persönlichkeit, Berlin, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften. – (1974), Nervös?, Berlin, VEB Verlag Volk und Gesundheit.

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V  Autorenkurzbiographien

Scholz, Michael, Jahrgang 1942, Arzt, Studium in Sofia und Leipzig, Facharzt für Kinderund Jugendpsychiatrie, -psychotherapie sowie Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Familientherapeut. 1968–1969 Ausbildung in Psychotherapie bei Prof. Kohler, anschließend Psychiatrie bei Prof. Weise, beide Universität Leipzig. 1972–1994 Klinik für Kinderneuropsychiatrie der Univiversität Leipzig. 1994–2008 Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der TU Dresden. Seitdem Ausbilder in Multifamilientherapie. Mitgliedschaften: Vorstand der GPPMP, Vorsitzender der ­Sektion Kinderpsychotherapie und Familientherapie der GÄP/GPPMP, 1997–1999 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Publikationen: Bach, O., Scholz, M. (1979), Familientherapie in Praxis und Forschung, Leipzig, Hirzel – Lehrbuch der Psych-Fächer (gemeinsam mit O. Bach u. M. Geyer), Heidelberg, Barth. – (2009), Praxis der Multifamilientherapie (gemeinsam mit E. Asen), Heidelberg, Carl-Auer (engl. Ausgabe: 2010, London, Routledge). Schröder, Christina, Jahrgang 1954, Psychologin, Prof. Dr. phil. habil., Psychologische Psychotherapeutin (Verhaltenstherapie), 1980–1994 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften der Universität Leipzig, 1994–1996 Psychologin am Fachkrankenhaus für Onkologie Marienstift Schwarzenberg, seit 1996 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie des Universitätsklinikums Leipzig, 1987– 1990 Mitglied des Vorstands der Gesellschaft für Psychologie der DDR, 2002–2008 Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie. Forschungsfelder: Psychosoziale Onkologie, Palliativmedizin, Geschichte der Medizinischen Psychologie und Psychotherapie. Schwabe, Christoph, Jahrgang 1934, Musiker, Maler, Lehrmusiktherapeut. Studium der Musikpädagogik, Musikwissenschaft und Psychologie in Leipzig und Dresden. Hochschuldozent, Dr. phil. habil., Hochschullehrer (in Ruhe) im Fach Pädagogische Psychologie, Gründer der Akademie für angewandte Musiktherapie Crossen, Mitbegründer der Deutschen musiktherapeutischen Vereinigung Ost e. V. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Musiktherapie und zu anderen kulturellen Sachgebieten, u. a. »Regulative Musiktherapie« in sechs Auflagen, »Aktive Gruppenmusiktherapie für erwachsene Patienten«, »Die Methodik der Musiktherapie und deren theoretische Grundlagen«, mit Ulrike Haase »Die Sozialmusiktherapie«. Ehrenvorsitzender der Deutschen musiktherapeutischen Vereinigung zur Förderung des Konzeptes nach Schwabe e. V. (DMVS e. V.). Seefeldt, Dieter, Jahrgang 1941, Arzt und Psychologe, Studium der Medizin in Magdeburg, Studium der Psychologie in Berlin und Jena, Prof. Dr. med habil., Dipl.-Psych., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, Psychodynamische Therapie, Verhaltenstherapie, Gruppenpsychotherapie, Hypnose, Imaginative Verfahren, Traumatherapie. Balint-Gruppenleiter, Lehrtherapeut, Supervisor der BATP, 1984 Chefarzt im Kliniksanatorium HeinrichHeine Potsdam/Neu Fahrland, 1990 Chefarzt der Heinrich-Heine-Klinik, 1994 Chefarzt des psychosomatischen Bereiches, später auch Ärztlicher Direktor, 2004 privatärztliche Psychotherapie und Managementinstitut, 1990 Habilitation für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 1996 Umhabilitierung an die Charité Berlin und Privatdozent,

889 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Anhang

1998 a. o. Professur Universität Potsdam. Vorsitzender der RG Ärztliche Psychotherapie Potsdam. Seit Gründung bis 2002 Vorsitzender der BATP. Forschungsfelder: Stress und Stressfolgestörungen, chronischer Schmerz, chronischer Tinnitus, Angewandte und integrative Psychosomatik, Aus- und Weiterbildungsforschung, Entwicklung und Erprobung von Geräten. Publikationen u. a.: (1989), Stress verstehen, erkennen, bewältigen, Leipzig, Urania. – (1989), Modell zur Verbesserung der medizinischen Grundbetreuung. Dissertation B, Berlin. – John-Rittmeister-Medaille. Ehrenmitglied der BATP. Seidler, Christoph, Jahrgang 1943, Arzt, Studium in Berlin, Priv.-Doz. Dr. med. habil., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytiker, Lehr- und Kontrollanalytiker DGPT, APB. Gruppenanalytiker (DAGG). Balint-Gruppenleiter (DBG). Tätigkeit im HdG Berlin 1973–1996, 1987–1992 als Chefarzt des IfPN im HdG. Danach Niederlassung als Ärztlicher Psychotherapeut. Mitgliedschaften: Vorsitzender der Sektion Spezielle Psychotherapie der GÄP/GPPMP. Vorstand der GPPMP ab 1989. Gründungsmitglied und von 1990–2006 Vorsitzender der APB. Mitgründer des Berliner Instituts für Gruppenanalyse. Forschungsfelder: Gruppenprozessforschung, Geschichte und Kultur der Psychoanalyse. Publikationen: (1995), Gruppenpsychotherapie bei Persönlichkeits- und Entwicklungsstörungen im Jugendalter, Lengerich, Pabst. – Seidler, C., Misselwitz, I. (Hrsg.) (2001), Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht. – (2009), Traumatisierungen in (Ost-)Deutschland (gemeinsam mit Froese), Gießen, Psychosozial-Verlag. Sitte, Ellen, Jahrgang 1931, Dr. rer. nat., Psychologiestudium an der HUB. Fachpsychologin der Medizin. Ausbildung in Autogenem Training, Hypnose, Individualpsychotherapie nach Leonhard. 1958–1991 tätig an der Nervenklinik der Charité, zwischendurch Promotion im Psychologischen Institut der HUB, danach neuropsychologische Tätigkeit in der Neurologischen Klinik der Charité, auch in der medizinpsychologischen Lehre. Mitgliedschften: GÄP, auch Vorstandsmitglied in den 1970er Jahren. Forschungsfelder: Psychotherapieforschung gemeinsam mit Leonhard, hier auch promoviert mit einer Erweiterung der Individualtherapie. Publikationen: gemeinsam mit Leonhard s. Literaturverzeichnis. Stoiber, Ilona, Jahrgang 1941, Dipl.-Psych., Studium der Psychologie in Leipzig, Dr. phil., Fachpsychologin der Medizin, Psychologische Psychotherapeutin, Verhaltenstherapie, Lehrtherapeutin und Supervisorin, stationär und ambulant tätige Psychotherapeutin auf den Gebieten der Suchtbehandlung sowie Ehe-, Familien- und Sexualberatung, Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft/ Sektion Verhaltenstherapie der Gesellschaften für Psychologie sowie für Ärztliche Psychotherapie der DDR, Leiterin der Arbeitsgruppe Verhaltenstherapie bei Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit, Gründung und Leitung der Weiterbildungsmaßnahme »Zusatzqualifikation Suchttherapie – verhaltenstherapeutisch orientiert« (GAD), Ehrenmitglied der Solidargemeinschaft e. V. Neubrandenburg. Strauß, Bernhard, Jahrgang 1956, Studium an der Universität Konstanz. Prof. Dr. phil. Dipl.Psych.; Ausbildungen in Psychoanalyse, Gruppenpsychotherapie, Sexualtherapie. In der Ausbildung u. a. tätig an der Akademie für Psychotherapie Erfurt, Institut für Psychotherapie Potsdam, Sigmund-Freud-Universität Wien, Donau-Universität Krems. Wissenschaft-

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V  Autorenkurzbiographien

licher Mitarbeiter an den Universitäten Hamburg und Kiel, seit 1996 Professor an der Universität Jena. Ehem. Präsident/1. Vorsitzender des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin, der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Psychologie und der Society for Psychotherapy Research. Forschungsschwerpunkte: Psychotherapie­ forschung, Klinische Bindungsforschung, Gruppenpsychotherapieforschung. Letzte Publikationen: Strauß, B., Kirchmann, H., Schwark, B., Thomas, A. (2010), Bindung, Sexualität und Persönlichkeitsentwicklung, Stuttgart, Kohlhammer. – Mattke, D., Reddemann, L., Strauß, B. (2009), Keine Angst vor Gruppen! Gruppenpsychotherapie in Praxis und Forschung, Stuttgart, Klett-Cotta. – Strauß, B. (Hrsg.) (2008), Bindung und Psychopathologie, Stuttgart, Klett-Cotta. – Strauß, B., Hohagen, F., Caspar, F. (Hrsg.) (2007), Lehrbuch der Psychotherapie (in 2 Bänden), Göttingen, Hogrefe. – Adolf-Ernst-Meyer-Preis des DKPM. Suske, Rainer, Jahrgang 1943, Arzt, Facharzt für Allgemeinmedizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Tiefenpsychologische Therapie. Lehrtherapeut, Supervisor, Dozent Balint-Gruppenleiter der BATAP. Landarzt und Psychotherapeut. Nach der Wende 17 Jahre im Vorstand der BATAP. Publikation: (2009), »Rezepte schreiben ist leicht, ABER ...« (gemeinsam mit Scheerer u. Curschmann), Berlin, Logos. Theilemann, Steffen, Jahrgang 1962, Psychologischer Psychotherapeut, Dr. phil., Psychoanalytiker (DPG), eigene Praxis in Potsdam. Forschungsfeld: Harald Schultz-Hencke. Tögel, Infrid, Jahrgang 1927, Psychologe; Studium der Psychologie 1947–1951 in Leipzig; Dr. phil., Fachpsychologe der Medizin; Psychologischer Psychotherapeut für tiefenpsychologische Psychotherapie und Psychoanalyse; Lehrtherapeut/Lehranalytiker, Supervisor/ Kontrollanalytiker beim Sächsischen Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie und beim Sächsischen Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin; bis 1993 angestellter Psychologe, danach in eigener Praxis tätig. In der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR Mitglied in den Vorständen der Sektionen Gruppentherapie, Einzeltherapie und Musiktherapie (vor 1990). Einige Zeitschriftenpublikationen aus dem Bereich der Kinder- und Erwachsenenpsychotherapie; einige Kapitel in Sammelbänden (Gruppenpsychotherapie; Traum). Tuchscheerer, Gertraude, Jahrgang 1935, Ärztin, Studium an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Examen 1962, MR Dr. med, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin. Ausbildungen in Kinder- und Jugendpsychotherapie im Münchner Weiterbildungskreis (Prof. Biermann) und im Katathymen Bilderleben. Lehrtherapeutin im SWK Leipzig. 1964–1998 Bezirks- bzw. Landeskrankenhaus Uchtspringe, ab 1968 Oberärztin, ab 1979 Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, ab 1994 stellvertetende Ärztliche Direktorin des LKH Uchtspringe. Forschungsschwerpunkt: Diagnostik im Kindesalter und Spieltherapie. Mitautorin der Bücher »Spieltherapiekatalog« (1981), Leipzig, Thieme; und »Leitfaden der Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter« (1984), Leipzig, Thieme. Diverse Vorträge und Veröffentlichungen zu Inhalt und Effizienz des Therapiekonzeptes in der obengenannten Klinik. Venner, Margit Julia, Jahrgang 1937, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytikerin (DPGT), Gruppenanalytikerin (DAGG), Lehr- und Kontrollanalytikerin, Gruppenlehranalytikerin. Vor

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der Wende tätig als Oberärztin und Abteilungsleiterin der Abteilung Internistische Psychotherapie der Klinik Innere Medizin der Universität Jena, Lehrbeauftragte für das Fach Medizinische Psychologie, nach der Wende Fortsetzung der o. g. Tätigkeit, Lehrbeauftragte für das Fach Psychosomatik und Psychotherapie. Vorsitzende der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie bis 1990. Von 1990–2004 Gründungsmitglied und Vorsitzende des Instituts für Psychotherapie und Angewandte Psychoanalyse (IPPJ). Wichtigste Forschungsfelder: Gruppenpsychotherapie psychosomatisch Kranker mit Organdestruktionen, Essstörungen und psychologische Aspekte der Nieren-Transplantation (Lebendspende). Zahlreiche Publikationen zu den o. g. Themen sowie zum Thema »Psychische Störungen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel«. Ehrenvorsitzende des IPPJ. John-Rittmeister-Medaille 2002. Weise, Gerlinde, Jahrgang 1942, Ärztin, Dr. med. 1961–1965 Ausbildung zur und Tätigkeit als Hebamme; 1965–1971 Medizinstudium Medizinische Akademie Magdeburg; 1971– 1976 Weiterbildung zur Fachärztin für Allgemeinmedizin, Poliklinik Mitte Magdeburg. Ab 1975 Ausbildung in Dynamischer Einzelpsychotherapie, Intendierter Dynamischer Gruppenpsychotherapie, Autogenem Training, Hypnose, Regulativer Musiktherapie. 1979–1990 Leitung der Psychotherapie-Abteilung Poliklinik Mitte Magdeburg; 1991 Zusatzbezeichnung Psychotherapie. Seit 1991 Niederlassung mit einer Praxis für Psychotherapie in Magdeburg. Seit 1990 im Vorstand der Ärztekammer Magdeburg. Weise, Klaus, Jahrgang 1929, Arzt, Studium Humanmedizin in Leipzig, Prof. Dr. med. habil., Facharzt für Psychiatrie, Neurologie – Psychotherapie, Gesprächstherapeut, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität Leipzig. Forschungsfelder: Sozial- und Gemeindepsychiatrie, Psychotherapie in der Psychiatrie. Publikationen: Kabanow, M. M., Weise, K. (Hrsg.) (1981), Klinische und soziale Aspekte der Rehabilitation psychisch Kranker, Leipzig, VEB Georg Thieme. – Späte, H., Thom, A., Weise, K. (Hrsg.) (1981), Theorie, Geschichte und aktuelle Tendenzen der Psychiatrie, Jena, VEB Gustav Fischer. – John-Rittmeister-Medaille der Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR. Wilda-Kiesel, Anita, Jahrgang 1936, Fachschullehrerin, Fachphysiotherapeutin, Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur (DHfK), Leipzig. Abschluss als DiplomSportlehrerin, 1973. Außerplanmäßige Aspirantur und Hauptprüfung Psychologie an der Sektion Psychologie der Universität Leipzig, Promotion zum Dr. phil. 1987. 1971– 1979 Lehrtherapeutin für Kommunikative Bewegungstherapie und Konzentrative Entspannung an der Bezirksakademie des Gesundheits- und Sozialwesens Leipzig und ab 1976 in der AG Kommunikative Bewegungstherapie der GÄP, ab 1992 in der GPPMP, ab 2005 in der Akademie für Kommunikative Bewegungstherapie in Leipzig. 1957–1978 Neurologisch-Psychiatrische Klinik der Universität Leipzig, 1960–1979 Abteilung für Psychotherapie; zuerst als Krankengymnastin, ab 1973 wissenschaftliche Assistentin. 1979–2006 Fachschullehrerin an der Medizinischen Berufsfachschule der Universität Leipzig und Leiterin der Fachrichtung Physiotherapie. 1976–2006 Gründerin und Vorsitzende der AG Kommunikative Bewegungstherapie in der GÄP (später GPPMP) und zuletzt der Akademie für Kommunikative Bewegungstherapie e. V. Publikationen: (1987), Kommunikative Bewegungstherapie, Leipzig, Barth. – (1993), Die Konzentrative Entspannung, Reinbek, LAU-Ausbildungssysteme GmbH. – (1999), Neurologie, Psychi-

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V  Autorenkurzbiographien

atrie, Psychotherapeutische Medizin Kompaktlehrbuch Physiotherapie, München, Elsevier, Urban und Fischer. – (2011), Kommunikative Bewegungstherapie – Brücke zwischen Psychotherapie und Körpertherapie (gemeinsam mit Anette Tögel u. Uwe Wutzler), Bern, Huber. – Auszeichung: John-Rittmeister-Medaille der GÄP. Wruck, Peter, Jahrgang 1943, Medizinstudium in Rostock, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Zusatzbezeichnung Psychoanalyse (DPV, DGPT), Entwicklung der Psychotherapie-Station der Nervenklinik an der Universität Rostock bis 1987, akademische Laufbahn abgebrochen, da als sog. Reisekader nicht zugelassen. Chefarzt Psychotherapeutische Klinik für Suchtkrankheiten und Neurosen Rostock bis 1991, seitdem Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Niederlassung, Vorsitzender der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie des Bezirkes Rostock bis 1990, Gründungsmitglied und Vorsitzender des Instituts für Psychotherapie und Psychoanalyse Mecklenburg-Vorpommern bis 2002, Lehr- und Kontrollanalytiker der DGPT sowie Weiterbildungsermächtigung für Psychotherapie und Psychoanalyse durch die Ärztekammer Rostock. Mitherausgeber des ­Sammelbandes »Psychotherapeutisch relevante Problemsituationen in der ärztlichen Tätigkeit« (1983), diverse Vorträge und Veröffentlichungen zu systemtheoretischen, objektpsychologischen (Bezugspersoneninventar) und neurosendiagnostischen Aspekten von Psychodynamik und Metapsychologie. Zimmermann, Wolfram, Jahrgang 1944, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Studium HU Berlin. Priv.-Doz. Dr. phil. habil., Dipl.Psych., Fachpsychologe in der Medizin. Ausbildungen in tiefenpsychologisch-fundierter und Verhaltenstherapie (alle Altersgruppen). Rehabilitationspsychologie (1986), Hypnotherapie (DGH), Gesprächspsychotherapie (Erwachsene), Rechtspsychologe, Hypnotherapeut (DGH), Balint-Gruppenleiter (DBG), Lehrtherapeut, Supervisor, Dozent (TP/VT für alle Altersgruppen). 1976–1990 Leiter der Fachabteilung für Klinische (Medizinische) Psychologie und Psychotherapie der »Funktionseinheit Kreiskrankenhaus – Kreispolikinik Bernau bei Berlin, 1990–1991 Abteilungleiter im Gesundheitsamt, seit 1991 in eigener Praxis. Vorsitzender (1983–1990) der Regionalgesellschaft für Ärztliche Psychotherapie Frankfurt/Oder, Vorstandsmitglied in Fachgesellschaften der DDR, nach der Wende Funktionen in KV Brandenburg. Mitbegründer der BATAP. Forschung: klinische therapieorientierte Psychodiagnostik. Publikationen u. a.: (1994), Psychologische Persönlichkeitstests bei Kindern und Jugendlichen, Leipzig/Heidelberg, Barth. – (2010), Psychotherapie der Aggression.

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Literatur

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Namenregister

Namenregister A Abendrot, Rolf  206, 208 Abraham, Karl  48 f., 255, 747 Adler, Alfred  47, 99, 161, 204, 207, 493, 527 Aichhorn, August  126 Albani, Cornelia  732, 805 f. Alexander, Franz  31, 47, 52 Alexandrowicz, Jerzy  200, 683 Alt, Konrad  221 Andrzejak, Barbara  315 Aresin, Lükke  130, 426 f., 517 Atanasov, A.  858 B Bach, Hans  575, 577, 705, 730 Bahrke, Ulrich  712, 714, 739, 792 Balint, Michael  132, 138, 275, 283, 338, 348, 361, 386, 470, 479, 483–486, 599, 600 f., 611, 697, 786 Bandura, Albert  38 Barchmann, Harald  508, 528, 683, 685, 782, 785 Bartuschka, Frank  598, 638 f., 677, 683, 743 Bartz, Helga  710 Bauer, Berthold  95, 201, 730 Baumeyer, Franz  28, 30, 51, 476, 731 Baumgarten, Franziska  85 Beerholdt, Alexander  30 f., 54, 66–73, 89, 91, 130, 155, 161, 163, 252, 476, 560, 730 Behrends, Lothar  66, 534, 705, 730 Behrendt, Hildegard  104 Bell, Karin  720, 728, 741 Benedek, Therese  29, 46–53, 80, 83, 85, 730, 735 Benedek, Tibor  52 Benedetti, Gaetano  586, 590 f., 720 f. Benkenstein, Heinz  254, 274, 278, 281, 286, 347, 471, 477, 488, 490 f., 542, 677, 685, 713, 720, 744, 766, 768, 770 f. Berger, Hans  76 Bergmann, Bärbelies  101, 109 Bergmann, Ernst von  89, 128, 131 Bernard, Anne  67 Bernhard Strauß  24 Bernheim, Hyppolyte  33 Biermann, Eva-Maria  503 Biermann, Gerd  221, 224 Binswanger, Ludwig  204, 207, 417 Binswanger, Otto  76 f. Bion, Wilfred  386 Blatz, Rainer  348 Bloch, Ernst  161 Blum, Werner  216, 249, 254, 279, 281, 345, 347, 349 f., 353, 408, 617, 705, 812, 819, 848

Boehm, Felix  30, 50 f., 53, 67, 69 f., 91, 475, 730, 848 Böhm, Karl  82 Born, Helmut  89, 130, 133, 135, 183, 190, 216, 408, 869 Boss, Medard  147, 204, 207, 479 Böttcher, Brigitte  551 f., 685, 799 f., 869 Böttcher, Hans R.  150, 219, 246, 248, 465, 476, 579, 660 Böttcher, Hermann F.  144, 181 f., 184 ff., 208, 211, 216, 246, 248, 276, 279, 281, 288 f., 326 f., 331, 349 f., 353 f., 560, 579, 616 f., 683, 705 f., 718, 727, 731 f., 848, 869 Bovet, Theodor  447 Braemer  60 Brähler, Elmar  460, 466, 561, 617, 662, 805 f. Brandenburg, Günter  481 Brandt, Willy  245 Bräunsdorf, Volker  353 Bräutigam, Walter  148, 202, 847 Brecht, Bertolt  27, 177 Breckow, Nina  850 Brugsch, Theodor  60 Brüll, Inge  398, 870 Brunnemann, Gabriele  657, 870 Buber, Martin  413 Bühler, Brigitte  447, 870 Bürger-Prinz, Hans  51, 229, 898 Burkhardt, Helmuth  51 Burkhardt, Johannes  148, 163, 165, 174, 216, 246, 276, 284 Bykow, K. M.  91, 137 C Chrustschow, Nikita  94 Cierpka, Manfred  805 Crodel, Hans-Walter  28, 30, 89 f., 92, 127, 129, 132, 185, 392, 464, 542, 556, 594, 596, 848, 870 Crodel, Mary-Lies  550 Curschmann, Dieter  436, 871 Curschmann, Hans  28 Czabala, Czeslaw  281 D Dahlem, Franz  89 Daniel, Evelyn  628 Dauer, Steffen  683 Dehler  180 Denner [Gestaltungstherapeutin]  255 Derbolowsky, Udo  148 di Pol, Gerhard  73, 91, 185, 246, 248, 302, 337, 345 ff., 370 f., 400, 468, 502, 504, 534, 554 f., 773, 802, 871 Dittmann, Christiane  221, 871

937 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Namenregister Dober, Bernhard  314, 393 Döblin, Alfred  27 Drees, Ludwig  682, 714, 729, 739 Drunkenmölle, Klaus  337, 517, 522 Dührssen, Annemarie  57, 167, 174, 204, 225, 289, 476, 700 Dummer, Werner  114, 151, 185, 255, 310 f., 460, 464, 507, 509, 579, 848 E Ebersbach, Ute  221, 224, 871 Ecke, Christa  281, 291, 370 f., 441 f., 494, 745, 871 Ederer, Christian  628 Ehle, Gisela  277, 362, 471, 491, 550, 586, 591, 675, 811, 872 Ehrenpfordt, Ursel  606 Ehrhardt, Werner  598 Eichhorn, Erika  798, 799 Eichhorn, Hans  254, 347, 464, 466, 471, 534, 551, 557, 589, 598, 748, 881 Einstein, Albert  78, 653 Ekman, Tore  47, 52 f. Eliasberg, W.  36, 704 Endler, Siegfried  206, 208 Enke, Helmut  148, 174, 177 f., 180, 206, 231, 279, 288, 373, 693 Erickson, Milton H.  556 Erpenbeck, John  281, 475, 633, 649, 652, 655 Eysenck, Hans  78, 103 f., 139, 149, 174, 201, 311, 377, 524, 526, 527 F Federn, Ernst  118 f. Feldes, Dieter  288, 388, 561, 731, 750 Feldes, Ursula  390 Ferchland, Editha  148, 174, 177 Ferenczi, Sandór  46–49, 479 Ficker, Friedemann  350 Fiedler, Wolfgang  397 Fietzke, Holger  315, 534 Fikentscher, Erdmuthe  214 f., 312, 391, 471, 491, 529, 531, 534, 536 f., 563, 679, 683, 707, 717 f., 727, 737, 739, 762, 787–791, 806 ff., 850, 872 Fischel, Werner  110, 115 Flechsig, Paul  92 Forel, Auguste  33, 335 Foulkes, Siegfried Heinrich  145, 153, 203, 640, 765 Franke, Paul  24, 144, 208, 211, 256, 42 ff., 430, 434 f., 466, 490, 696, 712, 714, 727, 729, 731, 739 ff., 872 Frankl, Viktor  180, 184, 557, 558, 559 Franz, Barbara  248 Fredrich, Eveline  550, 798 f. Freier, Wilfried  705

Freud, Anna  95, 119, 125 f., 227, 439, 574 Freud, Sigmund  33 ff. 37, 46,–50, 60, 75, 78, 80, 83 f., 94, 99, 147, 161, 163, 204 f., 214, 229, 281 ff., 285, 369, 412, 421, 462, 464, 469, 470 ff., 474 f., 479, 488, 493, 527, 562, 587, 632, 634, 649 f., 652 f., 675, 746, 750, 765 f., 905 Friedrich, Walter  253 Froese, Michael  288, ff., 370, 376, 493–496, 655, 743, 745 f., 870, 873 Frohburg, Inge  146, 151, 255, 292, 297, 310, 451, 465 f., 468, 470 f., 496, 500 fg., 504, 659, 677, 701, 772 f., 776, 779 f., 873 Fröhlich, Hans-H.  24, 508, 516, 668, 782, 844, 873 Frommer, Jörg  714, 729 Fröse, Michael  727, 849 Fuchs-Kittowski, M.  253 Fuchs, Marianne  183, 190 Fühmann, Franz  649, 654 G Gadamer, Hans-Georg  30 f., 68 f., 71 ff. Gall, Heinz  558 f., 685 Galperin, Petr  148, 162 Garms, Gisela  208 Gebelt, Heinz  524, 574 Gedeon, Ulrike  762,–765, 874 Geyer, Karin  213 Geyer, Michael  27, 29, 31, 39, 46, 54, 66, 79, 89 f., 113, 127, 143 ff., 150, 161 f., 178, 185, 203, 206–209, 211–214, 243, 244 f., 247–252, 256, 260, 268, 271, f., 274, 277, 279, 286, 326 f., 345 f., 348, 353, 364 f., 394, 430, 436, 459, 461, 463–473, 477, 479 f., 483 ff., 490 f., 503, 551, 556 f., 560 f., 590, 593, 597, 599, 605, 616–620, 623, 641, 644, 655, 662, 673, 675 ff., 678 ff., 682 ff., 686, 689 ff., 703, 705 f., 717 f., 722, 726, 729 f., 763, 788, 797, 799 ff., 803, 805, 812 f., 847 ff., 863, 874 Gheorghiu, Vladimir  335 Gindler, Elsa  189, 552 Gneist, Jochen  352, 473, 617, 628 Goethe, Johann Wolfgang  105 Goldhan, Wolfgang  151, 180, 194, 323, 875 Gollek, Sabine  409, 416, 875 Göllnitz, Gerhard  149, 150, 195, 246, 248, 524 Gorbatschow, Michail  288, 459, 637, 658 f., 743, 766 Göring, Hermann  67 Göth, Norbert  277, 466, 471, 583 f., 850 Gottschaldt, Kurt  295 f., 493 Grassel, Heinz  215 Gräßler, Wolfgang  557, 875 Greve, Werner  639 f. Groschek, Klaus  253, 471, 520, 522 Gruber, Gunter  592–596, 709

938 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Namenregister Gruss, B.  181 Gumz, Antje  805 Gunia, Waldemar  249, 280 f., 330, 345, 549 ff., 766 Gunkel, Rainer  315, 394, 534, 640, 683 Günther, Hans-Jürgen  315, 534 Guthke, Jürgen  116, 612 H Haase, Ulrike  320, 793, 797, 875 Habenicht, Antje  628 Haendler, Otto  443 Hager, Kurt  475 Hárnik, Jenö  47 Härtel, Frank  705 Härtwig, Rainer  401, 731 Hattingberg, Hans von  51, 58 Hauschild, Jürgen  401 Havemann, Robert  61, 89, 91, 474, f. Heidegger, Martin  204, 417 Heidrich, Richard  91, 204, 209, 334, 394, 731 Heigl-Evers, Annelise  148, 174, 177 f., 202 f., 206 f., 288 f., 637 f., 647, 677, 679, 694, 732, 807 Heigl, Franz  148, 202, 732 Heim, Edgar  594 Heinroth, Johann A. H.  46, 421 Helm  912 Helm, Johannes  114, 146, 149 ff., 185, 248, 251, 253 f., 256, 293 f., 297, 301, 307 f., 310, 411, 419, 451 f., 460, 464, f., 493, 503, 527, 701, 723 Hennig, Heinz  312, 316, 391, 393, 459, 461, 471, 491, 521, 529 ff., 533–537, 557, 563, 565, 579, 674 f., 683, 685, 713, 717 f., 727, 737, 739, 761, 763, 787 ff., 791 f., 806, 811, 876 Henningsen, Franziska  728 f., 734 Hess, Helga  86, 113 f., 148, 151, 157, 165, 167, 172–178, 185, 225, 227, 245, 256, 258, 273, 276, 279, 286, 288 f., 369 ff., 427, 442, 461 f., 466, 468 f., 471, 477, 490, 492, 494, 496, 598, 610, 620, 636, 679, 712 f., 731, 739, 830, 850, 876 Hessel, Aike  805 f. Heyer, Gustav Richard  42, 58, 130, 153, 231, 333 Hidas, György  281, 288 f., 329, 464, 467, 493, 745 Hiebsch, Hans  146, 160, 184, 256, 288 Hirsch, Reinhard  677, 690, 706 f., 717 f. Hochauf, Renate  315, 534 Höck, Kurt  32, 56, 59–62, 85, 89 f., 94 f., 105, 112 f., 133, 140, 143, 144–151, 153 ff., 157–162, 164–169, 172–178, 185, f., 196, 201 f., 205, 207 f., 212, 216, 225, 227, 231 f., 243, 245–251, 255–258, 260, 272 f., 276, 279 f., 284, 285–288, 312, 327–330, 337, 341, ff., 345, 348, 369 f., 373 f., 389, 391 f., 402, 411, 426, 441, 460, 462, 464, 466, 468, 476 f., 481, 483, 487 f., 490 f., 493, 539, 547, 558, 569, 610, 616, 618 f., 631, 636–639, 641, 657, 686, 697, 702, 715,

731, 743 ff., 750, 765 f., 814, 816, 823, 840 f., 848, 858, 863 Hoffmann, Sven Olaf  703 Höhfeld, Kurt  741 f., 747, 831 Höhne, Frank  481, 739, 761 Hollitscher, Walter  31, 60, 89, 92, 162 f., 253, 475 Hollmann, Werner  28 Holzkamp, Klaus  410 Honecker, Erich  21, 243, 272, 469, 621, 632, 646, 648, 654 Hoppe, Christa später Kohler, Christa  97, 336 Hoppe, Klaus D.  713, 738, 740, 790 Horney, Karen  46, 52 f. Huber, Rudolf  542, 569 Hudolin, V.  148 Hugler, Heidi  508 I IM Charlotte Lorenz  748 IM Fred Wolke  214 IM Grabowski  246, 748 IM Kaufmann  132 IM Sigmund Freud  748 Irmer, Barbara  315 Israel, Agathe  117, 218, 375, 437, 491, 546, 550 f., 571, 573, 577, 592, 675, 761, 877 Israel, Gudrun  148, 190, 225, 228, 372 Iwanow-Smolenski, A. G.  91 J Jäggi, Eva  721 Jäkel, Franz  481 Janke, Margita  815 Jaspers, Karl  69, 412, 417 Jones, M.  148, 177, 588 Jores, Arthur  132 Jülisch, Beate  301, 453, 497 Jung, C. G.  68, 82, 99, 184, 204, 207, 231, 314, 445 f., 527, 847 Jun, Gerda  256, 459, 464 Junova, Hana  328 f., 551 K Kabanow  464 Kächele, Horst  313, 460, 466, 530, 561, 677, 732, 734, 738, 745, 805 Kant, Imanuel  63, 78, 105 Katsch, Gerhard  28 Katzenstein, Alfred  29, 89, 92, 110, 161, 200, 234, 246, 248, 250–253, 255 f., 276, 329 f., 335, 336 f.f, 428, 430, 461, 475 f., 556, 587, 633, 686 f., 745, 803, 848, 863 Kemper, Werner  28, 30 f., 51, 58, 69 f., 73, 167, 587 f., 847 f.

939 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Namenregister Kerber, Hans  481, 715 Kielhorn, Rita  437, 677, 690, 717 Kielstein, Volker  330, 512, 550 f., 598 Kiesel, Anita später Wilda-Kiesel, Anita  97, 182, 184–190, 208, 325–328, 330, 343, 388, 490, 552 f., 555 Kießling, Ulrich  398 Kinze, Wolfram  24, 523, 526, 528, 782 f., 785, 877 Kirchner, Roger  281, 351, 427 f., 432, 598, 675, 677 f., 681, 698 f., 702, 714 f., 719 f., 727, 733, 738, 741, 761, 763, 771, 850, 877 Kitzbichler, Ulrike  353 Klein, Melanie  47, 126, 227, 599 Kleinpeter, Ursula  251, 256, 464 Kleinsorge, Hellmuth  28 f., 63–66, 75 ff., 89–93, 95, 112, 140, 143, 145 f., 148 f., 153 f., 157, 159, 161, 175 f., 198–201, 332–336, 407, 421, 735 Kleist, Karl  99 Klemm, Hans-Jörg  762 f., 878 Klemm, Otto  51, 528, 765 Klix, Friedhardt  146, 149, 461, 493, 512 Klumbies, Gerhard  28, 31, 63, 66, 73–79, 89–93, 95, 100, 112, 130, 140, 143, 145 f., 148 ff., 153 f. 157–160, 198, 200, 233, 246, 256, 312, 332–337, 422, 556 f., 735, 803, 848, 878 Knappe, Joachim  395 Knappe, Klaus  350, 351 Knauth, Katharina  183, 190 Knebusch, Roland  40, 58 Kneschke, Monika  290, f., 370 f., 374, 494, 598, 638 f., 748 Knobloch, Ferdinand  183, 190, 329 Knopf  47 Knorre, Peter  427 Kohler, Christa  90, 97 f., 113, 146, 149 f., 157, 182–191, 194 f., 210, 229, 231–234, 237, 239, 245 f., 249, 255, 325 ff., 331, 335 f., 346, 376, 388 f., 553, 560, 562, 848 König, Karl  449 König, Werner  144 f., 148 f., 151, 160 f., 164, 174, 178, 180, 244, 248–251, 254, 256 ff., 260, 271 ff. 459 ff., 463 f., 466 f., 469–477, 479 f., 484 f., 557, 597, 616, 620, 674, 677 f., 680, 683, 690–693, 702, 708, 713, 717 f., 727, 732, 878 Köppe, Edelgard  228 Kraepelin, Emil  410 Krause, Rainer  460, 622, 732 Krause, Wolf-Rainer  332, 555 ff., 561, 802, 878 Krehl, Ludoph  77, 421 Kretschmer, Ernst  36, 95, 692 Kriegel, Elfriede  251, 256, 338, 459, 464, 466, 863 Kronfeld, Arthur  36, 43, 704 Krüger, Felix  46, 51, 230, 493 Kruska, Barbara  178, 181, 879

Kruska, Wolfgang  55, 86, 112, 178, 217 f., 225, 273, 281, 370, 494, 747, 829, 879 Kugler, K.  253 Kuhfahl, Elke  705 Kulawik, Helmut  185, 211, 251 f., 268, 277, 464 f.f, 475 ff., 479, 481, 490 f., 599, 745 Kulenkampff, Caspar  409 Kummer, Rose-Marie  126, 221, 574 Kunz, Winfrid  508 Küstner, Roland  206 Kutter, Peter  748 L Lange, Ehrig  135, 543 Langen, Dietrich  153, 190 Langer, Grit  762 Leder, Stefan  148, 184, 288, 459, 493, 590, 858 Leibold, Wilhelm  30 Lenin, Wladimir Iljitsch  77, 849 Leonhard, Karl  90 f., 93 f., 99–107, 112, 147–151, 154 f., 157 f., 160, 166, 180, 255, 376, 590, 848 Leuner, Hanscarl  153, 312–315, 461, 468, 530,–536, 564, 683, 788 ff., 792 Leupold-Löwenthal, Harald  460, 470, 651, 731 f. Leuschner, Gert-Günter  880 Leutz, Grete  473 Lickint, F.  134 Liebner, Karl-Heinz  215, 335, 391, 563, 810 Liefke, Tilo  542 f. Lindt, Renate  208, 211 Linsener, Hanna  174, 225, 279, 441 Linser, Karl  31, 148, 175 f. Linzer, Thomas  348 Löbe  248 Lobeck, Gottfried  133, 216, ff., 628, 682, 685, 705, 819, 880 Lockot, Regine  70 Lommel, F.  75 Lorenz, Konrad  63, 74, 78, 493 Lösch, Peter  471 Luban-Plozza, Boris  594, 600 Ludwig, Arndt  426, 428, 433, 435, 628, 714, 729, 880 Luthe, Wolfgang  336 M Maaz, Hans-Joachim  24, 113 f., 208–212, 277, 327, 338, 348, 357, 464 f., 469 ff., 473, 477, 479 ff., 483 ff., 487, 490 f., 534, 556, f., 565, 568, 635, 638 ff., 644, 648–651, 654 f., 657, 667, 675, 683, 685, 713, 727, 729, 731 ff., 737, 739, 741 f., 745, 760 f., 763–766, 791, 848, 881 Magnussen, Finn  469, 616 f., 619 f. Mahler, Gustav  80 Mährlein, Wolfgang  136 ff.

940 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Namenregister Manigk, Barbara  710 Mann, Frido  413, 419 Mann, Thomas  82 Marchand, Hans  28, 90, 112, 130 f., 143, 145 f., 148 ff., 153 f., 155, 246, 248, 333, 338 f., 848 Marx, Karl  463, 768 Maspfuhl, Bergit  433, 907 Matern, Hermann  236 Matzke  402, 404 Mauss, U.  181 Mayer, Hans  161 May, Ulrike  49 Mecklinger, Ludwig  194, 256, 670 Mederacke, Ingrid  151, 194 f. Mehl, Brigitte  508 f., 515, 881 Mehl, Jürgen  114, 146, 149, 151, 293, 311, 508, 522, 528, 783 Mette, Alexander  27, 29 ff., 50, 53 f., 89, 91–94, 112, 143, 145, 154 f., 157, 161 ff., 173, 253, 255, 335, 730, 848 f. Mielke, Erich  21 Misselwitz, Irene  278, 491, 568, 571, 623, 628, 677, 727, 735, 743, 770, 840, 842, 881 Mitscherlich, Alexander  59, 132, 202 Mjassischtschew  248 Mogstad, Truls-Eirik  617 Möller, Siegfried  30 Morgenstern, Annegret  548, 577 Morich, Armin  315, 534, 739 Müller, Alfred Dedo  443 Müller, Dagobert  147, 194, 236 Müller, Eckehard  206 Müller, Klaus-Peter  279 Müller, Sigrun  401 Müller-Braunschweig, Carl  30 f., 50, 53, 69 f., 475, 747, 848 Müller-Hegemann, Dietfried  27, 29, 76, 89 f., 92–98, 112, 126, 129 f., 139, 143–150, 153–158, 162 ff., 179–182, 191, 200, 232, 235–238, 246 f., 272, 323, 333–336, 410, 587, 686 Munzinger, Hildegard  623–628 Muthesius, Sibylle  462 N Nedelmann, Carl  352, 460, 465, 600, 617 ff., 677, 727 ff., 732, 734, 738, 741 Nestler, Gertrud Else  67 Neumärker, Klaus-Jürgen  93 f., 99, 103, 524, 882 Noack, Margarete, später Meador  463 Nobbe, Hermann  32 O Orthmann, Elfruna  798 f. Ott, Jürgen  113, 144, 150, 173, 203–212, 245 f., 249 f., 253, 256, 274, 277, 279 ff., 284, 286 f., 292, 326 f.,

330, 394, 459, 461–464, 487, 490 f., 542, 557, 591, 599, 616, 637, 639 f., 679, 721 f., 731 f., 766, 882 P Pabst, Georg Wilhelm  255 Palmer, Sabine  575, 577, 730 Peglau, Adreas  632, 648, 650, 653, 882 Peper, Ernst  251, 256, 350 f., 459, 464, 466, 471, 848 Peter, Konrad  508 Petersen, Henriette  882 Petersen, Peter  297, 307, 433, 435 Petzold, Ernst  600, 608 Petzold, Helga  174, 370 f., 374 Pfeiffer, Arwed  92, 419 Pickert, Frieder  715 Pienitz, Marianne  883 Platonow, Konstantin  332 Plöntzke, Erika  181, 442 Plöttner, Günter  388, 560 f., 705, 730, 731, 803, 805, 848, 883 Preyer, William  77, 464 Prill, Hans-Joachim  433 Prosch, Milla von  91 Prüssing, Otto  114 ff. Q Quandt  261, 265, 268 R Radó, Sándor  47, 54 Ranft, Hermann  47 ff., 52 Rank, Ruth  420, 528, 577 f. Rauchfuß, Martina  433, 675 Regel, Hans  116, 363 Reich, Eva  469, 488, 548, 576 f. Reich, Wilhelm  119, 170, 282, 440, 471, 488, 551, 576 f. Reihs, Roland  490, 561 Reinhardt, Axel  316, 320–323, 353, 540, 793, 883 Rennert, Helmut  215, 316, 392 f., 810 Richter-Heinrich, Elisabeth  110, 792, 883 Rieckhoff, Brigitte  327, 549 ff. Riemann, Fritz  50, 54, 730 Ries, Paul  255 Ringhandt, Siegfried  245, 256, 445 Rittmeister, Eva  848 Rittmeister-Hildebrand, Eva  255, 848 Rittmeister, John  57 f., 253 ff., 354, 847 f., 869, 881 Rittmeister, Wolfgang  848 Röder, Knut  471 f., 594, 596, 675, 706, 812, 814 Roellenbleck, Ewald  50, 52 ff. Rogers, Carl  19, 38, 221, 245, 259, 293, 309, 342 f., 348, 365, 400, 410 ff., 418, 420, 443, 445, 465, 527, 560, 587, 590, 659, 660 f., 701, 723, 774, 834

941 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Namenregister Roggenbau, Heinrich Christel  31 Rohland, Lothar  431, 464, 617, 668 Röhrborn, Helmut  137, 537, 539 f., 542 f., 593–596, 608, 610, 705 f., 801, 812, 815–818, 884 Roloff, Dorothea  349, 350, 353, 405, 884 Rosendahl, Wolfram  315, 534, 536, 683, 714, 739, 742, 788 Rosenthal, Tanja  46 Roshnow, M. A.  184, 494 f., 618 f. Rösler, Hans-Dieter  246, 251 f., 256, 296, 354, 363 f., 462, 524, 579, 584, 810 f., 885, 912 Roth, Johannes  508 f., 511 Rubes, J.  148 Rudloff, Helmuth  793, 796 S Sachs, Hans  255 Sander, Friedrich  418, 465 Schacht, Lore  726 Schade, Jochen  627 f., 705, 730, 832, 885 Schade, Maria  885 Schaeffer, Gerhard  200 ff., 246, 248 f., 254, 336 f., 345, 347, 371, 556, 594 f. 848, 878 Scheer, Jörn  368 Scheerer, Sigmar  250, 345, 357, 358, 436 f., 597 f., 608, 697, 718, 721, 732, 885 Scheler, Max  82 f. Schepank, Heinz  45, 616, 623 Scheunert, Gerhard  28 ff., 50, 52 ff., 85, 91, 730 Schiefer, Frank-Frieder  714, 886 Schildt, Holger  617, 619 Schilling, Renate  397 Schindler, Raoul  145, 148, 153, 174, 177 f., 184, 206, 288 Schindler, Walter  145 Schirbock, Horst  140, 815 Schmidt, Bettina  561, 591, 705, 805, 886 Schmidt, Hans-Dieter  52, 253, 493, 596, 613, 730 Schmidt, Peter  747 Schmidt, Raimund  47 Schmidt-Kolmer, Eva  59 Schmieschek, Hansgeorg  103 f., 106, 114, 311, 518 Schmitt, Bernhard  534 Schnabl, Siegfried  136, 215, 522, 815, 886 Schneemann, Karin  206 ff., 394 Scholz, Michael  471, 473, 573 f., 577 f., 705 f., 887 Schröder, Christina  27, 32, 35, 39, 94, 469, 471 f., 562, 632, 887 Schröder, Harry  471, 592 Schröder, Paul  126 Schubert, Helga  225, 304 Schubring, M.  522 Schultz, Gerhard  249, 254, 345

Schultz, Johannes Heinrich  34, 36, 41, 43, 51, 58, 68, 77, 92, 112, 130, 153, 180, 245, 333 f., 336, 557, 802 Schultze, Martha  91 Schultz-Hencke, Harald  28 f., 31 f., 44, 54, 62, 68–71, 73, 91, 96, 112, 165–168, 174, 179 f., 204, 207, 225, 272 f., 369, 475 f., 479, 731, 743, 830, 848 Schulz, Gerlinde  628 Schulz, Helga  327, 549, 551 Schulz, Wilfried  251, 254, 444 Schulze, H. A. F.  268, 461 Schulze-Boysen, Harro  847 f. Schulz-Wulf, Gertrud  195 Schwabe, Christoph  96, 113, 144 f., 149, 150 f., 182, 184 f., 186, 190 f., 193, 195, 208 f., 211, 229, 231, 234, 237, 247, 251, 253 ff., 279, 316, 321, 326 f., 339, 388, 403, 453, 455, 537, 538, 540 f., 543 ff., 560, 610, 666, 731, 793 f., 796 f., 816, 887 Schwarz, Erika  221 ff., 225, 227 f., 291, 379 Schwarz, Hans  30, 224, 669 Schwarz, Wolfgang  508 Schwidder, Werner  386, 731 Seefeldt, Dieter  249, 254, 256, 347, 600–607, 684, 714, 720, 721, 821 f., 825, 827, 848, 887 Sefrin, Max  236 Seghers, Anna  27 Seidel, Karl  98, 157, 200, 246, 248, 251, 475 f., 531, 589 Seidler, Christoph  57, 86, 91, 112 f., 165, 225 f., 273, 277, 279, 286, 370 f., 378, 470 f., 477, 479, 483 ff., 491, 494 f., 636, 638, 655, 677, 679 f., 690, 698 f., 727, 732, 741, 743, 745 ff., 763, 765, 831, 888 Senf, Wolfgang  24, 460, 465, 561, 617, 717 f., 732 Siebeck, Richard  89, 128, 131 Simmel, Ernst  704 Simmich, Karin  217 Simon, Dietrich  464 Simon, Hermann  230 Sitte, Ellen  93 f., 105 ff., 338, 888 Skala, J.  148 Slater, Philip  765 f. Sothmann, Karl  91 Späte, Helmut  563 Speer, Ernst  28, 30, 36, 65, 77, 90, 130, 153, 332 ff. Sprenger, Bernd  819 Staabs, Gerhild von  126, 196, 223, 227 Stachura, Gerwin  181 Stalin, Josef  21, 89, 91 Starke, Helmut  185, 389 f., 476, 560 f., 705, 730 Stefanides, Bernd  508 Steinacker, Günther  444 Stekel, Wilhelm  54 Stelzer, Werner  705 Stephan, Annelies  172, 225 Stern, Gisela  81, 113

942 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Namenregister Stoiber, Ilona  24, 310, 456, 507 ff., 522, 783, 786, 842, 888 Stokvis, Berthold  130 Stoltenhoff, Heinrich  28, 54 f., 91, 333 Stolze, Helmut  129 f., 152, 183 f., 190, 801 Stopat, Wilfried  559, 812, 814 Stoph, Willi  245, 620 Straub, Werner  146 Strauß, Bernhard  73, 809, 888 Strauß, Heinz-Ewald  293, 296 Strauß, Ivo  311 Stubbe, Margarete  600, 697 Stucke, Werner  472, 600, 616, 677, 683, 690–695, 698 Studt, Hans-H.  174, 677, 690, 703 Suske, Rainer  436, 714, 720, 889 Szewczyk, Hans  105 f., 143, 145 f., 148 ff., 154 f., 157 f., 161, 186, 248, 251, 256, 296, 363 f., 368, 464, 466, 579, 811, 848, 912 Szmula, Leonore  91 T Tausch, Anne-Marie  19, 146, 245, 259, 293, 307, 503, 560, 660, 723 Tausch, Reinhard  19, 38, 146, 245, 259, 293, 307, 309 f., 503, 560, 660, 723, 776 Teirich, H.  97, 145, 153, 342, 538 Tembrock, Günther  493 Theilemann, Steffen  28, 54, 508, 889 Thiele, Rudolf  99, 341 Thom, Achim  251 f., 254, 256, 277, 294, 409, 462, 471, 476, 557, 587, 589, 610, 651, 686, 746 Thomä, Helmut  313, 466, 530, 561, 651, 677, 683, 732, 738 Thomas, Bernd  502, 685 Tiling, Erich  30, 91 Tögel, Christfried  161 Tögel, Infrid  73, 95, 116, 126, 143, 182, 196, 235, 251, 254, 276, 279, 348, 361, 406, 408, 443, 464, 470, 477, 479, 481, 483, 490, 574, 614, 727, 731, 745, 798 f., 889 Trenckle, Bernhard  557 Tringer, Katja  551, 590 Trostorff, Sieglinde von  103, 106 Tscharntke, Gudrun  225, 464, 481 Tschersich, Hartmut  739, 761 Tscheulin, Dieter  452 f. Tschuschke, Volker  165, 288, 496 Tuchscheerer, Gertraude  221, 224, 574, 889 U Uexküll, Thure von  128, 131, 720, 828 Uhle, Ute  561, 618, 730 Ulbricht, Walter  21, 243 Urban, Peter  249, 281, 284 f. Usnadse, Dimitri  148, 162, 184, 493

V Vater, Dieter  148, 180 Vauck, Otto  47 f., 52 f. Venner, Margit  75, 95, 201, 281, 421, 472, 491, 556, 569, 599, 623, 626, 628, 677, 679, 683, 685, 717, 727, 735, 842, 889 Vogler, Dieter  398 Vogt, Oskar  31, 76 f., 335, 849 Voitel, Karl H.  47 ff., 52 Völgyesi, Franz  334 Vorwerg, Manfred  146, 173, 184, 256, 288, 462, 493, 638 W Wachter, Ernst  286 f., 496, 677, 712, ff., 739 Wahlstab, Astrid  471, 491, 591, 720 Walter, Hildegard  91 Wartegg, Ehrig  29 f., 50, 53, 60, 79 ff., 84 ff., 89 f., 95 f., 112, 157, 163, 174, 225, 370, 465, 476, 730 Watson, John B.  37, 523, 526 Weber, Dr. [ZK]  260, 263 f., 266 Weigeldt, Ina  617 Weigel, Herbert  28, 30 f., 47 ff., 52 ff., 66, 91, 155, 730 Weigelt, Horst  79 Weigelt, Ingeburg  79 Weise, Gerlinde  402, 890 Weise, Klaus  250, 268, 341, 343, 389, 409, 464, 502, 560, 610, 701, 705, 890 Weizsäcker, Viktor von  89, 120, 131, 421, 586 Wendt, Harro  90, 92, 95–98, 105, 112 f., 116, 143, 145–150, 153 ff., 158, 163, 182, 186, 191, 196 ff., 210 f., 221, 232 f., 235 f., 246, 248, 251 f., 254 ff., 268, 276 f., 279, 333, 335, 337, 348, 361 f., 402, 406, 408, 464, 466, 477, 479, 481, 483, 490, 543, 562, 611, 668, 686, 697, 715, 745, 848 Wendt, Lothar  63 Wendt, Margit  90, 95, 97 Wenke, Wolfgang  350 f. Wernicke, Carl  99 Werthmann, Hans-Volker  617, 619 Wessel, Gerhard  395 Wieck, Christian  126, 157, 574 Wild, H. J.  389, 588, 705 Wilda-Kiesel, Anita  97, 113, 144, 181–184, 186 ff., 208 f., 211 f., 255, 279, 327, 329, 331, 402, 491, 542, 549, 551 ff., 560, 685, 731, 797–801, 890 Wilhelm, Richard  82 Willi, Jürg  358, 590 Windorpski, Liselotte  61 Winter, Kurt  93, 163, 261 Wittich, G.  148, 190 Witzenhausen, Günther  206, 208 Wolf, Christa  430 ff., 466 Wruck, Peter  250, 557, 677, 727, 751, 891

943 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Namenregister Wundt, Wilhelm  33, 46, 110, 115, 503 Z Zeigarnik, Bluma  661 Zeller, Gerdi  172, 370 f., 494 Zeuke, Wilfried  206, 208

Ziller, P.  181 Zimmermann, Wolfram  471, 473, 600, 611, 613, 715, 891 Zschornack  350 f. Zutt, Jürg  204, 409 Zweig, Arnold  27, 94 f., 147, 469

944 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Sachwortregister

Sachwortregister A

AÄGP  131, 152, 155, 472, 622, 677, 680, 684, 689–696, 703 Ablationshypnose  64, 77, 332 f., 337, 407 Abteilung Gesundheitspolitik  98, 243, 245, 461, 589 Adoleszentengruppen  380–383 AG Psychodrama  681, 685 Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin  743 Ärztliches Basisverhalten  348, 597 f., 611 B Balint-Arbeit  349, 436, 484, 486 Balint-Gruppen  165, 211, 244, 252, 346, 349, 361, 366, 467, 480, 482, 491, 577, 597, 604, 606, 702, 718, 720 Balint-Seminar  484 BATAP  360, 891 Behandelnde Psychologen  42 Berufsverband der Psychotherapeuten  698, 746, 831 Beschäftigungstherapie  140, 183, 196, 229, 231–234, 339, 340 f., 344, 541 f., 546, 816 BfA  821, 823–826, 828 Biblio- und Gestaltungstherapie  255 Binswanger’sche Tradition  28 Brandenburg  245, 281, 445, 463, 509, 542, 555, 588, 648, 67 f., 681, 699, 702 ff., 714 ff., 720 f., 724 ff., 738 f., 784 f., 787, 821, 877 Brandenburger Thesen  230, 589 Bücherverbrennung  50 C Charité  32, 56, 60, 72, 90 f., 94, 98 ff., 105, 143, 151, 154, 167, 204, 296, 334, 360, 366, 376, 433, 473, 477, 481, 524, 556, 636, 675, 725, 767, 821 CSSR  64, 148, 150, 248, 251, 328, 453, 467, 533, 535, 537, 642, 747, 855, 858 f., 863 D DAGG  144, 148, 178, 278, 685, 689, 721, 764, 946 Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost  681, 685, 795, 977 Deutsche Seelenheilkunde  44, 51 Deutschen Balint-Gesellschaft  698 Deutscher Arbeitskreis für Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie  681, 738 Deutsches Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, DIPFP  40, 42, 58, 67 DGAPT  489, 699, 703, 729, 733, 738 f., 741 f., 748, 760–765, 790, 809 DGH  802 DGMP  368, 811

DGMT  795 DGPT  58, 91, 211, 460, 465, 479, 616 f., 619, 647, 668, 675, 685, 689, 693, 703, 726–729, 732 ff., 736, 738, 741 ff., 747, 749, 750, 761, 831 dialektischer Materialismus  61 DMVO  794 ff. DPG  29–32, 46, 48 f., 51 ff., 66 f., 69 f., 84, 91, 168, 204, 478, 668, 730 f. 748 f., 830 DPV  29, 53, 91, 168, 479, 625, 668, 726, 730, 734 f., 738, 740, 747 ff., 762, 807, 833 Dynamische Einzelpsychotherapie  255, 463 ff., 471, 479, 481 f., 684, 737 f. dynamisch-interaktionelle Einzeltherapie  244, 480 E Einzelvertrag  100, 199 Erb- und Rassenlehre  41 Erfurter Psychotherapiewoche  719 Erfurter Selbsterfahrungsgruppe  203 f., 208, 214, 245 f., 394 f., 477, 641, 731 F Facharzt für Psychotherapeutische Medizin  683, 704, 715 Familientherapie  224, 254, 393, 450, 578, 582, 718 Fercher Modell  483, 486, 600 Freudomarxisten  161 G Gesprächspsychotherapie  293 f., 297, 500, 503, 659, 773, 912 Gestaltungstherapie  96, 144 f., 183, 190, 229, 234, 255, 280, 322, 324, 339–344, 352, 373, 395, 397, 400, 541 ff., 545–548, 560, 566, 582, 808, 814, 853 Glasnost  459, 466, 648 GMP  368, 681, 689, 811 GwG  304, 307, 504, 679, 701, 773 ff., 778, 906 Gynäkologie  151, 211, 243, 249, 256, 345, 364, 366, 426–430, 433 ff., 465 f., 468, 685, 689, 696, 702, 723, 724 f., 850 H Hypnotismus  32 I IDG  278, 387, 766, 770 IFP  247, 460, 465, 469, 472, 616, 620 f., 732 IfPN  60, 168, 292, 369 f., 376, 492, 496, 744 f., 770 IGKB  315, 535, 675, 790, 792 Individualtherapie der Neurosen  90, 93 f., 99, 101, 103, 106 f., 139, 147, 180

945 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Sachwortregister Innere Medizin  56, 65, 73, 75, 133, 151, 200, 217, 243, 249, 345, 350, 395, 398 f., 421, 468, 592–596, 703 f., 714, 723, 814, 821, 830, 850 ff., 854, 870, 884 Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse Mecklenburg-Vorpommern (IPPMV)  751 Institut für Verhaltenstherapie Brandenburg e.V.  681 Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie  148 f., 206, 276, 278, 330, 490, 539, 626, 685, 689, 743, 766, 814, 816, 933 IPA  459, 460, 470, 731, 735, 747 J Jahreskongress der GÄP  144, 146, 148 ff., 246, 248, 251, 255, 345, 463, 470, 558, 687 John-Rittmeister-Medaille  683 Jugendradio DT 64  649, 656 Jugoslawien  148, 183, 248, 467 f., 747, 769, 855 Jungianer  41 f., 82 Junior-Balint-Gruppen  599 K Kalypnon  96, 235 f. KB  312–316, 394, 529–536, 555, 689, 787–790, 914 KBV  675 f., 678, 680, 699–702, 715, 733, 736, 739, 741, 746, 749, 761 f., 777, 782–785 KGB  61, 285 Kinderpsychotherapie  117, 126, 150, 160, 218, 225, 227, 256, 296, 437, 571, 681 Kommunikative Bewegungstherapie  97, 180, 184, 189, 255, 279, 325–331, 343, 353, 403, 406, 423, 542, 549–552, 560, 681, 684 f., 771, 797–800 Kommunikative Psychotherapie  150, 182, 184, 189, 193, 326, 335, 388, 562, 924 Konferenz der Fortbilder  348, 597 f. Konzentrative Entspannung  217, 255, 325 f., 332, 404, 549, 551–554, 557, 678, 681, 685, 723, 797, 800 f. kortiko-viszerale Pathologie  91 Kunsttherapeutin  545, 549 L Landesbettenplan  813 Lehranalytiker-Konferenzen  729, 734 Leipziger Arbeitsgemeinschaft der DPG  46, 49, 51 f., 54, 66 f., 730 Leopoldina  313, 316, 393, 459, 849 Lindauer Psychotherapiewochen  28, 30, 77, 90, 215, 332, 680, 717 Logotherapie  184, 557 ff., 685, 978 M Mecklenburg-Vorpommern  27, 677, 738, 751 Medizinische Akademie Erfurt  93, 149, 204, 208, 210, 248, 326, 334, 394 f., 398, 560 MGKB  685, 738, 764, 787–792

MIP  496, 713, 737, 739–743, 791 f., 809 Montecatini-Kongress  716, 720 Morita-Therapie  103 N NSDAP  29 f., 51 f., 67 f., 77, 84 f. O OGPGG  435, 696 Oskar-Vogt-Preis  848 Ost-West-Kommission  729 P Pädiatrie  243, 249, 345, 364, 366, 465, 468 paritätische Kommission  729, 734 Pawlowismus  28, 53, 89 f., 143, 163, 190, 237, 562 Perestroika  459, 466, 469, 648 Placebo  96, 127, 236 Polen  64, 74, 100, 148, 183, 185, 192, 200, 248, 251, 277, 286 f., 388, 453, 459, 461, 467, 617, 636, 667, 731, 747, 855 f., 858 f., 863 Potsdamer Empfehlungen  464 PPP-Ausschuss  703 f. Prager Frühling  150 Professionalisierung  39 f., 584 Psychodiagnostisches Zentrum  463 psychodynamisch  90, 131, 162, 275, 312, 314, 399, 401, 465, 476, 525, 530, 533, 542, 560, 565 f., 586, 591, 743 f., 760, 788, 792, 805, 811 f., 814 Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe  426 f., 433 f., 696 Psychotherapeuten der sozialistischen Länder  247 f., 860 Psychotherapeutengesetz  498, 679, 683, 688, 695, 711, 734, 736, 742, 780, 791 psychotherapeutische Grundbetreuung  477 Psychotherapie-Richtlinien  408, 476, 699–702, 712, 717, 737, 742, 776, 782 Psychotherapie und Grenzgebiete  173, 462, 492, 645, 901, 905, 918 f., 942 Psychotherapie und Psychosomatik  27 f., 46, 74, 140, 152, 346, 402, 488 f., 560, 565, 569, 667, 685, 703, 717, 737 f., 791, 801, 803, 806, 808, 810, 815, 820 R Reflexographische Zeichenprobe  96 Regionalgesellschaften  31, 144, 244, 252 ff., 257, 259, 345, 347, 352 f., 359, 367, 429, 436, 461, 463, 472, 553, 597 f., 600, 674, 677, 680, 701, 714, 721, 813, 859 Regulative Musiktherapie  253, 319, 323, 327, 343, 403, 406, 537 f., 540, 610, 944 Rehabilitation  53, 109, 151, 186, 194 f., 234, 243, 300, 336, 367, 414, 419, 514, 516, 554, 564, 581, 588,

946 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Sachwortregister 610, 637, 703, 785, 793, 809, 812, 814, 817 f., 824, 831, 854, 856, 864 ff., 906, 945 Reinhardsbrunn  65, 198, 200, 249, 530, 533, 675, 790 Rodewischer Thesen  179, 230, 232 f., 406, 588, 864 S Sachsen  27 f., 46, 66, 72 f., 116, 287, 353, 400, 444, 451, 549, 578 f., 674, 677, 685, 706, 709 f., 712, 714, 729, 737 ff., 742, 787, 790 ff., 801 f., 807, 812 f., 815 Sachsen-Anhalt  27, 400, 712, 714, 737 f. Sächsischer Weiterbildungskreis  705 Sceno-Test  126 f., 196, 223, 227 Schlaftherapie  28, 65, 90–93, 96, 98, 110, 129, 137 f., 144 f., 163, 182, 186, 191, 205, 235, 238, 272, 323, 562, 587, 814, 894 Schulenstreit  35, 41 Seelsorge  32, 443–447, 615 Selbsthilfe  139, 206, 271, 415, 418, 420, 558, 568, 655 Setting  178, 254, 274, 284, 308, 348, 359, 379, 383, 387, 476, 478, 491, 566, 625, 740, 742, 744, 751, 836, 837 Sexualität  52, 376, 450, 514, 516 f., 522, 651, 669 SMAD  27, 29 ff. sokratischer Dialog  34 Sowjetische Besatzungszone  128, 586 Sowjetisierung  28, 91, 205 Sowjetunion  29, 60, 93, 137, 150, 161 f., 248, 251, 338, 459, 467, 474, 498, 578, 586, 618, 648, 659, 747, 849, 860, 979 SPP  711, 729 f., 733 f. Stasi  21 f., 76, 175, 210, 214, 378, 398, 431 f., 453 f., 460, 466, 471, 562, 567, 618, 622, 674, 722, 767, 771, 777, 800, 803, 835 stationär-ambulantes Fließsystem  62 Studentenberatung  245, 582 Suizidalität  853

SWK  705–708, 710 f., 802 T Telefon des Vertrauens  401, 404, 615 Telefonseelsorge  614 ff. Thüringen  27 f., 30 f., 79, 149, 281, 397, 483, 530, 625, 677, 738, 790, 796 Thüringer Weiterbildungskreis  736 Tillmann, Hermann  32, 59 U Ungarn  48, 93, 148, 183, 200, 248, 251, 277, 281, 286 f., 329, 388, 453, 459, 465, 467, 533, 535 f., 564, 617, 636, 651, 660, 731, 790, 855, 858 f., 863, 869 Universität Jena  28 f., 31, 99, 140, 146, 153, 175, 293, 332, 335, 404, 421, 599, 679, 685 Universität Leipzig  30 f., 46 f., 51, 67 f., 70 f., 73, 95, 98, 110, 115, 126, 139, 145 f., 181, 183, 185 f., 190, 233, 235, 237 f., 250, 252, 293, 299, 330, 332, 388, 398, 416, 419 ff., 454, 461, 466, 471, 476, 502, 526, 528, 578, 591 f., 595, 599, 610, 612 f., 662, 678, 682, 684, 686, 705, 711, 730, 732, 799, 803 Universitätsnervenklinik Halle  214 f., 391 f., 468, 563 V Verband für Integrative Verhaltenstherapie e.V.  685 Verhaltenstherapie  297, 299, 307, 774 VIVT  525, 784 f., 786 W Wachpsychotherapie  34, 41 Wartegg-Zeichentest  95, 224 Weimarer Psychotherapiewoche  682 ff., 717, 719 Wismut  136, 140, 463, 498, 539, 555, 595 f., 608–611, 812, 815, 817

947 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Abkürzungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis Hinweis: Es sind nur Abkürzungen aufgenommen, die nicht (überall) sofort im Text erklärt werden. AÄGP ÄAPO ABK AfP AG AGKB AGM ÄK AKB AOK APB AT BATAP BIPP CIT DAGG DBG DFG DGAPT DGfP DGH DGMP DGMT DGPM DGPT DGS DGVT DKPM DMVO DPG DPV EKFuL

Allgemeine Ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie e. V. Ärztliche Approbations- und Prüfungsordnung Ausbildungskurs Akademie für Psychotherapie Erfurt Arbeitsgemeinschaft Arbeitsgemeinschaft Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie e. V. Arbeitsgemeinschaftsmitglieder Ärztekammer Akademie für Kommunikative Bewegungstherapie e. V. Allgemeine Ortskrankenkasse Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V. Berlin Autogenes Training nach J. H. Schultz Brandenburgische Akademie für Tiefenpsychologie und analytische Psychotherapie e. V. Berliner Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse Choriner Institut für Tiefenpsychologie und psychosoziale Prävention Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik e. V. Deutsche Balint-Gesellschaft e. V. Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie e. V. Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie e. V. Deutsche Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie e. V. Deutsche Gesellschaft für Medizinische Psychologie e. V. Deutsche Gesellschaft für Musiktherapie e. V. Deutsche Geselleschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e. V. Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie e. V. Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie e. V. Deutsches Kollegium für Psychosomatische Medizin e. V. Deutsche Musiktherapeutische Vereinigung Ost e. V. Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft e. V. Deutsche Psychoanalytische Vereinigung e. V. Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung

949 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Abkürzungsverzeichnis

EKT EPF ESB EZI FDGB FDJ »Firma« GÄP GKGB GLE-Ost GMP GPPMP GSE GST GT GwG HdG HUB IDG IFP IfPN IGKB IM IM/HW IPA IPT IPTR IPV ITPT KB KBT KBV KGB KIP KoE KomBth KPdSU KSZE

Elektrokrampftherapie Europäische Psychoanalytische Föderation Ehe-, Sexual- und Familienberatungstelle Evangelisches Zentralinstitut für Familien- und Lebensberatung Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (Einheitsgewerkschaft der DDR) Freie Deutsche Jugend (Jugendverband der DDR) in der DDR umgangssprachlich für Staatssicherheitsdienst Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR (ab 1989 GPPMP) Gesellschaft für Katathymes Bilderleben und imaginative Verfahren in der Psychotherapie e. V. Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse (Ost) e. V. Gesellschaft für Medizinische Psychologie e. V. Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Medizinische Psychologie e. V. (bis 1989 GÄP) Gruppenselbsterfahrung Gesellschaft für Sport und Technik (Vormilitärische Organisation der DDR) Gesprächspsychotherapie Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e. V. Haus der Gesundheit (Ost-)Berlin Humboldt-Universität zu Berlin Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie International Federation of Psychotherapy Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung des Hauses der Gesundheit Ostberlin Internationale Gesellschaft für Kathatymes Bilderleben Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit Innere Mission/Hilfswerk (später Diakonisches Werk) International Psychoanalytic Association Institut für Psychologische Therapie e. V. Leipzig Institut für Psychotherapie und Tiefenpsychologie Rostock Internationale Psychoanalytische Vereinigung Institut für Tiefenpsychologie und psychoanalytische Therapie Mecklenburg-Vorpommern e. V. Katathymes Bildereleben Kommunikative Bewegungstherapie Kassenärztliche Bundesvereinigung Sowjetischer Geheimdienst Katathym-Imaginative Psychotherapie Konzentrative Entspannung Kommunikative Bewegungstherapie Kommunistische Partei der Sowjetunion Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa

950 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

Abkürzungsverzeichnis

KT

Kurzform für die Psychotherapeutische Uni-Klinik Leipzig: Karl-Tauchnitz-Straße 25 KV Kassenärztliche Vereinigung LPG Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft MEG Milton-Erickson-Gesellschaft MGKB Mitteldeutsche Gesellschaft für Katathymes Bilderleben e. V. MGzSLG Medizinische Gesellschaft der DDR zum Studium der Lebensbedingungen und der Gesundheit MIP Mitteldeutschen Institut für Psychoanalyse e. V. in Halle/Saale MMPI Minnesota Multiphasic Personality Inventory (seit den 1960er Jahren weltweit am häufigsten verwendeter Persönlichkeitstest) MP Medizinische Psychologie MPI Maudsley Personality Inventory (Persönlichkeitsskala) von Hans-Jürgen Eysenck OGPGG Ostdeutsche Gesellschaft für Psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe e. V. PDZ Psychodiagnostisches Zentrum PFS Problemfallseminar PPP-Ausschuss Ausschuss für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik der Bundes­ärztekammer RG Regionalgesellschaft SBZ Sowjetische Besatzungszone SDAG Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (DDR-Staatspartei) SEG Selbsterfahrungsgruppe SPP Sächsisches Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie e. V. Leipzig ST Sexualtherapie Stasi Ministerium für Staatssicherheit der DDR SU Sowjetunion SWK Sächsischer Weiterbildungskreis für Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin e. V. TP Tiefenpsychologie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie VAB Versicherungsanstalt Berlin VAKJP Vereinigung analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten e. V. VEB Volkseigener Betrieb VIVT Verband für integrative Verhaltenstherapie VT Verhaltenstherapie ZFK Zentrale Fachkommission für Psychotherapie bei der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR ZK Zentralkomitee der SED

951 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525401774 — ISBN E-Book: 9783647401775

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