Psychosomatik: Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936) 9783484971448, 9783484151208

Using exemplary historical scenarios, the present cultural history traces the transdisciplinary development of a psychos

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Psychosomatik: Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936)
 9783484971448, 9783484151208

Table of contents :
Frontmatter
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Der ganze Mensch
II. Zeitkrankheiten
III. Psychogenese der Krankheit und psychische Kurmethoden
IV. Psychiker versus Somatiker
V. Biographische Erkenntnis. Der Fall Nietzsche
Nachwort: Vom Wissen der Literatur
Backmatter

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HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MLLER

BAND 120

MARION SCHMAUS

Psychosomatik Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778–1936)

n MAX NIEMEYER VERLAG T1BINGEN 2009

Gedruckt mit Unterst5tzung des Fçrderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

Fr Greta

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet 5ber http://www.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-484-15120-8

ISSN 0440-7164

A Max Niemeyer Verlag, T5bingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gesch5tzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulIssig und strafbar. Das gilt insbesondere f5r VervielfIltigungen, 1bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestIndigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

I.

Der ganze Mensch. Herders ›Plastik‹ und Hallers Reizlehre . . . . . 27

II.

Zeitkrankheiten. Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ . .

II.1. II.2. II.3.

Schwindel und leibseelische Grenzzustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Religiöse Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Theatromania . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

III.

Psychogenese der Krankheit und psychische Kurmethoden. Theatralische und prosaische Heilverfahren in der Goethezeit . . . 73

III.1. III.2.

Goethes Singspiel ›Lila‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reils ›Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Bildungsroman als therapeutisches Genre . . . . . . . . . . . . . . . 1. Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

III.3.

45

73 101 107 113 121 137 148

IV.

Psychiker versus Somatiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

IV.1. IV.2.

›Psychisch-somatisch‹ oder ›somatisch-psychisch‹? . . . . . . . . . . . . . Der Fall Woyzeck. Eine psychosomatische Debatte in der Forensik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Clarus-Gutachten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Marcs Gegengutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Heinroths Widerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Büchners ›Woyzeck‹ zwischen Naturwissenschaft, Recht und Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Medizin, Wissenschaft und Moral. Die Kritik von Urteilsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV.3.

169 189 195 203 207

V

215 219

1.1 Die Genese von Berufsrollen, Wissenschaftsformen und Versuchsanordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zur naturwissenschaftlichen Methode Büchners. . . . . . . . . . . 1.3 Literarische Vorläufer von Barbier und Doktor . . . . . . . . . . . 1.4 Die Genese von Krankheitsbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Büchners realistische Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

222 246 256 262 295

V.

Biographische Erkenntnis. Der Fall Nietzsche. . . . . . . . . . . . . . . . 309

V.1.

Nietzsche: Eine Philosophie auf ›Personal-Acten‹ beruhend . . . . . 1. Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der ganze Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Leben und Erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Existentielle Hermeneutik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehende Psychologie: Dilthey, Jaspers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dilthey – Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Psychologie als Erfahrungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die psychophysische Lebenseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Poetik als Erfahrungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Reflexbogen und hermeneutischer Zirkel . . . . . . . . . . . . . . . 6. Jaspers’ ›Nietzsche‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Psychoanalyse: Andreas-Salomé, Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Andreas-Salomés ›Nietzsche in seinen Werken‹ . . . . . . . . . . . 2. Freud – Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Psychoanalyse und Psychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Psychoanalyse und Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Psychoanalytische Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V.2.

V.3.

310 311 313 320 322 333 333 348 357 388 395 401 407 407 414 439 475 506

Nachwort: Vom Wissen der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

VI

Einleitung

Die Psychosomatik oder die psychosomatische Medizin beginnt sich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA als medizinische Fachdisziplin zu etablieren: »as an organized field of scientific inquiry and a movement aimed at propagating a holistic approach to medical practice.«1 Der Begriff ›Psychosomatic Diseases‹ erhält ab 1957 einen eigenständigen Eintrag im ›Index Medicus‹.2 Die Begrifflichkeit ›psychisch-somatisch‹ (Heinroth) oder ›somatisch-psychisch‹ (Nasse) ist allerdings sehr viel älter. Sie entwickelt sich in der Debatte zwischen Psychikern und Somatikern in der frühen deutschen Psychiatrie der 20/30er Jahre des 19. Jahrhunderts, in der über den Vorrang der Seele oder des Körpers in einer ganzheitlichen Behandlungspraxis gestritten wird (Kap. IV.1). Im ausgehenden 18. Jahrhundert verändern sich die Bedingungen für das Nachdenken über die leibseelische Einheit Mensch nachhaltig. Die jahrtausendealte humoralpathologische Ausrichtung der Medizin wandelt sich durch die neuen erfahrungswissenschaftlich hervorgebrachten Erkenntnisse der Nervenphysiologie. Mit Johann Christian Reil kann von der Entdeckung des ›Nerven-Menschen‹ gesprochen werden. Die Nerven erscheinen nun als Mittler zwischen Leib und Seele. Seele und Seelenorgan, das Gehirn, rücken in diesem Zuge in die Position einer Schaltzentrale dieses komplexen, systemisch arbeitenden Gefüges auf. Heilverfahren, die sich direkt an die Seele wenden, gewinnen an Bedeutung. Im Hinblick auf die psychosomatische Fragestellung kann Reils Konzeption ›psychischer Kurmethoden‹ als zentrale therapeutische Neuerung des ausgehenden 18. Jahrhunderts festgehalten werden, seine ›Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen‹ (1803) skizzieren ein diesbezügliches Forschungsprogramm (Kap. III.2). Wie der Titel ›Rhapsodieen‹ indiziert, besinnt sich Reil auch auf alte Formen psychischer Heil-Kunst im Wortsinn, die nun erfahrungswissenschaftlich systematisiert werden sollen. Dementsprechend spielen Sprach-, Musik- und Theatertherapie in seinem Text eine wichtige Rolle. In dieser Formierungsphase des psychosomatischen Diskurses – verstanden als interdisziplinäre Auseinandersetzung um den ganzen

1 2

Z. J. Lipowski, What Does the Word ›Psychosomatic‹ Really Mean? S. 156. Vgl. Current List of Medical Literature 31 (1957), N. 1–4, S. II. In den vorherigen Jahrgängen ab 1951 war der Eintrag ›Psychosomatic Diseases‹ nur als Verweis auf ›Disease, physical-mental relationships‹ vorhanden. ›Psychosomatic Medicine‹ wird erst 1960 in den ›Cumulated Index Medicus‹ aufgenommen.

1

Menschen im Zeitalter der Erfahrungswissenschaften – wird die Verbindung von Kunst und Medizin sowohl innermedizinisch wie auch zwischen den Fakultäten diskutiert.3 Konzepte theatralisch-prosaischer Kuren in der Goethezeit werden uns im folgenden ausführlich beschäftigen (Kap. III). Hinter der Psychosomatik als moderner medizinischer Fachdisziplin scheint so ihre Vorgeschichte durch. Es zeichnen sich jedoch auch Konturen eines Gesprächszusammenhanges ab, der wohl weder einzeldisziplinär noch je zu beenden sein wird: Der ganze Mensch ist empirisch nicht vollständig erfaßbar, er bleibt eine Utopie.4 Definitionen Mit den bislang genannten Aspekten, ganzheitliches Menschenbild und Psychotherapie, sind wichtige Bestandteile des Verständnisses von Psychosomatik benannt. Sie tauchen in allen Begriffsbestimmungen der medizinhistorisch relevanten Beiträge zum Thema auf.5 Schule gemacht hat die Unterscheidung 3

4

5

Urban Wiesing wendet sich der Medizin in der deutschen Romantik unter dem Vorzeichen ›Kunst oder Wissenschaft?‹ zu, wobei mit Kunst die »Fähigkeit der alten therapeutischen Vorgehensweise am Krankenbett« angesprochen ist, »die Hippokratisch-Aristotelisch-Galenische Tradition«, während mit Wissenschaft ein »neues, aufstrebendes Weltbild mit geändertem Anspruch und Selbstverständnis […] der Neuzeit« apostrophiert wird, S. 285. Ästhetische Kriterien, etwa über den Genie-Begriff, spielen hier nur am Rande eine Rolle, vgl. S. 18f., 270. In der vorliegenden, sich auf die ästhetischen Verfahrensweisen konzentrierenden Studie schwingen diese Oppositionen: alt versus neu und Praxis versus Theorie, auch mit, insbesondere in Goethes Verständnis von (Heil-)Kunst in den ›Wanderjahren‹ (Kap. III.3.4) und in der Debatte zwischen den Psychikern und Somatikern (Kap. IV.1). Auf die seit der Aufklärung erkenntnis- und wissenschaftskritische Dimension der Rede vom ganzen Menschen hat D. Rössler aufmerksam gemacht: »Die Formel ist zunächst Postulat und darüber hinaus nicht ohne weiteres greifbar. Es liegt in ihrer Logik, daß sie selbst nicht Objektivierbarkeit beansprucht, da sie gegen die einzelwissenschaftliche oder einseitige Objektivation des M. gerade aufgeboten wird.« Art. Mensch, ganzer. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter und K. Gründer. Bd. 5, Sp. 1106–1111, Sp. 1108. Emphatischer noch von Utopie zu sprechen, macht im Kontext der Literatur Sinn, die, wie im folgenden ansichtig wird, diesem Ungreifbaren eine virtuelle Bleibe schafft oder es zumindest als bleibende Mahnung präsent hält. In historischer Abfolge sind zu nennen: »Its [Psychosomatic Medicine] object is to study in their interrelation the psychological and the physiological aspects of all normal and abnormal bodily functions and thus to integrate somatic therapy and psychotherapy.« Introductory Statement. In: Psychosomatic Medicine 1 (1939), S. 3–5, S. 3. Die Psychotherapie als zentrales Merkmal der Psychosomatik ist wieder aufgenommen worden von: E. Petzold, M. Bölle, T. Henkelmann, Von Mesmer bis Breuer, S. 18. »From the point of view of history, the nuclear question of psychosomatic medicine is the mind-body problem.« E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 41. »›Psychosomatic medicine‹ (psychosomatics) refers to a discipline concerned with a) the study of the correlations of psychologic and social phenomena with physiologic functions, normal or pathologic, and of the interplay of biologic and psychosocial factors in the development, course, and outcome of diseases; and b) advocacy of a holistic (or biopsychosocial) approach to patient care and application of methods derived from behavioral sciences to the prevention and treatment of human morbidity.« Z. J. Lipowski, What Does the Word ›Psychosomatic‹ Really Mean? S. 154.

2

zweier Bedeutungsebenen des Begriffs ›Psychosomatik‹, eine ›psychogenetische‹ und eine ›holistische‹.6 Die holistische bezieht sich auf die Einheit von Leib und Seele, die psychogenetische Bedeutung »implies an etiologic hypothesis about the role of psychologic factors in human disease.«7 Psychogenese der Krankheit und Psychotherapie gehen im psychosomatischen Diskurs schon früh eine Verbindung ein. So begründet Johann Christian Reil den Vorrang psychischer Kurmethoden im Falle von auf Ideen basierenden Krankheiten in ihrer spezifischeren Wirkung (Kap. III.2). Ackerknecht hat für die Psychotherapie noch ein Charakteristikum im besonderen hervorgehoben. Es handle sich wesentlich um Gesprächstherapien: »The psychosomaticist seems above all to be the physician who specializes in listening to the patient.«8 Gesprächstherapien und die Kunst des Zuhörens werden im folgenden vor allen Dingen an zwei exponierten Beispielen anschaulich werden. In Goethes Singspiel ›Lila‹ begegnet uns ein Arzt, der nicht allein auf den Redegehalt, sondern auch auf den ›verrückten‹ Sprachduktus und -rhythmus seiner Patientin reagiert und diesen wieder ins rechte Maß bringt (Kap. III.1). Mit Sigmund Freuds Psychoanalyse institutionalisiert sich die Gesprächstherapie dann wissenschaftlich und entwikkelt besondere Regeln für das Sprechen und Zuhören im analytischen Rollenspiel (Kap. V.3). Als ein weiteres wichtiges Merkmal der Psychosomatik hält Edward Shorter die Historizität psychosomatischer Leiden in seiner Medizin- und Kulturgeschichte fest, diese Einsicht wird auch zum argumentativen roten Faden seines Textes: ›From Paralysis to Fatigue. A History of Psychosomatic Illness in the Modern Era‹ (1993). Psychosomatische Krankheitsbilder können äußerst kurzlebig sein und schnell wieder in Vergessenheit geraten. Dies dokumentieren in der vorliegenden Studie die Theatromania oder das Heimweh, das vom ausgehenden 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert als ernste Krankheit mit oft tödlichem Verlauf angesehen wurde, heute jedoch aus der medizinischen Diagnostik gänz-

6

7 8

»Ideengeschichtlich gesehen läßt sich die moderne Psychosomatik als Gegenreformation verstehen, gegen die Reformation nämlich, welche ab der Mitte des letzten Jahrhunderts durch die Zellularpathologie Virchows und die Bakteriologie Pasteurs und Kochs die bisherige Medizin radikal veränderte und dabei u.a. ›die Psyche‹ aus der Medizin verbannte. […] Entsprechend dieser Tradition hat die psychosomatische Gegenreformation einen holistischen und einen psychogenetischen Aspekt.« A.-E. Meyer, Eine kurze Geschichte der Psychosomatik, S. 35. Vgl. auch A.-E. Meyer und U. Lamparter, Vorwort, S. 5. Mit den zwei Faktoren, Psychogenese und Holismus, bezieht sich Meyer auf Lipowskis Argumentation. »Psychosomatic illness is any illness in which physical symptoms, produced by the action of the unconscious mind, are defined by the individual as evidence of organic disease and for which medical help is sought.« E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. X. Schon Ackerknecht nennt neben dem Leib-Seele-Zusammenhang »psychogenesis of disease«, The history of psychosomatic medicine, S. 17. Siehe im weiteren E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 2–5. Z. J. Lipowski, What Does the Word ›Psychosomatic‹ Really Mean? S. 162. E. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 23.

3

lich verschwunden ist (Kap. II, III.3). Ähnliches ließe sich zur religiösen Melancholie sagen, die in dem untersuchten ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ als schichtenspezifische Volkskrankheit des ausgehenden 18. Jahrhunderts erscheint. Die religiöse Melancholie ist auch ein Beispiel für das punktuelle epidemische Auftreten psychosomatischer Leiden. In der Wahrnehmung psychosomatischer Leiden als Zeitkrankheiten sedimentiert sich ein insbesondere durch Freud ausformuliertes Verständnis von Psychogenese. Krankheiten sind als eine Form des aktiven Verhaltens in Reaktion auf eine bestimmte Situation und eine historische Problemlage aufzufassen, ja sie erscheinen als fehlgehende Problemlösungsstrategie und als ein ebensolches Heilungsbemühen der leibseelischen Einheit Mensch. Diese Leiden sind Ausdruck eines Konflikts des Individuums mit seiner Umwelt, sie stellen in unverständlicher, hermeneutischer Anstrengungen bedürftiger Sprache ein Kommunikationsangebot dar. Diese Symptomsprache ist historisch und kulturell wandelbar. Es gibt in dieser Sprache legitime Zeichen, d.h. solche die von einem Arzt oder der Gesellschaft anerkannt werden, und illegitime, die keinerlei Beachtung auf sich ziehen können. Shorter führt diesbezüglich den Begriff des Symptompools ein: »The pool of psychosomatic symptoms, physical symptoms caused by the action of the mind, has a history. Of the various types of psychosomatic symptoms, those attributable to the motor side of the nervous system are the most colorful.«9 Sprach- und Schlafstörungen, Zuckungen, Ohnmachts- oder epileptische Anfälle, Lähmungen, Kopfschmerzen, Visionen, Halluzinationen, Augen- und Magenleiden gehören zu den ältesten und verbreitetsten Krankheiten der Menschheit, die von Patienten immer wieder präsentiert und in medizinischen Krankheitsbildern jeweils neu codiert wurden. Neben diesem uralten bis heute geläufigen Vokabular der Psychosomatik gibt es jedoch auch Sprachverschiebungen, wie sie etwa der Wechsel von der sensomotorischen Symptomsprache des 19. Jahrhunderts zu den Herz-Kreislauf-Erkrankungen des 20. Jahrhunderts zeigt.10 Solche Paradigmenwechsel können von einer veränderten Symptomsprache der Patienten ausgehen. So beschreibt Freud rückblickend die Situation in den 1880er eindrücklich, als ein Heer von Neurotikern und Hysterikerinnen Krankheiten ohne erkennbares körperliches Substrat vorführt und damit eine RePsychologisierung der seit Mitte des Jahrhunderts somatisch geprägten Medizin erzwingt. Veränderungen können jedoch ebenso durch die Wissenschaften und die Ärzte eingeleitet werden. So bildet das von Johannes Müller und Marshall Hall auf den Begriff gebrachte physiologische Konzept des Reflexbogens den Rahmen für die Reflexneurosen um 1900. Und an einer ihrer Ausprägungen, Charcots ›grande hystérie‹, zeigt sich im weiteren, wie ein einzelner Arzt ein Krankheitsbild seinen Patientinnen gleichsam antrainieren kann (Kap. V.3). 9 10

E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 5. Siehe hierzu Shorter, From Paralysis to Fatigue.

4

Die Genese von Krankheitsbildern zeigt sich damit als ein höchst komplexes Wechselspiel zwischen Patienten, Ärzten, den Wissenschaften und der Gesellschaft. Shorter erweitert mit seiner Studie den bisherigen begriffs- und ideengeschichtlichen medizinhistorischen Zugriff auf die Psychosomatik zu einer diskursanalytisch informierten Kulturgeschichte. Steht bei ihm die Interaktion zwischen Arzt und Patient im Vordergrund,11 so ist die vorliegende Studie zudem an der disziplinären Verschränkung von Medizin, Philosophie und Literatur im psychosomatischen Diskurs interessiert und hat in dieser Hinsicht ganz andere Geschichten zu erzählen und auch andere Krankheitsbilder zu berücksichtigen. Der Akzent auf Zeitkrankheiten, das Konzept des Symptompools und die von Shorter herausgestellte Bedeutung des Reflexparadigmas in der Genese der Psychosomatik werden jedoch aufgenommen. Die vorliegende diskursanalytisch verfahrende Kulturgeschichte beschränkt sich allerdings nicht allein auf die Machtanalytik von Foucaults bis in die späten 70er Jahre praktizierten Methodik, sondern nimmt den konstruktiven, unter dem Vorzeichen einer Hermeneutik des Selbst formulierten Impetus seines Spätwerks auf12 und arbeitet darum ebenso Formen der Ermächtigung durch Sprache und Schrift heraus. Literatur bleibt mithin nicht in ihrer Rolle als Gegendiskurs und also in einer binären Logik befangen, in der sie stets unterliegt. Sie soll in ihrer funktionellen Rollenvielfalt wahrgenommen werden. Insofern der Austausch von Wissen, Codes und Begriffen zwischen den Disziplinen in dieser Studie von Interesse ist, versteht sie sich als Interdiskursivitätsanalyse. Damit verfolgt sie die »für die Moderne grundlegende Dialektik zwischen Diskursspezialisierung und interdiskursiver Reintegration des durch Spezialisierung produzierten Wissens«.13 Spezialisierung und Reintegration sind dabei keineswegs einseitig in den Wissenschaften oder der Literatur beheimatet. Beide Domänen sind durch einen historisch anwachsenden Spezialisierungsund Reintegrationsdruck gekennzeichnet, der sich im folgenden exemplarisch an Woyzecks und Nietzsches Fallgeschichten abzeichnet. Die psychosomatische Fragestellung fordert Interdiskursivität in besonderem Maße heraus; die Wahr-

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12 13

»It is a history of shifting maladies as experienced by patients and perceived by doctors, an account of how historical eras shape their own symptoms of illness.« E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. IX. Siehe hierzu die Verfasserin, Die poetische Konstruktion des Selbst. J. Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 285. Link geht davon aus, daß »der literarische Diskurs struktural-funktional wie generativ am ehesten als auf spezifische Weise elaborierter Interdiskurs« zu begreifen ist, ebd., S. 286. Neben Links literaturwissenschaftlicher Weiterführung von Foucault grenzt die vorliegende Studie methodisch ebenfalls an Joseph Vogls ›Poetologie des Wissens‹ an, die mit Akzent auf die formativen Aspekte der Diskursanalyse und ihre Konzentration auf die Aussageweisen »das Auftauchen neuer Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche zugleich als Form ihrer Inszenierung begreift«, Einleitung, S. 13. Siehe im weiteren J. Vogl, Kalkül und Leidenschaft; J. Vogl, Für eine Poetologie des Wissens.

5

nehmung des ganzen Menschen bringt diskursive Vernetzungen ebenso hervor wie disziplinäre Konkurrenz. Und im weiteren ist die mediale Produktivität der Psychosomatik festzuhalten. Es entstehen hybride Sprach-, Text- und Kunstformen sowie neue Genres, wenn der leibseelische Zusammenhang zur Darstellung gebracht oder therapiert werden soll. Essay, Fallgeschichte, Zeitschrift, Krankenblatt, Gutachten sowie Singspiel, Bildungsroman, Tragikomödie, Autobiographie, Drama und Novelle werden im Verlauf der Untersuchung wichtige Rollen spielen, um dem modernen Menschen ganzheitliche Erfahrungsräume zugänglich zu machen, um Affektabfuhr zu ermöglichen, um Einsicht in eine Krankheit zu liefern oder um exaktes Wissen von der Leib-Seele-Interaktion zu generieren. In Verbindung mit ihrem Gegenstand legt die vorliegende Untersuchung ihren Akzent auf Kulturwissenschaft als Kulturgeschichtsschreibung, nach dem Motto: »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte« (Dilthey, VIII, 226). Abschließend werden Wilhelm Dilthey und Sigmund Freud zu Wort kommen, deren programmatischem Verständnis von Wissenschaft, Kultur und Kulturgeschichte sich die historisch-systematische Argumentation dieser Studie zuordnet. In beiden Fällen wird das Geschichtenerzählen ethisch qualifiziert. Die Psychoanalyse bringt im Blick in die Vergangenheit ein zwar schmerzhaftes, aber heilsames Wissen hervor, sie formuliert die Gleichung von Verstehen und Heilung. Dilthey begreift die Kultur eines Zeitalters analog zur Person als konkrete, lebendige Einheit und Strukturzusammenhang. In kulturellen Objektivationen sedimentiert sich eine ästhetische und ethische Qualität des Zusammenhängens – etwa von Körper und Seele oder von Individuum und Gesellschaft –, die im verstehenden Nachvollzug abgelesen werden kann. Kulturgeschichte ist so programmatisch auch Ästhetik- und Ethikgeschichte. Allerdings wird es im folgenden aus der Einsicht heraus, daß uns Geschichte immer textförmig – d.h. zeichenhaft strukturiert – in Geschichten überliefert ist,14 um biographische Geschichten, um Lebens- als Kranken- oder Heilungsgeschichten, aber auch um Geschichten von Erfahrungsstrukturen, Krankheitsbildern, Berufen, sozialen Ordnungen, wissenschaftlichen Einstellungen, Versuchsanordnungen und Methoden gehen. Der letztgenannte Aspekt macht auf eine weitere Charakteristik des psychosomatischen Diskurses aufmerksam: neben der Interdisziplinarität und der medialen Vielfalt ist seine methodische Produktivität hervorzuheben. In

14

Dieses Verständnis von der »Textualität von Geschichte« teilen Diskursanalyse und New Historicism, L. A. Montrose, Die Renaissance behaupten, S. 67. Siehe hierzu im weiteren: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hrsg. von M. Baßler; M. Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv, S. 1–11. Auch in diesem Fall erzählt die vorliegende Studie in Auszügen von der Entstehung dieses Theorems über die im 19. Jahrhundert entwikkelte ›genetische Methode‹ (Kap. IV) und die Geschichtsauffassungen von Nietzsche, Dilthey sowie Freud.

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Wahrnehmung des ganzen Menschen werden sich das vergleichend-analogische, das experimentelle, das psychologische, das mehrstufig beobachtende, das typologische, das diskursanalytische, das evolutionäre, das systemtheoretische, das psychoanalytische und das existenzphilosophische Denken historisch entfalten und Kontur gewinnen. Zentrale wissenschaftliche Debatten des 19. Jahrhunderts, jene zwischen Psychikern und Somatikern (Kap. IV.1) sowie jene zwischen Natur- und Geisteswissenschaften (Kap. V.2) haben ihren Auftritt. Unter diesem wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkt zeichnet die vorliegende Studie die interdisziplinäre Herausbildung einer kulturwissenschaftlichen Methodik nach. An Begriffen wie ›Konflikt‹, ›Typus‹, ›System‹, ›Funktion‹, ›Struktur‹, ›Sympathie‹, ›Semiotik‹ und ›Bildung‹ wird der Begriffstransfer zwischen den Disziplinen anschaulich und es wird von der historischen Genese zentraler kulturwissenschaftlicher Theoreme aus der psychosomatischen Fragestellung heraus berichtet. Die Untersuchung schließt diesbezüglich mit Friedrich Nietzsche, Wilhelm Dilthey und Sigmund Freud. Neben diesen Ahnherren der Psychosomatik und der Kulturwissenschaften ist im weiteren auf ein systemtheoretisch-funktionales Denken aufmerksam zu machen, das nicht auf Niklas Luhmanns Systemtheorie eingeschränkt werden muß, und auf eine sehr alte Methodik, deren Wandlungsfähigkeit und Leistungsstärke im Umgang mit unübersichtlichen, komplexen Gegenständen das Folgende anschaulich macht: die Hermeneutik. Mit Nietzsche, Dilthey und Freud stehen auch drei moderne hermeneutische Entwürfe am Ende der Überlegungen. Den zeitgenössischen Kulturwissenschaften sei so die Hermeneutik noch einmal ins Stammbuch geschrieben. Zugleich wird ein Plädoyer für einen kontrollierten Methodenpluralismus abgelegt, der allerdings nicht Beliebigkeit bedeuten soll. Es werden gegenstandsbezogen Theorien und Methoden mittlerer Reichweite vorgestellt, und zugleich wird mit Wilhelm Diltheys vierstufiger Differenzierung zwischen Erleben einerseits und wissenschaftlichem Erkennen andererseits (Kap. V.2.3) ein Rahmen für die Verortung der jeweiligen Erkenntnisform präsentiert. Die Studie holt somit ihre eigenen methodischen Voraussetzungen historisch ein und versteht Methodenreflexion als work in progress, die sich in den einzelnen Kapiteln fortschreitend entwickelt. Die ausgewählten Geschichten zur Entstehung des psychosomatischen Diskurses können von diesem nur einen Ausschnitt bieten, der allerdings Repräsentativität beansprucht, insbesondere im Hinblick auf die Charakteristika Interdisziplinarität und mediale Vielfalt. Darüber hinaus wurde Wert darauf gelegt, daß es sich um Geschichten mit Fortsetzung handelt, damit nicht allein die synchrone diskursive Vernetzung, sondern auch die diachrone anschaulich wird. So schildert das erste Kapitel mit Albrecht von Hallers Reiz- und Erregungslehre die ersten Schritte auf dem Weg zur Beschreibung des physiologischen Konzepts des Reflexbogens, das in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts vervollständigt wird (Kap. IV.3.1.2), schließlich versuchen Dilthey und Freud am Leit7

faden des Reflexbogens den ganzen Menschen zu erfassen. Das Krankheitsbild der religiösen Melancholie erscheint in dem von Karl Philipp Moritz herausgegebenen ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ als Volkskrankheit des vierten Standes, in Büchners ›Woyzeck‹ klingt es am Rande an, einen letzten Auftritt erlebt dieses um 1900 dann unzeitgemäße Leiden in Diagnosen zum Fall Friedrich Nietzsche. Mit Herder beginnt eine Erfolgsgeschichte des Tastsinns, die im Kontext von Büchners naturwissenschaftlichen Arbeiten weiter erzählt wird, um schließlich bei Dilthey zu einem abschließenden Höhepunkt geführt zu werden. Wie bei dem Anwalt des historischen Verstehens nicht anders zu erwarten, laufen in diesem Kapitel viele Argumentationsfäden zusammen, so daß es resümierende Züge trägt. Vor diesem Hintergrund und in Erweiterung der genannten Begriffsbestimmungen unterscheidet diese Studie fünf zentrale Elemente des psychosomatischen Diskurses, die in der historisch-systematischen Argumentation der einzelnen Kapitel jeweils in unterschiedlicher Gewichtung zur Darstellung kommen. Die Psychosomatik gliedert sich so in: 1. Der ganze Mensch als ihr Analysegegenstand und zugleich ihre implizite Utopie;15 2. Zeitkrankheiten als Phänomenologie ihrer Krankheitsbilder; 3. Psychogenese der Krankheit und psychische Kurmethoden als wichtige therapeutische Neuerung im ausgehenden 18. Jahrhundert; 4. Psychiker versus Somatiker als begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion ihrer Entstehung in der psychiatrischen Debatte im frühen 19. Jahrhundert; und schließlich 5. Biographische Erkenntnis als ihre charakteristische wissenschaftliche Methode, die Kranken- und Lebensgeschichte miteinander verbindet. Die einzelnen Kapitel schreiten von der Formierungsphase dieser diskursiven Zusammenhänge im ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu dem Moment voran, in dem die Psychosomatik zur medizinischen Fachdisziplin wird. Bevor jedoch auf die zeitliche Eingrenzung der Studie eingegangen wird, ist eine kurze philosophie- und medizingeschichtliche Kontextualisierung notwendig, die es ermöglicht, in Abgrenzung den psychosomatischen Holismus zu profilieren. Philosophische Kontexte Das ontologische Leib-Seele-Problem ist in der Philosophiegeschichte in zwei grundlegenden Modellen aufgetreten, die sich wiederum ausdifferenziert haben. Der Monismus geht davon aus, daß es nur eine Substanz oder einen Typus von Prozessen gibt, während der Dualismus an zwei Substanzen oder Prozesse glaubt, die auch unabhängig voneinander auftreten können.16 Der Begriff ›Psy15

16

Zu den Literaturwissenschaften siehe: Der ganze Mensch. Hrsg. von H.-J. Schings; zu Theologie und Anthropologie: D. Rössler, Der ›ganze‹ Mensch; D. Rössler, Art. Mensch, ganzer. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter und K. Gründer. Bd. 5, Sp. 1106–1111; Der ›ganze Mensch‹. Hrsg. von Volker Drehsen. Zu den folgenden Ausführungen siehe M. Pauen, Grundprobleme der Philosophie des Geistes,

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cho-Somatik‹ legt eine gewisse Prävalenz zugunsten des dualistischen Modells nahe. In seiner bekanntesten Formulierung durch René Descartes unterscheidet der Dualismus eine res extensa, eine ausgedehnte, materielle, mechanistisch arbeitende Substanz, von einer res cogitans, einer immateriellen, denkenden Substanz. Trotz der antithetischen Entgegensetzung von res extensa und cogitans nimmt Descartes jedoch eine Wechselwirkung zwischen beiden Substanzen an. Diese Interaktion ist ihm zufolge philosophisch nicht erklärbar: Wie und in welcher Sphäre können eine immaterielle und eine materielle Substanz aufeinander wirken? Descartes lokalisiert diese Sphäre in der Zirbeldrüse des Gehirns. Seine Nachfolger haben vor allem bezüglich der Frage der Kausalität respektive seines Verstoßes gegen den Energieerhaltungssatz kritisch reagiert. Im Okkasionalismus wird für das Zusammenspiel von Leib und Seele jeweils der Eingriff Gottes bemüht. Und im psychophysischen Parallelismus Leibnizscher Prägung wird der reibungslose, in seiner Präzision dem exakten Gleichlauf zweier Uhren vergleichbare Parallelgang physischer und psychischer Prozesse auf eine prästabilierte Harmonie zurückgeführt. Im 19. Jahrhundert legt Gustav Theodor Fechner mit seinen ›Elementen der Psychophysik‹ (1860) eine monistische Variante des psychophysischen Parallelismus vor. Im Unterschied zu Leibniz wird nun von einer einzigen Uhr gesprochen, die ein Innenleben und eine Außenseite habe. Leib und Seele gehen mit einander; der Aenderung im Einen correspondiert eine Aenderung im Anderen. Warum? Leibniz sagt: man kann verschiedene Ansichten darüber haben. Zwei Uhren auf demselben Brete befestigt richten ihren Gang durch Vermittlung dieser gemeinsamen Befestigung auf einander ein (wenn sie nämlich nicht zu viel von einander abweichen); das ist die gewöhnliche dualistische Ansicht vom Verhältnisse zwischen Leib und Seele. Es kann auch Jemand die Zeiger beider Uhren so schieben, dass sie immer harmonisch gehen, das ist die occasionalistische, wonach Gott zu den körperlichen Veränderungen die geistigen und umgekehrt in beständiger Harmonie erzeugt. Sie können auch von vorn herein so vollkommen eingerichtet sein, dass sie, ohne der Nachhülfe zu bedürfen, von selbst immer genau mit einander gehen; das ist die Ansicht von der prästabilierten Harmonie derselben. Leibniz hat eine Ansicht vergessen, und zwar die einfachstmögliche. Sie können auch harmonisch mit einander gehen, ja gar niemals aus einander gehen, weil sie gar nicht zwei verschiedene Uhren sind. Damit ist das gemeinsame Bret, die stete Nachhülfe, die Künstlichkeit der ersten Einrichtung erspart. Was dem äusserlich stehenden Beobachter als die organische Uhr mit einem Triebwerke und Gange organischer Räder und Hebel oder als ihr wichtigster und wesentlichster Theil erscheint, erscheint ihr selbst innerlich ganz anders als ihr eigener Geist mit dem Gange von Empfindungen, Trieben und Gedanken.17

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S. 34–79; S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, S. 21–26; R. Specht und Th. Rentsch, Leib-Seele-Verhältnis; K. Gloy, Leib und Seele. G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 5.

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In Fechners Uhrengleichnis werden die metaphysischen Hintergrundannahmen der Psychophysik erkennbar. Als empirische Wissenschaft beschränkt sich die Psychophysik jedoch darauf, die »functionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele«18 am konkreten Wechselspiel von physischen Reizen und psychischem Erleben nachzuweisen. Bereits früher hatte Wilhelm Griesinger im von ihm mitbegründeten Reflexparadigma eine monistische Variante des Parallelismus in Gestalt eines harmonischen Zusammenspiels von physischen und psychischen Reflexen formuliert: »Wir haben versucht, auf den Parallelismus hinzuweisen, der bis in Einzelheiten zwischen den Lebensäusserungen der Medulla, Empfinden und Bewegungen, und zwischen denen des Gehirns, Vorstellen und Streben, sich zeigt.«19 Es ist jedoch Descartes’ interaktionistischer Dualismus, der für die Geschichte der Psychosomatik in zweifacher Hinsicht richtungweisend wird. Zum einen in der Annahme einer wechselweisen kausalen Beeinflussung, zum anderen in seiner Begründung dieser Annahme, die philosophisch nicht erklärbar, jedoch in der unmittelbaren Erfahrung gegeben sei. Jedenfalls, daß die Seele, die körperlos ist, den Körper bewegen kann, dies wird uns weder durch irgendwelche Überlegungen gezeigt noch durch Vergleiche mit irgend etwas anderem, sondern durch eine völlig gewisse und offensichtliche Erfahrung, die wir jederzeit machen können; dies ist eine Sache, die wir durch sie selbst kennen und die wir nur verdunkeln würden, wenn wir versuchen sie durch andere erklären zu wollen.20

Mit dem Nachdruck auf der Evidenz der Erfahrung wird das Leib-Seele-Problem prophetisch in die Domäne der empirischen Wissenschaften verwiesen, die sich diesem um 1800 genau in der anempfohlenen Weise annehmen. Es wird sich in philosophischer Enthaltsamkeit geübt, die Erklärung wird programmatisch zurückgestellt oder gänzlich eingeklammert zugunsten der Beobachtung und des experimentellen oder therapeutischen Eingreifens. Für die um 1800 sich ausbildenden empirischen Wissenschaften Anthropologie, Psychologie und Psychiatrie steht allerdings nicht nur Descartes’ Empirismus Pate, sondern auch der Monismus in Gestalt von Spinozas Pantheismus, der nur von einer Substanz, jedoch von zwei Attributen und verschiedenen Beschreibungsweisen dieser Substanz ausgeht. In seiner ›Ethik‹ heißt es, »daß Seele und Körper ein und das selbe Ding sind, das bald unter dem Attribut des Denkens, bald unter dem Attribut der Ausdehnung begriffen wird.«21 In einer radikaleren, reduktionistischen Variante ist dem materialistischen Monis-

18 19 20 21

G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 8. W. Griesinger, Ueber psychische Reflexactionen, S. 111f. R. Descartes, Brief an Arnauld, 29. 7. 48; dt. Übersetzung zit. nach M. Pauen, Grundprobleme der Philosophie des Geistes, S. 46. B. de Spinoza, Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt, S. 112.

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mus, wie ihn Julien Offray de La Mettries ›L’homme machine‹ vertritt, daran gelegen, seelische auf körperliche Prozesse zurückzuführen. Als eine besonders prägnante Äußerung dieses Typs läßt sich Griesingers Leitsatz, Geisteskrankheiten seien »jedesmal Erkrankungen des Gehirns«,22 anführen, mit dem der Streit zwischen den Psychikern und Somatikern Mitte des 19. Jahrhunderts apodiktisch zugunsten der letzteren entschieden wurde. Und auch Virchows Grundannahme, jede Krankheit sei eine Krankheit der Zelle,23 zeugt von dieser Verkürzung. Ernst Haeckel ist hingegen daran gelegen, sich von solchen Reduktionismen zu verabschieden. Und so erläutert er seinen bereits schon wieder deutlich in den Bereich der Metaphysik ausgreifenden Monismus – er spricht analog zu Ganglienzellen von »Seelenzellen« und erfindet »Psychome« – im Rückgriff auf Spinoza: »Wir halten fest an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die unendlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie) als die empfindende oder denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz.«24 Die zeitgenössische psychosomatische Medizin hat sich mehrheitlich darauf verständigt, dem philosophischen Dilemma von Dualismus und Monismus dadurch zu entgehen, indem sie einen dritten ›holistischen‹ Ansatz vertritt, demzufolge Leib und Seele als eine untrennbare, systemische Einheit aufgefaßt werden, deren Funktionsweise empirisch zu beobachten ist und therapeutisch modifizierbar sei. Eine Definition dieses Holismus lautet: »The core postulate of the holistic viewpoint its that the notions of mind and body refer to inseparable and mutually dependent aspects of man«.25 Thure von Uexküll 22

23 24 25

W. Griesinger, Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 1. Vgl.: »Griesinger wird oft als der Mann angesehen, der den Sieg der ›Somatiker‹ über die ›Psychiker‹ errungen hat«, H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 342. Als »konsequenten Somatiker« zeichnet auch Karl Rotschuh Griesinger, K. E. Rotschuh, Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, S. 314. Griesinger selbst wollte allerdings die Debatte zwischen Psychikern und Somatikern, die die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte, hinter sich lassen und identifizierte sich keineswegs mit den Somatikern alter Schule, mit der in seinen Worten »irrigen Lehre«, »nach welcher der Wahnsinn immer ›somatische‹ Ursachen haben, und am Ende in ihm gar nicht ›die Seele‹, sondern nur der Darm, der Uterus oder ein anderes beliebiges Organ erkranken soll«, Ueber psychische Reflexactionen, S. 106. Griesingers durchaus auch romantisch inspirierter Monismus wird im Kontext von Georg Büchners Wissenschaftsprofil noch eine Rolle spielen (Kap. IV.3.1.2). Ein dementsprechend ganzheitlicheres Bild des Psychiaters, in dem auch seine Kritik eines einseitigen Empirismus im Namen der alten Naturphilosophie herausgestellt wird, zeichnen: K. Dörner, Bürger und Irre, S. 279ff., 289–306; E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 133– 138. Vgl. R. Virchow, Über die heutige Stellung der Pathologie [1869], S. 90f. E. Haeckel, Die Welträtsel, S. 28, 32. Z. J. Lipowski, What Does the Word ›Psychosomatic‹ Really Mean? S. 159. Eine allgemeinere philosophische Definition lautet: »Holism is the idea that the elements of a system have significance in virtue of their interrelations with each other.« A Companion to the Philosophy of Mind. Ed. by Samuel Guttenplan, S. 1995.

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und Wolfgang Wesiack sprechen von einem wissenschaftlichen Modell, das es erlaubt, »Hypothesen über ein wechselseitiges Einwirken seelischer Vorgänge auf körperliche und umgekehrt aufzustellen und zu erproben.«26 Grundlegend für ein solches Modell sei eine neue, systemtheoretische Definition von Körper und Seele. Unter dem Körper wird ein relativ geschlossenes, hierarchisch gegliedertes, arbeitsteiliges System – die Stoffwechselvorgänge im Körperinneren – verstanden. Mit der Seele entsteht ein offenes System, das durch seine Phantasietätigkeit eine Umwelt aufbaut und mit Bedeutung versieht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Die Psyche ist demnach »Produkt einer Phantasieentwicklung«, und seelische Funktionen sind diesem Modell zufolge schon auf der Ebene des vegetativen Lebens anzusetzen. Der Wechsel vom Körper zur Seele bedeutet einen Wechsel der Integrationsebene und einen ›Bedeutungssprung‹ bzw. eine ›Bedeutungskoppelung‹. Das Bedürfnis des Systems Körper nach Eiweiß, Mineralstoffen etc. übersetzt sich in eine als Nahrung deklarierte Bedeutung der Umwelt. Die Leib-Seele-Umwelt-Beziehungen stellen sich so als ein Ineinandergreifen und als Übersetzungsvorgänge zwischen gänzlich verschiedenen Handlungen oder Funktionen dar. Die Verwertung von Kohlenhydraten in Zellen wird mit einer Handlung gekoppelt, die einen Gegenstand in der Umwelt aufsucht und verzehrt oder zu diesem Zweck hoch komplexe sprachliche Interaktionen mit anderen Individuen unternimmt. »Die geheimnisvolle Grenze zwischen Körperlichem und Psychischem läßt sich so als Ergebnis einer – in der individuellen Entwicklungsgeschichte entstandenen – unübersehbar großen Anzahl von Bedeutungskoppelungen zwischen einem körperlichen und einem psychischen Systemanteil auffassen.«27 An den einzelnen, in dieser Studie abzuschreitenden Stationen läßt sich beobachten, wie aus der Problematisierung des leibseelischen Zusammenhangs von einem zunächst auf Faktensammlung und Beobachtung angelegten erfahrungswissenschaftlichen Zugriff auf den ganzen Menschen durch Hinzutreten von Begriffen wie System, Element, Struktur und Funktion ›systemtheoretische‹ Ansätze zunehmend an Bedeutung gewinnen. Diese verschränken sich mit Vorstellungen von Funktionskreisläufen des Lebens, die an die Gedankenfigur des hermeneutischen Zirkels angelehnt sind. In besonderer Prägnanz zeigt sich diese Zusammenführung von Hermeneutik und systemisch verstandener Psychophysiologie in Wilhelm Diltheys verstehender, vom Strukturzusammenhang der Seele handelnder Psychologie (Kap. V.2). Die Untersuchung schließt so methodisch mit drei verschiedenen Versionen von Psychologie: Nietzsches ›Entlarvungspsychologie‹, Diltheys verstehender Psychologie und Freuds Psychoanalyse, die sich auch mit unterschiedlichen Formen von Hermeneutik verbinden.

26 27

T. von Uexküll und W. Wesiack, Das Leib-Seele-Problem in psychosomatischer Sicht, S. 68. T. von Uexküll und W. Wesiack, Das Leib-Seele-Problem in psychosomatischer Sicht, S. 70.

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Medizinische Kontexte In der Medizingeschichte dominierten lange Zeit ausschließlich am Körper orientierte Auffassungen von Gesundheit und Krankheit. Die Seele als krankheitsanfällige und behandelbare Instanz taucht allenfalls am Rande auf. Die antike griechisch-römische Medizin war deutlich somatisch orientiert, Krankheiten galten als rein körperliche Vorgänge.28 Auch Geisteskrankheiten wie Manie und Melancholie wurden auf Körperanomalien zurückgeführt. Der antiken Lehre von den vier Grundqualitäten Kälte, Wärme, Feuchtigkeit und Trokkenheit gemäß bestimmten sich Gesundheit und Krankheit durch ein richtiges, harmonisches oder ein aus dem Gleichgewicht geratenes Mischungsverhältnis der vier Säfte (humores). So formuliert Hippokrates in ›Über die Natur des Menschen‹: Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, sie stellen die Natur seines Körpers dar, und ihretwegen empfindet er Schmerzen und ist er gesund. Gesund ist er nun besonders dann, wenn diese Substanzen in ihrer wechselseitigen Wirkung und in ihrer Menge das richtige Verhältnis aufweisen und am besten gemischt sind; Schmerzen empfindet er, wenn sich eine von diesen Substanzen in geringerer oder größerer Menge im Körper absondert und nicht mit allen genannten gemischt ist.29

Die Humoralpathologie war ein äußerst langlebiges und erfolgreiches medizinisches Paradigma, das bis ins 18. Jahrhundert das Geschehen dominierte und erst mit der Entdeckung des ›Nerven-Menschen‹ (Reil) und auch dann erst langsam einer modernen erfahrungswissenschaftlich ausgerichteten Medizin weichen mußte. In seinem ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens‹ (1818) bringt Johann Christian August Heinroth die Medizingeschichte auf den Punkt: »Von Hippokrates bis Boerhaave erkannte man nur die Galle als Ursache, nur Melancholie und Manie als Wirkung, nur Ausleerung des Schaedlichen als Heilverfahren.«30 Von der Homogenität der Heilkunst legt auch der Laienpoet Edward Baynard, ein englischer Arzt, in seinem Gedicht ›Health‹ aus dem Jahre 1719 ein beredtes Zeugnis ab: For in ten words the whole art [of medicine] is comprised, For some of the ten are always advised: Piss, spew and spit, Perspiration and sweat Purge, bleed and blister, Issues and clyster.

28 29 30

Vgl. K. Rothschuh, Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, S. 305f.; E. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 17f. Hippokrates, Über die Natur des Menschen, S. 73. Vgl. hierzu H. Flashar, Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 108f.

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These few evacuations Cure all the doctor’s patients If rightly applied By a wise physic guide.31

Allerdings verbindet sich mit dieser somatischen Ausrichtung der Medizin vor allem in Galens Fassung der Säfte- als einer Temperamentenlehre eine psychologische Typologie, so daß Körper- und Seelenverfassung in einem engen Wechselverhältnis wahrgenommen werden: »die Vermögen der Seele [sind] eine Folge der Mischungen des Körpers«.32 Im Hinblick auf den Choleriker, den Melancholiker, den Sanguiniker und den Phlegmatiker kann durchaus von einer ersten psychosomatischen Typenlehre gesprochen werden, die noch weit bis ins 19. Jahrhundert kulturelle Prägekraft besitzt. Beim Choleriker verbindet sich eine feurige gelbe Galle mit Zorn, beim Melancholiker eine verstockte, schwarze Galle mit Traurigkeit, beim Sanguiniker wässriger Schleim mit Lebhaftigkeit und beim Phlegmatiker langsam fließendes Blut mit Trägheit.33 Die Leidenschaften erscheinen in dieser Konzeption sowohl in der Rolle von Krankheitsursachen als auch in jener von Heilmethoden.34 Mit der antiken rhetorischen Affektenlehre und der medizinischen Temperamentenlehre gibt es also in der langen, am Körper ausgerichteten Tradition der Humoralpathologie einen psychologischen Unterstrom der in der Neuzeit zur wichtigen Quelle einer Psychologie als Wissenschaft werden konnte. Auf diesen Sachverhalt hat schon Wilhelm Dilthey aufmerksam gemacht (V, 287). Erst mit der Entdeckung des ›Nerven-Menschen‹ und der Einführung wissenschaftlicher Standards von Beobachtung und Experiment beginnt ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine Neubestimmung des Verhältnisses von Körper und Seele. Der Name Albrecht von Haller steht für beide Aspekte (Kap. I). Der in stetem Austausch mit seiner Umwelt befindliche humoralpathologische Kör-

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E. Baynard, Health. A Poem [1719]. 8. Aufl. London 1749, S. 37, zit. nach E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 15. Galen zit. nach K. Rothschuh, Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, S. 305. Siehe im weiteren E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 50; E. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 18; Hans Dillers Kommentar zu Hippokrates ›Natur des Menschen‹: Ausgewählte Schriften, S. 200. Einen guten Überblick über die bis ins 18. Jahrhundert sich erhaltende humoralpathologischpsychosomatische Typenlehre gibt der Artikel ›Temperament des Leibes‹ im Zedler, der darauf aufmerksam macht, daß sich die Wirkungen der Temperamente »so wohl in dem Leibe als in der Seele aeussern«, und zwar in der »Farbe im Gesichte«, in der »Sprache«, in den »Augen«, in der »Leibesgestalt«, im »Gange« sowie in den Erkenntnisvermögen von »Verstand«, »Gedächtnis« und »Willen«, J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon. Bd. 42 [1744], Sp. 763–772, Sp. 766f. Siehe im weiteren R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 39–54. »It is not clear why it has never been fully realized that for 1700 years there has been in existence a continuous tradition of psychosomatics under the label of ›passions‹«, E. H. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 18.

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per wird nun von einem durch die festen Grenzen der Haut umschlossenen Körper abgelöst, der nur noch taktil mit der Außenwelt in Verbindung steht.35 Zugleich wird im ausgehenden 18. Jahrhundert die Seele an- und ausgebaut, bis sie schließlich als Oberhaupt über den ganzen Menschen präsidieren darf. Beide Metaphernfelder, das architektonische und das politische, werden uns im Verlauf der Untersuchung immer wieder begegnen. Mit dieser diskursiven Neugeburt von Körper und Seele wird das ältere humoralpathologische Paradigma jedoch noch nicht gänzlich verabschiedet, sondern es bestimmt weit bis ins 19. Jahrhundert hinein als Bildermagazin vor allem für die pathologisch gestörte Interaktion von Körper und Seele die medizinischen, philosophischen und literarischen Texte. 1778–1936 Die vorliegende Studie setzt mit dem Zeitpunkt im ausgehenden 18. Jahrhundert ein, an dem die Leib-Seele-Problematik in erfahrungswissenschaftliche Kontexte eintritt. Erst dann ist es sinnvoll, von einem psychosomatischen Diskurs zu sprechen. Mit den im Titel genannten Jahreszahlen 1778 und 1936 sind der älteste und der jüngste Text bezeichnet, der in dieser Studie verhandelt wird: Johann Gottfried Herders ästhetische Programmschrift ›Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume‹ und Karl Jaspers’ Monographie ›Nietzsche‹. Es handelt sich bei dem gewählten historischen Ausschnitt um ein Narrativ mit voraussetzungsvollem Anfang, der weit in die Antike reicht und punktuell im Vorliegenden eingeholt wird, nämlich dann, wenn er im Zitat erinnert wird. So erscheint etwa Aristoteles’ Fassung der Katharsis als Vorläufer jener psychischen Kurmethoden, die in Goethes Singspiel ›Lila‹ oder bei Breuer und Freud praktiziert werden; oder Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ hält die antike Fallgeschichte vom kranken Königssohn präsent und damit die einzige bemerkenswerte psychosomatische Erzählung in der ansonsten somatisch orientierten griechisch-römischen Medizin. Der gewählte Schlusspunkt 1936 bezeichnet nicht das endgültige Aufgehen des psychosomatischen Diskurses in eine medizinische Fachdisziplin, sondern er markiert – wie das Jahr 1778 auch – einen diskursiven Umbruch. Es sind im 18. Jahrhundert verschiedene Momente, die dazu führen, daß der ganze Mensch nicht mehr allein philosophisch oder theologisch wahrgenommen wird, sondern empirisch. Zu nennen sind erstens die schon stellvertretend mit dem Namen Haller bezeichneten Entwicklungen in den Naturwissenschaften. Beginnt man eine Geschichte der Psychosomatik noch bevor der Begriff in den 1820er Jahren geprägt wird, so kann man sich auf die frühe Psy-

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Zur Veränderung des Körperkonzeptes im ausgehenden 18. Jahrhundert vom humoral-fluidalen zum neurophysiologisch-abgeschlossenen Körper vgl. A. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr.

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chologiegeschichtsschreibung von Johannes Baptist Friedreich berufen. Dieser markiert in seinem schon in biblischer Zeit beginnenden Forschungsüberblick ›Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten‹ (1830) im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Zäsur, denn erst jetzt werde »ausführlich« die »Lehre von dem Wechselverhältnis zwischen Leib und Seele« bearbeitet. Als entscheidende Neuerung der letzten Jahrzehnte hält er die »naturgemässere« Behandlung dieser Fragestellung fest. Was damit gemeint ist, veranschaulichen die Stichworte »Leichen der Irren«, »Versuche« und Beobachtung des »kranken Seelenlebens«. Anatomie, Experiment und Beobachtung konturieren den empirischen Zugang zum Leib-Seele-Problem, mit dem sich der Beginn des psychosomatischen Diskurses datieren läßt. Es sind dann nicht mehr allein die »wechselseitigen Beziehungen zwischen dem somatischen und psychischen Leben überhaupt« von Interesse, sondern vor allen Dingen die konkreten Bezüge, die sich im Versuch oder in der pathologischen Abweichung besonders deutlich zeigen. Die Pathologie als Erkenntnismedium für leibseelische Verhältnisse, die sich in ihrem normalen Funktionieren nicht so ohne weiteres zeigen, dieser methodische Ansatz zeichnet sich bereits in Friedreichs Katalogisierung der entsprechenden Literatur des 18. Jahrhunderts ab und wird für das folgende Jahrhundert bis zu Freuds Psychoanalyse prägend bleiben. Von einem psychosomatischen Diskurs kann gesprochen werden, wenn das Verhältnis von Leib und Seele an »Versuchen über das Fortbestehen des Lebens in den abgeschlagenen Köpfen unmittelbar nach der Enthauptung« untersucht wird oder der »Einfluß der Leidenschaften« auf dieses Verhältnis im Allgemeinen und auf »körperliche Krankheiten« im Besonderen, schließlich dann, wenn die »Wechselbeziehung« zwischen »psychischen Krankheiten« und »körperlichen«36 behandelt wird. Zum markanten politischen Datum der Französischen Revolution pflegt die Psychosomatik also eine ganz besondere Beziehung, insofern durch die Guillotine vom Tier- zum Menschenversuch übergegangen werden kann. Das rege Schrifttum zum Thema versammelt Friedreich. So war etwa Soemmerring der Überzeugung, die Guillotinierten veranschaulichten die »Fortdauer des Bewußtseyns nach der Enthauptung«, er meinte, »der abgehauene Kopf würde noch reden können, wenn er nicht von den Respirations- und Sprachorganen getrennt wäre.«37 Literarisch erinnert Georg Büchner in seinem Drama mit Dantons Worten an den Henker an diese Debatte: »Willst Du grausamer sein als der Tod? Kannst Du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?« (I, 88). Das Phänomen, das an den Guillotinierten, aber auch

36 37

J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 187f. J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 190. Vgl. L. Jordanova, Medical Mediations: Mind, Body, and the Guillotine.

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schon an Hallers enthaupteten Tieren zu beobachten war, klärt das 19. Jahrhundert als Reflextätigkeit auf. Die Zuckungen »geköpfter Thiere«38 stehen dann noch einmal bei der Entdeckung psychischer Reflexe durch Wilhelm Griesinger Pate. Überhaupt sind es die Hingerichteten, durch die die große Nachfrage nach Leichen für den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt gestillt wird. Der Naturwissenschaftler Georg Büchner wird die Todesverfallenheit seiner Zunft am Beispiel des hingerichteten Mörders Johann Christian Woyzeck literarisch ausstellen (Kap. IV.3). In diesem Kontext führt eine Liberalisierung des Strafrechts, wie sie im frühen 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Abschaffung der Todesstrafe diskutiert wird, in diesen Disziplinen zu einem Beschaffungsproblem, dem sich u.a. auch Goethe zuwendet (Kap. III.3.4). Die Französische Revolution spielt aber nicht nur im Hinblick auf das gelieferte anatomische ›Menschenmaterial‹ im medizinischen Diskurs eine Rolle, sondern in psychologischer Hinsicht werden die krankheitsverursachenden, aber auch die heilsamen Folgen eines durch sie bewirkten heftigen Schreckens erwogen.39 Der naturwissenschaftliche und medizinische Fortschritt ist allerdings nur ein Aspekt der historischen Konstellation, die zur Hervorbringung einer empirischen Wissenschaft vom ganzen Menschen führt. Der zweite Aspekt bezeichnet die Ermöglichungsbedingungen dieses Fortschritts durch die Aufklärung und die Befreiung der Wissenschaften aus der Umarmung der Theologie. Die Psychosomatik ist auch ein Säkularisierungsphänomen. So bemerkt Jean Starobinski zu jener Wissenschaft, aus deren Debatte sich der Begriff ›Psychosomatik‹ entwickelt: »Die Psychiatrie begann als ärztliche Wissenschaft erst ab dem relativ späten Augenblick zu existieren, als man anerkannt hatte, daß die Geisteskranken Menschen mit krankem Hirn sind und nicht ›Besessene‹, die vom ›bösen Geist‹ bewegt werden.«40 Dieser allmähliche Ablösungsprozeß der Wissenschaften von der Theologie läßt sich besonders gut an den sogenannten Psychikern beobachten, die noch einmal den Begriff der Sünde mit jenem der Krankheit koppeln, allerdings vor dem Hintergrund eines modernen, an Hegel geschulten Religionsverständnisses (Kap. IV.1). Die Langwierigkeit dieses Säkularisierungsprozesses dokumentiert sich in dieser Studie am Krankheitsbild der religiösen Melancholie. Sie tritt in der Aufklärung als eine Volkskrankheit in Erscheinung und hält sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts als diagnostische Kategorie. Im Zuge von Charcots und Freuds retrospektiver Nosographie wird dieses Krankheitsbild wiederbelebt und der Vorgeschichte der neuen Zeitkrankheit, der Hysterie, zugeordnet. In der religiösen Melancholie zeigen sich die Auswirkungen des Säkularisierungsprozesses auf der Ebene der gelebten

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W. Griesinger, Ueber psychische Reflexactionen, S. 78. J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 209ff. J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 46.

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Erfahrung. In den psychiatrischen und literarischen Fallgeschichten werden die Kosten und Gefahren, aber auch die Dringlichkeit einer rationalen Entzauberung der Welt lesbar. Nietzsches ›toller Mensch‹ in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ tritt als Chronist dieser historischen Entwicklungen auf. Und schließlich wird medizinhistorisch noch eine weitere Befreiungsgeschichte erzählt. Nicht nur von der Theologie, sondern auch von Philosophie und Literatur galt es sich wissenschaftlich zu emanzipieren. Die Psychopathologie habe sich langsam und allmählich auch aus diesen Umarmungen entwunden: Like all psychiatry, this [psychosomatic] orientation was created and nurtured by medical science, which ultimately succeeded in annexing the field of psychopathology from the philosopher and poet, the great masters and lords of this territory who, like all masters and lords, ruled supreme without true understanding of their own kingdom. It was the generation of German medicine which matured by the time Europe became liberated from the Napoleonic turmoil that was particulary keen in its search for a new and more scientific understanding of the medicopsychological problems. 41

Von einem ›ultimate success‹ kann allerdings nur bedingt die Rede sein. Die Gebietsstreitigkeiten zwischen Medizin, Philosophie und Literatur um den ganzen Menschen halten bis heute an. Die vorliegende Studie beobachtet die wechselseitigen Abgrenzungsbemühungen, aber auch die Allianzen in verschiedenen historischen Szenarien. Von der Auseinandersetzung zwischen der philosophischen und der medizinischen Fakultät legt Kants Bemerkung hinsichtlich der Frage der Zurechnungsfähigkeit ein beredtes Zeugnis ab: »Wenn also jemand vorsetzlich ein Unglück angerichtet hat, und nun, ob und welche Schuld deswegen auf ihm hafte, die Frage ist, mithin zuvor ausgemacht werden muß, ob er damals verrückt gewesen sei oder nicht, so kann das Gericht ihn nicht an die medizinische, sondern müßte (der Inkompetenz des Gerichtshofes halber) ihn an die philosophische Fakultät verweisen. Denn die Frage: ob der Angeklagte bei seiner Tat im Besitz seines natürlichen Verstandes- und Beurteilungsvermögens gewesen sei, ist gänzlich psychologisch und, obgleich körperliche Verschrobenheit der Seelenorganen vielleicht wohl bisweilen die Ursache einer unnatürlichen Übertretung des (jedem Menschen beiwohnenden) Pflichtgesetzes sein möchte, so sind die Ärzte und Physiologen überhaupt doch nicht so weit, um das Maschinenwesen im Menschen so tief einzusehen«,42 um ein kompetentes forensisches Urteil fällen zu können. Fast ein halbes Jahrhundert später ist die physiologische Forschung ein beträchtliches Stück weiter gekommen und versucht gerade über den Mechanismus des Reflexes auch das seelische Maschi-

41 42

G. Zilboorg, Psychosomatic Medicine, S. 5. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 142f.

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nenwesen zu begreifen. Mit einem dementsprechenden Selbstbewußtsein gibt Wilhelm Griesinger in seinem Artikel ›Ueber psychische Reflexactionen‹ (1843) dem Territorialkampf um die Seele zwischen Philosophie und Medizin eine andere Wendung, wenn er versichert, »daß wir zur Führerin« zum »Strom der psychischen Erscheinungen« uns nicht »der Hand der Philosophie mit ihrer gefürchteten Schulsprache, sondern nur der einfachen und gemeinfasslichen Leuchte solcher Anschauungen und Begriffe bedienen werden, welche der empirischen Physiologie angehören.«43 Die Verbindung von Psychopathologie und Literatur, von Wahnsinn und Dichtung ist alt, wie u.a. der antike Topos vom ›Furor poeticus‹ belegt. Im 18. Jahrhundert erlangt die Verbindung jedoch eine neue Qualität, insofern sie nun in pragmatische Handlungszusammenhänge einrückt und empirisch erprobt wird. In der Aufklärung erscheint die Literatur bzw. die Kunst insgesamt gemeinsam mit dem ihr spezifischen Vermögen der Einbildungskraft als eine Krankheitsursache ersten Ranges. Entsprechende Krankheitsbilder, die in der vorliegenden Studie zur Sprache kommen, sind die Lesesucht, das Werther-Fieber, die Theatromania und die Empfindsamkeits-Krankheit (Kap. II.3, III.1). Auch die religiösen Wahnbildungen werden auf eine pathologische Einbildungskraft zurückgeführt. Die Literatur entwickelt angesichts dieser Problemlage verschiedene Strategien: Sie akzeptiert die Diagnose und erfindet Therapien aus ihrem eigenen Bestand. Pathographie und Heil-Kunst sind Resultate dieses Bemühens. Oder sie wendet sich zum Gegenangriff und unterzieht ihrerseits das vernünftige Zeitalter einer scharfen Kritik. So erscheint in Herders Ästhetik der vergeistigte europäische Gelehrtenkörper als ein Sinnbild des kulturellen Verfalls, Moritz diagnostiziert ›Aufklärungssucht‹ und Novalis bringt die letalen Folgen einer sich verselbständigenden instrumentellen Vernunft zur Darstellung (Kap. I, II.2, III.3.2). Goethes an Schiller adressierte Äußerung vom 25. November 1797 führt ins Zentrum der Literatur und Ästhetik der Goethezeit: »Die Poesie ist doch eigentlich auf die Darstellung des empirisch pathologischen Zustandes des Menschen gegründet« (WA IV/12, 361). Die vorliegende Studie schlägt eine pathologisch-therapeutische Rahmung der Autonomieästhetik vor: Gerade in ihrer Abkehr von der Realität und als in sich geschlossene Illusionskunst kann sie als Heilmittel für die Krankheiten der Zeit wirken. Mit Goethes Singspiel ›Lila‹ wird gleichsam der Vorhang geöffnet für diese große Epoche der HeilKunst, der sich dann mit den ›Wanderjahren‹ in einer ambivalenten Geste wieder schließt, changierend zwischen melancholischer Rückwendung und konstruktivem Ausblick auf das anbrechende industrielle Zeitalter (Kap. III). Zwischen Pathographie und Therapie bleibt der Literatur als eine weitere Funktion allerdings auch die Konkurrenz zu den empirischen Wissenschaf43

W. Griesinger, Ueber psychische Reflexactionen, S. 76.

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ten. Abgrenzung und Austausch zwischen Literatur und Wissenschaft stehen anhand der Fallgeschichten des Delinquenten Johann Christian Woyzeck und des Philosophen Friedrich Nietzsche in den beiden abschließenden Kapiteln der Untersuchung im Vordergrund. Die Erkenntnismethode, die sich hier literarisch und wissenschaftlich allmählich herausbildet, verschränkt die Kranken- mit der Lebensgeschichte und läßt sich als biographische oder genetische Methode bezeichnen. In der Auffassung der Krankheit als Telos des Lebens und in der ganzheitlichen Wahrnehmung des Patienten, d.h. gleichermaßen seiner inneren und äußeren Geschichte, beerben Psychologie, Psychiatrie und Forensik die Literatur in ihren methodischen und darstellerischen Qualitäten. Man muß manchmal beim wissenschaftlichen Lob der Literatur genau hinhören, um neben der Wertschätzung ihres Materialreichtums noch jene zu unterscheiden, die sie schon als ›halbe Naturwissenschaft‹ wahrnimmt. So heißt es in Friedreichs ›Handbuch der gerichtlichen Psychologie‹ (1835) »ächte Dichter« seien »wahre Menschenkenner und Herzenskündiger«, »wie genau sie das Triebwerk menschlicher Gefühle und Leidenschaften kennen und darstellen, wie sie, vermöge des Talentes, die Natur gleichsam schon auf’s halbe Wort zu verstehen, die tiefsten Tiefen unseres Gemüthes ergründen, und somit die beste Fundgrube oder Quelle für die Selbsterkenntniss eröffnen«.44 Diltheys programmatisches Verständnis der Poetik als Erfahrungswissenschaft, der man die Methodologie der verstehenden Psychologie ablesen könne (Kap. V.2.4), ist hier im Kleinen vorformuliert. Und auch Sigmund Freud wird in der Psychoanalyse literarische Techniken adaptieren, die mit den Stichworten Katharsis und Novelle benannt werden können (Kap. V.3.4). Seit Christian Friedrich von Blanckenburg 1774 in seinem ›Versuch über den Roman‹ das Genre auf die Darstellung der Geschichte eines »wirklichen, einzelnen Menschen, eines wahren lebenden Individuums«45 verpflichtet hat, verfeinert die Literatur in verschiedenen Genres, im psychologischen Roman, im Bildungsroman, in der literarischen Autobiographie und in der Fallgeschichte ihre Techniken der Darstellung des Menschen in seiner psychophysischen Befindlichkeit und in seinem Milieu. So prägt sie Wahrnehmungsweisen vor, die für eine Wissenschaft wie die Psychosomatik, die sich dem Menschen als einem psycho-bio-sozialen Phänomen46 annehmen will, von Interesse ist. 44 45

46

J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 85. C. F. von Blanckenburg, Versuch über den Roman, S. 458. Zu Blanckenburgs (auto-)biographischem Romanverständnis siehe ausführlich K.-D. Müller, Autobiographie und Roman, S. 107–125. Uexküll und Wesiack nehmen den Menschen als »somato-psycho-soziales Phänomen« wahr, Lipowski spricht von »biopsychosocial« und Meyer/Lamparter von einem »bio-psycho-sozialen Modell«, T. von Uexküll und W. Wesiack, Psychosomatische Medizin und das Problem einer Theorie der Heilkunde, S. 9; Z. J. Lipowski, What Does the Word ›Psychosomatic‹ Really Mean? S. 154; A.-E. Meyer und U. Lamparter, Vorwort, S. 3.

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In Auszügen erzählt die vorliegende Untersuchung eine Erfolgsgeschichte literarischer Methodologie anhand des Typus-Begriffs. Goethe ruft den Typus in einer Doppelfunktion als morphologische und literarische Darstellungstechnik ins Leben, er bestimmt vor allen Dingen die Figurenzeichnung in den Bildungsromanen sowie in Büchners Dramenfragment ›Woyzeck‹. Um 1900 findet sich das typologische Denken dann in den Psychologien Nietzsches, Diltheys und Freuds. Ist in den Urteilen ›halbe Naturwissenschaft‹ oder ›halbe verstehende Psychologie‹ neben der Anerkennung auch die Abgrenzung erkennbar, so kann diese auch sehr viel deutlicher ausfallen. Wilhelm Griesinger formuliert 1845 gleich zu Beginn seiner Studie ›Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten‹: »alle nicht-ärztlichen, namentlich alle poetischen und moralistischen Auffassungen des Irreseins sind für dessen Erkenntnis nur vom allergeringsten Werthe«.47 Im Fall Nietzsche zeigt sich ein subtileres Spiel von Austausch und Abgrenzung zwischen Literatur und Wissen. Nietzsche selbst lehnt sich in ›Ecce homo‹ noch einmal ganz explizit an die Tradition der literarischen Autobiographie der Goethezeit an, um das eigene leidende Selbst zur Sprache zu bringen. Der literarischen Aussageweise kommt in seiner Philosophie des Perspektivismus und Relativismus eine methodische Funktion zu. In den nachfolgenden Beiträgen zum Fall Nietzsche ist es dann oft genug diese Redeform, die ihn wissenschaftlich disqualifiziert. So würdigen ihn Dilthey und Freud zwar fast unisono als genialischen Vorläufer, distanzieren ihn aber zugleich als dilettantischen Psychologen und Wissenschaftler. Nietzsches Krankheit wird dabei bei Lou Andreas-Salomé, Dilthey u.a. als tragischer Zielpunkt seines Lebens und Philosophierens gedeutet, auf den eine exzessiv betriebene Introspektion aber mit einer gewissen Notwendigkeit zulaufe. Das Wortfeld des Pathologischen dient hier wie schon in der Aufklärung der Positionierung im wissenschaftlichen Feld, insbesondere Dilthey und Freud nutzen den Fall Nietzsche zur persönlichen Profilierung. Schließlich kann sich Literatur aber auch als eine Metareflexion über Urteilsstrukturen der Wissenschaft und der eigenen Tradition verstehen. Dies wird an Georg Büchners ›Woyzeck‹ zur Darstellung gebracht (Kap. IV.3). Das Dramenfragment nimmt zum psychiatrisch-forensischen Woyzeck-Diskurs, zu den Naturwissenschaften der Zeit und zu den eigenen Gattungsbezügen eine Haltung methodisch-kritischer Distanz ein und entwickelt eine alternative Form, Individualität ganzheitlich zur Sprache zu bringen, ohne sie zum Fall zu machen. Damit rückt die Literatur in Konkurrenz zur Wissenschaft als Methodenreflexion, zu einem Erkennen vierter Stufe, folgt man Wilhelm Diltheys Überlegungen zur Differenzierung von Erleben und mehrstufigem Erkennen (Kap. V.2.2). 47

S. 10.

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Freuds und Diltheys Aussagen dokumentieren, daß es der Wissenschaft schwer fällt, die Literatur in dieser Funktion anzuerkennen. Sie wird nach dem ›Argumentationsschema Nietzsche‹ als genialische Vorläuferin eingestuft. So würdigt Freud die Dichter als »tiefste Kenner des menschlichen Seelenlebens« und »[w]ertvolle Bundesgenossen« der Psychoanalyse, da sie in »der Seelenkunde« den gewöhnlichen »Alltagsmenschen weit voraus« seien und zu »Vorläufern der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie«48 würden. Diltheys Wortwahl ist emphatischer, zielt jedoch in dieselbe Richtung: »So reicht denn auch die mächtige Wirklichkeit des Lebens, wie die großen Schriftsteller und Dichter sie aufzufassen bestrebt waren und sind, über die Grenzen unserer Schulpsychologie hinaus. Was dort intuitiv, im dichterischen Symbol, in genialen Blicken ausgesprochen ist, muß eine solche den ganzen Inhalt des Seelenlebens beschreibende Psychologie festzustellen, an seinem Ort darzustellen und zu zergliedern versuchen.« (V, 156) Dabei hält die Literatur in ihrer Aussageweise eine Erkenntnis wach, die gerade im Hinblick auf die Wahrnehmung des ganzen Menschen von besonderer Bedeutung ist, daß dieser nämlich weder einzeldisziplinär noch jemals endgültig wird auf den Begriff zu bringen sein. In dieser Studie zeigt sich von Herders ›Plastik‹ bis zu Nietzsches ›Ecce homo‹ diese erkenntniskritische Selbstbescheidung in der Literatur und bildet einen starken Kontrapunkt zum Fortschrittsoptimismus der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Die Einsicht von Herders ›Plastik‹, die Menschengestalt sei »gleichsam nie ganz zu ertasten«, wir »taste[n] gewissermaßen immer unendlich«,49 entdeckt so auch den utopischen Kern der Psychosomatik als Erfahrungswissenschaft. Seine ästhetische Programmschrift grenzt das Reich der Erfahrungswissenschaften von unten und oben mit regulativen Prinzipien ein und deutet so auf notwendige Momente innerweltlicher Transzendenz in der Wahrnehmung des ganzen Menschen. In verschiedenen Gesten, in der romantischen Kunstreligion, in Goethes Konzept der ›Weltfrömmigkeit‹, wird die Literatur bei aller Bereitschaft, sich mit den Erfahrungswissenschaften ihrer Zeit zu verbinden,50 einen ästhetisch-ethischen 48

49 50

Die Werke Freuds werden im folgenden nach den Ausgaben: Gesammelte Werke chronologisch geordnet. Hrsg. von Anna Freud u.a., Studienausgabe, unter den Siglen GW und STA zitiert, hier GW 7, 33f., 70. J. G. Herder, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Werke in zehn Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, S. 314, 316. Zur Verbindung von Literatur und Anthropologie sowie Medizin kann die vorliegende Studie auf eine breite Forschung zurückgreifen, wobei insbesondere die Melancholie-Studien hervorgehoben seien: R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie; G. Mattenklott, Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang; W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft; H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung; M. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur. Siehe im weiteren: H. Thomé, Roman und Naturwissenschaft; Thomé, Autonomes Ich und ›Inneres Ausland‹; A. Bennholdt-Thomson und A. Guzzoni, Der ›Asoziale‹ in der Literatur um 1800; J. Osinski, Über Vernunft und Wahnsinn; T. Anz, Gesund oder krank?; S. Richter, Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain; M. Fick, Sinnenwelt und Welt-

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Vorbehalt formulieren gegen deren Alleinvertretungsanspruch im Hinblick auf den ganzen Menschen. Jedoch nicht allein solche textimmanenten Selbstbescheidungen sprechen dafür, daß der psychosomatische Diskurs nicht in einer medizinischen Einzeldisziplin aufgeht. Mit der psychosomatischen Medizin hat dieser Diskurs zwar pragmatische Anwendung und institutionelle Verankerung gefunden, beendet ist er hingegen nicht. Die disziplinären Territorialkämpfe um den ganzen Menschen halten bis heute an wie die jüngsten Herausforderungen der Hirnforschung an die Adresse von Philosophie, Theologie und Rechtsprechung dokumentieren.51 Die vorliegende Studie erzählt von solchen Auseinandersetzungen exemplarisch. In der Goethezeit formiert sich in der Psychiatrie, der Literatur und der Philosophie ein gemeinschaftlicher Heilungsanspruch im engen intertextuellen Austausch. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts werden die Konfrontationen im Zuge der Pragmatisierung und Institutionalisierung von Wissen schärfer. Es geht um die gesellschaftliche Anerkennung von Einzeldisziplinen, so arbeitet die Psychiatrie im Kontext des Falls Woyzeck an der Bestätigung ihrer Gutachtenkompetenz vor Gericht. Und es geht um Lehrstühle, wie die Dilthey-Ebbinghaus-Kontroverse zeigt, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert vor dem Hintergrund abspielt, daß immer mehr philosophische Professuren mit naturwissenschaftlich ausgerichteten Psychologen besetzt werden (Kap. V.2.2). Ist der psychosomatische Diskurs also nicht allein die Vorgeschichte einer medizinischen Fachdisziplin, so bleibt zum abschließenden Datum 1936 noch etwas zu sagen. Die Psychosomatik geht ins Exil Mit Karl Jaspers’ Nietzsche-Monographie wird die Fallgeschichte Nietzsche in dieser Untersuchung beendet. Es profilieren sich drei Formen von Psychologie und zugleich drei unterschiedliche Hermeneutiken, die eine methodische Basis für den weiteren Umgang mit dem ganzen Menschen im 20. Jahrhundert bilden. Das Erscheinungsjahr von Jaspers’ Buch 1936 verweist aber auch auf zwei weitere Zäsuren im psychosomatischen Diskurs, auf eine institutionelle und auf eine historische, die sich sprachlich sedimentiert hat. Medizinhistorisch ist das Jahr 1935 als Geburtsstunde der psychosomatischen Medizin in den USA genannt worden im Zusammenhang mit der Publikation

51

seele; G. Braungart, Leibhafter Sinn; J. Heinz, Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall; I. M. Krüger-Fürhoff, Der versehrte Körper; A. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr; I. Egger, Diätetik und Askese; B. Thums, Aufmerksamkeit. Zu Literatur und Medizin siehe: R. Wöbkemeier, Erzählte Krankheit; D. von Engelhardt, Medizin in der Literatur der Neuzeit. 2 Bde.; W. Erhart, Medizingeschichte und Literatur am Ende des 19. Jahrhunderts; R. Käser, Arzt, Tod und Text; Literatur und Medizin. Hrsg. von B. von Jagow und F. Steger. Eine exemplarische Textsammlung ist: Hirnforschung und Willensfreiheit. Hrsg. von C. Geyer.

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von Helen Flander Dunbars Forschungsüberblick zum Thema: »The heyday of the term ›psychosomatic‹ and the true beginning of psychosomatic medicine were both launched by the publication in 1935 of Dunbar’s Emotions and Bodily Changes: A Survey of Literature on Psychosomatic Interrelationships: 1910–1933«.52 1939 gibt Dunbar dann in Zusammenarbeit mit Franz Alexander die Zeitschrift ›Psychosomatic Medicine‹ heraus, 1942 wird die ›American Society for Research in Psychosomatic Problems‹ gegründet. Entsprechende Zeitschriftenprojekte gibt es in Europa aus Gründen erst Jahre später: in der Schweiz ab 1953 (›Acta psychotherapeutics, psychosomatica et orthopaedagogica‹), in Deutschland ab 1954 (›Zeitschrift für Psychosomatische Medizin‹) und ab 1956 in Italien (›Medicina psico-somatica‹) und England (›Journal of psychosomatic research‹).53 Warum sich der bis dato vorrangig deutschsprachige psychosomatische Diskurs zu einem amerikanischen wandelt und dort institutionalisiert, ist auf Hitler, den Nationalsozialismus und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zurückzuführen: The exodus of Jewish psychoanalysts from Europe following the rise of Hitler and the outbreak of World War II shifted the centre of psychosomatic activities to the USA.54 Die ersten Vertreter dieser Psychosomatik waren mithin Psychoanalytiker und als solche fast ausnahmslos alle Juden, und infolgedessen wurden sie von den Nationalsozialisten verjagt und ermordet.55

Das Wort ›psychisch-somatisch‹ (Heinroth) hat sich in der besonderen, durch den Idealismus und die Naturphilosophie geprägten Debatte der frühen deutschen Psychiatrie herausgebildet, und auch die weitere Verständigung über den leibseelischen Zusammenhang bleibt, vermittelt über Johannes Müllers Konzeption des Reflexbogens, deren Übertragung auf die Psyche durch Wilhelm Griesinger, über die von Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner entwickelte Psychophysik bis zu Sigmund Freuds Psychoanalyse, an diesen Entstehungszusammenhang und den deutschsprachigen Raum gebunden. Der Begriff Psychosomatik und das entsprechende medizinische Verständnis werden im frühen 20. Jahrhundert beinahe ausschließlich von der Psychoanalyse getragen.56 Die wissenschaftsgeschichtliche Dimension der historischen Zäsur des Nationalsozialismus zeigt sich in den Lebensläufen dieser frühen Psychosoma52 53 54 55 56

Z. J. Lipowski, What Does the Word ›Psychosomatic‹ Really Mean? S. 156. Vgl. B. Stokvis, Psychosomatik, S. 439. E. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 22. Siehe hierzu auch H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 1162–1165. A.-E. Meyer und U. Lamparter, Vorwort, S. 1. Vgl. A.-E. Meyer, Eine kurze Geschichte der Psychosomatik, S. 35f. »During the twentieth century the field was for a while monopolized by psychoanalysts.« E. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 17.

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tiker. Felix Deutsch (1884–1964), Wiener Internist und Psychoanalytiker, Ehemann von Helene Deutsch und zeitweise Hausarzt Freuds, macht in den 20er Jahren den Begriff ›Psychosomatik‹ im deutschen Sprachraum bekannt.57 Er emigriert 1936 gemeinsam mit seiner Frau nach Boston, wo er u.a. mit Titeln wie ›Psychoanalysis and Psychosomatic Medicine‹ (1952) einen Beitrag zur aufstrebenden Psychosomatischen Medizin in den Vereinigten Staaten leistet. 1939 bis 1941 nimmt Deutsch eine Professur für Psychosomatische Medizin an der Washington University Medical School in St. Louis wahr, kehrt dann aber nach Boston zurück. Er gehört auch dem beratenden Herausgeberkollegium von ›Psychosomatic Medicine‹ an. 1938, nach dem ›Anschluß‹ Österreichs an das Deutsche Reich, entzieht ihm die Wiener Universität die venia legendi. Franz Alexander (1891–1964), erster Ausbildungskandidat des Berliner Psychoanalytischen Instituts, dann dortiger Dozent und Lehranalytiker, wandert bereits 1930 nach Chicago aus, wo er den ersten Lehrstuhl für Psychoanalyse weltweit erhält und zum wichtigsten Vertreter der Chicago School of Psychoanalysis wird. 1939 begründet er gemeinsam mit Flanders Dunbar und Stanley Cobb die Zeitschrift ›Psychosomatic Medicine‹ und erwirbt sich durch seine Studie ›Psychosomatic Medicine‹ (1950) die Bezeichnung »father of psychosomatic medicine«.58 Otto Fenichel, der u.a. zu ›Hysterien und Zwangsneurosen‹ (1931) publiziert, ist von 1922–1933 Mitglied des Berliner Psychoanalytischen Lehrinstituts und emigriert 1933 zunächst nach Norwegen, dann in die Tschechoslowakei, 1938 geht er in die USA.59 Der Analytiker Paul Schilder hatte in den 20er Jahren zum ›Körperschema‹ (1923) und zum ›Leibseelenproblem‹ (1925) gearbeitet und übersiedelt 1932 endgültig in die USA, wo er Beiträge zu ›The somato-psyche in psychiatry and social psychology‹ (1934) und zur Hysterie veröffentlicht.60 Und auch die in dieser Untersuchung ausführlicher zu Wort kommenden Protagonisten seien nicht vergessen. Sigmund Freud wird 1938 zur Emigration nach London gezwungen. Karl Jaspers wird 1937 in Durchführung nationalsozialistischer Rassen-Verordnungen zwangspensioniert, 1943 erhält er Publikationsverbot und entgeht 1945 mit seiner jüdischen Frau nur knapp der Deportation in ein Konzentrationslager.61 In Deutschland handelt es sich bei der Psychosomatik nach 1945 um eine Rückübersetzung aus dem Amerikanischen und um ein Wiederanknüpfen an 57 58 59 60 61

Vgl. B. Stokvis, Psychosomatik, S. 435; G. Hohendorf, Die psychosomatische Theoriebildung bei Felix Deutsch; E. Mühlleitner, Biographisches Lexikon der Psychoanalyse, S. 72ff. Franz Alexander (2009). In: Encyclopædia Britannica Online. URL: http://www.britannica. com/EBchecked/topic/13982/Franz-Alexander (28.05.2009). A. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Bd. 1, S. 329. Siehe A. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Bd. 3, S. 1263–1269; E. Mühlleitner, Biographisches Lexikon der Psychoanalyse, S. 286ff. Vgl. W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, S. 20f.; A. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Bd. 2, S. 653–656.

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Wissenschaftstraditionen, die während des Nationalsozialismus zum Schweigen gebracht und ins Exil vertrieben wurden. Thure von Uexkülls Habilitationsschrift ›Probleme und Moeglichkeiten einer Psycho-Somatik‹ erscheint 1948, und Viktor von Weizsäcker entwickelt seinen Beitrag zur Psychosomatik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Auseinandersetzung mit Sigmund Freud und der Psychoanalyse.62

62

Vgl. P. Hahn, Die Entwicklung der psychosomatischen Medizin, S. 939.

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I.

Der ganze Mensch Herders ›Plastik‹ und Hallers Reizlehre

Meines geringen Erachtens ist keine Psychologie, die nicht in jedem Schritte bestimmte Physiologie sei, möglich. Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erhoben und wie Pygmalions Statue mit Geist belebet – alsdenn können wir etwas übers Denken und Empfinden sagen.1

Mit Johann Gottfried Herders ästhetischer Programmschrift ›Plastik. Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume‹ von 1778 eine Geschichte der Psychosomatik beginnen zu lassen, ist eine Setzung, für die es gute Gründe gibt. In kaum einer anderen Schrift verschränkt sich der erfahrungswissenschaftliche Zugriff auf den ganzen Menschen mit einem utopischen Anspruch in so auffälliger Weise. Und die Vision von Erfahrungswissenschaft, die Herder hier vor Augen hat, eine Psychologie und Ästhetik auf der Grundlage von Albrecht von Hallers Physiologie, zeigt sich gerade im Hinblick auf den psychosomatischen Diskurs als richtungweisend. Denn mit Albrecht von Hallers Reiz- und Erregungslehre verbinden sich nicht nur die modernen naturwissenschaftlichen Standards von Beobachtung und Experiment, sondern mit seiner Lehre ist auch der Grundstein für die Beschreibung des Reflexbogens gelegt, der zum zentralen physiologischen Konzept der Psychosomatik im 19. Jahrhundert wird, angefangen von den Reflexneurosen bis zum Reflexbogen als wissenschaftlichem Modell für die verstehende Psychologie Wilhelm Diltheys und die Psychoanalyse Sigmund Freuds (Kap. V). Im weiteren wird Herder im 19. Jahrhundert Nachfolger finden für seine in der ›Plastik‹ vorgenommene Privilegierung des Tastsinns als menschlich-ästhetischem Grundsinn und Garanten unserer Realitätswahrnehmung. Über Ernst Heinrich Webers Versuchsanordnungen gehört der Tastsinn dann zum Fundament von Theodor Fechners Psychophysik und er gelangt auf diesem Wege in Diltheys verstehende Psychologie, die von diesem ausgehend zur Entwicklung eines Körperbildes als Grundschema für das Erkennen gelangt. Der Anwalt des historischen Verstehens Dilthey wird sich jedoch auch zurückbesinnen auf Herder

1

J. G. Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: Herder, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Werke in zehn Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, S. 340. Im folgenden wird aus diesem Band unter Nennung der Seitenzahl zitiert.

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und Condillacs Statue,2 von der ausgehend auch Herder seine gedanklichen Experimente in der ›Plastik‹ unternimmt. Mit Herders ›Plastik‹ steht zu Beginn dieser Studie nicht die eigentliche Domäne der Psychosomatik, die Krankheit, sondern ihr Gegenbild, die Gesundheit in Form der schönen menschlichen Gestalt im Vordergrund. Sie erscheint in Herders Schrift allerdings nur als ein Sehnsuchtsbild, dem in der Kunst, in der Begegnung mit antiken Statuen nachgegangen werden könne. Denn die zeitgenössische Gegenwart wird gerade durch den Verlust des schönen ganzen Menschen charakterisiert. In dieser Argumentation verdeutlicht Herders Text jedoch in besonders prägnanter Weise die im holistischen Ansatz der Psychosomatik liegende utopische Komponente. Sein Text schließt mit der erkenntnis- und ästhetikkritischen Einsicht, daß die schöne menschliche Gestalt »gleichsam nie ganz zu ertasten« (314) sei. Dies gilt auch für einen erfahrungswissenschaftlichen Zugriff auf den ganzen Menschen, der einzeldisziplinär nicht zu erreichen ist und unabschließbar erscheint. Herders Schrift ›Plastik‹ ist eine Provokation, sie ist dies in ihrer Zeit gewesen und ist es wohl auch noch für den heutigen Leser. Jedenfalls ist die ›Plastik‹ im letzten Jahrzehnt in den Literatur- und Kulturwissenschaften einer der am heftigsten diskutierten Texte Herders gewesen. Um nur einige der ihr zugeschriebenen Attribute zu nennen: Sie wurde sehr zu Recht eine »Ästhetik ›von unten‹ (Gustav Theodor Fechner)«3 genannt. Denn ihr geht es nicht allein um eine Aufwertung der niederen, sinnlichen Erkenntnisvermögen, sondern ›von unten‹ heißt hier, von der Physiologie aus zu argumentieren. Von jenen Kräften und Reizen ausgehend, die allem Leben gemeinsam sind: Pflanzen, Tieren und Menschen. Die ›Plastik‹ gehört zu Herders Projekt einer »Physiologie der Seele und des Körpers« (236). Schließlich, so weitere Stimmen, gehe diese Ästhetik jedoch nicht nur von ganz unten aus, sondern wolle nach ganz oben. Im Gewand einer Kunsttheorie verstecke sich eine »fundamentalhumanistische Programmschrift« bzw. die »Apotheose des ganzheitlichen Menschen«.4 Diese Spannweite von Herders Ästhetik – von unten nach ganz oben –, vom dunklen Gefühl zur schönen menschlichen Gestalt, soll im folgenden ausgelotet werden. In den weiteren Überlegungen wird die Figur des Blinden als argumentativer Leitfaden dienen, dieser Experte in Fragen des Tastsinns, den Herders ästhetische Programmschrift selbst auch konsultiert. Zur Provokation der ›Plastik‹ gehört

2 3 4

In meinen Überlegungen zur ›Plastik‹ wird Condillac keine Rolle mehr spielen, siehe hierzu G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 62–70. H. D. Irmscher, Johann Gottfried Herder, S. 86. Ersteres stammt von Jürgen Brummack aus dem Kommentar zur ›Plastik‹, S. 1000, letzteres von Irmscher, Johann Gottfried Herder, S. 93. Siehe im weiteren zu Herders ›Plastik‹: S. Richter, Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain, S. 90–130; U. Zeuch, Umkehr der Sinneshierarchie; G. Braungart, Leibhafter Sinn, S. 55–107; I. Mülder-Bach, Darstellung fürs Gefühl; I. M. Krüger-Fürhoff, Der versehrte Körper, S. 61–82.

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nämlich ebenso, daß sie eine Ästhetik der Blinden im Zeitalter der Aufklärung ist. Sie handelt von Blinden und ist von einem Blinden für Blinde geschrieben. Es läßt sich ahnen, daß wenigstens die beiden Letztgenannten nur metaphorisch gemeint sind. Jedenfalls soll hier dem Autor Herder das Augenlicht nicht abgesprochen werden. Gleichwohl verschließt der Sprecher der ›Plastik‹ freiwillig seine Augen, um die schöne Menschengestalt wahrnehmen zu können. Diese paradox anmutende Formulierung soll im nachfolgenden in drei Argumentationsschritten aufgelöst werden, in denen sich Herders Konzeption einer Ästhetik als Erfahrungswissenschaft profilieren läßt. Zunächst wird unter dem Vorzeichen ›Fallbeispiele und Experimente‹ auf die Funktion des Blinden und des wissenschaftlichen Experiments im Aufklärungsdiskurs eingegangen. Dann folgt Herders kritische Kulturdiagnose, die seinen Zeitgenossen eine Verkümmerung des Tastsinns vorwirft. Es kann von ›Tastblindheit‹ gesprochen werden. Schließlich wird in bezug auf den Blinden als Künstler und auf poetische Selbstversuche ein eigenständiger Beitrag der Ästhetik zu den modernen Erfahrungswissenschaften herausgearbeitet. Sie stellt einen virtuellen Raum zur Verfügung, in dem Gegenstände erfahren werden können, die in der Realität nicht oder nicht mehr existieren – so etwa laut Herders Kulturdiagnose der schöne ganze Mensch –, und in dem im Unterschied zu den Naturwissenschaften gefahrlos für Leib und Leben experimentiert werden kann. Die Entfaltung der Blindheit in Herders ›Plastik‹ zeigt, daß der Weg vom Gefühl zur Gestalt ein beschwerlicher und mühsamer ist. Herder führt uns in die Wissenschafts- und Kunstwelten der Klinik, des Labors und des Museums, um schließlich an einem höchst imaginären Ort zu enden, nämlich, wie der Untertitel der Schrift markiert, in ›Pygmalions bildendem Traume‹. Fallbeispiele und Experimente Der erste Blinde begegnet in Herders ›Plastik‹ gleich auf dem Titelblatt. Als Leitfrage ist dort formuliert: »Τι καλλος; ερωτημα τυφλου« (243), in deutscher Übersetzung: »Was ist das Schöne? Frage eines Blinden«. Diese Wendung läßt sich zweifach verstehen als Genitivus subjectivus: ein Blinder fragt, oder als Genitivus objectivus: »Eine Frage, die man an einen Blinden richten muß« (1040). Und in dieser zweiten Bedeutung soll das Motto zunächst gelesen werden. Dann nämlich zeigt sich, inwiefern sich Herders ›Plastik‹ in den englischen Empirismus und den französischen Sensualismus einschreibt.5 Die Frage nach der Schönheit stellt etwa Diderot in seinem ›Lettre sur les aveugles‹ (1749). Diderots ›Brief‹ gehört zu der das ganze 18. Jahrhundert durchziehenden Debatte über eine Hierarchie der Sinne. Für das Zeitalter charakteristisch wird diese durch die Vorherrschaft des Auges entschieden. Ihren Ausgang nimmt diese Diskussion von einem Gedankenexperiment, dem sogenannten Molyneux-Problem, das Locke in seinem ›Essay Concerning Human 5

Vgl. den Kommentar, S. 1069.

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Understanding‹ (1690) publik macht:6 Kann ein Blindgeborener nach einer erfolgreichen Operation einen Gegenstand, den er vorher nur gefühlt hat, nun auf den ersten Blick wiedererkennen? Also seine vorherigen Tasterfahrungen den neuen durch das Auge gelieferten Sinnesdaten zuordnen? Schon wenige Jahre später wird diese Frage nicht mehr spekulativ, sondern experimentell durch eine Staroperation gelöst. Das Star-Stechen, die schlagartige Vertreibung der Dunkelheit wird so zur »Urszene der Aufklärung«.7 Diderots ›Brief‹ steht dieser Form der Aufklärung bereits merklich skeptisch gegenüber. Bezeichnenderweise beginnt sein ›Brief‹ mit dem Versäumnis einer Staroperation. Diderots eigenes Verfahren, Licht in das Dunkel der Wahrnehmungswelt eines Blinden zu bringen, ist gegenüber dem medizinischen Eingriff weitaus tastender. Allerdings verbleibt auch sein Essay anfänglich noch im Rahmen des wissenschaftlichen Aufklärungsdiskurses. Techniken der Beobachtung und Befragung kommen zum Einsatz. Auch die Distanz zum Erkenntnisgegenstand wird zunächst noch gewahrt. Mit dem Titel ›Brief über die Blinden. Zum Gebrauch der Sehenden‹ verortet sich der Autor ja auf der Seite der Sehenden. Schließlich muß jedoch die Einbildungskraft einspringen, um einen Zugang zur gänzlich anderen Welt des Blinden zu eröffnen. Diderots ›Brief‹ kulminiert im Mythos vom blinden Dichter. Herder wird diese imaginative Überschreitung der Aufklärung in der ›Plastik‹ weiterführen. Zunächst notiert er sich im ›Reisejournal‹: »Diderot kann Vorbild sein, Versuche zu machen«.8 Auf den ersten Seiten der ›Plastik‹ begegnen dem Leser dann Diderots Blinde wieder. Sie werden im Text als empirische Beweise für eine Hypothese vorgestellt, nämlich »daß das Gesicht uns nur Gestalten, das Gefühl allein, Körper zeige: daß Alles, was Form ist, nur durchs tastende Gefühl, durchs Gesicht nur Fläche, und zwar nicht körperliche, sondern nur sichtliche Lichtfläche erkannt werde.« Die Fallbeispiele könnten auch für die im weiteren Textverlauf gemachte, grundlegende Einsicht stehen, daß die Sinne sich wechselseitig ersetzen können. So heißt es etwa von Diderots Blindem: »Sein feines richtiges Gefühl ersetzte ihm, in seiner Meinung, das Gesicht völlig.« Diese Meinung macht sich Herder in der ›Plastik‹ zu eigen. Ab diesem Zeitpunkt wird Blindheit als Verlust des Sehvermögens im Text nicht mehr als Defizit thematisiert. Die Kombinatorik der Sinne, ihre enge Verflochtenheit ist nämlich eine Prämisse auf der Herders ganze Ästhetik ruht. Anhand eines Staroperierten hätte schließlich gefolgert werden können, Sehen sei ein schwieriger Vorgang, der erst erlernt werden muß und auf die Hilfe des Tastvermögens angewiesen ist. Die visuelle Wahrnehmung wird dem Erlernen einer Schriftsprache gleichgesetzt. Den langsamen Weg eines Staroperierten zum Sehen schildert Herder folgendermaßen: »bis sein Auge Fer6 7 8

Siehe hierzu den Kommentar, S. 980ff.; P. Utz, Das Auge und das Ohr im Text, S. 19–38; I. Mülder-Bach, Darstellung fürs Gefühl, S. 60f. P. Utz, »Es werde Licht!«, S. 373. J. G. Herder, Herder und der Sturm und Drang (1764–1774). Werke. Hrsg. von W. Proß. Bd. 1, S. 450.

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tigkeit erhielt, Figuren des Raums als Buchstaben voriger Körpergefühle anzusehen, sie mit diesen schnell zusammen zu halten, und die Gegenstände um sich zu lesen.« (245ff.) All diese Schlüsse zieht Herder zu Beginn seiner Abhandlung jedoch noch nicht – sie kommen erst später zur Sprache –, sondern in seinen ersten Argumentationsschritten gebraucht er die Blinden auf andere Weise. Sie bieten ihm die Möglichkeit, die Sinne zu zergliedern. Jedem Sinn einen bestimmten Wirklichkeitsbereich zuzuordnen und schließlich eine bestimmte Kunstform. Mit seinen als Skalpell geführten Schreibinstrumenten, Federmesserchen und Gänsekiel, zerteilt er die Sinne und die Künste. Dem Tastsinn wird die Wahrnehmung von Körpern und damit die Bildhauerkunst, eben die Plastik zugedacht. Dieser Sinn wird mit den Merkmalen qualifiziert: dunkel, langsam, gründlich, wahrhaft. Die Bildhauerkunst wird auf die Darstellung schöner menschlicher Gestalt beschränkt. Der Tastsinn als fundamentaler Realitätssinn und die Plastik als jene Kunst, in der sich verkörperte Subjektivität allein erfahren kann, dies scheint das abschließende Resultat von Herders Vivisektion in der ›Plastik‹ zu sein. Demgegenüber wird der Kontrahent, der Sehsinn, in einfacher Opposition skizziert: er ist licht, schnell, oberflächlich und trügerisch. Die ihm zugeordnete Kunstform, die Malerei, produziert dementsprechend Trugbilder. Die drei anderen Sinne, Gehör, Geschmack und Geruch, spielen explizit keine Rolle. Daß Ohr und Mund und in diesem Zuge auch eine weitere Kunstform, nämlich die Poesie in der ›Plastik‹ durchaus noch ihren Auftritt haben, davon wird später zu handeln sein. Zunächst stehen noch Herders empirische Beispiele und ihre Funktion im Text im Vordergrund der Überlegungen. Der abschließende fünfte Abschnitt der ›Plastik‹ bringt noch einmal einen solchen Fall zur Sprache. Nun befindet sich Herder selbst in der Rolle des Feldforschers. Er berichtet von der Befragung einer Blindgeborenen, deren Antworten seine vorherigen Ausführungen zu den schönen Formen bis aufs Wort bestätigen. Hier benennt er den methodischen Stellenwert solcher Befragungen und damit den Gebrauch, den er von den Blinden macht: »Übrigens halte ich Mängel von dieser Art für die einzige sicherste Quelle, unsre Sprache und Begriffe der so verflochtenen Sinnlichkeit zu scheiden und jedem Sinne wiederzugeben, was sein ist.« Für eine »praktische Vernunftlehre« erscheinen ihm »Versuche der Art Leitfaden [zu] sein«. Mit dieser empirischen Rahmung seiner Ästhetik stellt sich Herder also dezidiert in den Kontext des Empirismus und Sensualismus. ›Ästhetik von unten‹ heißt dann auch Ästhetik als Erfahrungswissenschaft zu betreiben, die mit Beobachtung und Experiment arbeitet und der die so erhobenen Daten zur »einzig sichersten Quelle« (310) werden. Mit diesem Interesse an den Blinden, deren ›Mängel‹ Möglichkeiten zur anthropologischen Grundlagenforschung bieten, steht der Spätaufklärer Herder noch deutlich in dem als Gedankenexperiment begonnenen philosophisch-naturwissenschaftlichen Aufklärungsdiskurs. Dieser war von der strikten Trenn- und Meßbarkeit der einzelnen Sinnesleistungen ausgegangen. 31

Albrecht von Hallers Tierversuche Für Herders Ästhetik von unten gibt es jedoch noch weitere Versuchsfelder. Diese werden in der ›Plastik‹ durch Begriffe wie Reiz, Tonus und Sympathie angesprochen, die aus dem medizinischen Bereich stammen. So verstand das 18. Jahrhundert unter Sympathie zunächst und vorrangig einen Schmerz, ein Mitleiden eines Organs mit einem benachbarten kranken Organ, z.B. ›leidet im Seitenstechen wegen der Sympathie das Athemholen‹.9 Mit dem Begriff des Reizes macht sich Herder die physiologische Grundlagenforschung Albrecht von Hallers (1708–1777) zu nutze. Dieser hatte seit 1746 systematisch mit Tierversuchen die Grundkräfte des Lebendigen in der Irritabilität der Muskelfaser und der Sensibilität der Nervenfaser entdeckt. Die Irritabilität der Muskelfaser ist für die Eigenbewegung der tierischen und auch menschlichen Maschine verantwortlich. Vor allem die Tätigkeit des Herzmuskels konnte so erklärt werden. Muskeln reagieren auf Reiz mit Kontraktion. Die Sensibilität der Nervenfasern zeichnet sich hingegen dadurch aus, daß sie auf Reiz nicht mit Zusammenziehung reagieren, sondern bei den Tieren eine Schmerzreaktion zu beobachten war. Die Fähigkeit zu empfinden, wurde so als Reaktion auf einen Reiz beschrieben. Dieser Nachweis mußte natürlich am lebenden Organismus geführt werden. Um einen Eindruck solcher Versuchsanordnungen zu vermitteln, sei ein Abstecher in Hallers Labor gestattet: Ich habe bei lebendigen Tieren von mancherlei Gattung und von verschiedenem Alter, denjenigen Teil entblößet, von welchem die Frage war; ich habe gewartet, bis das Tier ruhig gewesen ist, und zu schreien aufgehört hat, und wenn es still und ruhig war, so habe ich den entblößten Teil durch Blasen, Wärme, Weingeist, mit dem Messer, mit dem Ätzsteine, (Lapis infernalis) mit Vitriolöle, mit der Spießglasbutter, gereizet. Ich habe alsdann Acht gehabt, ob das Tier durch berühren, spalten, zerschneiden, brennen oder zerreißen, aus seiner Ruhe und seinem Stillschweigen gebracht würde; ob es sich hin- und herwürfe, oder das Glied an sich zöge, und mit der Wunde zückte, ob sich ein krampfhaftes Zücken in diesem Gliede zeigte, oder ob nichts von dem allen geschähe.10

In Herders ›Plastik‹ werden diese durch Reiz hervorgerufenen Merkmale des Lebens, Bewegung und Empfindsamkeit, auch zu notwendigen Eigenschaften 9

10

Vgl. Art. Sympathie, Simpathie, Sympathia. In: J. H. Zedler, Grosses vollständiges UniversalLexikon, Bd. 41 [1744], Sp. 744–750; »in der sphäre naturmystischer vorstellungen von einer geheimen physischen oder physiologischen verbindung zwischen körpern anorganischer oder organischer natur«; »im engerem sinne für das auf eine solche naturauffassung sich gründende heilverfahren oder zauberartige beeinflussungen, die mit geheimnisvoll auch aus der entfernung wirkenden mitteln arbeiten«, J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch. Bd. 20, Sp. 1396. Siehe zum Sympathiebegriff im weiteren: H. Schott, Sympathie als Metapher in der Medizingeschichte; E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 52f. A. v. Haller, Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, S. 15. Zu Haller siehe R. Toellner, Albrecht von Haller (1708–1777). In: Klassiker der Medizin. Hrsg. von D. von Engelhardt und F. Hartmann. Bd. 1, S. 245–261; J. Jantzen, Physiologische Theorien, S. 402–411.

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des Schönen. So müsse die Statue in Bewegung, in Handlung gezeigt werden. Nur dann sei sie als »durchlebter Körper« (300) erfahrbar. Auch der Schmerz als Kriterium für Empfindsamkeit spielt etwa im Falle des Laokoon eine Rolle. Gerade der zu edler Einfalt und stiller Größe sublimierte Schmerz des Laokoon hebt sich als Zeichen eines höheren Lebens von den ›aus dem Stillschweigen gebrachten‹ Tieren Hallers ab. Diese Versuche haben allerdings nicht nur im übertragenen Sinn, sondern auch buchstäblich Eingang in Herders Texte gefunden. Und dieser Abstieg der Philosophie in die Niederungen der Physiologie bringt Stilblüten ganz eigner Art hervor. Der folgende Hymnus auf die Liebe gibt davon ein Beispiel: »Endlich der tiefste Reiz, so wie der mächtigste Hunger und Durst, die Liebe! Daß sich zwei Wesen paaren, sich in ihrem Bedürfnis und Verlangen Eins fühlen; [...] welche Würkung des Reizes im ganzen lebenden Ich animalischer Wesen! Tiere haben sich noch ohne Haupt begatten können, wie ein ausgerissenes Herz noch lange reizbar fortschlägt.« (336) Diese Textstelle zeigt auch welchen Gebrauch Herder von Hallers Reiz macht. Reiz und Liebe, die unterste und die höchste Kraft des Lebens werden ineinander geflochten. Der Reiz verbindet Körper und Seele. Er ist das Band zwischen Muskeln, Sinnen, Einbildungskraft und Vernunft. Der Reiz macht den Menschen zu einem ›ganzen lebenden Ich‹. Für den Mechanisten Haller hingegen hat der Reiz gar nichts mit der Seele zu tun, sondern ist allein auf die Maschine des Körpers beschränkt. Und auch dort sind nur wenige Teile reizbar. Die »äußere Haut«, »als der Sitz des Gefühls«,11 also des Tastsinns, ist z.B. gerade nicht reizbar. Mit dieser Einsicht wird Herder im Grunde die physiologische Basis seiner Erkenntnislehre und Ästhetik entzogen, die ja auf der engen Verbindung von Reiz und Gefühl beruht. Es lassen sich noch weitere solcher ›Übersetzungsfehler‹ feststellen. So etwa, wenn Herder Hallers bewußt als eine Theorie mittlerer Reichweite konzipierte Reizlehre zum regulativen Prinzip erhebt. Reiz ist dann jene Kraft, an die geglaubt oder die vorausgesetzt werden muß, um die Wirklichkeit als einen sinnvollen Wirkzusammenhang erfahren zu können. Es scheinen aber Übersetzungsfehler mit System zu sein, so daß man mit Simon Richter von einer produktiven »misinterpretation« oder mit Jürgen Brummack von einem »bewußt geübten Verfahren«12 der Belebung Hallers sprechen kann. So jedenfalls formuliert Herder: »Hallers physiologisches Werk zur Psychologie erhoben und wie Pygmalions Statue mit Geist belebt – alsdenn können wir etwas übers Denken und Empfinden sagen.« (340) ›Einige Wahrnehmungen [...] aus Pygmalions bildendem Traume‹ lautet der Untertitel der ›Plastik‹, der wir also auch bei Hallers Tierversuchen nicht allzu fern sind. 11 12

A. v. Haller, Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, S. 34. S. Richter, Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain, S. 90–130, S. 105; Kommentar, S. 1085. Meine Ausführungen zu Herder und Haller sind der Studie von Simon Richter verpflichtet, die die Autonomieästhetik insgesamt einer grundlegenden anthropologischen Revision unterzieht.

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Die Fallbeispiele der Blinden und Hallers Versuche geben Gelegenheit, Herders Profilierung der Ästhetik als Erfahrungswissenschaft deutlicher herauszuarbeiten. Einerseits setzt er sich äußerst polemisch von einer spekulativen Philosophie ab, die sich allein der Zergliederung von Begriffen ohne Anschauungsbasis widmet. Andererseits kritisiert er auch fast unmerklich die experimentelle Naturwissenschaft. Zum einen läßt Herders hochfrequentes Wahrnehmungssensorium für Individualität eine Wissenschaft an ihre Grenzen kommen, die, um Gesetzmäßigkeiten beweisen zu können, auf die beständige Wiederholbarkeit ihrer Versuche setzt. Genau hierfür steht Albrecht von Haller in der Wissenschaftsgeschichte.13 Im selben Atemzug mit dem Herder Haller feiert, spricht er auch aus: »Sind keine zwei Dinge auf der Welt gleich, hat kein Zergliederer noch je zwo gleiche Adern, Drüsen, Muskeln und Kanäle gefunden« (341). Und dies gilt ebenso für die Sinneswahrnehmungen jedes einzelnen Menschen: »keine zween Maler und Dichter haben Einen Gegenstand, wenn auch nur Ein Gleichnis, gleich gesehen, gefaßt, geschildert«, und für die menschliche Seele insgesamt: »Keine zwei Sandkörner sind einander gleich, geschweige solche reiche Keime und Abgründe von Kräften, als zwo Menschenseelen« (349, 385). Befinden sich Erkenntnisobjekt und -subjekt so jeweils in einer einmaligen, unvergleichbaren Situation, so bleibt für eine Erfahrungswissenschaft nur noch der eine Ausweg: sich auf die möglichst genaue Beschreibung solcher Situationen zu verlegen. Verallgemeinern lassen sich diese dann nicht über Gesetzmäßigkeiten oder Kausalitäten, sondern über das methodische Verfahren der Analogie. So können Ähnlichkeiten nahegelegt werden. Und eine Wissenschaftsprosa des analogischen Denkens könnte dementsprechend durch die Art und Weise ihrer Handhabung von Worten und Begriffen, durch die Metapher, das ›Anderswohin tragen‹, Analogien zwischen den verschiedenen Erfahrungsbereichen stiften: vom Labor zur Kunst und zurück. Sind Reiz und Lebenskraft bloß regulative Prinzipien, an die man vernünftigerweise glauben oder die man voraussetzen sollte, so macht das metaphorische nur hinweisende Sprechen auch auf diesen Unterschied zwischen Wissen und Glauben aufmerksam. Beide Mottos der 1778 erscheinenden Schriften ›Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele‹ und ›Plastik‹ machen auf die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens aufmerksam, zum einen in biblischer Sprache: »Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fähret« (Joh 3,8), und das bereits zitierte Motto der ›Plastik‹: »Was ist das Schöne? Frage eines Blinden.« Wurde im vorangehenden 13

So beruft sich Johannes Müller noch 1834 auf Hallers erfahrungswissenschaftliche Autorität: »Haller’s ›Elementa physiologiae‹ sind der Codex aller älteren Erfahrungen«, und benennt die entsprechenden wissenschaftlichen Standards: »Zu einem guten physiologischen Experiment gehört, dass es gleich einem guten physicalischen Versuche an jedem Ort, zu jeder Zeit, unter denselben Bedingungen dieselben sicheren und unzweideutigen Phänomene darbiete, dass es sich immer bestätige.« Handbuch der Physiologie. Bd. 1, S. 627.

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für den Genitivus objectivus, z.B. Herders Frage an die Blindgeborene optiert, so rückt nun auch der Genitivus subjectivus ›Frage eines Blinden‹ als Selbstbezichtigung in den Blick. Sind Wahrnehmungssituationen in dem oben skizzierten Maße individuell, so wird es nicht ausreichen, allein die Blinden über eine Kunstform zu befragen, die vor allem durch den Tastsinn wahrgenommen werden soll. Deren Antworten können zwar per analogiam produktiv in das eigene Sprechen eingebunden werden, die eigene Erfahrung ersetzen sie jedoch nicht. Eine weitere Konsequenz der von Herder diagnostizierten Individualität der Wahrnehmungssituation ist die methodische Einführung des Selbstversuchs in die Erfahrungswissenschaft. Der Involviertheit des Forschers in sein Experiment muß Rechnung getragen werden. In den Naturwissenschaften ist solche Relativität erst im 20. Jahrhundert konsequent berücksichtigt worden. Die Wendung ›methodische Einführung‹ mag etwas hoch gegriffen erscheinen, allerdings sind Herders Texte durchgängig vom Charakter des Selbstversuchs geprägt. Indem Herder in der ›Plastik‹ das Experimentierfeld von Hallers Labor in das Museum, die Antiken-Sammlung verlegt, verändert sich auch das Rollenspiel zwischen den Versuchsteilnehmern. Es rückt die Erkenntnis in den Blick, daß in solchen Szenarien die Würde des Menschen nur dann gewahrt bleibt, wenn sie auch dem Versuchsobjekt zugesprochen wird. Während der eine mit Messer und Ätzstein reizte und das Tier nur zucken und schreien konnte, sind Reiz und Reaktion im Wechselspiel von Statue und Betrachter in Herders ›Plastik‹ gleichberechtigt auf beiden Seiten vorhanden. Die Kunsterfahrung wird als ein Versuch geschildert, aus dem beide Partner verändert hervorgehen. Es handelt sich um einen Vorgang wechselseitiger Belebung: Eine Statue muß leben: ihr Fleisch muß sich beleben: ihr Gesicht und Miene sprechen. Wir müssen sie anzutasten glauben und fühlen, daß sie sich unter unsern Händen erwärmt. Wir müssen sie vor uns stehen sehen, und fühlen, daß sie zu uns spricht. Siehe da zwei Hauptstücke der Skulptur Fleisch und Geist! (1016)

Aus der Tortur zur Wissensgewinnung wird so ein Liebesspiel. Mit dem Untertitel der Schrift ›Wahrnehmungen aus Pygmalions bildendem Traume‹ wird ja auf jenen von Ovid in den ›Metamorphosen‹ geschilderten Künstler angespielt, der sich in eine von ihm selbst geschaffene Statue verliebt, Venus um ihre Belebung bittet und diese schließlich zur Gemahlin nimmt.14 Bislang wurde über jene Teile der ›Plastik‹ gehandelt, in denen Herder als Aufklärer und Analytiker auftritt: Er trennt Sinne, Begriffe und Kunstformen, und dies ausgehend von einer Labor- und Feldforschung aus zweiter oder dritter Hand. Haller und die Fallbeispiele der Blinden wurden genannt. Im anderen Teil der ›Plastik‹, der sich auch im Sprachduktus deutlich unterscheiden 14

Vgl. Ovid, Metamorphosen, X 227–288. Zu Herders Schrift im Kontext der Pygmalion-Mythe s. Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hrsg. von Mathias Mayer und Gerhard Neumann.

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läßt, geht es um das Verbinden, anstatt Trennen, um die kunstvolle Nachbildung der menschlichen Gestalt. Bevor Herders Kunsterfahrung als Selbstversuch Beachtung findet, sei jedoch seine kulturkritische Diagnose zum Verlust des Tastsinns in der Moderne vorgeschaltet. Denn erst in diesem Zusammenhang wird klar, was mit der ›Plastik‹ auf dem Spiel steht. Und Herder tritt uns nun als scharfer Aufklärungskritiker entgegen. Kulturdiagnose: Moderne Tastblindheit Der Begriff der Tastblindheit findet sich in Herders Text nicht, sehr wohl aber die zugrunde liegende Diagnose. Nicht nur, daß Herder gleich zu Beginn der ›Plastik‹ Blindheit nicht als Mangel darstellt, sondern er entwirft das Idealbild des ›edlen Blinden‹, das kulturkritisch der eigenen Zeit vorgehalten wird. Der Topik des Rousseauismus gemäß verschränkt es sich mit dem ›edlen Wilden‹ und dem Kind. Phylo- und ontogenetisch ist das Gefühl, der Tastsinn der erste und grundlegendste Zugang zur Wirklichkeit. Und zwar 1. als körperliche Selbsterfahrung – wir betasten uns selbst, 2. als Realitätssinn, der uns Substanz und Körperlichkeit der Außenwelt vermittelt, und schließlich 3. als ursprünglicher Sinn, aus dem sich alle anderen Sinne durch Verfeinerung entwickeln und der darum auch als vereinigendes Band zwischen den Sinnen fungiert. Sowohl am Blinden als auch am Kind veranschaulicht Herder, daß es sich bei dem Tastsinn somit um die sicherste Erkenntnismethode handelt. So heißt es vom Blinden: »Es ist erprobte Wahrheit, daß der tastende unzerstreute Blinde sich von den körperlichen Eigenschaften viel vollständigere Begriffe sammelt, als der Sehende, […] und mit der Methode, sich seine Begriffe langsam, treu und sicher zu ertasten, wird er über Form und lebendige Gegenwart der Dinge viel feiner urteilen können« als der Sehende. Auch von der »Spielkammer des Kindes« wird uns kein weniger optimistisches Bild gezeigt. Denn von dem »kleinen Erfahrungsmenschen« weiß er zu berichten, dieser »fasset, greift, nimmt, wägt, tastet, mißt mit Händen und Füßen, um sich überall die schweren, ersten und notwendigsten Begriffe von Körpern, Gestalten, Größe, Raum, Entfernung u. dgl. treu und sicher zu verschaffen. Worte und Lehren können sie ihm nicht geben; aber Erfahrung, Versuch, Proben.« (249f.) Herders zwiespältiges Verhältnis zur Aufklärung läßt sich wohl kaum an einer anderen Stelle prägnanter fassen: Einerseits die Emphase für den Erfahrungsmenschen und die handgreiflichen Erkenntnismethoden des Versuchs, andererseits die Skepsis gegenüber den Vermögen, Gesicht und Vernunft, den Protagonisten und den Orten, mit, durch und an denen zeitgenössisch Erfahrungswissenschaft betrieben wird. Blinde, Kinder und Wilde, ihr verfeinerter Tastsinn und die Räume der Dunkelheit, des Spielzimmers und der Höhle bilden den Kontrapunkt zu den Sehenden, den Erwachsenen und den Modernen, ihrem omnipotenten Sehvermögen und den Räumen des Lichts, der Gelehrtenstube und des Museums. Im Rollentausch sind nun jene, die sich in Medizin, 36

Philosophie und Pädagogik üblicherweise als Erkenntnisobjekt auf der unterlegenen Seite der Versuchsanordnung befinden, zu Subjekten geworden. Das Gefühl, der Tastsinn wird in diesem Vorgang zum ethischen Maßstab auch der Vernunft, da er auf verschiedenen Ebenen für Ganzheitlichkeit verantwortlich ist. Entwicklungsgeschichtlich leistet er dies, da er als erster Sinn den anderen Sinnen als sicheres Fundament dient. Sehen lernen wir, laut Herder, nur durch Abgleich dieser Sinnesdaten mit jenen, die uns auf langsamerem Wege zuvor das Gefühl geliefert hatte. Der Tastsinn ist Stütze der anderen Sinne, so wie im ersten Satz der ›Plastik‹ der Blindenstab als Verlängerung der »fühlenden Hand« (245) dient. Alle menschlichen Wahrnehmungsorgane und Erkenntnisvermögen bedürfen solcher Hilfsorgane und Prothesen. Zum einen verbürgt das Gefühl also insgesamt ganzheitliches Wahrnehmen und Erkennen, zum anderen insbesondere die Wahrnehmung dreidimensionaler Körperlichkeit. Und genau dieser Sinn, so diagnostiziert Herder, ist uns in der Moderne verloren gegangen: »wir sehen endlich so viel und so schnell, daß wir nichts mehr fühlen, und fühlen können«; »wir sehen so viel, daß wir gar nichts sehen und wissen so viel, daß gar nichts mehr unser [...] ist [...]. Die Natur ist von uns gegangen, und hat sich verborgen, Kunst und Stände, und Mechanismus und Flickwerk sind da« (250, 302). Das Gefühl ist durch das Gesicht verdeckt und verkürzt worden. Es geht also nicht mehr allein um eine zum Menschsein dazugehörige Mangelerscheinung, wie sie etwa das Motto der Schrift ›Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele‹ in biblischer Sprache indizierte, sondern es handelt sich um eine kulturgeschichtliche Fehlentwicklung, die Herder in der ›Plastik‹ diagnostiziert. In den Vorstudien zur ›Plastik‹ hat Herder dies sogar noch schärfer gefaßt. Nicht allein der Tastsinn ist in unserer Kulturgeschichte verkümmert, sondern auch das, was er wahrnehmen soll: der schöne menschliche Körper. Der Vergleich zwischen einem griechischen Apollo und der eigenen Physiognomie fällt betrüblich aus. »Aber nun muß ich sehen, ob die Ärme vorgebogen sind, wie bei uns? ob der Hals und Brustknochen vorstehe? Mich dünkt, die Erhobenheit der Brust in einem Apollo widerspreche alle dem: und denn wären unsre eingedrückte Brust, unsre erhobne Ärme, unsre fleischige Brüste Folgen unsrer Windeln, und unsrer Generation.« (1021) Wir haben uns also weit von der schönen Natur des griechischen Körpers entfernt. Die griechische Plastik zeigt uns den Körper in seiner Unschuld, in seinem paradiesischen Zustand. Anhand antiker Plastiken läßt sich eine Physiologie des Körpers im Idealzustand treiben; sie ersetzt das Hallersche Projekt. Die Plastik stellt einen schönen, unversehrten und gesunden Körper dar, vor seinem kulturellen Sündenfall. Anders als im Falle der Blinden, wo der Begriff Krankheit sorgfältig vermieden wurde, taucht im Horizont der Kulturkritik nun das ganze breite Wortfeld des Pathologischen auf mit einer sehr klaren Rollenverteilung: Dem modernen Betrachter fällt 37

die Rolle des Kranken zu, während die antike griechische Bildhauerkunst den gesunden Körper in seiner Vollkommenheit gestaltet hat. An ihr ist abzulesen: »daß jede Form der Erhabenheit und Schönheit am menschlichen Körper eigentlich nur Form der Gesundheit, des Lebens, der Kraft, des Wohlseins in jedem Gliede dieses kunstvollen Geschöpfes« (296) ist. Mit der Gesundheit verbinden sich die Begriffe ›Ebenmaß‹, ›Ordnung‹ und ›Mäßigung‹. Griechische Diätetik und griechische Tugendlehre stehen im Hintergrund dieser Wortwahl.15 Ebenmaß zwischen Körper und Seele, zwischen den Gliedmaßen und den Affekten, zwischen Erkennen und Wollen sowie schließlich zwischen Anschauung und Tätigkeit ist hier gemeint. Bei der Schilderung des zeitgenössischen Körpers entwirft Herder hingegen ein wahres Panoptikum der Deformation, ein Monstrositätenkabinett, hier fehlt jegliches Ebenmaß. Von Schwellköpfen ohne Körper, von »Seelengerippen mit Glutaugen«, von »zusammen gebeinter Abstraktion«, von »Höckern und Ungeheuern« (383) ist die Rede. Was diesen Verfall des ganzen Menschen seit der Antike bewirkt hat, beschreibt Herder als ein Ineinander falscher Körper- und Kulturpraktiken. Die Seele bildet sich zwar den Körper (1034), sie kann ihn aber auch verbilden. Als ein Element solcher Verbildung nennt er die »Chinesisch-GothischChristliche Zucht« (1021), womit er Praktiken der Einschnürung und Verdekkung insbesondere des weiblichen Körpers anspricht: der Füße, der Taille, der Brust. Ein weiteres Element ist das »liebe Sitzleben« und dessen Wirkung auf »Körper und Geist«: »Es verdumpft die Stimme und stumpft das Auge, noch mehr aber Sinn und Seele.« (293)16 Auch Überlegungen zur »Nationalbildung« (1023) der Körper finden sich in diesem Umfeld. Was Herder diagnostiziert, ist also nicht nur ein psychosomatischer, sondern ein soziosomatischer Verfall des ganzen Menschen. An dessen Ende steht der moderne Körper des gelehrten Europäers: »Das Auge ist verlöscht, der Körper welk, der Blick unstät, das Hirn sich selbst verzehrend.« (373) Die Bilanz von Herders Kulturkritik fällt also vernichtend aus: Verlust des Gefühls und des schönen, gesunden Körpers. Vor allem bedeutet sie ein fast unüberwindliches Hindernis für eine Ästhetik, die von unten, vom Tastsinn, nach oben, zur schönen Menschengestalt gelangen will. Herder benennt diese Schwierigkeiten selbst. Es fehlt eine richtige Sprache, die alle Sinne zur Geltung 15 16

Zur Aktualität der Diätetik in der Ästhetik um 1800 insgesamt siehe B. Thums, Aufmerksamkeit. Hier konnte sich Herder auf die zeitgenössische Medizin berufen. Tissot hatte gerade von der kränklichen Zunft der Gelehrten berichtet und seine Untersuchung mit der alten Einsicht eröffnet, »daß die Beschaeftigung mit den Wissenschaften der Gesundheit des Leibes nicht allzu vortheilhaft sey«. Als Hauptquellen der Krankheit werden »die stetigen Arbeiten des Geistes, und die bestaendige Ruhe des Leibes« benannt, S. A. Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, S. 11f. Ähnliche Diagnosen stellt bereits das Unterkapitel ›Love of Learning, or overmuch Study. With a Digression of the Misery of Scholars, and why the Muses are Melancholy‹ in Robert Burtons ›The Anatomy of Melancholy‹, I, S. 300–330.

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brächte. Sprachkritik ist also eine Aufgabe dieser Ästhetik. Ihre zweite Aufgabe ist weitaus schwieriger. Will sie nicht auf dem beschriebenen Status quo bleiben, und d.h. allein eine »Theorie des Schönen und Wahren aus dem Gesichte« sein – damit hinge sie, nach Herder »ewig in der Luft, und schwimme mit Seifenblasen« (253) – , muß sie zu einer Rekonstruktion des Gefühls und schöner Körperlichkeit werden. Die Ästhetik darf also keine Theorie bleiben, sondern muß zur Praxis werden. Denn in der Moderne fehlt ihr ihr Gegenstandsbereich. Sowohl der Zugang zum Schönen, der Tastsinn, als auch die schöne menschliche Gestalt sind gar nicht mehr vorhanden, sondern müssen als Erfahrungsdimension erst wiederhergestellt werden. Allerdings gibt es Anhaltspunkte für dieses Kultur- als Lebensreform-Programm: Die antiken Skulpturen bieten Vorbilder für solche Rekonstruktionen. Der Weg zu ganzheitlicher sinnlicher Erfahrung und Körperlichkeit führt also in Form einer Zeitreise ins Museum (313). Es sind nämlich nicht die Statuen allein, die uns das Fehlende vermitteln; sondern auch die Orte, an denen sie präsentiert werden, sowie die Einstellung des Betrachters sind mitentscheidend. So rät Herder dringend von einer Zwangs-Gräzisierung durch Aufstellung von Griechischen Statuen z.B. auf Paradeplätzen ab: »ihr könnt dem Sklaven, der sie täglich vorbeigeht, [...] kein Gefühl geben, zu merken, daß sie da seien« (303). Zur Kunsterfahrung gehören also die Zeit und Muße eines Museumsbesuches und die Ferne zum zeitgenössischen Arbeitsalltag. Aber es bedarf auch des Bewußtseins, diese Räume auf der Suche nach etwas Vergangenem, Verlorenem zu betreten. Mit dem Motto der ›Plastik‹ im Hinterkopf ›Was ist das Schöne?‹ sollte man ins Museum gehen, und auch mit der Einsicht, daß uns zur Beantwortung dieser Frage die Voraussetzungen fehlen. ›Frage eines Blinden‹ wird jetzt also gelesen als Eingeständnis eines Tastblinden. Dieses Eingeständnis scheint jedoch der erste wichtige Schritt auf dem Wege der Besserung. Nämlich sich dort Anleitung zum Tasten zu holen, wo sie auch in der Moderne noch zu haben ist, bei Blinden, bei »Wilden« und bei Kindern, den »gebildete[n] ganze[n] Menschen, obschon im Kleinen« (313, 384). Von ihnen läßt sich ein Zustand erlernen, den Herder so beschreibt: »nur sein und fühlen: Mensch sein, blind empfinden« (299). Das freiwillige Verschließen der Augen, die willentliche Erblindung ist der erste Schritt auf der ›education sentimentale‹ des Sprechers, die sich in der ›Plastik‹ vollzieht. An deren Ende steht die tatsächliche Interaktion zwischen Kunstwerk und ›Betaster‹, wie man nun sagen müßte. In diesem Wechselspiel begegnen sich zwei Bedürftige, zwei Geschöpfe: Die aus kaltem, totem Stein bestehende Statue benötigt zu ihrer Verlebendigung eine Seele, die ihr der Rezipient erdichten muß. Während diesem zu seiner Vervollständigung der schöne Körper, die »leibhafte Wahrheit« (253) fehlt. Nun also ist es Zeit vom poetischen Selbstversuch des Sprechers in der ›Plastik‹ zu berichten und vom Blinden als Kunstrezipienten und Künstler. 39

Poetischer Selbstversuch Auch im Umfeld der ›Plastik‹ leitet Herder seine Texte als Gedankenexperimente eines Blinden ein. So heißt es einmal: »ich muß ein Blinder und Fühlender werden, um die Philosophie dieses Sinnes zu erforschen« (999). Dementsprechend handelt es sich bei der Schrift ›Zum Sinn des Gefühls‹ um den »Versuch, wie ein blinder Philosoph sich eine Welt denken würde!« (236). Die ›Plastik‹ ist dann der Versuch, das Schöne als Blinder zu begreifen. Eine Ästhetik für Blinde wurde sie eingangs genannt. Gegenüber den anderen Texten liefert diese Schrift die genaueste Beschreibung der Versuchsanordnung. Man kann gewissermaßen von einer Tastschule sprechen. Auch dieser Selbstversuch ist auf Wiederholbarkeit angelegt, wenn auch nicht im naturwissenschaftlich exakten Sinne wie die Experimente Hallers. Der Raum ist zunächst die Antiken-Sammlung, die Teilnehmer sind eine Statue und ein Wahrnehmender. Im ersten Schritt ist es an diesem seinen Wahrnehmungsapparat zu verändern. »Schleuß das Auge und fühle« (268), lautet der oft wiederholte Imperativ an sich selbst und mögliche Nachahmer. In der zweiten Versuchsphase wird jedoch deutlich, daß es sich nur im übertragenen Sinn um ein Verschließen der Augen handelt. Herder fordert uns nicht dazu auf, beim nächsten Museumsbesuch die Skulpturen tatsächlich abzutasten. Obwohl er die haptische Argumentation sehr weit bis ins Handgreifliche und sogar Derbe führt. Die erotische Komponente solcher Handgreiflichkeiten dokumentiert sich in folgendem: »Verbinde dir die Augen: taste in der Nacht: was kannst du an einem Römischen Helden, an einem bemäntelten Redner, an einer beschleierten Maria Gutes erfühlen [...]! Nun taste an eine Venus aus dem Bade, mit dem schönen Hintern, u.s.w., an eine Juno Diana – – wie anders?« (1017)17 Viele der kunstwissenschaftlichen Debatten nach Farbe und Bekleidung der Skulpturen, ihren Körperformen und ihrer Gestik beantwortet Herder auf diesem Wege suggestiv, mit einer haptischen rhetorischen Finte. Denn er macht zugleich deutlich, daß der Weg seiner Ästhetik uns nicht zurück zum einfa17

Nietzsches Formulierung in der ›Genealogie der Moral‹ liest sich als Eingedenken an die sinnlichen Qualitäten von Herders Ästhetik: »Wenn freilich unsre Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten Kant’s in die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber der Schönheit sogar gewandlose weibliche Statuen ›ohne Interesse‹ anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen: – die Erfahrungen der Künstler sind in bezug auf diesen heiklen Punkt ›interessanter‹, und Pygmalion war jedenfalls nicht nothwendig ein ›unästhetischer Mensch‹.« KSA 5, 347. Für Richard von Krafft-Ebing gilt es dann als ausgemacht, daß der »sexuelle Factor auf die Weckung ästhetischer Gefühle« einen entscheidenden Einfluß hat. »Was wäre die bildende Kunst und die Poesie ohne sexuelle Grundlage!«, R. v. Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis, S. 7. Und in den ›evolutionistischen Ästhetiken‹ um 1900 wird die Verbindung von Sexualität und Ästhetik zum Programm. Max Nordau formuliert prägnant: »Als Schönheit wird jeder Eindruck empfunden, der in irgend einer Weise, sei es direkt, sei es durch Gedankenverbindungen, das höchste Geschlechtszentrum im Gehirn anregt.« Paradoxe, S. 268.

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chen Tastsinn, zurück zur Antike oder zum Naturzustand des Körpers führt. Es kann nur darum gehen, das Auge so zu gebrauchen, als ob es eine Hand wäre. Es handelt sich um eine Erziehung und Modifikation des Sehsinns, der sich so auf seine geschwisterliche Beziehung mit dem Gefühl besinnen soll. Im Text ist vom »Auge, das jetzt nur als Finger tastet« (264) die Rede. Einem solchen tastenden Auge gelingt es z.B. ein Gemälde so zu betrachten, als handle es sich um die Darstellung dreidimensionaler Körper und diesen so Realität zu geben. »Nun aber fangen die Figuren an, sich zu beleben; ists nicht, als ob sie hervorgingen und würden Gestalten? Man sieht sie gegenwärtig, man greift um sie, der Traum wird Wahrheit. Die höchste Liebe und Entzückung macht also gerade das, was dort die Unwissenheit tat« (251). Damit ist ziemlich genau das Verhältnis zwischen den Blinden und Kindern einerseits und dem Museumsbesucher andererseits bezeichnet. Was jenen unwissentlich gelingt, ist bei diesem Resultat potenzierter Vermittlung: Erst das freiwillige Schließen der Augen, die Umwandlung des Auges zur Hand und in diesem Zuge seiner selbst zum Liebhaber führt zur Belebung des von ihm Wahrgenommenen. Allerdings befindet sich der Sprecher der ›Plastik‹ mit diesem erreichten Zustand noch nicht am Ende seiner Erziehung der Sinne, wie wir wenige Seiten später erfahren. »Seht jenen Liebhaber, der tiefgesenkt um die Bildsäule wanket. Was tut er nicht, um sein Gesicht zum Gefühl zu machen, zu schauen als ob er im Dunkeln taste? [...] sein Auge ward Hand« – bis hierher handelt es sich noch einmal um eine Rekapitulation der zweiten, nun beginnt jedoch die dritte Versuchsphase – »oder vielmehr [hat] seine Seele einen noch viel feinern Finger als Hand und Lichtstrahl ist, das Bild aus des Urhebers Arm und Seele in sich zu fassen. Sie hats! die Täuschung ist geschehn: es lebt, und sie fühlt, daß es lebe; und nun spricht sie, nicht, als ob sie sehe, sondern taste, fühle.« (254) Damit ist eines der Ziele der Versuchsanordnung erreicht: die Belebung der Bildsäule. Vom Sinn, dem ›feinern Finger‹ der Seele, durch den dies gelang, macht Herder in der ›Plastik‹ theoretisch kein großes Aufheben. Nur beiläufig ist von diesem die Rede, praktisch ist er jedoch zentraler Akteur des Textes. Es handelt sich um keinen der fünf äußeren Sinne, sondern um einen inneren Sinn. Dieser wird einmal »inner[er] Geist«, einmal »blinde Einbildungskraft« (282, 1020) genannt. De facto erfindet Herder mit der blinden Einbildungskraft einen neuen Sinn. Denn diese war bislang vermögenstheoretisch auf die Funktionen der Reproduktion und Synthesis beschränkt,18 hier wird sie nun zu einem produktiven Vermögen. Als blinde Einbildungskraft orientieren sich ihre Leistungen am Gefühl. Die Einbildungskraft wird gleichsam zur Prothese des verkümmerten Gefühls, das die Kulturkritik diagnostiziert hatte. Sie wird auch zu einem Äquivalent von Hallers Reiz, denn die inneren Finger der Seele 18

Siehe hierzu ausführlich J. Schulte-Sasse, Art. Einbildungskraft/Imagination. In: Ästhetische Grundbegriffe. Hrsg. von Karlheinz Barck u.a. Bd. 2, S. 88–120.

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spüren Leben auf, können selbst beleben. Sie reizen also. Die Reizmethode Herders ist eine Technik des Zurücklesens. Die Bildsäule wird als ein Geschöpf auf ›Arm und Seele‹ ihres Urhebers hin zurückgelesen. Sie ist ganzheitlicher Ausdruck, beseelter Körper. Als materielles Zeichen überdauert jedoch nur ihr Körper, die Seele hingegen muß ihr beständig in wiederholten Versuchen eingelesen werden. Mit diesem neuen Sinn kommt in der ›Plastik‹ auch eine neue Kunstform ins Gespräch. Nämlich die Poesie oder, wie Herder hier erläutert, das ›begeisterte verlebendigende Sprechen‹ (254f.). Um Gegenstände zu beleben, kommt es also nicht allein auf das Tasten oder das Sehen, als ob man taste, sondern auf das Sprechen, als ob man taste oder fühle an. Die Poesie wird zum modernen Ersatz der antiken Plastik. In der dritten Versuchsphase haben wir also unmerklich das Museum verlassen und befinden uns nun an einem höchst imaginären Ort. Der Untertitel der ›Plastik‹ bezeichnet ihn mit ›Pygmalions bildendem Traume‹. Im Traum können wir nun dem zum blinden Poeten verwandelten Sprecher der ›Plastik‹ bei seiner Arbeit zuhören, der Schaffung schöner Menschengestalt durch begeisterte, verlebendigende Rede. Aus dem Kunstrezipienten ist nun selbst ein Künstler geworden. Und die Analogie zum blinden Rhapsoden, zu Homer, Milton und Ossian wird mehrfach gezogen. Auch der Autor Herder kokettiert mit solchen Selbststilisierungen, wenn er sein »blödes, flüchtiges, sehr ungewißes Aug‹« nennt: »ich […] krieche, u. blinze, u. lebe wie Maulwurf« (1032). Sorgfältig in der Mitte des Textes positioniert, eingerahmt von beiden Seiten durch analytische, trennende Wissenschaftsprosa folgt dann der poetische Selbstversuch, das Erleben schöner menschlicher Gestalt durch deren sprachliche Nachbildung, durch sprachliche Bildhauerei. In tastender, begeisterter Rede wird der beseelte Körper vom Haupt bis zu den Füßen beschrieben. Es handelt sich um die Inszenierung einer Evidenzerfahrung. Auf den Wechsel der Redeform wird ausdrücklich verwiesen: Doch gnug geredet. Wir treten an eine Bildsäule, wie in ein heiliges Dunkel, als ob wir jetzt erst den simpelsten Begriff und Bedeutung der Form und zwar der edelsten, schönsten, reichsten Form, eines Menschlichen Körpers, uns ertasten müßten. Je einfacher wir dabei zu Werk gehen, [...] desto mehr wird das stumme Bild zu uns sprechen und die heilige Kraftvolle Form, die aus den Händen des größten Bildners kam und von seinem Hauch durchwehet dastand, sich unter der Hand, unter dem Finger unsers innern Geistes beleben. Der Hauch dessen, der schuf, wehe mich an, daß ich bei seinem Werk bleibe, treu fühle und treu schreibe! (282)

Das Wechselspiel zwischen Körper und Seele, sprachlich evozierter Gestalt und Poet, das auf den folgenden Seiten dann beschrieben wird, läßt sich durchaus als Liebesspiel bezeichnen – immerhin befinden wir uns ja in Pygmalions bildendem Traume. Denn diese Interaktion antwortet auf eine wechselseitige Bedürfnisstruktur, die in der später wieder aufgenommenen argumentierenden Wissenschaftsprosa so lautet: »wir werden mit der [Statue] gleichsam verkörpert 42

oder diese mit uns beseelet.« (301)19 Der Bildsäule fehlt die Seele, die sie sich vom tastenden Betrachter oder Poeten erhofft; diesem wiederum fehlt der schöne Körper. In dieser Bedürfnisstruktur scheint mir auch die Begründung zu liegen für Herders Ablehnung einer Ästhetik des Häßlichen. Denn einen mangelhaften, kranken, verkümmerten Körper hat laut Herders Diagnose der moderne Zeitgenosse bereits. Er muß ihn nicht künstlich und mit aufwendigen Inszenierungen erschaffen, ein Blick in den Spiegel genügt. So taucht der häßliche Mensch auch in aller nötigen Plastizität in seiner argumentierenden Wissenschaftsprosa auf. Nach Herders Ästhetik des Häßlichen ist also in dieser Diskursform zu suchen. Das Häßliche hat seinen Sitz gleichsam im Leben und verweist uns zur Ergänzung, Kompensation und Heilung an die Kunst. Darüber hinaus zeigt Herders ›Plastik‹ wie die Begriffe Krankheit und Gesundheit, das Häßliche und das Schöne als diskursive, standortbezogene Zuschreibungen funktionieren. An markanten Stellen prallen hier Krankheit als Zeichen der Unvollkommenheit und Krankheit als Zeichen eines erhöhten Wahrnehmungszustandes, eben Blindheit, aufeinander. Anhand der bislang diskutierten Facetten von Blindheit: die Blindgeborenen, die Tastblinden und schließlich die blinden Poeten, läßt sich erkennen, daß Herder zufolge ›gesunde Mangelzustände‹ dann vorliegen, wenn Veränderung, etwa Umbildung der Sinne, und mithin Heilung noch möglich ist. Ein in Stein gemeißelter kranker Körper, der in seiner Materialität ewig bleibt, setzt solcher plastischen Kraft eine deutliche Grenze. Denn seine eigentliche Funktion hat das Kunstwerk in Herders Ästhetik darin, dem in der Moderne Raum zu geben, was nicht mehr existiert: die schöne menschliche Gestalt als ganzheitliche Einheit von Körper und Seele. Herders Klassizismus, der Idealität der griechischen Plastik, unterliegt also eine zutiefst moderne, fast romantische Begründung. Kunst ist somit im wahrsten Sinne eine Utopie der menschlichen Gestalt. Die ästhetische und ethische Aufladung des Gestalt-Begriffs durch Herders ›Plastik‹ dokumentieren Goethes Worte: »Der Hauptzweck aller Plastik, welches Wort wir uns künftig zu Ehren der Griechen bedienen, ist, daß die Würde des Menschen innerhalb der menschlichen Gestalt dargestellt werde« (WA 49/2, 58). Mit Reiz und Gestalt begrenzt Herder seine Ästhetik nach unten und nach oben mit regulativen Prinzipien, dazwischen liegt das Reich der Erfahrungswissenschaft und ihrer Experimente. Die Gestalt ist jedoch »gleichsam nie ganz zu ertasten«, auch die Finger des inneren Sinns »taste[n] gewissermaßen immer unendlich« (314, 316). Die menschliche Gestalt gibt also Anlaß zu unzähligen Versuchsanordnungen.

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In der Klassiker-Ausgabe ist hier wohl versehentlich »Natur« anstatt »Statue« gedruckt, wie es in der von Wolfgang Proß herausgegebenen Werkausgabe heißt, vgl. J. G. Herder, Herder und die Anthropologie der Aufklärung. Werke. Bd. 2, S. 517f.

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II.

Zeitkrankheiten Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹

In diesem Kapitel steht das vielleicht charakteristischste Merkmal psychosomatischer Leiden im Vordergrund: ihre Historizität. Die medizinisch-psychiatrischen Diagnosen solcher Leiden können ebenso kurzlebig sein wie diese selbst; was sich etwa an der Theatromania zeigt, die nur eine Intellektuellengeneration befällt und dann ausstirbt. Oder diese Krankheiten können zu einer bestimmten Zeit epidemisch auftreten; was das 19. Jahrhundert im historischen Rückblick vor allem an der religiösen Melancholie dokumentiert.1 Das heißt aber nicht, daß diese Krankheiten reine Simulation oder Einbildungen wären ohne körperliches Substrat, sondern es bestätigt die später von Freud wissenschaftlich ausformulierte Einsicht, daß Krankheiten eine Form des aktiven Verhaltens sein können und auf bestimmte Situationen und Zeitumstände reagieren. Krankheitsbilder entstehen in komplexer Interaktion zwischen Arzt und Patient, Wissenschaft und Gesellschaft. Dabei werden auch sozialhistorische und schichtenspezifische Ausprägungen erkennbar. So erhält die religiöse Melancholie in dem hier untersuchten ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ das Gesicht einer Volkskrankheit, die vornehmlich den vierten Stand befällt.2 Die medizinische Diagnose führt dies auf die Berufspraxis zurück, die hauptsächlich sitzenden Tätigkeiten von Schustern und Spinnerinnen – um die ikonographisch festgehaltenen Berufe besonders hervorzuheben –,3 allgemeiner gesprochen von Handwerkern und Frauen. Hierin liegt dann auch die Verbindung zur Intellektuellenkrankheit Theatromania, da auch diese Gruppe sich durch das viele Bücherlesen einer ungesunden Lebens- und Arbeitsform verschrieben hat. Die Beiträge des ›Magazins‹ zeigen im weiteren die gleichermaßen pathologischen Folgen von Überarbeitung und Arbeitslosigkeit.

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Siehe hierzu K. W. Ideler, Der religiöse Wahnsinn in seiner epidemischen Verbreitung. In: Ideler, Versuch einer Theorie des religiösen Wahnsinns. Erster Theil, S. 222–557. Gottfried Keller gestaltet in seiner Novelle ›Ursula‹ die religiöse Melancholie als sozialhistorisches und epidemisches Phänomen im Kontext der Wiedertäufer. Für das 20. Jahrhundert hat Shorter das epidemische Auftreten chronischer Müdigkeit verfolgt, From Paralysis to Fatigue, S. 307– 314. Auf die Historizität der Pathologien haben aufmerksam gemacht: W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft; H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung; und in bezug auf den von Moritz auch im ›Magazin‹ veröffentlichten Roman ›Anton Reiser‹: K.-D. Müller, Der psychologische Roman als Zeitroman. Vgl. R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, T. 35, 91, 95, 97.

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Die von Karl Philipp Moritz initiierte und herausgegebene Zeitschrift ›ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte‹ (1783–1793) gibt in das Phänomen ›Zeitkrankheiten‹ einen guten Einblick. In den zehn Jahrgängen ihres Erscheinens versammelt diese »erste psychologische Zeitschrift«4 Deutschlands zahlreiche Fälle der wohl sprechendsten Zeitkrankheit der Moderne, der religiösen Melancholie. Und die leibseelischen Grenzzustände, die hier zur Sprache kommen: Schlafund Sprachstörungen oder der Schwindel, werden zu klassischen Kennzeichen der Psychosomatik werden. Shorters These vom Symptompool findet also im ›Magazin‹ ihre Bestätigung. Historisch schließt das ›Magazin‹ nahtlos an die im vorigen Kapitel vorgestellte Konzeption von Erfahrungswissenschaft an, ist der Herausgeber mit seiner Zeitschrift doch einem Vorschlag Herders gefolgt, man solle ein »Journal […] der Menschenkenntnisse« gründen, »die ich täglich aus meinem Leben« und »aus Schriften sammle«.5 Dementsprechend handelt es sich bei den in Moritz’ ›Magazin‹ publizierten Beiträgen um Fallbeispiele der Selbst- und Fremdbeobachtung aus der Praxis von Lehrern, Medizinern, Popularphilosophen und Pfarrern, die sich auf dem Felde der Erfahrungsseelenkunde als interessierte Laien verstehen. Ergänzend werden Auszüge aus Autobiographien veröffentlicht. In seinem programmatischen ›Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde‹ wird für die neu zu konzipierende Wissenschaft ein umfangreiches literarisches und nicht-literarisches Textmaterial benannt: Schon die Geschichte der Missetäter und der Selbstmörder, was für einen reichen Stoff bietet sie dar? Die Geschichte wohlhabender in den Bettelstand geratener Leute, und solcher, die sich aus einem niedern Stande empor geschwungen haben. […] Eigne wahrhafte Lebensbeschreibungen oder Beobachtungen über sich selber, wie Stillings Jugend und Jünglingsjahre, Lavaters Tagebuch, Semlers Lebensbeschreibung, und Rousseaus Memoiren […]. Die Geschichte der Wahnwitzigen und Schwärmer. […] Karaktere und Gesinnungen aus vorzüglich guten Romanen und dramatischen Stücken, wie die Shakespearschen, welche ein Beitrag zur innern Geschichte des Menschen sind. Vorzüglich aber Beobachtungen aus der wirklichen Welt […].6 4

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A. Bennholdt-Thomsen und A. Guzzoni, Nachwort. In: ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Hrsg. von K. P. Moritz. Bd. 10, S. 1–79, S. 8. Das ›Magazin‹ wird im folgenden mit der Sigle MzE abgekürzt. Diese Einschätzung hatte Max Dessoir vorformuliert, vgl. Geschichte der neueren deutschen Psychologie, S. 154. Zum ›Magazin‹ im allgemeinen siehe im weiteren: S. Frickmann, Erfahrungsseelenkunde; S. Kershner, Karl Philipp Moritz und die ›Erfahrungsseelenkunde‹; R. Bezold, Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Karl Philipp Moritz; H. J. Schrimpf, Das ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ und sein Herausgeber; K. Sachs-Hombach, Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, S. 34–43; M. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 329–349. J. G. Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769. Hier zitiert nach K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 1297 (Kommentar). K. P. Moritz, Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 793–809, S. 796.

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Gemäß den Vorgaben des Herausgebers bemüht sich das ›Magazin‹ um »Unpartheilichkeit«:7 Zunächst sollen konsequent induktiv Erfahrungen – »Fakta, und kein moralisches Geschwaetz« –8 gesammelt werden, die Theoriebildung ist der Sicherung von Erfahrungswissen nachgeordnet. Gesucht werden »wahre moralische Ärzte«, die sich »mehr mit Individuis beschäftigten«.9 Das Erkenntnisinteresse ist ein therapeutisch-pragmatisches, und das Ethos des Erfahrungsseelenkundlers ist von sozialem Engagement getragen, denn »dieser kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des ungluecklichsten unter seinen Mitgeschoepfen zu setzen«.10 Die Erinnerungsarbeit des ›Magazins‹ ist auf den Dialog, die »wechselseitige Mittheilung«11 ausgelegt. Von diesem empirischen Wissenschaftsstil sind die Beiträge mehrheitlich geprägt. Sie zeichnen sich durch eine vorsichtige, hypothetische Diagnostik aus, die jeweils die eigene Kompetenz diskursiv zur Disposition stellt. Wie im Falle der religiösen Melancholie entwickeln sich anhand bestimmter Themen Diskussionszusammenhänge über mehrere Bände hinweg, in denen Leser zu Autoren werden, Kategorien und Deutungsansätze wechselseitig kommentiert und kritisiert werden. Unter diesem Aspekt stellt sich das ›Magazin‹ als Diskussionsforum einer Spätaufklärung dar, die beginnt, sich dem Anderen der Vernunft unter dem Interesse des Gnothi Sauton – Erkenne dich selbst – zuzuwenden. Zugespitzt formuliert, handelt es sich um eine Aufklärung, die bereit ist, auch im abweichenden Verhalten, im Krankhaften ihr Spiegelbild anzuerkennen. In Analogie zur Arzneiwissenschaft ist das ›Magazin‹ in die Rubriken Seelenkrankheitskunde, Seelennaturkunde, Seelenzeichen- und Seelenheilkunde sowie Seelendiätetik unterteilt. In allen Jahrgängen verzeichnet die erste Rubrik, die Seelenkrankheitskunde, die meisten Beiträge.

II.1.

Schwindel und leibseelische Grenzzustände

Beiträge, in denen leibseelische Grenzzustände thematisch werden, versammelt das ›Magazin‹ mehrheitlich in der Rubrik Seelennaturkunde. Das erste Beispiel, an dem der Zusammenhang von Körper und Seele problematisiert wird, ist eine Schlafstörung – das »Alpdruecken« –, die nicht mehr allein »medicinische«, sondern eben auch »psychologische« Berücksichtigung finden soll. Damit eröff7 8 9 10 11

K. P. Moritz, Grundlinien zu einem ohngefaehren Entwurf in Ruecksicht auf die Seelenkrankheitskunde. In: MzE 1/1, S. 31–38, S. 32. K. P. Moritz, [Vorrede zum Magazin zur Erfahrungsseelenkunde]. In: MzE 1/1, S. 1–3, S. 2. K. P. Moritz, Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 793–809, S. 794. K. P. Moritz, Fortsetzung der Revision der drei ersten Baende dieses Magazins. In: MzE 4/2, S. 1–24, S. 6. K. P. Moritz, Ueber den Endzweck des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde. In: MzE 8/1, S. 1–5, S. 4.

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net das ›Magazin‹ seine Sammlung diesbezüglicher Fälle mit einer geradezu klassischen »psychisch=somatischen« Befindlichkeit, beginnt doch die Begriffsgeschichte der Psychosomatik in Heinroths ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens‹ (1818) fast 40 Jahre später eben mit der so charakterisierten »Schlaflosigkeit«12 (Kap. IV.1). Obwohl der Autor dieses ›Magazin‹-Beitrags, Ernst Gottfried Fischer, Lehrer am Grauen Kloster in Berlin und also Kollege von Moritz, seine Bewußtseinslage während des Alpdrückens und seine Angstzustände eindrücklich schildert, wird dieser psychologische Zugriff abschließend sehr einfach zugunsten einer körperlich-humoralpathologischen Erklärung aufgegeben. Die Ursache für das Alpdrücken liege im Gehirn, wo »das Blut stockt oder sich anhaeuft«. Informiert hat sich der interessierte Laie über seinen Zustand »in einem medicinischen Buche, ich glaube im Arzt« (49).13 Dem schließen sich im zweiten und dritten Stück des ersten Bandes eine Fallgeschichte von Johann Joachim Spalding und eine sich auf diese beziehende Reflexion Moses Mendelssohns an, in denen geistige Absenzen Anlaß geben, über den psychosomatischen Zusammenhang nachzudenken. Der Theologe und Oberkonsistorialrat Spalding berichtet von einer Verselbständigung des Körpers nach einem arbeitsamen Vormittag, von Sprach- und Schreibstörungen, die durch eine »tumultarische Unordnung in einem Theile meiner Vorstellungen« verursacht worden seien: »meine Seele war jetzt eben so wenig Herr ueber die innerlichen Werkzeuge des Sprechens, als vorhin des Schreibens.« Seine Denkkraft ist zwar noch intakt, aber aus seinem Munde kommen nur noch »unfoermliche und ganz andere Woerter«, »als die ich wollte«. Dieser fast eine Stunde lang währende Zustand klingt in einen »gelinden Kopfschmerz« aus. In moderner psychosomatischer Diktion wäre Spaldings Absenz als Streßphänomen zu diagnostizieren – seine Beschreibung der vorhergehenden Tätigkeiten legt dies deutlich genug nahe.14 Der Theologe selbst wähnt sich nach dieser »Verstandesverrueckung« allerdings fast schon als einen Kandidaten fürs »Irrenhause«. Und seine Fallbeschreibung weist noch in einer anderen Hinsicht auf die moderne Psychosomatik voraus, denn seine Absenz dokumentiert sich in einer Fehlleistung, die heute Freudsch genannt würde: Anstatt »funfzig Thaler halbjaehrige Zinsen« hatte Spalding während seines Zustandes zu Papier

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 49. E. G. Fischer, Staerke des Selbstbewußtseyns. In: MzE 1/1, S. 47–53, S. 47, 51, 49. Bei dem erwähnten Buch wird es sich wohl um die von Johann August Unzer herausgegebene Zeitschrift ›Der Arzt. Eine medicinische Wochenschrift‹ (1759–1796) handeln. »Ich hatte heute Vormittag in geschwinde abwechselnder Folge viele Leute sprechen, vielerlei Kleinigkeiten schreiben muessen, wobei die Gegenstaende fast durchgehends von sehr unaehnlicher Art waren, und also die Aufmerksamkeit ohne Unterlaß auf etwas ganz anderes gestoßen ward.« J. J. Spalding, Spalding an Sulzer. In: MzE 1/2, S. 38–43, S. 38–41. Zur modernen Wahrnehmung psychosomatischer Leiden als Streßphänomene, siehe T. v. Uexküll und W. Wesiack, Psychosomatische Medizin und das Problem einer Theorie der Heilkunde, S. 10f.

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gebracht: »funfzig Thaler durch Heiligung des Bra=«. Nach den Erkenntnissen der Psychoanalyse ließe sich aus dieser Ersetzung von Zinsen durch Heiligung eine religionskritische Pointe über den Mehrwert von Religion ziehen. Spalding selbst bleiben diese Worte allerdings noch vollkommen »unverstaendlich«.15 Mit Spaldings Aphasie ist neben Fischers Schlafstörung ein weiteres wichtiges Element des psychosomatischen Symptompools genannt, sie gehört 100 Jahre später auch zu Anna O.’s Krankheitsbild. Spaldings psychologische Betrachtung erhält in Reaktionen von Moses Mendelssohn, Ernestine Christiane Reiske und in einem anonym veröffentlichten Beitrag Resonanz.16 Der Philosoph Mendelssohn versucht Spaldings Absenz vor dem Hintergrund des in jeder willkürlichen Handlung vollzogenen »Uebergangs aus der Seelenwelt in die Koerperliche« zu erklären. Jede »wuerksame Idee« nehme Einfluß auf die »Bewegungsnerven« und setze sich so in der körperlichen Welt fort. Mit Mendelssohns Beitrag wird zu der durch Fischer vertretenen humoralpathologischen Reduktion psychologischer Sachverhalte auf Körpersäfte die Gegenposition formuliert. »[A]lle Lebensbewegungen [muessen] in dem Koerper Mitwirkungen der Seele seyn«, auch dann, wenn deren Wirksamkeit durch Habitualisierung von Tätigkeiten ins Unbewußte hinabgesunken sei. Der Einfluß der »heftigsten Leidenschaften auf die Verdauung, Umlauf des Gebluets u.s.w.« gebe hierfür das beste Beispiel ab. In dieser Argumentation ist nun die Version benannt, ›Einfluß der Leidenschaften auf körperliche Krankheiten‹, in der das 18. Jahrhundert die psychosomatische Fragestellung behandelt und an das 19. Jahrhundert weitergibt.17 Die seelischleiblichen Vor-

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J. J. Spalding, Spalding an Sulzer, In: MzE 1/2, S. 38–43, S. 39–42. Die Altphilologin Ernestine Christiane Reiske berichtet analog zu Spalding von Sprach- und Schreibstörungen, führt diese jedoch nicht auf »Arbeit als vielmehr« auf »mancherlei Sorgen und oft lange anhaltende Schlaflosigkeit« zurück, Parallel zu der Selbstbeobachtung des Hr. O. C. R. Spalding in 2ten Stueck des ersten Bandes. In: MzE 3/3, S. 36–38, S. 37. Vorher berichtet sie allerdings die Fallgeschichte eines jungen, an Absenzen und Halluzinationen leidenden Magisters, der schließlich ins »Tollhaus« kommt, und berücksichtigt als Ursache der Erkrankung vor allem ›äußere Einflüße‹, d.h. Vererbung und Alkoholkonsum, Einfluß äußerer Umstände auf die Krankheiten der Seele. In: MzE 3/3, S. 33–36, S. 36. Zum im frühen 19. Jahrhundert dann weitläufig diskutierten Zusammenhang von Alkohol und Geisteskrankheiten siehe Kap. IV.3.1.4. Ein anonymer Beitrag eines chirurgisch geübten Landmanns berichtet ebenfalls von Sprachstörungen und empfiehlt den Aderlaß als probates Mittel, Die erste, der Spaldingschen ähnliche Erfahrung. In: MzE 4/3, S. 23–26. Friedreich unterstreicht für das 18. Jahrhundert das rege Interesse an den »wechselseitigen Beziehungen, welche zwischen den Erscheinungen des psychischen und somatischen Lebens Statt finden«, und untergliedert die umfangreiche Literatur zum Thema in zwei Gruppen: »Wechselverhältniss zwischen Leib und Seele durch Einfluss der Leidenschaften überhaupt« und »Einfluss der Leidenschaften und Affecte auf körperliche Krankheiten insbesondere«, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 188, vgl. 193–213. Im ›Magazin‹ siehe hierzu im weiteren: Pockels, Materialien zu einem analytischen Versuche über die Leidenschaften. In: MzE 5/2, S. 52–66; 6/3, S. 52–75; Ausdruck der Leidenschaften durch die Veränderungen der Gesichtszüge. In: MzE 8/2, S. 119–126.

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gänge im Menschen beschreibt Mendelssohn als komplexes Zusammenspiel von wirksamen dunklen und bewußten Ideenreihen, die organische Prozesse in Gang setzen, jedoch auch miteinander kollidieren können. Und Spaldings Sprachstörung wird so als ein durch »Collision« wirksamer Ideen hervorgerufenes »Stottern«18 aufgeklärt. Mendelssohn schließt seinen Beitrag mit dem Bild des Menschen als Staatsgefüge, wobei die Seele als organisierendes Prinzip das Oberhaupt darstellt: Die Seele beherrscht diese verschiedenen Reihen, lenkt jene durch deutliches Bewußtseyn jedes Gliedes, diese durch Gewohnheit und Uebung, und die durch dieselben hervorgebrachten Fertigkeiten; wirkt hier selbst, und laeßt dort andre nach ihrem Plane fortwirken. Alles dieses weis sie, wie die Buerger eines wohlgeordneten Staats dermaßen in Harmonie zu bringen, gleichsam wie in eine einzige gruppirende Masse von Licht und Schatten zu verbinden, daß die Wirkung des Ganzen zu ihrem Hauptendzwecke uebereinstimmet. Allein sie herrscht in diesem ihrem innern Staate nicht unumschraenkt, und ihre Befehle werden nicht alle ohne Weigerung vollzogen.

Ein anderer Effekt einer Kollision von Ideen kann nach Mendelssohn der »Schwindel« sein. Hier verweist er jedoch nur kurz auf das Werk eines befreundeten »philosophische[n] Arztes«,19 der sich ausführlich mit diesem Krankheitsbild befasse. Angesprochen ist Marcus Herz, der als Ehemann von Henriette Herz und Arzt von Karl Philipp Moritz geläufig ist. Im ›Magazin‹ wird später ein Auszug aus seinem 1786 und 1791 in vermehrter Zweitauflage erschienenen ›Versuch über den Schwindel‹ veröffentlicht. Es handelt sich um die Krankengeschichte von Moritz, die anonym mitgeteilt wird. Was diese mit dem Schwindel zu tun hat, wird nicht auf den ersten Blick deutlich, handelt es sich doch um den Fall eines »jungen sehr lebhaften Mannes«, der von einem »Lungengeschwuer« zu heilen ist. Negativ wirkt sich in der Behandlung die unruhige, zwischen Genesungshoffnung und Todesangst schwankende Gemütsverfassung des Patienten aus, die laut Herz’ These über den Einfluß der Leidenschaften auf den Körper für das fortgesetzte heftige Fieber verantwortlich ist. Wirft man einen Blick in die nach Moritz’ Tod 1798 in Hufelands ›Journal der practischen Arzneykunde und Wundarzneykunde‹ veröffentlichte ausführlichere Fallgeschichte, wo dieser Zustand als »anhaltender Wirbel in seinem Gemüthe«20

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Ein späterer Beitrag führt wiederum Sprachstörungen und Gedächtnisverlust auf Körperliches, den »Zustand des Gehirns«, zurück, indem in eigener Übersetzung englische Fachliteratur zitiert wird. In diesem Fall: J. Beattie, Dissertations moral and critical [1783]; J. E. Gruner, Beitrag zur Bestaetigung des Satzes, daß die Einbildungskraft und das Gedaechtniß mehr dem Koerper als der Seele zugehoeren. In: MzE 7/3, S. 12–16, S. 14. M. Mendelssohn, Psychologische Betrachtungen auf Veranlassung einer von dem Herrn Oberkonsistorialrath Spalding an sich selbst gemachten Erfahrung. In: MzE 1/3, S. 46–75, S. 46f., 51, 56, 74f., 62f. Hier zitiert nach M. Herz, Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moritz Krankengeschichte. In: Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze, S. 60–84, S. 68.

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beschrieben wird, so ergibt sich die Verbindung zu Herz’ Definition des Schwindels. Bei diesem handle es sich um eine »geschwinde Folge« von Vorstellungen, die die Seele nicht mehr unterscheiden kann, so daß sie »selbst in den Zustand der Verwirrung [geräth]: einen Zustand, der eigentlich den Schwindel ausmacht.«21 Ähnlich der Mendelssohnschen Erklärung des Stotterns erscheint der Schwindel als körperlicher Ausdruck einer seelischen Dysfunktion. Und in eben dieser Lesart deutet Herz auch Moritz’ Fieber.22 Die Heilung muß also von der Seele ausgehen, und so entschließt sich Herz zu einem »harte[n] Mittel«, der schwankenden Gemütsverfassung seines Patienten abzuhelfen, indem er sie in eine Richtung vereindeutigt und ihm den nahen Tod ankündigt. Diese Schocktherapie zeigt auch den gewünschten Erfolg: Der junge Mann wird ruhiger, das Fieber nimmt ab und binnen drei Wochen ist der Kranke wiederhergestellt. In Hufelands ›Journal‹ nennt Herz diese Methode dann »psychische Kurart« und stellt sie mit dieser Begrifflichkeit in den weiteren Kontext moralischer oder psychischer Behandlungsverfahren des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Kap. III.1), in denen ein heilsamer Schrecken des öfteren zum Einsatz kommt. Herz’ Fallgeschichte bringt die Doppeldeutigkeit des Schwindels sehr schön zur Darstellung, einerseits handelt es sich um den medizinischen Zustand des Patienten (vertigo), andererseits um den Schwindel des Arztes.23 Und in beiden Fällen dokumentiert sich: »Es ist erstaunlich, wie viel die Seele ueber den mit ihr so heterogen scheinenden Koerper vermag«.24 Bis in die Anfänge der Psychoanalyse hinein werden Täuschung und Suggestion Techniken der Heilung bleiben. Das von Mendelssohn und Herz wahrscheinlich gemeinsam im Gespräch entwickelte Verständnis psychosomatischer Leiden wie Stottern und Schwindel als Ausdruck zu geschwinder oder widerstreitender Ideen wird von Freud aktualisiert, der für den Übergang zwischen Seele und Körper die Begriffe Konversion und Symbolisierung prägt. Auch Moritz’ Erklärung eines ›physiologisch-psychologischen Problems‹ mutet modern an und umschreibt beinahe, was Freud später als Symbolisierung aufgrund von Gleichzeitigkeit faßt (Kap. V.3.3). Kammerrat Tiemann hatte den Fall einer Frau mitgeteilt, der sich ihre Schwangerschaften jeweils durch Verlust eines Fingergliedes ankündigen. Moritz will hier einen »physiologische[n] Grund« nicht gelten lassen und schlägt darum folgende Deutung vor: »Sollte die Einbildungskraft solche erstaunliche Wirkungen hervorbringen koennen, 21

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M. Herz, Versuch über den Schwindel, S. 174. Zu Herz siehe L. Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, S. 50–75; C. von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 13, 38–42; M. L. Davies, Moritz und die aufklärerische Berliner Medizin. Die spätere Fassung der Krankengeschichte formuliert dies deutlicher: »Das Fieber, das seine Quelle mehr im Gemüthe als im Körper hatte«, M. Herz, Etwas Psychologisch-Medizinisches. Moritz Krankengeschichte. In: Herz, Philosophisch-medizinische Aufsätze, S. 60–84, S. 69. Siehe hierzu C. von Braun, Versuch über den Schwindel, S. 14–20. M. Herz, Fragment aus des Herrn Prof. Herz Schrift, über den Schwindel. In: MzE 9/1, S. 97–103, S. 101ff., 98.

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daß diese Frau, weil ein und eben dasselbe sich etwa zweimal zufaelliger Weise ereignete, nun die Wiederkehr eben desselben Zufalls bei dem, was sie fuer die Ursach davon hielt, so gewiß erwartete, daß diese Erwartung auch wirklich eintraf?«25 Mit Schlaf- und Sprachstörungen, Schwindel und am Körper ausgelebten Einbildungen versammelt das ›Magazin‹ wichtige zum Symptompool der Psychosomatik gehörende Leiden. Die Historizität dieser Krankheitsbilder mag bislang noch nicht augenscheinlich geworden sein, obwohl Lothar Müller zu Recht darauf aufmerksam macht, der Schwindel sei als Aufklärungs-Krankheit zu verstehen.26 Die Beschleunigung von Vorstellungen und die Akkumulation von Wissen sind Charakteristika der Zeit und lassen das komplexe Zusammenspiel von Seele und Körper aus dem Tritt geraten. Noch deutlicher als Zeitkrankheiten sind aber die beiden nachfolgenden Krankheitsbilder der religiösen Melancholie und der Theatromania erkennbar. Die Melancholie ist das psychosomatische Krankheitsbild des Zeitalters. Der Begriff ›psychisch-somatisch‹ (Heinroth) wird neben Schlafstörungen zunächst auf die Melancholie angewandt (Kap. IV.1) und das Adjektiv ›religiös‹ verweist auf die in der Aufklärung diskutierte psychogenetische Krankheitsursache.

II.2. Religiöse Melancholie Vom Pietismus als einem »krankhaften Gemuethszustand« spricht Karl Wilhelm Ideler 1850 in seiner ›Theorie des religiösen Wahnsinns‹. Er untersucht in dieser und einer vorangehenden Studie »schwaermerische Secten«, den »Mysticismus in pietistischen Conventikeln«, »vernunftbethoerende Traktaetlein« und die »Erregung wirklicher Epidemien schwindelhafter Schwaermerei«.27 Dieser Text bezeichnet den Endpunkt einer im 18. Jahrhundert breit geführten Debatte um ›religiöse Melancholie‹.28 Eingeleitet hatte diesen Topos Robert Burtons ›Anatomy of Melancholy‹ (1621), im 18. Jahrhundert prägen der Artikel ›Melancholie religieuse‹ in der ›Encyclopédie‹ von 1765, Benjamin Fawcetts ›Observations on the nature, causes and cure of Melancholy, especially of that, which is

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Tiemann / Moritz, Ein physiologisch-psychologisches Problem. In: MzE 4/3, S. 45–48, S. 48. Vgl. L. Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, S. 68–72. K. W. Ideler, Versuch einer Theorie des religiösen Wahnsinns. Zweiter Theil, S. 330; Ideler, Der religiöse Wahnsinn, S. 17. Bei diesem Abschnitt handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Fassung meines Beitrages: Religiöse Melancholie und die Suche nach ›wahren moralischen Ärzten‹. Siehe hierzu: H.-M. Kirn, Trauer und Melancholie bei Philipp Jakob Spener; H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung; M. Schär, Seelennöte der Untertanen; L. Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, S. 209–240; H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/1, S. 68–78; E. Saurer, Religiöse Praxis und Sinnesverwirrung; D. Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland.

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commonly called religious Melancholy‹ (1780), die 1785 ins Deutsche übersetzt wurden und eben Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ die Diskussion. Auch im frühen 19. Jahrhundert erfreut sich die religiöse Melancholie noch diagnostischer Beliebtheit, nicht nur bei Psychikern wie Ideler, sondern auch bei den naturwissenschaftlich orientierten Somatikern (Kap. IV.1). So verzeichnet der Leiter der Irren-Heilanstalt Siegburg Maximilian Jacobi in seinen ›Annalen‹ noch einige Fälle religiöser Melancholie.29 Zu deren diagnostischer Topik gehören noch die älteren humoralpathologischen Befunde: die schwarze Galle, die Milzsucht, das verstockte schwarze Blut, das ausgetrocknete Gehirn, das melancholische Temperament; im 18. Jahrhundert tritt im Kontext von Hallers Reiz- und Erregungslehre das Nervenfieber hinzu. Dieser physis melancholicus gesellt sich im weiteren eine erhitzte, schwärmerische Einbildungskraft bei, die ›fixe Ideen‹ produziert,30 insbesondere ›falsche Religionsbegriffe‹, etwa solche von einem strafenden, ungnädigen Gott, von der eigenen Sündhaftigkeit oder schwärmerische Ideen vom Paradies.31 Die Symptome reichen von Traurigkeit, Trägheit, Stumpfsinn und Wahnsinn bis zu Mord oder Selbstmord. Die medizinische Metaphorik der schwarzen Galle hat einerseits eine religionsinterne, polemische Funktion – so etabliert sich die Bezeichnung religiöse Melancholie im frühen 18. Jahrhundert als antipietistischer Kampfbegriff. Das Trauergebot der Pietisten, das Ringen um die »göttliche Traurigkeit« (2. Kor 7,10), wird unter dem Blick der Orthodoxie

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Bei diesen Fällen handelt es sich einmal um »[r]eligioese Ueberspannung durch das Lesen ascetischer Schriften, waehrend einer obwaltenden Opportunitaet zu Gehirnleiden«, ein anderes Mal um »Wahnvorstellungen, die sich auf Gewissens= und Religionsgegenstaende beziehen«, dann um einen Fall von »Wahnsinn, mit der Ueberzeugung ewiger Verdamniß«; und schließlich kann die Genesung eines »Ausbruchs von Seelenstoerung unter der Form von Daemonomanie« durch ein »die Beseitigung des obwaltenden somatischen Leidens bezweckendes Heilverfahren eingeleitet, und durch religioese Einwirkungen vollends zu Stande gebracht und befestigt« werden, Annalen der Irren=Heilanstalt zu Siegburg. Hrsg. von M. Jacobi, S. 299–302. Zur religiösen Melancholie siehe im weiteren J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 223ff.; J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 212f., 625–633. Vgl. B. Fawcett, Über Melankolie, ihre Beschaffenheit, Ursachen und Heilung, S. 40, 70; J. B. Fleischer, Rezension zu: Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholische, S. 211, 212, 217f. Siehe hierzu auch K. P. Moritz, Grundlinien zu einem ohngefaehren Entwurf in Ruecksicht auf die Seelenkrankheitskunde. In: MzE 1/1, S. 31–38, S. 35f. Unter ›fixen Ideen‹ wurden im allgemeinen »Vorstellungen« verstanden, die »so herrschend oder übermächtig werden, daß die Seele sich gar nicht mehr davon losmachen kann, daß sie das Denkgeschäft stören und verwirren und den Menschen wohl gar verleiten, bloße Einbildungen für wirkliche Dinge zu nehmen«. Sie sind »Beweise eines verstörten oder verrückten Gemüths, gesetzt auch, daß der Mensch sich übrigens verständig benähme. Man kann sie daher auch als die erste Stufe des Wahnsinns betrachten«, Krug’s encyclopädisch-philosophisches Lexicon, Bd. 2, S. 37f. Vgl. B. Fawcett, Über Melankolie, ihre Beschaffenheit, Ursachen und Heilung, S. 48, 51; J. B. Fleischer, Rezension zu: Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholische, S. 211, 222ff.; K. W. Ideler, Versuch einer Theorie des religiösen Wahnsinns. Zweiter Theil, S. 333f.

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und Neologie zur religiösen Melancholie pathologisiert.32 Andererseits ist die medizinische Metaphorik Ausdruck einer Naturalisierung des Verständnisses vom Menschen; was vormals als teuflische Versuchung verstanden wurde,33 wird nun ›natürlich‹, d.h. naturwissenschaftlich begründet. Die religiöse Melancholie wird dabei zum exponierten Anwendungsfall psychosomatischer Erklärungsmuster: Entweder wird sie als Einwirkung des Körpers auf die Seele gefaßt, d.h. auf die natürliche Ursache eines Nervenfiebers, einer Milzsucht etc. zurückgeführt;34 oder umgekehrt als Einwirkung der Seele auf den Körper.35 Die Auseinandersetzung der Aufklärung mit der Religion wird über den Begriff der religiösen Melancholie verhandelt, wobei die entstehenden neuen Wissenschaften Anthropologie, Psychiatrie und Psychologie die Theologie in ihrer Funktion als Leitwissenschaft beerben wollen. Daß dies nicht nur im Sinne polemischer Abgrenzung oder rationaler Entzauberung geschehen kann, sondern durchaus auch als gleitende Enteignung, zeigt Tissots Formulierung: »Es wuerde mir sehr angenehm gewesen seyn, oeffentlich hier zu erklaren, wie viel wichtige Dinge sie [Arzneywissenschaft] von der Religion entlehnet. Ich haette gern die niedertraechtigen Betrueger beschaemet, welche die Religion der Aerzte anzuschwaerzen sich unterfangen. Ich wuerde mit vielem Vergnuegen bewiesen haben, wie viel Licht eine Wissenschaft ueber die Religion ausbreitet, welche mit der Untersuchung der allervollkommensten Kreatur beschaeftiget ist, und aus dem bewundernswuerdigen Mechanismus des gesunden Menschen, wie auch aus der vielleicht noch mehr bewundernswuerdigen Heilung des kranken Menschen unwidersprechliche Beweise von dem Daseyn und von der unendlichen Weisheit des Schoepfers ziehet.«36 32 33

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Siehe hierzu H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung, S. 73–142. Daß dieses Erklärungsmuster noch bis ins späte 18. Jahrhundert gängig war, belegt ein im ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ abgedruckter Brief eines »Unstudirten«, in dem der »heilende Arzt« als einer bezeichnet wird, »der die unsaubern mit Faeusten schlagende Satans=Engel, aus Seelenkranken Menschen heraustreiben will«, MzE 3/1, S. 115f. So argumentiert z.B. Benjamin Fawcett, daß es sich bei der Melancholie um eine »Nervenkrankheit« handle, die »vom Körper herrühre, und aus ihm sich dem Gemüthe mittheile«, B. Fawcett, Über Melankolie, ihre Beschaffenheit, Ursachen und Heilung, S. 4f. Auch Fleischer wendet gegen die Überzeugung des von ihm rezensierten Predigers zu T., »dass sich nicht alles auf Körperlichkeit zurückführen lasse« ein: »Das Uebel ist allemal körperlich, und hat seinen Sitz stets im Körper, da der Geist nicht krank werden kann.« J. B. Fleischer, Rezension zu: Beobachtungen und Erfahrungen über Melancholische, S. 219. In Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ finden zwar auch die physischen Begleitumstände religiöser Melancholie Erwähnung, der Akzent in Hinblick auf Ursache und Therapie liegt hingegen deutlich auf der Psyche. So definiert Moritz »Seelenkrankheit« unter gänzlicher Absehung körperlicher Ursachen als »Mangel der verhaeltnißmaeßigen Uebereinstimmung aller Seelenfaehigkeiten«, Grundlinien zu einem ohngefaehren Entwurf in Ruecksicht auf die Seelenkrankheitskunde. In: MzE 1/1, S. 31–38, S. 33. Der Psychiker Ideler wendet sich dezidiert gegen jene Irrenärzte, die den religiösen Wahnsinn »mit Blutwallungen, Nervenstimmungen und anderen grob materiellen Krankheitszustaenden des Gehirns abfertigen«, K. W. Ideler, Der religiöse Wahnsinn, S. 21. S. A. Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, S. 1f.

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Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte‹ ist Schauplatz eines solchen Säkularisierungsvorgangs. In gut einem Fünftel der Beiträge spielt die Religion eine Haupt- oder Nebenrolle,37 wobei neben dem dominierenden Thema ›religiöse Melancholie‹ bzw. ›Schwärmerei‹ die Religion der Taubstummen einen zweiten Diskussionszusammenhang bildet. Dabei ist die Auseinandersetzung im ›Magazin‹ auf den Pietismus konzentriert. Nahezu zwei Drittel der mit Religion befaßten Beiträge widmen sich dieser und ihr verwandter Frömmigkeitsbewegungen.38 Zum einem ist dies auf die pietistisch-quietistische Sozialisation des Herausgebers Moritz zurückzuführen,39 zum anderen auf die Verbreitung der Zeitschrift im protestantischen Norddeutschland.40 Moritz selbst unterstreicht im ›Magazin‹ die Bedeutung der pietistischen Selbstbeobachtung für die Erfahrungsseelenkunde, die sich »doch noch weit mehr mit dem innern Seelenzustande beschaeftiget, als die gewoehnliche Moral und Paedagogik.«41 Wird der Pietismus unter dem Stichwort religiöse Melancholie im ›Magazin‹ zwar vorrangig kritisch im Sinn einer lebensweltlichen Problemanzeige beleuchtet, so nimmt diese Zeitschrift jedoch eine Sonderstellung gegenüber den polemisch geführten innertheologischen Auseinandersetzungen zwischen Orthodoxie, Neologie, Deismus und Pietismus einerseits und jener zwischen Aufklärung und Pietismus andererseits ein. Der Begriff religiöse Melancholie wird hier nur in Ausnahmefällen polemisch verwendet. Die mit dem Pietismus befaßten Beiträge erscheinen überwiegend in den Rubriken Seelenkrankheits- und Seelennaturkunde. Seelenkrankheitskunde In der Rubrik Seelenkrankheitskunde wird der aus Kriminalakten entnommene Fall des Schusters Völkner publiziert, eines Kindermörders aus »frommer Schwaermerei«, wie es heißt. Ein »durch Vorstellung einer hoehern Glueckseeligkeit erzeugter Lebensueberdruß, und falsche religioese Vorstellungen von einer nach vollbrachter Mordthat nach anzustellenden Bekehrung« haben Völ-

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Von den insgesamt 346 Beiträgen, die in den zehn Jahrgängen der Zeitschrift publiziert sind, befassen sich 71 Beiträge mit der Religion. 44 der 71 Beiträge lassen sich dem Pietismus zuordnen. Auch H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung, S. 137f., L. Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, S. 211f., und D. Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, S. 55, 62, heben die Bedeutung des Pietismus im ›Magazin‹ hervor. Darüber hinaus dokumentiert das ›Magazin‹ den Pietismus als eine europäische Frömmigkeitsbewegung, so etwa die Querverbindung zum französischen Quietismus, und zwar nicht nur auf der Ebene der Gelehrten, sondern ebenso auf derjenigen gelebter Frömmigkeit. Exemplarisch hierfür kann die im ›Magazin‹ veröffentlichte religiöse Biographie von Moritz’ Vater gelten, vgl. MzE 8/1, S. 114–117; 8/2, S. 72–100. Zu einem in diesem Sinn erweiterten Pietismus-Begriff siehe M. Brecht, Art. Pietismus. In: TRE 26, S. 606–631. Siehe hierzu R. Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus. Vgl. A. Bennholdt-Thomsen und A. Guzzoni, Nachwort. In: MzE 10, S. 1–79, S. 33. K. P. Moritz, Revision der drei ersten Baende dieses Magazins. In: MzE 4/1, S. 1–56, S. 35.

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kner seiner eigenen Aussage zufolge dazu bewogen, anstatt Selbstmord als Ersatzhandlung einen Mord an einem Kind zu begehen, um so »seelig sterben« zu können. Nach seiner Gefangennahme läßt er sich zu diesem Zweck die Bücher »Arendts wahres Christenthum, das Paradiesgaertlein, Freylingshausens Gesangbuch, und das haellische goldne Schatzkaestlein«42 bringen. Das ›Magazin‹ verzeichnet drei weitere Fälle eines solchen religiös motivierten Selbstmords auf Umwegen.43 Im weiteren berichtet ein Arzt von der ›Geschichte eines Selbstmords aus Verlangen seelig zu werden‹. Aus »uebertriebener Froemmigkeit« und einem »aufs hoechste gestiegenen Religionsenthusiasmus« habe sich eine Herrnhuterin mit einem Messer eine tödliche Wunde im Unterleib zugefügt, die als »Nachahmung der Seitenwunde des Heilandes«,44 also als extreme Form der imitatio christi gedeutet wird. Im Fall einer anderen Selbstmörderin diagnostiziert der behandelnde Wundarzt als Ursachenzusammenhang eine »Nervenkrankheit«, eine schwärmerische Erziehung und »Schwaermereien von der Ewigkeit«.45 »[M]isverstandne biblische Sprueche« und ein »ganz unpassende[s] schwaermerische[s] Liede«46 gibt ein Pfarrer in einem dritten Fall als Ursache einer Sehnsucht nach dem Tod an. Schließlich wird im ›Magazin‹ die Pädagogik des Waisenhauses in Halle unter der Überschrift ›Folgen einer unzweckmaeßigen oeffentlichen Schulerziehung‹ kritisch beleuchtet. Es handelt sich um die Geschichte eines schwärmerischen jungen Mannes, der das Waisenhaus durch die strenge Reglementierung der Lebensführung – das Verbot von Romanlektüre, kein freier Ausgang und körperliche Strafen werden genannt – als »Kerker« und »Gefaengnisse« empfindet. Derart zum »Diebe«47 sozialisiert, berichtet das ›Magazin‹ in Form eines ›Fortsetzungsromans‹ über seine weitere, nach seiner Flucht aus dem Waisenhaus eingeschlagene kriminelle Laufbahn.

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Geschichte des Inquisiten Daniel Voelkners, aus den Kriminalakten gezogen. In: MzE 1/2, S. 10–18, S. 11, 16, 17, 18. Ein Kindermoerder aus Lebensueberdruß, aus den Kriminalakten. In: MzE 2/1, S. 13–15; C. F. Pockels, Merkwuerdige Beispiele von Lebensueberdruß. Einer gefangenen 23 jaehrigen Weibsperson. In: MzE 6/3, S. 35–41; Muetterliche Grausamkeit aus Melancholie und Verzweifelung. In: MzE 6/3, S. 47–51. J. D. Metzger, Geschichte eines Selbstmords aus Verlangen seelig zu werden. In: MzE 1/3, S. 28–32, S. 28, 31, 32. Auszug aus einem Briefe des fuerstlich k–ischen Wundarzts J. an den Herrn Pastor R. In: MzE 2/3, S. 31–35, S. 32, 34. Zur Hellen, Beispiel und Folgen einer schwaermerischen Sehnsucht nach dem Tode. In: MzE 2/1, S. 64–69, S. 65, 66. Etwas aus Robert G...s Lebensgeschichte oder die Folgen einer unzweckmaeßigen oeffentlichen Schulerziehung, vom Herrn Jakob, Lehrer am Gymnasium in Halle. In: MzE 1/3, S. 1–27, S. 21, 23, 8. Zur Fortsetzung siehe MzE 2/1, S. 1–12.

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Festzuhalten bleibt, daß die im ›Magazin‹ veröffentlichten drastischen Beispiele religiöser Melancholie, die Selbstmord- und Mordgeschichten,48 im ausgehenden 18. Jahrhundert keine Ausnahmefälle sind, das bestätigt die Auswertung von Gerichts- und Irrenhausarchiven.49 Darin liegt ihr zeitdiagnostischer Wert. Das ›Magazin‹ verfolgt mit ihrer Publikation keine polemische Absicht. Sondern neben dem religionspsychologischen Interesse dokumentieren die Beiträge zugleich einen sozialpsychologischen Blick der Pfarrer, Ärzte und Lehrer. Hinter dem sogenannten ›Lebensüberdruß‹ wird oft genug extreme Armut, familiäre und institutionelle Gewalt sichtbar, der die hier beobachteten Personen des vierten Standes ausgeliefert sind und die die in letzter Konsequenz vollzogene Vorstellung der ›Glückseligkeit eines künftigen Lebens‹ mitbedingt. Die religiöse Melancholie erhält im ›Magazin‹ das Gesicht einer Volkskrankheit. Die Zeitschrift korrigiert somit das traditionelle, im akademischen Diskurs dominante Bild der Melancholie als Gelehrtenkrankheit.50 Das Krankheitspotential einer sitzenden Tätigkeit wird hier vor allem in bezug auf Handwerker und Frauen diagnostiziert. Seelennaturkunde Als Beiträge zur Seelennaturkunde werden im ›Magazin‹ Auszüge aus Autobiographien und Biographien aus dem Umfeld des Pietismus oder ihm verwandter Frömmigkeitsbewegungen publiziert. Zu nennen sind hier u.a. Moritz’ ›psychologischer Roman‹ ›Anton Reiser‹ sowie die Autobiographien von Johann Salomo Semler, Johann Heinrich Jung-Stilling und Jeanne Marie von Guyon. In den im ›Magazin‹ veröffentlichten Teilen aus dem ›Anton Reiser‹51 beschreibt Moritz in Anlehnung an seine eigene Biographie die religiöse Sozialisation des Protagonisten im Spannungsfeld verschiedener Typen religiöser Melancholie: Der Vater, zunächst dem Pietismus zugeneigt,52 wendet sich, 48

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Siehe im weiteren Evers, Jakob Varmeier, (ein Moerder nach einem apocryphischen Buche in der Bibel.). In: MzE 3/2, S. 1–14; J. E. Gruner, Rau, ein Vatermoerder. In: MzE 7/3, S. 17–24. Gruner schildert den Fall eines Studenten von Christian August Crusius, der sich dessen ›Manier‹ der Bibelauslegung zu eigen macht und schließlich zum Vatermörder wird. Vgl. M. Schär, Seelennöte der Untertanen; E. Saurer, Religiöse Praxis und Sinnesverwirrung; D. Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die »Erfindung« der Psychiatrie in Deutschland, S. 250ff., 258f. Siehe hierzu R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 351–394; M. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 42–61. Siehe MzE 2/1, S. 76–95; 2/2, S. 22–36; 4/2, S. 73–80; 8/1, S. 90–99; 8/2, S. 7–30; 8/3, S. 108– 125. Vgl. K. St., Beispiel eines Mannes, welcher von seinem dreißigsten bis vier und funfzigsten Jahre ein recht eifriger Mystiker gewesen, nachher aber nach und nach davon losgekommen, und von seinem sechszigsten bis vier und sechszigsten Jahre, ganz von Vorurtheilen frei, noch gluecklich gelebt hat. In: MzE 8/2, S. 72–100, S. 80. Die Autorschaft dieser im ›Magazin‹ publizierten und zum Teil aus dessen eigenen Aufzeichnungen bestehenden Lebensgeschichte von Moritz’ Vater ist ungeklärt, sie wird entweder Moritz selbst, seinem jüngeren Bruder Johann Christian Konrad oder einem im Hause Moritz lebenden jungen Mann mit den Initi-

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durch die Guyonschen Schriften beeindruckt, separatistisch-quietistischen Kreisen zu. Er entwickelt sich über die praktizierte Guyon-Lehre von der »Ertötung aller sogenannten Eigenheit« und »Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften« zu einer gegenüber seiner Familie »harten und unempfindlichen Seele«.53 Bei der Mutter verbindet sich eine Disposition zum Selbstmitleid mit einer pietistisch vertieften Kirchenfrömmigkeit.54 Unter dem religiösen Ehezwist der Eltern, dem Konflikt von väterlicher separatistischer und mütterlicher Kirchenfrömmigkeit, haben vor allem die Kinder zu leiden.55 Schließlich macht Anton in seiner Lehrzeit beim Hutmacher Lobenstein mit einem pietistischen Weltbild calvinistischer Prägung Bekanntschaft.56 Der bereits in seiner Physiognomie als Melancholiker gezeichnete Lobenstein57 amalgamiert die Prädestinationslehre zu einer Berufsethik, die physische Ausbeutung legitimiert. In diesem Spannungsfeld und verstärkt durch die Lektüre der entsprechenden pietistischen Literatur58 entwickelt sich Anton zu einem »völlige[n] Hypochondrist[en]«,59 der beständig zwischen Gnadengewißheit

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alen K. St. zugeschrieben, vgl. A. Bennholdt-Thomsen und A. Guzzoni, Nachwort. In: MzE 10, S. 1–79, S. 49ff. K. P. Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 85–518, S. 88, 90. Vgl. K. P. Moritz, Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: MzE 2/1, S. 76–95, S. 76; Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 85–518, S. 90; R. Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus, S. 131–134. So entzündet sich der Streit z.B. am schulischen Religionsunterricht, an dem der Vater den Sohn nicht teilnehmen läßt; vgl. K. P. Moritz, Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: MzE 2/1, S. 76–95, S. 87. Siehe im weiteren: Beispiel eines Mannes, welcher von seinem dreißigsten bis vier und funfzigsten Jahre ein recht eifriger Mystiker gewesen, nachher aber nach und nach davon losgekommen, und von seinem sechszigsten bis vier und sechszigsten Jahre ganz von Vorurtheilen frei, noch gluecklich gelebt hat. In: MzE 8/1, S. 114–117; K. P. Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 85–518, S. 89–91. Vgl. R. Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus, S. 71–79; H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung, S. 230–232. Vgl. K. P. Moritz, Fortsetzung des Fragments aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: MzE 2/2, S. 22–36, S. 35f. So wird ein nicht näher gekennzeichnetes Buch genannt, »worinn der Proceß der ganzen Heilsordnung, durch Buße, Glauben, und gottseelig Leben, mit allen Zeichen und Symptomen ausfuehrlich beschrieben war.« K. P. Moritz, Fortsetzung des Fragments aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: MzE 2/2, S. 22–36, S. 26; vgl. R. Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus, S. 134–138. Im weiteren werden in den im ›Magazin‹ veröffentlichten Auszügen aus dem ›Anton Reiser‹ folgende für die religiöse Sozialisation des Protagonisten wichtige Titel angeführt: »Fenelons Todtengespraeche«, »Ramlers Tod Jesu«, »Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi«, K. P. Moritz, Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: MzE 2/1, S. 76–95, S. 85, 89. K. P. Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 85–518, S. 158.

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und -ungewißheit hin- und herschwankt und zu einem »Heuchler gegen Gott, gegen andre, und gegen sich selbst«60 wird. In den Auszügen aus Semlers ›Selbstgestaendnissen‹ ist ähnliches zu lesen. Symptome wie ein »Hange zur steten geistlichen Betruebniß«, »ein aengstliches Misfallen an mir selbst« und ein beständiger »schwankende[r] unruhige[r] Zustande« begleiten Semlers pietistische Sozialisation in den Jugendjahren und der Studienzeit. Der Pietismus wird rückblickend vor allem im Hinblick auf seinen Mangel an »Psychologie und menschlicher Erfahrung« kritisiert: »alles hieß Erbauung oder Wirkung der Gnade, was gar begreiflicher menschlicher Mangel und Fehler war.« Im weiteren wird die Schul- und Universitätsfeindlichkeit des Pietismus sowie der auf »Tropen« und »sinnliche Bilder«61 reduzierte Ausdruck der Frömmigkeit angeprangert. Semlers Wandel zur Neologie bleibt im ›Magazin‹ ausgespart, der Text setzt erst wieder mit der Zwischenüberschrift ›Seine maennlichen Jahre, und insbesondere sein haeußliches Leben‹ ein, um schließlich mit Zitaten zu enden, die der Herausgeber Moritz mit ›Seelendiaetaetik‹ überschreibt und die sich auf Semlers »taegliche Lebensordnung« beziehen. Die diätetischen Regeln, die sein Leben strukturieren: die »taegliche Bewegung«, die ›Sorgfaeltige Anwendung der Zeit‹, etwa durch die Lektüre alchimistischer Schriften auf dem Abort, und die Praktiken zur ›Selbstenthaltung bei offentlichem Lobe‹, wie der Verzicht auf die Lektüre vorteilhafter Rezensionen zu seinen Arbeiten, um eine intellektuelle »Selbsterniedrigung«62 einzuüben, die den zwischenmenschlichen Umgang erleichtert, erscheinen im ›Magazin‹ als Garanten glückender Lebenskunst. Dieser Moritzschen Textauswahl und -anordnung liegt implizit die These zugrunde, daß Semler trotz der explizit geübten Pietismuskritik in seiner Lebensführung wichtige Impulse der pietistischen Sozialisation in transformierter, säkularer Gestalt verwirklicht habe. So erscheint nun die Familie als säkulares Konventikel, als »allernaechste engste Gesellschaft auf der ganzen Welt«; aus den pietistischen »Erzaehlungen des Seelenzustandes nach den einzelnen Tagen und Stunden«63 ist eine tägliche Lebensordnung mit strengem Zeitmanagement geworden und die zunächst in Glaubensdingen eingeübte Selbsterniedrigung erweist sich nun als Mittel wissenschaftlicher Selbstbescheidung.

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K. P. Moritz, Fortsetzung des Fragments aus Anton Reisers Lebensgeschichte. In: MzE 2/2, S. 22–36, S. 24. Selbstgestaendnisse des Herrn Doktor Semler von seinen Charakter und Erziehung. In: MzE 2/1, S. 96–114, S. 103–105. Selbstgestaendnisse des Herrn Doktor Semler von seinen Charakter und Erziehung. In: MzE 2/1, S. 96–114, S. 106, 108, 109, 111, 114. Moritz definiert die Seelendiätetik in Abgrenzung zur Seelenheilkunde als vorbeugende, vornehmlich auf das »Gesetz der Enthaltsamkeit« gestützte Form der Lebenspraxis, deren Ziel es ist, »fortdaurend gluecklich zu seyn«, K. P. Moritz, Zur Seelendiaetaetik. In: MzE 1/1, S. 111–113, S. 112. Selbstgestaendnisse des Herrn Doktor Semler von seinen Charakter und Erziehung. In: MzE 2/1, S. 96–114, S. 108, 100.

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Die aus Jung-Stillings Autobiographie zusammengestellte Zitatcollage, die mit dem Durchbruchserlebnis beginnt und dann Textstellen versammelt, die über eine glückliche göttliche Führung berichten, dokumentiert schließlich einen gelungenen pietistischen Lebensvollzug.64 Die Auszüge aus dem ›Anton Reiser‹ und aus Semlers und Jung-Stillings Autobiographien werden aufeinanderfolgend im zweiten Band der Zeitschrift veröffentlicht. Somit liegt der Anordnung der Beiträge die Klimax von Diagnose, Therapie und Heilung zugrunde: Auf Reisers religiöse Krankengeschichte folgen die zwischen Pietismuskritik und säkularisierter pietistisch-diätetischer Lebensführung vermittelnden Aufzeichnungen Semlers und schließlich Jung-Stillings Bekehrungsgeschichte. Dies zeigt zum einen die vom Herausgeber intendierte Ausgewogenheit in der Wahrnehmung pietistischer Erfahrungswelten; zum anderen deutet sich an, welchen Beitrag der Pietismus für die Erfahrungsseelenkunde in den Bereichen Seelendiätetik und -heilkunde leisten kann. Seelenheilkunde Die im ›Magazin‹ durchgängig unterrepräsentierte Rubrik Seelenheilkunde – in den zehn Jahrgängen der Zeitschrift werden hier nur 14 Artikel publiziert – verzeichnet vier Beiträge, die sich diesem Thema im Kontext des Pietismus widmen.65 Einer der Beiträge, der Brief eines »Unstudirten«, empfiehlt als konkrete therapeutische Maßnahmen gegen religiöse Melancholie den geselligen Umgang mit Menschen, die Anweisung zu beständigen Geschäften, die Erzählung scherzhafter und wohltätiger Begebenheiten, um die Gedanken zu vervielfältigen, und schließlich die Erinnerung »an die kurze Dauer des zeitlichen Lebens«.66 Insbesondere letzteres Heilmittel dürfte Moritz’ Zustimmung gefunden haben, legt er doch etwa zeitgleich in seinem Pastorenroman ›Andreas Hartknopf‹ einem ebenfalls Unstudierten, nämlich dem Gastwirt Knapp, die Einsicht in den Mund, daß nur das beständige memento mori ein »wahres

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Vgl. Selbstgestaendnisse des Herrn Professor Jung aus Stillings Jugendjahren. In: MzE 2/1, S. 115–118. Neben den im folgenden vorgestellten Texten gehört noch die bereits erwähnte Lebensgeschichte von Moritz’ Vater dazu, s.o. Auf das im ›Magazin‹ herausgestellte therapeutische Potential der Mystik sei hier nur knapp verwiesen. Dieses läßt sich z.B. an der Titelwahl des Herausgebers Moritz ablesen, der die hier veröffentlichten Briefe des Guyon-Adepten Johann Friedrich von Fleischbein mit ›Waffen der Mystik gegen die Versuchungen zur Wollust‹, MzE 8/1, S. 71–75, und ›Rath der Mystik wider die Schwaermereien der Einbildungskraft‹, MzE 8/1, S. 78–82, überschreibt. Oder wenn Moritz durch die Anordnung der Texte den Berliner Aufklärer und Mediziner Marcus Herz mit Jeanne Marie von Guyon in ein Gespräch versetzt, in dem sich zwei Formen einer spiritualistischen Katharsis wechselseitig kommentieren, vgl. Fragment aus des Herrn Professor Herz Schrift ueber den Schwindel. In: MzE 9/1, S. 97–103; Mystische Vorstellungsart vom Fegefeuer, Fragment aus einer Schrift der Madame Jeanne Marie Bouviere de la Mothe Guion. In: MzE 9/1, S. 104–108. Ein Brief die Seelenheilkunde betreffend. In: MzE 3/1, S. 115–117, S. 115, 116.

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Gefühl des Lebens« hervorbringe und mithin Anlaß zu fortgesetzter »Lebenskunst«67 gebe. Der anonym publizierte Text ›Einfluß der Dogmatik auf die Ruhe und Heiterkeit der Seele. Reflexionen eines ehemaligen Hypochondristen‹ stellt einen höchst satirischen Beitrag zur Seelenheilkunde dar. Ausgehend von einer generellen Disposition der Theologen zur Hypochondrie, u.a. bedingt durch die »Ungewißheit mancher Theile ihrer Wissenschaft, die ueberhaupt sehr oft mehr wissen will und soll, als dem Menschen ueberhaupt gegeben ist«, wird diese näherhin als Zeitkrankheit der letzten 20 Jahre diagnostiziert und als Ursache wird die seitdem »aufkeimende Heterodoxie« genannt. Ironisch evoziert der Text als Therapeutikum die eingeschworene Lehre, die Dogmatik: Wer nicht zum Hypochonder werden wolle, der solle es so halten wie ein Kandidat der Theologie, der auf die Frage, ob Christus der Sohn Gottes sei, dem Prüfer mit Dienstfertigkeit erwiderte: »wie Ew. – – – befehlen.«68 In dieser Satire stellt der Autor zum einen das emanzipative Potential der Heterodoxie im Allgemeinen wie des Pietismus im Besonderen heraus, zum anderen wird der weitgefächerte, bereits vorgestellte Diskurs über religiöse Melancholie im ›Magazin‹ in seiner zeitdiagnostischen Bedeutung reflektiert: Religiöse Melancholie erscheint als eine notwendige Krankheit auf dem Wege religiöser oder theologischer Selbstaufklärung. Und es ist zu vermuten, daß nicht die Dogmatik, sondern diese Einsicht den im Titel genannten Hypochondristen zur Ruhe und Heiterkeit der Seele geführt hat. Schließlich sind die seelenheilkundlichen Konsequenzen von Moritz’ ›Magazin‹-Beitrag ›Sonderbare Zweifel und Trostgruende eines hypochondrischen Metaphysikers‹ herauszustellen. Besonders an diesem Text kann veranschaulicht werden, welchen systematischen Ertrag der Pietismus für die Erfahrungsseelenkunde birgt. In einer hypothetischen Gegenüberstellung des menschlichen begrenzten und des göttlichen vollkommenen Verstandes unterscheidet Moritz zwei Formen der Selbst- und Welterkenntnis, wobei der Mangel der menschlich-begrenzten Perspektive durch die Annäherung an die göttliche geheilt werden soll: »Gott hat einen unendlich vollkommnern Begriff von uns als wir selbst von uns haben. Jemehr wir uns mit ihm vereinigen, desto mehr werden wir uns selbst kennen lernen.« Was der Mensch nur in der Zeit, im Nacheinander der Vorstellungen und im Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft denken kann, stellt sich im Auge Gottes als zeitloses Nebeneinander dar. Über die Gedanken der Gottebenbildlichkeit69 67

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K. P. Moritz, Andreas Hartknopf. Eine Allegorie. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 519–601, S. 572. Zu Hartknopfs diätetischer Lebenskunst siehe B. Thums, Aufmerksamkeit, S. 252–289. Einfluß der Dogmatik auf die Ruhe und Heiterkeit der Seele. Reflexionen eines ehemaligen Hypochondristen. In: MzE 3/1, S. 125–127, S. 125, 127. H.-G. Kemper, Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungsprozeß.

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und der unio mystica werden im Text die Möglichkeiten einer Annäherung an den göttlichen Gesichtspunkt erwogen und anhand zweier Beispiele plastisch vor Augen geführt: Zum einen der Blick vom Turm auf eine Stadt, der einen Überblick über das Nebeneinanderliegende verschafft, das derjenige, der durch die Straßen geht, nacheinander abschreiten muß. Zum anderen werden die »Worte« genannt, die zwar immer noch an das Nacheinander gebunden sind, aber in ihrer bewahrenden Funktion dem göttlichen Gedächtnis nahekommen: »Ach also ist von dem Vergangenen nichts vergangen, so ist noch alles so da, wie es war, aufbewahrt in dem allumfassenden Gedanken des Ewigen. Wie tröstlich!«70 Da der Text sich zugleich als Tagebuchnotiz zu erkennen gibt, gewinnt er eine performative Komponente.71 Er vollzieht, wovon er spricht. Mit dieser Beschreibung zweier Perspektiven und der aufgezeigten Möglichkeit ihrer Annäherung ist ein Grundgedanke von Moritz’ Werk angesprochen. Die Erfahrungsseelenkunde beerbt in ihrer Moritzschen Prägung die pietistische Selbstbeobachtung, die eine Selbstbeobachtung im Auge Gottes ist, indem sie diese doppelte Perspektive – eine Selbstbeobachtung als Fremdbeobachtung – wissenschaftlich systematisiert. Es liegt ein Vorgang der Selbstdistanzierung bzw. Selbstspaltung vor: Ich »betrachte mich als einen Gegenstand meiner eignen Beobachtung, als ob ich ein Fremder wäre«.72 Daß solche Prozesse der Selbstdistanzierung eingeübt werden müssen, spricht Moritz im ›Magazin‹ unter dem Stichwort Seelendiätetik an. Pietistisch-mystische Praktiken der ›Selbstaufopferung‹73 können so in Praktiken einer säkularen wissenschaftlichen Selbsterniedrigung überführt werden, wie dies das Beispiel Semler zeigte. Und aus diesem Grund verdeckt Moritz in seinem psychologischen Roman ›Anton Reiser‹ das Autobiographische bewußt. Denn durch die Aufspaltung des Ich in Protagonist/Patient einerseits und Erzähler/Arzt andererseits wird die Selbstbeobachtung als wissenschaftlich-distanzierte Fremdbeobachtung insze-

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[K. P. Moritz], Sonderbare Zweifel und Trostgruende eines hypochondrischen Metaphysikers. In: MzE 8/2, S. 64–71, S. 69, 70, 68. Daß es sich hier um einen nicht signierten Moritz-Text handelt, ist in der Forschung unstrittig, vgl. A. Bennholdt-Thomsen und A. Guzzoni, Nachwort. In: MzE 10, S. 1–79, S. 66, und läßt sich durch die Übereinstimmung mit anderen Texten schlüssig begründen, so ist z.B. das hier erwähnte Motiv des Turmblicks ein strukturierendes Merkmal des ›Anton Reiser‹. Siehe hierzu M. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 381–384. Ein anderer im ›Magazin‹ veröffentlichter Text aus dem ›Reiser‹ führt die Dialektik von »Ueberblick des Ganzen« und »Verlieren unter der Menge« anläßlich eines Wallspaziergangs vor, Die Menschenmasse in der Vorstellung eines Menschen. In: MzE 4/2, S. 73–78, S. 74, 76. Siehe hierzu Müllers Ausführungen zur Genese des ›Reiser‹ aus der pietistisch imprägnierten Form des Tagebuchs, diese »bei Moritz schon im Ansatz säkularisierte Formgenese« ließe sich im Roman selbst beobachten, K.-D. Müller, Autobiographie und Roman, S. 161. K. P. Moritz, Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 793–809, S. 802. Vgl. [K. P. Moritz], Sonderbare Zweifel und Trostgruende eines hypochondrischen Metaphysikers. In: MzE 8/2, S. 64–71, S. 69.

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niert.74 Dabei wird die in den Vorreden des Romans realisierte Turmschau des Erzählers religiös qualifiziert.75 Im Wissen um den »Fortgange des Lebens« seines Protagonisten, in der Zusammenschau einer »unendlichen Menge von Kleinigkeiten«76 nähert er sich idealiter der im ›Magazin‹-Text vorgestellten göttlich-bewahrenden Perspektive eines zeitlosen Nebeneinanders an. Zugleich säkularisiert der Roman Erfahrungs- und Erzählmuster der pietistischen Autobiographie zu einem wissenschaftlichen Begründungsdiskurs:77 Der Gedanke der göttlichen Führung wird in einen kausalpsychologischen Determinismus umgedeutet, Gott wird durch das Milieu ersetzt; der religiöse Durchbruch wird in eine erzähltechnische Wendepunktdramaturgie überführt; und schließlich bildet das Bekehrungsschema einer stufenweisen Heiligung das Erzählmuster für den psychologischen Entwicklungsroman. Die Tätigkeit des von Moritz im ›Magazin‹ und im ›Anton Reiser‹ perspektivierten ›wahren moralischen Arztes‹ läßt sich als kontinuierliches Wechselspiel von Erfahrung und Reflexion, von Diagnose und Therapie beschreiben. Es kann systematisch genauer eine Selbst- und Fremdbeobachtung erster und zweiter Ordnung unterschieden werden. Zur ersten Ordnung gehören die ›Fakta‹, etwa die Fallbeispiele religiöser Melancholiker im ›Magazin‹. Im Zentrum steht hier die realitätsnahe Schilderung des individuellen Falls, die Diagnose. Zur Selbst- und Fremdbeobachtung zweiter Ordnung gehören die im ›Magazin‹ veröffentlichten reflexiven Texte sowie die Erzählerkommentare im ›Anton Reiser‹. Hier handelt es sich um eine religiös- oder wissenschaftlich-distanzierte Selbstbeobachtung mit therapeutischem Anspruch. Moritz’ Auseinandersetzung mit dem Pietismus kann so einerseits als Würdigung dieser Frömmigkeitsbewegung hinsichtlich ihrer Leistungen in der Selbstbeobachtung zweiter Ordnung, der Selbstbeobachtung als Fremdbeobachtung beschrieben werden. In der Annäherung an den Gesichtspunkt Gottes beerbt der Erfahrungsseelenkundler sowohl den objektiven Anspruch göttlicher Zusammenschau als auch die therapeutischen ›Trostgründe‹ der Religion. Andererseits ist in diesem Lob bereits die Kritik impliziert. Der Pietismus tendiert dazu, die Selbstbeobachtung erster Ordnung zugunsten jener zweiter Ordnung zu vernachlässigen. Was Moritz im ›Magazin‹ über die Mystik sagt, sie sei eine »Metaphisik ohne Physik«, die

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Vgl. K.-D. Müller, Der ›psychologische Roman‹ als wissenschaftliches und ästhetisches Modell. In: Müller, Autobiographie und Roman, S. 145–169, und im weiteren K.-D. Müller, Der psychologische Roman als Zeitroman; Müller, Karl Philipp Moritz: Lebenswelt und Ästhetik. Vgl. M. Wagner-Egelhaaf, Die Melancholie der Literatur, S. 383f. K. P. Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. In: K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 85–518, S. 86, 186. Siehe hierzu G. Niggl, Die psychologische Säkularisation der religiösen Autobiographie; F. Stemme, Karl Philipp Moritz und die Entwicklung von der pietistischen Autobiographie zur Romanliteratur der Erfahrungsseelenkunde; Stemme, Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde.

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gleich das »Resultat vorwegnimmt«,78 läßt sich auch auf den Pietismus beziehen. Oder noch einmal in den Worten Semlers formuliert: Zu wenig »Psychologie und menschliche Erfahrung« und zu viel »Erbauung oder Wirkung der Gnade.«79 Hervorzuheben bleibt, daß Moritz mit dieser Position in der aufklärerischen Pietismuskritik eine Sonderstellung einnimmt. Denn hier wird gleichsam die Theorielastigkeit dieser Frömmigkeitsbewegung kritisch beleuchtet, die damit auf eine Ebene mit jenen philosophisch-wissenschaftlichen Metaphysiken der Aufklärung – Popularphilosophie, Pädagogik und Anthropologie – gehoben wird, die als ihre Gegner angetreten waren. Um einen dieser gewichtigen Gegner noch einmal zu Worten kommen zu lassen: Für Kant führt der Weg von dem pietistisch imprägnierten »Tagebuch eines Beobachters seiner selbst« direkt »zu Schwärmerei und Wahnsinn«, denn »sich belauschen zu wollen [...,] ist entweder schon eine Krankheit des Gemüts (Grillenfängerei), oder führt zu derselben und zum Irrenhause.«80 Der Erfahrungsseelenkundler Moritz insistiert hingegen sowohl einem religiösen als auch einem philosophisch-wissenschaftlichen begrifflichen Überbau gegenüber zunächst auf der Sammlung und Sicherung von Fakten. Und wollte man die im ›Magazin‹ ausgetragene Kontroverse zwischen Pietismus und Aufklärung im Hinblick auf ihre Patenschaft für die sich konstituierende Wissenschaft der empirischen Psychologie entscheiden, so neigt sich die Waagschale zumindest in der Wahrnehmung des Herausgebers Moritz zugunsten des ersteren Kontrahenten, der sich »doch noch weit mehr mit dem innern Seelenzustande beschaeftiget, als die gewoehnliche Moral und Paedagogik.«81 Es konnte gezeigt werden, daß Moritz die intrinsische Verbindung von Selbst- und Fremdbeobachtung in der pietistischen Frömmigkeit in der Beobachterperspektive des Erfahrungsseelenkundlers wissenschaftlich systematisiert. In diesem Sinne wäre den Kritikern der Säkularisierungsthese zu widersprechen.82 Vor allem fördert der Akzent auf die wissenschaftliche Bedeutung pietistischer Selbstbeobachtung auch die in der Forschung bislang wenig beachtete aufklärungskritische Perspektive des ›Magazins‹ zu Tage. Eine einäugig betriebene Aufklärung produziert nämlich in gleichem Maße 78 79 80 81 82

K. P. Moritz, Ueber Mystik. In: MzE 7/3, S. 75–76. Selbstgestaendnisse des Herrn Doktor Semler von seinen Charakter und Erziehung. In: MzE 2/1, S. 96–114, S. 103. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 11, 14. K. P. Moritz, Revision der drei ersten Baende dieses Magazins. In: MzE 4/1, S. 1–56, S. 35. Siehe hierzu vor allem G. Sauder, Empfindsamkeit. Bd. 1, S. 58–64, S. 110f., 122. Bezeichnenderweise stammt die bei Sauder zitierte Polemik gegen die »Parthey der Religiosen, Pietisten, Schwaermer und Geisterseher« (122; vgl. MzE 5/3, S. 43) im ›Magazin‹ nicht von Moritz, wie fälschlich vermerkt, sondern von Pockels. Vgl. auch L. Müller, Die kranke Seele und das Licht der Erkenntnis, S. 240–254, und H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung, S. 30, der später hingegen selbst die Säkularisierungsthese in Anspruch nimmt, vgl. 137f. Zustimmend wird diese wieder bei H.-G. Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/1, S. 48, 70f., aufgenommen.

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pathologische Auswüchse, wie sie dies der Religion im Generalverdacht der Melancholie unterstellt. Sie wird, wie Moritz in der Auseinandersetzung mit dem Popularphilosophen und zeitweiligen Mitherausgeber des ›Magazins‹ Carl Friedrich Pockels diagnostiziert, zur ›Aufklärungssucht‹.83 Diese Sucht kann als eine Form der Fremdbeobachtung beschrieben werden, die die Deformation jeweils nur am anderen erkennt und der hingegen die Einsicht in die Relevanz der Selbstbeobachtung und damit Selbstaufklärung fehlt. Darum stellt ihr Moritz als Spiegelbild und Therapeutikum noch einmal das ältere Paradigma pietistischer Frömmigkeit gegenüber. Mit den in den Rubriken Seelenkrankheitskunde und Seelenheilkunde publizierten Beiträgen im ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ wird so ein Doppelgesicht des Pietismus anschaulich, der sowohl ätiologische als auch therapeutische Funktion erhält.

II.3.

Theatromania

Weitaus seltener als die religiöse Melancholie ist eine andere Zeitkrankheit: die Theatromania. Durch ihre Literarisierung in Moritz’ ›Anton Reiser‹ und Goethes Romanfragment ›Wilhelm Meisters theatralische Sendung‹ wird jedoch eine breite Öffentlichkeit mit diesem Krankheitsbild bekannt gemacht. Der Begriff geht auf das Werk ›Theatromania, Oder Die Wercke Der Finsterniß In denen öffentlichen Schau-Spielen von den alten Kirchen-Vätern verdammet‹ (1681) des Hamburger Theologen und lutherisch-orthodoxen Dogmatikers Anton Reiser zurück, dessen Namen Moritz dann beziehungsreich seinem Protagonisten gibt.84 Sie befällt vor allem junge Männer; Symptom ist ein gänzlicher Realitätsverlust, der an die »Grenzen des Wahnsinns«85 führen kann; und sie ist eine Spielart der umfassenderen Rubrik ›Leiden der Poesie‹,86 die uns auch noch im nächsten Kapitel in Gestalt der Lesesucht beschäftigen wird (Kap. 83

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Moritz kritisiert Pockels »moralisirenden Tone«, in dem über Gegenstände der Erfahrungsseelenkunde »geeifert« werde, und diagnostiziert sein »leicht weg raesonniren« als eine »Sucht, viele Dinge leicht erklaerlich zu finden«, die »dadurch selbst ein Gegenstand psychologischer Beobachtungen [wird]«. K. P. Moritz, Revision ueber die Revisionen des Herrn Pockels in diesem Magazin. In: MzE 7/3, S. 3–11, S. 7, 4, 3, 6. Vgl. K. P. Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 1, S. 989 (Kommentar); E. Catholy, Karl Philipp Moritz; Catholy, Die lebensmäßige Funktion des Theaters bei Karl Philipp Moritz; Catholy, Karl Philipp Moritz und die Ursprünge der deutschen Theaterleidenschaft; W. Martens, Zur Einschätzung von Romanen und Theater in Moritz’ ›Anton Reiser‹; K.-D. Müller, Karl Philipp Moritz: Lebenswelt und Ästhetik. Siehe auch den von Elend, Gefängnis, bevorstehender Hinrichtung bis zum guten Abschluß führenden Lebenslauf des realen Anton Reiser: Art. Reiser oder Reiserus (Anton). In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 31 [1742], Sp. 386–388. M. J. D. Mauchart, Eine Geschichte eines ungluecklichen Hangs zum Theater. In: MzE 7/3, S. 106–116, S. 115. Moritz spricht in bezug auf die Theaterleidenschaft von »einer mißleitenden Phantasie«, Noch einige Belege zu dem Aufsatze: ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 4/1, S. 85–109,

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III.1). Verhandelt die Aufklärung ihr Problem mit der Religion durch die religiöse Melancholie, so widmet sie sich in der Theatromania der Kunst in ähnlicher Weise. In Moritz’ ›Magazin‹-Beitrag zum Thema kann ein gleitender Übergang zwischen religiöser Melancholie und Theaterleidenschaft beobachtet werden, da der Autor die These vertritt, daß beide Krankheiten auf dasselbe Leiden der Einbildungskraft zurückzuführen seien. So werden nicht zeitüblich falsche Religionsbegriffe angegriffen, sondern es wird auf eine tiefer liegende strukturelle Ursache aufmerksam gemacht, eben auf die Schwierigkeiten einer jungen Intellektuellengeneration, mit ihren Phantasien zurechtzukommen. Überzogene Erwartungen auf der Bühne der Welt, eine bedeutende Rolle zu spielen, können sowohl zu melancholischen Predigern als auch zu trübsinnigen Schauspielern führen. Das ›Magazin‹ druckt zwei Fallbeispiele von Theatromania ab. Eine von Moritz mitgeteilte Fallgeschichte eines jungen Freundes D*** und in Reaktion auf diese eine von Immanuel David Mauchart, Repetent am Tübinger Stift und späterer Diakon von Nürtingen, ans ›Magazin‹ gesandte, in der ein Freund ihm brieflich von seinem vormaligen unglücklichen Hang zum Theater berichtet. Die erste Fallgeschichte ist von besonderem Interesse, da sie den Herausgeber Moritz in der Rolle des Laientherapeuten zeigt. Hier kann in der Praxis beobachtet werden, was im vorangehenden in der Auseinandersetzung mit dem Pietismus als Seelenheilmittel Kontur gewann: die Selbst- als Fremdbeobachtung. Denn Moritz entwirft für seinen leidenden Freund ein Trainingsprogramm, wie eine solche doppelte Perspektive eingeübt werden kann. Der Fall wird so in die Rubrik ›Seelenheilkunde‹ eingeordnet und firmiert als Beispiel einer »gänzlichen«87 Heilung. ›Ein ungluecklicher Hang zum Theater‹ ist im ›Magazin‹ als ›Fortsetzungsroman‹ abgedruckt, bestehend aus einer in sich abgeschlossenen Kranken- und Genesungsgeschichte des Laienarztes Moritz, den Briefen des Patienten von Oktober bis Dezember 1783 sowie dessen nachträglich als Vorgeschichte der Erkrankung publizierte Briefe vom Februar 1781. Moritz’ Fallgeschichte zerfällt in zwei, auch narrativ deutlich voneinander abgesetzte Teile: Die Krankengeschichte des Jünglings wird in einer Er-Erzählung mit häufigen auktorialen Einschüben wiedergegeben (117–120), während die Genesungsgeschichte vom Erzähler-Ich als beteiligtem Laienarzt berichtet wird (121–125). Daß es sich um eine durchaus ernstzunehmende Krankheit handelt, vermittelt im auktorialen Gestus der Erzählbeginn: »Einer meiner Freunde hat einen Sohn, den, bei dem besten Herzen, ein unseeliger Hang zum Theater beinahe um die ganze

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S. 99, und in dem im ›Magazin‹ publizierten Auszug aus dem ›Anton Reiser‹ von: Die Leiden der Poesie, von dem Herausgeber. In: MzE 8/3, S. 108–125. K. P. Moritz, Ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 3/1, S. 117–125, S. 125.

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Glueckseeligkeit seines Lebens gebracht haette.«88 Bestätigung findet diese dramatische Einschätzung später im Brief des Patienten: »Ach! Die unglueckliche Idee, welcher Lebensfreuden hat sie mich beraubt, mich bald um allen Verstand gebracht!«89 Als schon früh auftretende Symptome der Erkrankung werden ein geradezu suchthaftes »Komoedien […] lesen« und ein »unwiderstehlich[r] Drang zum theatralischen Deklamiren« festgehalten, der dann auch zum falschen Motiv für das Studium und die Berufswahl des Priesters wird. »Ein Grund, der mehr junge Leute zum Studium der Theologie antreibt, als man glauben sollte.« Hier stimmt Moritz mit der Verbindung von Schauspiel und Predigeramt eines seiner Lieblingsthemen an, das er in seinem literarischen Werk weiterverfolgt.90 Als Epochenproblem einer ganzen Generation schildert er die Neigung zum theatralischen Rollenspiel, die sich vor allem an äußeren »Zeichen der Sache«, nicht der »Sache selbst«, und an ›Verkleidungen‹ festmacht, sei es Talar oder Kostüm. Das Studium der Theologie bringt D*** so auch nicht von seinem unglücklichen Hang zum Theater ab, sondern, will man dem Erzähler glauben, verstärkt diesen noch. Am Ende seiner Ausbildung kommt die Krankheit zum vollen Ausbruch und wird als tiefe Depression dargestellt: »Er wurde gaenzlich unthaetig, mißmuethig, traurig, schloß sich Tage lang auf seiner Stube ein, scheute sich, Menschen zu sehen, mochte keine Hand bewegen – die entschließende Kraft seiner Seele war gelaehmt.« Die Diagnose des Erzählers lautet: eine »zu schwache Vernunft«, die »mit der staerkeren Phantasie« in einem »immerwaehrenden Kampfe« liegt. Die Krankheitsbeschreibung wird allerdings hier auch schon in ein biblisches Bild gebracht – der Wanderer am Scheideweg –,91 das einen Vorschein auf Moritz’ Therapieansatz gibt: Weil er nun kein Ziel hatte, worauf die einzelnen kleinen Handlungen seines Lebens, im Ganzen genommen, abzwecken konnten, so ging es ihm, wie einem Wanderer, der einen Scheideweg vor sich sieht, wo er nicht weiß, welchen er waehlen soll, und ehe er, weil er schon muede ist, einen Schritt vergeblich thun will, lieber ganz still steht, bis er erst mit Gewißheit erfahren kann, wohin er seinen Fuß lenken soll. 92

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K. P. Moritz, Ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 3/1, S. 117–125, S. 117. Noch einige Belege zu dem Aufsatze: ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 4/1, S. 85–109, S. 93. Die Publikation der Briefe D***s aus dem Jahr 1781 dient dann allein dem Zweck, diese These des Laienarztes Moritz zu untermauern. Zu diesem Zusammenhang im ›Reiser‹ siehe L. Müller, Die Erziehung der Gefühle im 18. Jahrhundert. Siehe Salomos ›Väterliche Mahnung‹: »Der Gerechten Pfad glänzt wie das Licht am Morgen, das immer heller leuchtet bis zum vollen Tag. Der Gottlosen Weg aber ist wie das Dunkel; sie wissen nicht, wodurch sie zu Fall kommen werden.« (Spr 4,18–19) Dies setzt Moritz im Tagesablauf seiner Therapie um. Das Zwei-Wege-Motiv ist darüber hinaus in Anknüpfung an Mt 7,13–14, »beständige[r] Beitrag des Pietismus zur christlichen Ikonographie«, Hoffnung besserer Zeiten, S. 156. K. P. Moritz, Ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 3/1, S. 117–125, S. 117, 119f.

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Ganz nebenbei ist so auch das zentrale Thema der Bildungsromane der Zeit angesprochen, in denen neben der Frauen- die Berufswahl im Mittelpunkt steht, die, ob religiös oder ästhetisch, immer mit Berufung zu tun hat (Kap. III.3). Moritz’ Titelwahl ›Anton Reiser‹ nimmt diese Motivik deutlich genug wieder auf. In diesem Zustand wird D*** zu Moritz gesandt und der Text wechselt mit diesem Datum in die Ich-Perspektive. Der Laienarzt entwirft für seinen Schützling eine ganzheitliche Kur, die das Motiv des Wanderers insofern aufnimmt, als Spazierengehen einer ihrer wichtigen Bestandteile ist und eingeübt wird, zwei Wege zugleich zu gehen. Morgens werden Spaziergänge in der freien Natur unternommen, bei denen der Patient die »Schönheiten der Natur«, der »großen, und wahren Natur« schätzen lernt, »ruhig« wird, sich »ermannet« und sein »edleres Selbst« auslebt. Abends darf er in die »Komoedie« gehen, und seiner Neigung für die »oft so laeppisch ueberspannte, oder winzig entstellte Natur auf dem Theater«93 frönen. Diese Besuche haben, das verrät schon die Diktion, einen genau gegenteiligen Effekt zum morgendlichen Naturerlebnis: »innere Unruhe« und »Unentschlossenheit«. Moritz wendet an D*** damit Behandlungspraktiken an, die in den Kontext der psychiatrischen Anfänge seiner Zeit in ›moral management‹ bzw. ›psychischer Kurmethode‹ gehören (Kap. III.1). Das Eingehen auf die Phantasien des Patienten wird dort als Einstieg in die Therapie propagiert und Spazierengehen als Rückkehr zu körperlicher und geistiger Beweglichkeit empfohlen, auch ästhetische Erfahrungen werden in die psychischen Kurmethoden der Zeit integriert. Allerdings in gänzlich anderer Form als in Moritz’ Fallgeschichte. Denn hier wird der Patient morgens und abends in zwei unterschiedliche Kunst- und Lebensformen eingeführt, zwischen denen er wählen soll: Einmal die wahre Naturästhetik und die große Welt, die ihn zur Elternliebe und zu einem »thaetigen und gemeinnuetzigen Leben« zurückbringen soll; einmal die ›läppische‹ Kunstästhetik und die kleine Welt des Theaters, die ihn aus den bürgerlichen Verhältnissen herauslöst – im Hintergrund steht ja noch immer die Wandertruppe und nicht die ›gute stehende Schaubühne als moralische Anstalt‹ (Schiller). Mit den beiden Ästhetiken verbindet der Erzähler, wie seine Wortwahl deutlich macht, auch zwei verschiedene Rezeptionsformen. Das ästhetische Naturerleben ermöglicht reflexive Distanz und bringt so ein ›edleres, gemeinnütziges Selbst‹ hervor; die Illusionsästhetik des Theaters scheint ein identifikatorisches Suchtverhalten zu befördern. Bei der Wahl zwischen solch gezeichneten Alternativen ist klar, wofür 93

Die Wortwahl des Schriftstellers Moritz, der sich mit ›Blunt‹ immerhin auch einmal im theatralischen Genre versuchte, ist um so irritierender, da er hier nicht irgendwelche Schauer- und Rührstücke im Visier hat, sondern Schillers »Räuber«, Ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 3/1, S. 117–125, S. 122, 124. Ein Stück, von dem man eigentlich vermuten könnte, daß der Erfahrungsseelenkundler ihm ob seines reichen psychologischen Materials mehr abgewinnen könnte.

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sich der Patient letztlich entschieden hat, nämlich gegen den Eintritt in eine Wandertruppe und für die Rückkehr zu seinen Eltern. Moritz’ Fallgeschichte schließt mit einem Happy-End: »Allein er reiste denselben Tag noch zu seinen Eltern ab, die ihren Sohn, der nun gaenzlich von seiner Phantasie geheilt war, mit ofnen Armen empfingen.«94 Es spricht für den Empiriker und den Autor Moritz, daß ihm das Interesse am Seelenleben wichtiger ist als sein persönlicher Heilungserfolg und die Abgeschlossenheit seiner Geschichte. Denn beides wird durch die Publikation der Briefe D***s nach seiner Rückkehr zu den Eltern zunichte gemacht. Der Patient ist nicht gänzlich geheilt. Die Idee vom Theater steht zwar nicht mehr im Vordergrund, das strukturelle Problem des Wanderers, die Frage nach dem Wohin ist aber weiter ungeklärt. Untätigkeit, Seelenlähmung und »wieder ganze Wochenlang« anhaltende »schwermuethigste Launen« liegen erneut vor. Es ist die emotionale Verfassung eines Arbeitslosen, die diese Briefe eindrücklich schildern. Der Aufenthalt bei Moritz und der Therapieerfolg erscheint rückblickend nur als kurzfristiger Kureffekt, »mitten in der faden Stadt […] sind mir jene Natur=Ideen bald ganz verschwunden; jene einfache patriarchalische Lebensart«.95 Besondere Beachtung verdienen diese Briefe aber auch darin, daß Moritz in ihnen selbst als Kranker angesprochen wird, der das Problem D***s aus eigner Erfahrung nur allzu gut kennt. Während der Erzähler der Fallgeschichte und der Herausgeber der Briefe in seinen Kommentaren immer in der Rolle des Arztes und Diagnostikers bleibt, wird er in der brieflichen Anrede als Kranker erkennbar. In deren Adressierung treten Züge des Anton Reiser hervor. Wir erfahren nun, daß der Laienarzt während der Kur von D*** selbst mit psychosomatischen Leiden, »Unpaeßlichkeit«, auf zwischenzeitliche Rückschläge seines Patienten reagierte. Und D*** rückt in den Briefen auch in die Rolle des Therapeuten: »bist Du wieder munter, wie geht Dirs itzt in Deiner Eremitage? sitz ja nicht zu viel, und mach Dir Bewegung, schone Dich ja, und erkaelte Dich nicht«; »Dem Hange zur Traurigkeit such so viel als moeglich nicht anzuhaengen […]. Suche Dich alsdann so viel als moeglich zu zerstreuen: damit solche Gedanken nicht bei Dir einwurzeln.«96 So liegt die Berechtigung dafür, daß Moritz den Fortsetzungsroman ›Ein ungluecklicher Hang zum Theater‹ unter Seelenheilkunde veröffentlicht, mehr in dessem selbsttherapeutischen Erfolg. In dieser Episode ist er zugleich mitfühlender, unpäßlicher Freund und Arzt und übt so 1783 schon praktisch jene Doppelperspektive ein, die er 1785 literarisch mit der Veröffentlichung des 94 95 96

K. P. Moritz, Ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 3/1, S. 117–125, S. 122f., 125. Noch einige Belege zu dem Aufsatze: ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 4/1, S. 85–109, S. 92, 95. Noch einige Belege zu dem Aufsatze: ein ungluecklicher Hang zum Theater. In: MzE 4/1, S. 85–109, S. 90, 101.

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ersten Teils des ›Anton Reiser‹ zur Anwendung bringt und deren Heilerfolg der oben gedeutete ›Magazin‹-Beitrag von 1791 ›Sonderbare Zweifel und Trostgruende eines hypochondrischen Metaphysikers‹ dann theoretisch begründet. Das ›Magazin‹ zeigt so, was der ›psychologische Roman‹ ›Anton Reiser‹ bewußt verbirgt: die Übergänge vom Patienten Moritz zum Therapeuten sowie Diagnostiker Moritz. Der Herausgeber liefert dem Imperativ des Gnothi sauton gemäß sich selbst im ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ seinen Zeitgenossen in vielen Facetten zur psychologischen Untersuchung aus und speist mit Herz’ Fallgeschichte schließlich auch den eigenen schwindelanfälligen Körper in den Diskurs ein. Diese Parabel von großer und kleiner Welt, Natur- und Kunstästhetik, Distanz und Identifikation, edlem und krankem Selbst ist allerdings nicht das letzte Wort, das Moritz zum Theater zu sagen hat. Nach seinem Italienerlebnis (1786–1788) ist er versöhnlicher auf das Tragische zu sprechen und skizziert für die Theatromania in der rezeptionsästhetischen Schlußwendung seines Aufsatzes ›Über die bildende Nachahmung des Schönen‹ sogar eine spezifisch dramatische Kur. Die Doppelperspektive von Patient und Arzt, von menschlichem und göttlichem Bewußtsein läßt sich nämlich auch in der Dialektik von Einfühlung in das tragische Geschehen und mitleidiger, aber distanzierter Überschau einüben, sei dies in Anbetracht der Theaterbühne oder der Geschehnisse der großen Welt. Einerseits versetzt der Zuschauer sich in liebender Identifikation in die tragische Existenz: »da scheinet in der Darstellung seiner Leiden, die immerwährende Auflösung unsres eignen Wesens, auf einige Augenblicke, uns bewußt zu werden [...]. So vollendet die Liebe unser Wesen«. Andererseits erhebt sich der mitleidige Zuschauer über das partikulare Leiden des Individuums, das als notwendiges Moment in der Vollendung der Gattung, des »immerwährend sich verjüngende[n] Daseins« akzeptiert wird: »das erhabnere Mitleid aber blickt tränend auf die Vollendung selbst herab – Weil es Aufhören und Werden, Zerstörung und Bildung in eins zusammenfaßt.«97 Der mitleidige Zuschauer der Tragödie wie auch des tragischen Geschichtsprozesses erhebt sich zu einem quasi göttlichen Gesichtspunkt und zur Affirmation des Werdens im Vergehen. Denn in der Dialektik von Einfühlung (Liebe) und distanzierendem, melancholischem Mitleid – der Blick von oben ist trotz Bejahung des Leidens und der eigenen Zerstörung ›tränend‹ – ist ihm Innen- wie Außensicht gleichermaßen zugänglich. Mit diesem Heilungsversprechen von Moritz’ Ästhetik leitet die Studie nahtlos über zu den im folgenden Kapitel vorgestellten theatralischen und prosaischen Kuren der Goethezeit.

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K. P. Moritz, Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Moritz, Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. 2, S. 958–991, S. 990. Ausführlicher hierzu siehe M. Schmaus, Das Werden im Vergehen.

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Die Zeitkrankheit religiöse Melancholie lassen wir damit allerdings nicht hinter uns. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wird dieses Krankheitsbild noch diagnostiziert, verschwindet aber auch dann nicht in der Obskurität, sondern es wird um 1900 reaktiviert und steht an der Wiege einer weiteren Zeitkrankheit, der Hysterie, Pate. Es wird sich zeigen, daß die religiöse Melancholie nicht eine Modekrankheit des 18. Jahrhunderts unter anderen ist, sondern die moderne Zeitkrankheit par excellence. In ihr dokumentieren sich die konkreten Auswirkungen des Modernisierungs- als Säkularisierungsprozeß. Und das Überleben dieses Krankheitsbildes bis ins 20. Jahrhundert hinein, nachdem es als medizinische Kategorie längst abdanken mußte, ist auf den Sachverhalt zurückzuführen, daß sich die Moderne auf diesem Wege in Beziehung zu ihrer Herkunft setzt, diese zugleich erinnert und auf Abstand hält. Exemplarisch inszeniert dies Nietzsches toller Mensch und seine Proklamation des ›Gott ist tot‹; es gilt aber auch noch für Freuds Fassung der Religion als universeller Zwangsneurose, mit der die religiöse Melancholie als individuelles Krankheitsbild zu einem gewissen Abschluß gebracht wird. Das von Moritz skizzierte Doublebind von Selbst- und Fremdbeobachtung wird um 1900 in verschiedenen Versionen reformuliert werden und geht allmählich in die wissenschaftliche Methodik der Psychologie ein: bei Friedrich Nietzsche aus der Perspektive der ›großen Vernunft des Leibes‹, bei Sigmund Freud in der Dialektik von Übertragung und Gegenübertragung in der analytischen Situation, bei Wilhelm Dilthey in den hermeneutischen Zirkel. An Herders und Moritz’ emphatisches Verständnis von Erfahrungswissenschaft knüpft Wilhelm Dilthey am nachdrücklichsten an, und dies dokumentiert sich auch darin, daß Max Dessoirs ›Geschichte der neueren deutschen Psychologie‹ (1894/1902) und Georg Mischs ›Geschichte der Autobiographie‹ (1907) unter seiner Ägide entstehen. Der studierte Theologe, der sich mit den Naturwissenschaften seiner Zeit ausführlich auseinandersetzt, formuliert für die von ihm entworfene Psychologie und Ästhetik als Erfahrungswissenschaft Vorgaben, die an Moritz’ Fakta, kein moralisches Geschwätz, erinnern: »Nur daß man die Tatsachen zunächst hinnehme, beschreibe, zergliedere, nicht aber auf unsere gegenwärtige Psychologie reduzieren wolle. […] Das nächste Bedürfnis ist jedoch heute, diese großen Erscheinungen der Menschennatur zu beschreiben und zu zergliedern« (VI, 274). Hatten sich Herder und Moritz sowohl gegen Kants Systemphilosophie wie auch gegen eine moralisierende Popularphilosophie und Theologie abzugrenzen, so schlägt Dilthey diese Töne angesichts des Neukantianismus und einer ausschließlich naturwissenschaftlichen, oft ins Hypothetisch-Metaphysische ausgreifenden Auffassung des Menschen an.

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III.

Psychogenese der Krankheit und psychische Kurmethoden Theatralische und prosaische Heilverfahren in der Goethezeit

Neben der holistischen Vorstellung vom ganzen Menschen, der Psycho- und Soziogenese von Krankheiten bildet die Psychotherapie bzw. in der älteren Diktion die ›psychische Kurmethode‹ das dritte Konstituens des psychosomatischen Diskurses. In den vorangehenden Kapiteln waren solche Kuren schon thematisch, nun allerdings sollen sie im genaueren Blick auf eine dramatische psychische Kur, Goethes Singspiel ›Lila‹ (1777–1790), auf Johann Christian Reils den Begriff prägenden ›Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen‹ (1803) und auf den Bildungsroman als einem Genre prosaischer Kuren ins Zentrum der Überlegungen rücken.

III.1. Goethes Singspiel ›Lila‹ In einem Brief an Friedrich Ludwig Seidel vom 3. Februar 1816 hatte Goethe rückblickend auf sein Singspiel ›Lila‹, das er zwischen 1777 und 1790 mehrfach umarbeitete,1 die Formulierung gewählt, es handle sich um eine »psychische Kur eines durch Liebesverlust zerrütteten Gemüts«. Gegenüber dem Grafen von Brühl am 1. Oktober 1818 bestimmt der das Thema noch einmal in ähnlichen Worten: »Das Sujet ist eigentlich eine psychische Kur, wo man den Wahnsinn eintreten läßt, um den Wahnsinn zu heilen« (FA I/5, 937). Der Begriff der psychischen Kur taucht mit Johann Christian Boltens ›Gedancken von psychologischen Curen‹ (1751) zwar schon Mitte des 18. Jahrhunderts auf, zu einem psychiatrischen Fachbegriff wird er allerdings erst durch die Arbeiten von Reil 1

Die erste Fassung wurde am 30. 1. 1777 zum Geburtstag der Herzogin Louise auf dem Weimarer Liebhabertheater uraufgeführt, Goethe nannte sie nach der männlichen Hauptperson noch ›Sternthal‹. Den Titel ›Lila‹ erhält das in zeitgenössischen Zeugnissen als ›Operette‹ bezeichnete Stück erst bei der erneuten Probenarbeit Ende Februar, am 3. 3. 1777 wird es zum Besuch von Prinz Ferdinand von Braunschweig wieder aufgeführt. Von dieser ersten Fassung sind nur die Gesänge erhalten. Die zweite Fassung dokumentiert sich in einem unvollständigen Druck ›Gesänge zu Lila einem Feenspiel in vier Aufzügen‹ und einer der Herzogin-Mutter Anna Amalia zu ihrem Geburtstag am 24. 10. 1782 überreichten Reinschrift mit dem Titel ›Lila. Ein Festspiel mit Gesang und Tanz‹, jetzt in fünf Aufzügen. Im Zuge der geplanten Gesamtausgabe seiner Werke arbeitet Goethe ›Lila‹ 1788 während seines zweiten Aufenthalts in Rom zum letzten Mal um, die erste vollständige Druckfassung erscheint 1790 bei Göschen. Zu den drei Fassungen siehe: FA I/5, 928–935 (Kommentar), und ausführlich G. Diener, Goethes ›Lila‹. Im folgenden wird vor allem die dritte, die Handlung stärker auf die »psychologische Motivierung« konzentrierende Fassung im Vordergrund stehen, FA I/5, 934 (Kommentar).

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und Hoffbauer in den 1810er Jahren.2 Goethe waren die Arbeiten des Hallenser Anatomen, Physiologen und Psychiaters Reil gut bekannt. Für die ›Rhapsodieen‹ regte er eine interdisziplinäre Sammelrezension an, »weil es von verschiedenen Seiten zu betrachten ist«; als praktischer Arzt nahm er seine Dienste 1805 in Anspruch.3 Als Etikett für ›Lila‹ konnte sich der psychiatrische Fachbegriff für eine wissenschaftliche Behandlungsmethode darum zwanglos qualifizieren, weil diese selbst aus einem diffusen Feld von Medizin, Kunst und Theologie hervorgegangen war. So bekunden Reils ›Rhapsodieen‹ diese ihre dann auch inhaltlich vorgeführte Nähe zur Kunst schon im Titel und stellen ein Kompendium älterer und zeitgenössischer Kuren dar, die sie in wissenschaftliche Methodik überführen wollen. Eine solche Überschneidung der Disziplinen konnte bereits an der religiösen Melancholie veranschaulicht werden, und auch die laientherapeutischen Unternehmungen von Herders und Moritz’ Ästhetik waren schon thematisch. Goethes Singspiel ist nicht nur ein weiteres Dokument dieses literarischen Heilungsanspruchs, sondern es weitet sich zu einem Archiv der seit der Antike bekannten psychischen Kuren und vollzieht in konzentrierter Form eine Metareflexion über den Zusammenhang von Kunst und Therapie, über das Musiktheater und die »wechselweise und gegenseitige Bedingung von Theater und Gesellschaft, Kunst und Leben«.4 Mit einer Gemütszerrüttung aus ›Liebesverlust‹ verweist ›Lilas‹ Sujet zurück auf eine der Urszenen von Psychogenese und psychischer Kurmethode, auf die bei Eristratos und später von Galen, Avicenna und Forestus überlieferte Fallgeschichte vom Königssohn Antiochos, der aus unerfüllter Liebe zu seiner Stief-

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Dieners Studie hat rückschreitend von Reils ›Rhapsodieen‹ Goethes ›Lila‹ im Kontext psychischer bzw. moralischer Kurmethoden verortet, die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts eines neuerlichen öffentlichen Interesses erfreuen, vgl. Goethes ›Lila‹, S. 147–179; kurze Bemerkungen finden sich auch bei: G. Reuchlein, Die Heilung des Wahnsinns bei Goethe, S. 22–24; F. Nager, Der heilkundige Dichter, S. 144f. Die Studie von Thorsten Valk ›Melancholie im Werk Goethes‹ bleibt hinsichtlich ›Lila‹ unergiebig, da sie durch eine nicht immer deutlich markierte Reproduktion der einschlägigen Melancholie-Forschung bzw. von Dieners Studie weder die Kenntnisse über den zeitgenössischen Melancholiediskurs und dessen Präsenz im Text erweitert, noch die als Motiv behandelte Melancholie für das Singspiel wirklich sprechend machen kann. WA IV/16, 328; vgl. 269, und WA III/3, 77. Zu Reils Behandlung 1805 schreibt er: »An Reil habe ich einen sehr bedeutenden Mann kennen lernen; er beobachtete meine Übel vierzehn Tage ohne ein Recept zu verschreiben, als etwa eins das er selbst für palliativ erklärte. Tröstlich kann es für mich seyn daß er gar keine Achtung vor meinen Gebrechen haben will und versichert das werde sich alles ohne großen medizinischen Aufwand wieder herstellen.« WA IV/19, 34; vgl. 59, und J. W., Goethe, Gespräche, Bd. 5, S. 206. Zu Goethes damaliger Nierenerkrankung siehe F. Nager, Der heilkundige Dichter, S. 28ff. M. Huber, Inszenierte Körper, S. 148. Huber führt mit dem Untertitel seines Aufsatzes ›Theater als Kulturmodell‹ in semiotischer Vertiefung die These von Jörg Krämer weiter, nur die »Kulturform des inszenierten Musiktheaters« biete in ›Lila‹ »das Medium, Phantasie und Wirklichkeit in Übereinstimmung zu bringen«, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 526. Zu den musikdramatischen Gattungsbezügen siehe im weiteren B. Holtbernd, Die dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes, S. 104– 122; T. Hartmann, Goethes Musiktheater, S. 82–91.

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mutter Stratonike erkrankt und schließlich durch deren gewährte Liebe geheilt wird. »Lieb’« durch »Lieb’« (FA I/5, 869) heilen, ist auch das erklärte Therapeutikum von Goethes Singspiel. Medizinhistorisch ist die Geschichte vom kranken Königssohn als einzige bemerkenswerte psychosomatische Erzählung in der ansonsten somatisch orientierten griechisch-römischen Medizin wahrgenommen worden.5 Bekanntlich spielt sie jedoch in einem anderen Goethe-Text, dem ›Wilhelm Meister‹, eine wichtige Rolle, wo sie uns noch ausführlicher beschäftigen wird. Es dürfte in dieser Hinsicht jedoch kein Zufall sein, daß die Geburtsstunde des ›Wilhelm Meister‹ genau zwischen die erste und zweite Aufführung der ›Lila‹ im Jahr 1777 fällt. Am 16. 2. 1777 notiert Goethe in sein Tagebuch: »In Garten dicktirt an W. Meister. Eingeschlafen.« (WA III/1, 34) In ›Lila‹ schließt sich der Zusammenhang von Melancholie und Liebesschmerz deutlicher an jüngere Überlieferungen an. Als literarische Bezüge sind in der Forschung vor allem Jean de Rotrous Tragikomödie ›L’Hypocondriaque ou le mort amoureux‹ und von Goethe selbst die Oper ›Nina ou la folle par amour‹ von Nicolaus D’Alayrac genannt worden.6 An die ältere Tragikomödie John Fords ›The Lover’s Melancholy‹ könnte ebenfalls erinnert werden. In allen drei Fällen handelt es sich um Liebesverrückungen und ihre theatralische Heilung. In seinen ›Rhapsodieen‹ hat Reil die Literatur und Fallbeispiele des 18. Jahrhunderts zum ›Fixen Wahnsinn, der sich auf Liebe bezieht‹ zusammengetragen und nennt mit Zerstreuung einerseits und dem Eingehen auf die Wünsche des Kranken andererseits die üblichen zeitgenössischen Therapieformen.7 Neben der Religious Melancholy hatte bereits Robert Burton der Love-Melancholy ausführliche Überlegungen gewidmet.8 Und natürlich darf hier Goethes eigene Erfahrung mit der »Melankolie meines alten Schicksals«, »nicht geliebt zu werden wenn ich liebe« (WA IV/3, 90), wie er 1776 an Charlotte von Stein schreibt, nicht vergessen werden. Umfassender beschäftigen sich die Affektenlehren der Zeit natürlich nicht nur mit dieser Leidenschaft, sondern insgesamt mit den Gemütslagen und ihren pathologischen Auswirkungen. »Nichts ist der Gesundheit« schädlicher, schriebt J. Theodor Eller, »als starke Gemütsbewegungen, absonderlich Zorn, Rachbegierde, Traurigkeit, Furcht und übermäßige Sorge; denn alles dieses bringt das geistige Wesen, und dieses hinwiederum den Nervensaft in unordentliche Bewegung, wodurch der Verstand und Körper geschwächt, das Blut 5

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Vgl. E. H. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 17; E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 44; J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 53ff. Vgl. FA I/5, 941f., 937; G. Diener, Goethes ›Lila‹, S. 29, 84f., 202–205. Vgl. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 346–351, besonders S. 348. Friedreich verzeichnet ein nicht mehr nachweisbares Buch: Vetter, Ueber die durch Liebe erzeugte psychische Krankheiten, vgl. Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 306. R. Burton, Anatomy of Melancholy, III, S. 40–308.

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verdicket« wird, so daß »das Angesicht erbleichet, der Puls und Respiration schwach, der Schlaf höchst unruhig, und nach und nach der ganze Körper ausgemergelt und in allerhand Krankheiten, als in Melancholie, Ohnmachten, böse Fieber, Schwindsucht u. gestürzt wird«.9 Neben den Temperamenten, also der angeborenen Konstitution, gewinnt so die persönliche Affektkontrolle und das individuelle Verhalten in medizinischer Hinsicht zunehmend an Bedeutung. Verschiedene Formen von Verhaltenstherapie kommen ins Gespräch, durch die eine ausgeglichene Gefühlslage eingeübt werden soll. ›Moral management‹, ›traitement morale‹, ›Cura melancholiae moralis‹ oder eben psychische Kurmethode sind die Begriffe, die je nach Kultur- und Sprachraum hier Verwendung finden.10 Mit Karl Philipp Moritz’ Umerziehung des unter Theatromanie leidenden Freundes haben wir bereits ein Beispiel dieser Behandlungsform vorgestellt. Insbesondere die Engländer machen sich in dieser Hinsicht einen Namen. William Batties entwirft in seinem ›Treatise on madness‹ (1758) Richtlinien für eine ganzheitliche Lebensführung, ausgerichtet an den sechs diätetischen res non naturales: Licht und Luft, Speise und Trank, Arbeit und Ruhe, Schlaf und Wachen, Ausscheidungen und Absonderungen, Anregung des Gemüts.11 Unter besonderem Nachdruck auf die psychologisch-pädagogische Behandlung führt der Reverend und Arzt Dr. Francis Willis in seiner Privatklinik in Greatford dieses Programm äußerst erfolgreich weiter. Die spektakuläre Heilung der Wahnsinnsattacke von König George III. 1788/89 macht ihn als Heiler über die Landesgrenzen hinweg berühmt – ohne je ein einziges Buch geschrieben zu haben. Reil bemerkt süffisant, »Herr Willis«, ein »Veteran« in der psychischen Kurmethode, »ist aber so bescheiden, daß er seine Geheimnisse für sich behält.«12 Mit dem moral management werden die Wahnsinnigen in die bürgerliche Gesellschaft integriert. Sie werden nicht mehr ausgegrenzt und weggesperrt, sondern stellen eine korrigierbare Abweichung von der sozialen Norm dar. Nach Battie ist »Madness […] as manageable as many other distempers«.13 Es geht nicht nur um die Heilung einer Krankheit, sondern um die Reintegration des Patienten in das bürgerliche Leben.

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J. T. Eller, Physiologia et Pathologia Medica, Altenburg 1770, S. 603; zit. nach K. E. Rothschuh, Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, S. 308. M. Schrenk, Über den Umgang mit Geisteskranken; G. Diener, Goethes ›Lila‹, S. 149–185; W. Leibbrand und A. Wettley, Der Wahnsinn, S. 335, 340f., J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 60–73; Art. Schwermuth, Schwermuethigkeit, Melancholey. In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 36 [1743], Sp. 464–476, Sp. 472. G. Diener, Goethes ›Lila‹, S. 160; M. Schrenk, Über den Umgang mit Geisteskranken; K. Dörner, Bürger und Irre, S. 45–53. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 31. W. Battie, A Treatise of Madness, S. 93; zit. nach K. Dörner, Bürger und Irre, S. 50.

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Es handelt sich um ein zutiefst mit der Aufklärung verbundenes pädagogisches Programm, in dem die Arzt-Patienten-Beziehung eine besondere Bedeutung erhält. Die Persönlichkeit des Arztes, der Respekt und Furcht einflößen soll, erhält eine gleichsam magische Aura, im Falle Batties ist sein durchdringender, hypnotisierender Blick überliefert. Und die Behandlung ist unter Zurücktreten der Zwangsmittel auf die moralische Unterweisung, das Gespräch und eine geordnete Lebensführung konzentriert. Die Individualität des Kranken, seine Lebensgeschichte und geistigen Fixierungen gewinnen für die Therapie an Bedeutung. Im Konkreten heißt dies eine genaue Beobachtung des Patienten, ein zeitlich geregelter Tagesablauf mit Beschäftigung, Bewegung und Ruhe, die Zerstreuung von fixierten Vorstellungen. Das Therapieziel ist ein »maßvolle[r] und arbeitsame[r] Lebenswandel«.14 In den Worten des Landgeistlichen der ›Lehrjahre‹ hat Goethe diese Therapieform in prägnanter Kürze zusammengefaßt: »Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung« (FA I/9, 716). Auch Goethes eigene laienpsychiatrische Unternehmungen an anderen und an sich selbst sollen hier nicht unerwähnt bleiben.15 So führte er an sich selbst in der Straßburger Zeit eine frühe Form der Konfrontationstherapie durch, indem er seiner Höhenangst und dem Schwindel durch fortgesetztes Ausharren auf dem Turm des Straßburger Münsters Herr wurde (FA I/14, 408). Goethes Lila findet sich wie das Zeitalter insgesamt mit konkurrierenden therapeutischen Maßnahmen konfrontiert. Hinter ihr liegen, wie der Zuschauer im ersten Aufzug erfährt, bereits zahlreiche Kuren von »Zahnbrechern«, »Quacksalbern« und »Marktschreiern« (FA I/5, 838, 840). Der Markt der Heilberufe befindet sich in den 1770er Jahren zwischen ›Handwerkern‹ wie Badern, Wundärzten und Chirurgen, Wunderdoktoren, Predigern, studierten Doktoren und neuen psychischen Ärzten aufgespannt.16 1775 ist das Jahr, in dem der Geistliche Johann Joseph Gassner mit Exorzismen noch einmal großes Aufsehen erregt, und in eben diesem Jahr erklärt der Arzt Franz Anton Mesmer solche Heilungserfolge durch sein neu entdecktes an Magnetismus und Elektrizität angelehntes physikalisches Prinzip, den ›tierischen Magnetismus‹ – und vollzieht in der Annahme dieses ›Fluidums‹ eine eigentümliche Verbindung von Aufklärung und Magie.17 Wenn sich Friedrich durch Verazios Worte an eine »Predigt« erinnert fühlt und Lucie »sezieren, klystieren, elektrisieren« (FA I/5, 842, 840) als Therapien nennt, so wird das Heilen im Umbruch zwischen Altem und Neuem in ein diffuses Zwielicht gesetzt. Mit dem Sezieren ist der seit alters her geläufige chirurgische Umgang mit Krankheit indiziert; das Klystieren, ebenso wie die genannten »Pferdearzneien« (FA I/5, 838) verweisen auf 14 15 16 17

K. Dörner, Bürger und Irre, S. 50. Für die Entstehungszeit der ›Lila‹ hat Diener dies ausführlich behandelt, vgl. G. Diener, Goethes ›Lila‹, 28–36, 60–64, 103–109. K. Pfeiffer, Medizin der Goethezeit, S. 6ff. Siehe hierzu H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 89–120.

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humoralpathologisch-purgierende Mittel – Zedlers ›Universal-Lexikon‹ enthält sogar einen spezifischen Eintrag ›Schwermuthsclystier‹ –;18 das Elektrisieren ist hingegen ein Therapeutikum neueren Datums. Mitte des Jahrhunderts wurde der Mensch als elektrischer Leiter entdeckt und diese physikalische Einsicht fand mit Christian Gottlieb Kratzensteins ›Abhandlung von dem Nutzen der Electricität in der Arzneywissenschaft‹ (1745) eine frühe praktische Anwendung. Nicht nur die Spannungszustände im tierischen oder menschlichen Körper sollten in der Physiologie und Psychologie zu einem neuen Menschenbild führen, sondern auch solche zwischen den Menschen. So setzte Mesmer in den ersten Jahren seiner Praxis neben Magneten auch eine Elektrisiermaschine ein, die nicht direkt an seinen Patienten zur Anwendung kam, sondern an ihm selbst, um auf diesem Wege den Rapport zwischen Magnetiseur und Patient als Ladungsaustausch herzustellen.19 In Goethes Stück ist mit dem Elektrisieren die moderne erfahrungswissenschaftliche Medizin angesprochen, der sich auch Verazio zuordnet, wenn er darüber klagt, man wolle ihm die »näheren Umstände« von Lilas Krankheit verbergen, ihm nicht erlauben, »sie zu sehen« und dadurch »teils meine Erfahrungen zu erweitern, teils etwas Bestimmtes über die Hülfe zu sagen, die man ihr leisten könnte.« Mit den Stichworten ›sehen‹, also Beobachtung, und Erfahrungswissen hat er dieses wissenschaftliche Paradigma nahezu hinreichend umschrieben, es fehlt nur noch das Experiment, das Lucie in kritischer Absicht allerdings gleich nachliefert. »LUCIE O ja, wenn sie nur was zu sezieren, klystieren, elektrisieren haben, sind sie bei der Hand, um nur zu sehen was eins für ein Gesicht dazu schneid’t, und zu versichern, daß sie es wie im Spiegel voraus gesehen hätten.« Lilas Schwestern zeigen sich im ersten Aufzug hellhörig für die Defizite von Experiment und Erfahrungswissenschaft und formulieren eine epistemologische wie auch ethische Kritik, die an die zeitgleiche von Herder in seinen 1778 erscheinenden Schriften ›Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele‹ und ›Plastik‹ erinnert.20 Epistemisch steht der Erfolg der experimentellen Wissenschaft insofern in Frage, als nur gefunden wird, was thetisch vorausgesetzt wurde. Das Ergebnis reflektiert ›wie im Spiegel‹ die Ausgangsannahme, ein Wissenszuwachs findet nicht statt. Damit hängt auch die ethische Kritik zusammen. In der Vivisektion wird ein Erkenntnisobjekt um seiner Reaktion willen – um ›zu sehen was eins für ein Gesicht dazu schneid’t‹ – 18 19 20

J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 36 [1743], Sp. 476. Siehe F. Moiso, Magnetismus, Elektrizität, Galvanismus. Der erste Aufzug stimmt in der zweiten 1778 entstandenen Fassung mit der späteren Druckfassung bis auf wenige Ausnahmen überein. Der Kontakt zu Herder war zur Zeit der Entstehung der zweiten Fassung eng, wie der folgende Tagebuch-Eintrag am 15. 2. 1778 zeigt: »Nach Tisch in Garten kam Krause, dann Herder, Abends d. 1 Ackt d. neuen Lila dicktirt.« WA III/1, 62. Zu Goethes später noch oft geäußerter kritischer Einschätzung des Experiments nach dem Motto: »Die Natur verstummt auf der Folter«, WA II/11, 152, siehe I. Egger, Diätetik und Askese, S. 39–43.

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gereizt, der Schmerz dient der Wissensproduktion. Hatte Herder die Würde des Erkenntnisobjekts schon gegenüber Hallers Tierversuchen eingemahnt, so wird diese ethische Dimension in Goethes Singspiel angesichts medizinischer Menschenversuche weitaus dringlicher. Was Sophie Verazio vor allem vorhält, ist eine erfahrungswissenschaftliche Medizin um der Forschung, nicht der Heilung willen: »Und er möchte auch wieder mit unserer armen Schwester Haut seine Erfahrungen erweitern.« (FA I/5, 840) Doch hier sind die Schwestern wieder zu »ruschlich« (FA I/5, 38), sprich oberflächlich, gewesen, wie es in der zweiten Fassung heißt. Denn Verazio hatte ja nicht nur von Erweiterung seines Erfahrungswissens, sondern auch von Hilfeleistung gesprochen. Neben den neueren Erfahrungswissenschaften im allgemeinen bringen die Schwestern auch noch Johann Kaspar Lavaters Physiognomie ins Gespräch, »Er ist wohl gar ein Physiognomist?«, und wieder ist es eine Bemerkung über das Sehen: »Denn, wie ich an Ihren Augen sehe« (FA I/5, 840f.), die Verazio in Mißkredit bringt.21 Im ersten Aufzug steht für die adelige Gesellschaft auf dem Landgut des Barons Sternthal die gesamte Heilbranche: Altes und Neues, Zauberei, Religion und Wissenschaft, unter Generalverdacht und unter diesen Bedingungen hat sich Verazio seinem Namen gemäß zu bewähren. Dieser ist als Zusammenführung von vera und ratio gelesen worden,22 es geht also um nichts weniger als um die wahre Methode der medizinischen und, wie vorausblickend auch gesagt werden kann, ästhetischen Heilung. Der Name, den der Arzt führt, ist zu Beginn des Stücks bloße, von allen angezweifelte Hypothese, die im nachfolgenden Versuch der nächsten drei Akte zu beweisen ist. Und ähnlich wie im Falle Herders wird sich das wissenschaftliche Versuchsszenario im ästhetischen Medium deutlich verändern. Die Involviertheit des Erkenntnissubjekts in den Versuch wird auch hier programmatisch werden. Verazio ist Spielleiter und Mitspieler, Beobachtender und Handelnder. Und die Individualität der Akteure, der Situation und des Umfeldes wird das zentrale Kriterium für die Validität experimenteller Forschung, ihre beliebige Wiederholbarkeit, fraglich werden lassen. Vorgeführt wird eine individuelle, nicht einfach übertragbare psychische Kurmethode, die an das Rollenspiel zwischen Patientin und Arzt sowie der anderen Mitspieler gebunden ist. Ja, es ließe sich sogar sagen, daß ›Lila‹ als Stegreiftheater für einen bestimmten Festtag, für das Weimarer Liebhabertheater als Bühnenraum mit einem spezifischen Fundus, ein besonderes Ensemble, u.a. Goethe als Verazio, konzipiert, auch die dramatische Wiederholbarkeit an ihre Grenzen führt. Mit seiner ungewöhnlichen Spiel-im-Spiel-Struktur ohne Zuschauer, alle Figuren auf der

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Goethe hatte zu Lavaters zwischen 1775–78 erscheinenden ›Physiognomischen Fragmenten‹ selbst Beiträge geliefert. Insofern dessen Diagnostik jedoch allein auf dem Sehen beruht, unterzieht ›Lila‹ diesen Ansatz einer deutlichen Kritik. Vgl. F. Felgentreu, Nomen est omen in Goethes ›Lila‹, S. 343f.

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Bühne sind auch am Therapiespiel beteiligt,23 und einer Dramatik, die nicht auf Zuschauen, sondern Handeln und Zufassen geht, wird die Gattung von innen heraus gesprengt. Einer dritten Aufführung der ›Lila‹ an der Berliner Oper unter den Linden mit neu von Friedrich Ludwig Seidel komponierter Musik war 1818 kein großer Erfolg beschieden. Im Brief an Graf von Brühl stellt Goethe, wieder in der Rolle des Verazio, dem Mißerfolg die ästhetische Diagnose: »denn wir alten Praktiker müssen ohngefähr die Wirkung der Arznei voraussehen. Die gute Lila, aus den allerzufälligsten Elementen durch Neigung, Geist und Leidenschaft, für ein Liebhaber-Theater notgedrungen zusammen gereiht, konnte niemals eine große bedeutende Darstellung begründen; das dort aus Not Gebrauchte war reizend«. Damit ist anderes gesagt, als ein abschätziges Urteil eines Autors über seinen Text, wie dies vielfach in der Forschung mißdeutet wurde. ›Neigung, Geist und Leidenschaft‹ sprechen dagegen. Es handelt sich um eine andere Form des Dramatischen, die hier nachträglich gerechtfertigt wird und in ›Lila‹ ihre Gestalt gewonnen hatte; um eine therapeutische Dramatik, die aus der ›Not‹ und der engen Fügung von Kunst und Leben geboren ist sowie aus einer und für eine besondere Lebenswelt. Laienpsychiatrische und laienästhetische Kategorien gehen ineinander über, wenn Goethe über die damalige Aufführungspraxis spricht: »Was die Kleidungen betrifft, sagt das Stück selbst: daß man zu diesen psychischen Kurzwecken schon vorhandene Masken- und Ballkleider anwende, und darin lag auch der Spaß unserer ersten Aufführung auf dem dilettantischsten aller Liebhaber-Theater.« (FA 5/1, 938f.) Die Gründe für das Spiel mit bereits Vorhandenem dürften nicht nur im Ökonomischen liegen, sondern im therapeutischen Spiel wird mit vergangenen Kulturformen hantiert, in denen sich die Pathologien einer Gesellschaft sedimentiert haben. Die ästhetische Lust, der Spaß, liegt dann gerade darin, daß man sich diese im objektivierenden Spiel vom Hals schafft. Denn, wie es schon bei Aristoteles heißt, »für Alle muss es irgend eine Katharsis geben und sie unter Lustgefühl erleichtert werden können.«24 In dieser Lesart tritt die Individualität der Patientin Lila zugunsten jener der historischen Situation und ihres Umfeldes in den Hintergrund. Zu therapieren sind in dem Singspiel nicht allein die weibliche Hauptperson, sondern das gesamte Figurenensemble und die Kunstpraktiken einer Epoche. Der Wechsel vom männlichen Patienten Sternthal der ersten Fassung zu Lila in der zweiten und dritten Fassung ist so strukturell angelegt. Der Fokus des Stücks könnte auch auf andere Figuren schwenken: Altenstein, Friedrich, Marianne,

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Darauf hat schon Martin Huber aufmerksam gemacht, vgl. Inszenierte Körper, S. 137. Aristoteles, Politik. Dt. Übersetzung hier zit. nach J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 139f., die im weiteren Verlauf dieser Studie noch eine größere Rolle spielen wird (Kap. V.3.4).

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die Schwestern, deren Leidenschaften ebenfalls ins Maßlose tendieren.25 Mit einiger Gelassenheit kann sich darum auch Verazio Sophies Kritik erwehren: »Lassen Sie’s nur gut sein, Fräulein; Sie fallen mir doch noch in die Hände.« (FA I/5, 840) Lilas Krankheit zeigt sich als ansteckend und zieht den ganzen Hof in Mitleidenschaft. Wie es gleich zu Beginn heißt, ist »das gefährlichste ihrer Krankheit«, daß sie auch die anderen »ganz aus der Fassung brachte«: »Unsere Familie, die in einem ewigen freudigen Leben von Tanz, Gesang, Festen und Ergetzungen schwebte, streicht an einander weg wie Gespenster, und es wäre kein Wunder, wenn man selbst den Verstand verlöre.« (FA I/5, 837, 844) Als labil und krankheitsanfällig erweist sich eine Lebensform adeliger Geselligkeit und die sie imitierende Kultur bürgerlicher Empfindsamkeit. Lilas Melancholie trägt nämlich vor allen Dingen empfindsame Züge. Ihr Name verweist neben der melancholischen Farbe biographisch auf Louise von Ziegler, Lila genannt, deren Bekanntschaft Goethe in dem empfindsamen Darmstädter Zirkel ›Gemeinschaft der Heiligen‹ um Johann Heinrich Merck machte.26 Die Symptome ihrer Krankheit: ihre Scheu vor Menschen, ihr Rückzug in den Wald, die Veränderung ihres Lebensrhythmus vom Tag zur Nacht – sie »wandelt des Nachts« im Stile von Edward Youngs ›Night thoughts‹ »in ihren Phantasien herum« (FA I/5, 842) –, die Enthaltsamkeit in Speise und Trank, schließlich die Todessehnsucht, sind sowohl melancholietypisch als auch spezifischer signifikant für die empfindsame Lebenskultur der 1770er Jahre.27 Was die Ursachen ihrer Erkrankung betrifft, so zeichnet das Stück ein multikausales Netz. Lila ist von melancholischer Disposition, von jeher zu »Trübsinn« geneigt und, wie ihr Mann kritisch anmerkt, »immer mit ihren Gedanken zu wenig an der Erde.« (FA I/5, 843) Das Vermögen, das zeittypisch für eine solche »unmaterielle« oder auch »moralische«28 Melancholie verantwortlich gemacht wird, ist die Einbildungskraft, die auch im Falle Lilas dafür sorgt, daß sie sich während der Abwesenheit ihres Mannes »die Gefahren« für ihn »doppelt lebhaft« (FA I/5, 843) vorstellt. Nachrichten über eine Verletzung ihres Mannes und schließlich der durch eine falsche Todesnachricht ausgelöste »Schrecken« (FA I/5, 844) führen zur Ohnmacht und einem fieberähnlichen Zustand der Protagonistin, der in eine fundamentale Wahrnehmungsstörung mündet. Lila kann nicht mehr zwischen der Realität und ihren Phantasien unterscheiden, 25 26 27

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Eine solche systemische Analyse der Pathologien in ›Lila‹ hat Hermann Wilhelmer vorgenommen, Goethe und die Psychotherapie. In der ›Farbenlehre‹ spricht Goethe von der Farbe Lila, sie habe »etwas Lebhaftes ohne Fröhlichkeit«, HA 13, 499. Zu Louise von Ziegler vgl. FA 5/1, 940 (Kommentar). Vgl. G. Sauder, Empfindsamkeit; Theorie der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang. Hrsg. von G. Sauder. Der Kommentar der Münchner Ausgabe spricht treffend von der »Empfindsamkeits-Krankheit« (MA 2/1, 617). Insbesondere zum empfindsamen Geschlechterdiskurs siehe S. Komfort-Hein, »Sie sei wer sie sei«. Art. Schwermuth, Schwermuethigkeit, Melancholey. In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 36 [1743], Sp. 464–476, Sp. 466.

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ihr ist das »Wahre als Gespenst verdächtig« (FA I/5, 838). So erkennt sie ihren Mann nach seiner Rückkehr nicht mehr und hält ihn zunächst für tot, später sieht sie ihn in Gefangenschaft feindlicher Mächte. Die Eskalation von Lilas Zustand wird im Stück in Begriffe gefaßt, die weitgehend der zeitgenössischen wissenschaftlichen Nomenklatur entsprechen, aus einer melancholischen Disposition, »Trübsinn« und »Traurigkeit«, entwickelt sich eine »tiefe Melancholie«, die in einen »Wahnsinn« übergeht, der sich noch bis zur »Raserei« (FA I/5, 843ff.) steigern kann. Gleichsam im Vorgriff auf die Traumatheorien des 19. Jahrhunderts gilt der Schrecken in der medizinischen Literatur der Zeit als Ursache von psychosomatischen Störungen, die von Ohnmacht, Schwindel und Wahnsinn bis zum Tod reichen.29 In ›Lila‹ wird der Schrecken allerdings deutlich nur als auslösendes Moment dargestellt. Zugleich wird über den »unglücklichen Brief« aber auch eine weitere, nicht allein individuelle, sondern gesellschaftliche pathogene Disposition sichtbar. Denn der Baron macht die gesellige Briefkultur »politischer alter Weiber« für die falsche Todesnachricht verantwortlich, allein um der »weitläufigen Korrespondenzen« willen würden »favorable Neuigkeiten« erfunden. Friedrich muß ihn korrigieren, es war »ein guter Freund« (FA I/5, 843f.), der die Unglücksbotschaft schrieb;30 das entkräftet allerdings nicht das Argument, sondern bezieht nur die empfindsame Korrespondenz in die Kritik mit ein. Der gute Freund ist derselben Gefahren überzeichnenden Phantasie erlegen, die Lilas Erkrankung bedingt. Und über den Brief läßt sich schließlich noch der Blick auf die Kunstpraktiken der Hofgesellschaft werfen, denn die Phantasien, die Lilas Wahnwelt bevölkern, Geschichten von Feen, Ogern und Dämonen, entstammen sämtlich dem Theaterfundus dieses Hofes. Graf Altenstein merkt stolz an: »In unsern beiden Häusern müssen sich so viele alte und neue [Masken] finden, daß man das ganze Cabinet der Feen damit fournieren könnte.« (FA I/5, 847) Mit dem ›Cabinet der Feen‹ ist ein intertextueller Verweis auf Friedrich Immanuel Bierlings gleichnamige Märchensammlung gegeben, wie Tina Hartmann anmerkt,31 und im weiteren auf die Märchen- und Feenliteratur, die in den Aufzügen II–IV 29

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Vgl. Art. Wahnsinnigkeit vom Erschrecken. In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges UniversalLexikon, Bd. 52 [1747], Sp. 862f.; J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 276f.; J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 193–211; F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 125f., 193f., 286–290; F. Amelung, Zur psychiatrischen Klinik, S. 217. Zur empfindsamen Briefkultur als Medium der Körperströme siehe A. Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr; L. Müller, Herzblut und Maskenspiel; E. Schön, Der Verlust der Sinnlichkeit; N. Wegmann, Diskurse der Empfindsamkeit. Susanne Komfort-Hein hat die mediale Empfindsamkeit an den intertextuellen Bezügen zwischen Lenz’ ›Waldbruder‹ und Goethes ›Werther‹ luzide herausgearbeitet: Die Medialität der Empfindsamkeit. Vgl. ›Das Cabinet der Feen oder gesammelte Feen-Märchen‹ (1761); T. Hartmann, Goethes Musiktheater, S. 83.

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in Szene gesetzt wird. Die unzureichende Trennung zwischen Realität und Phantasie hat Lila also in einem Milieu erworben, in dem Kunst und Leben bis zur Unkenntlichkeit ineinander übergehen. Ihr melancholischer Realitätsverlust ist nur die Schattenseite einer Gesellschaft, deren »Element« »Musik, Tanz und Vergnügen sind« (FA I/5, 845). Lilas Abweichung fällt darum auch nicht aus der gesellschaftlichen Ordnung heraus, sondern ist deren einfache Verkehrung. Sie lebt nachts, anstatt tags; ›verkleidet‹ sich schwarz, anstatt weiß; singt zum Ausdruck ihrer Leiden, anstatt zum Ausdruck ihrer Freuden; spielt ein Privattheater, anstatt sich dem allgemeinen Spiel und Tanz anzupassen. So erweist sich das gesamte kulturelle Gefüge des Hofes als krankheitsanfällig und darum vollzieht ›Lila‹ auch keine Einzel-, sondern eine Gruppentherapie, in der alle Beteiligten den richtigen Umgang mit der Phantasie, der Literatur und der Kunst erlernen. Es ist in der Forschung häufig übersehen worden, daß es sich bei dieser psychischen Kur nicht nur um eine Rückführung Lilas in die adelige Gesellschaft handelt, sondern auch um eine Annäherung dieser Gesellschaft an das bürgerliche Arbeitsethos. Mit den spinnenden Frauen und den gärtnernden Männern figuriert das Ensemble im vierten Aufzug die von allen Händen zu bewerkstelligende Kultur- und Naturarbeit.32 Tanz und Gesang haben ihre Berechtigung dann nur noch als Pendant zum und Erholung vom arbeitsamen Tagwerk, wie die gemeinschaftlichen Chöre der Frauen und Männer intonieren: »Am Rocken zu sitzen / Und fleißig zu sein, / Das Tagwerk zu enden, / Es schläfert euch ein. // Drum tanzet und springet, / Erfrischt euch das Blut« (FA I/5, 867). In dieser Bildlichkeit besingt das Tutti noch einmal prägnant die gemeinschaftliche Heilung des mal du siècle durch Arbeit und Kunst, gilt doch die an Rocken, Spinnrad oder Spindel eingeschlafene Frau als kanonische Darstellung des melancholischen Temperaments.33 Neben der individuellen melancholischen Disposition, dem psychischen Trauma ist das kulturelle Milieu damit der dritte Bestandteil des in ›Lila‹ plastisch werdenden pathogenen Ursachenkomplexes. Es ist die Literatur, die Kunst selbst, die als Ursache der Melancholie reflektiert wird. Erfahrungen mit ›unglücklichen Briefen‹ und ihrer ansteckenden Wirkung hatte der Autor

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Solche Arbeitstherapien waren psychiatrischer Alltag: »In der Nachbarschaft der Stadt York ist eine Irrenanstalt auf die nemlichen Grundsätze gegründet. Alle Kranken müssen, sobald sie dazu hinlänglich vorbereitet sind, arbeiten. Die Weiber spinnen, die Männer machen Geräthe von Stroh und Weidenruthen.« Reil selbst hält allerdings die Spinnerei und die Gartenarbeit für zu »einförmig und ungesund«, für zu »mechanisch«, um sie als Kurmethode zu empfehlen, J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 243, 469. In den ›Lehrjahren‹ wird der Landgeistliche Augustin auch mit Gartenarbeit zu therapieren suchen, vgl. FA I/9, 716. Siehe R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, T. 91, 95, 97, und S. 425, 428, 431, 448. Zum Spinnmotiv und seinen intertextuellen Bezügen u.a. zu Goethes ›Wanderjahren‹ siehe G. Diener, Goethes ›Lila‹, S. 19, 21, 49–54, 85–92, 119f.

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des ›Werther‹ selbst gemacht. Schon Werthers »Krankheit zum Tode« verbindet sich mit Schrift und Lektüre, wie die Schlußszene eindrücklich vor Augen stellt: »er habe sitzend vor dem Schreibtische die Tat vollbracht […]. Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen.« (JA 4, 44, 101) Und diese fiktive Reiz-Reaktionskette setzte sich im Leben im Werther-Fieber der Rezipienten fort. Gerade zur Zeit der Abfassung der zweiten Fassung von ›Lila‹ gab es mit Christiane von Laßberg, die sich unweit von Goethes Gartenhaus in der Ilm ertränkte – mit dem ›Werther‹ in der Manteltasche – wieder einen aktuellen tragischen Fall.34 Wenn in ›Lila‹ die fiktive Todesnachricht in Gestalt eines »unglücklichen Briefs« eines »guten Freundes« – man denke an die Herausgeberworte des ›Werther‹: »laß das Büchlein deinen Freund sein« (JA 4, 9) – zum auslösenden Moment der schweren Erkrankung wird, so handelt es sich auch um die Metareflexion eines Autors über seine Verantwortung hinsichtlich der pathogenen Wirkung seiner Texte. Verazios Worte sind hier deutlich: »Wer beging die entsetzliche Unvorsichtigkeit so etwas zu schreiben?« (FA I/5, 842) Das Stück stellt eine konzentrierte Auseinandersetzung mit der WertherKrankheit im Besonderen, der Melancholie als Kunst- und Lesekrankheit im Allgemeinen dar. Und ›Lila‹ ist vielleicht die eindrücklichste Inszenierung, in der die Rolle des Autors mit jener des Arztes auf mehrfachen Ebenen zusammenfällt: Verazio als Spielleiter des Spiel im Spiel, Goethe als Verazio und schließlich der Autor von ›Lila‹. Die Therapien, die die Literatur der Goethezeit für ihr eigenes Problem, die literarischen Krankheiten: Phantasieren, Illusionismus, Lesesucht35 und Theatromanie, erfindet, gehen einerseits auf das Werk durch eine Binnendifferenzierung des ästhetischen Feldes: die Abgrenzung von niedriger und Hochkultur und Goethe spezifisch von romantisch-kranker und klassisch-gesunder Literatur (Kap. III.3), andererseits auf die ästhetische Erziehung des Rezipienten. In ›Lila‹ rückt deutlicher das letztgenannte Moment in den Vordergrund, und genauer müßte von einer Umerziehung des Rezipienten gesprochen werden, denn die empfindsame Kulturpraxis gelebter Literatur soll durch ein Distanz bewahrendes, Reflexion ermöglichendes und zugleich auch aktives Verhalten ersetzt werden. Martin Huber hat diesbezüglich die Formel »Beobachten und Handeln«36 gebracht, die im Kontext dieser Studie in Beobachten und Heilen zu erweitern wäre. ›Lila‹ befindet sich mit dieser Pädagogik in Gesellschaft der Schwärmerkuren der Aufklärung, die prominent von Wielands Romanen vertreten werden.

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Vgl. G. Diener, Goethes ›Lila‹, S. 61–64. »Lesesucht, die Sucht, d.h. die unmäßige, ungeregelte auf Kosten anderer nöthiger Beschäftigungen befriedigte Begierde zu lesen, sich durch Bücherlesen zu vergnügen. ›Die Lesesucht unserer Weiber‹. Den höchsten Grad dieser Begierde bezeichnet man durch Lesewut.« J. H. Campe, Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd. 3. Braunschweig 1809, S. 107, zit. nach D. von König, Lesesucht und Lesewut, S. 92. M. Huber, Inszenierte Körper, S. 141.

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Auf die Nähe zu dem auch als Singspiel gegebenen ›Don Sylvio von Rosalva‹ ist mehrfach hingewiesen worden.37 Die Literatur und ihr spezifisches Vermögen, die Einbildungskraft, genießen in der Aufklärung kein gutes Ansehen. Medizin, Philosophie und auch die juristische Praxis rechnet die Lektüre zu den ersten Ursachen von Gemütsstörungen, die sowohl die häusliche als auch die staatliche Ordnung gefährden kann. Das Lesen fördere ein psychosomatisches Krankheitsbild: seelisch-geistig würden die Leidenschaften angeheizt und Zerstreuung habitualisiert, was zu einer Entfremdung von der Realität und der geschlechtlichen sowie bürgerlichen Ordnung führe; somatisch würden durch das anhaltende Sitzen die Körpersäfte verdickt. Die Invektiven des Mediziners Tissot, des Pädagogen Joachim Heinrich Campe und des Philosophen Immanuel Kant lauten nahezu gleich: Die uebeln Folgen unnuetzer Buecher sind, daß man die Zeit verliert, und das Gesicht ermuedet: diejenigen aber, welche durch die Staerke und Verbindung der Ideen die Seele ausser sich selbst setzen, und sie zum Nachdenken zwingen, nutzen den Geist ab, und erschoepfen den Koerper; und je lebhafter und anhaltender dieses Vergnuegen gewesen ist, desto trauriger sind die Folgen davon.38 Das unmäßige und zwecklose Lesen macht zuvörderst fremd und gleichgültig gegen alles, was keine Beziehung auf Litteratur und Bücherideen hat; also auch gegen die gewöhnlichen Gegenstände und Auftritte des häuslichen Lebens; also auch gegen das frohe Gewühl der Kleinen um uns her […]. Hierzu gesellt sich nicht selten eine träge Unlust zu jedem andern hausväterlichen oder hausmütterlichen Geschäfte […]. Hat man endlich gar durch öfters anhaltendes Stillsitzen, und durch einseitige Beschäftigung der Seelenkräfte bei unnatürlicher körperlicher Ruhe, erst vollends seine Säfte verdickt, seine Nerven geschwächt und zur Ungebühr reizend gemacht: dann fahre wohl häusliche Glückseligkeit!39 Das Romanlesen hat, außer manchen anderen Verstimmungen des Gemüts, auch dieses zur Folge, daß es die Zerstreuung habituell macht. [...] so erlaubt es doch zugleich dem Gemüt, während dem Lesen Abschweifungen [...] mit einzuschieben, und der Gedankengang wird fragmentarisch […]. 40

Diese Literaturkritik der Aufklärung verfestigt sich im frühen 19. Jahrhundert soweit, daß sie in Rechtspraxis übergeht. Ein Reskript aus dem Jahr 1810, daß das Einweisungsverfahren melancholischer Personen in öffentliche Anstalten regelt und einen diesbezüglichen Fragenkatalog vorgibt, dringt hinsichtlich psychischer Ursachen der Erkrankung darauf, auf eine mögliche »Verbildung durch Lektuere, Schauspiele«41 zu achten. So gewinnt ein funktionales Krank-

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Vgl. FA 5/1, 944f.; J. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 525f. S. A. Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, S. 15. J. H. Campe, Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens. Hamburg 1785, S. 176, zit. nach D. von König, Lesesucht und Lesewut, S. 93. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 133f. Reskr. (an saemmtliche Beamten), die sorgfaeltigen Anzeigen ueber den Zustand melancholi-

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heitsverständnis Gestalt. Nicht nur Seele und Körper erscheinen als systemisches Gefüge, sondern auch die größeren Einheiten von Familie und Staat. Der Ausfall oder die Störung eines Elementes zieht gleich das gesamte Umfeld in Mitleidenschaft. Die Krankheit bedeutet eine Störung hausmütterlicher oder -väterlicher sowie staatsmännischer Geschäfte, so daß die Heilung in staatstragende Dimension rückt. Kants Definition von Verrücktheit als »Verlust des Gemeinsinnes (sensus communis)« und dagegen eintretender »Eigensinn (sensus privatus)«42 bringt diese Dimension auf den Punkt. Am verkleinerten Maßstab eines Landgutes spielt Goethe ein solches funktionales Krankheitsverständnis durch: die Abwesenheit von Baron Sternthal löst eine Kettenreaktion aus, die zu Lilas Verrückung und schließlich derjenigen des ganzen Hofes führt. Lilas Erkrankung wird dabei sehr deutlich als Abweichung vom Gemeinsinn und ihre Heilung als letztlicher Zusammenklang von Gemein- und Eigensinn dargestellt. Das Therapieziel lautet: »Zuletzt wird Phantasie und Wirklichkeit zusammen treffen.« (FA I/5, 846) Der Weg dorthin führt über eine psychische Kur, die sich als grundlegende sinnesphysiologische, semiotische, sprachmusikalische und affektive Schulung zu erkennen gibt. Anders als die Schwärmerkuren Wielands, wo die Heilung als ›Sieg der Natur über die Schwärmerei‹ erscheint, und anders als die Aufklärung mit ihrem Allheilmittel der Vernunft, ist es bei Goethe die höchste Künstlichkeit, »die Kulturform des Musiktheaters«, und ihre leibseelische Wirkung, »die die Melancholie heilt.«43 Unter Anleitung Verazios werden der Patientin und dem gesamten Figurenensemble nun also in den Akten II-IV zu therapeutischen Zwecken »die Geschichte ihrer Phantasien« (FA I/5, 846) gespielt. Alle auf dem Landgut Anwesenden beteiligen sich an dem Spiel im Spiel und verkleiden sich ihrem Naturell und Neigungen entsprechend: Verazio tritt im zweiten Akt als Magus auf, als ein »weiser Mann« (FA I/5, 846) und Kräutersammler, der Lila neben gutem Zuspruch auch eine Heiltinktur gibt. Darin erinnert er sowohl an die alte Verbindung von Medizin und Magie als auch an die humoralpathologische Melancholie-Behandlung mit Kräutertees und -tinkturen.44 Marianne erscheint als Fee Almaide, Graf Altenstein als Oger, denn »etwas Wildes ist so immer meine Sache« (FA I/5, 846). Nur Friedrich bleibt quasi als konstante Erinnerung an das Realitätsprinzip während des Maskenspiels unverkleidet. Diese Cha-

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scher Personen betr., vom 29. Juni 1810. In: Karl Gustav Schmalz, Die Königl. Sächsischen Medizinal=Gesetze älterer und neuerer Zeit, S. 436–441, S. 439. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 151. J. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 525. Huber grenzt Goethes Therapie von der Aufklärung durch den Begriff der »poetischen Vernunft« ab, Inszenierte Körper, S. 146. Unter dem Titel ›Sieg der Natur über die Schwärmerei‹ erschien 1764 zuerst Wielands ›Don Sylvio‹. Der Artikel ›Schwermuth, Schwermuethigkeit, Melancholey‹ im Zedler verzeichnet mehrere solche Rezepte, vgl. J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 36 [1743], Sp. 464–476, und R. Burton, Anatomy of Melancholy, II, S. 214–217.

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rade bewirkt zweierlei, Lila sieht sich mit den Objektivationen ihrer Phantasien konfrontiert, mit deren intersubjektiver Realität und ist so schon auf halbem Wege ihren Eigen- wieder mit dem Gemeinsinn abzugleichen. Und zum zweiten wird durch die Verkleidung der anderen auch Lilas Kleiderwahl: »Sie verlangte Trauerkleider, […] bemächtigte sich alles was sie an uns von schwarzen Taffet und Bändern kriegen konnte, und behing sich damit« (FA I/5, 844), von ihr als sichtbarer, äußerer Ausdruck ihrer geglaubten Witwenschaft gemeint, als Kostümierung erkennbar. So ist ein deutliches Anzeichen von Lilas Genesung, daß ihr im vierten Aufzug die »Mummerei am hellen Tage« (FA I/5, 868) selbst störend auffällt. Ihre Phantasien sind ihr fremd geworden. Von den »Hauskleidern« des prosaischen ersten Aktes über Lilas Trauerkleider, die feen- und märchenhafte Maskerade bis zur allmählichen Demaskierung im vierten Aufzug und Lilas Kleiderwechsel zum »weiße[n] […] mit Blumen und fröhlichem Farben gezierten« Kleid sowie Sternthals, Altensteins und Verazios »Hauskleidern« (FA I/5, 837, 867f.) zeigt sich so der Prozeß von Krankheit und Genesung auch an den Körperhüllen.45 Das Therapie- als ästhetisches Spiel mit Verkleidungen und Masken bringt in das einfache Ausdrucksverhältnis von Gemütslage und körperlichem Erscheinungsbild jedoch auch eine befreiende Mehrdeutigkeit hinein. Ähnlich detailliert ist die Raummetaphorik gestaltet: Lilas Abrücken vom Gemeinsinn findet in ihrer räumlichen Entfernung aus dem Schloß ein Äquivalent. Die allmähliche Reintegration in die Gesellschaft wird sie dann aus der »Romantischen Gegend eines Parks« zurück in die Sphäre des Hofes führen. Allerdings gelangt sie nicht an den Ausgangsort des Stücks, den Saal im Schloß, zurück, sondern zu Garten und Gartenhaus und damit an einen Ort, der milieutheoretisch eine Synthese zwischen höfischer Geselligkeit und Natur, therapeutisch die gebändigte Natur der Leidenschaften versinnbildlicht. Eine Zwischenstation dieser ›Kurreise‹ ist eine »schön erleuchtete Laube«. In Diskrepanz zum arkadischen Topos kann Lila die ihr hier gewährte leibseelische Speisung allerdings nicht annehmen, die rigorosen, von aufklärerischer Universitätspsychologie geprägten Selbsthilfemaximen der Fee Almaide – »Der Mensch hilft sich selbst am besten« (FA I/5, 848, 853f.) – provozieren einen Rückfall.46 Die nächste Station, ein »Rauhe[r] Wald, im Grunde eine Höhle« (FA I/5, 857), wird entgegen ihrem äußeren Anschein zum Ort ihrer Bewährung im aktiven Mitleiden für andere. Was als äußerste Entfernung von den kulturellen Konventionen erscheinen könnte, Wald und Höhle, wird zum Ort der Wiederannäherung. In Eingangs- und Schlußszene besteht also eine Kongruenz zwischen Handlungsort und Geschehen, während sich dieses Verhältnis auf den Zwischenstationen der psychischen Kur kontrastiv gestaltet.

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Zur Funktion der Kleidung in ›Lila‹ siehe im weiteren U. Landfester, Der Dichtung Schleier, S. 173–180; M. Huber, Inszenierte Körper, S. 138f. In Almaide ist die ›Alma mater‹ enthalten.

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Eine besondere Bedeutung erhalten die menschlichen Sinne als unterschiedlich verläßliche Modi der Realitätserkenntnis in Goethes Festspiel. Lilas Krankheit wird vor allen Dingen im Begriffsfeld des Sehens formuliert, indem sie ihren Mann nur als »Schattenbild« wahrnimmt und ihr »das Wahre als Gespenst verdächtig ist« (FA I/5, 838). Das Stück macht einen deutlichen Unterschied zwischen »Wiedersehen und Wiedererkennen« (FA I/5, 61): Lila sieht zwar ihre verschiedenen Gegenüber, erkennt sie jedoch nicht. Auf die Problematisierung des wissenschaftlichen Sehens im ersten Akt wurde schon Bezug genommen. Der Magus bringt es später gegenüber Lila auf den Punkt: »Die Augen trügen« und »Was du dann fassest, was du in deinen Armen hältst, das ist wahr, das ist wirklich.« (FA I/5, 850) Diese Form des Realitätstests erprobt Lila in der Begegnung mit Friedrich, der die erste Person ist, die sie im Stück wiedererkennt: »LILA Friedrich! Darf ich mir trauen? […] Du bist es! Sie faßt ihn an. Seid Zeugen, meine Hände, daß ich ihn wieder habe!« Und auch die Realität der weiteren in dieser Szene Anwesenden macht sich ihr, wie der Nebentext dokumentiert, handgreiflich deutlich: »Einige der Gefangenen treten zu ihr, geben pantomimisch ihre Freude zu erkennen, und küssen ihr die Hände.« (FA I/5, 858f.) Bewähren wird sich dieses Verfahren von Sehen und Berühren in der Schlußszene, wenn Lila am Ziel ihrer psychischen Kur angelangt ist und nach den Schwestern auch den Gemahl wiedererkennt. Aus dem Anfassen der Realität ist dann deren liebende Anerkennung geworden. Durch Küsse und Umarmungen versichern alle Personen einander ihre Existenz. So wird Lila von den Schwestern aufgenommen: »Alle begrüßen sie, umarmen sie, küssen ihr die Hände«; der Chor als Stimme der Gesellschaft wiederholt gegenüber Lila den Refrain: »Komm in unsern / Arm zurück!«; und Friedrich formuliert die Dialektik von Fremd- und Selbstberührung im Hinblick auf die Gattenliebe: »Empfinde dich in seinen Küssen« (FA I/5, 867ff.). Ähnlich wie in Herders Ästhetik ist es auch hier der Tastsinn der als grundlegender Wirklichkeitssinn die Konkurrenz der Sinne für sich entscheiden kann. Lila wird im Therapiespiel also durch eine Schule der Sinne geführt, durch die ihr Defekt, die ausschließliche Privilegierung des Sehsinns behoben werden soll. Mit dieser sinnesphysiologischen Komponente ihrer Krankheit steht sie in der Aufklärung natürlich nicht allein da, und auch die genannten Schattenbilder erweitern im Verweis auf Platons Höhlengleichnis die Relevanz dieser psychischen Kur ins Allgemeinmenschliche. Sehen und Berühren bleiben im Stück allerdings keineswegs die einzigen angesprochenen Sinne, sondern – wie sollte es in einem ›Festspiel mit Tanz und Gesang‹ anders sein – auch dem Hören kommt eine besondere Funktion zu. So sind es im zweiten Aufzug nicht nur die »Worte« des Magus, die Lila Vertrauen und Mut einflößen, sondern seine »Stimme« (FA I/5, 849, 851), und im Blick auf den Gesang zeigt sich, daß Lila zuerst in den Sprachrhythmus ihrer Verwandten einstimmt, bevor sie bewußt von ihrem Wahn abläßt. Die Heilung wird ihr gleichsam eingesungen. Die erste Arie, die in diesem eigentümlichen 88

Singspiel zu hören ist, findet sich erst im zweiten Aufzug, Lilas »Maladie des Tods«, wie es in der zweiten, bzw. ihre »Melodie des Todes« (FA I/5, 47, 848), wie es in der dritten Fassung heißt. Denn mit den ersten Worten Friedrichs: »Pfui doch, ihr Kinder! Still!«, wird die anfänglich hörbare Musik und der Tanz der »junge[n] Leute beiderlei Geschlechts« (FA I/5, 837) zu einem abrupten Ende gebracht und bleibt während des gesamten ersten prosaischen Aktes verstummt. Das Singspiel wird also entgegen der Zuschauererwartung aufgeschoben;47 mit Lilas Klagelied beginnt es und steigert sich durch Hinzutreten von Chorgesängen und Tänzen bis zum abschließenden Wechselgesang zwischen Lila und dem Chor. Die Musik ist in Goethes Stück dreifach codiert: Sie ist das Element der höfischen Gesellschaft, das durch Lilas Erkrankung vorübergehend ausgesetzt ist; sie ist das Ausdrucksmedium des Leidens, als solches nutzt auch Friedrich zu Beginn des vierten Aktes den Gesang; und schließlich fungiert sie als Heilmethode in der psychischen Kur.48 Lilas »Melodie des Todes« ist der sprachmusikalische Ausdruck ihres als Zerrissenheit zwischen »Kopf und Herz« erfahrenen Selbstverlusts, dessen auftaktige, unregelmäßig zwischen ein-, zwei- und dreihebig wechselnde Kurzzeilen nicht von Ungefähr an eine andere verrückte Protagonistin, Gretchen am Spinnrade, erinnern. In der Verbindung von rhythmischer Unregelmäßigkeit und liedhafter, durch Strophe und Reim unterstützter Monotonie entsteht ein Klangbild dafür, was zeitgenössisch als Signum der Melancholie, nämlich die Fixierung der Gedanken – hier auf die Todessehnsucht – gefaßt wurde:49 Ich schwinde, verschwinde, Empfinde und finde Mich kaum. […] Ich dämmre! ich schwanke! Komm, süßer Gedanke, Tod! Bereite mein Grab!

Allerdings reicht die Fixierung im Falle Lilas tiefer bis ins tautologisch angehäufte Sprachmaterial und bis in die Struktur der Vokale, der i- und e-Laute der ersten und der a- und e-Laute der zweiten Strophe, die zielstrebig auf den

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Vgl. B. Holtbernd, Die dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes, S. 111, 113. In der Forschung sind bislang nur die zweite und dritte Funktion unterschieden worden, wie ich meine zu Unrecht, vgl. B. Holtbernd, Die dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes, S. 109. Holtbernd wertet das Strophenhafte von Lilas Gesang als Regelmäßigkeit und darin Ausdruck ihrer monotonen Bewußtseinslage, demgegenüber betont Krämer zu Recht die Unregelmäßigkeit der metrischen Gestaltung; vgl. B. Holtbernd, Die dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes, S. 117f.; J. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 531f. Hier wird gerade für eine Verbindung beider Aspekte plädiert.

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Endpunkt, das »Grab« (FA I/5, 848) zu laufen. Am Ende ihrer psychischen Kur wird Lila gleichsam als Erinnerung an den zurückgelegten Weg diesen Sprachrhythmus der unregelmäßigen Kurzzeilen noch einmal aufnehmen. Die durch den Liedcharakter, Strophe und Reim evozierte Monotonie fehlt dann allerdings. Anfängliche unreine Reime und die Dialektik von »lassen« und »fassen«, »Schmerz« und »Herz« ersetzen die vormalige Fühllosigkeit einer ›Maladie des Tods‹ formal und semantisch. Am Ziele! Ich fühle Die Nähe Des Lieben, […] Ihr könnt mich nicht lassen! Laßt mich ihn fassen, Selig befriedigen Das bangende Herz. (FA I/5, 868)

Die Verrückung greift also nicht allein die Gedanken, sondern auch deren Medium, die Sprache an. Goethes Gestaltung ist in dieser Hinsicht zwar noch moderat, weitaus deutlicher wird das 19. Jahrhundert werden, in Büchners ›Woyzeck‹ etwa ist die Zerstörung des Sprachmaterials sehr viel weiter fortgeschritten (Kap. IV.2) und die junge Disziplin der Psychoanalyse wird sich um 1900 mit dem zum Teil gänzlichen Sprachverlust der Hysterikerinnen konfrontiert sehen. Pionierarbeit leistet Goethes Text jedoch darin, die psychische Kurmethode als Gesprächs- und Sprachtherapie zu profilieren. Ebenso wie Verazio auf die Phantasien Lilas eingeht, läßt er sich auch auf ihren Gesang ein, um diesen allmählich wieder in die gemeinschaftliche Ordnung und intersubjektive Kommunikation zurückzuholen. Auf Lilas ›Melodie des Todes‹ antwortet er ebenfalls in Kurzzeilen, die jedoch kontinuierlich zweihebig und auftaktlos bleiben – bis auf die bedeutsame Ausnahme, den Aufruf zur Selbsterhaltung: »Zum Trutz sich erhalten« (FA I/5, 851). Den »Trutz«, den ihr der Magus eingesungen hat, kann Lila dann gegen den Oger wenden. Im dritten Aufzug, im Duett mit Friedrich ist die sprachliche Genesung dann schon so weit gediehen, daß der Gesang wieder der intersubjektiven Kommunikation dient. Lila verneint zwar semantisch Friedrichs Verse, dessen »Freundliche Götter verleihen« verkehrt sie zu »Feindliche Götter streuen«, ergänzt jedoch seine unvollständig bleibenden Reime (»Frieden« – »beschieden«, »Augenblick« – »Glück«, FA I/5, 859), so daß der Zwist sprachmusikalisch eine harmonische Kommunikation darstellt. Im Wechselgesang zwischen Lila, den Chören der Feen und Gefangenen, Friedrich und Marianne, mit dem der dritte Aufzug endet, werden dann schon Inhalt und Form, die Protagonistin und die Gemeinschaft in einer tautologischen, nur noch geringe Abweichungen verzeichnenden harmonischen Einheit verbunden. 90

Demgegenüber erscheint der Schlußgesang des vierten Aufzugs fast als eine differenziertere Ordnung, denn die Einzelstimmen bleiben gegenüber dem auftaktlosen Chor der Gemeinschaft auftaktig und wahren so ihre Identität. Die Stimme des Subjekts, seit Lilas ›Melodie des Todes‹ auftaktig und dann durch das ganze Stück hindurch so codiert, kann sich ihren/seinen Grundton auch gegenüber den durchgängig auftaktlosen Anrufen der Gemeinschaft bewahren. Deren therapeutisch-imperative Integrations- und Tätigkeitsgebote: ›Feiger Gedanken‹, ›Sei nicht beklommen‹, ›Bleib und erwirb den Frieden‹, ›Auf aus der Ruh’‹, ›Nimm ihn zurück!‹, bleiben nicht das einzige Wort. Zum Schluß präsentiert sich eine Gesellschaft, die auch das Eigenrecht des Individuums tolerieren kann. Goethes Libretto entwickelt eine höchst diffizile Sprachmusikalität, die zeitgenössisch an die Grenzen der Komponierbarkeit geführt hat, wie Benedikt Holtbernd am Beispiel von Seckendorffs Vertonung der Arie ›Am Ziel‹ anschaulich machen kann.50 An den bislang skizzierten Aspekten der psychischen Kur in ›Lila‹ fällt auf, daß synästhetisch verfahren wird und der Körper besondere Aufmerksamkeit erhält. Es handelt sich zwar nicht um eine somatisch-medikamentöse Behandlung, sehr wohl jedoch um eine psychosomatische, die gleichsam von Außen nach Innen, von der räumlichen Inszenierung, der Verkleidung, den Körpergesten, über die verschiedenen Sinne bis zum Bewußtsein dringt. Dieses ist das letzte, das sich überzeugen läßt, zuvor haben durch Speisung, Anfassen, Kleidertausch, Waschung und Sprachrhythmus der Körper, die Sinne und das Unterbewußtsein den Wahn schon verabschiedet. Tanz und Gesang haben dabei als Körperkunst eine besonders wichtige Funktion. Die anthropologische Fundierung der Tonkunst hebt Goethe später in seiner ›Tonlehre‹ insbesondere hervor, da sie sich »aus und an dem Menschen selbst« offenbare, indem sie »[1.] hervortritt in der Stimme, [2.] zurückkehrt durchs Ohr, [3.] aufregend zur Begleitung den ganzen Körper und eine sinnlich-sittliche Begeisterung und eine Ausbildung des innern und äußern Sinnes bestimmend.« Die Musik setzt den menschlichen Körper in Gang und kann so die melancholische Fixierung lösen: »Der ganze Körper wird angeregt zum Schritt (Marsch), zum Sprung (Tanz und Geberdung)« (WA II/11, 288ff.). Das Prinzip der Heilung ist auf den verschiedenen synästhetischen Ebenen jeweils dasselbe, philosophisch kann es als Dialektik, medizinisch als Homöopathie bezeichnet werden: similia similibus curentur.51 Es geht darum, Gleiches durch Gleiches zu heilen. Die entsprechenden Formulierungen im Text sind vielfältig: »Was Lieb’ und Phantasie entrissen, / Gibt Lieb’ und Phanta50 51

B. Holtbernd, Die dramaturgischen Funktionen der Musik in den Schauspielen Goethes, S. 119ff.; J. Krämer, Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert, Bd. 1, S. 534. S. Hahnemann, Organon der Heilkunst. 3. Aufl., S. 1. Samuel Hahnemanns ›Organon‹ erscheint zwar erst 1810, die Heilmethode des similia similibus curentur ist allerdings viel älter s.u. und Kap. V.3.4.

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sie zurück.« (FA I/5, 869) Liebesschmerz soll durch Liebesglück, Wahnideen durch Theaterspiel, ein Schrecken durch eine Schocktherapie, die ›Maladie‹ bzw. ›Melodie des Todes‹ durch Gesang kuriert werden. Und auch der vom Magus verordnete Balsam funktioniert homöopathisch: »Es ist eine Seele in diesen Tropfen, die mit der unsrigen nahe verwandt ist« (FA I/5, 850). Mit diesem Heilprinzip kehrt Goethe zu den musikdramatischen Wurzeln und zum rezeptionsästhetischen Leitbegriff der Katharsis zurück. Musiktherapien sind seit der biblischen Erzählung der Heilung von Sauls Wahnsinn durch Davids Harfenklänge (1. Sam 16, 23) und dem orphischen Mythos bekannt.52 In der Kulturgeschichte musikalischer Heilungen ist eine Passage aus Aristoteles’ ›Politik‹ wichtig geworden, die von den ethischen, praktischen und enthusiastischen Funktionen der Musik im Gemeinwesen spricht. Und die Diktion verrät, daß er hier zugleich auch an die tragische Katharsis denkt, der er in der ›Poetik‹ nur einige kurze Bemerkungen widmet. Musik und Tragödie wird eine therapeutisch-homöopathische Wirkung zugesprochen, Enthusiasmus soll mit Enthusiasmus, Furchtsamkeit mit Furcht geheilt werden: Nämlich, der Affect, welcher in einigen Gemüthern heftig auftritt, ist in allen vorhanden, der Unterschied besteht nur in dem mehr oder Minder, z.B. Mitleid und Furcht (treten in den Mitleidigen und Furchtsamen heftig auf, in geringerem Maasse sind sie aber in allen Menschen vorhanden). […] Nun sehen wir an den heiligen Liedern, dass wenn dergleichen Verzückte Lieder, die eben das Gemüth berauschen, auf sich wirken lassen, sie sich beruhigen, gleichsam als hätten sie ärztlich Cur und Katharsis erfahren [...]. Dasselbe muss nun folgerecht auch bei den Mitleidigen und Furchtsamen und überhaupt bei Allen stattfinden, die zu einem bestimmten Affect disponiert sind [...]; für Alle muss es irgend eine Katharsis geben und sie unter Lustgefühl erleichtert werden können.53

Bei der Katharsis handelt es sich also um eine homöopathisch abgestimmte Melancholikerkur. Diese uns heute wieder so geläufige medizinische Lesart der Katharsis konnte sich gegenüber der in der Neuzeit bestimmend gewordenen moralisch-ästhetischen Deutung immer wieder auf die Aristoteles-Textstelle aus der ›Politik‹ berufen. So wendet sich etwa Herder anläßlich deren Zitation an die zeitgenössischen Dramatiker mit der rhetorischen Frage: »Ihr tragischen Ärzte, die ihr uns statt dieser ausführenden und stillenden Tropfen Tollwurzel

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Vgl. R. Burton, Music a Remedy. In: Burton, Anatomy of Melancholy, II, S. 115–119; J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 2, 204, 369ff., 653; J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 132; R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, Panofsky, T. 67, 71. Zur musikalischen Aufheiterung des alchimistischen Gemüts der Schwarzkünstler – als Saturnkinder angestammte Melancholiker – siehe HansGeorg Kempers Analyse eines Kupferstichs von Hans Vredemann de Vries (1527–1604), Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 3, S. 118–120. Aristoteles, Politeia VIII, Kap. 6 und 7, dt. Übersetzung zit. nach J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 139f.

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oder Ypekakuanha reichet, was denkt Ihr zu Aristoteles?«54 Und auch Goethe wird in seiner ›Nachlese zu Aristoteles’ Poetik‹ (1827) auf diese Stelle Bezug nehmen: »Aristoteles nämlich hatte in der Politik ausgesprochen: daß die Musik zu sittlichen Zwecken bei der Erziehung benutzt werden könnte, indem ja durch heilige Melodien die in den Orgien erst aufgeregten Gemüter wieder besänftigt würden und also auch wohl andere Leidenschaften dadurch könnten in’s Gleichgewicht gebracht werden.« Eine sittliche Wirkung der Musik oder der Kunst schließt Goethe hier allerdings aus: »Die Musik aber, so wenig als irgend eine Kunst, vermag auf Moralität zu wirken.« Bestehen bleibt ihre medizinische, »stoffartigere« Wirkung. (JA 6, 356f.) In dieser Funktion wird die Musik im literarischen Spätwerk, in den ›Wanderjahren‹, dann noch einmal thematisch. Mit der Heilung Flavios in der Novelle ›Der Mann von funfzig Jahren‹ wird die medizinische Katharsis ganz im Sinne des Aristoteles angestimmt: »Innig verschmolzen mit Musik heilt sie [Dichtkunst] alle Seelenleiden aus dem Grunde, indem sie solche gewaltig anregt, hervorruft und in auflösenden Schmerzen verflüchtigt.« (FA I/10, 475) Und auf ihre vom Philosophen zugesprochene erzieherische gleichsam staatstragende Funktion ist mit der Pädagogischen Provinz erneut angespielt, die »die Musik zum Element« ihrer »Erziehung gewählt« hat. Nur ist die musikalische dort eher eine leibseelische Grundausbildung, der »Gesang« ist »die erste Stufe der Bildung« (FA I/10, 417), denn eine sittliche Erziehung. Das 17. und das 18. Jahrhundert hatte sich tatsächlich darum bemüht, die Wirkung der Musik auf Gemütsleiden ›stoffartiger‹, physisch-physikalisch zu erklären.55 Zunächst sollten deren Schwingungen die verstockten Körpersäfte, vor allem die schwarze Galle, wieder zum Fließen bringen. Dann wurden die Nerven in einer mit einer Tonus- oder Saitenlehre der Nerven arbeitenden Spannungstheorie zum direkten Leiter der Tonschwingungen erklärt. Zustände eines Zuviel oder Zuwenig an Spannung sollten so musikalisch auf ein Mittelmaß gestimmt werden. Aber nicht nur auf den Körper wirke die Musik unmittelbar, sondern auch auf die Seele. Es ist Rousseau, der diese Überzeugung des Jahrhunderts prägnant auf den Punkt bringt. In seinem Artikel ›Musique‹ schreibt er, diese könne, »par des inflexions vives accentuées, et, pour ainsi dire, parlantes, exprime toutes les passions, peint tous les tableaux, rend tous les objets, soumet la Nature entière à ses savantes imitations, et porte ainsi jusqu’au cœur de l’homme des sentimens propres à l’émouvoir.«56 Im medizinischen

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J. G. Herder, Adrastea (Auswahl). Werke in zehn Bänden. Bd. 10. Hrsg. von Günter Arnold, S. 326. Zum folgenden siehe J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 81–90; K. Dörner, Bürger und Irre, S. 66, 107, 123f., 142. J.-J. Rousseau, Art. Musique. In: Rousseau, Oeuvres complètes. Bd. 5, S. 915–927, S. 918. Diese Passage aus dem ›Dictionnaire de Musique‹ könnte ein Grund dafür sein, warum Novalis in seinen medizinischen Fragmenten den Eintrag »Rousseaus Dictionnaire de Musique« (HKA

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Bereich setzt das 18. Jahrhundert die Musik darum als Arznei ein.57 Bei der konkreten Anwendbarkeit, etwa der Dosierung etc., stellen sich dann allerdings Schwierigkeiten ein, wie Reils Überlegungen in den ›Rhapsodieen‹ zeigen. »In welchen Fällen und zu welcher Zeit soll die Musik angewandt werden? Welche Art für jeden Fall, und auf was für Instrumenten?« Für jeden individuellen Fall bedürfe es »einer besonderen Composition«. Theoretisch gilt jedoch auch diesem Kompendium psychischer Kurmethoden die Musik als ein direkt auf die Seele wirkendes Heilmittel erster Güte. Sie »wird dem ganzen Nervensystem durch eine physische Erschütterung« mitgeteilt, doch »hauptsächlich wirkt die Musik durchs Ohr auf die Seele« und spricht »unmittelbar zu unserem Herzen, ohne erst, wie die Redekunst, ihren Weg durch die Phantasie, und den Verstand zu nehmen. Sie spannt unsere Empfindungen, macht unsere Leidenschaften nach einander rege, und lockt sie gleichsam aus dem Hintergrunde der Seele sanft hervor. Die Musik beruhiget den Sturm der Seele, verjagt die Nebel des Trübsinns und dämpft zuweilen den regellosen Tumult in der Tobsucht mit dem besten Erfolge. Daher ist sie in der Raserey oft, und fast immer in solchen Geisteszerrüttungen heilsam, die mit Schwermuth verbunden sind. Bey Starrsuchten des Vorstellungsvermögens« kann sie »die Seele beweglich machen«. »Sie ist endlich für Liebhaber in der Reconvalescenz ein Mittel, das sie beschäfftiget, ableitet, zerstreut und stärkt.«58

Goethes musikdramatische Kurmethode in ›Lila‹ vereinigt, wie im vorangehenden gezeigt wurde, dieses kulturgeschichtliche therapeutische Wissen. Musik und Tanz sollen sehr allgemein gehalten der »Zerstreuung«, der Erholung, dem »Trost« (FA I/5, 845f., 855) dienen, die Gesänge sprechen aber auch Lilas Körper, ihre Sinne und ihre Seele auf einer vorrationalen Ebene an und lösen die krankhafte Fühllosigkeit. Für das Problem der Anwendbarkeit hat die in ›Lila‹ präsentierte psychische Kurmethode eine eigene zwischen Einzel- und Gruppentherapie vermittelnde Lösung gefunden. So sind die therapeutischen Arien zwar auf Lilas Maladie rhythmisch und semantisch abgestimmt, wie der Fall Friedrich und später die Einzelstimmen im Wechselgesang mit dem Chor zeigen, ist diese Melancholikerkur jedoch erweiterbar. Neben Zerstreuung und

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III, 316) bringt. John Neubauer hat sich diese Referenz nicht erklären können, vgl. Stimulation Theory of Medicine in the Fragments of Friedrich von Hardenberg, S. 92. Vgl. u.a. das Kapitel: Powers of Musick in Soothing the Passions, and allaying the Temests of the Soul, under the Spleen, Vapours, and Hypochondriack Melancholy. In: N. Robinson, A new System of the Spleen [1729]; E. A. Nicolai, Die Verbindung der Musik mit der Artzneygelahrtheit [1745]; P.-J. Buchoz, Mémoire sur la manière de guérir la mélancolie par la musique. In: F.-N. Marquet, Nouvelle méthode facile et curieuse, pour connoitre le pouls par les notes de la musique [1769]; J. J. Kausch, Psychologische Abhandlung über den Einfluß der Töne und insbesondere der Musik auf die Seele [1782]; und im weiteren die bei Friedreich verzeichnete Literatur J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 369–372. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 206ff.

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Affektabfuhr verfolgt die in ›Lila‹ präsentierte musikdramatische Katharsis jedoch noch einen »höhern Endzweck« (FA I/5, 846), der uns spezifischer zu Goethes Version der Grundbestimmungen des Tragischen führt. Die enge Verbindung von musikalischer und tragischer Katharsis hatte bereits Aristoteles’ ›Politik‹ angesprochen, aber auch die ›Poetik‹ reklamiert dies, sind die sechs Elemente des Dramatischen doch: »Mythos, Charaktere, Sprache, Erkenntnisfähigkeit, Inszenierung und Melodik.«59 Durch das therapeutische Spiel im Spiel treten in ›Lila‹ insbesondere die beiden letzt genannten Elemente in den Vordergrund, die Theaterprospekte, Masken und Verkleidungen und eben der Gesang, die schon in Aristoteles’ Text nur am Rande, in der weiteren Dramentheorie und -geschichte nahezu keine Berücksichtigung gefunden haben. Goethes ›Lila‹ erscheint so auch als mediale Reflexion auf die Genese und Grundlagen des Tragischen. Es handelt sich um Goethes subtilste Auseinandersetzung mit Aristoteles’ ›Poetik‹ vor der späteren ›Nachlese‹. Die enge Verbindung mit dem Tanz und ihr mit »ein schönes Impromptu« (FA I/5, 847) eigens erwähnter Stegreifcharakter verweisen auf die Entstehungsgeschichte der Tragödie;60 der Chor erhält eine an die Antike erinnernde bedeutsame Stellung. Begrifflich deutlich markiert verhandelt ›Lila‹ dann zentral Aspekte der Erkenntnisfähigkeit, denn Lilas Krankheit wird als mangelndes Wiedererkennen profiliert und die Geschichte ihrer Genesung reiht Momente der anagnorisis aneinander: sie erkennt zunächst Friedrich, die Gefangenen des Oger, dann sich selbst und schließlich ihre Schwestern, die übrige Hofgesellschaft und ihren Gatten wieder.61 Das Therapieziel, die Zusammenführung von Phantasie und Wirklichkeit gestaltet sich so als »Freude des Wiedersehens und Wiedererkennens« (FA I/5, 61). Im weiteren sind es die wirkungsästhetischen Kategorien Katharsis, phobos und eleos, die in ›Lila‹ reflektiert werden. Der erste Aufzug zeigt die Hofgesellschaft mit Lilas Furchtsamkeit (phobos) konfrontiert, während alle anderen mit einem Mitleid (eleos) zu kämpfen haben, das droht ins Pathologische umzuschlagen. Den Schwestern geht das »Unglück« Lilas »nah’ genug zu Herzen«, Sophie hat sich der »Tränen nicht enthalten können« und läßt sich durch eine Begegnung mit ihr »ganz aus der Fassung« (FA I/5, 837) bringen. Ihr Mann beobachtet und belauscht Lila und wird dabei fast selbst »rasend« (FA I/5, 842). Dies ist die dramentheoretische Reformulierung der zuvor skizzierten ›Empfindsamkeits-Krankheit‹. Die im Dialog des ersten Aktes erzählte Vorgeschichte der Handlung läßt die Erkrankung Lilas als gattungstypischen Einbruch des Tragischen, hervorgerufen durch einen Botenbericht (der 59 60 61

Aristoteles, Poetik, S. 21. Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 15. Der Text ist diesbezüglich in seiner Wortwahl dramentheoretisch genau und fast etwas monoton: Der Baron über Lila: »Sie wollte mich nicht wieder erkennen«; Friedrich zu Lila: »du erkennst sie«; Lila: »Nun erst erkenn’ ich mich wieder«; und schließlich die finale »Freude des Wiedererkennens« (844, 859, 866, 868).

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unglückliche Brief), in eine Welt des Lustspiels erscheinen. Dadurch rückt Lila in die Position einer tragischen Heldin, auf die sich alle mitleidigen Blicke richten. Ihre räumliche Entfernung vom Hof kann so als Flucht vor diesem tragischen Alltagsszenario verstanden werden, sie verläßt die Bühne. Später im Spiel im Spiel wird sie jedenfalls ihren erneuten Rückzug vor den anderen damit begründen, daß deren »Mitleiden« sie »von hinnen [treibt]« (FA I/5, 859). Die Krankheit dividiert also eine Lustspiel-Gesellschaft in eine tragische Heldin einerseits und einen Zuschauerkreis andererseits auf, und beide Positionen erscheinen in dieser starren Fixierung als pathologische Abweichung. Im Therapie-Spiel wird es darum gehen, Lila nicht mehr allein auf der Bühne agieren zu lassen, sondern ihr Mitspieler zu geben und ihr zugleich Möglichkeiten des Rückzugs in den Zuschauerraum, d.h. zur reflektierenden Distanz, zu eröffnen. Die psychische Kur soll der gesamten Hofgesellschaft wieder den Wechsel zwischen Bühne und Zuschauerraum, zwischen Handeln und Beobachten ermöglichen. Werk- und wirkungsästhetisch wird aktives Mitleiden als ›Endzweck‹ des Bühnengeschehens präsentiert. Der dramatische Wendepunkt des Singspiels, der zugleich der Wendepunkt in Lilas Krankheitsverlauf ist, ereignet sich im dritten Aufzug und führt exemplarisch diesen Weg zum aktiven Mitleiden vor Augen. Läßt sich Lila nicht von der »Liebe« und dem Mitleid ihrer im dritten Aufzug als Gefangene des Oger figurierenden Verwandtschaft »aus dem Traume wecken«, so sollen »Gewalt und Unrecht« des Menschenfressers sie nun wachrütteln. Indem sie sich zwischenzeitlich in die Rolle der Zuschauerin zurückzieht und dem tänzerisch dargestellten Treiben des Oger mit den Gefangenen zusieht, geschieht ihr, was Zuschauern im Drama passieren soll: sie wird durch das schauerliche Geschehen vor ihren Augen zu Mitleid gerührt und findet sich in diesem Mitleid selbst wieder: »LILA, welche eine Zeit lang von der Seite zugesehn, tritt hervor: Nun erst erkenn’ ich mich wieder«. Gut aristotelisch fallen also peripetie und anagnorisis zusammen. Allerdings bleibt es nicht bei dieser passiven Rezeptionshaltung, sondern sie schlägt um in aktive Handlung. Aus Mitleiden wird Anteilnahme: »daß ich euer Schicksal teile« (FA I/5, 860). Lila läßt sich selbst Ketten anlegen und stellt sich dem Oger mit der Arie ›Ich biete dir Trutz!‹ entgegen, wechselt also aus dem Zuschauerraum auf die Bühne und hat damit ihr anfängliches symptomatisches »Weibisches Zagen, / Ängstliches Klagen« abgelegt und sich als »männlich« (FA I/5, 851, 861) erwiesen. Es handelt sich hier um ein äußerst komplexes Spiel mit den Aristotelischen Bestimmungen des Tragischen. Was in der ›Poetik‹ werkästhetisch gemeint war, die Erkenntnisfähigkeit und der Moment der anagnorisis wird rezeptionsästhetisch umgedeutet, das Wiedererkennen ist Reaktion der Zuschauerin eines schauerlichen Geschehens. Was bei Aristoteles auf den Zuschauer zielte, die Katharsis, wird in ›Lila‹ hingegen auf das Werk bezogen. Die tragische Heldin lebt auf der Bühne die Reinigung der Leidenschaften vor, dies wird noch deutlich durch die rituell96

kultische Waschung und den Kleidertausch unterstrichen (FA I/5, 862). In der späteren ›Nachlese zur Poetik‹ ist dieses Wechselverhältnis von Werk- und Wirkungsästhetik nur verkürzt wiedergegeben: »Die Tragödie ist die Nachahmung einer bedeutenden und abgeschlossenen Handlung«, die »nach einem Verlauf von Mitleid und Furcht mit Ausgleichung solcher Leidenschaften ihr Geschäft abschließt.« (JA 6, 355) Hier wird die Katharsis einseitig im »Bezug auf den Poeten und die Composition« (WA IV/46, S. 199f.) ausgelegt, wie es im Brief an Zelter noch einmal rechtfertigend heißt. Und darin wird vor allem Lessings ethische Ausdeutung abgewiesen. Das medizinisch-ästhetische Katharsis-Verständnis, das sich in Goethes Werk in der psychischen Kurmethode von ›Lila‹ am markantesten realisiert, bleibt hingegen unerwähnt. Erweitert hat Goethe die Aristotelische tragische Katharsis um das Moment der Erkenntnisfähigkeit, es handelt sich nicht mehr nur allein um eine Mäßigung der Leidenschaften, sondern, wie uns die Zuschauerin Lila vorgeführt hat, um Erkennungsszenen. Das Tragische und das Pathologische sind für Goethe aufs engste miteinander verbunden. Im Brief an Schiller schreibt er 1797: »Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse ist es auch mir niemals gelungen irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen seyn? daß das höchste Pathetische auch nur ästhetisches Spiel bey ihnen gewesen wäre, da bey uns die Naturwahrheit mitwirken muß um ein solches Werk hervorzubringen.« (WA IV/12, 373f.) Die in ›Lila‹ praktizierte ästhetische psychische Kurmethode läßt sich im Spannungsfeld von Naturwahrheit und ästhetischem Spiel noch einmal profilieren. Der eben besprochene, peripetie und anagnorisis verbindende tragische Moment arbeitet insofern auch mit Naturwahrheiten als er deutlich auf die seit der Antike bekannten und im moral management zu neuen Ehren gekommenen Schocktherapien Bezug nimmt.62 Analog zum tragischen heilsamen Schrecken soll eine aufrüttelnde Erschütterung den Patienten aus seiner gedanklichen Lethargie wecken und die Fixierungen lösen. Die Methoden reichten vom körperlich verursachten Schrecken, etwa durch plötzliche Sturzbäder, kalte Duschen, Drehmaschinen oder Kanonenschüsse, bis zum eigenartig ästhetischen Schrecken eines Katzenklaviers oder theatralischer Inszenierungen. Wenn Reil »durch körperliche Gefühle, starke Sinneseindrücke und durch erschütternde Stöße auf die Phantasie« den Patienten »aus seinem Taumel« wecken will, kann er sich sowohl auf die antiken Lehren von

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Vgl. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 205, 234–240; J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 198ff.; J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 22, 68–73; K. Dörner, Bürger und Irre, S. 81ff. Friedreich dokumentiert, daß später auch die terreur der Französischen Revolution in dieses Paradigma eingespeist werden konnten, und zwar als krankheitsverursachender wie auch als heilsamer Schrecken, vgl. ebd. S. 209ff.

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Celsus berufen als auch, das verraten die Formulierungen, auf die Tragödie. Die Nähe zwischen der in ›Lila‹ vorgeführten psychischen Kurmethode und Reils ›Rhapsodieen‹ erklärt sich aus demselben kulturgeschichtlichen Inventar. In ›Lila‹ wird ja die ›Geschichte ihrer (und d.h. auch unserer) Phantasien‹ gespielt. Bald kann eine unterirdische Gruft, die alles Schreckende enthält, was je das Reich des Höllengottes sah, bald ein magischer Tempel angezeigt seyn […]. Diese und andere starke Reizmittel des Gefühls, der Sinne und der Phantasie werden den Kranken zum Aufmerken nöthigen, wenn er nicht ganz gefesselt ist. Bey diesem ganzen Vorgang betrachten wir ihn zur Zeit als blossen passiven Zuschauer. Der erste Schritt ist gethan; wir rücken einen weiter vorwärts. […] Er darf jetzt nicht mehr blosser passiver Zuschauer bleiben, sondern muss handelndes Subject werden. Dadurch wird nicht allein die äussere sondern auch die innere Besonnenheit und das Selbstbewusstseyn geweckt. […] Man trifft eine Veranstaltung, die den Kranken nöthiget mit scheinbaren Gefahren zu kämpfen. Dies beschäfftigt seine Einbildungskraft, erregt seine Leidenschaften, nöthigt seinen Verstand, Mittel zur Rettung für sich zu erfinden.

Es versteht sich, daß die Irrenanstalten bei solchen psychischen Kuren ihre medialen Möglichkeiten entsprechend ausbauen müssen. Ich bemerke bloß im Allgemeinen, daß jedes Tollhaus zum Behuf ihrer imposanten Anwendung und zweckmässigen Zusammenstellung ein für diese Zwecke besonders eingerichtetes, durchaus praktikabeles Theater haben könnte, das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Maschinerien und Decorationen versehen wäre.63

In der zweiten Fassung von ›Lila‹ hatte Goethe diesen zweiten Schritt der psychischen Kurmethode durch die ausführlichere Zeichnung des Ogers in der Figurenrede eines Gefangenen noch weitaus drastischer gezeichnet: »Dieses ist die Höhle des grausamsten Ogers, der von rohem Fleische lebt, und den Wanderern aufpaßt« (FA I/5, 53). Ist der Schrecken hier plastischer, so ist die nachfolgende Fassung dafür in der therapeutischen Auslegung des Geschehens ausführlicher. Durch die im Singspiel vorgeführte Domestizierung des Wilden und Dämonischen, vom Auftritt des Ogers im dritten bis zu jenem seines Herrn im 4. Akt – »der Ballettmeister in Gestalt des Dämons [tanzt] ein Solo und mit den ersten Tänzerinnen zu zwei auch zu drei« (FA I/5, 867) –, wird die kulturgeschichtliche Dimension einer Mäßigung der Leidenschaften in ihrer ganzen Weite ansichtig. Auch der erste, umfassendere Schritt der in ›Lila‹ praktizierten Heilung, das Eingehen auf die Phantasien der Patientin ist als therapeutische List seit alters her bekannt und wird vom moral management in seinen Methodenkatalog aufgenommen. Die Komplizenschaft des Arztes mit dem Patienten nimmt ihm das Mißtrauen und eröffnet das Gespräch in der Absicht durch eine heilsame

63

J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 236f., 209.

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Täuschung, eine Suggestion, den Patienten von seinem Wahn abzubringen.64 Lilas Schwestern haben Verazio im ersten Akt gleich in diesem Sinne richtig als einen »witzigen«, »pfiffigen« mit »Subtilität« ködernden »alten Fuchs« (FA I/5, 838) eingeschätzt. Verazio eröffnet den Anwesenden aber auch die tiefere Logik der Heilmethode, der Patientin die Geschichte ihrer Phantasien zu spielen. Seine Erklärung entdeckt gleichsam die Naturwahrheit des Wahns, der eben nicht das ganz andere der Vernunft, sondern nur eine Abweichung innerhalb der natürlichen Ordnung ist und in dem sich deswegen auch die Selbstheilungskräfte der Natur geltend machen: »Aus dem, was Sie mir erzählen, zeigt sich, daß sich ihr Zustand von selbst verbessert habe«. Diese müssen nur künstlichkünstlerisch unterstützt werden. Es handelt sich um eine naturgemäße Heilmethode. Darauf verweist Altensteins Ausruf: »Der Einfall ist so vortrefflich, ist so natürlich, daß ich nicht weiß, warum wir nicht selbst drauf gefallen sind« (FA I/5, 846), ebenso wie die laienpsychiatrischen Intuitionen der Hofgesellschaft, die Lila zuvor schon durch Musik und Tanz aus ihrem Trübsinn reißen wollten (FA I/5, 843, 837). Der entscheidende Unterschied zwischen diesen ersten laienpsychiatrischen Bemühungen und Verazios professioneller Inszenierung liegt in der bewußten Trennung von Realitäts- und Spielebene und der geschlossenen Illusion des Spiels im Spiel, in dem alle in ihren Rollen bleiben müssen bis die heilsame Desillusionierung der Patientin schließlich glückt. Friedrichs aus der Rolle fallen zu Beginn des vierten Aktes kann das ganze Unternehmen gefährden, und er wird darum auch sofort zur spielerischen Ordnung zurückgerufen. Die Abgeschlossenheit des Spiels im Spiel reagiert auf die in sich abgeschlossene subjektive Wahnwelt Lilas, die zunächst mit Mitspielern bevölkert werden muß, bevor sie sich wieder öffnen und in Bezug zur Realität setzen kann. Der Totalität des Wahns wird therapeutisch die Totalität der heilsamen Täuschung entgegengestellt. Dies ist eine weitere Variante von: similia similibus curentur. Das Singspiel ›Lila‹, 1788 zuletzt umgearbeitet, gibt mit seiner Metareflexion über das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft sowie von Kunst und Gesundheit / Krankheit durch die prosaische Rahmung des ästhetischen Spiels im Spiel für das in der Folge ausgearbeitete Konzept der Autonomieästhetik in der Weimarer Klassik ein interessantes Modell ab. Das in sich selbst abgeschlossene, vollendete und autonome Kunstwerk wird als heilsame Täuschung an eine prosaische Realität zurückgebunden. Seine heilende Funktion kann es nur in einem dialektischen Drahtseilakt erfüllen, indem es zugleich auf seiner Autonomie, deren höchst fiktivem und als solchen auch ausgestelltem Charakter und in dieser Abkehr von der Gesellschaft auf seiner therapeutischen Relevanz beharrt.

64

J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 62–66.

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Die Autonomieästhetik der Weimarer Klassik ist als Therapieprogramm für die Zeitkrankheiten der Moderne konzipiert, dieser höhere ›Endzweck‹ kann Verazios psychisch-ästhetischer Kurmethode in ›Lila‹ unterstellt werden. Die Psychiatrie der Zeit erkennt jedenfalls in diesem Sinne die Bedeutung einer Illusionsästhetik für ihre Zwecke an, wie Reils weitergeführte Überlegungen über das Theater einer Irrenanstalt zeigen: Auf demselben müssten die Hausofficianten hinlänglich eingespielt seyn, damit sie jede Rolle eines Richters, Scharfrichters, Arztes, vom Himmel kommender Engel, und aus den Gräbern wiederkehrender Todten, nach den jedesmaligen Bedürfnissen des Kranken, bis zum höchsten Grad der Täuschung vorstellen könnten. Ein solches Theater könnte zu Gefängnissen und Löwengruben, zu Richtplätzen und Operationssälen formirt werden. Auf demselben würden Donquichotte zu Rittern geschlagen, eingebildete Schwangere ihrer Bürde entladen, Narren trepanirt, reuige Sünder von ihren Verbrechen auf eine feierliche Art losgesprochen. Kurz der Arzt würde von demselben und dessen Apparat nach den individuellen Fällen den mannichfaltigsten Gebrauch machen, die Phantasie mit Nachdruck und dem jedesmaligen Zweck gemäss erregen, die Besonnenheit wecken, entgegengesetzte Leidenschaften hervorrufen, Furcht, Schreck, Staunen, Angst, Seelenruhe u.s.w. erregen und der fi xen Idee des Wahnsinns begegnen können.65

Eine systematische wissenschaftliche Anwendung findet die in ›Lila‹ vorgeführte Form theatralischer Psychotherapie allerdings erst gut hundert Jahre später, in der von Joseph Breuer und Sigmund Freud entwickelten kathartischen Methode. Mit den Elementen der Suggestion, dem Ausagieren von Erinnerungen und der Affektabfuhr als Therapieziel verweist insbesondere die Frühphase der Psychoanalyse auf die älteren dramatischen Formen der Seelenbehandlung zurück. Die in ›Lila‹ zur Sprache kommende skeptische Einschätzung, was die Nachhaltigkeit des Therapiespiels angeht – es »entrückt« den Menschen womöglich »nur auf kurze Zeit« seinem »Elend« (FA I/5, 845) und ist auf ständige Wiederholung angewiesen –, zeigte sich, wie Breuers und Freuds Erfahrungen dokumentieren, als besonders hellsichtig. Die kathartische Affektabfuhr war eine erfolgreiche Symptombehandlung, die jedoch erst noch zur analytischen Ursachentherapie erweitert werden mußte. Goethes Werk- und Wirkungsästhetik zusammenführende Erweiterung der Katharsis um das Moment der Erkenntnisfähigkeit wird sich in Freuds Ausarbeitung der Psychoanalyse wiederholen. Und die sich in ›Lila‹ zwischen dem ersten prosaischen und den nachfolgenden musikdramatischen Aufzügen abzeichnende Gattungskonkurrenz im Hinblick auf psychische Kuren führt auch bei Freud zu einer Ergänzung der dramatischen Kurzzeit- um eine epische Langzeittherapie. Die Patientin muß aus dem dramatischen Präsens des Ausagierens von Affekten schließlich in die erzählerische Distanz des epischen Präteritums geholt werden. 65

J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 210.

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Im Hinblick auf das ›Wilhelm Meister‹-Projekt, das mit der ›Theatralischen Sendung‹ in der 70–80er Jahren zunächst zeitgleich neben ›Lila‹ entsteht und mit den ›Lehr‹- und ›Wanderjahren‹ fortgesetzt wird, läßt sich fragen, ob nicht der Bildungsroman das literarische Modell für eine nachhaltigere und der Prosa der Verhältnisse angemessenere psychische Kur darstellt.

III.2. Reils ›Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen‹ Für die herausragende wissenschaftliche Bedeutung Johann Christian Reils (1759–1813) sind viele Begriffe geprägt worden. Man hat ihn einen deutschen Pinel genannt, insofern seine Arbeit einen maßgeblichen Beitrag zur Befreiung der Irren von den Ketten leistete. Sein Plädoyer für psychische Kuren ließ die Zwangsmittel zugunsten von pädagogischen und verhaltenstherapeutischen Maßnahmen in den Hintergrund treten. Die Maximen der Aufklärung, die »Gesetzgebung der Vernunft«, sollten nun auch für »diese Unglücklichsten unserer Mitbrüder«66 gelten, deren Unmündigkeit nicht selbstverschuldet war. Im weiteren wurde Reils Werk als »großartigste psychologisch-biologische Philosophie«67 bezeichnet, und er gilt als »pioneer of psychotherapy and psychosomatic medicine«.68 In seiner praktischen Tätigkeit als Stadtphysikus in Halle, Kliniker und innerer Mediziner war Reil vorrangig mit dem Körper beschäftigt, sein theoretisches Interesse führte ihn jedoch zu den Seelenkrankheiten. Auf beiden Gebieten hat er für neue Weichenstellungen gesorgt, was sich auch in den jeweiligen Fachterminologien sedimentiert hat: Der Begriff der Psychiatrie ebenso wie derjenige des vegetativen Nervensystems geht auf ihn zurück.69 Mit den ›Rhaposodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode‹ hat Reil ein Forschungsprogramm skizziert, das er dann als Herausgeber publik macht, zu erwähnen sind das mit dem Naturphilosophen Kayssler edierte ›Magazin für die psychische Heilkunde‹ (1805–1806) und die mit Hoffbauer herausgegebenen ›Beiträge zu einer Curmethode auf psychischem Wege‹ (1808–1812).

66 67 68

69

J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 10. Im folgenden wird dieser Text nur unter Nennung der Seitenzahl zitiert. H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 300. Vgl. E. H. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 20. Siehe im weiteren D. von Engelhardt, Neurose und Psychose in der Medizin um 1900, S. 217; A. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Bd. 3, S. 1161ff. Urban Wiesing zeichnet Reils »begründeten Gesinnungswandel« vom Empiristen zum Naturphilosophen nach, siehe: Kunst oder Wissenschaft? S. 271–284, S. 271. Art. Psychiatrie. In: Literatur und Medizin. Hrsg. von B. von Jagow und F. Steger, Sp. 641; M. Hagner, Aufklärung über das Menschenhirn, S. 154f.

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Den argumentativen Rahmen der ›Rhapsodieen‹ bildet ähnlich wie im Falle von Herder, Moritz und Goethe die Kulturdiagnose. Reagierten die im vorangehenden skizzierten ästhetisch-psychologischen Therapien auf Zivilisationskrankheiten verschiedener Ausprägung: Tastblindheit, religiöse Melancholie, Theatromania und Empfindsamkeits-Krankheit, so gründen auch Reils Überlegungen auf seiner spezifischen Wahrnehmung der anbrechenden Moderne: »Wir rücken Schritt vor Schritt dem Tollhause näher, so wie wir auf dem Wege unserer sinnlichen und intellectuellen Cultur fortschreiten.« Nicht der Fortschrittsoptimismus des anbrechenden Jahrhunderts, sondern ein Kulturpessimismus Rousseauscher Prägung ist hier zu vernehmen. Ein eindrucksvoller Mikrokosmos-Makrokosmos-Vergleich zwischen dem Irrenhaus und der »grossen Welt« leitet dementsprechend die Studie ein und fällt zuungunsten der letzteren, gefährlicheren Variante aus. Es ist eine sonderbare Empfindung, wenn man aus dem Gewühle einer großen Stadt auf einmal in ihr Tollhaus tritt. Man findet sie hier noch einmal, im Geschmack des Vaudeville’s vorgestellt, und irgendwo in diesem Narrensystem ein bequemes Genus für sich selbst. Das Tollhaus hat seine Usurpateurs, Tyrannen, Sklaven, Frevler und wehrlose Dulder, Thoren, die sich ohne Grund selbst quälen. Ahnenstolz, Egoismus, Eitelkeit, Habsucht und andere Idole der menschlichen Schwäche führen auch auf diesem Strudel das Ruder, wie auf dem Ocean der großen Welt. Doch sind jene Narren in Biçetre und Bedlam offener und unschädlicher, als die aus dem großen Narren-Hause. Der Rachsüchtige gebeut, dass Feuer vom Himmel falle, und der eingebildete Heerführer glaubt, nach einem tollkühnen Plan, den halben Erdball mit dem Schwerdt zu zerstören. Doch rauchen keine Dörfer, und keine Menschen winseln in ihrem Blute.

Wie sich statistisch am Anwachsen der Insassenzahlen zeigt, ist die moderne menschliche Existenz gebrechlich und Zufälle, d.h. »[m]oralische und physische Potenzen, der Anfall eines hitzigen Fiebers und ein unvermeidlicher Stoss des Verhängnisses«, können jedem und »für immer einen Platz im Tollhause anweisen.«70 Ursache hierfür ist der Übergang vom Natur- in den Kulturzustand. Während der Mensch in seiner psychophysischen Konstitution optimal an den Naturzustand angepaßt war, dieser durch freie Verhältnisse und viel Bewegung das gesunde Funktionieren der Seele ermöglichte, wie Reil am »Wilden« dokumentiert, wird durch die »bürgerliche Verfassung« ein Ungleichgewicht in diese Konstitution hineingebracht, durch einen überproportionalen Aus- und »Anbau der Seele«. Nicht einzelne Seelenvermögen, sondern die Seele insgesamt erscheint als Ursache der Erkrankung im Bild eines gefräßigen, alle Lebensenergien abziehenden Parasiten: »Sie ist der natürliche Parasit des Kör-

70

J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 11f., 7f. Später werden als somatische Ursachen des Wahnsinns noch genannt: »Andrang des Bluts zum Kopf, Verstopfungen des Unterleibes, Würmer im Darmkanal, Reize im Sonnegeflecht und in den Geschlechtstheilen«, ebd., S. 44.

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pers und verzehrt in dem nemlichen Verhältniss das Oehl des Lebens stärker, welches sie nicht erworben hat, als die Grenzen ihres Wirkungskreises erweitert werden.« (12ff.) Die Seele wird so in der Moderne, im Großstadtgewühl, zum eigentlichen Problem und daraus erklärt sich auch die Dringlichkeit einer psychischen Kurmethode als direktestem Weg, das Übel zu beheben. Neben diesen räumlichen und biologischen Metaphern für Seelenkrankheiten wird das moderne Mißverhältnis zwischen Körper und Seele bzw. dann auch innerhalb des Nervensystems oder einzelner Organe energetisch in »Kraftverhältnissen« oder ästhetisch in »Dissonanzen« (46) ausgedrückt. In musikalischer Metaphorik erscheint der ganze Mensch als ein sensibles, für Mißtöne anfälliges Instrument, wobei die Nerven als Saiten figurieren, das Gehirn als Orchester und der Körper als »Orgel« (63). Die ›Rhapsodieen‹ zeichnen den »Nerven-Menschen« (112) als Kunstwerk. Genauer gesagt handelt es sich um ineinander verschachtelte, systemisch miteinander verbundene Kunstwerke. So heißt es vom Seelenorgan Gehirn: »Sein Mechanismus ist höchst componirt und die dynamische Temperatur seiner Theile verschieden. [...] Mag das Gehirn einmal als ein zusammengesetztes Kunstwerk aus vielen tönenden Körpern gedacht werden, die in einer zweckmässigen Beziehung (rapport) stehn. Wird einer derselben von außen, durch das Mittel der Sinne, angestoßen, so erregt sein Ton den Ton eines anderen, dieser wieder einen anderen« (45f.). Die Nerven bilden den physiologischen Erkenntnissen gemäß das vereinigende Medium von Körper und Seele. Ausgehend von einzelnen Gedanken und einzelnen »Fasern im Gehirn« (9) bis zum Selbstbewußtsein und dem Gehirn als Seelenorgan wird dieses Verhältnis als funktionale Korrelation beschrieben.71 Zwischen dem Selbstbewußtsein und dem Gehirn bestehen Strukturanalogien. Bringt das psychische System Einheit in die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, Ideen und Erkenntnisvermögen, so leistet das Gehirn als »Hauptbrennpunkt des Nervensystems« eine vergleichbare Organisation im Hinblick auf das »mannichfaltige Körperliche«. Knochen, Knorpel, Eingeweide, Glieder, Muskeln usw. werden durch das Gehirn mittels einer »dynamischen Verknüpfung«, wie es heißt, zu einem Ganzen synthetisiert. Das Gehirn erscheint als ein autopoetisches, sich selbst bildendes System. Ihm wird, was gerade in jüngster Zeit wieder aktuell geworden ist, Plastizität zugesprochen.72 Das Gehirn sei, laut Reil, seiner »plastischen Natur« nach »eine rohe Masse (tabula rasa)« mit der »Anlage« zu »einer eigenthümlichen Ausbildung«. Diese Ausbildung des Gehirns wird als Dialektik von »äussern Einflüssen« und »eigenmächtigen Thätigkeiten« (47f.) beschrieben. Zu den um 1800 entstehenden Vorstellungen

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Hagner spricht von einer »abstrakten Defintion des Seelenorgans auf funktionaler Basis«, Aufklärung über das Menschenhirn, S. 154. J. C. Rüegg, Psychosomatik, Psychotherapie und Gehirn. Neuronale Plastizität als Grundlage einer biopsychosozialen Medizin.

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von einem Ich als Kunstwerk (Novalis) und dem auf die Seelenvermögen bezogenen Bildungsgedanken formuliert Reil so das physiologische Äquivalent. Das Gehirn teilt mit seinem Double, dem Ich, die Bildungsfähigkeit und den ästhetischen Anspruch. Aber nicht nur das Gehirn als Schaltzentrale für Synthesisleistungen und Plastizität, sondern auch die übrigen »Leitschnüre des Nervensystems« (9) ermöglichen die systemische Einheit von Körper und Seele. Durch die Nervenbahnen ist diese Einheit wahrnehmungs- und handlungsfähig und im Zusammenspiel von Nerven und Muskeln gestaltet sie sich durch Mimik und Gestik als Ausdrucksverhältnis: »Das Nervensystem ist gleichsam als Aussenwerk des Seelenorgans anzusehen, ist Instrument der Sinnlichkeit, Modifikationsmittel unserer moralischen Fähigkeiten und Gehülfe der Seele.« (256) Reils psychische Kurmethoden rechnen mit dieser Auffassung vom ›NervenMenschen‹ den ganzen Menschen in ihre Überlegungen ein. Somit handelt es sich eigentlich um ein psychosomatisches Therapieprogramm. Krankheiten entstehen in der Wechselwirkung von Körper und Seele: »Krankheiten der Seele erregen körperliche, körperliche bringen Seelenkrankheit hervor« (40), und dementsprechend ganzheitlich müssen sie auch geheilt werden: Seelenkrankheiten müssen bald durch die psychische, bald durch die körperliche Curmethode, bald durch beide zugleich behandelt werden. Wir müssen bald der einen, bald mit der anderen den Anfang machen, je nachdem der Körper oder die Seele zuerst litt, dieser oder jener Theil des Menschen afficirt ist. Wer sich daher mit der Heilung der Seelenkrankheiten befassen will, sey beides, Arzt der Seele und Arzt des Körpers, damit er beide Naturen des Menschen umfasse, ihren gegenseitigen Einfluß richtig schätze und die Kette von Krankheiten an der Quelle entdecke, wo sich die erste entsponnen hat. (137)

Ein Vorrang der Seele begründet sich allenfalls in ihrer zunehmenden Krankheitsanfälligkeit in der Moderne und dadurch in dem direkteren Zugriff auf die Krankheit. »Psychische Curmethoden sind also methodische Anwendungen solcher Mittel auf den Menschen, welche zunächst auf die Seele desselben und auf diese in der Absicht wirken, damit dadurch die Heilung einer Krankheit zustande kommen möge. Es ist daher in Rücksicht ihres Begriffes gleichgültig, ob sie eine Krankheit der Seele oder des Körpers heilen; ob das erregte Spiel der Seelenkräfte, zum Behuf der Heilung, durch mitgetheilte Vorstellungen und Begriffe, oder durch körperliche Mittel […] erregt worden ist.« (27f.) Psychische Kurmethoden profilieren die ›Rhapsodieen‹ insbesondere gegen eine somatisch-medikamentöse oder eine chirurgische Behandlung, die bei Seelenkrankheiten eben nur indirekt und unspezifisch wirken kann. Beispielhaft wird etwa der Mohnsaft in seinen Auswirkungen auf das gesamte Gehirn genannt, während eine psychische Therapie an jenen Teilen ansetzen könne, die als Ursache der Störung erkannt werden. Dies gilt vor allem bei Seelenkrankheiten, bei denen einzelne Vermögen oder noch genauer einzelne fixe Ideen als Ursache der Erkrankung diagnostiziert werden können, wie dies bei der Zeitkrankheit 104

des Jahrhunderts, dem fixen Wahnsinn respektive der Melancholie der Fall ist (306). Die Heilmethode muß dann auch bei den Ideen ansetzen. Die psychischen Kurmethoden werden als direktes und gut abstimmbares Mittel vorgestellt, den feinnervigen modernen Menschen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Theater, Sprache und Schrift werden in diesem Sinn in den Katalog der psychischen Kurmethoden aufgenommen. Durch die Kunst können sowohl einzelne fixe Ideen therapiert werden, als sie auch ein Trainingsprogramm für die ›gesunde‹ Ausbildung des Gehirns darstellt: »Durch Ideen wird das normale dynamische Verhältnis des Gehirns gegründet, durch Ideen muss dasselbe rectificirt werden, wenn es gestört ist.« (48) Wie schon bei den ästhetisch-psychologischen Kurprogrammen Herders und Goethes zu beobachten war, entwirft auch Reil einen Therapieplan der von unten, von den einfachsten Körper- und Sinnenreizen aufwärts bis zur Vernunft reicht und eine ganzheitliche Umerziehung des Patienten beinhaltet. »So gängeln wir den Kranken, von der untersten Stufe der Sinnlosigkeit, aufwärts zum vollen Vernunftgebrauch.« (253)73 Der kulturpessimistische Anfangsvergleich von Irrenhaus und großer Welt wird so aufklärerisch gewendet, die Irrenanstalten erscheinen als pädagogisches Modellprojekt der Moderne mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz. Darum sollen sie auch wie das Theater staatlich subventioniert werden. »Irrenhäuser sind wie die Schauspielhäuser nicht zum Erwerb geeignet. Für beide muß die Masse aufopfern.« (241) Einer der ersten Schritte dieser fundamentalen Re-Education der Kranken ist eine sinnesphysiologische Grundschulung, die über das »Getast, das Ohr und das Auge« (202) den Patienten wieder ansprechbar machen will und ihn zur aktiven Teilnahme an der Therapie auffordern soll. Von den einfachsten sinnlichen Tastempfindungen führt die Heilmethode zu immer komplexeren; die oben zitierten Überlegungen zu Musik- und Theatertherapien finden sich in diesem Kontext und leiten dann über zu den höherstufigen Schulungen der Seelenvermögen. Diese wiederum untergliedern sich in »Uebungen der Aufmerksamkeit und der Besonnenheit«, »Uebungen des Gefühlsvermögens«, »Uebungen des Verstandes« und in eine »Cultur des Begehrungsvermögens« (247, 250ff., 280f.). In Reils ›Rhapsodieen‹ bilden »Zeichen, Symbole, Pantomimen und besonders Sprache und Schrift« eine eigene Klasse psychischer Heilmittel, »durch welche wir Vorstellungen, Imaginationen, Urtheile und Begriffe im Seelenorgan zu erregen, die höheren Seelenkräfte zu rectificiren und den Kranken zur eignen Geistesthätigkeit zu wecken suchen.« (181) Neben den komplexen leibseelischen Kuren eines Musik- und Theatererlebens wird unter anderem das Lesen oder »Reime recitiren« als Behandlung bei »Ideenjagden« vorgeschlagen – ein Symptom, das bei Wahnsinn, Tobsucht und Narrheit auftrete. »[L]aut und langsam 73

Zum pädagogischen Impetus von Reils ›Rhapsodieen‹ siehe auch: »Jeder Kranke ist ein Subject eigner Art, das wie jedes Kind nach seiner Weise gezogen seyn will.« 224.

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zu lesen«, kann psychosomatische Erfolge verzeichnen: »Dies Hülfsmittel heftet die in der Irre herumschwärmende Phantasie auf eine bestimmte Gedankenreihe, vertheilt die Nervenkraft durch die Bewegung so vieler Organe gleichmäßiger und zerstreut ihre Anhäufung an einem Orte auf mehrere Gegenden des Nervensystems.« (136) Auch Reil vermerkt in diesem Kontext zeittypisch die eigentümliche Sonderstellung der Einbildungskraft. Sie sei das schnellste Seelenvermögen und produziere darum auch die meisten Krankheiten: Ideenjagden, Katalepsie oder Phantasmen, und sei so auch für das fundamentale Realitätsproblem im Wahnsinn verantwortlich, nicht mehr zwischen Empfindung und Imagination entscheiden zu können. Hingegen sei der Arzt in der Behandlung vor allem auf ihre Mitarbeit angewiesen, »sofern ein großer Theil der psychischen Mittel durch sie zur Thätigkeit gelangen muß« (278). Im weiteren sollen neben der Kunst Sport- und Arbeitstherapien das ganzheitliche Trainingsprogramm ergänzen.74 Bei all diesen fortschrittlichen Kurmethoden, dem Malen, Singen, Tanzen und Argumentieren, darf jedoch nicht verschwiegen werden, daß auch die Reformpsychiatrie zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf die Zwangsmittel nicht gänzlich verzichtet, sondern ihnen nur einen anderen Stellenwert nun als Technik zur Disziplinierung des Patienten zuweist. Einige dieser drakonischen Maßnahmen, Sturzbäder, Drehmaschinen, Ketten u.s.w. wurden im vorangehenden schon als Schocktherapien genannt. Der erste Schritt in der gänzlichen Umerziehung des Kranken, bevor er sinnesphysiologisch und dann vernünftig geschult wird, besteht nämlich in seiner Unterjochung und seinem Gehorsam (225–234). Klaus Dörner hat Reils ›Rhapsodieen‹ darum auch eine »groteske, aus Eigenem und Fremdem kompilierte Sammlung psychischer Zwangsmaßnahmen« genannt und ihr die Wissenschaftlichkeit abgesprochen, ihre gebühre »wie der deutschen Psychiatrie der ersten Jahrhunderthälfte überhaupt das Prädikat ›literarisch‹«.75 Ganz ähnlich hat sich auch Werner Obermeit geäußert: »Reil ist nicht Empiriker, er ist Leser« und die ›Rhapsodieen‹ sind kein »wissenschaftliches Werk«, sondern »eine literarische Arbeit, eine Kompilation gängiger und vertrauter Auffassungen.«76 Diese Einschätzung übersieht allerdings das Novum von Reils ›Rhapsodieen‹, sie verbinden nämlich in der Auffassung vom Nerven-Menschen die neueste physiologische Forschung mit den altbekannten psychischen Kurmethoden. Darin werden sie richtungweisend für die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. Herders durch Hallers Reiz- und Erregungslehre

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»Man halte ihn zum Schwimmen, Tanzen, Balanciren, Exerciren, Volitigiren, zum Ringwerfen, Strickspringen und zu anderen gymnastischen Uebungen an. Sie stärken beides, die Kräfte der Seele und des Körpers.« 245f.; »Müßiggang und Faulheit stört alle Ordnung. Arbeit macht gesund, erhält den Appetit, ladet zum Schlaf ein, und mindert die Congestionen nach dem Kopf.« 468. Zur Arbeitstherapie siehe im weiteren: 240–244. K. Dörner, Bürger und Irre, S. 234, 230. W. Obermeit, »Das unsichtbare Ding, das Seele heißt«, S. 43f.

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informierte Ästhetik und Reils sich der Seele und den Kunsttherapien zuwendende Nervenlehre umreißen jeweils von unterschiedlichen Seiten ausgehend das interdisziplinäre therapeutische Bemühen um 1800.

III.3. Der Bildungsroman als therapeutisches Genre Wilhelm Dilthey hat der Literatur um 1800, den Bildungsromanen Goethes und Novalis’ im besonderen eine spezifische Thematik zugesprochen. Sie brächten »die psycho-physischen Bedingtheiten, unter denen die menschlichen Typen sich ausbilden«, die »Zusammenhänge und Stufen einer Bildungsgeschichte zur breiten Darstellung« (V, 296). Und Hans-Jürgen Schings hält fest: »Der Bildungsroman ist die Antwort auf eine Pathogenese«.77 Diese Befunde bilden den Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen. Die Relevanz von Krankheit und Heilung bestätigt sich im Blick auf den Prototypen dieses Genres, Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ ebenso wie in Anbetracht eines seiner prominenten Nachfolger, Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹. Die Romane sind von Kranken bevölkert, die an der ein oder anderen uns nun schon geläufigen Spielart des mal du siècle, der Melancholie leiden. Den religiösen Melancholikern sind in den ›Lehrjahren‹ in konfessioneller Differenzierung der Graf und die schöne Seele, der Harfner und Sperata zuzurechnen,78 während dieses Krankheitsbild im ›Ofterdingen‹ im Märchen von ›Eros und Fabel‹ als kollektives Phänomen verhandelt wird. Von Liebes-Melancholie sind Wilhelm, Aurelie, Mignon und etliche mehr sowie in den ›Wanderjahren‹ vor allem das Novellenpersonal gezeichnet – zu nennen sind hier auch die ursprünglich für diesen Roman konzipierten ›Wahlverwandtschaften‹; im ›Heinrich von Ofter-

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H.-J. Schings, Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister, S. 45. Siehe auch Schings Kommentar: MA 5, 636, und im weiteren D. E. Wellbery, Die Enden des Menschen; W. MüllerSeidel, Dichtung und Medizin in Goethes Denken; F. Nager, Der heilkundige Dichter, S. 248. Per Øhrgaard hat Wilhelms Krankengeschichte im Kontext der Psychoanalyse gelesen, Die Genesung des Narcissus; Irmgard Egger im Kontext von: Diätetik und Askese. Im Zuge von Goethes ›Meister‹-Romanen entstehen dann im frühen 19. Jahrhundert Arztbildungsromane, vgl. Müller-Seidel, ebd., S. 109. Bei den Ausführungen zu Goethes ›Lehrjahren‹ und Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹ handelt es sich um eine erweiterte und überarbeitete Fassung des bereits publizierten Beitrags: Lebenskunst, Kunstreligion, Weltfrömmigkeit. Zu den ›Bekenntnissen der schönen Seele‹ im Kontext des Pietismus vgl. I. Egger, Diätetik und Askese, S. 31–35, 62ff., 226ff., und zu den katholischen Melancholikern Augustin, Sperata und Mignon ebd., S. 230–233. Auf die religiöse Melancholie in den ›Wanderjahren‹ hatte schon Müller-Seidel aufmerksam gemacht, Dichtung und Medizin in Goethes Denken, S. 117f. Siehe im weiteren: Goethe und der Pietismus. Hrsg. von Hans-Georg Kemper. Thorsten Valk nimmt die ›Lehrjahre‹ ebenfalls als ein ›Panoptikum der Melancholie‹ wahr, wie der Kapiteltitel indiziert, dieses bleibt jedoch im nacherzählenden Gestus der Studie gerade im Hinblick auf eine Typologie der Melancholie unscharf. Wilhelms Leiden wird allerdings auch hier zutreffend im kulturgeschichtlichen Horizont der Liebes-Melancholie verortet, vgl. T. Valk, Melancholie im Werk Goethes, S. 180.

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dingen‹ ist mit dem zweiten Teil des Romans die Melancholikerkur nur fragmentarisch überliefert, der den Titelhelden genesend vom Verlust der Geliebten zeigen sollte. Zudem wird in Goethes und Novalis’ Romanen eine weitere Form der Melancholie thematisch, die wir heute nicht mehr geneigt sind, als ernsthafte Krankheit anzuerkennen, der der medizinische Diskurs der Zeit jedoch zumeist einen letalen Ausgang und kaum Therapiemöglichkeiten voraussagte. Gemeint ist die Nostalgia, das Heimweh. Nach dem Artikel ›Heim=Sucht, Heim=Weh‹ in Zedlers ›Universal-Lexicon‹ wird darunter »in der Arzney-Kunst eine Art der Schwermuth« verstanden, »wodurch man sich von dem Orte, da man ist, weg, und wieder nach Hause sehnet, und wenn solches nicht bald geschiehet, in schwer Kranckheit, ja den Tod selbst verfaellt.«79 In der Goethezeit hat sich an dieser Einschätzung, wie Reils ›Rhapsodieen‹ und Heinroths ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens‹ dokumentieren, nichts geändert.80 Als besonders anfällig galten Schweizer und Menschen in der Adoleszenz, als einziges erfolgreiches Mittel wurde die Rücksendung in die Heimat verordnet. Es handelt sich um ein psychosomatisches Krankheitsbild, das einerseits erst humoralpathologisch, dann nervenphysiologisch durch die verlorene Anpassung an heimische klimatisch-diätetische Verhältnisse – im Falle der Schweizer wird in vielen Traktaten die fast »allzureine und subtile Lufft« hervorgehoben – , andererseits durch Verluste geliebter Menschen und der gewohnten Lebensform erklärt wird: »Diese Kranckheit selbst hat ihren Sitz Theils im Gemuethe, Theils im Leibe, am meisten aber in ersten, und aeussert sich vornemlich bey Personen, meist von Knaben= und Juenglings=Jahren, die ihres Vaterlandes und Mutter=Brodes allzusehr gewohnet sind, da ihnen bey erfolgter offt gezwungener Verweilung an auswaertigen Orten, der Verlust des Vater=Heerds und der Landes= und Freundschaffts=Gewohnheit dergestalt empfindlich und unertraeglich faellet, daß bey ihnen das starcke Andencken hiervon […] nicht kan ausgetilget werden«.81 In den ›Lehrjahren‹ verkörpert Mignon dieses Krankheitsbild und es hat in ihrer Stimme zum klassischen lyrischen Ausdruck gefunden: ›Kennst du das Land? wo die Zitronen blühn‹.82 In der philosophischen und 79 80

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J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 12 [1735], Sp.1190–1192, Sp. 1190. Vgl. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 292f.; J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 222f. Siehe auch die bei Friedreich erwähnte Dissertation von Verhovitz ›De Nostalgia‹, Viennae 1790, J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 296. Noch 1908 wird Karl Jaspers mit einer Doktorarbeit über ›Heimweh und Verbrechen‹ in Heidelberg zum Dr. med. promoviert, vgl. W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, S. 12. Zu Jaspers Fallgeschichten von aus Nostalgie tötenden Dienstmädchen siehe im weiteren E. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 462–469, die auch eine Verbindung zum Fremden und zum Begriff des ›Fremdkörpers‹ in der Hysterie-Auffassung Freuds herstellt. J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 12 [1735], Sp.1190–1192, Sp. 1190f. Das Gedicht gestaltet und der Arzt diagnostiziert später eine Kombination aus Heimweh und

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literarischen Frühromantik erlangt das Heimweh transzendentale Bedeutung, insofern in ihm die Sehnsucht nach einer erst am Ende des Bildungsweges zu erreichenden ästhetisch-ethischen Heimat des Menschen symptomatisch wird und es insofern die Bildungsreise motiviert. Das Heimweh ist die »Erinnrung höherer Heymath«83 und macht den frühromantischen Menschen zum Fremden in seiner Welt und Gegenwart. So erhält Heinrich in Novalis’ Roman auf seine Frage »Wo gehn wir denn hin?« die Antwort: »Immer nach Hause.« (HKA I, 325) Und das Symbol der Frühromantik, die blaue Blume, wird zum Signum der Bildungs- als ideellen Heimreise: »Die Wunderblume stand vor ihm, und er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.« (HKA I, 205) Diese paradoxe frühromantische Wendung, Heimweh durch Reisen, also die räumliche Entfernung aus der Heimat, zu kurieren, und Heimat in einen U-topos umzuwerten, läßt die strukturelle Bedeutung dieses Krankheitsbildes für den Bildungsroman insgesamt deutlich werden. Die Nostalgie, zuvor ein eher abseitiges, national geprägtes Leiden, wie noch der Zedler dokumentiert, wird in den literarischen Pathographien im ausgehenden 18. Jahrhundert zu jener Krankheit, die die krisenhaften historischen Umbrüche reflektiert und in sich konzentriert.84 In der Vertreibung aus der Heimat als vertrauter leibseelischer und politisch-sozialer Lebensform bündeln sich eine metaphysische Obdachlosigkeit, der Umsturz politisch-sozialer Ordnungen durch Aufklärung und Französische Revolution, Milieuveränderungen und persönliche Verluste. Das Heimweh umfaßt, was religiöse und Liebes-Melancholie in einzelnen Aspekten zum Ausdruck bringen. In der Umformung der Heimat zur Utopie zeigt sich eine therapeutische Reaktion auf diese krisenhafte Erfahrung, indem sich das Ich für seine realen Verluste ideelle Kompensation verschafft. Aus einem an einen engen klimatisch-sozial-historisch begrenzten Lebensraum gewöhnten Individuum wird ein Weltenbummler, ein universales Ich. Das Reisen als habituelle Einübung in die Ortlosigkeit war dabei ein von der Medizin im 18. Jahrhundert bereitgestelltes therapeutisches Angebot, das der Bildungsro-

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Liebes-Melancholie: »Die sonderbare Natur des guten Kindes, von dem jetzt die Rede ist, besteht beinah nur aus einer tiefen Sehnsucht; das Verlangen, ihr Vaterland wieder zu sehen, und das Verlangen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte ich fast sagen, das einzige Irdische an ihr; beides greift nur in eine unendliche Ferne, beide Gegenstände liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gemüt.« FA I/9, 901f.; vgl. 503. In dieser Charakterisierung ist die frühromantische, bei Mignon ansetzende Umformulierung des Heim- als Fernwehs schon vorgezeichnet. HKA III, 687, siehe auch 434: »Die Philosophie ist eigentlich Heimweh – Trieb überall zu Hause zu seyn.« Der Artikel ›Heimweh‹ merkt an: »Erst um 1800 löst sich der Heimwehdiskurs von seiner regionalen Bindung an die Schweiz.« In: Literatur und Medizin. Hrsg. von B. von Jagow und F. Steger, Sp. 333–338, Sp. 334.

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man aufgreifen konnte. Mit Wielands Agathon, Moritz’ Anton Reiser, Goethes Wilhelm Meister und Novalis’ Heinrich haben wir allesamt Reisende, die sich von der Weltgegend her dem neu geschaffenen U-topos Heimat nähern. Das Reisen präsentierte sich seit alters her als eine ganzheitliche Kurmethode; der Körper erhält Bewegung, was die Körpersäfte oder die Nervenspannung wieder ins Gleichgewicht bringen kann; der Geist wird aus Fixierungen gelöst und zerstreut. Es handelt sich, wie Heinroth schreibt, um eine »Universalmedizin«.85 Im 18. Jahrhundert verschränken sich Bildungsreise, die berühmte große Tour begüterter junger Männer, und Reisekur: Reisen kann jenen lenkbaren Melancholikern empfohlen werden, die über Mittel verfügen, besonders auch dann, wenn Neigung und Lust sie zum Genuß von Kunst, Wissenschaft, Literatur befähigen. Die Reisen bieten den großen Vorteil, daß sie die Neugier oder Überraschung der Melancholiker erregen, daß sie vor deren Augen einen großen, raschen Wechsel von Gegenständen abspielen lassen, daß sie ihre Phantasie durch landschaftliche Schönheiten und die Vollkommenheit von Kunstwerken, die sie bisher nur vom Hörensagen kannten, überraschen und entzücken. […] früher oder später wird man bemerken, daß diese Melancholiker nach ihrer Heimkehr neue Hoffnung ins Leben gefaßt haben. 86

Ein ernsteres und kollektives Gepräge erhält diese Behandlungsform in Gestalt des Auswanderns, das etwa im Kontext der Französischen Revolution als Therapeutikum reflektiert wird. In der Reise »lag vielleicht der Grund«, so spekuliert Reil mit Hoffbauer, »daß viele Einheimische, aber wenig Ausgewanderte durch die französische Revolution um ihren Verstand kamen. Diese wurden nemlich durch die Reise, durch die anfängliche Sorge für ihren Aufenthalt, und in der Folge für den Erwerb ihres Lebensunterhalts von dem Andenken an ihr Unglück abgeleitet. Doch blieben ihnen Zwischenräume genug übrig, sich dessen zu erinnern und sich mit demselben zu familiarisiren.«87 Heimweh ist nicht nur ein individuelles Leiden, sondern kann zum gesellschaftlichen werden, wenn es auf einen durch Krieg oder politischen Umsturz hervorgerufenen gänzlichen Verlust bekannter Lebensformen reagiert. Der Übergang von Goethes ›Lehr-‹ zu den ›Wanderjahren‹ ist mit dem Bund der Auswanderer im Kontext

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 215. Zur Reisetherapie siehe im weiteren J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 174, 177; J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 374f., 653; J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 75–79. Starobinski macht auch darauf aufmerksam, daß es sich um ein seit der Antike bekanntes Heilmittel handelt, vgl. ebd., S. 75–79. L.-F. Calmeil, Art. Lypémanie. In: Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales. 2. Serie. Bd. 3. Paris 1870. Zit. nach J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 78. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 177.

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psychosomatischer Kurmethoden so auch als Fokuswechsel von individuellen zu kollektiven Behandlungsmaßnahmen zu verstehen.88 Mit Heimweh und Reisekur sind Grundstrukturen des Bildungsromans als therapeutischem Genre genannt. Das Heimweh als Phantomschmerz einer sich unvollständig empfindenden Existenz kann im weiteren zurückgebunden werden an ein um 1800 erkenntnis- und handlungstheoretisch festgestelltes, literarisch anschaulich gemachtes anthropologisches Defizit, die Auffassung vom Menschen als Mangelwesen. Der Mensch ist grundlegend in seiner leibseelischen Konstitution, seiner Lebenspraxis, im Verständnis seiner selbst auf seine Umwelt und auf andere verwiesen. Die einzelnen Krankheitsbilder sind nur symptomatisch für diesen strukturellen Mangel in der menschlichen Existenz. So äußert Natalie in ›Wilhelm Meisters Lehrjahren‹: »wie ich die Menschen sehe, scheint mir in ihrer Natur immer eine Lücke zu bleiben«. Im Roman steht vor allem Natalie als »Supplement irgend einer Existenz« (FA I/9, 907, 946) dafür ein, daß dieser Mangel geheilt werden kann. Und darüber hinaus bieten die ›Lehrjahre‹ als Ganzes ein Therapieprogramm für die lückenhafte Existenz des Menschen an, wenn anhand von Wilhelms Bildungsweg die Vervollständigung des Einzelnen in der Dialektik von der Ausbildung innerer Anlagen und der Hineinbildung in die Gesellschaft antizipiert wird. Auch Novalis’ philosophisches Denken nimmt seinen Ausgang von der Einsicht: Das Ich »realisirt« sich »durch ewigen Mangel« (HKA II, 270), und dieser Mangel wird zum Motor des Bildungsprozesses und der poetischen Produktion. Kennzeichnend für beide Autoren ist, daß sich diese Analyse des Mangelwesen Mensch in medizinische Metaphorik kleidet. Wobei Goethe und Novalis die Opposition von Gesundheit und Krankheit nicht festschreiben, sondern zeitlich dynamisieren. Krankheit erscheint als Bildungsfaktor, als notwendig zu durchschreitender Moment auf dem Bildungsweg. Bei Novalis heißt es: »Krankheit gehört zur Individualisirung« (HKA III, 681), und analog dazu setzt das »Gedächtnis« der schönen Seele in den ›Lehrjahren‹ erst mit dem »Blutsturz« (FA I/9, 728) ein. Mit dieser Auffassung von Krankheit als Bildungsprozeß ist ein zentrales Moment des psychosomatischen Diskurses äußerst prägnant formuliert. Krankheit tritt als ein dynamisches, sinnvolles Verhalten in Erscheinung und wird darüber hinaus sozial-historisch konnotiert.89 Folgerichtig wird die Literatur um 1800 im Kontext des Therapeutischen verortet: »Die Poësie schaltet und waltet mit […] Gesundheit und Kranckheit – Sie mischt alles zu ihrem großen Zweck der Zwecke – der Erhebung des Menschen über sich selbst.« Bei Novalis wird der »Poët« zum »transscendentalen Arzt« (HKA 88 89

Zum rechtlich-ökonomischen Kontext des Auswanderns siehe M. Schmaus, Entsagung als ›Forderung des Tages‹. Im 20. Jahrhundert haben Karl Jaspers und Viktor von Weizsäcker an Novalis’ Krankheitsverständnis explizit angeknüpft, vgl. K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, S. 658; V. von Weizsäcker, Von den seelischen Ursachen der Krankheit [1947], S. 413. Hierauf macht D. von Engelhardt, Novalis im medizinhistorischen Kontext, S. 82f., aufmerksam.

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II, 535). Goethe stiftet den Zusammenhang der ›Meister‹-Romane und mithin die Kontinuität von Wilhelms Bildungsweg vorrangig über den Therapiediskurs, der in den ›Lehrjahren‹ mit dem Bild des kranken Königssohns beginnt und mit Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt in den ›Wanderjahren‹ endet. Der therapeutische Anspruch des Bildungsromans wird deutlich unterstrichen, insofern zwei Autoren ihre Protagonisten ihren Bildungsweg mit der Berufswahl des Arztes abschließen lassen – bei Goethe nach dem Scheitern der theatralischen Sendung und also in Konkurrenz zur künstlerischen Profession, bei Novalis in der Personalunion von Dichter und Arzt. In Anbetracht der Diagnose und Heilung des Mangelwesens Mensch läßt sich also eine Affinität zwischen Klassik und Romantik aufzeigen, die Goethes im Gespräch mit Eckermann am 2. April 1829 formulierte Äußerung relativiert: »Das Classische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke«.90 Als Epochenabgrenzung und Romantik-Kritik wäre diese Äußerung mißverstanden. Angesichts der beiderseitig gestalteten Dialektik von Krankheit und Gesundheit läßt sich die Einheit der klassisch-romantischen Literatur fokussieren.91 Die therapeutische Rahmung der Weimarer Klassik als funktional auf das umfassendere Gesellschaftsspiel bezogenes autonomes ästhetisches Spiel wurde schon im Hinblick auf ›Lila‹ betont. In einem Zwischenschritt läßt sich zeigen, daß der Heilungsanspruch nicht nur die Bildungsromane der Zeit erfaßt, sondern auch die philosophischen Bildungsgeschichten, wie Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ dokumentiert im Vorhaben, die »Wunden des Geistes [zu] heilen, ohne daß Narben bleiben«.92 Anhand der Konstellation von Goethe und Novalis kann herausgearbeitet werden,93 daß die Differenzen zwischen Klassik und Romantik nicht im pathologischen Befund des Mangelwesens Mensch oder in dem hieraus entwickelten Therapieprogramm des Bildungsromans liegen, sondern in den Details der Diagnostik und der Heilmethoden. Der Mangel, den es zu heilen gilt, ist bei Goethe und Novalis ein anderer. Goethes Ich ist von Natur aus gehaltvoll, begabt mit ›eingeborenen‹ Neigungen, Ideen und Bildern, die sich wie die Pflanze aus dem Samen entwickeln.94 Im Bildungsprozeß kommt es dann darauf an, diese inneren Anlagen am Äußeren zu realisieren – zu den eingeborenen Bildern müssen korrespondierende Realitätselemente gefunden werden. Goethes Ich mangelt es also

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Goethes Gespräche. Hrsg. von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 7, S. 40. Vgl. H.-J. Mähl, Goethes Urteil über Novalis, S. 155; H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 458. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 3, S. 492. Zu Novalis und Goethe siehe: H.-J. Mähl, Novalis’ Wilhelm-Meister-Studien des Jahres 1797; Mähl, Goethes Urteil über Novalis; H.-J. Beck, Friedrich von Hardenberg ›Oeconomie des Styls‹; C. Heselhaus, Die Wilhelm-Meister-Kritik der Romantiker und die romantische Romantheorie; G. Schulz, Die Poetik des Romans bei Novalis; J. Neubauer, Das Verständnis der Naturwissenschaften bei Novalis und Goethe; M. Baróti-Gaál, Erinnerung und Ahnung in ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ und ›Heinrich von Ofterdingen‹. Siehe hierzu vor allem Goethes Text ›Bildungstrieb‹ (1820), HA 13, 32–35.

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an Realität. Das Krankheitspotential der Bildung liegt im möglichen Scheitern der Vermittlung zwischen Innerem und Äußerem. Die ›Lehrjahre‹ reflektieren, wie es schon ›Lila‹ tat, vorrangig die Verselbständigung der Einbildungskraft als Ursache solchen Scheiterns. Im pathologischen Fall bleibt das Individuum auf bloße Einbildungen ohne Realitätsgehalt zurückgeworfen. Demgegenüber ist Novalis’ Ich gleich mit einem zweifachen Mangel behaftet. Seine philosophische Reflexion beginnt mit einem Ich als transzendentaler Struktur, das ›punktähnlich‹ (HKA III, 442), leer ist.95 Es mangelt ihm an Gehalt. Das Ich ist gleichsam eine ›tabula rasa‹, die erst in der Interaktion mit anderen ›beschrieben‹ wird – Reil wird, wie bereits erwähnt, das Gehirn ebenso skizzieren. Damit entgeht dieses Ich aber auch jener Egozentrik, die bei Goethe das Gefahrenpotential der Bildung darstellt. Denn bei Novalis ist der Gehalt des Ich bereits intersubjektiv vermittelt. Im weiteren mangelt es diesem Ich an Einheit. Dem Wortsinn gemäß faßt Novalis das Individuum als Zweiheit in der Einheit auf, es erfährt sich als »identisch und getheilt« (HKA II, 127) zugleich. Seine Einheit ist dem Individuum als ein nur approximativ zu erreichendes Bildungsziel aufgegeben. In deutlichem Kontrast zu Goethe ist es in Novalis’ Denken gerade die Einbildungskraft, die den Mangel an Gehalt und Einheit des Ich kompensiert. Diesem Vermögen und seinem spezifischen Betätigungsfeld, der Kunst, wird im ›Heinrich von Ofterdingen‹ die Fähigkeit zugesprochen, das Mangelwesen Mensch zu heilen. Im literarischen Gespräch zwischen Goethe und Novalis steht also die Rolle der Einbildungskraft als Krankheitsursache oder Heilverfahren und mithin die Frage nach der Funktion der Kunst für das Leben zur Disposition. III.3.1. Goethes ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ In den ›Lehrjahren‹ gestaltet sich Wilhelms Bildungsweg als spannungsvolle Auseinandersetzung mit zwei divergierenden Bildungskonzepten: Das erste faßt Bildung als allseitige Entfaltung der inneren Anlagen, als Überführung von Wesen in Gestalt (FA I/9, 711, 955), Stoff in Form,96 Objektivation des Inneren am Äußeren, wie es sich in Wilhelms im Brief an den Jugendfreund Werner geäußertem Vorhaben ausdrückt: »mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht.« (FA I/9, 657) Da es sich hierbei um einen Akt durchaus ästhetischer Formgebung handelt, ist es nur konsequent, daß Wilhelm in den ersten fünf Büchern sein Glück im Rollenspiel auf dem Theater sucht. Bezieht man in dieses Bildungskonzept auch die Physiognomik im Sinne der Kongruenz von innerem Wesen und äußerer Erscheinung mit ein, wie dies der Roman in seiner Metaphorik

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»Hieraus sehn wir beyläufig, daß Ich im Grunde nichts ist – Es muß ihm alles Gegeben werden«, HKA II, 273. Vgl. Goethes Text ›Bildungstrieb‹, HA 13, S. 34.

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nahelegt,97 so scheint Wilhelms Bildungsweg erfolgreich. Denn beim Wiedersehen der Freunde Wilhelm und Werner im achten Buch der ›Lehrjahre‹ erscheint Wilhelm dem Freund »größer, stärker, gerader, in seinem Wesen gebildeter«, während Werner als »arbeitsamer Hypochondriste« (FA I/9, 877f.) mit spitzem Gesicht und kahlem Kopf gezeichnet wird.98 Doch sollten solche vermeintlichen Indizien für Erfolg oder Mißerfolg der Bildung mit Vorsicht betrachtet werden, denn gerade diese Textstelle ist ein Beispiel für die durchgängige ironische Relativierung finaler Aussagen in Goethes ›Wilhelm Meister‹Komplex. Ihr geht unmittelbar die Aussage des Abbés voraus, der die Zusammenführung von Vater und Sohn als Ende von Wilhelms Lehrjahren deutet. Diese wird in den nächsten Sätzen sofort wieder zurückgenommen, da Wilhelm sich im Umgang mit seinem Sohn als unwissend, als ein erst noch Auszubildender erfährt: »An diesem Tage, dem vergnügtesten seines Lebens schien auch seine eigne Bildung erst anzufangen« (FA I/9, 877). Hier schließen sich also These und Antithese nahtlos aneinander, ohne daß der Text eine der Positionen eindeutig beglaubigen oder eine Synthese vorschlagen würde. Das zweite, von der Turmgesellschaft propagierte Bildungskonzept geht zwar auch davon aus, daß »jede Natur sich selbst ausbilden« soll, jedoch soll Bildung in gesellschaftliche Tätigkeit übergehen, womit die individuelle Formgebung zugunsten eines ›sich Verlierens in der Masse‹ (FA I/9, 907, 871) aufgegeben wird. Auflösung der Form und Zuschreibung der Autorschaft der Ich-Bildung an das Kollektiv sind die zwei Momente, die die Sozietät des Turms kennzeichnen. Goethe antizipiert in den ›Lehrjahren‹ eine Dialektik dieser beiden Bildungskonzeptionen. Erst durch die persönliche Formgebung und die Anerkennung überpersönlicher Formung kann sich das Individuum als Ganzes realisieren. Dies läßt sich am Gemälde vom kranken Königssohn nachzeichnen und der Funktion, die dieses Bild für den Bildungs- als Therapiediskurs des Textes hat. Mit seiner Vorliebe für gerade dieses Gemälde in der Gemäldesammlung seines Großvaters prädestiniert sich Wilhelm zum Melancholiker in Liebesdingen und wird darin zu Lilas männlichem Pendant. Es wurde schon darauf aufmerksam gemacht, daß die Geburt ›Wilhelm Meisters‹ in die Zeit zwischen zwei Aufführungen der ›Lila‹ fällt. Wilhelm ist allein an dem Gegenstand des Bildes interessiert, nicht an der kunstvollen Darstellung. Der Gegenstand wiederum ist ein kanonischer Text für das Krankheitsbild der Liebes-Melancholie und gilt zugleich als einzige bemerkenswerte psychosomatische Erzählung in der ansonsten somatisch orientierten griechisch-römischen Medizin, die zuerst von einem der Beteiligten, dem Arzt Eristratos und später von Galen, Avicenna und Forestus

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Vgl. C. Niekerk, ›Individuum est ineffabile‹. Irmgard Egger zeichnet Werners Lebensführung im Sinne von Max Webers innerweltlicher Askese nach, Diätetik und Askese, S. 59ff.

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berichtet wird.99 Eristratos entdeckte, daß das Leiden seines Patienten durch die unerfüllte Liebe zu seiner Stiefmutter verursacht war, indem sich der Pulsschlag erhöhte, wenn Stratonike das Zimmer betrat, und empfahl als Heilmittel den Verzicht des Vaters zugunsten seines Sohnes. In diesem ›Lieblingsbild‹ Wilhelms sind also Subjektpositionen, Existenzbilder vorgegeben, in die sich das Individuum einleben kann: zunächst der kranke Königssohn Antiochus, die geliebte Stiefmutter Stratonike, der Arzt, der das Krankheitssymptom ›Liebe‹ erkennt, schließlich der entsagende Vater. In seiner Jugend identifiziert sich Wilhelm als Betrachter dieses Bildes mit dem kranken Königssohn. In seinem Blick wird das Bild zugleich zum Ausdruck erfüllter Individualität in der Liebe wie auch zum Ausdruck der »ungeheuren Schmerzen« (FA I/9, 423), diese Erfüllung nicht erreichen zu können. Denn zur Materialisierung dieses Bildes im Leben bedarf das Ich der Anderen: zunächst derjenigen, die die Position der Stratonike ausfüllt, wofür Natalie, von Natur aus »Supplement irgend einer Existenz« (FA I/9, 946), prädestiniert scheint. In der Verwundungsszene im vierten Buch rückt Wilhelm aus der Position des Betrachters in das nun ›lebende Gemälde‹ ein,100 ist Antiochus, dem die Stratonike-Natalie erscheint. Liebe gestaltet sich als wechselseitiger Bildungsprozeß, was in der Metaphorik des Blickwechsels anschaulich wird: Wilhelm überführt den ›heilsamen Blick‹ der Amazone in die Vision einer Marienerscheinung,101 später ist es das gegenwärtige ›Bild‹ Nataliens, das ihn ›umbildet‹.102 Werden auf diese Weise Wilhelm und Natalie in den ›Lehrjahren‹ zu Verkörperungen von Antiochus und Stratonike, so wird das Gemälde im achten Buch noch durch den Arzt Friedrich ergänzt, der Wilhelms Krankheitssymptome richtig diagnostiziert und den heilsamen Heiratsbund befördert. Die Turmgesellschaft übernimmt am Ende der ›Lehrjahre‹ die Funktion des Betrachters, ihr ethisches Werturteil ist die gesellschaftliche Beglaubigung dieses Existenzbildes. Allerdings bleibt in diesem Schlußtableau die Position des entsagenden Vaters leer, dies deutet auf die Vergänglichkeit des Glücks und auf die weitere Entwicklung der ›Wanderjahre‹. Dort wird Wilhelm aus dem Zentrum des Gemäldes vom kranken Königssohn an dessen Peripherie rücken. In der Konstellation Hersilie-Felix-Wilhelm findet er sich in der Figur des entsagen-

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Vgl. J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 53ff., 73; E. H. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 17; E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 44. Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Thema verzeichnet der Kommentar, vgl. FA I/9, 1395–98; siehe auch T. Valk, Melancholie im Werk Goethes, S. 176–185. Zu Mignons Liebeskrankheit vgl. R. Käser, Arzt, Tod und Text, S. 39–65. Den Begriff »lebendige[s] Bild« verwendet Goethe in den ›Wanderjahren‹ und auch die Analogie zum Bild des kranken Königssohns wird hier gezogen, FA I/10, 272, vgl. 286. Vgl. FA I/9, 590 u. 598; D. E. Wellbery, Die Enden des Menschen, S. 632f. »[E]r beschäftigte sich das Bild der Amazone mit dem Bilde seiner neuen gegenwärtigen Freundin zu vergleichen. Sie wollten noch nicht mit einander zusammenfließen; jenes hatte er sich gleichsam geschaffen, und dieses schien fast ihn umschaffen zu wollen.« FA I/9, 896.

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den Vaters wieder, schließlich in der Schlußszene in der Figur des Arztes. Das Gemälde vom kranken Königssohn umfaßt so den therapeutischen Rahmen des ›Wilhelm Meister‹-Projekts. Kann der Bildungsweg in den ›Lehrjahren‹ mithin als Weg vom inneren zum äußeren Bild beschrieben werden,103 so läßt sich ein Seitenblick auf die den Text durchziehende Differenzierung von innerer und äußerer Bildung und deren jeweilige Deformation anschließen. Die Pathologien der Innerlichkeit reflektiert der Roman anhand der Variationsfiguren Wilhelms: Aurelie, die schöne Seele, Mignon, Sperata und der Harfner. Der Text spricht von Melancholie, Hypochondrie und Wahnsinn als dem Ausleben der auf das Ich zurückgeworfenen, »zerstörenden Gewalt« (FA I/9, 905) der Einbildungskraft.104 Die Patienten erweisen sich dann als unheilbar, wenn sie zu ihren in der Einbildungskraft entworfenen Existenzbildern keine realen Mitspieler finden können oder keinen gesellschaftlichen Raum, in dem sich diese verorten lassen. Natalie spricht im Hinblick auf die schöne Seele von einer zu großen Beschäftigung mit sich selbst, von ›Überbildung‹ (FA I/9, 898). Der Arzt faßt die Krankheit des Harfners in folgende Worte: »bloß in sich gekehrt, betrachtete er sein hohles, leeres Ich, das ihm als ein unermeßlicher Abgrund erschien.« (FA I/9, 812f.) Die im Singspiel ›Lila‹ noch so erfolgreichen Therapiemaßnahmen des moral management, »Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung« (FA I/9, 716), die der Landgeistliche an Augustin praktiziert,105 bewirken in den ›Lehrjahren‹ nur noch kurzzeitige Besserung, den Selbstmord verhindern sie nicht. Überhaupt gestaltet Goethe mit der ›heiligen Familie‹ von Augustin, Sperata und Mignon das Heimweh dem zeitgenössischen medizinischen Verständnis nach als eine unheilbare Krankheit mit tödlichem Ausgang. Diese Nostalgiker katholischadliger Herkunft finden in der prosaischen Lebenswelt der ›Lehrjahre‹ auf Dauer keinen Lebensraum mehr, der als Heimat qualifizierbar wäre. Sie verkörpern eine vergangene Existenz- und Lebensform und bilden darin das Gegenbild zu den lebenspragmatisch und räumlich flexiblen Protagonisten wie Wilhelm und den Aus- und Binnenwanderern, die sich den veränderten modernen Verhältnissen anpassen können. Hingegen deuten sich die Pathologien einseitig äußerer Bil-

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Vgl. H.-J. Schings, Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister, S. 61f. Die Pathologien der Einbildungskraft in den ›Lehrjahren‹ haben bereits herausgestellt: H.-J. Schings, Agathon – Anton Reiser – Wilhelm Meister; D. E. Wellbery, Die Enden des Menschen. Letzterer argumentiert stärker psychoanalytisch-semiotisch. Eggers hat das Leiden dieser Nebenfiguren im Kontext von Johann Georg Zimmermanns medizinischem Standardwerk ›Über die Einsamkeit‹ (1784/1785) einerseits und von antiker und christlicher Askese andererseits wahrgenommen, vgl. I. Egger, Diätetik und Askese, S. 163–173, 226–233. Thorsten Valks diesbezügliche Ausführungen bleiben demgegenüber unergiebig, vgl. Melancholie im Werk Goethes, S. 200–226. Rudolf Krämer konzentriert sich auf Mignons Fallgeschichte, Einbalsamierte Jugend. Zu Mignons und Augustins Krankheitsbildern siehe im weiteren R. Käser, Arzt, Tod und Text, S. 39–82. Zu dieser psychischen Kurmethode siehe I. Egger, Diätetik und Askese, S. 64–68.

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dung in Serlos Bildungsweg an, der in Ermangelung eigener Individualität in seinem Rollenspiel bloß die »äußern Eigenheiten der Menschen« annimmt. Explizit benannt wird das Krankheitspotential äußerer Tätigkeit ohne innere Bildung jedoch einzig in der Kennzeichnung Werners als »arbeitsamer Hypochondriste« (FA I/9, 637, 877f.). Das Heilmittel von Goethes Roman, die Entsagung als säkularisierte Askese und diätetisches Lebensregiment106 ist am Gleichgewicht von Bildung und Tätigkeit, Körper und Seele, Innerem und Äußerem orientiert; die Maxime lautet »Alles mit Maß und Ziel!« (FA I/9, 905) Ein Gleichgewicht, das der Roman auch ästhetisch zwischen Tragischem und Komischen wahrt,107 veranschaulicht durch die von Schiller im Brief an Goethe vom 3. Juli 1796 auf den Begriff gebrachte »poetische Wirthsrechnung«108 des achten Buches, die die drei tragischen Todesfälle von Sperata, Mignon und Augustin mit den drei Hochzeiten von Jarno und Lydie, Lothario und Therese sowie Wilhelm und Natalie verrechnet. Mit dem tödlichen Ausgang der moralischen Kur des Harfners und dem Scheitern von Wilhelms theatralischer Sendung stellen die ›Lehrjahre‹ auch den in ›Lila‹ vorgestellten psychisch-ästhetischen Kurmethoden die Diagnose. Die in tragischer Kürze vollzogene Affektabfuhr und der in einem Sonnenumlauf bewerkstelligte Ausgleich der Leidenschaften müssen einem lebenslangen Therapieprogramm weichen, dem der Bildungsroman in epischer Breite nachgehen kann. Der Gattungswechsel und die Abkehr von einer tragischen HeldIn ermöglichen im weiteren den vergleichenden Blick auf Gesundheit und Krankheit, wodurch sowohl eine individuelle Krankheits- und Therapieauffassung befördert wird als auch die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten. Goethes Arbeit mit Variationsfiguren, von Novalis’ später als literarische Methodik der ›Lehrjahre‹ festgehalten und nachgeahmt,109 kann in Korrespondenz zu seinen zeitgleich entstandenen naturwissenschaftlichen Schriften gebracht werden. Die dort skizzierten Techniken der vergleichenden Anatomie, »Naturgeschichte beruht überhaupt auf Vergleichung«, und das Interesse an den »Analogien der Geschöpfe und ihren geheimnisvollen Verwandtschaften« (WA II/8, 7, 220) prägen auch das literarische Arbeiten.110 106 107 108 109

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Zur Bedeutung der Diätetik in Goethes Werk siehe I. Egger, Diätetik und Askese; B. Thums, Aufmerksamkeit. So lautet auch Novalis’ Urteil: »Tragische und komische Hauptmassen des Romans. (Antik) (modern.) (Gemein) (Edel.)«, HKA III, 312. F. Schiller, Briefwechsel, Schillers Briefe 1.7.1795–31.10.1796, S. 241. Solche Variationen hat Novalis am ›Meister‹ durchgespielt (HKA II, 561, 647; III, 312) und im ›Ofterdingen‹ zur Anwendung gebracht, vgl. M. Schmaus, Die poetische Konstruktion des Selbst, S. 59–62. Ausführlicher wird von Goethes ästhetik-affinen naturwissenschaftlichen Schriften in den Kapiteln IV.3.1 und IV.3.2. im Kontext von Büchners naturwissenschaftlicher Arbeit gehandelt. Die dort genannten Analogien zwischen literarischer und naturwissenschaftlicher Technik ließen sich alle auch schon hier eintragen, entfalten ihre volle Bedeutung jedoch erst in Büchners Werk mit dem sprunghaften Anwachsen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse in den 1830er Jahren und deren zunehmender Prägekraft für die modernen Verhältnisse.

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Die ›Lehrjahre‹ sind, wie es der Roman selbst nennt, auch darin ein »Archiv« der »Weltkenntnis« (FA I/9, 930), daß sie ein Archiv pathologischer Fallgeschichten aus eigener oder fremder Feder sind. Am Prinzip des harmonischen Ausgleichs ist auch der erkenntnistheoretische Befund der ›Lehrjahre‹ orientiert. Denn es ist dem Zusammenwirken von subjektiver Einbildungskraft und objektivem Verstand zu verdanken, daß Wilhelms Bildungsweg einem glücklichen Ende zugeführt werden kann. Dies läßt sich noch einmal am Leitmotiv des kranken Königssohns veranschaulichen. Wilhelm muß lernen, die bloß imaginäre Identifikation mit dem kranken Königssohn in ein reales Existenzbild zu überführen, wobei bereits die Verwiesenheit auf reale Mitspieler die subjektiven Einbildungen intersubjektiver Kontrolle unterstellt. Am Ende des Romans gibt sich die Turmgesellschaft als ein solches Kontrollorgan zu erkennen, das im Fall Wilhelms durch seinen therapeutisch-lenkenden Eingriff die Irrwege der Einbildungskraft korrigiert und in dieser Funktion eine historische Vernunftform verkörpert. Schiller hat im Brief an Goethe vom 8. Juli 1796 in diesem Sinn von den »Mächten des Turms« als einem »verborgen wirkendem höherem Verstand« (FA I/9, 1264) gesprochen. Erst durch die Stimme des Verstandes wird Wilhelms Bildungsweg als Nachbildung seines Lieblingsbildes im Leben im achten Buch beglaubigt. Anhand der Variationsfiguren Wilhelms zeigen die ›Lehrjahre‹ hingegen auf, welches Krankheitspotential eine sich selbst überlassene Einbildungskraft birgt, die sich der Leitung und Kontrolle durch die Vernunft entzieht. Damit steht Goethes Kritik der Einbildungskraft in den ›Lehrjahren‹ noch in der Aufklärungstradition, die die ›niederen Erkenntnisvermögen‹ pathologisiert, während die allgemeinen und notwendigen Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft als krankheitsresistent aus der Diagnostik herausfallen. So beschränkt Maimon noch 1791 in kantischer Tradition den Gegenstandsbereich der ›Seelenarzeneikunde‹ auf die subjektive Einbildungskraft und schließt die oberen Erkenntnisvermögen rigoros aus.111 Die Turmgesellschaft avanciert in den ›Lehrjahren‹ zur therapeutischen Instanz des Textes, ihr ›höherer Verstand‹ ist medizinisch informiert. Dies belegen die intertextuellen Bezüge des Lehrbriefs. Der erste Teil des Lehrbriefs, der vermeintlich nur von »Kunst und Kunstsinn«, während der zweite vom »Leben«112 handeln soll, wird mit dem ersten Aphorismus aus Hippokrates’ Spruchsammlung eröffnet, die insgesamt den Stil des Lehrbriefs und ebenso die Sentenzsammlungen der ›Wanderjahre‹ prägt. »Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil

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»Diese höheren Seelenkräfte können also von einer Seelenarzeneikunde gänzlich wegbleiben, weil sie an sich keiner Veränderung unterworfen sind. [...] Es bleibt also für die Seelenarzeneikunde nicht mehr übrig als die Einbildungskraft mit ihren Abtheilungen, die nicht blos von außen als ein leidendes Vermögen, sondern auch eigenmächtig als ein thätiges Vermögen viele Veränderungen annehmen kann.« Salomon Maimon, Über den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde. In: MzE 8/3, S. 1–7, S. 5f. Goethe an Schiller vom 9. 7. 1796, zit. nach FA I/9, 1483 (Kommentar).

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schwierig, die Gelegenheit flüchtig.« (FA I/9, 874) Der zweite nicht mehr wiedergegebene Hippokrates-Satz dieses Aphorismus verrät, um was für eine Kunst es sich hier auch handelt: »Der Arzt muß nicht nur selbst bereit sein, das Erforderliche zu tun, sondern auch der Kranke, seine Umgebung und die äußeren Umstände müssen dazu beitragen.«113 Das ist die medizinische Formulierung dafür, was in der vorliegenden Lesart als Transformation eines inneren zu einem äußeren Bild unter Zuhilfenahme anderer beschrieben wurde. Der Lehrbrief spricht im Hippokrates-Verweis Wilhelm an der Schwelle von Krankem und Arzt an und verschränkt dadurch die ›Lehr‹- mit den ›Wanderjahren‹. Zunächst wird er für seine Heilung noch auf die Mithilfe seiner Umgebung angewiesen sein, bevor er dann im Folgeroman als Arzt ein solch systemisches Verständnis von Krankheiten praktizieren kann. Hippokrates’ ›Aphorismen‹ enthalten therapeutische Ratschläge, die auch Wilhelms Lehrbrief in seinen beiden Teilen durchziehen und kenntlich machen, daß hier in einem umfassenden Sinn von »Lehrjahren der Lebenskunst«114 die Rede ist. Die mitgeteilten Lehren setzten sich von »Hausmitteln zum Wohlbefinden, Rezepten zum Reichtum und zu jeder Art von Glück« (FA I/9, 930) bewußt ab und nehmen die in ›Lila‹ bereits anschaulich gewordene Behandlungsmaxime des Beobachtens und Handelns bzw. Heilens wieder auf. So etwa in der dem Abbé zugeschriebenen Einsicht, »daß man die Menschen nicht beobachten müsse, ohne sich für ihre Bildung zu interessieren, und daß man sich selbst eigentlich nur in der Tätigkeit zu beobachten und zu erlauschen im Stande sei.« »Sinn haben und zugleich zur Tat fähig« zu sein, bleibt als Quintessenz. Damit wird noch einmal für ein Forschen um der Heilung willen gesprochen, was schon in ›Lila‹ und zuvor bei Herder thematisch war. Auch die Selbstbeobachtung als alleiniges Instrument der Erfahrungsseelenkunde wird erneut problematisiert. Mit dem Insistieren auf rituell-kultischen Gemeinschaftsformen, von »etwas gesetzlich[m] in unsern Zusammenkünften« (FA I/9, 930), weiß die Turmgesellschaft ebenso um die Bedeutung äußerer Formen, die in ›Lila‹ auf dem Wege einer von Außen nach Innen fortschreitenden Katharsis plastisch wurde. Solche »äußeren, mechanischen Pflichten« (FA I/10, 268) wird Wilhelm auf Geheiß des Turmes auch noch in den ›Wanderjahren‹ zu erfüllen haben. Die ihm dort auferlegten Wandervorschriften, niemals länger als drei Tage an einem Ort zu bleiben,115 nur von Gegenwärtigem zu sprechen 113 114

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Hippokrates, Ausgewählte Schriften, S. 192. Siehe auch die am Ende der ›Wanderjahre‹ zu findenden Hippokrates-Zitate FA I/10, 747 und 1250f., 1257 (Kommentar). Vgl. Novalis HKA II, 412, und Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister. In: Schlegel, Charakteristiken und Kritiken I. Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, Bd. 2, S. 126–146, S. 128, 132, 136, 143, 144. In den Handwerken gab es reale Vorbilder für solche Bestimmungen, etwa dürfen im »wundärztlichen Gewerbe« »[d]ienstlose Subjekte […] nicht länger als 14 Tage dienstlos« in einer Stadt bleiben und sollen dann »dem Magistrate zur Amtshandlung angezeigt und nach Umständen abgeschafft werden.« C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 343.

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und schließlich über diese Bedingungen zu schweigen, verpflichten Wilhelm u.a. zu einer Reisekur, die körperliche und geistige Beweglichkeit fördert und deren ganzheitlicher Anspruch eingangs vorgestellt wurde. Die Turmgesellschaft wird als therapeutische Instanz im Roman in ein ähnlich diffuses Licht zwischen Altem und Neuem getaucht, wie dies an Verazio/ Magus konstatiert werden konnte. Als Geheimgesellschaft, mit Anklängen an Freimaurerei und die Jesuiten, verweist sie auf das Alte und die Religion, sie propagiert altbekannte medizinisch-diäetetische Lebensweisheiten; als ›höherer Verstand‹ verfolgt sie hingegen Maximen der Aufklärung und mit der Auswanderung moderne sozial-ökonomische Projekte. Die Turmgesellschaft zeigt sich als eine historische Übergangsform zwischen einer noch rituell-magisch und einer rechtsstaatlich strukturierten Institution des allgemeinen Willens.116 Damit werden ihre Maximen historisch relativiert und unter ironischen Vorbehalt gestellt, wie dies dem gesamten zeitgenössischen Heilbetrieb in ›Lilas‹ erstem Akt widerfahren war. Mit ihrem erkenntnistheoretischen Befund beantworten die ›Lehrjahre‹ die Frage nach der Funktion der Kunst für das Leben durchaus ambivalent: Einerseits gehören die Einbildungskraft und ihr spezifisches Betätigungsfeld, die Kunst, zu Ursache und Symptom der Krankheit. Vor allem Lyrik und Gesang sind in diesem Sinn als Leidensausdruck qualifiziert und erinnern darin an Lilas erste Lieder. Als Ausdrucksformen werden sie im Roman Mignon und dem Harfner zugeordnet, also jenen Figuren, an deren Einbildungen die Therapie des Turmes scheitert. Andererseits erzählt der Roman, prägnant verdichtet im Motiv des kranken Königssohns, die Geschichte einer Genesung durch die Kunst. Similia similibus curentur also auch hier. Am Titelhelden wird vorgeführt, wie ein Gemälde, das seinem Betrachter einen Vorschein auf erfüllte Individualität in der Liebe gibt, Leitfunktion für den Bildungsweg erhalten kann.117 Die Heilung des kranken Königssohns bzw. Wilhelms ist jedoch abhängig von der Vernunft des Turmes. Wilhelm muß auf seinen Autonomieanspruch ebenso verzichten wie die Kunst auf den ihren. In der Sphäre des Turmes wird der Kunst nur eine pädagogisch-therapeutische Funktion zugesprochen. So wird das Scheitern von Wilhelms theatralischer Sendung in der theatralischen Inszenierung der Über-

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Ausführlicher hierzu M. Schmaus, Entsagung als ›Forderung des Tages‹. Zur Turmgesellschaft als großer Experimentieranstalt, die sich nicht immer an ihr propagiertes Ethos von Beobachten und Bilden hält, siehe I. Egger, Diätetik und Askese, S. 26–31. Michael Voges hat die ›Lehrjahre‹ vor dem Hintergrund von Freimaurerei und Geheimbundmaterial wahrgenommen, vgl. Aufklärung und Geheimnis, S. 563–570. Die therapeutische Funktion des Bildes hat Müller-Seidel beschrieben: »Die Gemäldesammlung, die Bilder des inneren Auges, die Einbildungskraft und das Bild des kranken Königssohnes – man sieht, daß es immer wieder Bilder sind, die den Weg des Romanhelden begleiten, und daß ihnen eine Heilkraft innewohnt, die zu wirken vermag, wenn der Betrachtende in ihnen mehr und anderes erkennt als nur sich selbst.« Dichtung und Medizin in Goethes Denken, S. 119.

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gabe des Lehrbriefs zwar versöhnlich aufgenommen, in diesem Vorgang wird die Kunst jedoch endgültig dem Vernunftprinzip des Turmes untergeordnet. III.3.2. Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹ Die frühromantische Lektüre des ›Wilhelm Meister‹ unter dem Stichwort ›Lehrjahre der Lebenskunst‹ verdeckt zunächst die in Goethes Roman gestaltete Ambivalenz der Verbindung von Leben und Kunst ebenso wie die tiefgreifenden Differenzen zwischen den jeweiligen Bildungs- und Therapieprogrammen. So spricht auch Novalis, zustimmend zu den ›Lehrjahren‹, von einem Gleichgewicht von innerer und äußerer Bildung: »Der erste Schritt wird Blick nach Innen [...]. Der zweyte Schritt muß wirksamer Blick nach Außen, selbstthätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt seyn.« (HKA II, 423) Allerdings setzt mit der Frühromantik eine entscheidende Umwertung im Hinblick auf die Hierarchie der Erkenntnisvermögen ein, die ihre Folgen in einem veränderten Therapieprogramm zeitigt. Nicht die Pathologien der Einbildungskraft, sondern jene der ›oberen Erkenntnisvermögen‹ Verstand und Vernunft geraten nun in den Blick, die Einbildungskraft wird hingegen zur großen Heilerin. Die Frühromantik eröffnet jene Analytik, die im zwanzigsten Jahrhundert in Horkheimer/Adornos ›Dialektik der Aufklärung‹ oder Foucaults Diagnose der Bifurkation der Vernunft ihre Fortsetzung findet. Anhand von Novalis’ philosophisch-literarischem Werk kann die sprachlichpoetische Lösung des im vorangehenden skizzierten Grundproblems des Mangelwesens Mensch aufgezeigt werden. Mit der Neubewertung der Einbildungskraft erhalten Sprache und Kunst die Funktion, das Mangelwesen Mensch zu heilen. Denn Novalis zufolge muß das vollständige Ich konstruiert, ›erdichtet‹ werden. Der Kernsatz seines Denkens lautet: ›Ich ist ein Kunstwerk‹.118 Was in ›Lila‹ angedacht war, das vollzieht die Frühromantik systematisch, gleichsam einen linguistic turn im Bildungs- und Therapiediskurs, denn Individualität erscheint nun konstitutiv als sprachlich verfasste. Novalis’ Auseinandersetzung mit Goethe setzt an dem Problem an, wie dieses veränderte Verständnis von Individualität erzählerisch umgesetzt werden kann. Und hier ist wiederum Zustimmung zu finden, so daß sich Novalis’ Goethe-Kritik auf die Kurzformel bringen läßt: Goethe habe in den ›Lehrjahren‹ die richtigen erzählerischen Resultate geliefert, aber aufgrund falscher erkenntnistheoretischer Prämissen. Novalis’ ›Meister‹-Rezeption spielt sich also zwischen den Polen einer Kritik am erkenntnistheoretischen Befund von Goethes Roman und einer Fortschreibung und Radikalisierung von dessen Erzählpraxis ab.

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»Das Ich soll construirt werden. […] Ich ist kein Naturproduct – keine Natur – kein historisches Wesen – sondern ein artistisches – eine Kunst – ein Kunstwerck.« HKA III, 253.

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Die adäquaten Prämissen für das Verständnis von Individualität erarbeitet sich Novalis zunächst in philosophischer, an Kant und Fichte geschulter Begrifflichkeit. Seine ›Fichte-Studien‹ beginnen mit der Einsicht, daß, um das Problem des Selbstbewußtseins aufzuklären, eine konstitutive Zweiheit des Ich angenommen werden muß.119 Der bei Goethe zu beobachtende Innen-Außengegensatz wird so in das Ich hineinverlegt: Das »Ich des Gefühls« vermittelt die Einheit des Seins, das »Ich der Reflexion« (HKA II, 126) bringt diese Einheit zu Bewußtsein, jedoch als nachträgliche, denn es gilt: »Wir verlassen das Identische um es darzustellen« (HKA II, 104). In der Dialektik von Reflexion und Gefühl beziehen sich beide Erkenntnisformen wechselseitig aufeinander, es findet ein Rollentausch statt.120 Als Vermögen, welches Medium und Agens dieses Rollentausches ist, benennt Novalis die Einbildungskraft, die zwischen beiden Ichpolen hin- und herschwebt und verhindert, daß eines der Teile sich schon als Ganzes versteht. Mit diesem Begriff leiten die Überlegungen von der Erkenntnistheorie hinüber zur Ästhetik, wobei sich eine Wandlung von »Transscendenz z[ur] Immanenz« (HKA II, 168) vollzieht. Novalis entläßt das Ich aus dem systemphilosophischen Denkzwang eines Grundes oder eines Absoluten – er nennt dies ›freiwilliges Entsagen des Absoluten‹ – wodurch die »unendliche freye Thätigkeit« der Einbildungskraft als weltliches Supplement des Absoluten entdeckt wird.121 Diese Einsicht kommentiert Novalis sowohl mit dem Diktum »Gott sind wir« (HKA II, 168) wie auch mit dem Lothario-Wort aus Goethes ›Lehrjahren‹ »hier ist Amerika oder Nirgends« (HKA III, 421; FA I/9, 808). Im Gespräch zwischen Heinrich und Sylvester im zweiten Teil des ›Ofterdingen‹ erscheint die Freiheit der Einbildungskraft dann als ethisch-ästhetisches Telos der Bildung: »Diese Freyheit ist Meisterschaft« und »jede Handlung des Meisters ist zugleich Kundwerdung der hohen, einfachen, unverwickelten Welt – Gottes Wort« (HKA I, 331f.). Die Umwertung der Einbildungskraft von einem ›niederen Erkenntnisvermögen‹ zu einer Ich und Welt erlösenden, säkularisierten Schöpfungskraft vollzieht sich also in expliziter Auseinandersetzung mit Goethes ›Wilhelm Meister‹. Und zwar in der Form, daß Novalis im ›Heinrich von Ofterdingen‹ eine Umschrift der ›Lehrjahre‹ vornimmt, so daß der Bildungsroman nun auf das Ziel einer unter Freisetzung der Einbildungskraft zu leistenden Poetisierung der Wirklichkeit verpflichtet wird. 119

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»Wir sprechen vom Ich – als Einem, und es sind doch Zwey, die durchaus verschieden sind – aber absolute Correlata.« HKA II, 249. Siehe hierzu: G. von Molnár, Novalis’ ›Fichte studies‹; M. Frank, Das Problem ›Zeit‹ in der deutschen Romantik, S. 146ff.; M. Frank, ›Unendliche Annäherung‹, S. 800, 814ff., 834ff.; M. Schmaus, Die poetische Konstruktion des Selbst, S. 15–26. »Reflexion wird hier, was Gefühl ist – Gefühl, was Reflexion ist – sie tauschen ihre Rollen.« HKA II, 127. Zu dieser Ordo-inversus-Struktur siehe: M. Frank, G. Kurz, Ordo inversus. »Durch das freywillige Entsagen des Absoluten entsteht die unendliche freye Thätigkeit in uns – das Einzig mögliche Absolute, was uns gegeben werden kann und was wir nur durch unsre Unvermögenheit ein Absolutes zu erreichen und zu erkennen, finden.« HKA II, 269f.

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Die in Hardenbergs philosophischen Fragmenten vollzogene Denkbewegung kann als ›Abstieg vom Ich zum ich‹ verstanden werden, vom absoluten, rein geistigen Ich zum empirischen, raum-zeitlichen, körperlich-geistigen Individuum. In den späteren Fragmenten rückt das verkörperte Bewußtsein mehr und mehr ins Zentrum des Nachdenkens.122 Der Körper, selbst Teil der empirischen Welt, nimmt in dieser Konzeption eine Mittlerfunktion zwischen der Seele – unter diesen Begriff faßt Novalis die Gesamtheit des Bewußtseins – und der äußeren Welt ein. Er vermittelt in eigener Sprache Informationen über die Außenwelt und ist zugleich das Instrument für deren Beeinflussung. Das Verhältnis zwischen Körper und Seele wird als Wechselwirkung gefaßt: »Wir haben 2 Systeme von Sinnen, die so verschieden sie auch erscheinen, doch auf das innigste mit einander verwebt sind. Ein System heißt der Körper, Eins, die Seele. Diese zwei Systeme [sollten] eigentlich in einem Vollkommnen Wechselverhältnisse stehn« und eine »freye Harmonie, keine Disharmonie oder Monotonie bilden.« (HKA II, 546) In Korrespondenz zur Aufwertung des ›niederen‹ Erkenntnisvermögens der Einbildungskraft wird auch der Körper erhöht, und nicht zufällig ist es wieder der Tastsinn, wie in Herders ›Plastik‹, der hier als Erfahrungsmedium dient: »Es giebt nur Einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts heiliger, als diese hohe Gestalt. Das Bücken vor Menschen ist eine Huldigung dieser Offenbarung im Fleisch. (Göttliche Verehrung des Lingam, des Busens – der Statuen.) Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.« (HKA III, 565f.) Im Falle Herders war es die Anregung durch Albrecht von Hallers Reiz- und Erregungslehre, die eine neue erfahrungswissenschaftlich-ästhetische Ansicht vom ganzen Menschen ermöglichte, bei Novalis wird die englische Weiterführung dieser Lehre durch den schottischen Arzt John Brown zur wichtigen medizinischen Referenz. Der »Brownianismus« ist als »letztes und möglicherweise einfachstes aller medizinischen Systeme des 18. Jahrhunderts«123 bezeichnet worden, was seine

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Zum Leib-Seele-Problem schon in den ›Fichte-Studien‹ siehe V. L. Waibel, »Innres, äußres Organ«. Auch Novalis’ Werk gehört in die Geschichte der Psychosomatik vgl. P. Hahn, Die Entwicklung der psychosomatischen Medizin, S. 941f. G. B. Risse, John Brown. In: Klassiker der Medizin. Hrsg. von D. von Engelhardt und F. Hartmann, Bd. 2, S. 24–36, 32. Hegel kritisiert den Brownianismus in seiner Einfachheit als »leere[n] Formalismus«, lobt jedoch die dadurch bewirkte Konzentration auf das Wesentliche im System der Medizin jenseits des Partikularen von spezifischen Krankheitsbildern und Therapien, G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, S. 530. Browns begriffliche Klarheit würdigt auch Goethe: »Sehr merkwürdig war mir ein Blick in das Original von Browns medicinischen Elementen. Es sieht einem daraus ein ganz trefflicher Geist entgegen, der sich Worte, Ausdrücke, Wendungen schafft und sich deren mit bescheidener Consequenz bedient, um seine Überzeugungen darzustellen. Man spürt nichts von dem heftigen terminologischen Schlendrian seiner Nachfolger. Übrigens ist das Büchlein im Zusammenhange schwer zu verstehen und ich habe es deswegen bey Seite gelegt, weil ich weder die gehörige Zeit noch Aufmerksamkeit darauf wenden kann.« WA IV/16, 59. Zu Brown und seiner Aufnahme in Deutschland siehe im weiteren U. Wiesing, Kunst oder Wissenschaft? S.

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Attraktivität insbesondere für den deutschen Sprachraum erklärt, wo es nahtlos in naturphilosophische und idealistische Systeme integriert werden konnte. Wichtige Mittler des Brownianismus in Deutschland waren Eschenmayer und Schelling sowie die Bamberger Ärzte Röschlaub und Marcus. Ob Novalis die deutsche Übersetzung der ›Elementa Medicinae‹ (1780) von 1796 kannte, worauf die Notizen zu seinen Eschenmayer-Exzerpten schließen lassen, oder Brown nur über die Vermittlung dritter wahrnahm, läßt sich nicht abschließend klären.124 Eine Vereinfachung in die nervenphysiologische Forschung brachte Browns Lehre, indem sie, was bei Haller noch in Irritabilität der Muskeln und Sensibilität der Nerven geschieden war, in eine einzige Grundqualität allen Lebens, die Erregbarkeit (excitability) zusammenzog. Jeder Organismus wird mit einem bestimmten Quantum an Erregung geboren, das es im Lebensprozeß in Reaktion auf äußere und innere Reize in einem gewissen Gleichgewicht zu halten gilt. Leben erscheint so als eine fortgesetzte Reiz-Reaktionskette, in der Erregbarkeit verbraucht wird. Diese allein quantitativ aufgefaßte Erregbarkeit versuchte Brown mathematisch-genau in einer 80-Grad-Skala zu erfassen, wobei der Mittelwert, 40 Grad, den Zustand der absoluten Gesundheit bezeichnete, Abweichungen nach oben, also Übererregung einen krankhaften sthenischen und solche nach unten einen asthenischen Zustand bedeuteten. Im weitgehenden Desinteresse an der Nosographie wurde so das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer weiter ausdifferenzierende Feld der Krankheitsbilder, man denke nur an die vielen Spielarten der Melancholie, in zwei Kategorien gebündelt; alle Krankheit auf eine einzige Ursache zurückgeführt, nämlich Reizschwankungen, und mit einer kausalen Therapie: Reizverstärkung oder -minderung, behandelt. Da Brown in seiner Zeit ein Überhandnehmen der Asthenie diagnostizierte, bei 97 von 100 Krankheitsfällen, legte er den Akzent auf stärkende, erregende Mittel, wie etwa Alkohol und Opium,125 und distanzierte sich kritisch von den häufig angewandten abführenden Maßnahmen wie dem Aderlaß. Novalis machte sich Browns Zeitdiagnose zu eigen, auch für ihn ist sein Zeitalter ein asthenisches. Ähnlich wie bei Reil, bei dem durch die bürgerliche Verfassung und das Großstadtgewühl ein pathogenes Mißverhältnis zwischen

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66–71; zu Brown im Kontext der Psychosomatik vgl. E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 51f. Vgl. HKA II, 333f. (Kommentar); J. Neubauer, Stimulation Theory of Medicine in the Fragments of Friedrich von Hardenberg, S. 52f.; J. Neubauer, Bifocal Vision, S. 106; H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 169; R. Wöbkemeier, Erzählte Krankheit, S. 72. Zu Novalis und die Medizin siehe die bei Uerlings zusammengefaßte Forschungslage, ebd., S. 166–178; Wöbkemeier, ebd., S. 65–89; D. von Engelhardt, Novalis im medizinhistorischen Kontext. Deren Suchtcharakter hatte Brown noch nicht erkannt, aber am eigenen Leib erfahren müssen. Der Brownianismus dürfte jedoch zur Diskussion dieser Phänomene im frühen 19. Jahrhundert in der deutschen Psychiatrie und Physiologie beigetragen haben, die sich sehr bald dem Suchtphänomen und der Analogie von narkotisiertem Bewußtsein und Wahnsinn zuwandte (Kap. IV.3.1.4).

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Körper und Seele entsteht, verzeichnet auch der Frühromantiker eine »Zunahme d[es] äußern Reitzes« als Ursache der Asthenie seiner Zeitgenossen: »Die herrschende Konstitution ist die […] Asthenische« (HKA III, 317; II, 604). Allerdings könnte die Bewertung nicht unterschiedlicher sein; während für Reil ein krankhafter Ausbau der Seele das Resultat ist, fehlt es an einem solchen nach Novalis gerade noch. Seine konstruktive Antwort auf die Reizüberflutung der Moderne ist der Innenausbau der Seele, deren Ausdifferenzierung ihr durch Ausbildung eigener innerer Reize und durch Reizauswahl eine Unabhängigkeit gegenüber den Impulsen der Außenwelt ermöglichen soll.126 Im Interesse an freien UmweltOrganismus- und Körper-Seele-Wechselbeziehungen führt Novalis begriffliche Unterscheidungen zwischen inneren und äußeren, direkten und indirekten Reizen, zwischen Sensibilität und Reizbarkeit ein, die sich bei Brown nicht finden, wohl aber zum Teil bei den deutschen Brown-Adepten. Viel innrer Reitz – viel Sensibilitaet. Viel äußrer Reitz, viel Reitzbarkeit. Es ist eben schlimm genug, daß zeither ein Wechsel der Opposition hier statt fand – und äußerer und innrer Reitz – Sensibilitaet und Reitzbarkeit – Discant und Bass – sich gegenseitig aufhoben, so daß mit der Zunahme d[es] äußern Reitzes der innre abnahm und so auch mit d[er] Sensibilitaet und Reitzbarkeit. Unvollk[ommene] Med[icin] ist, wie unvollkommne Politik, mit unvollkommenen, wircklichen, gegenwärtigen Zuständen nothwendig verbunden (Streit zwischen Praxis und Theorie.) Aber es ist nöthig, daß scientifische Ideale aufgestellt werden – als nothwendige Basen und Anfänge einer künftigen Verbesserung des Gegenstandes und der Kunst. […] Synthesis von Seele und Körper – und Reitzbarkeit und Sensibilitaet. (HKA III, 317f.)

Krankheiten sind Störungen in den Austauschprozessen zwischen Körper, Seele und Umwelt, die Anlaß zu neuen Synthesebildungen geben und darum als wichtigste Bildungsfaktoren erscheinen. »Krankheit gehört« eben, wie bereits vermerkt, »zur Individualisirung« (HKA III, 681). Novalis formuliert ein psychosomatisches Krankheitskonzept, demzufolge beide Akteure in der Rolle des Verursachers auftreten können, also gleichermaßen psycho-somatische wie auch somato-psychische Prozesse Berücksichtigung finden – in der späteren Psychiatrie werden sich hieran Psychiker und Somatiker scheiden. »Wie fixe Ideen oft Exostosen im Gehirn, oder andre Körperliche Ursachen haben, so umgekehrt fixe Schmerzen etc. haben Seelenursachen.« (HKA III, 457) Die psychischen bzw. psychosomatischen Kurmethoden, die sich an diese Umformung von Browns Medizin und die Zeitdiagnose Asthenie anschließen, arbeiten mit Reizmodulationen und mit einem zweistufigen Verfahren

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»Sonderbar, daß das Innre des Menschen bisher nur so dürftig betrachtet und so geistlos behandelt worden. [...] Verstand, Fantasie – Vernunft – das sind die dürftigen Fachwercke des Universums in uns. Von ihren wunderbaren Vermischungen, Gestaltungen, Übergängen kein Wort. [...] Wer weiß welche wunderbare Vereinigungen, welche wunderbare Generationen uns noch im Innern bevorstehn.« HKA III, 574.

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zur Erhöhung der Sensibilität. Erstens durch eine »Vermehrung der Sinne und Ausbildung der Sinne«, dies gehöre »mit zu der Hauptaufgabe d[er] Verbesserung des Menschengeschlechts« und zweitens durch »Bildung und Vermehrung der Seele«. Und drittens darf die so erzielte Erhöhung der Sensibilität nicht auf Kosten des Körpers und seiner Reizbarkeit gehen: »Äußere Reitze haben wir schon in unsrer Hand – und mit ihnen die Reitzbarkeit – es kommt nur vorzüglich auf Vermehrung und Bildung der Sensibilitaet und zwar auf die Weise an, daß die Reitzbarkeit und der äußre Reiz nicht dabey leiden, nicht dabey vernachlässigt werden – denn sonst webt man ein sehr zerreißbares Gewebe, und ein Gewebe der Penelope; man animirt (säuert) den Körper, ohne an seine Erneuerung (Erneuerung der Basis – Zulegung v[on] Brennmaterialien) zu denken. […] Leben ist ein Feuerproceß.« (HKA, III, 318) Die Gewebemetaphorik macht darauf aufmerksam, warum es gerade die Einbildungskraft ist, die zum Agens der Heilung wird. Sie soll die Synthesen zwischen Körper, Seele und Umwelt erbringen, wobei sich deren Beziehungen als ständig wandelbare Austauschprozesse gestalten. Das Thema Psychosomatik stellt einen Teilbereich des Diktums ›Ich ist ein Kunstwerk‹ dar. Und das Vorhaben einer Poetisierung der Wirklichkeit muß auch die »Poëtisirung d[es] Körpers« (HKA III, 453) einschließen. Analog zu Reils Metaphorik vom Gehirn als Kunstwerk und in Korrespondenz zu dem zeitgenössisch in den Naturwissenschaften gezeichneten ›Nerven-Menschen‹ erweitert Novalis das sich am Leitfaden der Einbildungskraft selbst bildende Ich um eine körperliche Dimension. Jetzt wird auch die Bildungsfähigkeit des Körpers in die Reflexion miteinbezogen, denn es wird die Möglichkeit erwogen, ob wir nicht »eine willkührliche Herrschaft über einzelne, gewöhnlich der Willkühr entzogene Theile [unseres] Körpers« erlangen können. Dann wäre laut Novalis »jeder sein eigner Arzt« und könne »sich ein vollständiges, sichres und genaues Gefühl seines Körpers erwerben«. So stellt sich ihm etwa die Frage, ob wir eines Tages nicht im Stande seien werden, »verlorne Glieder zu restauriren« oder neue Organe auszubilden – »Wer weis ob wir nicht nachgerade, durch mannichfache Bestrebungen Augen, Ohren etc. hervorbringen könnten« (HKA II, 583, 547). Gesundheit und Krankheit werden als individuelle Maßbegriffe aufgefaßt; Arzneikunde und Therapie sind auf den »Rythmus der individuellen Gesundheit« abzustimmen. Auch aufgrund dieser notwendigen Feinabstimmung und Modulation zieht Hardenberg die Analogie zur Kunst. Im Felde der Medizin bekommt man es mit »musicalische[n] Problemen« zu tun, an denen sich das »musicalische Talent des Arztes« (HKA III, 310) erweisen muß. Diese enge Verbindung von Musik und Medizin war schon im Kontext von Goethes Singspiel ›Lila‹ thematisch, Novalis dürfte hier sowohl auf die Saitenlehre von den Nerven als auch auf die im 18. Jahrhundert diskutierten Musiktherapien Bezug nehmen. Im ›Heinrich von Ofterdingen‹ wird die heilende Funktion der Musik mit der Arion-Sage und Fabels Insignie, der Harfe, intoniert. Im weiteren wird 126

der Mensch, wie später bei Reil, in einem Klangkörper, der »Aeolsharfe«,127 versinnbildlicht. Diese Überlegungen zeigen, daß Novalis den Kunstbegriff entscheidend erweitert, die Interaktion der Erkenntnisvermögen, die Einheit von Physis und Psyche und eben die Heilkunst sind darunter zu fassen. Wenn Novalis im Hinblick auf »Krankheiten« von »Lehrjahren der Lebenskunst und der Gemüthsbildung« spricht und die »Medicin« sich seinem Verständnis nach zur »Lebenskunstlehre« (HKA III, 686, 371) wandeln soll, so merkt man, daß auch die medizinischen Fragmente ganz nah am Bildungsroman und an der Auseinandersetzung mit dem ›Wilhelm Meister‹ sind. Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹ ist nicht nur Dokument, sondern auch therapeutisches Instrument dieser Lebenskunst. Obwohl mit dem zweiten Teil des Romans die Melancholikerkur und damit für die Charakteristik als literarische Pathographie Entscheidendes nur fragmentarisch überliefert ist, macht doch das ›Eros und Fabel‹-Märchen – auch in dieser Hinsicht Präfiguration der ›Erfüllung‹ – diese Dimension des ›Ofterdingen‹ hinreichend plastisch. Und das Märchen ist auch der Ort der dichtesten Auseinandersetzung mit Goethes ›Meister‹. Der Erzähler des Märchens, Klingsohr, ist als idealisiertes Goethe-Porträt gedeutet worden.128 Im Gespräch zwischen Klingsohr und Heinrich werden Themen verhandelt, die Goethes und Novalis’ Poetologie gemeinsam sind: die »Grenze der Darstellbarkeit« (HKA I, 285), der handwerkliche Charakter der Kunst, ihre Erfahrungsbezogenheit sowie ihre Definition als Formkunst.129 Der plot des Märchens, liest man ihn verkürzt auf Eros’ Bildungsweg, ist in nuce Goethes Roman nachgebildet: Das Mondschauspiel symbolisiert den Theaterroman; der Inzest mit Ginnistan nimmt die Liebeswirren der ›Lehrjahre‹ auf; und schließlich gewinnt Eros an der Seite Freyas das Königreich der Welt, so wie Wilhelm dieses an der Seite Natalies durch die biblische Schlußparabel von Saul zugesprochen wurde. Das Märchen bedient sich des Verfahrens einer potenzierten Allegorie: die Allegorese des Ich, jene der Zeitgeschichte und -krankheiten sowie jene der Religion überlagern sich und durchkreuzen einander. Als Allegorie des Ich läßt es sich insofern lesen, als hier der in den Fragmenten eingeforderte Innenausbau der Seele betrieben wird, mit zunächst pathologischen Konsequenzen, die Haushaltung der Erkenntnisvermögen droht auseinanderzufallen, bevor durch den von Fabel gebrauten heilsamen Trank alles einem guten Ende zugeführt werden kann. Durch das Figurenpersonal wird das 127

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HKA III, 558; vgl.: »Unermeßliche Mannichfaltigkeit der WindharfenTöne und Einfachheit der bewegenden Potenz. So mit dem Menschen – der Mensch ist die Harfe, soll die Harfe seyn.« HKA III, 434. Vgl. G. Schulz, Die Poetik des Romans bei Novalis, S. 100f.; H.-J. Mähl, Goethes Urteil über Novalis, S. 142, 144f.; Novalis, Werke. Bd. 3, Kommentar, S. 168. Vgl. H.-J. Beck, Friedrich von Hardenberg ›Oeconomie des Styls‹, S. 24ff.

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Ich in das religiös-moralische Vermögen (Mutter/Herz), Rezeptivität (Vater), Phantasie (Ginnistan), Vernunft (Sophie), Verstand (Schreiber), Liebe (Eros) und Poesie (Fabel) dissoziiert und jedes dieser Vermögen wird einem Bildungsprozeß unterworfen, wobei die Poesie als Katalysator dieser Bildungswege fungiert. In der Haushaltung des Gemüts liegt zu Beginn des Märchens vieles im argen. Das Vermögen, das sich am schlechtesten in den Verband der Erkenntnisvermögen einfügt, ist der Verstand. In den Notizen zum Märchen heißt es lapidar: »Der Verstand ist feindselig« (HKA I, 338). Er ist es, der schließlich die tragische Handlung des Märchens in Gang setzt, das »Hausregiment« (HKA I, 301) für sich allein beansprucht, seine Hausgenossen verfolgt und den Scheiterhaufen entfacht, auf dem die Mutter verbrannt wird. Die Pathologie des Ich ist hier eine der instrumentellen Vernunft, die Erkenntnis einzig zweckrational nach ihrem »Nutzen« (HKA I, 295) beurteilt und deren Anspruch auf Alleinherrschaft sich letztlich gegen sie selbst wendet: Der Schreiber wird von seinem eigenen Gefolge getötet, seine Überreste werden, verwandelt in eine Spindel, Fabel als Instrument ihrer Dichtkunst überreicht. Liest man in diesem Kontext Novalis’ Kritik am ›Wilhelm Meister‹, dieser sei »ein Werck des Verstandes« (HKA II, 641), eine »Poëtische Maschinerie«, in der die »Oeconomische Natur« die einzig »Übrig bleibende« (HKA III, 646) sei, so zeichnet das ›Eros und Fabel‹-Märchen das polemische Gegenbild. Goethes Diagnose der Pathologien der Einbildungskraft wird jene des Verstandes entgegengestellt; aus den unheilbaren Patienten der ›Lehrjahre‹ Mignon, Harfner und Sperata ist der ›transzendentale Arzt‹ Fabel geworden. Ihr Instrument, die »Harfe« (HKA I, 300), verrät noch die Herkunft. Sie mischt die Arznei, durch die das Mangelwesen Mensch geheilt wird: »Alle kosteten den göttlichen Trank [...]. Alle merkten, was ihnen gefehlt habe« (HKA I, 312). Das eingangs festgestellte strukturelle Defizit des Mangelwesens Mensch läßt sich hier als fehlender Zusammenhang der Erkenntnisvermögen spezifizieren und umfaßt die im Märchen gezeichneten historischen Deformationen. Der feindselige Verstand mit seiner zu »hellbrennenden Lampe« (HKA I, 293) ist in dieser Lichtmetaphorik unschwer als Verkörperung einer ›Aufklärungs-Krankheit‹ zu erkennen, die schon Moritz mit ›Aufklärungssucht‹ diagnostizierte (Kap. II.2), deren totalitäres Potential allerdings erst Novalis’ Schreiber auf den Punkt bringt.130 Durch die Allianz des Schreibers mit den Parzen und der Sonne herrscht eine Welt- und Daseinsdeutung, die sich dem instrumentellen Denken verschrieben hat. Aber nicht nur auf der Erde, sondern auch im Astralreich Arcturs, der Welt der »kosmischen Ordnung«131 und der Natur, zeichnen sich krankhafte Störun-

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»Das Licht war wegen seines mathematischen Gehorsams und seiner Frechheit ihr Liebling geworden. Sie freuten sich, daß es sich eher zerbrechen ließ, als daß es mit Farben gespielt hätte, und so benannten sie nach ihm ihr großes Geschäft, Aufklärung.« HKA III, 516. M. Engel, Der Roman der Goethezeit, S. 486.

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gen ab. König Arctur selbst wird als »Geist des Lebens« (HKA IV, 333) auch mit Saturn und d.h. mit dem Geist der Zeitlichkeit in Gestalt von Kronos-Saturn sowie mit jenem Gott assoziiert, der kulturgeschichtlich wie kein anderer die Melancholie verkörpert.132 In der Figuration des Märchens ist die gesamte Naturordnung anfänglich in ein melancholisches Licht getaucht. Die Sonne hat dem Astralreich Licht und Wärme entzogen, so daß dieses zu Eis erstarrt ist und dort ewige Nacht herrscht. Unter dem wissenschaftlichen Blick (der Sonne) erscheint die Natur als unbelebt und vernunftlos; Arcturs Gemahlin Sophie hat die Naturordnung verlassen und weilt jetzt unter den Menschen. Die sich im mit Zahlen und Figuren schmückenden Verstand verkörpernde ›Aufklärungs-Krankheit‹ zeigt so ihre Auswirkungen auch in der Naturwahrnehmung der beginnenden Naturwissenschaften. Daß der wissenschaftliche Blick die Natur verändern kann, ist Resultat des sogenannten ›magischen Idealismus‹.133 Erkennen und Leben werden in ihrer Charakterisierung als interaktives, prozessuales Geschehen als homolog wahrgenommen. Subjekt und Objekt des Erkennens sind konstitutiv aufeinander bezogen, was sich besonders prägnant in einer Äußerung aus den ›Lehrlingen zu Sais‹ zeigt: »Wird nicht der Fels ein eigenthümliches Du, eben wenn ich ihn anrede?« (HKA I, 100) Den im Märchen am Hausregiment veranschaulichten Störungen des Geistes korrespondieren so die Krankheiten der Natur im Nordreich und es entsteht ein ganzheitliches, Leib und Seele, Natur und Geist umfassendes Bild einer Zeitkrankheit. Damit fördert die Frühromantik ein Umweltbewußtsein, das erst im 20. Jahrhundert gesellschaftlich relevant wird. Das systemische Verständnis von Krankheit drängt zu den universalhistorischen Lösungen der Frühromantik, zum verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt. Denn in einer psychosomatischen Kur, die das alte Wissen der Diätetik nervenphysiologisch reformuliert hat, muß die Existenz mit ihren »Aussenverhältnissen« wieder in ein »zweckmäßiges Gleichgewicht« gebracht werden: »Wir müssen auf die Lungen und Verdauungsorgane, auf die Ausgabe und Einnahme in der Organisation aufmerksam seyn, das Regime in Ansehung der Luft, der Nahrung, der Bewegung und des Schlafs richtig bestimmen und durch Bäder, Salbungen, Reibungen u.s.w. wirken.«134 Die Heilung einer Krankheit führt so tendenziell zur ganzheitlichen Weltverbesserung. Nach ›Einigen Sätzen des Brownischen Syst[ems.]‹ wäre der Naturzustand im Astralreich wohl als »Asthenie – Paralyse« zu diagnostizieren

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Novalis setzt ihn mit Saturn gleich: »Saturn = Arctur« (HKA I, 345), der wiederum Kronos, dem Gott der Zeit korrespondiert. Zu Saturn als Gott der Melancholie siehe R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie. Nur um das Diktum ›magischer Idealismus‹ zu relativieren, sei angemerkt, daß auch Goethe zeitgleich von einer Homologie von Naturentstehung und -betrachtung ausgeht, vgl. Kap. IV.3.1.2. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 142.

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und auf folgende Ursache zurückzuführen: »Zuviel Abstraction erzeugt Asthenie.« (HKA III, 656, 289) Es handelt sich um einen kollektiven Krankheitszustand, einen »langen Traum der Schmerzen« (HKA I, 315), wie Fabel rückblikkend singt, von dem alles Leben, die anorganische Natur ebenso wie Pflanzen, Tiere und Menschen betroffen sind. Alle müssen im Vollzug des Märchens erst erweckt und beseelt werden. An zwei Figuren, Atlas und Freya, werden diese Heilungsprozeduren besonders ausführlich geschildert. Der »vom Schlag gelähmte« Träger des Weltgebirges der griechischen Mythologie wird durch eine von Fabel angeleitete galvanische Kette – als Leiter fungiert hier das Wasser – geheilt, ein »Blitz des Lebens« (HKA I, 310) durchzuckt ihn.135 Freya, Personifikation des Friedens und des beseelenden Prinzips der Natur, ist zu Beginn des Märchens eine bettlägerige Patientin und ihre asthenische Schwäche strahlt auf die gesamte Natur ab. Als Arcturs Tochter hat sie wohl neben dieser allgemeinen Konstitution auch noch eine Anlage zur Melancholie, die in Gestalt der Liebes-Melancholie noch zu ihrem Krankheitsbild hinzutritt. Mit »klagender Stimme« sehnt sie sich nach dem »schönen Fremden«, der ihr »Wärme« und »Liebesglut« bringen soll, um ihre und die allgemeine »kalte Nacht« zu enden; später wird sie sogar als Verkörperung der Liebes-Sehnsucht angesprochen: »Die Sehnsucht klagt’ und wußt’ es nicht, / Daß Liebe näher kam« (HKA I, 291f., 297). Von Liebesschmerzen sind auch weitere Figuren des Märchens gezeichnet: die Mutter ist um den Verlust ihres Sohnes Eros »bekümmert«, Astralis’ Gesang deutet ihr Schicksal später drastischer als »verzehrt von bangen Sehnen«; der Mond härmt sich um die verlorene Tochter; Arctur hat ein »verwundete[s] Herz« ob der Abwesenheit seiner Frau; in Ginnistans Gesichtszüge prägen sich durch ihre »ernsthafte Leidenschaft« für den außer Kontrolle geratenen Eros »Spuren eines hoffnungslosen Grams« (HKA I, 296, 319, 298, 304f.) ein. Daß Krankheit zur Individualisierung gehört, zeigt der Text besonders deutlich an den Schmerzen der Liebe. Sie setzen eine Reiz-Reaktionskette in Gang, die letztlich die Heilung bringt. So beseelt Freyas Sehnsucht durch eine galvanische Reaktion zunächst das Eisen, dessen einer Splitter wiederum Eros in Gestalt eines Ouroboros berührt und sein leibseelisches Wachstum in Sekundenschnelle auslöst. Zugleich weisen die magnetischen Kräfte des Ouroboros ihm nun den Weg zu Freya und damit zum Ziel seines Bildungswegs. Dieses wird jedoch nicht ohne Umwege erreicht, denn seine jetzige schöne Jünglingsgestalt löst Begehrlichkeiten bei seiner Amme und Reisegefährtin Ginnistan aus, die ihn zum Halb-Inzest insofern verführt, als sie mit seiner Mutter die äußere Gestalt vertauscht hatte. Daraufhin mutiert Eros zum geflügelten verantwortungs- und

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Die Forschung konnte nachweisen, daß Novalis im ›Märchen‹ physikalisch genau arbeitet, vgl. W. Wetzels, Klingsohrs Märchen als Science Fiction; H. Esselborn, Poetisierte Physik; H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 503ff.

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ziellosen Cupido, dessen Flügel erst von Fabel gestutzt werden müssen. Für Eros ist dieser Irr- ein ergebnisloser Umweg, die Phantasie jedoch wird durch diese ihre hoffnungslose Leidenschaft zu »Andacht und Liebe« (HKA I, 311) geläutert und ist in ihrer neuen Gestalt für einen adäquateren Liebespartner, die ebenfalls geläuterte Sinnlichkeit, bereit. Am Ende seiner Reise ist Eros – wiederum auf dem Wege einer galvanischen Reaktion, die durch einen Kuß abgeschlossen wird – in der Lage, Freya zu erwecken, so daß der »Streit« in »Lieb’ und Frieden endigt« (HKA I, 315). Auch für Heinrich sollten die Liebesschmerzen im zweiten Teil des ›Ofterdingen‹ zum wichtigsten Individualisierungsfaktor werden, wie dies die Präfiguration seines Schicksals im Mondschauspiel indiziert. Asthenie und Melancholie verbinden sich zu Beginn der ›Erfüllung‹ zu einem leibseelischen Zustand des Protagonisten, in dem »entsetzliche Angst«, »trockne Kälte der gleichgültigsten Verzweiflung«, »wilde Qualen der Einsamkeit, die herbe Pein eines unsäglichen Verlustes, die trübe, entsezliche Leere, die irrdische Ohnmacht« sich mit einem »fahlen Aschgrau« der Gestalt verbinden. Gelöst wird die Fühllosigkeit gegenüber seiner Umwelt anfänglich durch Affektabfuhr, einen Strom der »Thränen«, dann haben Halluzinationen therapeutische Wirkung. Die als religiöse Vision qualifizierbare (Marien-)Erscheinung der Geliebten führt zu einer Spontanheilung: »Der heilige Strahl hatte alle Schmerzen und Bekümmernisse aus seinem Herzen gesogen, so daß sein Gemüth wieder rein und leicht und sein Geist wieder frey und fröhlich war, wie vordem.« Allerdings lassen ihn die Erlebnisse wie Ginnistan im Märchen geläutert erscheinen, denn »ein stilles inniges Sehnen und ein wehmüthiger Klang im Aller Innersten« (HKA I, 320ff.) bleiben fortan zurück. Die tiefste Melancholie führt zu einer heilsamen Entfremdung von der eigenen Existenz in der Welt, die nun in anderer distanzierter und gegenwartsenthobener Perspektive wahrgenommen wird. Eine solche partielle Befreiung aus dem hic et nunc des Lebens hat Novalis als wichtiges Instrument zur Behandlung von Seelenkrankheiten festgehalten: »Gewiß ists, daß der Mensch selbst Seelenkranckheiten Herr werden kann – und dies beweißt unsre Moralitaet – unser Gewissen – unser unabhängiges Ich. Selbst in Seelenkr[anckheiten] kann der Mensch außerhalb seyn – und Beobachten und Gegenexperimentiren.« (HKA III, 457) Menschen, die diese Fähigkeit zur Selbsttherapie besitzen, werden im frühromantischen Universum wie Heinrich im zweiten Teil des Romans »Fremdling« (HKA I, 322) genannt, wobei hier auch noch einmal an die einleitend skizzierte Verbindung von Heimweh und Reiskur erinnert sei. Mit der anfänglichen Spontanheilung ist Heinrichs Bildungs- als Krankengeschichte allerdings noch nicht abgeschlossen. Wie der Nachlaß verrät,136 waren ihm noch einige pathologische Zustände zugedacht, bevor am Romanende mit einer Erweckung Mathildens 136

»Heinrich wird im Wahnsinn Stein – (Blume) klingender Baum – goldner Widder – Heinrich erräth den Sinn der Welt. Sein freywilliger Wahnsinn.« HKA I, 344.

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der Märchenschluß wiederholt werden konnte. Als eine wichtige Station war eine Begegnung mit der Lehrgestalt des Arztes Sylvester geplant.137 Dieser führt Heinrich in die Medizin als einer ganzheitlichen Lebenskunstlehre ein, in der eben die frei schwebende Einbildungskraft und/oder das Gewissen als jenes im obigen Fragment apostrophierte unabhängige Ich Agens der Selbstbeobachtung und des Selbstexperiments wird. Gegen die »allgemeine Schwäche« des Zeitalters empfiehlt der Arzt den »Reitz der Freyheit« und sagt von ihr: »Diese Freyheit ist Meisterschaft« (HKA I, 330f.), womit wir wieder im Gesprächsraum von Goethes Roman wären. Die Relevanz von Krankheit und Heilung für Novalis’ Bildungsroman ist prägnant in der Erkenntnis des Märchens zusammengezogen: »Aus Schmerzen wird die neue Welt geboren« (HKA I, 312). Zu den bislang an ›Eros und Fabel‹ veranschaulichten Zeitdiagnosen läßt sich noch eine weitere hinzufügen, die an das in dieser Studie schon eingeführte Krankheitsbild der religiösen Melancholie anknüpft. Die zeitgeschichtliche Allegorie des Ichs und der Zeitkrankheiten wird weitergeführt in jener der Religion und auch hier läßt sich Novalis’ Kommentar zum ›Meister‹ in die Argumentation einflechten. Lobend hat Novalis hervorgehoben, daß Goethe durch die Variationsfiguren schöne Seele und Natalie die Transformation von der »individuellen Religion« zur »wolthätigen, practischen Weltreligion« (HKA III, 312) nachgezeichnet habe. Genau diese Transformation vollzieht auch das Märchen, nur wird hier die praktische Weltreligion spezifischer als ›Kunstreligion‹ gestaltet.138 Das Krankheitsbild ›religiöse Melancholie‹ erscheint hier als Fremdbezeichnung der Aufklärung: der Schreiber verfolgt die Religion in Gestalt der Mutter mit »Strafreden« und verbrennt sie schließlich auf dem Scheiterhaufen der Vernunft. Insbesondere an der Religion wird also die Hybris und das Gewaltpotential einseitiger Aufklärung kenntlich gemacht. Gegenüber der vorherigen Thematisierung religiöser Melancholiker in Moritz’ ›Magazin‹ und in Goethes ›Lehrjahren‹ erfährt diese Zeitkrankheit bei Novalis ihre positivste Wendung, indem sie ihr pathologisches Gewand gänzlich abstreifen kann.139 Was andernorts als schweres Symptom gilt, religiöse Halluzinationen und Visionen gehören nun zu den Rauschmitteln, die die Asthenie der Moderne heilen können. Heinrichs oben erwähnte Spontanheilung durch eine Marienerscheinung ist nur ein Beispiel unter vielen im Roman. Im Zuge dieser Entpathologisierung gehen Religion und Poesie eine enge bis zur Ununterscheidbarkeit reichende Verbindung ein. 137

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Eine Nachlaßnotiz zeigt, in welche medizinischen Traditionen Novalis diese Arzt-Figur stellt: »Gespräche mit dem alten Mann über Physik etc. besonders Arzeneyk[unde]. Physiognomik. Medicinische Ansicht der Welt. Theophrast Paracels Philosophie[.] Magie. etc. Geographie. Astrologie«, HKA I, 347. »Bey den Alten war die Religion schon gewissermaaßen das, was sie bey uns werden soll – practische Poësie.« HKA II, 537. Das hängt auch mit Novalis’ pietistischer Sozialisation zusammen vgl. H. Weigelt, Das Elternhaus von Novalis und die Herrnhuter Brüdergemeine; W. Sommer, Schleiermacher und Novalis.

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Novalis hatte in den philosophischen Fragmenten durch die freiwillige Entsagung aufs Absolute die Einbildungskraft als dessen weltlichen Ersatz entdeckt. Das Märchen vollzieht dies im Körpertausch von Mutter und Ginnistan, durch den die Phantasie die äußere Gestalt der Religion annimmt (HKA I, 296). Die damit einhergehende Wandlung von Transzendenz zu Immanenz wird durch die Introjektion der Mutter im göttlichen Trank veranschaulicht, die als erstes Abendmahl die neue Kunstreligion einleitet. Mit dieser ist sowohl die Transzendenz antiker Schicksalsgläubigkeit, symbolisiert durch die Unterwelt der Parzen, wie auch die Transzendenz christlicher Religion im Sinne eines extramundanen Gottes, versinnbildlicht durch das Astralreich Arcturs, in einem Vorgang der Kontraktion der Welten zugunsten einer diesseitigen Religion aufgehoben. Die Unterwelt der Parzen ›steigt‹ aus der Erde; Arctur und Sophie sowie das Gefolge der Gestirne steigen von »der Kuppel herunter«, während die Erde näher an den Himmel ›schwebt‹ (HKA I, 312ff.). Damit wird das mittelalterliche Religionsverständnis, dem »das Universum ein Gebäude von drei Stockwerken« war – »Es umfaßte Himmel, Welt und Hölle« –, in ein modernes überführt: »Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Aber das Unendliche wird nicht senkrecht in der Höhe über dem Diesseits gesucht, sondern gleichsam in seiner ganzen Breite und Weite.«140 Der Roman deutet sich somit als erstes Zeugnis dieser neuen Religion, als Fortschrift der Bibel.141 Die historische Dimension des Märchens wird vor allem in der Licht-, Sonnen- und Weltenbrandmetaphorik anschaulich, die sich deutlich als Aufklärungs- und Revolutionskritik zu erkennen gibt. Es handelt sich keineswegs um eine pauschale Kritik am Verstand, sondern um die Diagnose einer historischen Deformation. So bindet Novalis auch die Französische Revolution in sein therapeutisches Bildungsmodell ein: »diese angebliche Krankheit« ist »nichts als Krise der eintretenden Pubertät« (HKA II, 459). In Goethes ›Wilhelm Meister‹Komplex bleibt die Französische Revolution ausgespart, die ›Lehrjahre‹ gestalten die vorrevolutionäre, die ›Wanderjahre‹ die nachrevolutionäre Zeit. Hingegen positioniert der ›Heinrich von Ofterdingen‹ diese Goethesche Leerstelle gerade in seinem Zentrum, an der Gelenkstelle von erstem und zweitem Teil. Denn der Flammentod der Mutter im Märchen versinnbildlicht in Analogie zur Metaphorik von ›Die Christenheit oder Europa‹ das »überirdische Feuer« (HKA III, 517) der Französischen Revolution. Darüber hinaus umschließt das Bild des Feuers auch naturwissenschaftliche und medizinische Lebensdeutungen. Mit der Darstellung des Lebens und einer historischen Zeitenwende als »Feuerproceß« (HKA III, 318) nimmt Novalis eine von Browns zentralen Metaphern

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E. Spranger, Weltfrömmigkeit, S. 224, 228. Ausführlich siehe hierzu M. Schmaus, Die poetische Konstruktion des Selbst, S. 87–93.

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auf,142 und gestaltet so eine Geist und Natur, Seele und Leib, Philosophie, Religion, Kunst und Politik ergreifende Umbruchsituation. Keine der besprochenen Allegorien, jene der Erkenntnisvermögen, der Zeitkrankheiten oder der Religion kann ausschließlich privilegiert werden. Die Zeitdiagnose und die empfohlenen Kurmethoden funktionieren nur im Zusammenspiel aller, ebenso wie in diesem prozessualen Verständnis von Leben Körper, Seele und Umwelt nicht voneinander getrennt werden können. Die Figuren des Märchens müssen gleichzeitig als Verkörperungen bestimmter Vermögen oder Attribute und als Individuen wahrgenommen werden, denn die verschiedenen vorgeführten Heilungen beruhen auf dialogischer Interaktion, durch die erst das Getrennte zusammenfinden kann. Das Märchen wie der Roman insgesamt zeigen, daß es sich bei den frühromantischen Arzneien für die Zeitkrankheiten der Moderne um im Sinne Browns stärkende, erregende, um nicht zu sagen, Rauschmittel handelt, sei das nun die Universalmedizin, Fabels Trank, ein aphrodisierendes Bad, der Liebesakt, galvanische Reize oder Theaterspiel, Musik, Tanz und Literatur. Es ist ein psychosomatisches Kurprogramm, das mit »Elektricität, Magnetism und Galvanism« (HKA I, 337) die aktuellsten Behandlungsmaßnahmen für den Körper mit einbezieht, zur Reizung des durch das Nervensystem fließenden »Lebensstroms«, der zeitgenössisch entweder »galvanisch« oder »thierisch – elektrisch« qualifiziert wird. Eine vergleichbar umfassende Therapie für »Geisteszerrüttung« visiert auch die Psychiatrie an: »so müssen wahrscheinlich Elektricität, Galvanismus, Magnetismus, Gefühle, Ideen und andere subtile Mittel zur Wiederherstellung des Gleichgewichts angewandt werden.«143 Auf der Skala psycho-physischer Reize wird von extremen Auswirkungen bis zu nuancierten Berührungen alles in Anschlag gebracht. Die Theatertherapie des Mondschauspiels etwa vollzieht eine Pädagogik der starken Kontraste, indem Katastrophe und Idylle im schnellen Schnitt aneinandergefügt sind.144 Als eine besonders komplexe leibseelische Heilmethode erscheint der Liebesakt. Das Märchen endet im »Kußgeflüster« aller; und Novalis hat in einem Fragment auf die Dialektik dieser Interaktion aufmerksam gemacht, in der sich zwei Leib-Seelen miteinander vereinigen und chiastisch kreuzen: Der Blick – (die Rede) – die Händeberührung – der Kuß – die Busenberührung – der Grif an die Geschlechtstheile – der Act der Umarmung – dis sind die Staffeln der Leiter – auf der die Seele heruntersteigt – dieser entgegengesezt ist eine Leiter – auf der der Körper heraufsteigt – bis zur Umarmung. Witterung – Beschnüffelung – Act. 142 143 144

J. Neubauer, Stimulation Theory of Medicine in the Fragments of Friedrich von Hardenberg, S. 25, 101. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 114, 150, 140. »Hier sah man einen Schiffbruch im Hintergrunde, und vorne ein ländliches fröliches Mahl von Landleuten« usw. HKA I, 299.

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Vorbereitung der Seele und d[es] K[örpers] zur Erwachung des Geschlechtstriebes. Seele und K[örper] berühren sich im Act. – chemisch – oder galvanisch – oder electrisch – oder feurig – Die Seele ißt den K[örper] (und verdaut ihn?) instantant – der Körper empfängt die Seele – (und gebiert sie?) instantant. (HKA III, 264)145

Herders Lob des Tastsinns und seine Konzeption des Selbstbewußtseins als eine Tasterfahrung am Außen kommt hier noch einmal in den Sinn. Novalis’ Bildungsroman dokumentiert allerdings nicht nur das Funktionieren leibseelischer Kurmethoden, sondern er versteht sich selbst auch als eine ganzheitliche, reizende und erregende Medikation. Die verschiedenen Metalepsen im ›Ofterdingen‹, durch die sich der Roman in sein eigenes Therapieprogramm einschreibt, machen dies deutlich. Bei dem Buch, das Heinrich in der Höhle des Grafen von Hohenzollern findet, handelt es sich um seine eigene Lebensgeschichte, die ihm im Moment zur hilfreichen Zielangabe seines Weges wird. Im Mondschauspiel werden Eros auch einige Szenen aus dem ›Ofterdingen‹ vorgespielt: die tragischste – Mathildens Tod – und eine versöhnliche – ihr Wiedererscheinen in Mariengestalt (HKA I, 299). Wie das Mondschauspiel insgesamt reiht sich der Roman so in die kathartische Tradition der Kunst ein. Die Auswirkungen des eigenen Arbeitens hat Hardenberg dementsprechend in seinen Fragmenten reflektiert und die »Hauptsorge des Künstlers« als »(a)llmäliche Vermehrung des innren Reitzes« beschrieben, wo hingegen der äußere »Reitz« schon in seiner »Unermeßlichkeit gleichsam da« (HKA III, 315) sei. Das eigene Schreiben wird als ein Beitrag zur Schulung der Sinne, zur Erhöhung der Sensibilität und als Rauschmittel gegen Asthenie verstanden. Die Darstellungsweise verfährt dabei bewußt ganzheitlich, zielt auf Geist und Herz, auf Leib und Seele ab. Eine Differenzierung, die in diesen Kontext gehört, ist z.B. jene von »PlusPoësie« und »Minuspoësie« (HKA II, 536) – die Begriffe zeigen an, daß hier auch Naturwissenschaftliches, der Magnetismus, Galvanismus oder auch Browns Gradtabelle von Gesundheit und Krankheit, mit im Spiel ist. Weitere Überlegungen unterscheiden eine Bild- und Zeichentheorie. Das Fragment ›[Des Dichters Reich]‹, das mit »Göthe. Thümmel. Ich selbst« überschrieben ist und mit der Datierung Februar/März 1796 womöglich als eine der frühesten erhaltenen Reaktionen des Novalis auf die ›Lehrjahre‹ gelten kann, versucht diesbezüglich eine Antwort.146 Zwei Darstellungsformen werden einander komplementär entgegengesetzt: Eine 145

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Die zeitgenössische Psychiatrie empfiehlt darum auch den Beischlaf als Therapeutikum insbesondere der Melancholie, vgl. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 185ff. Ausgehend von diesem und ähnlichen Fragmenten hat Stephan Grätzel Novalis’ Philosophie des Leibes als Vorschein von Nietzsches großer Vernunft des Leibes skizziert und als »einen der wenigen Versuche des 19. Jahrhunderts« bezeichnet, ein »aus sich körperliche[s] Sein« zu formulieren, das »den menschlichen Leib nicht von einem übergeordneten Begriff aus zu erfassen und zu begreifen, sei dies die Natur, das Selbst oder die Materie oder ihn als ein Werkzeug für höhere Zwecke des Lebens anzusehen«, Die philosophische Entdeckung des Leibes, S. 98, vgl. S. 88. Vgl. M. Schmaus, Die poetische Konstruktion des Selbst, S. 27–31.

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»rührende«, ›bewegende‹, ein »GemüthszustandsSpiel« hervorrufende Darstellungsweise ist Ausdruck des »Leidens der Natur«. Ihr wird auch der Bild-Begriff zugeordnet. Die »symbolische« Darstellungsweise veranlasst »Selbstthätigkeit« und ist Ausdruck des »Handelns des Geistes«. Zu ihr gehört die Zeichensprache. Beide müssen zusammenwirken, um »Geist u[nd] Herz« (HKA V, S. 9f.) der Leser zu bewegen. In diesem frühen poetologischen Manifest reagiert Novalis auf das von Goethes Bildungsroman aufgeworfene Problemfeld des Mangelwesens Mensch. Die Kunst ist Novalis zufolge durch die Ausdifferenzierung ihrer Sprachformen in der Lage, sowohl den strukturellen Mangel im Menschen wie auch die spezifischen Zeitkrankheiten zu heilen. Zunächst werden zwei Darstellungsweisen unterschieden, in der Folge wird Novalis in Korrespondenz zur Ausdifferenzierung der Gemütszustände diese Unterscheidung noch erweitern, so daß auch die Gattungen Epik, Lyrik und Drama sowie verschiedene Textformen wie philosophisches Gespräch, Märchen, Essay etc. als Techniken wahrgenommen werden, um den ganzen Menschen anzusprechen. Dabei entwickelt Novalis die zentralen Begriffe seiner Romantheorie in der Lektüre der ›Lehrjahre‹147 – der passive Held,148 der retardierende Stil,149 die Variationsreihen von Figuren, die Gattungspluralität150 – und löst sie im ›Heinrich von Ofterdingen‹ in einer gegenüber Goethes Roman potenzierten Form ein. Die Kunst bzw. die Poesie wird zum dialogischen Gegenüber des sich selbst verstehen und bilden wollenden Individuums. Darin wird sie auch zum Fundament versöhnter Intersubjektivität, denn: »Ohne vollendetes Selbstverständniß wird man nie andre wahrhaft verstehen lernen.« (HKA II, 424) Novalis’ Bildungsroman ist mithin als widersprechende Antwort auf den ›Wilhelm Meister‹ zu verstehen. Einerseits birgt und rettet der ›Heinrich von Ofterdingen‹ das therapeutische Potential von Goethes Formkunst gerade gegenüber den Anforderungen der Moderne. Das avancierte Erzählverfahren trägt zum Innenausbau der Seele bei und stärkt ein Vermögen, das angesichts der historischen Umbruchssituation besonders vonnöten scheint, die Einbildungskraft. Sie kann Zusammenhänge dort herstellen, wo traditionelle Bindungen oder Substanzen verfallen; durch sie entsteht der flexible, globale Mensch, der 147

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Vgl. G. Schulz, Die Poetik des Romans bei Novalis; H.-J. Beck, Friedrich von Hardenberg ›Oeconomie des Styls‹, S. 21–26; H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 444–449. Die Forderung aus den ›Lehrjahren‹: »Der Romanheld muß leidend, wenigstens nicht im hohen Grade wirkend sein«, FA I/9, 675, kehrt in Novalis’ Notiz wieder: »Passive Natur des Romanhelden«, HKA I, 340. Siehe hierzu Novalis’ Bemerkung zum ›Meister‹: »Die retardirende Natur des Romans zeigt sich vorzüglich im Styl« und im weiteren »Wenn der Roman retardirender Natur ist, so ist er wahrhaft poëtisch«, HKA III, 326, 310. In den ›Lehrjahren‹ heißt es: »Der Roman muß langsam gehen, und die Gesinnungen der Hauptfigur müssen, es sei auf welche Weise es wolle, das Vordringen des Ganzen zur Entwickelung aufhalten.« Es ist die Rede von »retardierenden Personen«, FA I/9, 675. Die Gattungspluralität der ›Lehrjahre‹ hat Novalis explizit herausgestellt, vgl. HKA III, 326.

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sein Heimweh nach einer alten Welt durch die Fähigkeit heilt, überall zu Hause zu sein. Andererseits wird so Goethes Diagnose widersprochen, daß vorrangig das Vermögen der Einbildungskraft für die Krankheit des Individuums verantwortlich zeichne und die Vernunft jenes Vermögen sei, das Heilung verspreche. Denn wie das Märchen von ›Eros und Fabel‹ vorführt, wird die Französische Revolution als Hybris einer Aufklärung interpretiert, die sich gegen sich selbst wendet. Mit der Figur des Schreibers hat Novalis die totalitären Züge einer sich verselbständigenden Vernunft herausgearbeitet und damit auch einen Kommentar zu Goethes Turmgesellschaft abgegeben. Der Diagnose der Pathologien der Einbildungskraft in den ›Lehrjahren‹ wird eine potenzierte, bewußt »pathologisirende Fantasie« (HKA III, 359) im ›Heinrich von Ofterdingen‹ entgegengestellt. Die in den ›Lehrjahren‹ gestaltete Ambivalenz der Verbindung von Leben und Kunst löst Novalis zugunsten einer »Apotheose der Poësie« (HKA IV, 322) auf. Die Literatur soll dafür verantwortlich zeichnen, daß trotz der Heterogenität der Wahrnehmungsweisen verkörperter Subjektivität noch eine Selbstformung des Ich möglich ist, und sie soll ebenfalls dafür einstehen, daß gesamtgesellschaftliche Kommunikationsstrukturen trotz sozialer Ausdifferenzierung möglich bleiben. III.3.3.

Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹

Bei Hegels Bildungsgeschichte des absoluten Geistes in der ›Phänomenologie‹ (1806) handelt es sich zwar nicht um einen Bildungsroman im klassischen Sinn, wohl aber steht die philosophische Entwicklungsgeschichte im engen Austausch mit den bislang vorgestellten Vertretern des Genres im Hinblick auf ihren Gehalt und ihr Erzählverfahren. An einigen der im folgenden näher zu betrachtenden Gestalten des Bewußtseins: das unglückliche Bewußtsein, das Herz und die schöne Seele, treten diese intertextuellen Bezüge besonders markant vor Augen. So kann diese Figurenreihe als philosophische Adaption der von Goethe in den ›Lehrjahren‹ eingeführten und von Novalis verfeinerten Technik der Variationsfiguren gedeutet werden. In der Auseinandersetzung mit den literarischen Bildungsgeschichten und der philosophisch-theologischen Frühromantik entwickelt Hegels Text seine Modernedeutung, die im Zeichen der Diagnose steht. Mit den genannten Figuren bringt Hegel die Pathologien der Zeit auf den Begriff und legt in diesem Zuge ein therapeutisches Pathos an den Tag, das den zuvor skizzierten literarischen Heilungsansprüchen in nichts nachsteht. Die ›Phänomenologie‹ hat sich vorgenommen: »Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben«.151 Eine solchermaßen psychologische und zeit-

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G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 3, S. 492. Im folgenden wird dieser Text nur noch unter Nennung der Seitenzahl zitiert. Dieses Kapitel bezieht sich in Teilen auf bereits publizierte Beiträge, M. Schmaus, »Die Wunden des Geistes heilen«; Schmaus, Entsagung als ›Forderung des Tages‹.

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diagnostische Lektüre von Hegels Text hatte schon Karl Jaspers ›Psychologie der Weltanschauungen‹ vorgeschlagen, die diesen als ihren einzigen Vorläufer nennt: »Ich kenne nur einen großartigen Versuch: Hegels Phänomenologie des Geistes. Aber dieses Werk will viel mehr als eine bloße Psychologie der Weltanschauungen. [...] es ist selbst Ausdruck einer Weltanschauung.«152 Die im vierten Kapitel dieser Studie noch genauer zu betrachtende Hegel-Affinität einer Richtung der frühen deutschen Psychiatrie, der sogenannten Psychiker, läßt sich so als Auslegung der psychiatrienahen Elemente dieser Philosophie verstehen. Die enge Verbindung zu den Fragen von Krankheit, Gesundheit und Genesung zeigt Hegels Philosophie in ihrem zentralen Begriff ›Entfremdung‹.153 Es handelt sich um eine Übersetzung und Umwandlung von Philippe Pinels 1800 mit seinem Traktat ›Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie‹ publik gemachten Begriffs der ›aliénation mentale‹, der geistigen Entfremdung. Pinels Studie inspiriert also nicht nur Reils psychische Kurmethoden und damit die Psychiatrie in Deutschland, sondern auch Hegels philosophische Bemühungen. Im Artikel ›Selbstgefühl‹ der ›Enzyklopädie‹ wendet sich Hegel noch einmal zurück auf seine pathologischen Gestalten der ›Phänomenologie‹ und erweist in diesem Kontext Philippe Pinel im Hinblick auf eine »wahrhaft psychische Behandlung« seine Referenz: Die wahrhafte psychische Bandlung hält darum auch den Gesichtspunkt fest, daß die Verrücktheit nicht abstrakter Verlust der Vernunft, weder nach der Seite der Intelligenz noch des Willens und seiner Zurechnungsfähigkeit, sondern nur Verrücktheit, nur Widerspruch in der noch vorhandenen Vernunft [ist], wie die physische Krankheit nicht abstrakter, d. i. gänzlicher Verlust der Gesundheit (ein solcher wäre der Tod), sondern ein Widerspruch in ihr ist. Diese menschliche, d. i. ebenso wohlwollende als vernünftige Behandlung – Pinel verdient die höchste Anerkennung für die Verdienste, die er um sie gehabt – setzt den Kranken als Vernünftiges voraus und hat hieran den festen Halt, an dem sie ihn an dieser Seite erfassen kann,

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K. Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, S. 12. Dieser »pathologische Gesichtspunkt« der ›Phänomenologie‹ war auch schon Isaac von Sinclair, dem gemeinsamen Freund Hegels und Hölderlins aus der Frankfurter Zeit, aufgefallen, Sinclair an Hegel, 5ten Febr. 1812: »Ich konnte Dir, ich gestehe es, dann nicht mehr folgen. [...] und was ich nur dunkel vom Folgenden begreifen konnte, war, daß Du mir schienst in einen zu sehr historischen, sogar, wenn ich mich so ausdrücken darf, pathologischen Gesichtspunkt einzugehen«. J. Hoffmeister, Briefe von und an Hegel, Bd. I, S. 396. Ludwig Siep verweist diesbezüglich auf Rousseaus ›Contrat social‹, der von einer »aliénation totale« im Übergang des natürlichen Individuums zum Staatsbürger spricht, J.-J. Rousseau, Du contrat social ou, Principes du droit politique. In: Rousseau, Oeuvres complètes. Bd. 3, S. 360. Vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, S. 190; W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 190f. Pinels Entfremdungsbegriff bleibt hier ebenso unerwähnt, wie in den Beiträgen von D. von Engelhardt, Hegels philosophisches Verständnis der Krankheit, der Pinel zwar kurz nennt, und Paul Ziche, Psychologie und Anthropologie bei Hegel, beide erschienen in: Hegel und die Lebenswissenschaften. Hrsg. von Olaf Breidbach, S. 135–156 und 175–191.

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wie nach der Leiblichkeit an der Lebendigkeit, welche als solche noch Gesundheit in sich enthält.154

Im konkreten referiert Hegel dann Fallgeschichten Pinels und all die Maßnahmen, die im Hinblick auf ›Lila‹ und Reils ›Rhapsodieen‹ schon thematisch waren: erstens »das Zutrauen der Irren« gewinnen, dann »eine gerechte Autorität«; ihnen »ihre Abhängigkeit fühlbar« machen; Zurücknahme von allgemeinen Zwangsmitteln zugunsten von Maßnahmen, die die »moralische Bedeutung einer gerechten Strafe« haben; Zerstreuung sowie »geistige« und »körperliche« Beschäftigung durch »Arbeit«, um ein »Flüssigwerden der fixen Vorstellung« zu bewirken; und schließlich fehlt auch die Schocktherapie nicht, das »plötzliche und starke Einwirken auf die Vorstellung der Verrückten«. Pinels ›Traité médicophilosophique‹, so heißt es dann noch einmal, müsse »für das Beste erklärt werden«, »das in diesem Fache existiert«.155 In Analogie zu Pinel oder auch Reil nimmt Hegel Verrücktheit hier durchaus als ein psychosomatisches Phänomen wahr: »Deswegen ist sie eine Krankheit des Psychischen, ungetrennt des Leiblichen und Geistigen; der Anfang kann mehr von der einen oder der anderen Seite auszugehen scheinen und ebenso die Heilung«.156 Wie jene privilegiert er jedoch die psychische Kurmethode. Von hier aus kann kurz Hegels Figuration des Bewußtseins in der ›Phänomenologie‹ beleuchtet werden. Indem diese von ›Gestalten‹ handelt, ist auch das verkörperte Bewußtsein gemeint, obwohl dann nicht die physischen Erscheinungsformen des Geistes, sondern die sozial-historischen im Vordergrund stehen.157 Hegel faßt Krankheit darum auch weniger als eine Verrückung von Geist und Körper auf, wie dies die zeitgenössische Psychiatrie tut, sondern als eine zwischen einer individuellen Gestalt des Bewußtseins und einem historisch Allgemeinen. Die »Verrücktheit« erscheint als eine »in der Entwicklung der Seele notwendig hervortretende Form oder Stufe«.158 Damit ist Hegels sozialhistorische Umwertung des Krankheitsbegriffs auf den Punkt gebracht. Krankheiten sind geschichtsnotwendig; sie bezeichnen im dialektischen Denken den Moment einer krisenhaften Entgegensetzung bevor eine neue Synthese, eine neue Gestalt des Bewußtseins geboren wird. Man kann ohne Übertreibung sagen: In Hegels Philosophie werden die Geisteskrankheiten zum Motor des 154 155

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G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Werke Bd. 10, S. 162f. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Werke Bd. 10, S. 179ff. Im Erscheinungsjahr der ›Enzyklopädie‹ 1830 wirkt diese Einschätzung in Anbetracht der weiteren Entwicklung der Psychiatrie seit 1800 allerdings etwas antiquiert. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Werke Bd. 10, S. 161. Hegel bestimmt die ›Phänomenologie‹ als Geschichte der Gestalten des Geistes »nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins«, 591. Walter Jaeschke formuliert daran anschließend, die ›Phänomenologie‹ thematisiere »aber nicht Begriffe, wie später im Kontext der Geistesphilosophie, sondern eben ›Gestalten einer Welt‹ in ihrer geschichtlichen Bewegung«, Hegel-Handbuch, S. 190. G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III. Werke Bd. 10, S. 163.

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Geschichtsprozesses. Und im Rückblick auf Novalis’ Roman wäre es im weiteren nicht falsch, diese Krankheitsauffassung als Hegels frühromantisches Erbe zu bezeichnen. Die nachhegelsche Psychiatrie von Johann Christian August Heinroth und Karl Wilhelm Ideler bis zu Freuds Psychoanalyse wird diese positive Umwertung der Krankheit ausbuchstabieren. ›Entfremdung‹ umfaßt dabei die spezifischen Krankheitsbilder und deckt ihre prozessuale Grundstruktur auf. Die verschiedenen Ebenen von Entfremdung in Hegels Werk: als Strukturprinzip des Geistes, als religionskritische Entfremdung von Diesseits und Jenseits, als Entzweiung zwischen Subjekt und Werk, woran Marx’ Entfremdungsbegriff ansetzt,159 reagieren dabei auf den Entfremdungsdiskurs der Zeit, an dessen einem Ende Pinels aliénation mentale, an dessen anderem Ende Rousseaus aliénation totale im Gesellschaftsvertrag steht. Ersteres wird zeitdiagnostisch aufgenommen, letzteres weist den Weg für Hegels psychische Kurmethoden. Facetten von Entfremdung um 1800 sind in diesem Kapitel schon thematisch geworden. Zu erinnern ist noch einmal an dem im Bildungsroman verwobenen Komplex von Heimweh als umfassendem Verlust einer Lebensform und Reisekur sowie an das in Goethes ›Lila‹, und später vor allem in den ›Wanderjahren‹, ausformulierte Thema der Entfremdung durch Arbeit. Im Szenenbild des Singspiels: »Es lassen sich Hände sehen, die aus den Öffnungen herausgreifen, Rocken und Spindel fassen und spinnen«, gestaltet sich das »Tagwerk« als »[Z]errinnen« (FA I/5, 56) von Lebenszeit und als fundamentale, bis in eine Zerstückelung des Körpers hineingehende Entfremdung. Dies gibt einen Vorschein auf die anbrechende Industrialisierung, die in den ›Wanderjahren‹ am Horizont erscheint und die traditionellen Arbeitsformen der Schweizer Weber bedroht. Bildung und Entfremdung gehen auch in Hegels ›Phänomenologie‹ eine enge Verbindung ein, wie das Kapitel ›Die Welt des sich entfremdeten Geistes‹ mit seinem ersten Unterkapitel ›Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit‹ deutlich zeigt. Diese Gestalt der Entfremdung datiert Hegel auf die Epoche der Aufklärung. Entzweit sind hier eine schon in sich entfremdete Wirklichkeit und eine im Glauben realisierte Gegenwelt des reinen Bewußtseins, deren Funktion in der Flucht aus der Gegenwart gesehen wird. Bildung wird so als allgemeines Bestreben reflektiert, den heterogenen Anforderungen der Wirklichkeit durch intellektuelle Hinterwelten zu entkommen, und zugleich wird sie als Ausdrucksfigur eines »zerrissene[n] Bewußtseins« (390) wahrgenommen, das sich in einer Bildungssprache der »Zerrissenheit« kundgibt. Für die Epoche der Aufklärung proklamiert Hegel, daß hier erstmals die Sprache als Vermittlungsinstanz zwischen abstraktem Ansich und konkretem Fürsich in Erscheinung trete, und zwar als »Sprache der Schmeichelei« oder als jene der »Empörung« 159

Siehe W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, S. 190f.; L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, S. 189–193.

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(384) gegen die diese Epoche prägenden Bildungsinstanzen Staatsmacht und Reichtum. Schon im ersten Kapitel der ›Phänomenologie‹ wurde die Sprache als ausgezeichnetes Medium der Entäußerung, aber auch der Entfremdung eingeführt, durch welches das Gemeinte gerade verfehlt wird: »Wenn sie wirklich dieses Stück Papier, das sie meinen, sagen wollten, und sie wollten sagen, so ist dies unmöglich, weil das sinnliche Diese, das gemeint wird, der Sprache, die dem Bewußtsein, dem an sich Allgemeinen angehört, unerreichbar ist.« (91f.)160 Eine Form der dialektischen Analysepraxis von Hegels ›Phänomenologie‹ ist dann die, daß immer wieder die Kluft zwischen Meinen und Handlung bzw. Aussage aufgerissen wird. Die jeweilige Gestalt des Bewußtseins agiert diese Verfehlung aus, die sich notwendig beim Übergang vom Besonderen ins Allgemeine einstellt, und schafft in diesem Prozeß unwissentlich die Möglichkeit, die Verfehlung in Versöhnung umzudeuten. Diese Szenarien produktiver Entfremdung und d.h. auch jene geschichtsnotwendiger und insofern fortschrittlicher Krankheiten sollen nun anhand der großen Patienten der ›Phänomenologie‹: dem unglücklichen Bewußtsein, Herz und schöne Seele, vorgestellt werden. Die Gestalt des unglücklichen Bewußtseins ist eine religiöse Figur, durch die Hegel die emanzipative Wirkung der Religion, von der jüdisch-christlichen Gottesvorstellung bis zum rituell-magischen Katholizismus,161 für die Herausbildung einer vernünftigen respektive intersubjektiven Verfassung des Selbstbewußtseins skizziert. Die am Ende des Kapitels erzielte Versöhnung des unglücklichen, mit sich entzweiten Bewußtseins wird von zwei Seiten aus erreicht: einerseits ›Verendlichung‹ des Jenseits, andererseits Erhebung des endlichen Bewußtseins. Charakteristisch für die Darstellungspraxis des Textes überlagern sich hier entwicklungsgeschichtliche und erkenntnistheoretische Reflexion. Die im Anschluß an die Kantische Philosophie entwickelte Selbstbewußtseinsproblematik erscheint im historischen Gewand eines Glaubenskonfliktes. Das Ich fühlt sich als Einheit, weiß sich jedoch im urteilenden Denken nur als Getrenntes: »[D]as unglückliche Bewußtsein ist das Bewußtsein seiner als des gedoppelten, nur widersprechenden Wesens.« (163) Es setzt seine Einheit als ein ihm Fremdes aus sich heraus, diese wird zu einem »Jenseits« des Bewußtseins, auf die sich eine »unendliche Sehnsucht« (169) richtet. So handelt es sich um einen Vorgang der Selbstentfremdung, der eine Komponente der später genannten umfassenderen »Entfremdung der Persönlichkeit« (360) darstellt. Mit dem frühromantischen Signalwort ›Sehnsucht‹ ist der kulturgeschichtliche Kontext dieser Figur benannt. Ihr Krankheitsbild kommt dann erst durch ihre Nachfolger, das wahnsinnige Herz sowie die »unglückliche sogenannte schöne Seele« (484) 160

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In seiner Kritik der Physiognomik, in der die Unterscheidung zwischen »dem Meinen über seine Handlung und der Handlung selbst« eingeführt wird, wiederholt Hegel dieses Argument: »Denn die einzelne Gestalt wie das einzelne Selbstbewußtsein ist als gemeintes Sein unaussprechlich.« 240f. Vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, S. 116.

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und ihre ›sehnsüchtige Schwindsucht‹, zu voller Entfaltung. Fortschrittlich ist die Selbstentzweiung in menschliches und göttliches Bewußtsein darin, daß in diesem erkenntnistheoretischen und historischen Prozeß dem unglücklichen Bewußtsein die »Vorstellung der Vernunft« wird und somit auch »sein Unglück von ihm abgelassen« (176f.) hat. Denn über die Vorstellung der Vernunft lernt es sich als Einheit von Einzelheit und Allgemeinheit verstehen und das Unglück kann so eine neue Gestalt des Bewußtseins aus sich entlassen. In ›Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels‹ wird die Pathologie des unglücklichen Bewußtseins handlungstheoretisch fortgeschrieben. Indem das Individuum sein Gesetz des Herzens handelnd verwirklicht, wird dieses Gesetz zur allgemeinen Ordnung, verliert den Charakter des Besonderen und steht dem Individuum als eine fremde Ordnung gegenüber. Hier wiederholt sich in der Handlung jene Entfremdungserfahrung, die schon dem unglücklichen Bewußtsein im Erkenntnisprozeß eigentümlich war, in Vergegenständlichung seiner gefühlten Allgemeinheit (Gesetz des Herzens) wird diese für es zu einem Jenseits, in dem es »sein eigenes Wesen und Werk« nicht erkennen kann und sich selbst als »an sich selbst widersprechend und im Innersten zerrüttet« erfährt. Diesen Zustand nennt Hegel die »Verrücktheit des Bewußtseins«, in ihm erfährt sich die Individualität als das »Verrückende und Verkehrte« (279ff.). Diese als ›Herz‹ bezeichnete Gestalt des Bewußtseins dürfte nicht von ungefähr an die gleichnamige Figur aus Novalis’ ›Eros und Fabel‹Märchen gemahnen, deren Introjektion im göttlichen Trank zur Universalmedizin wurde und die Schlußvision einleitete, in der sich der »Thron«, begleitet vom »Kußgeflüster« der Anwesenden, in ein »prächtiges Hochzeitbett« (HKA I, 315) verwandelte. Denn auch in Hegels ›Das Gesetz des Herzens‹ sind Lust und Gesetz in dieser Gestalt scheinbar zum Einklang gebracht. Darüber hinaus läßt sich in diesem Kontext für die ›Phänomenologie‹ insgesamt auf die Verwandtschaft in der Namengebung aufmerksam machen. Mit Herz, unglücklichem Bewußtsein, schöner Seele, dem bösen Bewußtsein etc. bedient sich Hegels Bildungsgeschichte des absoluten Geistes ganz bewußt der Märchendiktion, ihren Personifikationen sowie ihrer klaren Trennung von Gut und Böse, um sie in den jeweiligen argumentativ-rhetorischen Figuren des Ineinanderumschlagens zu unterlaufen. Ähnlich wie bei Novalis bietet auch hier die Allegorese des Märchens die Möglichkeit, mehrere Geschichten in einer zu erzählen, eine erkenntnis- und handlungstheoretische Argumentation mit einem ›historischen Roman‹ zu verbinden, wobei die klaren gattungstypisch geprägten Strukturen des Märchens zugleich dafür sorgen, daß in dieser Komplexität der verstehende Nachvollzug noch gewährleistet ist. Dies ist ein Beispiel dafür, wie sich Hegels ›Phänomenologie‹ formal von den literarischen Bildungsgeschichten seiner Zeit hat inspirieren lassen. Und zwar auch von jenen, denen er inhaltlich die Diagnose stellt. Dem frühromantischen lustvollen Gesetz des Herzens wird nämlich die »Zucht« (276) der Allgemeinheit empfohlen. Eine Differenz psychischer 142

Kurmethoden deutet sich hier an: Während die Frühromantik auf Rauschund Genußmittel setzt, propagiert Hegels Systemphilosophie gesellschaftliche Disziplinierung. Der Lösungsweg für das wahnsinnige Herz sieht jedenfalls ein Selbstopfer vor. Aus dem Bewußtsein heraus, daß die Verwirklichung des eigenen Gesetzes des Herzens eine Vergewaltigung der Gesetze der anderen Herzen bedeutet und Ausdruck einer Mißachtung der bestehenden Ordnung als einer lebendigen ist, wird diese Gestalt zu der Einsicht geführt, »die Individualität [...] als das Verkehrte und Verkehrende zu wissen und daher die Einzelheit des Bewußtseins aufopfern zu müssen« (283). Tugend nennt Hegel diese neue Gestalt, die aus dem Herz geboren wird, und der das Selbstopfer Sühne für den Eigendünkel ist. Mit der Figur der schönen Seele kommt die Pathographie des unglücklichen Bewußtseins in Hegels Text zu einem gewissen Abschluß. In diesem Kapitel, das zu den metaphorisch dichtesten der ›Phänomenologie‹ gehört, laufen nun alle Fäden der Figurenreihe des unglücklichen Bewußtseins wieder zusammen. Die »unglückliche sogenannte schöne Seele« wird explizit mit ihrem Vorfahren, dem unglücklichen Bewußtsein zusammengeschlossen162 und hat von diesem alle Charakterzüge geerbt, »eigensinnige Kraftlosigkeit« und das »Sehnen« (483f.). Ebenso erscheint sie als Nachfolgerin der Gestalt des Herzens und teilt als »das harte Herz« deren Schicksal, indem sie »zur Verrücktheit zerrüttet« (490f.) ist. Des weiteren hat diese Figur eine Vorgeschichte sowohl außerhalb als auch innerhalb von Hegels Werk. In Jacobis Roman ›Woldemar‹, der zur Lektüre des Stiftlers Hegel in Tübingen gehörte,163 taucht sie auf und kehrt dann in Goethes ›Wilhelm Meister‹ als religiöses Bewußtsein wieder. In seinem theologischen Frühwerk hat Hegel Jesus als schöne Seele stilisiert.164 Hirsch und Pöggeler haben ausgeführt, daß sich hinter der Maskerade des Figurenpersonals dieser Szene die Frühromantik verbirgt: schöne Seele (Novalis, Hölderlin), hartes Herz (Hölderlin), böses Bewußtsein (Friedrich Schlegel).165 Harris hat im harten Herzen und der schönen Seele eine Erinnerung Hegels an Hölderlins Figuren Hyperion und Empedokles gesehen.166 Das Schicksal der schönen Seele – sie ist »zur Verrücktheit zerrüttet und zerfließt in sehnsüchtiger Schwindsucht« (491) – kann sogar als Anspielung auf die Biographien von Hölderlin und Novalis167 verstanden werden. Der Dichter verstarb bekanntlich 162 163 164 165

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Siehe: »Es ist der Wechsel des unglücklichen Bewußtseins mit sich«, 483. Vgl. G. Nicolin, Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, S. 15. Siehe hierzu O. Pöggeler, Hegels philosophische Anfänge, S. 106ff. Pöggeler äußert, »so mag in gewisser Weise Novalis die schöne Seele, Hölderlin das harte Herz, Schleiermacher das monologische Reden, Schlegel den Entschluß des ironisch in sich Verfestigten auch zum Bösen darstellen.« O. Pöggeler, Ist Hegel Schlegel? S. 345. H. S. Harris, Hegel und Hölderlin, S. 252. In seinen späteren Schriften verbindet Hegel Novalis explizit mit der Gestalt der schönen Seele, vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke, Bd. 19, S. 641; Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Sämtliche Werke, Bd. 12, S. 221. Und er

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1801 an Schwindsucht, und die geistige Zerrüttung des Freundes Hölderlin hatte Hegel hautnah miterlebt. Im Jahr der Fertigstellung der ›Phänomenologie‹ wurde dieser in das Authenriethsche Klinikum in Tübingen eingeliefert und wenige Monate später als unheilbar entlassen. Emanuel Hirsch betont hinsichtlich dieser Hegelschen Argumentationsfigur ad personam die »Eiseskälte des Denkers«,168 ohne jedoch das nachfolgende ungeheure therapeutische Pathos zur Kenntnis zu nehmen: »Die Wunden des Geistes heilen, ohne daß Narben bleiben« (492), und ohne zu berücksichtigen, daß eine solche Interferenz von Leben und Werk im Konzept frühromantischer Lebenskunst liegt. In der Figurenreihe unglückliches Bewußtsein, Herz und schöne Seele hat Hegel die Pathographie der jungen Intellektuellengeneration um 1800 gezeichnet, der er sich selbst, auch in ihren krankhaften Zügen, zugehörig weiß. Darin gründet das existentielle Pathos der ›Phänomenologie‹ und ihr auch selbstherapeutischer Anspruch. Das für die theatralischen und prosaischen Kuren der Goethezeit charakteristische Prinzip similia similibus curentur wiederholt sich bei Hegel im Hinblick auf die Philosophie als Wissenschaft. Diese ist sowohl für eine jahrelang währende Hypochondrie des Philosophen verantwortlich, ausgelöst durch ein »Hinabsteigen in dunkle Regionen« und durch das Hineinbegeben in das »Chaos der Erscheinungen«, als auch für die Heilung im Prozeß des Begreifens von Geschichte.169 Anzumerken wäre noch, daß Hegel mit den Patienten der ›Phänomenologie‹ die Frühromantik in das Paradigma religiöse Melancholie einordnet, und zwar durchaus gut aufklärerisch im Duktus ›falsche Religionsbegriffe‹ und einer Tag-Nachtmetaphorik, wobei der Text gegen die verschie-

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deutet Novalis’ »transcendente Sehnsucht« als »Schwindsucht des Geistes«, Rezension von Solgers nachgelassenen Schriften. In: Hegel, Sämtliche Werke, Bd. 20, S. 196. E. Hirsch, Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie, S. 261f. Hegel an Windischmann, 27. Mai 1810: »Halten Sie sich überzeugt, daß an Ihrem Gemütszustande, den Sie mir schildern, jene Arbeit teil hat, – dieses Hinabsteigen in dunkle Regionen, wo sich nichts fest bestimmt und sicher zeigt, allenthalben Lichtglänze blitzen, aber neben Abgründen, durch ihre Helle viel mehr, getrübt, verführt durch die Umgebung, falsche Reflexe werfen als erleuchten – wo jeder Beginn eines Pfades wieder abbricht und ins Unbestimmbare ausläuft, sich verliert und uns selbst aus unserer Bestimmung und Richtung reißt. – Ich kenne aus eigner Erfahrung diese Stimmung des Gemüts oder vielmehr der Vernunft, wenn sie sich einmal mit Interesse und ihren Ahndungen in ein Chaos der Erscheinungen hineingemacht hat und wenn [sie], des Ziels innerlich gewiß, noch nicht hindurch, noch nicht zur Klarheit und Detaillierung des Ganzen gekommen ist. Ich habe an dieser Hypochondrie ein paar Jahre bis zur Entkräftung gelitten; jeder Mensch hat wohl überhaupt einen solchen Wendungspunkt im Leben, den nächtlichen Punkt der Kontraktion seines Wesens, durch dessen Enge er hindurchgezwängt und zur Sicherheit seiner selbst befestigt und vergewissert wird, zur Sicherheit des gewöhnlichen Alltagslebens, und wenn er sich bereits unfähig gemacht hat, von demselben ausgefüllt zu werden, zur Sicherheit einer innern edlern Existenz. – Fahren Sie getrost fort; die Wissenschaft, die Sie in dieses Labyrinth des Gemüts geführt, ist allein fähig, Sie herauszuleiten und zu heilen.« J. Hoffmeister, Briefe von und an Hegel, S. 314f. Der Name Windischmann wird im folgenden Kapitel im Lager der Psychiker auftauchen, Kap. IV.1.

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denen Formen geistiger Umnachtung für »die bestehende Ordnung, die den Tag ausgehalten hat« (281), optiert. In dem Kapitel ›Das Gewissen‹ mutet Hegel im Konkreten diese Heilkraft der Dialektik einer gewissenhaften Rechtsprechung zu. »Die Versöhnung des Gegensatzes mit sich ist [...] die Lethe der Oberwelt, als Freisprechung nicht von der Schuld, denn diese kann das Bewußtsein, weil es handelte, nicht verleugnen, sondern vom Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung.« (539f.) Hier wiederholt sich in der Welt des objektiven Geistes von Moral und Recht die Versöhnung des Individuellen mit dem Allgemeinen über wechselseitige Entsagungshandlungen. Der Konflikt zwischen subjektiver Gewissensentscheidung und öffentlicher Moral soll auf dem Wege der beiderseitigen Ausbildung und Artikulation eines Unrechtsbewußtseins geschlichtet werden. Sowohl der gewissenhaft Handelnde als auch das allgemeine urteilende Bewußtsein werden in einem Gerichtsszenario zur Einsicht geführt, daß sie aneinander schuldig werden. Die Gestalt des Gewissens verkörpert eine Form unmittelbarer Selbstgewißheit des Geistes, in der abstrakte Allgemeinheit (Pflicht) und Einzelheit (Neigung) vereinigt sind. Der Spruch des Gewissens, die »[ausgesprochene] Überzeugung«, daß es gewissenhaft handelt, bringt diese Einheit zum Ausdruck, durch ihn nennt sich das Individuum »ein allgemeines Wissen und Wollen, das die anderen anerkennt, ihnen gleich ist« (479f.). Als bloß Redendes erscheint das Gewissen in Gestalt der schönen Seele und wird darum zum pathologischen Fall, da es zwar ständig über die Gewissenhaftigkeit seiner Handlungen spricht, zu solchen sich jedoch, »um die Reinheit seines Herzens zu bewahren«, gar nicht mehr bequemen will und darauf verzichtet, »seinem zur letzten Abstraktion zugespitzten Selbst zu entsagen [...] oder sein Denken in Sein zu verwandeln« (483).170 In jeder Handlung geht nämlich die im Gewissen intendierte Einheit von Individuellem und Allgemeinem notwendig wieder verloren, denn dieser muß ein bestimmter Inhalt gegeben werden. Handelnd setzt sich der ›Gewissenstäter‹ dem Allgemeinen entgegen und verwandelt sich in das böse Bewußtsein. Dieses kann von seiner Seite den Gegensatz zur Allgemeinheit dadurch aufheben, daß es sich im Geständnis von seiner Tat distanziert, »in seinem Bekenntnisse dem abgesonderten Fürsichsein entsagt« (490). Das allgemeine urteilende Bewußtsein wird sowohl darin zur Heuchelei, daß es eben nur Urteil ist, d.h. »Eitelkeit des Gut- und Besserwissens [...,] tatloses Reden« (489), als auch dadurch, daß es im Urteil die Handlung in ihre Pflicht- und Eigennutzanteile zergliedert und letztere zum Hauptmerkmal der Handlung stilisiert. Damit stellt sich die richtende Instanz auf die gleiche Stufe mit dem Bösen

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In der ›Rechtsphilosophie‹ wird Hegel die Kritik an einem solchen »[schönen] Gemüt«, das nicht der beabsichtigten »Totalität entsagen« wolle, mit einem Goethe-Zitat begründen: »Wer Großes will, sagt Goethe, muß sich beschränken können.« Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke, Bd. 7, S. 65.

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und muß nun ihr eigenes Unrecht bekennen. In der »Verzeihung« »entsagt« (492) sie der abstrakten Härte ihres Urteils. Die wechselseitige Anerkennung von subjektivem Gewissen und öffentlicher Moral wird als ein Austausch von Geständnissen gefaßt, der beiden Partnern die Rückkehr in die Allgemeinheit ermöglicht. Mit dem »Wort der Versöhnung ist der daseiende Geist« geboren – »ein gegenseitiges Anerkennen, welches der absolute Geist ist« (493). In ›Das Gewissen‹ ist mit den hier benannten Sprechakttypen der Entsagung gleichsam das Allheilmittel der ›Phänomenologie‹ für die Pathologien der Moderne gefunden. Es lassen sich drei Sprechakttypen von Entsagung differenzieren: 1. Der Spruch des Gewissens stellt mit den Mitteln der Sprache ein Anerkennungsverhältnis zwischen individuellem Gewissen und öffentlicher Moral her. 2. Das Geständnis des handelnden Gewissens als willentliche und sprachliche Distanzierung von seiner Tat. Und 3. der Freispruch des Gewissens durch das allgemeine Bewußtsein, indem es die eigene Einseitigkeit eingesteht und auf die Härte seines Urteils verzichtet. Entsagung steht in einem intimen Verhältnis zum strukturellen Problem der Zeit: Entfremdung. »Entsagung« wird als »Negation der Entfremdung«171 definiert. Auf eine aliénation mentale reagiert eine heilsame aliénation totale des bürgerlichen Individuums, das sich im politischen Raum des Gesellschaftsvertrags durch die im gesprochenen und geschriebenen Wort vorgenommenen Verzichtleistungen von seiner Krankheit freisprechen kann und dafür zugleich gesellschaftliche Kompensation erhält. Die den Gestalten in der ›Phänomenologie‹ abgeforderten Entsagungen sind umfassend: Das unglückliche Bewußtsein soll in einer »wirklichen Aufopferung« seiner Einzelheit auf den eigenen Willen, auf »äußerliches Eigentum« und auf »Genuß« verzichten. Entschädigt wird es für die Entsagung auf den eigenen Willen jedoch dadurch, daß auch die »Schuld« für seine Handlungen von ihm genommen wird. Dies ist Hegels geschichtlich-funktionale Auslegung katholischer Beichtpraxis und religiös-asketischer Rituale, sie bedeuten das »positive Moment des Treibens eines unverstandenen Geschäftes« (175f.), wodurch das Individuum in die Anerkennung eines allgemeinen Willens eingeübt und so gesellschaftsfähig wird. Der religiöse Kultus bereitet auf die im Gesellschaftsvertrag zugrunde liegende Dialektik von Entsagung und Kompensation vor, wobei mit der Figur des katholischen Priesters, eines ›vermittelnden Dieners‹, eine frühneuzeitliche Form der sich später entwickelnden rechtsstaatlichen Institutionen des allgemeinen Willens vorgezeichnet ist. In der ›Welt des sich entfremdeten Geistes‹ werden vom Staatsbürger Verzicht auf politische Rechte, von der Staatsmacht jener auf Besitz und alleinige Autonomie gefordert. In der Welt des objektiven Geistes hat sich Entsagung dann in den oben erwähnten codifizierten, rechtlichen Sprachhandlungen sedimentiert und ausdifferenziert,

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G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I. Werke, Bd. 16, S. 234f.

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wodurch der einzelne und die Gesellschaft ihr wechselseitiges Abhängigsein und Schuldigwerden einander eingestehen und verzeihen. Die ›Phänomenologie‹ reflektiert die Sprache als wichtigstes Medium intersubjektiver Versöhnung, denn in ihr kann das Ich die vollkommene Aufopferung seiner Einzelheit leisten und sich zugleich bewahren. Die Sprache als Gespräch ist Tod des Ich und Übergang in die Allgemeinheit in einem: Die wahre Aufopferung des Fürsichseins ist daher allein die, worin es sich so vollkommen als im Tode hingibt, aber in dieser Entäußerung sich ebensosehr erhält […]. Die Sprache aber enthält es in seiner Reinheit, sie allein spricht Ich aus, es selbst. […] Ich, das sich ausspricht, ist vernommen; es ist eine Ansteckung, worin es unmittelbar in die Einheit mit denen, für welche es da ist, übergegangen und allgemeines Selbstbewußtsein ist.

Die Sprache ist Medium einer »Entfremdung« (375f.), die nicht mehr tödlich enden muß. Mit der frühromantischen Version und Hegels Einleitung zum System liegen uns damit zwei Formen von Schriftheilung vor. In der Frühromantik sind es die Bibel und ein universaler Liebestext, der sich im Wort ›Romantik‹ in der Überlagerung von Roman und Liebe sedimentiert,172 bei Hegel der Gesetzestext bzw. der Gesellschaftsvertrag, durch die die Pathologien der Moderne therapiert werden sollen. Und läßt man noch einmal die in der ›Phänomenologie‹ propagierten Kurmethoden der Entsagung vor dem geistigen Auge Revue passieren, so bemerkt man, warum Hegel von Pinels ›wahrhaft psychischer Behandlung‹ so angetan war. Was sich dort zwischen Arzt und Patient abspielen sollte: Anerkennung der Autorität des Arztes und d.h. Willensverzicht des Patienten, Behandlungen mit der ›moralischen Bedeutung einer gerechten Strafe‹, Arbeitstherapie; das vollzieht sich in der Bildungsgeschichte des absoluten Geistes zwischen Individuum und Allgemeinheit. Auch die Arbeit erscheint in Hegels Text in verschiedenen Szenarien als probates Mittel der Therapie. So etwa wenn das unglückliche Bewußtsein durch die tätige Gestaltung seiner Wirklichkeit auf gutem Weg ist, sich aus seiner Einzelheit zum Allgemeinen zu erheben. Das Kapitel beschreibt die Ausbildung eines religiösen Arbeitsethos. Die Arbeit wird als Gottesdienst verstanden, und in der rituellen Handlung des Dankes wird die Kraft für solches Tun an Gott delegiert.173 Ähnlich wie Reils ›Rhapsodieen‹ stellt auch Hegels ›Phänomenologie‹ ein Kompendium psychischer Kurmethoden dar, nur wird darüber hinaus ihre historische Genese und ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz in den Sphären von 172 173

»ROMANTIK. Alle Romane, wo wahre Liebe vorkommt, sind Mährchen – magische Begebenheiten.« Novalis, HKA III, 255. Vgl. 170ff. In der ›Rechtsphilosophie‹ hebt Hegel den säkularen Entsagungscharakter jeder Berufswahl hervor, die für das Individuum eine »Beschränkung seiner allgemeinen Bestimmung« bedeutet. Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke, Bd. 7, S. 359. Siehe hierzu auch H. Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, S. 280.

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Religion, Politik, Recht und Kunst bestimmt. Die ›Phänomenologie des Geistes‹ ist auch eine philosophische Medizingeschichte. III.3.4. Goethes ›Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Die Entsagenden‹ In seiner Fortsetzung des ›Wilhelm Meister‹ (1821/29) setzt Goethe die bei Hegel indizierte Kurmethode der Entsagung in den Titel seines Romans.174 Dies ist allerdings nicht als Reverenz an den Philosophen zu verstehen, denn schließlich hatte Goethe selbst das Thema mit dem Bild vom kranken Königssohn in den ›Lehrjahren‹ bereits angestimmt und mit der Entsagungsehe zwischen einer Adeligen und einem Bürgerlichen in der ›Natürlichen Tochter‹ (1804) und der Entsagung fordernden Liebe über Kreuz in den ›Wahlverwandtschaften‹ (1809) weitergeführt. Entsagung erscheint in diesen Texten als Therapie für die Liebes-Melancholie und in diesem Zuschnitt ist sie im frühen 19. Jahrhundert in der Literatur vor allem bei Autorinnen äußerst populär geworden.175 Als Behandlungsmethode für das alte Werther- und Lila-Leiden erscheint sie auch noch in den ›Wanderjahren‹, obwohl Entsagung hier sehr viel umfassender zu einer Gruppen-, ja Gesellschaftstherapie wird. Das schon in ›Lila‹ praktizierte systemische Krankheits- und Heilungsverständnis greift in den ›Wanderjahren‹ auf gesellschaftliche Institutionen und Kommunikationsformen aus. Dieser Zug ins Welthistorische ist in Novalis’ ›Heinrich von Ofterdingen‹ sowie in Hegels Bildungsgeschichte des absoluten Geistes vorgezeichnet und findet im frühen 19. Jahrhundert pragmatische Korrespondenz in der Entwicklung einer Staatsarzneikunde und der Berücksichtigung ›äußerer Umstände‹ (Kap. IV), so daß sich die Psycho- zur Soziogenese weitet und ein bio-psychosoziales Krankheitsverständnis wirksam ist, noch bevor es seine theoretische Ausformulierung findet. Eine kollektive Dimension gewinnen die Verzichtleistungen insbesondere vor dem Hintergrund des politisch-rechtlichen Entsagungsdiskurses um 1800, der schon bei Hegel angeklungen und der dem Juristen Goethe natürlich vertraut war. Im Zuge der Französischen Revolution setzt sich auch in Deutschland eine kontraktualistische Staatsauffassung durch, die erstmals im ›Preußischen Landrecht‹ (1794) ihren Ausdruck findet. Das Verhältnis zwischen Bürger und Staat beruht auf der Übertragung der Rechte des Einzelnen an die Gesellschaft, 174

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Immer noch maßgeblich ist: A. Henkel, Entsagung. Einen diesbezüglichen Forschungsüberblick gibt: E. Bahr, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3, S. 186–231, S. 203–206. Zum Teil sind die hier vorgestellten Überlegungen schon veröffentlicht worden in: M. Schmaus, Entsagung als ›Forderung des Tages‹, wo allerdings ausführlicher die rechtlich-religiösen Konnotationen von Entsagung um 1800 sowie bei Hegel und Goethe behandelt werden. Vgl. Charlotte von Ahlefeld, Liebe und Entsagung [1805]; Anonym, Cäcilie oder Liebe und Entsagung [1807]; Johanna Franul von Weißenthurn, Liebe und Entsagung [1810]; Amalia Schoppe, Antonie oder Liebe und Entsagung. Roman [1826].

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die sich ihrerseits zur Kompensation der Verzichtleistung verpflichtet.176 Eine solche »Entsagung der Rechte«177 bedeutet dem Gedanken des Gesellschaftsvertrags zufolge jedoch nicht die Aufgabe individueller Autonomie, sondern ist als rechtsverbindliche, schriftliche oder mündliche »Willenserklärung«178 gerade Ausdruck derselben. So formuliert Rousseau, daß es für die Einzelnen hier »aucune renonciation véritable«179 gebe, sondern die natürliche Freiheit und Gleichheit in eine bürgerliche eingetauscht, ein auf der Stärke des Einzelnen beruhender Besitz in rechtliches Eigentum überführt werde. Und auch Goethe sieht die sittliche Freiheit des Menschen darin, sich der Gesellschaft zu »subordinieren«, die ihm anrät: »wir wünschen daß du dich mit Überzeugung aus freyem, vernünftigem Willen deiner Privilegien begiebst.« (FA I/13, 187f.) Die krisenhafte Umbruchssituation um 1800 verlangt allerdings nicht nur politisch eine Entsagung der Rechte von den Zeitgenossen, sondern auch ökonomische Verzichtleistungen, so daß über Fragen wie die ›Entsagung der Erbschaft‹180 und des Vermögens »ausgewanderte[r] Cantonisten«181 diskutiert wird. Wie diesen objektiven Zwängen der ›veloziferischen Zeit‹ (FA I/10, 563) in Freiheit begegnet werde könne, das apostrophiert Goethes Altersroman mit Entsagung. In dem revidierten Bildungskonzept der ›Wanderjahre‹ drückt sich auch ein rechtliches Verständnis des Menschen nach dem Motto aus: »Das Gesetz macht den Menschen / Nicht der Mensch das Gesetz«. (FA II/31, 338) Das in den ›Lehrjahren‹ propagierte, auf das Individuum konzentrierte Bildungskonzept der allseitigen Ausbildung innerer Anlagen wird in den ›Wanderjahren‹ durch Entsagung ersetzt, die sowohl ein individuelles Ethos, ein intersubjektives Beziehungskonzept im Hinblick auf Liebe und Familie wie auch ein Gemeinschaftsmodell meint. Wie Klaus-Detlef Müller festhält, vollziehen die ›Wanderjahre‹ den »Übergang vom Individualroman zum Gesellschaftsroman«: »In einer ›Zeit der Einseitigkeiten‹ verändert sich der Roman der Bildung und der 176

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So heißt es im ›Landrecht‹: »§ 74. Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehen. § 75. Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besondern Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten.« Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, S. 59. Siehe hierzu auch A. Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, S. 180. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, S. 243. Das ›Landrecht‹ verzeichnet im weiteren Paragraphen zu Entsagungen im Erbschafts-, Vertrags- und Kaufrecht, vgl. das Register, S. 768f. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, S. 243. J.-J. Rousseau, Du contrat social ou, Principes du droit politique. In: Rousseau, Oeuvres complètes. Bd. 3, S. 375, vgl. auch S. 356, 436. Auch zu Hobbes Lehre vom Bürger gehört die Entsagung der Rechte, s. T. Hobbes, De Cive, S. 100, 162. Hier werden »renuntiat« bzw. »renunciat« und »renunciatur« bzw. »renuntiatur« verwendet. Vgl. Deutsches Rechtswörterbuch. Bd. 2, Sp. 1590. C. L. Paalzow, Handbuch für practische Rechtsgelehrte in den Preußischen Staaten. Bd. 1 [1802], S. 123.

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Individualität zum Roman der Gemeinschaft und der Entsagung«.182 Wobei der Jurist Goethe sowohl der vertragstheoretisch-politischen ›Entsagung der Rechte‹ als auch den vermögens- und erbschaftsrechtlichen Aspekten von Entsagung breiten Raum gibt. Was sich schon mit der Welterlösung am Ende von Novalis’ ›Eros und Fabel‹ und mit Hegels Bildungsgeschichte des absoluten Geistes abzeichnete, das wird mit den ›Wanderjahren‹ jetzt vollends plastisch, die Heilungsansprüche sprengen das Genre Bildungsroman. Es handelt sich nicht mehr um die Bildungsgeschichte eines Einzelnen, sondern um die prosaische Kur einer ganzen Gesellschaft, einer Epoche. Die heilende Funktion von Schrift, die zuvor bei Novalis und Hegel thematisch war, ist auch in den ›Wanderjahren‹ das wichtigste Instrument dieser anvisierten Gesellschaftstherapie. Sie hat bei Goethe jedoch eine andere Vorgeschichte, denn sein Werk kennt auch die Gefahren der Literatur und die Mortifikation in der Kunst. Zu erinnern ist noch einmal an die Werther-Briefe und das Werther-Fieber, an die Unglücksbotschaft, die in ›Lila‹ zum Wahnsinn der Protagonistin führte. Auch in den ›Lehrjahren‹ erscheint der Umgang mit Geschriebenem als gefährlich, schließlich stirbt Aurelie über der Lektüre der ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹. Die vom Arzt intendierte Lesekur schlägt vollkommen fehl. Wenn nun in den ›Wanderjahren‹ auf dem Hintergrund des politischen Modells des Gesellschaftsvertrages der Schrift eine gänzlich andere Funktion zukommt, so hat dies mit einer Domestizierung dieser Gefahren und einer Läuterung der Schrift zu tun. Die in den ›Wanderjahren‹ praktizierte Briefkultur ist nicht mehr jene der Empfindsamkeit und sie hat sich Regeln gegeben, die deren pathologisches Potential bändigen. Affektabfuhr soll durch Affektkontrolle und -vermeidung ersetzt werden. Das Individuum darf nun nicht mehr sagen, was es leidet. Von diesem Schweigegebot sprechen Wilhelms erste Briefe an Natalie: »Dagegen darf ich nicht einmal mein Schicksal beklagen, weil ich dir zugesagt habe zu schweigen und zu dulden, wie du es auch übernommen hast.« (FA I/10, 286, vgl. 268) Die ehemals etwa in den Liedern Lilas, Mignons und des Harfners als subjektiver Leidensausdruck gehandhabte Sprache soll in eine Wechselrede im Modus von Bekenntnis und Verzeihung, Beratung und Unterweisung überführt werden. Das pathologische muß dem therapeutisch-didaktischen Schriftprinzip weichen. Eine Erinnerung an das theatralische Modell der Affektabfuhr bewahrt der Text zwar noch, indem im lyrischen Tête-à-tête zwischen Flavio und Hilarie sowohl die Sprache als Leidensausdruck des »irre Mensch« als auch die Behandlungsmethode heilsamer Wechselgesänge aus ›Lila‹ kurz noch einmal auflebt im Verweis auf die »heilenden Kräfte« von »Dichtkunst« und »Musik« (FA I/10, 474f.). Diese Erinnerung ist jedoch in die Novellenhandlung von ›Der Mann von funfzig Jahren‹ eingelassen, die, wie die Novellen der ›Wanderjahre‹ insgesamt, ältere, nicht mehr 182

K.-D. Müller, Lenardos Tagebuch, S. 282.

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ganz zeitgemäße Therapiemaßnahmen zur Darstellung bringen. Diesen Charakter besitzen auch die religiös-asketischen Entsagungspraktiken des Josephund des Oheim-Bezirks im Roman. In einer Zeit der Kollektive müssen hingegen andere Formen der Kunstheilung gefunden werden, die breitenwirksamer und nicht so aufwendig wie Musik- und Theaterkur sind – in ›Lila‹ war der ganze Hof mit ihrer Krankheit beschäftigt –, und nachhaltigere Erfolge erzielen als eine momentane Affektabfuhr. Und so darf in der Rahmenhandlung der ›Wanderjahre‹ Wilhelm von seinem Heimweh und Liebesschmerz nicht mehr sprechen, und die mit diesen verbundenen Behandlungsmaßnahmen, die eingangs vorgestellt wurden: Reisen und Auswandern, sind nun zum allgemeinen Verhaltenskodex geworden. Auf die Bindungs- und Heimatlosigkeit soll das moderne Individuum mit dauernder Flexibilität und Mobilität reagieren. Das Wandern ist nicht mehr Bildungsreise und Reisekur für den einzelnen, sondern die eine ganze Gesellschaft ergreifende Lebensform: »Mein Leben soll eine Wanderschaft werden. […] Nicht über drei Tage soll ich unter Einem Dache bleiben. Keine Herberge soll ich verlassen, ohne daß ich mich wenigstens eine Meile von ihr entferne.« (FA I/10, 268) Die Briefe sind dann jenes Medium, das soziale Beziehungen trotz räumlicher Distanz ermöglicht. Objektiviert in der Schrift kann die Rede des Individuums zirkulieren, so daß durch die vielfältigen im Text kursierenden Gesprächsnotizen, Briefe und Tagebücher Beziehungen ›ohne Besitz‹183 und jenseits realer Anwesenheit entstehen. Ent-sagung als Schriftprinzip findet eine Form in der Briefkultur der ›Wanderjahre‹ und sie konstituiert sich in Akzeptanz des Verlusts von Heimat und Nähe der Geliebten sowie des Schweigegebots. Die zentrale Poststelle des Romans ist Makarie, sie verteilt das Geschriebene dem therapeutisch-didaktischen Schriftverständnis gemäß und ist wichtigste Kommunikatorin im Text. Sie fungiert als politische Ratgeberin, stiftet Liebesbeziehungen und ist umfassende Lebensberaterin. Darüber hinaus symbolisiert sie in ihrer Existenz das Leben als »bewegliche Ordnung« (WA II/8, 60). Auf diesen Begriff hatte Goethe sein Verständnis des Werdens im naturwissenschaftlichen Kontext gebracht. Mit Makarie kommt das Leben in seinen Extremen zur Darstellung: in seiner Gebrechlichkeit und in seiner Apotheose. Und diese Figuration zeigt, daß der Altersroman Goethes nicht mehr auf den harmonischen Ausgleich, das klassisch-diätetische Mittelmaß und die leibseelische Kongruenz zielt, sondern fast frühromantisch die Skala der Existenzmöglichkeiten von ihren Enden her umreißt. Als gelähmte Frau ist Makarie auf die Hilfe anderer, den Arzt angewiesen und verkörpert in ihrer Unbeweglichkeit eine Provokation für eine Gesellschaft, in der das Wandern zur Ideologie wird. Der Naturforscher weiß jedoch, daß auch die »Abweichungen, Mißbildungen« zur beweglichen Ordnung des Lebens dazu gehören. Sie geben zu erkennen, »daß 183

A. Henkel, Entsagung, hat für Entsagung die Formel ›Liebe ohne Besitz‹ geprägt.

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die Regel zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei, daß die Wesen zwar nicht aus derselben heraus, aber doch innerhalb derselben sich ins Unförmliche umbilden können« (HA 13, 234), wie Goethe 1830 anläßlich des Akademiestreits zwischen Georges Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire bemerkt. Für eine solche natürlich-kulturelle Ordnung, die auch die Abweichungen ins Unförmliche als sich zugehörig erkennt und integriert, steht Makarie in den ›Wanderjahren‹. In einem wissenschaftlichen Zeitalter, das sich anschickt nur den Fortschritt anzuerkennen, ist die Apotheose eines gelähmten Körpers im Text ein beinah revolutionärer Akt.184 Makarie verkörpert aber nicht nur die Mißbildung, sondern auch die Transzendenz der natürlichen Ordnung ins Kosmische und Geistige. Als Entelechie und siderische Existenz bildet sie sich auf eine ganz andere Weise ins Unförmliche aus. Für diesen Aspekt ihres Daseins sind der Astronom und der Mathematiker zuständig. In ihrer Körper und Geist, Natur und Kultur vermittelnden Existenz ist Makarie als Beichtigerin und Helferin moralisches Zentrum der Entsagenden, in ihrer stellaren Existenz religiös-ästhetisches Zentrum des Textes.185 Moralisch figuriert sie für einen ethischen Dualismus, denn sie steht sowohl für die Naturgesetze als auch für die sittlichen Gesetze der Gemeinschaften ein und verbürgt so die Gleichberechtigung mindestens zweier Gesetze, die einander als Korrektiv dienen können. Kunst und Religion werden in dieser Figur vermittelt. Das in den ›Wanderjahren‹ gestaltete Ethos der Weltfrömmigkeit verkörpert sich in ihr in reiner Form. Denn hier findet das mit Sankt Joseph eingeführte Moment einer »Wohltätigkeit« mit »wunderlicher Außenseite« (FA I/10, 279) seine zeitgemäße und gesellschaftsrelevante Fortsetzung. So vollzieht Wilhelm im Traum die »Apotheose« Makariens von der Frau im Rollstuhl über die religiöse, »heilige Gestalt«, die »flügelartig« (FA I/10, 386) emporgehoben wird – darin das zentrale Element ikonographischer Darstellungen der Phantasie aufrufend –, zum Stern. Als im Traum Geschaute, quasi von den Flügeln der Phantasie nach oben Getragene, kommt Makarie zu Recht die Bezeichnung »ätherische Dichtung« und »Märchen« (FA I/10, 737, 729) zu. Mit Makarie wird zum einen im

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Im folgenden Kapitel zeigt sich, daß Lähmungen im frühen 19. Jahrhundert in der Nervenphysiologie von Charles Bell besonderes Interesse auf sich zogen und Gelähmte als willkommene Versuchsobjekte der Grundlagenforschung über den leibseelischen Zusammenhang galten (Kap. IV.3.1). In den ›Lehrjahren‹ war mit dem vom Schlag getroffenen, halbseitig Gelähmten Vater Thereses das Krankheitsbild schon eingeführt worden, jedoch in der Variante, die später Bell interessieren wird: die (partielle) Einschränkung des Ausdrucksvermögens durch Schlaganfälle (FA I/9, 826f.), und auf Makarie gerade nicht zutrifft. Ihr Kommunikationsvermögen und -interesse scheint durch das körperliche Gebrechen eher erhöht denn gemindert. Makarie bringt die »Religion« (FA I/10, 380) selbst ins Gespräch. Ehrhard Bahr faßt den Forschungsstand mit der Äußerung zusammen, daß Konsens darüber bestehe, in »Makarie den Höhepunkt in der Darstellung des Religiösen« zu sehen, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3, S. 186–231, S. 229.

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Hinblick auf die religiöse Dimension die Variation schöne Seele–Natalie der ›Lehrjahre‹ weitergeführt, zum anderen ist sie als Stern-Mensch auch Nachfahrin des frühromantischen siderischen Menschen, der aus der märchenhaften Verbindung von Erde und Astralreich am Ende von Novalis’ ›Eros und Fabel‹ hervorgeht.186 Hardenbergs Kunstreligion hält mit dieser Gestalt also Einzug in Goethes Gesellschaftsroman und mit ihr auch das umfassende Verständnis von Heilung, das leibseelische Wiederherstellung, sinnliche Verschmelzung, gewissenhafte Bildung und Welterlösung umfaßt. Makarie und ihr Hausfreund, der Arzt, Astronom und Mathematiker in einem ist, erinnern noch einmal an das heilende Universalgenie, das in diesem Kapitel bereits in den Gestalten von Verazio-Magus, Klingsohr und Sylvester aufgetreten ist.187 Die Lebensform und das Sozialmodell Makarie bilden das weibliche Gegenstück zur Pädagogischen Provinz und zu den Männerbünden insgesamt.188 In den ›Wanderjahren‹ ist die Gemeinschaft um Makarie die einzige Gesellschaftsform, die dem Doppelgesicht der Kollektive zwischen Utopie und Totalitarismus entgeht.189 Der Makarie-Mythos wird eindeutig als »Gleichnis des Wünschenswertesten« (FA I/10, 729) benannt. Das gilt auch für den Umgang mit Schrift in Makariens Reich. Ihr stellarer Blick ist als Sinnbild der im Wandermotiv angelegten Multiperspektivik von Goethes Roman lesbar.190 Die im Makarie-Bezirk praktizierte Dialektik von mündlicher und schriftlicher Mitteilung kann als Gleichnis des Konstruktionsprinzips der ›Wanderjahre‹ verstanden werden.191 In der Spannung von gegenwärtigem Gespräch und Überlieferung durch das Buch erlangt der Mensch ein historisches Verständnis seiner selbst. Im Gespräch wird der unmittelbare

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So bemerkt Schulz zu Makarie, sie sei »regelrecht aus einer Fortsetzung des ›Heinrich von Ofterdingen‹ in Goethes Roman entsprungen«, G. Schulz, Gesellschaftsbild und Romanform, S. 262. Von Makariens umfassender Heilkunst und dem Anklang ans Universalgenie spricht auch Müller-Seidel, Dichtung und Medizin in Goethes Denken, S. 132ff.; F. Nager, Der heilkundige Dichter, S. 151ff. Hartmut Böhme zeigt zutreffend, wie schon an Novalis’ Sylvester anschaulich wurde, daß das Universalgenie dann wiederum auf die Alchemie und die Renaissance zurückgelesen werden kann, Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe. In: Böhme, Natur und Subjekt, S. 145–178. Jürgen Barkhoff weitet diesen Befund dann auch auf die hermetischen Ehrfurchtsgebärden in der Pädagogischen Provinz aus, Goethes Ehrfurchtsgebärden in den ›Wanderjahren‹ als Anthropologie vom Leibe her. Vgl. H. Herwig, Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 376, 396. In bezug auf die kurzen Äußerungen zur Stiftung zur Erziehung junger Mädchen im Makarie-Bezirk äußert Spranger: »Man ahnt ein weibliches Gegenstück zur ›Pädagogischen Provinz‹, das aber Goethe nicht ausgeführt hat.« Die sittliche Astrologie der Makarie in Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 195. Siehe diesbezüglich die bei Bahr wiedergegebene Forschungslage: E. Bahr, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3, S. 186–231, S. 201, 225. Vgl. E. Spranger, Die sittliche Astrologie der Makarie in Wilhelm Meisters Wanderjahren, S. 196. Vgl. FA I/10, 1074f. (Kommentar). Die Konsequenz aus dieser Deutung, daß mit Makarie ein Gegengewicht zum in Anbetracht des Schlußbildes der ›Wanderjahre‹ konstatierten »Phantasma der Vaterschaft als Autorschaft« geschaffen ist, wird allerdings nicht gezogen, ebd. 954.

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lebendige Zusammenhang kommunikativer Intersubjektivität erlebt, die Schrift bildet diesen in verschiedenen Graden der Mittelbarkeit ab, angefangen von den im Makarie-Bezirk aufgezeichneten »einzelnen guten Gedanken« (FA I/10, 387), den Gesprächsnotizen, über die wechselseitig ausgetauschten Briefe bis zu der aus Novellen und Rahmenhandlung zusammengesetzten Gesamtstruktur des Romans. In den ›Wanderjahren‹ entsteht so eine Kommunikationsstruktur, die zwischen individuellem und objektivem Ausdruck, fragmentarischer Einzelaussage und übergreifendem Sinnzusammenhang, Gegenwart und Überlieferung vermittelt. Erst über diese verschiedenen Grade der Mittelbarkeit ist ein historisches Verständnis von Individualität möglich. Mit Makarie führt Goethe die Archivfiktion als Ordnungsprinzip der im Roman gestalteten Diskurs- und Stimmenvielfalt ein. Die ›Wanderjahre‹ bilden ein Textkorpus, das aus den Erzählungen, Berichten, Tagebüchern und Briefen von etwa 20 Personen besteht, zwischen personaler, auktorialer und Ich-Erzählung wechselt und zudem als Intertext von der Antike bis zur zeitgenössischen Literatur reicht.192 Im Zuge der Ästhetik des Archivs verändert sich auch das Verständnis von Autorschaft. Der Autor wird zum Archivar, seine Tätigkeit beschränkt sich auf die Sammlung und Montage von Schriften. Diese Form der Entsagung auf Autorschaft193 reagiert auf die Erfahrung einer modernen, pluralisierten Welt, in der sich das Ich über die Einschreibung in kulturelle Objektivationen Stimme verleiht. Goethes archivarische Praxis kann als Antwort auf den frühromantischen Roman und das ihm implizite Bibelprojekt verstanden werden.194 Mit Makaries Archiv als Sinnbild für die Ästhetik der ›Wanderjahre‹ wird das Ethos der Weltfrömmigkeit auf die Ebene der Kommunikationsstrukturen des Romans verschoben. Die in Goethes Spätwerk antizipierte Sozialutopie findet ihre Einlösung somit nicht in den jeweils kritisch beleuchteten lebensweltlichen Praktiken der Pädagogischen Provinz, der Aus- oder Binnenwanderer, sondern in der Sprachpraxis des Textes. Daß in dem Anagramm Makarie195 noch Lotharios ›Hier oder Nirgends ist Amerika‹ aus den ›Lehrjahren‹ anklingt, macht diese Transformation augenfällig. Analog zu der bei Novalis skizzierten poetischen ›Lösung‹ der existentiellen Problematik des Mangelwesens Mensch vollziehen auch die ›Wanderjahre‹ einen linguistic turn, indem die poetische Praxis Vorbildcharakter für die soziale Interaktion erhält. Novalis’ Kunstreligion und Goethes Weltfrömmigkeit sind gleichermaßen an der »narrativen 192

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Zur Archivfiktion vgl. V. Neuhaus, Die Archivfiktion in Wilhelm Meisters Wanderjahren; K.-D. Müller, Lenardos Tagebuch; G. Fink, Tagebuch, Redaktor und Autor; zu Mythologie und Intertextualität vgl. H. Schlaffer, ›Wilhelm Meister‹; H. Herwig, Das ewig Männliche zieht uns hinab; und im Hinblick auf das andere Alterswerk Goethes, den ›Faust II‹: S. Schneider, Archivpoetik. Vgl. H.-J. Schings, ›Gedenke zu wandern‹, S. 1032, 1040. Schulz schreibt zur Romantheorie der Frühromantik: »hier liest sich manches wie die Theorie zur Praxis der ›Wanderjahre‹.« G. Schulz, Gesellschaftsbild und Romanform, S. 262. Vgl. H.-J. Schings, ›Gedenke zu wandern‹, S. 1041.

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Konstruktion immanenter Transzendenz«196 ausgerichtet. Beiden Konzeptionen liegt die Hoffnung zugrunde, daß die Literatur unter den Bedingungen moderner Pluralisierung und Individualisierung Praktiken herrschaftsfreier, gemeinschaftlicher Sinnstiftung vorleben kann. Bibelprojekt und Archivfiktion sind Ausdruck einer solchen intersubjektiven Arbeit am Sinn, die über das Zitat, über die in den Texten inszenierte Diskurs- und Stimmenvielfalt realisiert wird. Eine pragmatische Version Gesellschaft durch Textformen zu befrieden und Schrift tauglich zur Gemeinschaftsbildung zu machen, besteht in ihrer Annäherung an Gesellschaftsvertrag und Gesetzestext. Das versöhnende Eingreifen der Gemeinschaften wird in Goethes ›Wilhelm Meister‹-Komplex an die juristische, vertragstheoretische Konnotation von Entsagung gekoppelt. Die Schrift, der Vertrag wird zur maßgeblichen Kommunikationsform befriedeter Intersubjektivität; kodifizierte Entsagungen – wie sie etwa das ›Preußische Landrecht‹ kennt – gehören konstitutiv zu den in den Romanen abgeschlossenen Gesellschaftsverträgen. In den ›Lehrjahren‹ ist die Turmgesellschaft als Sozietät zur Sicherung des Eigentums ihrer Mitglieder bereits auf halbem Weg zu einer am Gesellschaftsvertrag orientierten Organisation, denn sie erfüllt darin eine der zwei zentralen Funktionen, die Rousseau einem solchen Vertrag zuschreibt.197 Die Welt des Turmes ist durch das Schriftprinzip strukturiert. Hier wird Leben in Schrift überführt und archiviert. Wilhelms Lehrbrief, die Biographien Speratas und Augustins ebenso wie die Grablegung Mignons, die einer ›Verschriftlichung‹ ihres Körpers gleichkommt – »Durch den Druck einer Feder versenkte der Abbé den Körper in die Tiefe des Marmors« (FA I/9, 959) –, sind hierfür Beispiele. Die Turmgesellschaft kann als »literate, contractual society«, als »founding myth for a legally constituted society«198 verstanden werden. Diese Schrifttherapie kommt zwar für Augustin, Sperata und Mignon zu spät, die erinnernde Aufbewahrung dieser Existenzen im Archiv der Gemeinschaft zeugt jedoch für ein Gesetz, dem die Versöhnung mit dem abweichenden Individuum zur Aufgabe wird. Mit der Bestattung Mignons wird die Berechtigung des individuellen Glücksanspruchs und damit auch die Berechtigung von subjektiver Gewissensentscheidung gleichsam in den Gesellschaftsvertrag des Turmes eingeschrieben. Durch sie vollzieht der Turm das, was Hegel das Wort

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Vgl. H. Uerlings, Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, S. 229–232; H. Herwig, Das ewig Männliche zieht uns hinab, S. 396: »Durch die Makarien-Allegorie wird die Transzendenz Teil der Immanenz.« Vgl. FA I/9, 945, und Rousseau: »Trouver une forme d’association qui défende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé«, die zweite Funktion lautet: »et par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui-même et reste aussi libre qu’auparavant«, J.-J. Rousseau, Du contrat social ou, Principes du droit politique. In: Rousseau, Oeuvres complètes. Bd. 3, S. 360. K. Schutjer, Narrating Community after Kant, S. 146, 159. Egger stellt die zunehmende Verschriftlichung in den ›Lehr‹- und ›Wanderjahren‹ unter das Vorzeichen ›Verdrängung des Körpers‹, Diätetik und Askese, S. 152f.

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der Versöhnung nannte: das Eingeständnis der Fehlbarkeit des Allgemeinen gegenüber dem Individuellen und dessen Freispruch in einem. Diese Wechselseitigkeit zwischen Gesetz und Einzelnem spricht in den ›Lehrjahren‹ Natalie aus, wenn sie darauf hinweist, »daß unsere Grundsätze nur ein Supplement zu unsern Existenzen sind« und die natürliche, lückenhafte menschliche Existenz »durch ein entschieden ausgesprochenes Gesetz ausgefüllt werden kann.« (FA I/9, 946, 907) Dem schönen Gesetz der Entsagung, wie in Anspielung auf die eigentliche schöne Seele der ›Lehrjahre‹, Natalie, zu formulieren wäre, ist der vertragstheoretische Gedanke der Reziprozität und Kompensation inhärent. Bei den Wandervorschriften im zweiten ›Meister‹-Roman handelt es sich dann um ein solches entschieden ausgesprochenes, therapeutisch-pädagogisches Gesetz. Die Ausstellung der Schriftlichkeit der Wandergebote – sie liegen Wilhelm als »Blatt« vor,199 wie er auch später als Lehrer der Entsagung seine Einsichten auf einem »Blatt« (FA I/10, 268, 707, 709) fixieren wird – deutet auf den Vertragscharakter dieser Entsagungen. Hier handelt es sich also im juristischen Sinn um einen Ehe- und Gesellschaftsvertrag zwischen Natalie, Wilhelm und dem Turm als Ausdruck eines gemeinsamen Willens, denn es wird von »Bedingungen« gesprochen, »die mir der Verein, die ich mir selbst vorschrieb!« (FA I/10, 268). Mit der im Wandermotiv angelegten räumlichen Distanz werden die sozialen Beziehungen in diesem Roman gänzlich dem Schrift- und Vertragsprinzip unterstellt. Neben dieser makrostrukturellen Entsagung durch Schrift als gesamtgesellschaftlichem Therapeutikum finden sich einzelne Sprechakttypen von Entsagung, sozusagen individuelle Präskriptionen. In dieser Hinsicht wendet sich Goethes Roman auf die religiösen Wurzeln von Entsagung im Sprechakt der Bekenntnisrede zurück – das hatte Hegels ›Phänomenologie‹ im Blick auf die ›Bekenntnisse einer schönen Seele‹ nachgeahmt.200 Bereits in den letzten Büchern der ›Lehrjahre‹ wird Wilhelm fortschreitend mit Entsagung als Bekenntnisrede vertraut gemacht. Über die Lektüre der ›Bekenntnisse‹ lernt er die ethische Rechtfertigung des eigenen Lebens im sprachlichen Gewissensausdruck als Weg zum Allgemeinen verstehen. Die Schicksale Augustins, Speratas und Mignons führen vor Augen, daß eine Handlung aus Gewissen – in diesem Fall die sich auf die Natur berufende inzestuöse Liebe –, aber in Verletzung der bürgerlichen Gesetze, durch (sprachliche) Distanzierung von der Tat, durch ein Schuldbekenntnis gesühnt werden muß. Wilhelm selbst wird zum Ende des Textes mit seinem schuldlos-schuldig Werden an Mariane, Mignon, der 199

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Daß dieses »Blatt« zugleich als »Zeugnis« von seiner »letzten Beichte« bzw. »Absolution« beschrieben wird und ihm nun »statt eines gebietenden Gewissens« (FA I/10, 268) dient, deutet auf die Engführung von Religiösem und Moralisch-Rechtlichem, die auch Hegels Gewissens-Kapitel strukturiert. Vgl. L. Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, S. 214, und B. C. Sax, Active Individuality and the Language of Confession.

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Gräfin und dem Graf sowie schließlich an Lothario konfrontiert und bekennt: »bin ich Schuld an dem, was vorgeht [...]. Aber und abermal gehen mir die Augen über mich selbst auf, immer zu spät und immer umsonst.« (FA I/9, 989) Die ›Wanderjahre‹ entfalten dann die Pragmatik der Entsagung, indem sie die Bekenntnisrede im Alltag als Problemlösungsstrategie und als Weg zum Anderen, sei es dem geliebten Gegenüber oder der Gemeinschaft, ritualisieren. Die sonntägliche Beichtpraxis im Oheimbezirk oder die als ›Bekenntnisse‹201 apostrophierten brieflichen Mitteilungen sind hier zu nennen. Odoardo bezeichnet die Handwerker als »Bekenner«, die »mit der Hand wirken«, wodurch das Handwerk in den ›Wanderjahren‹ eine nahezu revolutionäre ethische Aufwertung als Dienst für das Allgemeine erfährt, die in der Deklaration als »strenge Kunst« (FA I/10, 695) noch ästhetisch untermauert wird. Vor allem die Liebesbeziehungen veranschaulichen den Zusammenhang von religiösem Kultus und bekennender Entsagung. Reue und Buße als sprachliche und handelnde Distanzierung von einer begangenen Verfehlung, die einen Gesinnungswandel ermöglicht und somit zu einer ideellen Aufhebung dieser Tat führt, diese Elemente lassen sich in den Beziehungen zwischen Wilhelm und Natalie, Lenardo und Susanne-Nachodine und den Protagonisten der Novelle ›Der Mann von funfzig Jahren‹ erkennen. Am Anfang des Entsagungsprozesses steht die Reue, das Schuldbekenntnis.202 Die sich anschließenden ›Buß-Wanderungen‹ haben darin ihren Sinn, daß die Liebenden durch räumlich-praktische Distanzierung von den ›Opfern‹ ihrer Verfehlungen sich selbst und ihre Gefühle zu gemeinschaftstauglichen bilden. Hier ist auch noch einmal an das eingangs erwähnte therapeutische Reisen und (Aus-)Wandern zu erinnern, das durch geistige und körperliche Bewegung psychosomatische Leiden lindern kann und dem Goethe als Kur der Liebes-Melancholiker eine sehr viel umfassendere und nachhaltigere Deutung gibt. Aber nicht nur die Liebe wird in den ›Wanderjahren‹ unter das Gesetz der Entsagung gestellt, sondern auch die Familie in ihrer Funktion als Sozialisationsraum für die nachfolgende Generation. Wilhelm wird aufgrund von Einsicht in das eigene Ungenügen und in die strukturelle Problematik jedes ElternKind-Verhältnisses – die fehlende Anerkennung zwischen den Generationen –203 zum entsagenden Vater. Die Erziehung wird von der bürgerlichen Kleinfamilie auf die im Roman dargestellten pädagogischen Institute übertragen. 201 202

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Vgl. FA I/10, 268, 493, 540, 743. Solche Schuldbekenntnisse legen etwa Wilhelm, Hilarie und die schöne Witwe ab, vgl. FA I/10, 268, 490, 492. In Lenardos Fall einer »Leidenschaft aus Gewissen« (FA I/10, 733) ist das Unrechtsbewußtsein, das Hegel zur Grundlage versöhnter Intersubjektivität erklärt, am deutlichsten ausgeprägt. So jedenfalls lauten die Diagnosen Lenardos und des Sammlers: »der Vater behält immer eine Art von despotischem Verhältnis zu dem Sohn, dessen Tugenden er nicht anerkennt und an dessen Fehlern er sich freut«; »[g]ewöhnlich zerstreut der Sohn was der Vater gesammelt hat« (FA I/10, 405, 411), die auch in den Generations- und Liebeskonflikten der Novellen ›Die pil-

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Mithin erscheint die im Wandermotiv implizierte räumliche Distanz zwischen den Geschlechtern und Generationen als maßgebliche Versöhnungsstrategie des Textes. Es ist jedoch nicht allein diese Distanz, die für die Versöhnung einsteht, sondern vor allem gibt sie Raum für die Gemeinschaften, die vermittelnd in dieses Vakuum treten. Einer Wendung von Hegels ›Rechtsphilosophie‹ folgend können die Gemeinschaften als »zweite Familie«204 apostrophiert werden, die dort versöhnend eingreift, wo politisch-ökonomische oder Geschlechter- und Generationskonflikte die Bildung der Individuen wie diejenige der Gesellschaft gleichermaßen bedrohen. Schließlich steht auch die Berufswahl in den ›Wanderjahren‹ unter dem Zeichen der Entsagung, und das gleich mehrfach. Zunächst ist Wilhelm durch das in den Wandervorschriften enthaltene Gebot zu ständiger Mobilität genötigt, auf Arbeit zu verzichten. Hegelsch gesprochen ist ihm damit eine wichtige Technik der Selbstrealisierung genommen: »seine in der Arbeit […] erhaltene Wirklichkeit«.205 Ihm ermöglicht dies jedoch eine Resignifizierung seines Verständnisses von Arbeit. In den ›Lehrjahren‹ war diese Instrument der allseitigen Ausbildung der Persönlichkeit und sollte auf der Theaterbühne realisiert werden. In den ›Wanderjahren‹ wird er mit der Wundarzttätigkeit einen Beruf wählen, durch den er als »nützliches als ein nötiges Glied der Gesellschaft« (FA I/10, 556) erscheint. In einer »Zeit der Einseitigkeiten« (FA I/10, 295) ist Spezialisierung gefordert, nicht die harmonische Ausbildung des Individuums. So jedenfalls lautet die Devise der Entsagenden aus dem Munde Montans. Funktional ist aber auch die spezialisierte Tätigkeit auf einen religiös-ethischen und einen therapeutischen Mehrwert bezogen. Das drückt Odoards oben erwähnte Proklamation von den bekennenden Handwerkern und von diesem als ›strenger Kunst‹ ebenso aus wie Montans Charakterisierung der Arbeit als universale psychische Kurmethode: »Seelenleiden, in die wir durch Unglück oder eigne Fehler geraten, sie zu heilen vermag der Verstand nichts, die Vernunft wenig, die Zeit viel, entschlossene Tätigkeit hingegen alles. Hier wirke jeder mit und auf sich selbst, das hast du an dir, hast es an andern erfahren.« Die Arbeitstherapie wird hier in der Schwebe von gesellschaftlicher Maßnahme und Selbstheilung gehalten, und so kann auch Wilhelms Berufswahl des Wundarztes die unterschiedlichen Attribute – von seiten Wilhelms »stille Neigung« und von

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gernde Törin‹, ›Der Mann von funfzig Jahren‹ und ›Wer ist der Verräter?‹ ihre Bestätigung finden. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Werke, Bd. 7, S. 394. Ehrhard Bahr hat darauf aufmerksam gemacht, daß Hegels Vision der bürgerlichen Gesellschaft in der ›Rechtsphilosophie‹ sich mit Goethes ›Wanderjahren‹ deckt, vgl. E. Bahr, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3, S. 186–231, S. 203, 225f. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 3, S. 175. Zur Auffassung von Arbeit in den ›Wanderjahren‹ siehe E. Bahr, Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden. In: Goethe-Handbuch. Bd. 3, S. 186–231, S. 225–228.

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seiten Jarnos »göttlichste[s] aller Geschäfte«, »ohne Wunder zu heilen und ohne Worte«, also ent-sagend, »Wunder zu tun« (FA I/10, 554ff.) – zugesprochen werden. Das Handwerk im allgemeinen und auch Wilhelms Entscheidung für die Handwerkschirurgie erhält mit Bekenntnis, Kunst, Neigung und Wunder universale Funktionen. Durch Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt wird das ›Wilhelm Meister‹Projekt mit einer höchst ambivalenten Geste zu Ende gebracht. Das drückt sich auch in der Forschung aus, die einerseits diese Berufswahl gar nicht zu Kenntnis nimmt oder negativ kommentiert, und andererseits darin Wilhelms Bildungsziel in höchster Vollkommenheit erreicht sieht.206 Hier wird sie als gleich vierfach vollzogene Geste des Zu-Ende-Sprechens einer Epoche der HeilKunst gelesen, die heute Goethezeit oder Kunstperiode genannt wird. Die an den Gesellschaftsroman angehängte Geschichte von Wilhelms Berufsfindung – die die erste Fassung der ›Wanderjahre‹ von 1821 noch nicht kannte – läßt sich in vier Episoden gliedern: die Berufswahl selbst, die nachgereichte Motivation derselben durch die Erzählung vom Tod des Fischerknaben, das Studium der plastischen Anatomie und schließlich der finale Aderlaß. Diese Begebenheiten bringen jeweils andere Aspekte dieser Epoche entsagend zu einem Ende und bilden somit einen starken Kontrapunkt zum Schlußsatz des Romans »Ist fortzusetzen« (FA I/10, 774). Mit der Entscheidung für die Handwerkschirurgie wählt Wilhelm einen im frühen 19. Jahrhundert im Aussterben begriffenen Zweig der Heilberufe. Das medizinische Feld ist im Zuge von Staatsarzneikunde und Medizinischer Polizei markanten Professionalisierungsschüben ausgesetzt, die dazu führen, daß die Berufsgruppen der älteren heilenden Praktiker wie Barbiere, Bader, Chirurgen und Wundärzte binnen kürzester Zeit ihren wissenschaftlich ausgebildeten Kollegen weichen müssen. In Medizinalordnungen werden Instruktionen für Amtsärzte erlassen, die beaufsichtigen und kontrollieren sollen: »Von Charlatanen, Quaksalbern, unbefugten Aerzten, Wundärzten und Hebammen, von unbefugten Arzneikrämern wird er, wo er sie findet, die Anzeige zu machen nicht unterlassen.«207 Mit seiner Ausbildung zu einem ›Sanitätsindividuum minderen

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So gilt die Ausbildung zum Wundarzt zum einen »als drastische Selbstbeschränkung seiner Anlagen«, A. Henkel, Entsagung S. 39, zum anderen als Erreichung der »höchsten Bildungsstufe«, W. Müller-Seidel, Dichtung und Medizin in Goethes Denken, S. 130. Diese Ambivalenz liegt in der ironisch-melancholischen Textur des Romans begründet, wie im folgenden argumentiert wird. Hier handelt es sich um eine im Wortlaut wiedergegebene »1808 veröffentlichte Instruktion« der »Pflichten der Aerzte« aus: C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 334. Schauenburg spricht im weiteren von den Wundärzten als »Sanitätsindividuen minderen Rangs« und plädiert für eine Reform des Gesundheitswesens, die in der »unbedingten Aufhebung der niedern Kategorien der Heilkundigen bestehen« soll, S. 335, 345. Zu den Medizinalordnungen für Wundärzte und zu den rechtlichen Bestimmungen dieses Polizeigewerbes siehe ebd., S. 336–344; und zu den Professionalisierungsbestrebungen im

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Rangs‹ lassen sich humanistische Bildungsideale nur schwerlich verbinden. Sie steht jedoch in Kontinuität zu Wilhelms Entscheidung für die Schauspielerei in einer Wandertruppe in den ›Lehrjahren‹. So entwickelt sich auch die Chirurgie aus als »›Empirici‹ benannten meist herumziehenden Spezialisten«, »welche als Bruch- und Steinschneider u. dgl. auf keinem Jahrmarkte fehlten.«208 In beiden Fällen handelt es sich um Berufe, denen die gesellschaftliche Anerkennung fehlt und die von der Warte des Bürgertums aus gesehen nur als sozialer Abstieg erscheinen konnten. Der Wundarzt ist zudem noch eine anachronistische Wahl. Damit ist das realistisch-relativierende Element in Wilhelms Berufswahl benannt, das bei der anderen Heilerfigur der ›Wanderjahre‹, Makarie, in ihrer Rolle als gute, alte, im Rollstuhl sitzende Tante liegt. Der Wundarzt vermittelt im Text zwischen gemeiner Berufspraxis und Handwerksideal der Entsagenden sowie zwischen Altem und Neuem. Zum realistischen Bild des Wundarztes gehört im weiteren die per Medizinalordnungen seit Mitte des 18. Jahrhunderts festgeschriebene Beschränkung auf die Heilung äußerer Krankheiten wie Verwundungen und die Anwendung nur »äußerliche[r] Kuren« wie Aderlaß, Schröpfen und Bruchbehandlungen. Das »innerliche Kuriren« ist ihnen »verboten«, während dieses in die Domäne der Ärzte fällt, die sich wiederum »aller äußerlichen Kuren zu enthalten haben«.209 Der ganze Mensch zerfällt so in der medizinischen Praxis in einen inneren/äußeren Körper und eine Seele, und es sind Wundärzte, Ärzte und die sogenannten psychischen, denkenden oder philosophischen Ärzte, die sich seiner annehmen. Eine tatsächlich ganzheitliche, ›psychisch-somatische‹ Auffassung des Menschen, die in den 1820er Jahren gerade auf den Begriff gebracht wird, ist so disziplinär und personell ortlos. Wilhelms Rückwendung zum äußeren Menschen und den äußeren Kuren kann in diesem Kontext als bewußte Abgrenzung von den sogenannten Psychikern wie Heinroth verstanden werden, die den ganzen Menschen von der Seele aus kurieren wollen und gerade in ihrer theologischen Metaphorik an das in ›Lila‹ gewärtige moral management des 18. Jahrhunderts erinnern, dieses jedoch im Theorem der Selbstverschuldung von Krankheiten noch radikalisieren.210 Am ärztlichen Universalgenie der

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Zuge der öffentlichen Gesundheitspflege im 19. Jahrhundert im weiteren I. Egger, Diätetik und Askese, S. 96–106; P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 65–69. C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 344. Auf die Verwandtschaft von Schauspieltheater und anatomischem Theater verweist I. E. Krüger-Fürhoff, Der versehrte Körper, S. 119–122. C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 346. In Medizinalordnungen von 1753 bis 1848 blieb diese Aufteilung gewahrt, vgl. ebd., S. 346–351. Jarnos Verständnis des Wundarztes als Heiler der durch »Zufall« verletzten, eigentlich »Gesunden«, »die Kranken müsse man den Ärzten überlassen, niemand aber bedürfe eines Wundarztes mehr als der Gesunde«, steht im Kontext dieser Arbeitsteilung, FA I/10, 555. Ausführlich wird Heinroth im nächsten Kapitel behandelt. 1822 hatte Heinroth Goethe seine Anthropologie zugesandt. Anläßlich dessen publiziert Goethe 1823 in ›Zur Morphologie‹ einen Text, der sich kritisch gegen eine ausschließlich auf das Innere gerichtete Erkenntnis des Men-

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Psychiker, das in Personalunion Arzt, Philosoph, Geistlicher und vor allem bis zur höchsten Vernunftstufe entwickelter Mensch sein sollte, konnte tatsächlich die mangelnde Selbstbeschränkung auffallen. Die fatalen inhumanen pragmatischen Konsequenzen eines solchen überzogenen Humanitätsideals zeigen sich an dem im nächsten Kapitel zu behandelnden Fall Woyzeck. Die Wendung zum Wundarzt ist allerdings auch medizinhistorisch als Rückbezug auf ein sehr viel älteres alchemistisches Medizinverständnis gedeutet worden. Hartmut Böhme denkt an »Paracelsus, der große Wundarzt und Wanderer wie Wilhelm«, der die »erste europäische holistische Medizin« entwickelt habe.211 So wäre Wilhelms Berufswahl nach dem Makarie-Mythos ein weiteres Element einer Frühromantik-Reminiszenz der ›Wanderjahre‹, bemühte doch Novalis’ Sylvester eben diese Tradition. Darüber hinaus reagiert der Roman darin auf die Entwicklung einer medizinischen Zweiklassengesellschaft, die im 19. Jahrhundert ebenfalls von der Heilzunft mit Verweis auf Paracelsus beklagt wird. Schauenburg beschreibt kritisch die Etablierung von »zwei Klassen von Heilkundigen«, des chirurgischen Gewerbes und der Ärzte, die auch, »wenn man zumal der ›Lehrjahre‹ und der zur Erlangung des ›Lehrbriefes‹ geforderten Vorbildung gedenkt, von höchst verschiedenen Bildungsgrade« seien. Im Plädoyer gegen diese unheilvolle Entwicklung beruft er sich auch auf Theophrastus von Hohenheim, der schon zu seiner Zeit »gegen die Trennung der Chirurgie von der Medizin« und gegen »Fakultäts- und Schulzwang«212 gewettert habe. Mit den in Wilhelms Berufswahl liegenden Anachronismen zeigt sich dieser am Ende seines Bildungsweges jedenfalls als ein Nostalgiker. Und mit dieser feinen Ironie, der Zeitkrankheit der Epoche gerade nicht entkommen zu sein, sondern diese zum Beruf gemacht zu haben, schließt Wilhelms Bildungsweg. Als Nostalgiker zeigt sich Wilhelm auch im Motiv für seine Berufswahl. In der Jugenderzählung vom ertrunkenen Fischerknaben wird diese an sein (homoerotisches) Begehren zurückgebunden und damit an jene Libido, die

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schen wendet: » Hiebei bekenn’ ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenn dich selbst, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt«. 1825 rezensiert er die Anthropologie in ›Kunst und Altertum‹: »Die vielen Vorzüge, die man diesem Werk auch zugesteht, zerstört der Verfasser selbst, indem er über die Grenzen hinausgeht, die ihm von Gott und der Natur vorgeschrieben sind. Auch wir sind allerdings überzeugt, daß der Anthropolog sein Menschenkind bis in die Vorhöfe der Religion führen könne, dürfe, müsse, aber nicht weiter als bis dahin, wo ihm der Dichter begegnet«. HA 13, 38, 573. 1827 besuchte Heinroth Goethe in Weimar, vgl. WA III/11, 110. Wilhelms Ausbildung zum Wundarzt als Abkehr von psychischen Kurmethoden hat so auch Egger gelesen: I. Egger, Diätetik und Askese, S. 114. H. Böhme, Lebendige Natur. Wissenschaftskritik, Naturforschung und allegorische Hermetik bei Goethe. In: Böhme, Natur und Subjekt, S. 145–178, S. 170. C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 344. Siehe auch das im Kommentar wiedergegebene Paracelsus-Zitat FA I/10, 1144.

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schon in den ›Lehrjahren‹ seine Irrwege bestimmte. Eine entsagende Entscheidung fürs Allgemeinwohl ist der Wundarztberuf damit gerade nicht, sondern er entspricht seiner »Neigung« (FA I/10, 556) und ist, wie der aus den ›Lehrjahren‹ mittransportierte Fetisch der Wundarzttasche nochmals unterstreicht, Konsequenz seiner langen Geschichte als Liebesmelancholiker, angefangen von seiner Identifikation mit dem kranken Königssohn. Die nachgetragene ›Urszene‹ des Begehrens mit dem Fischerknaben ist erzählökonomisch eigentlich überflüssig. Sie ist eine Wiederholung und Verdoppelung der mit der Wundarzttasche der ›Lehrjahre‹ bereits im Text vorhandenen hinreichenden Motivierung und macht gerade in diesem Zuviel Sinn, indem das Begehren nach dem Körper unstillbar und frei zwischen den Geschlechtern und im weiteren Romanverlauf auch zwischen den Generationen flottiert. Am Ende einer Epoche psychisch-ästhetischer Kurmethoden schiebt sich so wieder das Bild des schönen menschlichen Körpers in den Vordergrund: Aber bald auf dem Kies entkleidet wagt’ ich mich sachte in’s Wasser, doch nicht tiefer als es der leise abhängige Boden erlaubte; hier ließ er mich weilen, entfernte sich in dem tragenden Elemente, kam wieder, und als er sich heraushob, sich aufrichtete im höheren Sonnenschein sich abzutrocknen, glaubt’ ich meine Augen von einer dreifachen Sonne geblendet, so schön war die menschliche Gestalt von der ich nie einen Begriff gehabt. (FA I/10, 545)213

Und unversehens sind wir wieder am Anfang unserer Studie, bei Herders ›Plastik‹ und der schönen menschlichen Gestalt angelangt, die man nur mit Händen begreifen kann. Schrittweise über den nur mit dem äußeren Menschen und äußeren Kuren beschäftigten Wundarzt sowie den Wundarzt als Handwerker über das Begehren nach der schönen menschlichen Gestalt nähern sich die ›Wanderjahre‹ einer Ästhetik von unten, die dann mit Wilhelms Studium der plastischen Anatomie tatsächlich wieder das Gespräch mit Herder aufnimmt. So wie Herder aus dem Anatomiesaal und Hallers Labor angesichts der Zerstückelung ins Museum und zu den antiken Statuen flieht, so wendet sich auch Wilhelm angesichts des Torsos des »schönsten weiblichen Armes« vom Seziertisch ab und den Künsten sowie Gipsabdrücken eines plastischen Anatomen zu. Dieser Moment wendet sich ebenso ironisch auf die ›Lehrjahre‹ zurück, wird doch dem ehemaligen Hamlet-Mimen mit dieser Frauenleiche seine Ophelia auf den Seziertisch gelegt.214 Die ›Wanderjahre‹ legen ein beredtes und

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So schreiben auch Neumann und Dewitz im Kommentar: »Goethes Roman ist der mit höchsten Komplikationen belastete Versuch, in einer körperfeindlichen Zeit die Körpererfahrung als Quellpunkt sozialer Zeichen wahrhaft ernst zu nehmen.« FA I/10, 953. Zum Körper als Instrument des Erkennens und den diesbezüglichen Aphorismen in den ›Wanderjahren‹ siehe auch ebd., 1254. Denn es handelt sich um folgenden Fall: »Ein sehr schönes Mädchen, verwirrt durch unglückliche Liebe, hatte den Tod im Wasser gesucht und gefunden; die Anatomie bemächtigte sich derselbigen«, FA I/10, 602. Auf das Ophelia-Motiv hat schon Moritz Baßler hingewiesen,

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vom Autor Goethe dann auch praktisch vertretenes Plädoyer für die in den 1770er Jahren in Italien von dem Physiologen Felice Fontana und dem Bildhauer Clemente Susini praktizierte Kunst ab, Leichen für anatomische Zwecke durch Wachspräparate zu ersetzen.215 Der Anatom wird so zum Künstler. Anstatt den toten Körper aufzuschneiden und zu sezieren, bildet er ihn nach. Analyse wird durch Synthese ersetzt. Der Anatom rekrutiert Wilhelm mit den Worten: »Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter töten; kurz also, wollen Sie mein Schüler sein?« (FA I/10, 604) Das liest sich wie ein prägnanter Kommentar zu Herders ›Plastik‹. Die ›Wanderjahre‹ und ›Plastische Anatomie‹ beziehen sich damit auf ein reales, im Zuge der Verwissenschaftlichung der Chirurgie auftretendes Problem: die dramatisch angestiegene Nachfrage nach Leichen, die insbesondere in England schon zu Leichenraub, literarisch festgehalten in Mary Shellys ›Frankenstein‹ (1818), und sogar zu Mordfällen geführt hatte. Zu anatomischen Zwecken waren die Leichen Hingerichteter bestimmt und mit der Liberalisierung des Strafrechts, der auch in den ›Wanderjahren‹ für Amerika anvisierten Abschaffung der Todesstrafe, wurde ein künstlicher Ersatz für reale Leichen nur um so dringlicher. Ein bekannter Verbrecher, der 1824 in Deutschland nach seiner Hinrichtung noch in den Dienst der Wissenschaft gestellt wurde, ist der im nächsten Kapitel zu behandelnde Johann Christian Woyzeck.216 Ein sich in Goethes Roman hier andeutendes fragwürdiges Ethos der Lebenswissenschaften im 19. Jahrhundert wird in Georg Büchners Wissenschaftsdrama zum Fall Woyzeck mit einem Doktor, der nur noch dem Tod nachhetzt, plastische Gestalt gewinnen. Goethes Wissenschaftsverständnis ist optimistischer.217 Ob dem Autor der ›Wanderjahre‹ bewußt war, daß er für das reale Problem des Leichenmangels mit der plastischen Anatomie nur eine Scheinlösung anbot,

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Goethe und die Bodysnatcher, S. 186. Zum weiteren Diskurszusammenhang schöner weiblicher Leichen siehe E. Bronfen, Nur über ihre Leiche. Mit seinem Ekel vor der Zerstückelung der menschlichen Gestalt dürfte Wilhelm dann aber auch mit seinem neuen mit »gerichtlichen Sectionen« betrauten Beruf des Wundarztes Schwierigkeiten haben, C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 337. Kurz vor seinem Tod regt Goethe beim Berliner Staatsrat Peter Christian Wilhelm Beuth die Umsetzung seiner »Halbfiction« aus dem ›Meister‹ an: Plastische Anatomie, WA I/49.2, 64–75, 64. Zur plastischen Anatomie siehe neben der im Kommentar verzeichneten Literatur (FA I/10, 1192) im weiteren R. Käser, Arzt, Tod und Text, S. 82–95; M. Baßler, Goethe und die Bodysnatcher; I. E. Krüger-Fürhoff, Der versehrte Körper, S. 107–129; I. Egger, Diätetik und Askese, S. 35–39. »Bei der auf dem anatomischen Theater von dem Prosektor D. Bock unternommenen Sektion fanden sich alle Organe in der Kopf-, Brust- und Unterleibshöhle in vollkommen gesundem Zustande und nur das Herz mit einer ganz ungewöhnlichen Menge von Fett umgeben.« J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 126. »Gewinnt aber auch in der Wissenschaft das Falsche die Oberhand, so wird doch immer eine Minorität für das Wahre übrig bleiben, und wenn sie sich in einen einzigen Geist zurückzöge, so hätte das nichts zu sagen.« FA I/10, 727f.

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bleibt ungeklärt. Für die Erstellung eines einzigen Wachspräparates wurden nämlich bis zu 200 Leichen benötigt.218 Wichtiger für die Logik des Textes ist ohnehin, daß es mit der plastischen Anatomie erneut um die Kunst geht, »Totes beleben«, wie schon in der Fischerknabenepisode, und um das »Surrogat« (FA I/10, 604) selbst. Denn im Vorhaben der Belebung des Toten spricht sich die Utopie der Heil-Kunst dieser Epoche am deutlichsten aus: sei es im Pygmalion-Mythos von Herders ›Plastik‹, in der Wiederbelebung einer ganzen Welt in Novalis’ Märchen oder sei es in Hegels Vorhaben, im philosophischen Begriff »das Tote festzuhalten«.219 Und diese Reanimationen vollziehen sich im virtuellen Medium des Surrogats, der Sprache. Mit einer finalen Ersatzhandlung schließt dann auch Wilhelms Bildungsweg. Durch den rettenden Aderlaß an seinem Sohn kann er zum ersten Mal sein neues, genau auf solche äußerlichen Tätigkeiten des Aderlassens beschränktes Wundarzthandwerk220 ausüben und es gelingt ihm, mit seinem Sohn stellvertretend auch den Fischerknaben und all die Melancholiker wiederzubeleben, für die der Aderlaß lange Zeit als probates Mittel der Heilung galt,221 die in den ›Lehrjahren‹ bzw. in Goethes Gesamtwerk aber verstorben waren: Wilhelm griff sogleich nach der Lanzette, die Ader des Arms zu öffnen, das Blut sprang reichlich hervor und mit der schlängelnd anspielenden Welle vermischt folgte es gekreiselt dem Strome nach. Das Leben kehrte wieder; kaum hatte der liebevolle Wundarzt nur Zeit die Binde zu befestigen, als der Jüngling sich schon mutvoll auf seine Füße stellte, Wilhelmen scharf ansah und rief: »Wenn ich leben soll, so sei es mit dir!« Mit diesen Worten fiel er dem erkennenden und erkannten Retter um den Hals und weinte bitterlich. So standen sie fest umschlungen, wie Kastor und Pollux, Brüder die sich auf dem Wechselwege vom Orkus zum Licht begegnen. (FA I/10, 744f.)

Im Surrogat erreicht der Autor der ›Wanderjahre‹ auch noch die Reanimation eines anderen Jünglings, die zuvor mißlungen war: Als der Medikus zu dem Unglücklichen kam, fand er ihn an der Erde ohne Rettung, der Puls schlug, die Glieder waren alle gelähmt, über dem rechten Auge hatte er sich durch den Kopf geschossen, das Gehirn war herausgetrieben. Man

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Vgl. I. E. Krüger-Fürhoff, Der versehrte Körper, S. 84. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 3, S. 36. Vgl. C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 337, 344, 347; K. Pfeiffer, Medizin der Goethezeit, S. 7f. Als Melancholietherapie taucht der Aderlaß schon bei Galen auf, vgl. J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 72, und findet als solche dann bis ins 19. Jahrhundert Anwendung, vgl. F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 264; J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 15f., 20f. Zur Neukodierung der humoralpathologisch-ableitenden Mittel bei den Somatikern und Psychikern sowie in Johannes Müllers Reflextheorie siehe Kap. IV.1. Siehe im weiteren M. Fischer, Über den Aderlaß im 19. Jahrhundert.

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ließ ihn zum Überflusse eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem. (JA 4, 101)

Mit Felix dem Glücklichen wird auch die Empfindsamkeits-Krankheit des ›Werther‹ und seiner Zeit geheilt. Dem Glück und der Liebe wird im Ausgang der ›Wanderjahre‹ eine sinnliche Präsenz verliehen, die ihnen in den ›Lehrjahren‹ verwehrt war. Dies Glück realisiert sich jedoch nur in einem Augenblick gleichsam zwischen den Zeiten und abseits der Gemeinschaften. Der Kommentar der Frankfurter Ausgabe hat in Anbetracht dieses Schlußbildes zu Recht von einer imaginären Selbstbegegnung und vom »Phantasma der Vaterschaft als Autorschaft« (FA I/10, 954) gesprochen. Eine feine Differenzierung wäre allerdings vorzunehmen, denn es handelt sich nicht um eine Szene der Zeugung, sondern um eine der Geburtshilfe. Neben der Chirurgie gehört diese nämlich zum Berufsbild des Wundarztes.222 Autorschaft als wundärztliches Handwerk der Reanimation und Geburtshilfe ist gerade kein autarker Akt der Zeugung, sondern ein bloß mäeutischer, der dem Leben, dem anderen zu Hilfe kommt. Wundärztliche Autorschaft ist eine entsagende und gehört zur Ästhetik der Archivfiktion. In den abschließenden Gesten der ›Wanderjahre‹ wird die Verantwortung für den Text darum auch an andere weitergegeben: mit der plastischen Anatomie an Herder, mit den Aphorismen ›Aus Makaries Archiv‹ an ein Phantasma weiblicher Autorschaft mit vermutlich frühromantischer Konnotation, mit dem Schlußgedicht ›Im ernsten Beinhaus‹ aber vor allem an Friedrich Schiller, den Ko-Autor der ›Lehrjahre‹ und der Weimarer Klassik. Wilhelm, dem nostalgischen Wundarzt, gesellt sich hier ein lyrisches Ich hinzu, das genau von der Grenze aus zwischen literarischer Figur und Autor spricht und auf ein Jenseits des Textes verweist: »Die alte Zeit gedacht’ ich«. Jetzt ist das Werkzeug der Wiederbelebung nicht mehr die Lanzette, sondern die Feder: »Doch mir Adepten war die Schrift geschrieben«. Und in Wiederholung und Variation der Fischerknabenszene und von Felix’ Rettung entspringt das Begehren, das aus »dem Tod« einen »Lebensquell« schlagen kann, nun sogar, anstatt aus der sinnlichen Betrachtung eines schönen Jünglingskörpers, aus jener von Schillers Totenschädel. Mit dem Schlußsatz der ›Wanderjahre‹ »Ist fortzusetzen« weitet sich das intertextuelle Verständnis von Autorschaft dann ins Unförmliche von »Gott-Natur« und »Geisterzeugtem« (FA I/10, 774). Mit der am Ende des Textes vorgenommenen Engführung von Aderlaß und Schrift kann die Ästhetik und Ethik der Entsagung sowie die Technik der Heil-Kunst noch einmal beleuchtet werden. Medizinisch ist der Aderlaß ebenso wie der Wundarztberuf in den 1820er Jahren des 19. Jahrhunderts ein Anachronismus. Durch Brown waren die schwächenden, asthenischen Mittel schon einer deutlichen Kritik unterzogen worden, die dann weitere Kreise zog. 222

Vgl. C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege [1876], S. 336. Siehe auch K. Pfeiffer, Medizin der Goethezeit, S. 7f.

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Bemerkenswert ist etwa Samuel Hahnemanns seitenlange Invektive gegen den Aderlaß, der als »so bequeme Behandlung aller Krankheiten über Einen Leisten« von vielen »Aerzten in Europa und anderwärts« praktiziert werde, eigentlich jedoch eine Technik darstelle, »das Leben der heilbaren Kranken medicinisch zu vernichten«. Durch den Aderlaß seien so »mehr Millionen Menschen (Broussaisch) allmälig ihres Lebens« beraubt worden, »als stürmisch in Napoleons Schlachten fielen«.223 Goethe interessiert jedoch vermutlich weniger die aktuelle Einschätzung der Wirksamkeit dieser Behandlung, sondern die »Geschichte der [sic] Aderlaß« (WA IV/37, 155). Dieser gehört zu den ältesten medizinischen Kulturtechniken und ist, wie das 18. Jahrhundert glaubt, sogar auch eine Naturtechnik, von Tieren abgeschaut und bei ›Naturvölkern‹ zu finden.224 Aderlaß und Schrift erscheinen am Ende der ›Wanderjahre‹ so als zwischen Natur und Kultur angesiedelte uralte Behandlungspraxis, in der die Selbstheilungskräfte der Natur zum Ausdruck kommen. Spezifischer noch indiziert die bei Goethe gestaltete Bildlichkeit: »das Blut sprang reichlich hervor und mit der schlängelnd anspielenden Welle vermischt folgte es gekreiselt dem Strome nach. Das Leben kehrte wieder« (FA I/10, 744), Heilungs- als Austauschprozesse zwischen Mikro- und Makrokosmus, wie dies schon der Paracelsischen und der antiken Medizin eigen war. In dieser Lesart gibt der Aderlaß aber auch das Symbol für die Dialektik von Verzicht und Kompensation im Gesellschaftsvertrag und für das an diesem orientierte Schriftprinzip einer entsagenden Ästhetik ab. Heil-Kunst wirkt am besten in Zeiten des Umbruchs, dies hält ein Aphorismus aus ›Makaries Archiv‹ fest: »Poesie wirkt am meisten im Anfang der Zustände, sie seien nun ganz roh, halbkultiviert, oder bei Abänderung einer 223

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S. Hahnemann, Organon der Heilkunst. 6. Aufl., S. 69f. Auch der Somatiker Jacobi schlägt in diese Kerbe, vgl. G. Zilboorg, Psychosomatic Medicine, S. 5. Und Hufeland bringt 1825 in der Neuausgabe seiner Schrift ›Erinnerung an das Aderlaß‹ von 1801 folgenden Zusatz: »Wunderbarer Kontrast! Vor 25 Jahren sah ich mich genötigt, diese Erinnerung an das Aderlaß zu schreiben, und jetzt eine Warnung vor seinem Mißrauch.« Zit. nach K. Pfeiffer, Medizin der Goethezeit, S. 158. Diese Kritik findet sich allerdings bereits im Zedler, wo die Meinung wiedergegeben ist, der Aderlaß sei ein »Mord=Mittel der Artzeney=Kunst«, und die zeitgenössische allzu häufige Anwendung abgelehnt wird, Art. Aderlaß, Aderlaesse, Blutlassung. In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 1 [1732], Sp. 493. Daß der Aderlaß im Kontext des Brownianismus auch anders verstanden werden kann, nämlich als »direkt stärkend« (HKA III, 377), zeigt Novalis. Bei der Indikation, die die ›Wanderjahre‹ für den Aderlaß in Anspruch nehmen, nämlich Wiederbelebung von Toten, handelt es sich um eine abseitige: »So wurde der Aderlaß gelegentlich noch empfohlen zur Wiederbelebung Erhängter, strangulierter und scheintoter Personen, eine Indikation, die in der Praxis aber kaum einmal vorgekommen sein dürfte.« Pfeiffer, ebd. »Diese Cur haben die Menschen von den Thieren gelernet, indem die Ungarischen Pferde ihnen durch einen Biß eine Ader selbst zu oeffnen, und das Americanische Thier Dante an einem scharffen Schilff=Rohre sich wund zu stossen pfleget, um das Blut, womit sie sich ueberladen fuehlen, abzuzapffen.« J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 1 [1732], Sp. 493. Siehe dort auch den Eintrag ›Aderlassen und Schroepffen der Indianer‹, die ihre Patienten zum Aderlaß auf einen Stein im Fluß setzten und damit der Aderlaßszene der ›Wanderjahre‹ topographisch am nächsten sind, ebd., Sp. 494.

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Kultur, bei’m Gewahrwerden einer fremden Kultur« (FA I/10, 564). Aus diesem Zeitbewußtsein heraus sprechen die ›Wanderjahre‹ und impfen den neuen halbkultivierten bis rohen Zuständen noch einmal das Ethos und die Ästhetik der Kunstperiode ein. Wie nötig den neuen Zuständen diese Arznei ist, zeigt das nächste Kapitel zum Fall Woyzeck. In den theatralischen und prosaischen Kurmethoden der Goethezeit drückte sich vorrangig ein Verständnis der Medizin als Heil-Kunst aus, im folgenden wird uns die Medizin in Gestalt der wissenschaftlichen Forschung entgegentreten und in Georg Büchners Doktor-Figur ihr makabres Angesicht zeigen.

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IV.

Psychiker versus Somatiker

IV.1. ›Psychisch-somatisch‹ oder ›somatisch-psychisch‹? Mit Georg Büchners Dramenfragment ›Woyzeck‹ und dem ihm zugrunde liegenden historischen Fall des am 27. August 1824 auf dem Marktplatz in Leipzig hingerichteten Johann Chrisian Woyzeck nähert sich die Studie geschichtlich der Geburtsstunde des Begriffs ›Psychosomatik‹. Als erstes Dokument, das das Wort beinhaltet, gilt gemeinhin das ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens oder der Seelenstoerungen und ihrer Behandlung‹ (1818) von Johann Christian August Heinroth (1773–1843).1 In Gestalt des Adjektivs ›psychisch-somatisch‹ taucht es dort auf. Im zweiten praktischen Teil des ›Lehrbuchs‹ ist unter § 313 zur Schlaflosigkeit zu lesen: »Gewoehnlich sind die Quellen der Schlaflosigkeit psychisch=somatisch, doch kann auch jede Lebenssphaere fuer sich allein den vollstaendigen Grund derselben enthalten. Wir schlafen schon in gesunden Tagen nicht, wenn ein Gegenstand unser Interesse lebhaft beschaeftigt; eben so flieht uns der Schlaf, wenn ein Blut= ein Nerven= ein Haut= ein Unterleibs=Reiz uns in bestaendiger Aufregung erhaelt; wenn beyderley Einfluß zusammentrifft: desto schlimmer.« Später werden die Therapiemöglichkeiten einer Melancholie aufgrund der »tiefen, psychisch=somatischen Wurzeln des Uebels«2 eingeschränkt. Wenige Jahre danach, 1822 wird Friedrich Nasse bereits sehr viel programmatischer von einer neu zu gründenden Disziplin mit dem möglichen Namen »Psycho=Somatologie« oder »Psycho=Physiologie« sprechen. Sie sei ein Teilbereich der Anthropologie, genauer gesagt deren dritter, mit dem »Ganzen der Menschennatur« befaßter Teil, wobei Teil eins von der »Naturgeschichte des Menschen«, Teil zwei von »Psychologie und Physiologie« handle. Diese neue Wissenschaft soll jene Lücke schließen, die sowohl durch die Trennung der alten Fakultäten, wonach die »Seele den Philosophen, der Leib den Aerzten« gehört, als auch durch die Scheidung der modernen, erfahrungswissenschaftlich arbeitenden Disziplinen Psychologie und Physiologie bislang offen gelassen wurde. In seinem Beitrag ›Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und 1

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Vgl. G. Zilboorg, Psychosomatic Medicine, S. 3f.; E. L. Margetts, The early history of the word ›psychosomatic‹, S. 403f.; E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 20; E. H. Ackerknecht, The history of psychosomatic medicine, S. 20; P. Hahn, Die Entwicklung der psychosomatischen Medizin, S. 939f. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 49f., 222.

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Leib in Gesundheit und Krankheit‹ faßt Nasse auch im Rückblick auf bisherige philosophische Einsichten und die Beobachtung von Erfahrungstatsachen die Leib-Seele-Problematik in 168 Leitsätze, die von: »Seele und Leib bilden den Menschen« über »Beide, Seele und Leib, sind voneinander verschieden in den Gesetzen ihres Thaetigseyns« bis zu »Seele und Leib gewoehnen sich ferner waehrend des Lebenslaufs allmaehlig an einander in der Ausuebung der ihnen gemeinschaftlich angehoerenden Verrichtungen«,3 reichen. Gegenüber dem alten philosophischen und einem strengen Parallelismus von Leib und Seele gilt es die wechselwirksame, entwicklungsgeschichtlich und nach Geschlecht, äußeren Einflüssen etc. veränderbare, individuell variierende Gemeinschaft von Körper und Seele genauer zu fassen.4 Nasse lehnt dabei die Raummetaphorik – die Seele als Inneres, der Körper als Äußeres –, die in der Psychophysik des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum allgemeinen Topos wird, ebenso ab wie vorschnelle Wesensbestimmungen. Zunächst soll es um die Feststellung funktionaler »Beziehungen« zwischen beiden gehen. Diese Argumentationsrichtung verbindet Nasse wiederum mit der späteren Psychophysik wie überhaupt mit der um 1900 sich gegenüber der Philosophie profilierenden naturwissenschaftlichen Methode. Wenn sich Nasse einer Metaphorik bedient, um die Gemeinschaft von Leib und Seele zu charakterisieren, so ist es zum einen das Herrschafts-, zum anderen das Liebesverhältnis. So wird der Lebenslauf als ein Prozeß der sich vervollkommnenden »Herrschaft« der Seele über den Leib skizziert, als »Erziehung«. Und ebenso existiert zwischen beiden ein wechselseitiges »Beduerfniß« nacheinander, ihre Beziehung ist wechselweise der Vervollkommnung und zunehmender Innigkeit fähig: »Nach und nach vermaehlt sich die Seele mit ihrem irdischen Gefaehrten inniger.« Im »Greisenalter« löst sich das Verhältnis hingegen wieder. Im weiteren bestimmt Nasse in seinem Artikel insgesamt das ›Irreseyn‹ und damit jene Krankheit, mit der sich Psychologie und Psychiatrie seiner Zeit fast ausschließlich beschäftigen, als ein psychosomatisches Phänomen. Zum »Irre[n]« heißt es: »Seele und Leib sind in ihm gegeneinander verrueckt, und der Sprachgebrauch nennt ihn denn auch einen ›Verrueckten‹.«5 1837 verleiht Nasse der psychosomatischen Fragestellung noch einmal durch ein neues Zeitschriftenpro-

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C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 1f., 11f., 15f., 27. Zu Nasses wichtigem Beitrag zum psychosomatischen Diskurs siehe: G. Zilboorg, Psychosomatic Medicine, S. 5f.; E. L. Margetts, The early history of the word ›psychosomatic‹, S. 402; E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 47; P. Hahn, Die Entwicklung der psychosomatischen Medizin, S. 940. Zu Nasse siehe auch A. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Bd. 2, S. 1014–1018. Vgl. C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 26ff., 29. Siehe auch C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 4, 25, 29. C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 3, 27, 18, 28, 33; vgl. 11, 21, 16, und Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 13.

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jekt, der ›Zeitschrift für die Beurteilung und Heilung der krankhaften Seele‹, Dringlichkeit. Die Zeitschrift erlebt allerdings nur ihren ersten Band. In seinem Einleitungsartikel ›Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende‹ bringt Nasse neben dem von Heinroth eingeführten ›psychisch-somatisch‹ die neue Prägung ›somatisch-psychisch‹ ins Spiel. Gegenüber der ersten, von Nasse selbst 1822 mit ›Psycho-Somatologie‹ aufgegriffenen ist dieser zweiten Begriffsprägung weitaus weniger Erfolg beschieden. Von ›somatisch-psychischen Zuständen‹ oder einer ›Somatopsychik‹ wird in der Folge nicht die Rede sein. Die Richtung, die dieses Kompositum jedoch andeutet, wird ab Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Siegeszug antreten, der bis zum heutigen Datum ungebrochen ist. Die von Friedrich Albert Lange dann so bezeichnete »somatische Methode«6 und ihre Vertreter, die Somatiker, werden ab 1850 das Geschehen in der wissenschaftlichen Medizin dominieren. Ob sich Nasse 1837 mit dem ›somatisch-psychisch‹ bewußt von Heinroths Terminologie absetzen wollte, ist angesichts des ebenfalls in diesem Artikel alternativ verwendeten ›psychisch-somatisch‹7 eher fraglich. ›Somatisch-psychisch‹ wird nicht als Programm verstanden. Allerdings wendet sich der Beitrag dezidiert gegen eine »speculative Richtung, welche in Deutschland die Untersuchung ueber die Irren genommen«,8 womit u.a. Heinroth und insgesamt die sogenannten Psychiker gemeint sind. Für diese Studie läßt sich im Gegeneinander der beiden Komposita ›psychisch-somatisch‹ (Heinroth) und ›somatisch-psychisch‹ (Nasse) die Debatte der Psychiker und Somatiker im frühen neunzehnten Jahrhundert allerdings gut charakterisieren. Denn es handelt sich um zwei alternative Auffassungen vom ganzen Menschen, die im Hinblick auf ihre Grundannahme einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele und im Hinblick auf Krankheitsursachen, Symptome sowie Therapien vieles gemeinsam haben, in ihrer wissenschaftlichen Methodik und dem Berufsprofil hingegen differieren. Es handelt sich weitgehend um einen theoretischen Dissens, der noch keine therapeutischpraktischen Konsequenzen zeitigt. Für die Patienten gibt es in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts nur einen Seitenzweig der Psychiatrie, in dem die Frage Psychiker oder Somatiker tatsächlich zu einer von Leben und Tod wird, und das ist die Gerichtspsychiatrie. Am medizinisch-juristischen und literarischen Fall Woyzeck läßt sich dies verfolgen.

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Nach Lange hat sich die »somatische Methode« auf den »meisten Gebieten der Psychologie als einzig Erfolg versprechend« erwiesen. »Diese Methode fordert, daß man bei der psychologischen Untersuchung sich so weit als irgend möglich an die körperlichen Vorgänge hält, welche mit den psychischen Erscheinungen unauflöslich und gesetzlich verknüpft sind.« F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, S. 835. Vgl. C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 7 u.a. C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 24.

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Franz Amelung stellt 1832 die zeitgenössischen psychiatrischen Lager vor, noch ohne die Begrifflichkeit von Psychikern und Somatikern zu verwenden. Die ältere Richtung sei der Meinung, »die psychischen Krankheiten seyen in jedem Falle als unmittelbare Affectionen oder Krankheiten der Seele, als eines vom Körper verschiedenen und eigenthümlichen Wesens anzusehen; die dabei bemerkbaren körperlichen Anomalien träten hierbei nur als Folge der Seelenkrankheit auf«. Die Ursache einer Erkrankung sei »Verläugnung der Vernunft und Moralität, mithin die Sünde.« Als zentraler Vertreter wird Heinroth genannt, im weiteren J. F. Ehrhard, Langermann, Hoffbauer, Haindorf, Steffens, Windischmann und Beneke.9 Zu ergänzen wäre noch der bereits als Autor der ›Theorie des religiösen Wahnsinns‹ genannte Karl Wilhelm Ideler. Die zweite somatische Hauptansicht, die der Autor selbst vertritt, »ist diejenige, welche die Geisteskrankheiten oder die sogenannten Seelenstörungen lediglich als Reflexe organischer oder körperlicher Anomalien betrachtet, wobei das Wesen der Seele selbst an und für sich unversehrt bleibe. Ihr Hauptaxiom ist: nur der Körper, nicht die Seele kann erkranken und diese erscheint nur in ihren Thätigkeitsäusserungen alienirt, weil das Organ, das Instrument, an welches ihre Thätigkeiten gebunden sind, erkrankt ist«. Mit Genugtuung vermerkt Amelung, daß die Mehrzahl und bis auf Heinroth und Beneke alle namhaften Ärzte der Zeit dieser Richtung angehören. Er nennt Gall, Spurzheim, Vering, Neumann, Ennemoser, Frank, Georget, Bayle, Guislan, Borrows, Knight, Diez, Oegg, Bird, Friedreich, Nasse, Grohmann, Groos, Buzzorini, Eschenmayer und Jacobi.10 Die zeitgenössische parteiische Gegenüberstellung ebenso wie deren medizinhistorische Fortschreibung11 treffen die psychiatrische Debatte allerdings nur unzureichend, insofern das Trennende überzeichnet und die gemeinsame leibseelische Grundauffassung vom Menschen in den Hintergrund tritt. Hier bedarf es der medizinhistorischen Richtigstellung: »Die sogenannten Somatiker und Psychiker jener Jahre setzen unterschiedliche Akzente in ihrer genetischen Ableitung der psychischen Krankheiten, gehen aber gleichermaßen von einem ganzheitlichen Ansatz aus.«12 Bei der Differenzierung von Psychikern und Somatikern handelt es sich, wie Klaus Dörner bemerkt, um »eine vereinfachende Polarisierung der Psychiatrie-Geschichtsschreibung zur Bezeichnung der Periode etwa von 1805 bis 1845, im weiteren Sinn natürlich auch für die Benennung der bis heute gültigen Dauerkontroverse der Psychiatrie brauchbar.« Die Psychiker versuchen, »von der 9 10

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F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 114, vgl. 115ff. F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 117, vgl. 118f. Innerhalb der Somatiker unterscheidet Amelung wiederum drei Positionen, je nachdem, ob das Gehirn allein, die Nervengeflechte von Kopf, Brust und Unterleib oder alle Organe des menschlichen Körpers als Sitz der Seelenstörungen angenommen werden. Siehe etwa K. E. Rothschuh, Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart, S. 310– 316. D. von Engelhardt, Neurose und Psychose in der Medizin um 1900, S. 217.

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Naturphilosophie abgehend die Psychiatrie auf eine eigenständige Psychologie zu gründen [...], während die Somatiker sozusagen zur anderen Seite von der Naturphilosophie abfielen und der Psychiatrie eine rein somatisch-medizinische Basis zu geben beabsichtigten.«13 Keine der beiden Seiten nimmt eine strikte Trennung von Körper und Seele oder Reduktion des einen auf das andere vor.14 Denn beide Kontrahenten gehen von einer wechselwirksamen Beziehung zwischen Körper und Seele aus – ›psychisch-somatisch‹ steht eben gegen ›somatisch-psychisch‹ –, so daß um Prävalenzen, direkte und indirekte Behandlungsmethoden und Krankheitsursachen gestritten wird. Von einer körperlosen, unsterblichen Seele reden auch die Psychiker nicht (umstandslos), immerhin handelt es sich bei ihnen um eine psychiatrische Variante des Hegelianismus, der bekanntlich nicht mit einfachen Entgegensetzungen arbeitet. Auch die bei Heinroth und Ideler zu findende Engführung von Psychiatrie und Theologie ist in diesem Kontext zu lesen und keineswegs als Rückfall hinter die Aufklärung zu werten.15 Und so leitet Heinroth sein ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens‹ mit der Einsicht ein: »Nehmlich, wir versuchen vergebens den Leib von der Seele, die Seele vom Leibe zu trennen. Mit dem Begriffe: Ich, Mensch, Individuum, ist unabaenderlich der der Unzertrennlichkeit des Leibes und der Seele verbunden.«16 Die Trennung von Leib und Seele sei eine Denkunmöglichkeit. Der Körper ist »Seelenorgan« und der »Prozeß der Seelenthaetigkeiten bedarf des leiblichen Organismus und namentlich und zunaechst der Integritaet des Hirn- und Nervensystems.«17 Nasses moderate somatische Position hinsichtlich der Gemeinschaft von Körper und Seele haben wir bereits kennengelernt. Für einen Somatiker untypisch gesteht er der Seele sogar eine größere Unabhängigkeit vom Körper und eine Herrschaft

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K. Dörner, Bürger und Irre, S. 266. Siehe etwa Nasses credo: »Lassen wir die leeren Traeume ueber die Verwandlungen des Geistigen in Leibliches und des Leiblichen in Geistiges, ueber das Ein= und Ausbilden der Gehirnthaetigkeit in Gedanken und umgekehrt der Gedanken in Gehirnthaetigkeit, ueber koerperliche Empfindungen, sensorielle Leitungen […] denen, die Gefallen daran finden! Wir wollen hier weder das Leben des Leibes aus dem der Seele, noch umgekehrt dieses aus jenem erklaeren.« C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 4. Gerade in der Büchner-Philologie nehmen die Charakterisierungen der Psychiker zum Teil Züge einer Karikatur an, etwa durch aus dem Kontext gerissene Zitate: »Man sage, was man wolle, aber ohne gänzlichen Abfall von Gott gibt es keine Seelenstörungen« (Heinroth), ohne anzudeuten, daß diese theologische Fassung der Psychiatrie und »›Theorie des Bösen‹ im christlichen Sinne« immerhin als eine zu ihrer Zeit absolut moderne, hegelianische Theologie angesehen werden muß, Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 169. Auch Ellenberger hat die Modernität von Heinroths Ansatz unterstrichen, die offensichtlicher würde, ersetzte man ›Sünde‹ einfach mit ›Schuldgefühl‹, vgl. Die Entdeckung des Unbewußten, S. 300f. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 5. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 39, vgl. 24.

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über diesen zu. Striktere Vertreter der somatischen Richtung, wie etwa Maximilian Jacobi, fassen hingegen »psychische« als »Naturerscheinungen« auf. Er »beobachtet daran lediglich das organische Phänomen als Naturforscher« und betreibt mithin eine »Physiologie der psychischen Erscheinungen«.18 Für Friedreich ist die »gesammte Psyche« ein »Resultat der somatischen Organisation«.19 Polemisch mußte sich der ein oder andere Somatiker vorwerfen lassen, Seelenstörungen auf »alterirte Urin- und Darmsecretion«20 zu reduzieren. Dies wirft auch ein Licht auf die medizinische Forschung des Doktors in Büchners ›Woyzeck‹ und die täglichen Urinproben, die dieser abzuliefern hat. Auch was die Ursachen der Erkrankung betrifft, herrscht bei Psychikern und Somatikern weitgehend Einhelligkeit. In den seltensten Fällen werden ausschließlich psychische oder physische Ursachen für eine Krankheit verantwortlich gemacht, sondern zumeist eine psychophysische und soziale Gemengelage. So spricht der Somatiker Amelung für beide Lager mit seiner Überzeugung: »Wiewohl es nicht zu läugnen ist, dass es Fälle giebt, in welchen entweder rein psychische, oder rein physische oder somatisch-pathologische Ursachen die abnormen psychischen Erscheinungen herbeiführten; so werden wir doch bei weitem in den meisten Fällen sowohl physische als psychische Ursachen anzuklagen haben, welche die Krankheit vermittelten.«21 Der bei beiden Parteien zu findende Ursachenkatalog umfaßt: materiell, emotional drückende häusliche Verhältnisse, ein plötzlicher Schrecken, Trennung und unglückliche Liebe (siehe Goethes ›Lila‹), falsche Ideen über Religion, Vollblütigkeit und körperliche Grenzzustände. Das gerichtspsychiatrische Gutachten zum Fall Woyzeck zählt die damals kursierenden Ursachen psychischer Störung fast vollständig auf: »Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit, ungesetzmässige Befriedigung der Geschlechtslust und schlechte Gesellschaft«, später werden noch »Vollblütigkeit und Neigung zu Wallungen und Kongestionen des Blutes«22 genannt. Sowohl an Büchners Dramenfragment wie auch an Nasses Beitrag aus dem Jahr 1837 läßt sich beobachten, daß in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts vor allen Dingen die sozialen Ursachen in Gestalt »aeußer[er] Einfluesse« oder »Fehler der Lebensweise« verstärkt in das Blickfeld rücken. Praktisch wandelt sich das psychophysische Verständnis des Menschen

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M. Jacobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irreseyn verbundenen Krankheiten [1830], S. 2f., zit. nach Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 170. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 538. So Groos gegen Jacobi, in: Der Geist der psychischen Arzneiwissenschaft in nosologischer und gerichtlicher Beziehung. In: Magazin für philosophische, medicinische und gerichtliche Seelenkunde (1831), H. 6, S. 1–48, S. 10, zit. nach Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 170. F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 211f. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 78, 105.

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bereits zu einem psycho-physisch-sozialen noch bevor dies Ende des 19. Jahrhunderts auch theoretisch greifbar wird. So fordert Nasse »medicinisch=polizeiliche Schriften«, die sich nicht erst um die Heilung, sondern schon um die Prävention der Seelenstörungen Gedanken machen. Etwa mit folgenden Fragestellungen: »Was foerdert das Entstehen jener Krankheiten in einer Zeit, in einem Lande mehr als in andern, welche sittliche Zustaende, welche Verhaeltnisse der Wohnung, der Bekleidung, der Genuesse in Speisen und Getraenken, welche Behandlungsweisen somatischer Krankheitsanlagen und Krankheiten sind diesem haeufigeren Entstehn guenstig?«23 Und schließlich kommt in Anbetracht der Krankheitsursachen im 18. und frühen 19. Jahrhundert immer noch die antike Temperamentenlehre zum Tragen, so daß es einen nahezu nahtlosen Übergang zwischen den alten psychosomatischen Temperamenten und den am Ende des Jahrhunderts von Nietzsche, Dilthey, Freud u.a. entwickelten Typologien gibt. Hier kann wiederum Amelung stellvertretend für beide widerstreitenden Richtungen der Psychiatrie angeführt werden: »Insbesondere kommt hier der psychische Character der verschiedenen Temperamente in Betracht. Ein reizbares, zum Zorne, zum Misstrauen, zur Eifersucht geneigtes und von Kleinmuth beherrschtes Gemüth wird leichter in Wahnsinn verfallen, als der Mann von festem, ruhigem Character, der kühn dem Schicksal die Stirne beut.«24 Die Berücksichtigung des Temperaments gehört zu einem gutachterlichen Standardverfahren bei der Einweisung melancholischer Personen in öffentliche Anstalten, das auch bei der Befragung des Delinquenten Woyzeck Anwendung fand.25 Jedoch äußert sich bei aller grundlegenden Übereinstimmung der Richtungsstreit auch hier im Vorrang entweder des Körpers oder der Seele, in direkter oder indirekter Verursachung. Es dreht sich um die Frage, ob »die nächste Ursache der psychischen Krankheit in der Seele selbst oder im Leiblichen zu suchen«26 sei. Heinroth beantwortet sie so: »wenn auch der ganze Leib, der durchaus Seeleorgan ist, Veranlassung zu Seelenstoerungen geben kann: so ist es doch bey weitem in den meisten Faellen nicht der Leib, sondern die Seele selbst, von welcher unmittelbar und zunaechst, ja ausschließlich die Seelenstoerungen hervorgebracht und durch diese erst mit23 24

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C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 25, 29. F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 212. Auch für Nasse spielen die Temperamente eine Rolle, vgl. Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 3; Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 3, 16, 27. Heinroth berücksichtigt die Temperamente ebenfalls in Fragen der Medikamentierung, vgl. Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 41f. Siehe: Reskr. (an saemmtliche Beamten), die sorgfaeltigen Anzeigen ueber den Zustand melancholischer Personen betr., vom 29. Juni 1810. In: Karl Gustav Schmalz, Die Königl. Sächsischen Medizinal=Gesetze älterer und neuerer Zeit, S. 436–441, S. 439, zu Clarus’ Anwendung dieser Anweisung bei Woyzecks Befragung s.u. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 442.

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telbar die leiblichen Organe affizirt werden.«27 Der Psychiker Ideler pflichtet ihm bei und unterstreicht den »rein hypothetischen Charakter einer somatischen Basis aller Geisteskrankheiten.«28 Er wendet sich dezidiert gegen jene Irrenärzte, die den Wahnsinn »mit Blutwallungen, Nervenstimmungen und anderen grob materiellen Krankheitszustaenden des Gehirns abfertigen«, denen die »Zerruettungen des Bewußtseins im Wahnsinn [...] nur Wirkungen koerperlicher Leiden« sind, »welche in Nervenfiebern, Entzuendungen, Kraempfen und dgl. oft genug das Irrereden« hervorrufen. Ihm ist der Wahnsinn weitaus dramatischer das Andere der Vernunft, ein »daemonisches Gespenst aus Grabesnacht«, eine »so grauenvolle Erscheinung, daß er fast wie ein Medusenhaupt den Blick zurueckschreckt«. Zugleich ist er aber auch Ausdruck eines fehlgeleiteten Unendlichkeitsstrebens und einer überhitzten, nichtsdestoweniger schöpferischen Phantasie und somit eine der »großartigsten und maechtigsten Erscheinungen des Lebens«.29 Die alte Analogie zwischen Dichtung und Wahnsinn, der Furor poeticus, lebt bei den Psychikern weiter. Allerdings steht Ideler zu der Zeit, in der er diesen Einspruch gegen den Materialismus seiner Zunft formuliert – es ist das Jahr 1847 – schon auf verlorenem Posten. Die somatische Methode hat längst ihren Siegeszug angetreten und Ideler ist nicht mehr denn ein später Nachhall der Psychiker. Für die extreme Gegenseite, etwa Jacobi, sind Seelenstörungen hingegen bloße »Symptome« organischer Krankheiten und rangieren damit auf einer Stufe mit »Darmausleerungen oder der Urinsecretion«,30 während Amelung Geisteskrankheiten auf Reizungen des Gehirns und des Nervensystems zurückführt. Krankheiten konnten demnach »theils durch physische Krankheitserregende Bedingungen mannichfaltiger Art, theils durch psychische oder moralische Einwirkungen, deren endliche Wirkung sich in der Organisation gleichsam fixierte, gemeiniglich aber durch das Zusammenwirken beider Arten von Ursachen, zu Stande kommen.«31 Der Katalog der Krankheitssymptome verzeichnet zwischen Psychikern und Somatikern keine großen Differenzen. Es handelt sich um die schon aus dem 18. Jahrhundert bekannten Zustände von Visionen, Halluzinationen, Stimmen hören – insgesamt alle Formen von Sinnestäuschungen –, fixen Ideen, tiefer Trauer, Stumpfsinn, Rückzug aus der Welt, um Zuckungen, Lähmungen, fliegenden Puls und Herzrasen, die nun als Kennzeichen für die Anwendung einer psychosomatischen oder andernfalls somatopsychischen Behandlung gelten.

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 39. K. W. Ideler, Lehrbuch der gerichtlichen Psychologie, S. 236. K. W. Ideler, Der religiöse Wahnsinn, S. 21, 4, 11. M. Jacobi, Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit Irreseyn verbundenen Krankheiten [1830], S. 2f., zit. nach Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 170. F. Amelung, Zur psychiatrischen Klinik, S. 1.

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Und schließlich liegt neben den Krankheitsursachen und der Symptomatik auch im Felde der Therapien praktische Übereinstimmung vor. Denn es werden von beiden Seiten hauptsächlich noch die alten humoralpathologischen Kurmethoden angewendet. So resümiert Dietrich von Engelhardt: »In der Therapie wird noch einmal das umfassende Konzept der antiken Diätetik (Licht und Luft, Essen und Trinken, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Ausscheidungen und Affekte) aufgegriffen, das dann während des 19. Jahrhunderts seine Reduktion auf Diät erfahren wird.«32 Nur erhalten diese Therapien jetzt eine entweder psychische oder somatische neue Begründung. Der Streit um die Behandlung wird zu einer Auseinandersetzung differierender Interpretationen. So soll der Aderlaß jetzt nicht mehr die verstockte schwarze Galle zum Fließen bringen, sondern in somatischer Erklärung gegen Bluthochdruck wirken oder bei den Psychikern als ein moralisch-disziplinierendes Mittel. Bäder, die in der Antike den aus dem Gleichgewicht geratenen Mikrokosmos des Körpers wieder in ein harmonisches Gleichgewicht mit den Elementen des Makrokosmos versetzen sollten, werden jetzt als Schocktherapien eingesetzt. »Das Wasser, ein Element, für welches der Mensch eine natürliche Furcht hat, und welches auf eine mannichfaltige Art zur Cur der Wahnsinnigen gebraucht werden kann. […] Die Traufe und die Douche wirken theils durch Schmerz, theils durch Schreck, besonders wenn sie auf eine unvermuthete Art zugelassen werden.«33 Und purgierende Arzneien werden nun als über den Körper vermittelte psychische Kuren verwandt: »wie vermag nicht oft ein einziges Brech- oder Abführmittel einen schneller vorübergehenden krankhaften Seelenzustand zu heilen! Ein einziges Klystier vermag die Seele aus einer höchst unbehaglichen, unruhigen und griesgrämigen Stimmung zu reissen, während sie der Genuss von einem Paar Tollkirschen in die grösste Raserei versetzt.«34 Kurz gesagt: Für die Psychiker, deren erste Wahl den direkten psychischen Mitteln gilt, können somatische als indirekte auf dem Umweg über den Körper wirkende Therapien zum Einsatz gebracht werden. Gegen die Schlaflosigkeit aus psychosomatischer Quelle setzt Heinroth begleitend Beruhigungsmittel ein: »Bald beruhigt die Darmausleerung, bald ein Aderlaß, bald ein Vesicathrium, bald ein Glas alter Wein, selten das Opium und aehnliche

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D. v. Engelhardt, Romantische Mediziner, S. 112. Einen Überblick über die somatischen und psychischen Kurmethoden des 18. Jahrhunderts, die auch im 19. noch angewandt werden, gibt J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 338–382; J. Starobinski, Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 55–92. Neue Erfindungen gibt es hauptsächlich bei den Zwangsmitteln, etwa Zwangsjacke, -stuhl, Maske, Schaukel, Dusche und Drehmaschine, vgl. J. C. A., Heinroth Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 100–111. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 192. F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 131f.

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Mittel.«35 Für die Somatiker hingegen stellen die alten humoralpathologischen Mittel die bevorzugte Therapie dar, die durch psychische Kurmethoden ergänzt werden kann. So vertraut Amelung ebenfalls wie Heinroth den alt bekannten humoralpathologischen Therapien, d.h. den »kräftige[n] Ableitungsmitteln«,36 die »medikamentös (Brech- und Abführmittel, Herzkreislaufmittel, manchmal Opium) oder auf anderem Wege ›kühlend‹, ›antiphlogistisch‹ oder ›ableitend‹ (Aderlässe, Fußbäder, feuchte Stirnwickel, Haarseile, reizende Einreibungen zur künstlichen Hervorrufung von Entzündungen)« wirken. Er plädiert jedoch auch dafür, daß solche somatischen Kuren durch eine »moralische Behandlung, also durch Gespräche, Zuwendung, gutes Zureden, Ermahnungen, Drohungen oder, wenn nötig, Bestrafungen flankiert werden.«37 Ebenso sind für Nasse »Aderlaß, Brechweinstein und Kampher« noch Standard bei der Behandlung von Seelenkrankheiten. Er gibt hingegen auch zu bedenken, ob die bisherige Praxis der leibseelischen großen Gesten in der Medizin – somatisch die »große Gabe von Arzneien«, »die heftige Erschütterungen des Koerpers bewirken«,38 seelisch der ›heftige Schreck‹ – nicht besser wohl dosierteren Maßnahmen weichen sollten. Diese in der Medizin bis ins 19. Jahrhundert hinein praktizierte Theatralik scheint dafür verantwortlich zu sein, daß therapeutisch die Beziehung zum Drama gepflegt wurde. Die körperlich oder seelisch erzeugten eleos und phobos sowie die durch sie bewirkte Katharsis war schon in Aristoteles’ ›Poetik‹ eine zugleich medizinische und moralische Konzeption. Diesen Zusammenhang wird das 19. Jahrhundert unter der Ägide eines Altphilologen, Jakob Bernays, erneut entdecken (Kap. V.3.4), vorbereitet durch das große Theater der Psychiatrie in seinen Anfangsjahren. Allerdings ist es auch richtig, daß sich über die Debatte der Psychiker und Somatiker die Psychiatrie im frühen 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin etabliert. Dies geschieht vorrangig an zwei Punkten: dem Dissens hinsichtlich der wissenschaftlichen Methodik und den daraus resultierenden Berufsprofilen der Therapeuten. Den einen gelten, wie Franz Ludwig Amelung als strikter Vertreter der somatischen Methode erklärt, nur »Physiologie«, die »Erfahrungen, welche uns die Beobachtung des kranken Menschen darbietet und die Resultate, welche wir aus den Ergebnissen der pathologischen Anatomie zu ziehen

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 51. F. Amelung, Zur psychiatrischen Klinik, S. 214. Johannes Müller deutet etwa zeitgleich die älteren ableitenden und auf die Haut wirkenden Therapien reflextheoretisch um, indem sie in ihrer Wirkung auf die Reflexzentren Rückenmark und Gehirn wahrgenommen werden, vgl. Handbuch der Physiologie, Bd. 1, S. 750ff. K. Großenbach, Die Patienten des großherzoglich-hessischen Landeshospitals Hofheim, S. 14. C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 26, 27.

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berechtigt sind«,39 als Erkenntnisquelle. Für eine Psychiatrie, deren Wissen sich aus dem täglichen Umgang mit Kranken speist, beanspruchte er das Attribut ›klinisch‹.40 Auch Friedrich Nasse kennt »keinen andern Weg als den der Erfahrung«. Es handele sich um die Feststellung von »bloßen Thatsachen, ohne Einmischung des Urtheils«; es gelte »Erfahrungsaetze« auf der Grundlage von Selbst- und Fremdbeobachtung, dem »unmittelbaren Vernehmen unserer eigenen Natur und aus den Erscheinungen an und außer uns« aufzustellen. In Abgrenzung zum spekulativen Ansatz der Psychiker wird angemerkt, es solle bei der neuen Wissenschaft von den Wechselwirkungen zwischen Leib und Seele nicht zuerst um Wesensbestimmungen gehen, sondern um die Untersuchung funktionaler »Beziehungen«. Ebenso wie Amelung hält auch Nasse den »Ertrag der Leichenoeffnungen«41 für ein unverzichtbares Mittel der Erkenntnisgewinnung, und diesem gleich gilt er als einer der ersten, der die Diagnostik am Krankenbett praktiziert und in seine Vorlesungen eingebracht hat. In seinem Beitrag aus dem Jahr 1837 plädiert er für eine Übertragung gängiger körperlicher Diagnosepraktiken auf die Seele. Er bezieht sich hier auf die Semiotik als Teildisziplin der Medizin. Diese wurde im 18. Jahrhundert als eine Lehre von den Krankheitszeichen gefaßt, die Kenntnisse über den Zusammenhang von Veränderungen des Pulses, des Blutes, des Stuhlgangs etc. und Krankheitsbildern vermittelt und so zentraler Bestandteil von Diagnose und Prognose ist.42 In einer moderneren Fassung des »semiotischen Verfahrens« versteht Nasse darunter die »Vergleichung der Bedeutung aller vorhandenen Facta der Anamnesis mit der Gegenwart«,43 also die Erfassung gegenwärtiger Symptome im Lichte einer detailliert protokollierten Krankengeschichte. Das 19. Jahrhundert wird dies in vielfältigen Varianten zur Methode der biographischen Erkenntnis ausgestalten.44 Eine

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F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 111. Vgl. K. Großenbach, Die Patienten des großherzoglich-hessischen Landeshospitals Hofheim, S. 13. Zur historischen Konstitution des klinischen Blicks immer noch maßgeblich ist M. Foucault, Die Geburt der Klinik. C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 2ff.; Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 5f., 8, 11. Auch im Fall Woyzeck wurde der Sektionsbericht zu einem wichtigen Beweisstück in der Debatte, s.u. Vgl. K. Pfeiffer, Medizin der Goethezeit, S. 36. Im Zedler ist zu lesen: »SEMIOTICA, Semiotick, Semiotic, oder besser zu reden, die Semiologie, Lat. Semeiotica, ist ein Theil der Medicin, welcher von den Zeichen der Kranckheit und Gesundheit handelt, und die Kranckheiten nicht nur wohl zu erkennen und zu unterscheiden, sondern auch dererselben Ausgang vernünftig zu beurtheilen lehret.« Ihre »Particular-Historie« handelt »z.E. vom Pulse, dem Urin [...], ferner von dem Stuhlgange, dem Blute, dem Schweisse, Speichel, der Zunge, dem Gesichte, den Nägeln«, J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 36 [1743], Sp. 1758, 1762. C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 7. Zum Begriff der biographischen Erkenntnis siehe M. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 323f., und s.u.

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Technik wird der Fragebogen bzw. das Patientenblatt sein, das auch eine statistische Erfassung ermöglicht. So führt Amelung Anfang der 30er Jahre in seiner Klinik Fragebögen ein, die »Personaldaten (Name, Stand, Herkunftsort, Konfession) und Körper- und Temperamentsmerkmale (Alter, Konstitution, Temperament, besondere Merkmale und Fähigkeiten)« erheben, dann »Entstehungsbedingungen und Erscheinungen der Krankheit […] (Dauer, Haupterscheinungen, auslösende Ursachen, Reden und Handlungen, sittliches Benehmen, somatische Erscheinungen)« aufnehmen und schließlich mit der »Einordnung des Falles in ein Diagnoseschema«45 enden. Für Nasse ist es im weiteren wichtig, daß sich diese neue induktive, erfahrungswissenschaftlich arbeitende Disziplin der ›Psycho-Somatologie‹ als Einzeldisziplin im arbeitsteiligen Feld der positiven Wissenschaften versteht. Dieses Wissenschaftsverständnis ist dezidiert gegen jenes der Psychiker formuliert, die die Lehre von den Seelenstörungen in ein umfassendes philosophisches System integrieren, so daß die Psychologie noch im Lichte einer Prima philosophia konzipiert ist. Nach Nasse gliedert sich die Einzeldisziplin der Psycho-Somatologie dann wiederum in zwei Teilbereiche. Der eine beschäftigt sich mit den leibseelischen Wechselwirkungen ausgehend vom Körper und integriert Physiognomik und Kranioskopie, also die von Franz Gall begründete Lehre von Schädelumfang und Lokalisierung von Seelentätigkeiten im Gehirn. Der andere, die Beziehung von der Seele aus untersuchende Teil befaßt sich mit der Differenzierung von bewußt/unbewußt und jener zwischen niederen und höheren Seelenvermögen. Wobei Nasse selbst bereits die Beobachtung festhält, daß die niederen Vermögen einen engeren Umgang mit dem Körper pflegen und individueller sind, während die höheren Vermögen vom leiblichen Unterbau abstrahieren können.46 Auch werden hier alte Analogievorstellungen von Seelenvermögen und Organen noch einmal bemüht: »Im Allgemeinen muessen wir es als richtig anerkennen, was schon die Alten von der Beziehung des Vorstellungs=, Gefuehls= und Begehrungsvermoegens zu Kopf, Brust und Bauch ausgesprochen haben.« Diese Analogie wird sogar als Schema für die Katalogisierung von Krankheiten genutzt: »Verruecktheit aus Kopf, Brust und Bauch; nach den Seelenverrichtungen: Verruecktheit in Beziehung auf das Vorstellungs=, auf das Gefuehls= und auf das Begehrungsvermoegen«.47 45 46 47

K. Großenbach, Die Patienten des großherzoglich-hessischen Landeshospitals Hofheim, S. 5. Vgl. C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 7ff., 23, 29. C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 24, 34. In Anschluß an Nasse referiert auch Amelung diese Analogie: »Sie gehen von der psycho-physiologischen Ansicht aus, dass das Gehirn der unmittelbare Sitz, oder das Organ der Intelligenz sey, daß die Nervengeflechte der Brust das Gefühlsvermögen vermittelten, während endlich das Begehrungsvermögen, oder auch das Willensvermögen sich hauptsächlich durch die Ganglien und Nervengeflechte des Unterleibs kund gäben.« F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 118.

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Mit diesem auf Erfahrung und Beobachtung begründeten Wissenschaftsverständnis verbindet sich bei Nasse dann auch das neue Berufsprofil der mit Seelenkrankheiten Beschäftigten. Zwar sind auch die alten, aus dem 18. Jahrhundert geläufigen Experten in Seelenfragen, der Geistliche und der Philosoph, also die »nichtaerztlichen Psychologen«, noch im Gespräch, aufgrund ihrer mangelnden somatischen Kompetenz scheiden sie jedoch aus dem Bewerbungsverfahren für die neue Disziplin aus. Nasse schreibt sogar den nichtärztlichen Psychologen die Schuld zu für die bislang vorherrschende Verdrängung des Leibes aus der Psychologie. Andererseits erscheinen auch die »gewoehnlichen Aerzte« mit ihrer »zu einseitig auf die Betrachtung des koerperlichen Lebens«48 beschränkten Sicht nicht hinreichend qualifiziert. Es gilt, einen neuen Berufsstand mit seelischleiblicher Doppelkompetenz zu begründen, eben die ›psychischen Ärzte‹, denen Nasse seine 1818 gegründete ›Zeitschrift fuer psychische Aerzte‹ widmet. Für solche Ärzte, die sowohl auf dem Gebiet der Seele als auch des Körpers genügende Kenntnisse aufweisen, bedarf es noch der Ausbildung. In den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts hat sich mit der Vorrangstellung der Psychiker und ihrer theoretischen Engführung von Psychologie und Theologie sowie der Ausbildung der Gerichtspsychiatrie die Lage verändert, so daß Nasse im Beitrag von 1837 nun auch Neues zum Berufsprofil sagt. Zum einen scheint der religiöse Rechtfertigungsdruck auf die Psychologen deutlich angestiegen zu sein, worauf er mit einem ironischpolemischen Glaubensbekenntnis auch im Namen seines Mitherausgebers Maximilian Jacobi kontert: »Nur auf die Erkenntniß der Wahrheit gerichtet, sollen die Untersuchungen […] fortgefuehrt werden […]. Es wird sich zeigen, ob aus sorgsamer Foerderung dieser Untersuchungen etwas Anderes hervorgehe, als was bereits auf anderem Wege fest steht; ob etwas Begruendetes dagegen sey, sich in der Lehre von dem Verhaeltniß zwischen Seele und Leib treu an das zu halten, was durch das Wort Gottes und darueber offenbart ist, zu welcher Offenbarung der Verfasser dieses Aufsatzes und sein auch zur Mitherausgabe dieser Zeitschrift ihm verbundener Freund freudig und, wenn es gefordert wird, zur Vertretung ihrer Ueberzeugung bereit, sich bekennen.« Und zum zweiten fordert das sich stetig erweiternde Feld der Gerichtspsychiatrie einige kritische Überlegungen über das Verhältnis heraus, worin Ärzte als »Anthropologen zum Staate stehen«. Denn der Forensik fehlen, laut Nasse, bislang die hinreichenden Kenntnisse über »psychisch=somatische Zustände« – dies wird insbesondere im näheren Blick auf die Woyzeck-Gutachten anschaulich. Und auch hinsichtlich der Kritik an der gerichtspsychiatrischen Praxis hat Nasse in diesem Beitrag u.a. die Psychiker im Visier, wenn er sich gegen »unnuetze hypothetisch=physiologische und metaphy-

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C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 12f., vgl. 20 und Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 28.

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sische Ausschweifungen« wendet bei der Entscheidung, ob es sich um »sittlich entartete« oder um »somatisch=psychisch« 49 Kranke handelt. Wenden wir uns nun den Psychikern und ihrer methodisch-wissenschaftlichen Ausrichtung zu. Ihnen ist die alleinige Konzentration auf die Empirie suspekt. So ist Heinroth in seinem ›Lehrbuch‹ der Überzeugung, »daß die Empirie für die Vollendung der psychischen Medizin nicht hinreiche«, und steht auch den Sektionen skeptisch gegenüber: »Auch lassen sich, nach der Ansicht des Verfassers, die Seelenstoerungen aus Leichenoeffnungen weder erklaeren, noch heilen; wovon hoffentlich dieses Lehrbuch selbst den Beweis fuehren wird.«50 Hier deuten sich im Gegeneinander von somatischer und psychischer Methode bereits Diskussionen an, die Wilhelm Dilthey am Ende des 19. Jahrhunderts in die Begrifflichkeit von erklärender versus verstehender Psychologie und im weiteren Natur- versus Geisteswissenschaften fassen wird. Nur wird dann die alleinige Konzentration auf die Erfahrung nicht mehr strittig sein – Dilthey teilt den metaphysischen Vorbehalt der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Psychologie gegenüber der alten idealistischen Psychologie. Die alleinige Anwendung von Physiologie und Anatomie wird ihm allerdings ebenfalls als unzureichend erscheinen und er wird auf eine hermeneutische Erweiterung der Psychologie drängen. Die Psychiker des frühen 19. Jahrhunderts verorten hingegen die Psychologie in einem größeren philosophischen, ja welthistorischen Kontext. Exemplarisch zeigt dies Heinroths ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens‹. Den theoretischen Rahmen seines ›Lehrbuchs‹ bildet eine Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins, die ganz deutlich Anleihen bei Hegels Systemphilosophie macht. Auch seine Überlegungen zum Leib-Seele-Verhältnis und, wenn man so will, zur psychosomatischen Fragestellung sind von diesem theoretischen Rahmen geprägt. So geht Heinroth zwar, wie oben zitiert, von der ›Unzertrennlichkeit von Leib und Seele‹ aus, kommt jedoch nichtsdestoweniger in seiner dem Hegelschen Dreischritt geschuldeten Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins dazu, von einer Position zu sprechen, von der aus die leibseelische Ganzheit des Menschen nicht als wahres, sondern nur als ein zu überschreitendes Sein angesehen wird. In dieser Entwicklungsgeschichte geht es nicht um die vorhandene Einheit von Leib und Seele, sondern um das Bewußtsein, das der Mensch von dieser Einheit hat. Und dieses Bewußtsein verändert sich nach Heinroth. Auf der ersten vom »Kind«, vom »rohen Menschen« oder vom »rohen Volk« eingenommenen Stufe, die als »Weltbewußtseyn« bezeichnet wird, erfaßt sich der Mensch als »blos Aeußeres, blos Object«, »ganz Sinn und sinnliches Wesen«, sein »Genuß ist sein Ziel, 49 50

C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 18f., 31f. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. VII. Zu Heinroth siehe H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 300f.; K. Dörner, Bürger und Irre, S. 255–262.

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und der Zufall seine Gottheit.« Der Mensch sei hier ganz seiner hedonistischen Körperlust hingegeben. Charakteristisch für die zweite Stufe ist der Verstand und sein Vermögen »Anschauungen zu Begriffen« zu verklären. Nun wird der »Wissende […] sich selbst zum Gegenstand; das Selbst des Menschen, vorher an der Welt haftend, faßt sich jetzt in sich selbst zum Ich.« Gegenüber der vorherigen Stufe handelt es sich dementsprechend nun um ein »Selbstbewußtseyn«, »in welchem [...] der Mensch sein ganzes Wesen, Leib und Seele zusammenfaßt, und dieses einige, unzertrennliche Ganze eben Ich nennt. So ist der Mensch Individuum.«51 Die ganzheitliche Selbstauffassung des Menschen ist also als eine phylo- wie ontogenetische historische Errungenschaft zu betrachten. Charakteristisch für den Hegelianismus ist das ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens‹ damit nicht allein Theorie, sondern zugleich eine historische Standortbestimmung in einer umfassenden Bewußtseinsgeschichte. Die zeitgenössischen LeibSeele-Debatten, die sich wissenschaftlich etablierende Anthropologie und Psychiatrie werden so elegant in das allumfassende idealistische Systemdenken integriert und als Vorstufe zu einer dritten, selbstredend vom Verfasser bereits erklommenen Stufe legitimiert. Es ist ebenfalls ein Markenzeichen des Hegelianismus, daß nicht mit einfachen Entgegensetzungen gearbeitet wird, sondern daß diese zweite Stufe die Körperlust der vorherigen in sich aufgehoben hat. Entsprechend können Leib und Seele nun als zwei gleichberechtigte Ansichten des Menschen definiert werden: »Das Innerliche unsers Wesens, unser Selbst als Inneres, nennen wir Seele, das Aeußerliche unseres Wesens, unser aeußeres Selbst, nennen wir Leib.« Der »aeußern Anschauung (im Raume)« entspricht der »Leib, der inneren (in der Zeit)« die »Seele«. Nach Heinroth verbleibt der »groeßte Theil der gebildeten Menschheit« auf dieser Bewußtseinsstufe eines »Wechselverhaeltni[sses] zwischen ihrem Ich und der Welt«. Und wo im vorangehenden die Gefahr des Hedonismus an die Wand gezeichnet wurde, so ist es jetzt der Egoismus: »Alles um des Ichs, um des Selbstseyns willen, ist das Gesetz dieser Stufe des Bewußtseyns.« Die dritte und im Systemdenken letzte Stufe wird auf dem Weg einer inneren »Entgegensetzung« erreicht, durch die Herausbildung des Gewissens, das zunächst als »bloßes inneres Gefuehl« die »erste Erscheinung« »des hoechsten Bewußtseyns«52 darstellt. Auch diese entwicklungsgeschichtliche Bedeutung des Gewissens ist aus Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹53 bekannt, denn auch dort ist das Gewissen Vorbote jener Gestalt, mit der nun Heinroth seine Geschichte beendet: »Die Vernunft ist das hoechste Bewußtseyn.« Sie ist »Sinn fuer das Unendliche, Unbeschraenkte, Ewige«. Das »Leben in der Vernunft« bedeutet ein 51 52 53

J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 4f. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 5ff. Vgl. das Kapitel ›Das Gewissen‹, in: G. W. F. Hegel, Die Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, S. 464–494.

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Leben in »Licht, und in der Liebe, das Leben im Heiligen, in Gott«, und eigentlich erst das wahre Leben, demgegenüber das Vorangehende als ein zu Überschreitendes gilt. »Vom Standpunkte der Vernunft aus erscheint das Welt= und Selbstleben zwar nicht als Scheinleben, (wie Viele wollen,) aber doch auch nicht als wahres Seyn, sondern nur als Werden, als Entwickelung«. Und natürlich sind in einem solchen Denken auf dieser letzten Stufe, der Körper, »Welt und Selbst nicht vergessen«, sondern aufgehoben. Waren die Forderungen des Weltbewußtseins der »Lebensgenuß«, des »Begriffs=Bewußtseyns oder des Ichs« das »Selbstseyn«, so geht die »Forderung des Gewissens« auf das »Nicht=Selbstseyn«. »Selbsthingabe«, »Liebe« und »Aufopferung, mit Hingabe des bisherigen Welt= und Selbstlebens«,54 das steht am Ende von Heinroths Entwicklungsgeschichte des Geistes. Mit »schmerzlicher Selbstverleugnung«55 läßt übrigens auch Ideler die psychologische und gesellschaftliche Entwicklung enden. Und dieses Ende befindet sich in auffälligem Einklang mit dem von Hegel und Goethe geführten Entsagungsdiskurs.56 Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit wird aus dieser Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins abgeleitet. Der zweiten Stufe entsprechend definiert sich Gesundheit als ein ganzheitlicher Zustand. Das »Gesundheitsgefuehl« ist »Leib und Seele umfassend«, und es gibt eine Wechselwirkung zwischen »Leibesgesundheit« und »Seelengesundheit«. Die Leibesgesundheit wird kurz und knapp noch einmal metaphorisch im Vokabular der Säftelehre umschrieben: »Leicht fließt sein Blut«. Ausführlicher widmet sich Heinroth dem, wie er konstatiert, bislang vernachlässigten seelischen Wohlbefinden oder seiner Abwesenheit. Wurde das höchste Bewußtsein zuvor als Überwindung von Welt- und Selbstbewußtsein gefaßt, so gilt dieser Moment der Befreiung nun als Charakteristikum der Gesundheit: »das Wesen der Gesundheit« ist »Freyheit«. Und dementsprechend wird Unfreiheit, die »Beschraenkung des Lebens« als Krankheit verstanden: »Ein menschlichkrankhafter Zustand also ist derjenige, wo sich der Mensch im Bewußtseyn mehr oder weniger beschraenkt findet; und folglich [...] ist jedes, nicht in Gewissen oder Vernunft aufgenommene Bewußtseyn, ein Bewußtseyn im krankhaften Zustande«. Alternativ zum Begriff der Krankheit wird für diese Zustände der Unfreiheit auch jener der »Sünde«57 verwendet. Es zeigt sich sehr schön, daß die zunächst einleitend ›philosophisch‹ erzählte Bewußtseinsgeschichte nun in einer zweiten Version in medizinischem und alternativ in theologischem Vokabular wiedergegeben wird. Heinroth hatte seine ärztliche Tätigkeit 1805 zwi-

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 10–13. K. W. Ideler, Grundriß der Seelenheilkunde [1838]. Bd. 1, zit. nach K. Dörner, Bürger und Irre, S. 268. Siehe hierzu M. Schmaus, Entsagung als ›Forderung des Tages‹. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 17, 21, 23f.

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schenzeitlich für ein Theologie-Studium in Erlangen unterbrochen, kehrte jedoch schon bald ernüchtert nach Leipzig zurück und forcierte dann eine akademische Karriere in der Medizin, insbesondere der Seelenheilkunde.58 Die erste und zweite Bewußtseinsstufe, das Leben »fuer die Welt« und »fuer das Ich«, erscheinen so als krank- oder sündhaft. Und den Bewußtseinsstufen gemäß lassen sich auch Krankheitsstufen ausmachen. Dem Weltbewußtsein entsprechen Krankheiten der »Leidenschaft«, also des Gemüts, dem Selbstbewußtsein ist der »Wahn« als »krankhafter Zustand« »des Verstandes« zugeordnet und schließlich folgt das »Laster«59 als Erkrankung von Vernunft bzw. Willen. Hegels dialektischer Dreischritt gibt so eine Möglichkeit für die Katalogisierung von Krankheiten ab, in die dann auch ältere etwa bei Reil zu findende Unterscheidungen des Wahnsinns in Melancholie, Blödsinn, Narrheit, Aberwitz etc. integriert werden können.60 Kennzeichen eines ›gesunden Willens‹ ist das Streben, die Aktivität, die sich in den verschiedenen Lebensaltern entweder im Spiel-, Schönheits- oder Freiheitstrieb zeigt. Demgegenüber bestimmt sich die »Seelenstoerung« als »gaenzliche Stockung, reiner Stillstand, ja als ein inneres Streben der zur hoechsten Entwickelung bestimmten Schoepferkraft nach dem Gegentheil, nach Selbstvernichtung«. Wenn das »Vermoegen zur Freyheit selbst untergegangen ist«, dann existieren die Individuen, laut Heinroth, »nicht mehr im Gebiete der Menschheit, welches das der Freyheit ist«. Sie sind »Maschinen, nur noch im leiblichen Leben durch die Gesetze des Lebens bestehend«. Am Fall des historischen Johann Christian Woyzeck kann gezeigt werden, daß Heinroth diese Gleichung von Gesundheit, Freiheit und Aktivität dazu verwenden wird, unzurechnungsfähige Handlungen aus dem Gebiet der Gerichtspsychiatrie fast gänzlich auszuschließen. Allenfalls Triebhandlungen werden zugelassen, in denen eben nicht mehr menschlich frei, sondern maschinell oder tierisch gehandelt wird. Im weiteren werden dauerhafte von vorübergehenden Zuständen der »Vernunftlosigkeit«, wie etwa Hypochondrie, Hysterie und Nachtwandeln gesondert. »Daurende Unfreyheit oder Vernunftlosigkeit, selbststaendig und fuer sich, sogar bey scheinbarer leiblicher Gesundheit, als Krankheit oder krankhafter Zustand bestehend, und das Gebiet 58 59 60

Ferd. Mor. Aug. Querl, Biographische Skizze, S. V-XVI, S. VII. Siehe auch A. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Bd. 2, S. 536ff. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 24, 26f., 29. Der Wahnsinn läßt sich folgendermaßen ausdifferenzieren: »Wenn daher das Gemueth im gespanntesten leidenschaftlichen Zustande gleichsam sich selbst entzogen wird und nur in der Welt seiner Traeume lebt, so gibt dies den Zustand des Wahnsinns. Wenn das in sich selbst zurueckgescheuchte Gemueth gleichsam an sich selbst nagt, so zeigen sich die Erscheinungen der Melancholie. Wenn der Geist in Ueberspannung aus seinem Kreise gerueckt ist, so erblikken wir mannichfaltige Gestaltungen der Verruecktheit, als: Wahnwitz, Aberwitz, Narrheit; zur gaenzlichen Nichtigkeit herabgesunken verliert sich der Geist in den Bloedsinn. Endlich, wenn der Wille aus seinen Schranken getreten ist, erscheint die Tollheit, deren reines Gegentheil die Willenlosigkeit ist.« J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 38.

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der Gemueths=Geistes= und Willens=Krankheiten umfassend, macht den vollstaendigen Begriff der Seelenstoerungen aus.«61 Ganz ähnlich liest sich auch die »psychologische Entwickelungsgeschichte des religioesen Wahnsinns« von Karl Wilhelm Ideler (1795–1860). Der Pfarrerssohn war Leiter der Irrenabteilung der Berliner Charité und von 1840 bis 1860 Direktor der dortigen neu errichteten psychiatrischen Klinik. Als ein enger Freund des Ministers von Altenstein, dem er auch seinen 1835 publizierten ›Grundriß der Seelenheilkunde‹ widmete, nahm Ideler Einfluß auf die institutionelle Entwicklung der Psychiatrie in Preußen. In seiner Entwicklungsgeschichte des religiösen Wahnsinns erscheint dieser als ein individual- wie gattungsgeschichtlich notwendiger, jedoch zu überwindender Moment des Selbstwiderspruchs des Geistes. Der religiöse Wahn als Wirkung einer im Menschen angelegten, aber ins Pathologische gesteigerten »Sehnsucht nach dem Goettlichen« stellt sich ihm so »als eine der großartigsten und maechtigsten Erscheinungen des Lebens dar.«62 Bei beiden Psychikern handelt es sich im Kontext des Idealismus um hochgradig intellektualisierte Krankheitsauffassungen, da sie – wie schon Hegels Gestalt der schönen Seele – in der Rechnung dieser Entwicklungsgeschichten als innere Entzweiung des Geistes Vorbote des höchsten Bewußtseins, der Vernunft sind. Sehr klar profiliert sich hier zugleich ein für den psychosomatischen Diskurs wichtiges Element heraus, nämlich die Auffassung der Krankheit als eines Verhaltens. Das »erkrankte Leben« ist »kein todter Stoff, dem der Arzt, als Kuenstler, wie der Bildhauer dem Marmor, eine beliebige Form aufdrucken kann, sondern es ist selbst Kraft«. Es folgt »seinen eigenen Gesetzen« und will »nach diesen Gesetzen behandelt seyn«. Ein allgemeiner »Kurplan«63 kann darum nicht aufgestellt werden. Die Krankheit ist aber nicht nur ein autonomes, sondern auch ein fortschrittliches Verhalten. Denn im Zerrbild der Krankheit wird bereits ihre Überwindung sichtbar. Das unterscheidet diese Wahrnehmung der Krankheit vom ›moral management‹ der Spätaufklärung, dem diese ja auch als Verhalten, wenn auch als moralisch anstößiges, im besten Fall zu unterbleibendes galt. Mit dieser dynamischen und geschichtsnotwendigen Krankheitsauffassung bereitet sich die von der Psychoanalyse ausformulierte vor: Krankheit ist eine Problemlösungsstrategie und sinnvolle Reaktion auf eine funktionelle Störung. Freud spricht dann auch von der Krankheit als ›Heilungsprozeß‹. In Idelers Lehre vom religiösen Wahnsinn hat die Krankheit nicht allein therapeutischen, sondern auch wissenschaftlichen Wert. Denn im Wahnsinn wird wie unter dem

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 35f., 41f., vgl. 33. K. W. Ideler, Der religiöse Wahnsinn, S. 21, 11. Zu Ideler siehe K. Dörner, Bürger und Irre, S. 266–273; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 301f.; A. Kreuter, Deutschsprachige Neurologen und Psychiater. Bd. 2, S. 562f. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 55f.

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»Mikroskop« die »innerste Seelenverfassung zur aeußeren, objectiv erkennbaren Erscheinung«, die »wesentliche Beschaffenheit« der Leidenschaften und »ihre psychologischen Verhaeltnisse« werden dort »im allergroeßten Maaßstabe zur Anschauung« gebracht.64 Auch dieses Verständnis der Krankheit wird in der Psychoanalyse wiederkehren, indem die Neurosen als überzeichnete und damit einzig erkennbare Oberfläche eines Seelenlebens aufgefaßt werden, das ansonsten in seiner Tiefenstruktur gänzlich fremd und unerkannt bliebe. Und es ist im weiteren festzuhalten, daß die von Heinroth und Ideler vorgenommene Engführung von Psychiatrie und Theologie im Namen einer durch und durch aufgeklärten Hegelschen Vernunftreligion geschieht. Religion und Theologie sind in dessen System letzte, nur von der Wissenschaft aufzuhebende Gestalten des Geistes. Es erscheint plausibel, daß sich die noch junge Wissenschaft der Psychiatrie dieser großen Erzählung zur eignen Legitimation bedient. Eine Psychiatrie dieses Zuschnitts geht ins Welthistorische und darum sind als mögliche Therapeuten nicht allein Ärzte im Gespräch, sondern auch »Geistliche«, »Philosophen« und »Erzieher«. Der ideale Psychiater wäre eine Personalunion aller vier Berufe. Der Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins gemäß muß er die dritte Stufe der Vernunft selbst erklommen haben, denn nur die Vernunft kann die Unvernunft erkennen und heilen. Der Psychiater verkörpert das Humanitätsideal. Denn der »psychische Arzt« ist laut Heinroth »wahrer Vernunftmensch. Er hat die Selbstsucht ueberwunden und handelt aus reiner Humanitaet.« Er wirkt auf den Kranken allein schon durch seine »heilige Gegenwart, durch die reine Kraft seines Wesens, durch die Kraft seines Blicks, seines Willens. […] Der Wille ist das Princip der Wunder, das Princip des Magnetismus. […] Sapere aude!«65 Konkreter hat Heinroth die Therapie der Unvernunft als Programm der Zurückerziehung beschrieben, das sehr deutlich mit der Etablierung eines bestimmten Machtverhältnisses arbeitet. Es geht darum, den Patienten dem Arzt »unterthan und zu eigen« zu machen. Als ädaquateste Methode wird die biographische Erkenntnis genannt. Die Individualität des Kranken gilt es zu berücksichtigen, seine »Neigungen und Gewohnheiten« zu erforschen, damit dann ein entsprechendes Trainingsprogramm über den Mechanismus von »Befriedigung« und »Nichtbefriedigung« dieser Bedürfnisse entwikkelt werden kann. Ein Beispiel ist etwa das Tabakschnupfen. »Befriedigung« sei »das beste Ermunterungs= und Aufregungs=Mittel, die Nichtbefriedigung aber eines der besten Baendigungs=Mittel«. Es handelt sich also um eine frühe Form der behavioristischen Therapie. Mit der »genauen Kenntniß der individuellen 64

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K. W. Ideler, Der religiöse Wahnsinn, S. 20, 13. Für Dörner geht Ideler aufgrund solcher Auffassungen und seiner triebpsychologischen Theorie als Vertreter einer »Art soziologische[n] Psychiatrie« in die Geschichte ein, die in Deutschland keine Fortsetzung gefunden hat, K. Dörner, Bürger und Irre, S. 266. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 44f., 49f.

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Lage der Kranken«, über berufliche Erfolge, Mißerfolge, Familienstand etc. habe man, so frohlockt Heinroth, »das wahre Steuerruder zur Lenkung aller Kranken in die Hand bekommen«.66 Mit diesem Trainingsprogramm, in dem es darum geht, sich den Patienten Untertan zu machen, hat Hegels Herr-Knecht-Dialektik eine pragmatische Anwendung erfahren, ohne allerdings, daß dem Patienten vergleichbar gute historische Aussichten gestellt wären, wie Hegels Knecht. Was Foucault als Mechanismus biographischer Erkenntnis im 19. Jahrhundert beschrieben und vor allen Dingen an Pinels Anstaltsreform in Frankreich aufgezeigt hat, ist auch in der frühen deutschen Psychiatrie zu finden. Und so wie Benthams Panopticon als ideale architektonische Realisierung des mit Pinels Reform anvisierten Zugriffs auf die Patienten – die ständige Beobachtung – erscheint, so hat auch der Hegelianismus in der Psychiatrie bis in die architektonische Planung von Irrenanstalten hineingewirkt. Christian Friedrich Roller begründete seine Konzeption einer verbundenen Heil- und Pflegeanstalt mit Hegels dialektischem Dreischritt von These, Antithese und Synthese.67 Die von Heinroth praktizierte biographische Erkenntnis ist jedoch nicht allein machttheoretisch auswertbar, sondern sie macht ihn auch zum Wegbereiter der »Verstehenspsychologie«, indem hier erstmals im Kontext der wissenschaftlichen Medizin »zwischen Krankheit und Lebensgeschichte die enge Brücke des Verstehens«68 geschaffen wird. »Der Lebenslauf des Menschen ist die Geschichte seines Seelenlebens, und aus diesem Lebenslaufe entwickeln sich, wenn er abnorm ist, die Seelenstoerungen«,69 schreibt Heinroth. Die Krankheit erscheint so, wie es sein Weggenosse Ideler auf den Punkt bringt, als »Ergebnis aller vorausgegangenen Lebenszustände und ihrer Verhältnisse zur Außenwelt«.70 Bei der Kontroverse ›psychisch-somatisch‹ oder ›somatisch-psychisch‹ handelt es sich also um eine Debatte, die in wichtigen Punkten Übereinstimmungen aufweist, nämlich bei der Wechselwirkung von Leib und Seele, bei Krankheitsursachen, Symptomen und Therapien. Bei wenigen, jedoch markanten Aspekten, dem Wissenschafts- und Berufsprofil, sind allerdings deutliche Abweichungen zu verzeichnen. Auf die Frage ›Was bleibt?‹ gehen scheinbar die Somatiker als alleinige Sieger aus der Kontroverse hervor. Ihr Verständnis von Anthropologie, Psychologie und Medizin, das exakte, erfahrungswissenschaftliche Arbeiten auf dem Hintergrund diversifizierter positiver Wissenschaften wird 66

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 43f. Auch für Ideler gehören die Kenntnisse über das »fruehere und gegenwaertige Leben der Geisteskranken« zum Hauptinstrument der wissenschaftlichen Forschung, Der religiöse Wahnsinn, S. 12. Vgl. D. Jetter, Grundzüge der Geschichte des Irrenhauses, S. 37ff. W. Leibbrand, Die spekulative Medizin der Romantik, S. 302. J. C. A. Heinroth, Zusätze, S. 568. K. W. Ideler, Grundriß der Seelenheilkunde [1838]. Bd. 2, S. 355, zit. nach K. Dörner, Bürger und Irre, S. 272.

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das 19. Jahrhundert prägen. Die Psychiker und ihr ideengeschichtlicher Kontext von Hegelianismus und Naturphilosophie rufen hingegen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nur noch Häme hervor. Das von ihnen praktizierte entwicklungsgeschichtliche Denken wird jedoch, nachdem es durch Darwins Evolutionstheorie – die von deutscher Naturphilosophie nicht unbeeindruckt ist –71 erfahrungswissenschaftlich salonfähig gemacht wurde, um 1900 erneut an die diskursive Oberfläche treten in Gestalt von Nietzsches Genealogie, in der Psychoanalyse und der verstehenden Psychologie.

IV.2. Der Fall Woyzeck. Eine psychosomatische Debatte in der Forensik Über einen Seitenzweig, die Gerichtspsychiatrie, erreicht die Psychiatrie im 19. Jahrhundert eine über den Expertenkreis hinausgehende breitere Öffentlichkeit. Mit der Frage der Willensfreiheit bzw. der Zurechnungsfähigkeit erhält sie neben dem medizinischen ein juristisches Anwendungsfeld, das ihre Tätigkeit in den Gerichtsprozessen und vor allen Dingen bei den noch immer öffentlichen Hinrichtungen einem größeren Publikum bekannt macht. Durch das öffentliche Spektakel der Hinrichtung verschafft sich die Gerichtspsychiatrie gleichsam eine theatralische Legitimation. Dies jedenfalls suggeriert die Rhetorik des Gutachtens im Fall des Johann Christian Woyzeck. Im Vorwort seines Gutachtens ruft Johann Christian August Clarus seine Leser und das mögliche Publikum der Hinrichtung dazu auf, die Todesstrafe in einer dem antiken Drama analogen Rezeptionshaltung wahrzunehmen. Eleos und phobos, »Mitleiden« für den Mörder und »Schreckliches«, würden auch im Justizdrama zugunsten eines Höheren, der »unverletzlichen Heiligkeit des Gesetzes«, evoziert und sollen der Katharsis im Sinne Lessings, also der moralischen Läuterung des Publikums dienen: Mögen daher alle, welche den Unglücklichen zum Tode begleiten oder Zeugen desselben sein werden, das Mitgefühl, welches der Verbrecher als Mensch verdient, mit der Überzeugung verbinden, dass das Gesetz, zur Ordnung des Ganzen, auch gehandhabt werden müsse und dass die Gerechtigkeit, die das Schwert nicht umsonst trägt, Gottes Dienerin ist. – […] Möge die heranwachsende Jugend bei dem Anblicke des blutenden Verbrechers oder bei dem Gedanken an ihn sich tief die Wahrheit einprägen, dass Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit, ungesetzmässige Befriedigung der Geschlechtslust und schlechte Gesellschaft ungeahnt und allmählich zu Verbrechen und zum Blutgerüste führen können. – Mögen endlich alle mit dem festen Entschlusse von dieser schauerlichen Handlung zurückkehren: Besser zu sein, damit es besser werde.72

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Darwin beruft sich explizit auf Goethe, siehe: Über die Entstehung der Arten, S. 3, 168f. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 76, 78.

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Insbesondere die Wendung von der ›schauerlichen Handlung‹ insinuiert einen dramatischen Bezugsrahmen, in dem dann auch die eigene gutachterliche Tätigkeit gerechtfertigt wird. Neben der oben erwähnten philosophisch-theologischen Beglaubigung durch Hegels Systemphilosophie bietet sich im Drama die zweite große Möglichkeit einer ideengeschichtlichen Absicherung für die noch junge Wissenschaft der Psychiatrie. Mit dem Spektakel der Hinrichtung wendet sich die Untersuchung dem Moment zu, an dem die psychosomatische Fragestellung unter dem Vorzeichen der Zurechnungsfähigkeit justitiabel wird. Neben den in psychiatrischen Zeitschriften veröffentlichten Fallgeschichten entsteht mit dem gerichtspsychiatrischen Gutachten ein neues Genre der Berichterstattung. Die Erzählung der Lebens- als Krankengeschichte wird in diesem Genre um Informationen zum Tathergang, aus Vernehmungsprotokollen und zum Betragen des Delinquenten während der Haft und der Befragung ergänzt: ›Bei Durchsicht der Akten‹, ›Bei der Untersuchung des Inquisiten‹73 lauten die entsprechenden Kapitelüberschriften bei Clarus. Schließlich werden Positionierungen in Hinblick auf das Krankheitsverständnis und die psychiatrische Ausrichtung vorgenommen. »Das Gattungsschema der Zurechnungsgutachten gehorchte damit jener heuristischen Doppelschrittigkeit von ›Empirie‹ und ›Theorie‹, an der sich die Diskurs-, Erkenntnis- und Stilregeln der innovativen Publikationspraxis zu orientieren hatten.«74 Und am Ende steht nicht allein die Diagnose zurechnungsfähig oder nicht und ihre Begründung, sondern damit oft genug auch die Entscheidung über Leben oder Tod des Inhaftierten. Der Woyzeck-Gutachter Clarus spricht dementsprechend machtbewußt von einer »Leben und Tod entscheidenden Untersuchung«.75 Die Debatte zwischen den Psychikern und Somatikern, die in medizinischer Hinsicht als ein theoretischer Dissens ohne therapeutische Auswirkungen skizziert wurde, erhält nun mit der Justiz ein Anwendungsfeld mit letalen Konsequenzen. Die gerichtspsychiatrische Debatte um den Fall Woyzeck zeigt dies eindrücklich. Die wichtigsten Eckdaten zum Prozeßverlauf seien hier angemerkt.76 Am 2. Juni 1821 ersticht der 41jährige entlassene Soldat und arbeitslose Friseur Johann

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Auf diese theatralische »Besserungsästhetik« hat schon Poschmann aufmerksam gemacht, Georg Büchner, S. 281. Von einem »ernsten Schauspiele« spricht auch ein Prediger bezüglich Woyzecks Hinrichtung zit. nach H. Mayer, Georg Büchner Woyzeck, S. 143. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 82, 91. P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 253. Für die weite Verbreitung dieser (natur-)wissenschaftlichen Publikationsstandards gibt auch Büchners Dissertation über das Nervensystem der Flußbarben ein Beispiel ab, die ebenfalls in einen ›beschreibenden‹ und einen ›philosophischen Teil‹ untergliedert ist, s.u. und Ludwig, ebd., S. 121–130. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 77. Ausführlich siehe hierzu: J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 79–82; U. Walter, Der Fall Woyzeck; Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 161–166; G. Büchner, Woyzeck. Bd. 7.2, S. 350– 354.

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Christian Woyzeck seine zeitweilige Geliebte Johanna Christiane Woost. Auf Antrag der Verteidigung wird der Leipziger Stadtphysikus Hof- und Medizinalrat Johann Christian August Clarus (1774–1854) mit einer psychologischen Begutachtung des Angeklagten betraut. Nach fünf Gesprächen mit Woyzeck legt Clarus am 16. September ein Gutachten mit dem Ergebnis vor, er habe kein Merkmal gefunden, »welches auf das Daseyn eines kranken, die freye Selbstbestimmung und die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden, Seelenzustandes zu schließen berechtige.«77 Nachdem Sachverständige Bedenken gegen das am 11. Oktober 1821 verhängte Todesurteil äußerten, wird das Verfahren 1822 wiedereröffnet und Clarus mit einem zweiten Gutachten beauftragt, das Woyzeck erneut für zurechnungsfähig erklärt. Aufgrund dieses Gutachtens wird Johann Christian Woyzeck am 27. August 1824 öffentlich auf dem Marktplatz von Leipzig hingerichtet. Seit 1790 hatte man in dieser Stadt keine Hinrichtungen mehr vorgenommen.78 Clarus’ zweites Gutachten war in Gestalt einer behördlich genehmigten Publikation 1824 gleichsam als Flugschrift zur Hinrichtung veröffentlicht worden. 1825 wurde es dann erneut in der renommierten ›Zeitschrift für die Staatsarzneikunde‹ von Adolph Henke publiziert. Dieses zweite Gutachten wurde zum Ausgangspunkt einer regelrechten Woyzeck-Debatte, in der sich Psychiker und Somatiker, liberale und restaurative Justiz gegenüberstanden.79 Clarus selbst läßt sich weder der somatischen noch der psychischen Seite zuordnen, aus seinen Gutachten geht jedoch das deutliche Interesse an einer Einschränkung der in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts liberal gehandhabten Regelung der Unzurechnungsfähigkeit hervor. So argumentiert er in beiden Gutachten minutiös gegen die psychiatrisch neu erfaßten Krankheitsbilder eines partiellen Wahnsinns oder vorübergehender Wahnzustände. Schon seit der Antike verzeichnen Gesetzestexte Ausnahmefälle für Verbrechen sogenannter ›Rasender‹ oder ›Wahnsinniger‹. Allerdings war die Unzurechnungsfähigkeit auf dauerhafte Zustände von Geistesstörung beschränkt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts führt Philippe Pinel in seinem ›Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou la manie‹ das Krankheitsbild einer ›manie sans délire‹ ein, zu deutsch etwa »Wuth ohne Verkehrtseyn des Verstandes«,80 also einer

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J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 148. Darauf verweist Clarus in seinem Vorwort, vgl. Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 76. Zum folgenden siehe: Büchner I, 714–729 (Kommentar); Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 167–177; G. Büchner, Woyzeck. Bd. 7.2, S. 333–349; G. Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner, S. 10–19, 45–49, 55–58. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 499. Pinels Definition der Manie ohne Delirium lautet: »Keine in die Augen fallende Veränderung der Verstandesverrichtungen, der Perception, der Urtheilskraft, der Einbildungskraft, des Gedächtnisses etc. kommt dabey vor: wohl aber Verkehrtheit

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Aufhebung der Willensfreiheit bei intakter Verstandestätigkeit. Da eine eindeutige körperliche Symptomatik fehlt, stellt diese Diagnose die Psychiater vor eine besondere Herausforderung, die vor allem zu einer Ausdifferenzierung der biographischen Erkenntnis führt. Leibseelische Einzelheiten aus dem Leben des Patienten, sein beruflicher Werdegang, sein soziales Umfeld, die Erziehung, bisherige Krankheiten und Symptome müssen in Erfahrung gebracht werden, damit entschieden werden kann, ob in dieser Lebensgeschichte Vorboten für eine Krankheit zu finden sind, die sich in einem manischen Anfall ausdrücken, in kurzfristigem abweichenden Verhalten ohne faßbares körperliches Substrat. Bis zur Mitte des Jahrhunderts bildet die Maniediskussion ein wichtiges Feld für die Professionalisierungsbestrebungen der Psychiatrie, einerseits gegenüber der Medizin, indem die Relevanz psychischer Ärzte an diesem somatisch unklaren Krankheitsbild aufgezeigt wird, andererseits gegenüber den Juristen, indem die Manie ohne Delirium als legitime Krankheit in bezug auf Unzurechnungsfähigkeit vor Gericht Bestand haben und mit ihr auch die Psychiater als Gutachter Anerkennung finden sollen. Ernst Platner beschreibt mit der ›amentia occulta‹ (›verborgene Seelenstörung‹)81 eine weitere Form der Partialerkrankung. Diese Fortschritte in der wissenschaftlichen Wahrnehmung von Seelenstörungen schlagen sich auch im Strafrecht des frühen 19. Jahrhunderts nieder, das neben den dauerhaften nun auch die vorübergehenden Zustände der Erkrankung berücksichtigt. So sollten im Königreich Hannover 1824 neben Personen, »welche durch allgemeinen oder besondern Wahnsinn des Verstandesgebrauchs völlig beraubt sind«, auch solche als unzurechnungsfähig gelten, die »durch Anfälle der Raserei, (Manie) wider ihren Willen zu gewaltthätigen Handlungen hingerissen wurden«.82 Der leibseelische Umfang ebenso wie die zeitliche

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in den Willensäußerungen, nämlich ein blinder Antrieb zu gewaltthätigen Handlungen, oder gar zur blutdürstigen Wuth, ohne daß man irgend eine herrschende Idee, irgend eine Täuschung der Einbildungskraft, welche die bestimmende Ursache dieses unglücklichen Hanges wäre, angeben kann«, P. Pinel, Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie, S. 166. Mit Bezug auf Pinel befaßt sich Reil ausführlich mit diesem Krankheitsbild vgl. Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 387–395. Zur Maniediskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts siehe auch D. Kaufmann, Aufklärung, bürgerliche Selbsterfahrung und die ›Erfindung‹ der Psychiatrie in Deutschland, 1770–1850, S. 317–325; G. Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner, S. 15ff., und zu Franz Joseph Galls ManieKonzept: S. Oehler-Klein, »Der Sinn des Tiegers«. Vgl. E. Platner, De amentia occulta. Zit. nach J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 250. Die Rechtspraxis des 18. Jahrhunderts dokumentiert der Art. ›Unsinnig, rasend, wahnwitzig, verrueckt, tobsuechtig‹ im Zedler: »ein wahrhaftig Rasender« könne, »weil er keine Vernunft hat, und demnach auch nicht des Betrugs faehig ist, gar kein Verbrechen begehen« und folglich auch im Falle von Mord »weder mit der ordentlichen, noch einer außerordentlichen Straffe belegt werden«, Bd. 49, Sp. 2017–2044, Sp. 2035f.

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Dauer der Erkrankung standen in den gerichtspsychiatrischen Debatten der Zeit also in Frage. Clarus’ zweites Gutachten eröffnet nach einer Phase der Liberalisierung zu Beginn des Jahrhunderts gleichsam eine restaurative Wende in der Gerichtspsychiatrie83 sowie der Fall Woyzeck insgesamt eine solche im Strafrecht einleitet. Clarus ist dezidiert daran gelegen, die seiner Meinung nach lasche Handhabung der Unzurechnungsfähigkeit insbesondere in Hinblick auf Partialerkrankungen einzuschränken. Es geht ihm darum, eine klare »Grenze der Zurechnungsfähigkeit« festzuhalten, damit die »gerichtliche Medizin« sich nicht in »endlose Verwirrungen verlier[t] und zum Deckmantel aller und jeder Verbrechen herabgewürdigt« wird. Und so wendet er sich explizit gegen das von Platner zuerst eingeführte Konzept partiellen Wahnsinns, die amentia occulta, das wegen seiner unklaren Symptomlage für die gerichtliche Anwendung dringend einer Revision bedürfe. Die stille Wut sei nur unter bestimmten somatischen Umständen, nämlich etwa in »Entwicklungsperioden [...] der Mannbarkeit« oder im Jugendalter zu diagnostizieren, wenn der Verstandesgebrauch noch nicht voll ausgebildet sei. Und schließlich sei ein legitimes Symptom des partiellen Wahnsinns, d.h. eine »Übermacht ungewöhnlicher [...] Anreizungen«, nur in Handlungen zu sehen, die sich gegen die »gewöhnlichen egoistischen Motive« wenden. Als Beispiel gibt er die schon aus Moritz’ Magazin bekannten Fälle indirekter Selbstmörder an, wenn »ein Schwärmer einen Mord begeht, um hingerichtet zu werden und desto seliger zu sterben.«84 Und Clarus’ Gutachten war eines, das schnell Schule machte, worauf uns sowohl dieser selbst als auch der Verfasser eines Überblicksreferats über die Woyzeck-Schriften ausdrücklich hinweist: »Wir bemerken zu kuenftiger Beachtung hier, daß die medicinische Fakultaet, welche das Gutachten des Herrn Hofraths Clarus bestaetigte und sich zugleich gegen Zulaessigkeit eines zweiten Arztes bei Untersuchung zweifelhafter Seelenzustaende aus Gruenden! erklaerte, die so eben aufgestellten Grundsaetze zur Bestimmung der Faelle, wobei allein ein blinder Antrieb zu verbrecherischen Handlungen anzunehmen sey, geeignet fand, bei Untersuchung und Bestimmung aehnlicher Faelle als Norm zu dienen.«85 Bereits im selben Jahr antwortet der somatisch orientierte ›Landgerichtsphysicus zu Bamberg‹ Carl Moritz Marc mit seiner Schrift ›War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig?‹ kritisch auf Clarus. Diesem springt wiederum der profilierte Psychiker Hein-

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Thomas Henkelmann verweist auf eine entsprechende vom Psychiater Albrecht Meckel 1820 veröffentlichte Statistik, derzufolge bei in den letzten 40 bis 50 Jahren dokumentierten 42 Fällen nur zweimal ›zurechnungsfähig‹ plädiert wurde, vgl. Der Arzt und Dichter Georg Büchner, S. 95. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 112, 117. B. H. G., (Die Streitschriften von Clarus, Marc und Heinroth), S.142f.; vgl. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 124f.

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roth mit einer Verteidigungsschrift ›Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift‹ (1825) zur Seite, in der er zugleich seine Lehre von den Seelenstörungen in gerichtspsychiatrischer Anwendung zeigt. Ebenfalls im selben Jahr veröffentlicht er sein ›System der psychisch=gerichtlichen Medizin‹. Auf Heinroths scharfe Polemik reagiert Marc wiederum mit einer Erwiderung ›An Herrn Dr. und Professor J. C. A. Heinroth in Leipzig, als Sachverwalter des Herrn Hofrathes Dr. Clarus‹ (1826). Es entspinnt sich also ein regelrechter Woyzeck-Diskurs, der auch noch von diversen Rezensionen und einem Sammelreferat flankiert wird. Zunächst überwiegen die Clarus-Befürworter. Stellvertretend für sie spricht der renommierteste Gerichtspsychiater seiner Zeit, Adolph Henke, wenn er in der Hochphase der Debatte Clarus’ erstes Gutachten zum Fall Woyzeck in seiner ›Zeitschrift für die Staatsarzneikunde‹ publiziert und im Nachwort konstatiert: »Der Herausgeber wiederholt hier nur zum Schluß sein früher ausgesprochenes Urtheil, daß die Gutachten des Herrn H. Clarus zu den ausgezeichnetsten und gründlichsten gehören, die wir in diesem Fache besitzen und daß er Demselben in allen wesentlichen Punkten, die bei dem vorliegenden Falle die Entscheidung leiten und bestimmen konnten, vollkommen beipflichte.«86 In den 30er Jahren mehren sich die kritischen Stimmen zum Woyzeck-Urteil und Friedreich spricht 1835 in seinem ›Handbuch der gerichtlichen Psychologie‹ schließlich sogar von einem »schauderhaften Justizmord«.87 Im Streitfall Woyzeck profilieren sich zwei einander überschneidende Themenkomplexe. Mit den Schriften von Marc und Heinroth entwickelt sich die Auseinandersetzung zu einer somatisch-psychischen Grundsatzdebatte, bei der der Zusammenhang und die Wechselwirkung von Erkrankungen des Körpers und der Seele zur Disposition stehen. Und zugleich sind es die spezifischeren Krankheitsbilder von psychischen Partialerkrankungen und ihre möglichen Konsequenzen hinsichtlich der Frage der Zurechnungsfähigkeit, die zu einer grundsätzlichen Verhandlung über die Willensfreiheit führen.

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J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 149. Siehe auch Julius Eduard Hitzigs emphatische Zustimmung zu Clarus und Heinroth, die der Gefahr entgegenträten, daß »eine bereitwillige gerichtliche Arzneikunde noch jeden Affect zum Wahnsinn umstempelt«: »Mögen Männer, wie Clarus und Heinroth mit dem flammenden Schwerte […] fortfahren, in diesem Felde aufzuräumen«, Vorrede. In: ders., Criminal-Rechts-Pflege 2 (1826), H. 4, S. I-VIII, VII, zit. nach P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 249f. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 300. Friedreich urteilt weiter: »Wer die, über diesen Unglücklichen gepflogenen Verhandlungen genau prüft, wird keine Zurechnungsfähigkeit […] finden.« S. 299f. Das Diktum ›Justizmord‹ wiederholt noch der Psychiater Johann August Schilling in seinem Beitrag ›Die Zurechnungsfähigkeit oder Verbrechen und Seelenstörung vor Gericht‹ (1866), vgl. G. Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner, S. 46.

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IV.2.1.

Die Clarus-Gutachten

Clarus’ erstes Gutachten ist in zwei Teile geteilt und hält sich offensichtlich an ein gutachterliches Standardverfahren. Den ersten Teil bilden die Aussagen des Inquisiten Woyzeck, die dieser auf einen allgemeinen, »nach Anleitung des allergnädigen Generalis vom 29. Juni 1810, bei der Untersuchung gemüthskranker Personen«88 anzuwendenden Fragenkatalog gibt. Hierbei handelte es sich um eine von der für die »Besorgung der allgemeinen Armen=, Waisen= und Zuchthäuser« zuständigen »Kommission« erlassene Verordnung, die nicht auf die juristische Zurechnungsfrage zugeschnitten war, sondern die die »sorgfaeltigen Anzeigen ueber den Zustand melancholischer Personen« bei der Einweisung in öffentliche Anstalten strukturieren sollte. Das Reskript gibt ein Begutachtungsprocedere vor, in dem es etwa nicht ausreicht, eine »angebliche Gefaehrlichkeit« der betreffenden Person zu konstatieren, sondern es werden eine vom vereidigten Stadtphysikus durchzuführende Untersuchung des »Gemueths= und koerperlichen Zustandes des Kranken« und entsprechende Vernehmungen und Zeugenaussagen gefordert. Mit diesen Vorgaben war allerdings eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen der Aufnahme eines Kranken ins Armen- oder Irrenhaus und dessen gerichtspsychiatrischer Begutachtung gegeben, die Clarus die Übertragung erlaubte. Der Katalog schließt Fragen nach der »Gattung von Geisteszerruettung« und dem konkreten Krankheitsverlauf ein, nach dem »Zusammentreffen innerer Anlagen und aeußerer Veranlassungen«, durch die »sich wahrscheinlich die Krankheit erzeugt und entwickelt«89 hat. Damit rückt auch die Herkunft des Befragten, Familie und Eltern, deren sozialer Stand und das Vorkommen von Krankheiten, im besonderen Gemütskrankheiten in der Familie in den Blickpunkt, wobei Woyzeck zu Protokoll gibt, daß seine beiden Eltern früh an Auszehrung gestorben sind. Im weiteren ist mit der ›äußeren Veranlassung‹ das soziale Umfeld und der Werdegang von Interesse. Der Fragenkatalog zur Einweisung melancholischer Personen provoziert eine detaillierte biographische Erkenntnis, indem nicht nur »angeborne« Anlagen, »sondern auch die, waehrend der Entwickelung der geistigen und koerperlichen Faehigkeiten und Kraefte von der Kindheit an bis zum Ausbruch der Krankheit durch aeußere Umstaende erzeugten Dispositionen sorgfaeltig zu erforschen und aufzufuehren« sind. Woyzeck äußert sich dementsprechend zu Erziehung, Schul- und Berufsausbildung, wobei auch die Frage von Züchtigungen eine Rolle spielt – was der Befragte verneint.90 Er erzählt von einem immer 88 89

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J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 134. Reskr. (an saemmtliche Beamten), die sorgfaeltigen Anzeigen ueber den Zustand melancholischer Personen betr., vom 29. Juni 1810. In: Karl Gustav Schmalz, Die Königl. Sächsischen Medizinal=Gesetze älterer und neuerer Zeit, S. 436–441, S. 436–439. Auf das Reskript hat bereits Rüdiger Campe aufmerksam gemacht, Johann Franz Woyzeck, S. 217. Das Reskript verzeichnet Fragen nach »harter Behandlung« in Rücksicht auf den Geisteszustand und nach körperlichen »Mißhandlungen«, Reskr. (an saemmtliche Beamten), die sorgfaeltigen

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wieder von Arbeitslosigkeit geprägten Erwerbsleben, zunächst als Perückenmacher-Lehrling, dann als Bediensteter und schließlich als Soldat in holländischen, schwedischen, mecklenburgischen und preußischen Diensten. »So lange er Soldat gewesen, habe er es überall sehr gut gehabt, sich zur Zufriedenheit seiner Obern aufgeführt und niemals Regimentsstrafe, oder auch nur einen Schlag bekommen«, berichtet der Inquisit. Nach seinem freiwilligen Ausscheiden aus dem Militär kehrt Woyzeck nach Leipzig zurück, wo er sich als Bediensteter und durch Schneider- und Papparbeiten u.a. bei einem Juden durchschlägt, vor der Tat allerdings seit längerem arbeits- und obdachlos ist. Mit der dritten Frage nach einzelnen ›gefaehrlichen« Handlungen und deren Beurteilung: »waren sie in der Krankheit unmittelbar begruendet, oder vielmehr Folgen zufaelliger momentaner Veranlassungen«, berührt das Reskript Zurechnungsfragen im engeren Sinne und fördert den Blick auf einzelne Episoden des Lebens. Im ersten Gutachten beschränken sich die Informationen noch weitgehend auf die eine gefährliche Handlung, den Mord an der Woostin und den besonderen Tathergang. Das zweite Gutachten widmet sich dann ausführlich weiteren Episoden aus Woyzecks Leben, etwa ›Ueber den Vorfall am Schloßberge in Graudenz‹ oder ›Zu Erläuterung des Auftritts mit Warnecke‹, wobei Clarus jeweils die Krankheit als Ursache zugunsten der ›momentanen Veranlassung‹ ausschließt. Ganz nach Vorschrift beendet Clarus die erste Vernehmung Woyzecks, indem er einen Fragenkatalog nach bisherigen körperlichen Krankheiten, »besonders Kopfverletzungen«, »Ausschlage und Geschwuere, versetzte Gicht, Hamorrhoiden, Wuermer, Entkraftung durch Verlust von Saeften, durch Ausschweifungen im Trunke oder in der Wollust«91 abarbeitet. Dieser gibt an, Würmer und Krätze, aber keine Kopfverletzungen, Hämorrhoiden, Gicht, Flechten oder Krämpfe gehabt sei zu haben. Er sei »etwas vollblütig« und seit seinem 30. Lebensjahr sei er manchmal »sehr ärgerlich und ›desperat‹ gewesen, ohne dass ihm Jemand etwas zu Leide gethan.« Bisweilen, manchmal täglich, sei er in »gedankenlosen Zuständen«, höre nichts und könne sich später nicht mehr an seine Tätigkeiten erinnern. Jemand habe darum einmal zu ihm gesagt: ›Du bist verrückt und weißt es nicht.‹«92 Im Fragenkatalog des Reskripts zur Einweisung melancholischer Personen, der den ersten Teil des Clarus-Gutachtens strukturiert, zeigt sich eine grundlegende Problematik des psychosomatischen Diskurses, die dann in der weite-

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Anzeigen ueber den Zustand melancholischer Personen betr., vom 29. Juni 1810. In: Karl Gustav Schmalz, Die Königl. Sächsischen Medizinal=Gesetze älterer und neuerer Zeit, S. 436– 441, S. 439, 440. Vgl.: »Blessuren oder andere zufällige Verletzungen, namentlich am Kopfe, habe er nie erlitten«, J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 142. Reskr. (an saemmtliche Beamten), die sorgfaeltigen Anzeigen ueber den Zustand melancholischer Personen betr., vom 29. Juni 1810. In: Karl Gustav Schmalz, Die Königl. Sächsischen Medizinal=Gesetze älterer und neuerer Zeit, S. 436–441, S. 440. J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 134, 137, 142, 148, 143.

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ren Woyzeck-Debatte und insbesondere in Georg Büchners Dramenfragment ausgetragen wird. In Konturen zeichnet sich ein dynamisches Krankheitsverständnis ab, das die leibseelische Verfassung an die Biographie des Einzelnen sowie sein soziales Umfeld koppelt. Krankheits- und Lebensverlauf werden in Analogie gesetzt und in Abhängigkeit von »aeußeren Umstaenden« bzw. »aeußern Veranlassungen« gesehen. Diese Veranlassungen erhalten in der Anweisung jedoch eine zweifache Funktion. Auf der Ebene der Makrostruktur kommen sie als Krankheitsursache und -movens in Betracht, wie es die vierte Frage formuliert, auf der Ebene der Mikrostruktur einzelner Handlungen werden sie in Gestalt ›momentaner Veranlassungen‹ konkurrierend zur Krankheit als Erklärungsmuster geführt. Vor allem die Argumentation des zweiten ClarusGutachtens wird diese zweite Lesart der äußeren Umstände ausbuchstabieren. Darüber hinaus ist interessant, was hier als mögliche äußere Veranlassung für eine Krankheit oder eine gefährliche Handlung genannt wird. So sind es zum einen allgemeine Zustände einer erweiterten Klimatheorie: »Beschaffenheit der Luft und des Wassers in dem Wohnorte des Kranken, die Lage und die Beschaffenheit der Wohnung, die Art der Bekoestigung, Kleidung«; zum anderen Aspekte der individuellen Lebensführung: »Beschaeftigung, Gewerbe, Lebensart und Ordnung, Diaet, die besondern Verhaeltnisse des Kranken, seine Lage, erlebte Ungluecksfaelle, haeusliches Glueck; in den Koerper gekommene Gifte, besonders betaeubender Art; Mißbrauch gewisser Heilmittel, des Aderlassens, Purgirens, oder der geistigen Getraenke«.93 In diesen Zwischenbereich von gleichsam gottgegebenen Materialitäten und individueller Verantwortung wird mit Nasses Forderung an ›polizeilich-medizinische Schriften‹, Krankheiten historisch, politisch und sozial zu verorten – »Was foerdert das Entstehen jener Krankheiten in einer Zeit, in einem Lande mehr als in andern, welche sittliche Zustaende«?94 –, und dem in Georg Büchners ›Woyzeck‹ entfalteten pathologischen Feld ein System von Abhängigkeiten und Verantwortlichkeiten eingezeichnet, das Institutionen, Disziplinen und Wissensarten integriert. Den zweiten Teil von Clarus’ Gutachten bilden eigene »Beobachtungen, welche sich unmittelbar aus der Untersuchung des körperlichen und geistigen Zustandes« Woyzecks ergeben. Die äußere körperliche Untersuchung reicht von der Zunge über die Eingeweide bis zu den Genitalien und ergibt keine nennenswerten Befunde. Allerdings wird der Befragte zu Beginn der Untersuchung von einem heftigen Zittern geschüttelt und weist einen schnellen Puls- und Herzschlag auf. Der Körperbau, die Kopfform, Haltung, Gang, Physiognomie

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Reskr. (an saemmtliche Beamten), die sorgfaeltigen Anzeigen ueber den Zustand melancholischer Personen betr., vom 29. Juni 1810. In: Karl Gustav Schmalz, Die Königl. Sächsischen Medizinal=Gesetze älterer und neuerer Zeit, S. 436–441, S. 440. C. F. Nasse, Die Aufgabe der Erforschung und Heilung der somatisch=psychischen Zustaende, S. 29.

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sowie das Sprachverhalten werden beurteilt und für normal befunden. Nach Clarus’ Beobachtungen finden sich keinerlei Symptome für eine Geistesstörung: Sein Auge ist nicht sonderlich belebt, aber von natürlichem Glanz und sein Blick fest, ernst, ruhig und besonnen, keineswegs wild, frech, verstört, unstet oder zerstreut, aber auch eben so wenig traurig, niedergeschlagen [...]. Seine Miene hat nichts Tückisches, Lauerndes, Abstossendes oder Zurückschreckendes und kündigt weder Furcht und Kummer, noch Unwillen und verhaltenen Zorn, überhaupt nichts Leidenschaftliches an [...]. In seinen Reden und Antworten zeigt er ohne alle Ausnahme Aufmerksamkeit, Besonnenheit, Ueberlegung, schnelles Auffassen, richtiges Urtheil und treues Gedächtniss. [...] Seine Begriffe [...] sind eben so weit entfernt von exaltirter Verkehrtheit als von stumpfer Verworrenheit. Daher findet sich auch in seinen Erzählungen und Urtheilen nicht die geringste Spur, dass irgend eine unrichtige oder überspannte Vorstellung von den Gegenständen der sinnlichen oder übersinnlichen Welt [...] zur fi xen Idee geworden sey.

Und so gehen Clarus’ Beschreibungen von Woyzeck allmählich in das Abarbeiten eines Ursachen- und Symptomkatalogs für Geistesstörungen über. Zunächst werden »fixe Ideen« ausgeschlossen, dann daß eine »Leidenschaft Gefühl oder Phantasie sein Gemüth beherrsche«, weiter eine »Reizbarkeit des Temperaments« und schließlich das Krankheitsbild der Manie ohne Delirium.95 Dieser Teil des Gutachtens endet mit Clarus’ Diagnose, daß zwar eine »moralische Verwilderung« vorliege und Woyzecks »religiöse Empfindung« zu schwach sei, um ihn in den »Schranken der bürgerlichen Ordnung«96 zu halten, Symptome einer Gemütsstörung jedoch nicht erkennbar seien. Mit diesen seinen eigenen Beobachtungen begründet Clarus dann auch sein abschließendes Urteil der Zurechnungsfähigkeit, ordnet allerdings weitere Zeugenbefragungen hinsichtlich der von Woyzeck angeführten ›gedankenlosen Zustände‹ an. Das anderthalb Jahre später, am 23. Februar 1823 vorgelegte zweite Gutachten von Clarus bezieht die Akten der in der Zwischenzeit vorgenommenen Zeugenbefragungen sowie nochmalige eigene Vernehmungen Woyzecks ein. Es teilt sich wiederum in zwei größere Komplexe: Im ersten werden relativ ausführlich und weitgehend kommentarlos die Zeugenaussagen nach ›Durchsicht der Akten‹ sowie die Befragung des Inquisiten wiedergegeben; der zweite Komplex beinhaltet Clarus’ medizinisch-gerichtliche Stellungnahme zu diesem Fall. Sie besteht aus einer Rekonstruktion der psychosomatischen Entwicklung Woyzecks unter der Frage, ob es sich um eine dauerhafte leibseelische Krankheit handle oder um partiellen Wahnsinn, und aus Schlußfolgerungen im Hinblick auf die Zurechnungsfähigkeit. 95

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J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 134, 145f. Der Fachbegriff manie sans délire fällt zwar nicht, jedoch dessen exakte Definition wird genannt. Denn es finde sich beim Inquisiten nichts, was darauf hinweise, daß er »zu denjenigen gehöre, welche, ohne in ihrem Bewusstseyn, oder in ihren Begriffen gestört zu seyn, dennoch in ihren Handlungen einem unwillkürlichen, blinden und wüthenden Antriebe folgen, welcher alle Selbstbestimmung aufhebt«, ebd., S. 146f. J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 147.

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Es wurden Woyzecks Stiefbruder, ehemalige Mitbedienstete, Arbeitgeber, Wirtsleute und Geliebte insbesondere aus der letzten Leipziger Zeit vernommen, aber auch Personen, die über seine Militärzeit Auskunft geben konnten, etwa ein Feldwebel und seine Kameraden. So kommen wichtige biographische Details über sein Leben, vor allem über die letzten Wochen und Tage vor der Tat zu dem im ersten Gutachten präsentierten Material hinzu. Erst dieses zweite Gutachten, das auch noch einmal wichtige Passagen des vorangehenden aufnimmt, wird zur Strukturquelle für Büchners Drama werden. Durch die Zeugenaussagen sieht sich Clarus in seinem ersten Urteil bestätigt, unisono faßt er diese mit der Wendung »keine Spur von Tiefsinn oder Verstandesverrükkung« zusammen. Für viele der Aussagen nimmt sich dieses Resümee allerdings merkwürdig aus, berichtet doch z.B. eine ehemalige Geliebte nicht nur davon, »dass er heitern Gemüts, nicht zänkisch und streitsüchtig, sondern vielmehr recht ruhig, bescheiden und verständig gewesen sei«,97 sondern auch davon, daß er sie, nachdem sie ihn abgewiesen habe, bedroht und mit Schlägen am Kopf schwer verletzt habe. Es scheint Clarus daran gelegen, jeden Anschein von Objektivität in Hinblick auf eine Geistesstörung zu zerstreuen.98 So kann eine gegenüber Woyzeck gemachte Äußerung jetzt durch einen Zeugen, den Juden Schwabe in Dessau, den Woyzeck während einer Krankheit pflegte, ins rechte Licht gerückt werden. »Kerl, du bist verrückt und weisst es nicht«, diese Äußerung habe sich »bloss auf seinen trunkenen Zustand, keineswegs auf eigentliche Verstandeszerrüttung«99 bezogen. Hingegen entsteht durch Woyzecks weitere Vernehmungen ein ganz anderes Bild. Was im ersten Gutachten noch sehr dürftig mit ›etwas vollblütig‹ und ›gedankenlose Zustände‹ beschrieben wurde, zeigt sich nun als eine komplexe, detailliert geschilderte psychosomatische Befindlichkeit, die auf der körperlichen Seite Herzkrämpfe, Schwindel, Zittern, Ohrensausen, Kopfschmerzen, allgemeine Hitze und Schweißausbrüche verzeichnet, auf der seelischen Seite Stimmen hören bzw. vielfältige Halluzinationen, fixe Ideen, Gewissensunruhe, eine zunehmende innere Isolation, Selbstmordgedanken und gleichzeitig eskalierende gewalttätige Zornausbrüche. Diese Schilderungen sind es dann auch, die Clarus zu ausführlichen Stellungnahmen zum psychosomatischen Krankheitsbild des Wahnsinns und seinen partiellen Erscheinungsformen nötigen. Mit der »medizinisch-psychologischen Entwicklung« dieses Falles drängt sich ihm die psychosomatische Fragestellung auf, um so mehr als zu konstatieren ist, daß bei Woyzeck somatische und psychische Symptome »gleichen Schritt gehalten haben«. Von die97 98

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 83. Zur Argumentationsstrategie vor allem des zweiten Clarus-Gutachtens siehe A. Glück, Woyzeck – Clarus – Büchner (Umrisse), S. 429–435; S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 160–162, 164–166; M. Kitzbichler, Aufbegehren der Natur, S. 128–132; P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 243–258. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 85.

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sen Passagen ausgehend, auf die dann auch Marc und Heinroth rekurrieren, entwickelt sich die Woyzeck-Debatte insgesamt zu einem psychosomatischen Diskurs. Und hier zeigt sich auch deutlich, daß Clarus im Disput von Psychikern und Somatikern nicht klar zu positionieren ist. Zum einen argumentiert er somatisch, wenn er von einem unbezweifelbaren Zusammenhang zwischen den »Störungen des Blutlaufs« und »Visionen«, zwischen den »körperlichen Zufällen« und der »reizbaren Gemütsstimmung« spricht. »Dass auch Woyzecks Benommenheit und seine finstere menschenscheue und reizbare Gemütsstimmung von der körperlichen Anlage anhängig gewesen sei, kann nicht bezweifelt werden«. Genauer gesagt, sei der »unruhige Blutumlauf« Ursache seiner »Sinnestäuschungen«. Zum körperlichen Krankheitsbild führt er weiter aus, es handle sich um »Vollblütigkeit und Neigungen zu Wallungen und Kongestionen des Blutes« bzw. in moderner medizinischer Diktion um eine »venöse Konstitution« mit »erhöhte[m] Venenturgor«, die »in vermehrter Reizbarkeit und unregelmässiger Tätigkeit des Gefäss- und besonders des Venensystems«100 ihre Ursache habe. Damit nimmt er wie auch Nasse den Wahnsinn als somatopsychisches Phänomen wahr, im Verrückten sind »Leib und Seele [...] gegeneinander verrueckt«.101 Allerdings führt diese somatische Argumentation nicht zum Schluß, Woyzeck sei unzurechnungsfähig gewesen. Denn, so Clarus’ zentrale Entgegnung, dieser weise nur »Anlagen«102 zu einer Störung des Blutkreislaufs und der Seele, aber keine voll ausgebildete Krankheit auf. Diese Argumentation wird allerdings für den Somatiker Marc zum Ansatzpunkt seiner Clarus-Kritik, indem er mit dem Autopsie-Ergebnis darauf hinweisen kann, daß Clarus sich geirrt, sehr wohl eine tatsächliche Erkrankung des Herzens vorgelegen habe und somit der Gutachter auch nach seinen eigenen Kriterien widerlegt und mit der Woyzeck zugesprochenen Zurechnungsfähigkeit zu einem Fehlurteil gekommen sei. Wäre er nur bei der medizinischen Untersuchung sorgfältiger vorgegangen, so hätte er erkennen können, was die Sektion dann zu Tage förderte: es »fanden sich alle Organe in der Kopf-, Brust-, und Unterleibshöhle in vollkommen gesundem Zustande und nur das Herz mit einer ganz ungewöhnlichen Menge von Fett umgeben.«103 Auch Clarus’ oben schon genannter Versuch, Partialerkrankungen wie die stille Wut in ihrer gerichtlichen Anwendung einzuschränken, verläuft über eine somatische Begründung. Das Alter und biologische Entwicklungsphasen sollen allein das Auftreten vorübergehenden Wahnsinns legitimieren. Zum anderen nähert sich Clarus mit dem Gesamt-

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 105f., 95, 108. C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 33. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 106. Clarus fügt die Ergebnisse der Sektion als Nachtrag zur »Bestätigung meines Urteils« an, J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 125f.

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tenor seines Gutachtens, im Bestreben, die Unzurechnungsfähigkeit in engen Grenzen zu halten, den Psychikern und der durch sie vorgenommenen restaurativen Wende in der Gerichtspsychiatrie. Das zeigt sich dann auch in Heinroths vehementem Eintreten für Clarus. Clarus’ Bekenntnis, er urteile nach »Grundsätzen der rationellen Heilkunde«, kann als ausdrücklicher Verweis auf den Untertitel von Heinroths ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens oder der Seelenstoerungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen‹ verstanden werden.104 Darüber hinaus hatte Clarus mit seiner Meinung, Woyzeck sei allenfalls als »Hypochondrist«,105 nicht als Wahnsinniger zu bezeichnen, eine Differenzierung aus Heinroths ›Lehrbuch‹ aufgenommen, wo die Hypochondrie als vorübergehender Zustand der Vernunftlosigkeit deutlich von dauerhaften Seelenstörungen unterschieden wurde. Im Hinblick auf beide Möglichkeiten, Unzurechnungsfähigkeit zu begründen – über Wahnsinn als einem dauerhaften psychosomatischen Zustand oder nur als kurzer manischer Anfall –, führt Clarus relativ aufwendige Pro- und Contra-Argumentationen. Im ersten Fall sprächen für eine mögliche Unzurechnungsfähigkeit des Delinquenten, daß 1) ein unruhiger Blutumlauf die »Anlage zu Gemütskrankheiten« sein könne, 2) Woyzecks »finster[e], hypochondrische Stimmung«, und 3) daß Halluzinationen und Visionen bei Wahnsinnigen vorkämen. Dagegen sei jedoch anzuführen, daß 1) bei Woyzeck sowohl körperlich als auch psychisch nur »Anlagen«, keine »wirklich ausgebildete Seelenstörung« vorhanden sei, daß 2) Woyzecks finstere Stimmungen allenfalls »Symptome der Hypochondrie«, wahrscheinlicher noch bloße »Temperamentsfehler« seien, die sich doch wohl nicht strafmindernd geltend machen ließen, und daß 3) das häufige Auftauchen somatisch bedingter Sinnestäuschungen diese nicht als legitimes Indiz des Wahnsinns erscheinen lasse. Als solches treten sie nur im Verbund mit anderen Symptomen auf wie »ungewöhnliches, auffallendes und phantastisches Betragen gegen andere, unzusammenhängende, verworrene, die Empfindung oder die Leidenschaft, von der das Innere erfüllt ist, verratende Äusserungen, zweckwidrige, widersinnige Fragen und Handlungen, ein wildes, ungestümes, zänkisches oder stumpfsinniges und starres Wesen, Vernachlässigung der natürlichen Bedürfnisse und der gewohnten Beschäftigungen.« Da all dies bei Woyzeck nicht zu finden sei, führt Clarus Woyzecks »Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Verschlossenheit« auf die Ursachen »körperliche Beschwerden, Nahrungslosigkeit oder Gewissensunruhe« zurück. Die Sinnestäuschungen versucht er alltäglich aufzuklären, zum einen als einfache gedank104

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Die rationale Methode grenzt Heinroth im Vorwort von einer bloß empirischen ab, vgl. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. VIf. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 116. Zu Heinroths Bestimmung der Hypochondrie vgl. Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 41f.

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liche Irrtümer, noch geschürt durch Woyzecks Aberglauben, zum anderen, so etwa das Stimmen hören, durch Woyzecks Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen. Dabei beschreibt Woyzeck in seinen Aussagen ein Symptom, nämlich fixe Ideen, das zeitgenössisch fester Bestandteil beinahe jeder Definition des Wahnsinns ist, bei Clarus jedoch keine Berücksichtigung findet. Woyzeck gibt an: »Übrigens habe er einen Gedanken, den er einmal gefasst habe, nicht leicht wieder los werden können«, und schildert seine Träume und Visionen von den Freimaurern, von der Tanzmusik, deren »Immer drauf, immer drauf!« ihm beständig im Kopf geblieben sei, und spricht vom Mordbefehl einer Stimme »Stich die Frau Woostin tot!«.106 Die zweite Möglichkeit, für eine Einschränkung der Willensfreiheit vor Gericht zu plädieren, drängt sich durch Woyzecks Aussagen fast noch deutlicher auf. Denn die Beschreibungen seines Zustands decken sich zum Teil exakt mit den damals zur Diskussion stehenden Krankheitsbildern der Manie ohne Delirium bzw. der stillen Wut. So teilt er mit: »Bei geringeren Veranlassungen zum Unwillen habe er am ganzen Körper gezittert«, bei stärkeren »sei ihm der Zorn in den Kopf und vor die Stirne gefahren und habe ihn dergestalt überwältigt, dass er seiner nicht mehr mächtig gewesen.« Die früheren Angriffe auf die Woostin sieht er als »Abstufungen des Zornes«, der schließlich bei der »Verübung der Mordtat« dazu geführt habe, daß er sich »in einem solchen Zustande von Überwältigung befunden« habe. Insbesondere die von ihm genannte Ziellosigkeit der Aggression – es sei ihm gewesen, »als ob er die Leute auf der Gasse mit dem Kopfe zusammenstossen müsse« –107 deckt sich mit psychologischen Beschreibungen eines manischen Anfalls, der sich gegen eine »bestimmte Person oder jeden Menschen«108 oder den Patienten selbst wenden kann. Auch der Tathergang und seine Aussage, es habe »ihn alles dieses nicht gehindert, alle seine Geschäfte ordentlich zu verrichten«,109 entsprechen den etwa bei Reil festgehaltenen Bestimmungen einer Wut ohne Verstandesverkehrtheit. Bei dieser ist eben nur der Wille, nicht aber der Verstand in Mitleidenschaft gezogen, so daß »planmässig und mit Ueberlegung die Mittel zur Ausführung seines Vorhabens, Waffen, Ort und Zeit« gewählt werden und der Kranke auch ansonsten »alle gesellschaftlichen Pflichten« erfüllt und sich »gar durch Werke der Wohlthätigkeit gegen Unglückliche«110 auszeichnen kann. So spielen dann auch in der von Clarus vorgeführten Pro und Contra-Agumenta-

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 111f., 115, 97, 103. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 97. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 388. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 97. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 388, 390.

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tion hinsichtlich dieser zweiten Möglichkeit, eine Unzurechnungsfähigkeit des Inquisiten zu begründen, Woyzecks eigene Schilderungen seines Zustands eine gewisse Rolle. Für die Diagnose einer stillen Wut sprächen erstens Woyzecks allgemeine Stimmungen, zweitens der Mordbefehl der Stimme ›Stich die Frau Woostin tot‹, drittens, daß er keine Reue nach der Tat zeigte, und sich viertens an diese nur undeutlich erinnere. Diese Argumente wehrt Clarus mit schon vorgetragenen Einwänden ab, Hypochondrie sei nicht mit blindem Antrieb zu verwechseln, Woyzecks Stimmen hören sei ein Resultat seiner Selbstgespräche, Mangel an Reue kein ausreichendes Indiz und das getrübte Erinnerungsvermögen eine Falschaussage Woyzecks. Clarus schließt mit der Diagnose: dass Woyzecks angebliche Erscheinungen und übrigen ungewöhnlichen Begegnisse als Sinnestäuschungen, welche durch Unordnungen des Blutumlaufes erregt und durch seinen Aberglauben und Vorurteile zu Vorstellungen von einer objektiven und übersinnlichen Veranlassung gesteigert worden sind, betrachtet werden müssen und dass ein Grund, um anzunehmen, dass derselbe zu irgend einer Zeit in seinem Leben und namentlich unmittelbar vor, bei und nach der von ihm verübten Mordtat sich im Zustande einer Seelenstörung befunden oder dabei nach einem notwendigen, blinden und instinktartigen Antriebe und überhaupt anders als nach gewöhnlichen leidenschaftlichen Anreizungen gehandelt habe, nicht vorhanden sei.111

Im pathetischen Duktus der Leseranrede im Vorwort ist die professionelle psychiatrische Distanz weitgehend verloren gegangen und das moralische Urteil zeigt sich unverstellt. Durch ein »unstetes, wüstes, gedankenloses und untätiges Leben« sei Woyzeck »von einer Stufe der moralischen Verwilderung zur andern herabgesunken« und die Mordtat sei die Folge eines »Aufruhrs roher Leidenschaften«.112 IV.2.2. Marcs Gegengutachten War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? […]. Von Dr. C. M. Marc, K. b. Landgerichts-Physikus und ausübendem Arzte zu Bamberg (1825) Auf die Publikation des zweiten Clarus-Gutachtens antwortet der Somatiker Carl Moritz Marc, der diesen gerade darin kritisiert, die tatsächliche körperliche Erkrankung Woyzecks nicht wahrgenommen zu haben. »Ich kann mich nicht überzeugen, dass W. nur in einer Anlage zur Krankheit sich befunden hat, nein, er war wirklich krank. […] die krampfhafte Zusammenziehung des Herzens, das

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 123. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 76.

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Stillstehen desselben, das Herzklopfen, die Angst, die Spannung der Blutgefässe, das allgemeine Zittern des ganzen Körpers, die Hitze im Kopfe, das Prasseln oder Schnurren im Genicke, das Brausen oder Zischen in den Ohren, und die auf erfolgtes reichliches Nasenbluten zuweilen bemerkte Erleichterung etc. sind doch wohl die unverkennbarsten Zeichen eines Blutandranges?«113 Marc bezieht sich hier vor allem auch auf den Sektionsbericht,114 der eine hohe Fettansammlung um das Herz verzeichnete, woraus er auf eine schleichende Herzentzündung und einen »krankhaften Blutumtrieb« schließt. Wo Clarus nur von einer ›Anlage zur Vollblütigkeit‹ gesprochen hatte, wird diese nun als tatsächliche Erkrankung eingerechnet und auf ihre somatopsychischen Konsequenzen hin befragt: »dass die Anfälle von Blutandrang grosse Gewalt auf Gehirn und Nerven haben, und die Seele durch diese körperlichen Leiden bedeutend leiden kann, und W. von seinen thörichten Gedanken nicht fortwährend eingenommen gewesen seyn würde, wenn nicht der Einfluss und das Vorherrschen dieser Vorstellung durch die Schwäche und Beunruhigung des Gehirns vermehrt und befestigt worden wäre.« Woyzeck war darum nicht nur krank, sondern auch gemütskrank. Gemütskrankheiten werden als unfreie Zustände definiert, da in ihnen »der Geist« durch »ein Vorherrschen des Körpers in seiner Freiheit gehemmt«115 ist. Marc bezieht sich bei diesen somatopsychischen Überlegungen auf die Autorität des bedeutendsten Gerichtspsychiaters seiner Zeit, Adolph Henke. Dieser nahm bei »aus Leidenschaft und verborgener Geisteszerrüttung zusammengesezten psychischen Zuständen« an, »eine körperliche Krankheit« könne in zweifacher Weise mit »im Spiele seyn«. Zum einen könne die »Reizempfänglichkeit« eines Individuums »krankhaft erhöht« sein, so »dass es nur des mindesten psychischen Anlasses bedarf, um einen gewaltsamen Ausbruch zu bewirken«. Zum anderen könne der »aufgeregte Krankheitsreiz den Ausbruch« veranlassen, »wenn er periodisch auf das Gehirn einwirkt.«116 Auf der Grundlage seiner eigenen aus dem Sektionsbericht gezogenen Ferndiagnose und diesem Expertenwissen kommt Marc schließlich zum Ergebnis: Dass W. wirklich körperlich und höchst wahrscheinlich auch gemüthskrank war, beide Zustände miteinander in genauester Verbindung standen, dass, wenn selbst mit Hrn. Cl. angenommen, W. Benommenheit und seine reizbare Gemüthsstimmung von der Krankheit, oder nach Cl. von krankhafter Anlage? abhängig, ferner

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C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 38. S.o.; C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 30, 39f. Siehe auch B. H. G., (Die Streitschriften von Clarus, Marc und Heinroth), S. 146; U. Walter, Der Fall Woyzeck, S. 378. C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 40, 48, 55. A. Henke, Abhandlungen aus dem Gebiete der gerichtlichen Medicin, Bd. 2, S. 309, zit. nach C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 77.

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das Uebergewicht der Leidenschaft über die Vernunft, die einzige Triebfeder seiner Mordthat gewesen wäre, dieses Uebergewicht selbst als durch Krankheit bedungen und nachgewiesen, eine Zurechnungsfähigkeit ausgeschlossen, oder doch höchst zweifelhaft gemacht hätte.117

Ein zweiter diskurspolitischer Argumentationsstrang bezieht sich auf den Verfahrensablauf und die alleinige Begutachtung des Falles durch Clarus. Demgegenüber mahnt Marc eine gutachterliche Vielstimmigkeit im Dienst der Wahrheitsfindung an. Es hätten »noch ein bis zwei Gerichtsärzte zugezogen, und die Untersuchungsakten dem Medicinal-Comitée und Obermedicinal-Collegium zur Bestätigung vorgelegt« werden sollen. Er könne »kühn behaupten, dass wenn dieser Fall tausend Gerichtsärzten zur Entscheidung vorgelegt worden wäre, keiner mit einer solchen Gewissheit, wie Hr. CL. es that, unter so schwierigen Umständen die Zurechnungsfähigkeit ausgesprochen haben würde«.118 Tatsächlich blieb die Begutachtung im Fall Woyzeck ein geschlossener Kreis. Clarus wurde auch mit dem zweiten Gutachten beauftragt, obwohl die Chancen gering waren, daß er selbstkritisch zu einem gänzlich anderen Urteil kommen würde, und dann oblag die abschließende Kontrolle des Verfahrens der medizinischen Fakultät Leipzig, die ihrem Mitglied Clarus eine Arbeit attestierte, die auch weiterhin als »Norm« dienen könne und in diesem Zuge zugleich eine mögliche gutachterliche Vielstimmigkeit für die Zukunft ausschloß. Denn sie erklärte sich gegen die »Zulässigkeit eines zweiten Arztes bei Untersuchung zweifelhafter Seelenzustände« aus nicht näher genannten »Gründen«.119 Marc hebt demgegenüber die andere territorialstaatliche forensische Lösung in Bayern hervor, die eben gerade bei zweifelhaften Fällen mehrere Gutachten einholt. 1825 stand Marc mit seinen Argumenten gegen das Woyzeck-Urteil zunächst allein da – dieses wurde in juristischen Expertenkreisen mehrheitlich begrüßt. Marcs Gegengutachten bereitete jedoch die in den 30er Jahren zunehmend kritische Beurteilung dieses Falls vor, die dann in Friedreichs Diktum von 1835 über Woyzeck als »schauderhafte[r] Justizmord«120 kulminiert. Von profilierter somatischer Seite fand Marc 1825 allerdings durch Johann Christian August Grohmann Unterstützung, der in Nasses ›Zeitschrift fuer die Anthropologie‹ mit seinem Beitrag ›Ueber die zweifelhaften Zustaende des Gemueths; besonders in Beziehung auf ein von dem Herrn Hofrath Dr. Clarus gefaelltes gerichtsaerztliches Gutachten‹ gegen Clarus, vor allem aber gegen

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C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 79f. C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 33, 80. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 124. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 300.

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Heinroth Stellung bezog. Grohmann verhandelt den Fall Woyzeck deutlich auf der diskurspolitisch-normativen Ebene, die Clarus mit seinen Kriterien für Unzurechnungsfähigkeit und Heinroth in seiner Umwertung von Seelenkrankheiten in selbstverschuldete Seelenstörungen beschritten hatten. Gegen die Theorie- und Normbildung von seiten der Psychiker setzt er die eigene somatische Ausrichtung: »Ich spreche uebrigens, was wohl zu merken ist, hier und in der ganzen Abhandlung weniger von einem einzelnen Falle, als von einer gesammten Theorie und Norm, die vielleicht zur Analogie und Regel fuer abzufassende gerichtsaerztliche Gutachten aufgestellt werden sollte.« Normativ plädiert Grohmann für eine liberale Handhabung der Zurechnungsfrage und greift dabei auch Marcs verfahrenstechnischen Einwand gegen Clarus’ monologische Diagnose auf. Denn die »Staatsarzneikunde« sei in »demjenigen Teile, wo es auf psychologische Kenntnis und Beurteilung ankommt, bei weitem noch nicht auf derjenigen Stufe der Vollkommenheit, daß sie hier keiner Erörterung oder Berichtigung bedürfte«. Theoretisch akzentuiert Grohmann noch einmal die körperlichen Ursachen von Seelenkrankheiten, für die die Sinneshalluzinationen ein deutliches Symptom seien und denen er in seiner Auffassung eines »tiefern Leiden des Nerven= und Gehirnlebens«121 ein moderneres Gepräge gibt, als dies in Clarus’ oder Marcs Rede von Blutwallungen der Fall war. Als eine weitere mögliche somatische Ursache kommt die in vielen Zeugen- und in der Selbstaussage dokumentierte Trunksucht Woyzecks ins Spiel.122 Clarus hatte das habituelle Trinken in seiner Diagnose gar nicht berücksichtigt, nur eine Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt ausgeschlossen und im Vorwort die Trunkenheit als Indiz des moralischen Verfalls gewertet.123 Marc hatte in einer Randbemerkung darauf Bezug genommen.124 Bei Heinroth erlangt der Alkoholismus besondere strategische Relevanz, wie noch zu zeigen sein wird. In Psychiatrie, Physiologie und Forensik des frühen 19. Jahrhunderts wird das 121

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J. C. A. Grohmann, Ueber die zweifelhaften Zustaende des Gemueths, S. 320, 291, 311, vgl. 294f. Clarus hatte sich in seiner Argumentation gegen Partialerkrankungen auch kritisch gegen Grohmanns Konzept von »Hemmung der moralischen, freien Kraft durch Ausartung tierischer Triebe« gewandt und die Replik so herausgefordert, J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 116. »In Brandtweintrinkern besonders, wie ich vielfältig die Beobachtung gemacht habe, geht am Ende die Schwäche des Körpers und der Seele in jenen Torpor über, wo die Seele nicht mehr ihrer mächtig ist.« J. C. A. Grohmann, Ueber die zweifelhaften Zustaende des Gemueths, S. 311. »Dass beim Transport ins Gefängnis und bei dem sogleich mit ihm angestellten Verhör keine Spur von Betrunkenheit an ihm zu bemerken«, J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 122, vgl. S. 78, 85. »Dass W. schon früherhin Anlage gehabt habe, Geistes und vorzüglich auf die angegebene Art körperlich krank zu werden, gebe ich zu, denn die vielen geistigen Getränke, welche er oft übermässig genommen, verursachen nicht selten Uebel, wie sie sich bei W. äusserten«, C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 39. Die günstige Entwicklung dieses »Brandweintrinkers« während der Haftzeit führt Marc auf die erzwungene Abstinenz zurück, ebd. S. 63 und vgl. S. 74.

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Phänomen der Trunkenheit neben jenem des partiellen oder vorübergehenden Wahnsinns, mit dem es vielfach argumentativ gekoppelt ist, ausführlich diskutiert. Der Rausch kann die äußere, dynamische Verursachung von Seelenkrankheiten veranschaulichen, die sich in der Narkotisierung von Nervenund Gehirnbahnen ebenso somatisch wie im Laster der Trunksucht psychischmoralisch auslegen läßt. In der Rechtsprechung wird der Alkoholkonsum oft in einem Atemzug mit dem Wahnsinn als Moment der Einschränkung von Zurechnungsfähigkeit berücksichtigt. In der Woyzeck-Debatte wird die Trunkenheit allein in Heinroths Schrift wirklich wichtig und dann vor allem in Büchners Drama. Der zeitgenössisch medizinisch-forensische Zusammenhang zwischen Alkohol, Wahnsinn und Zurechnungsfähigkeit wird darum erst im Kontext seiner literarischen Inszenierung ausführlicher behandelt werden. IV.2.3.

Heinroths Widerlegung

D. Johann Christian August Heinroth: Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift: War der am 27. August 1824 zu Leipzig hingerichtete Moerder J. C. Woyzeck zurechnungsfaehig? (1825) Johann Christian August Heinroth war einer der »maßgeblichen Repräsentanten der Psychiatrie der Restaurationszeit«.125 1847 spricht sein Biograph von seinem »Europäischen Ruf und jetzt unvergänglichen Nachruhm«.126 Seine Stellungnahme zum Fall Woyzeck nobilitiert diese Debatte gleichsam und dürfte auch entscheidend an der zunächst zustimmenden Aufnahme des WoyzeckUrteils in Expertenkreisen beteiligt gewesen sein. Jedenfalls stimmt der Verfasser des Referats der Woyzeck-Schriften die Leser zu Beginn seines HeinrothKommentars dementsprechend ein: »Die Stimme eines Mannes, der sich im psychologischen Fache einen so schoenen und ehrenvollen Ruf schon lange erworben hat, muß hier von großem Gewichte seyn.«127 Heinroth war am Woyzeck-Prozeß selbst beteiligt, da er als Mitglied der medizinischen Fakultät Leipzig, der auch Clarus angehörte, zeitweilig als Zweitgutachter im Gespräch war128

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K. Dörner, Bürger und Irre, S. 255. Ferd. Mor. Aug. Querl, Biographische Skizze. In: Dr. J. C. A. Heinroth’s Gerichtsärztliche und Privat=Gutachten hauptsächlich in Betreff zweifelhafter Seelenzustände. Hrsg. von Dr. jur. Hermann Theodor Schletter. Leipzig 1847, S. V-XVI, S. VII. B. H. G., (Die Streitschriften von Clarus, Marc und Heinroth), S. 148. Der ›Bericht des vereinigten Kriminalamtes Leipzig an die Landesregierung‹ vom 20. Oktober 1822 vermerkt: »›Ew. Königl. Majestät‹ wird gefragt und um die Entscheidung gebeten, ob Clarus allein oder gemeinsam mit Heinroth oder einem anderen Arzt die Untersuchungen vornehmen soll«, zit. nach U. Walter, Der Fall Woyzeck, S. 365. Clarus gibt an, es sei ausgerechnet der Verteidiger Woyzecks gewesen, der Heinroth als Gutachter haben wollte, vgl. Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 80f.

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und die Fakultät in einem eigenen Gutachten ausdrücklich den von Clarus vorgelegten zustimmte und befand, sie könnten als »Norm«129 dienen. Heinroth dürfte zu dieser Zeit am Fall Woyzeck um so mehr interessiert gewesen sein, als er selbst gerade mit der Umsetzung seiner psychologischen Lehrsätze in gerichtspsychiatrische Praxis befaßt war – im Jahr 1825 erscheint auch sein ›System der psychisch=gerichtlichen Medizin‹.130 Darüber hinaus fühlte sich Heinroth wohl im Allgemeinen durch den anti-liberalen Tenor von dessen Gutachten zum Verteidiger von Clarus berufen wie auch im Besonderen durch dessen Anwendung von seiner eigenen Definition der Seelenstörung als dauerhaftem Zustand in Abgrenzung zu vorübergehenden Phänomenen, etwa der Hypochondrie. Jedenfalls macht Heinroth von Anfang an deutlich, daß es auch ihm um eine Einschränkung einer möglichen Strafminderung durch Unzurechnungsfähigkeit zu tun ist: »Krankheit heißt das Zauberwort, welches den Verbrecher losspricht und die Gerechtigkeit verurtheilt.«131 Bei Heinroths Text handelt es sich um eine Polemik zu Marcs Gegengutachten. Über weite Strecken wird eine minutiöse, zitatlastige Sprach-, Stil- und Argumentationskritik vorgetragen, die Rechtschreib- und Grammatikfehler, sprachliche Provinzialismen und gedankliche Unordnung ebenso anprangert wie psychiatrische Inkompetenz. Marc wird als psychiatrischer Laie und allenfalls Büchergelehrter angegriffen.132 Heinroths eigene Stellungnahme zum Fall Woyzeck fällt dagegen knapp und abstrakt aus, ist an den Details des Falles nicht interessiert, sondern steuert unumwunden auf das offensichtlich beabsichtigte Endresultat zu. Dieses lautet: Unzurechnungsfähigkeit aus der Gerichtspsychiatrie weitgehend auszuschließen133 und darüber hinaus Seelenstörungen nicht als krankhafte, sondern als selbstverschuldete Zustände umzuwerten. Der Fall Woyzeck dient Heinroth also hauptsächlich dazu, den 1818 in seinem ›Lehrbuch‹ entwickelten Begriff der Seelenstörung publik zu machen und seine praktische Relevanz im forensischen Anwendungsgebiet zu dokumentieren. An seiner Stellungnahme zu den Woyzeck-Gutachten zeigt sich eindrücklich ein für den Rechtshegelianismus insgesamt charakteristisches Merkmal, wie ein durchaus auch fortschrittlich ausdeutbarer (psychologischer) entwicklungsge-

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 125; vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 165; U. Walter, Der Fall Woyzeck, S. 369. Heinroth macht dann auch gehörig Reklame für diese und weitere eigene Studien vgl. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 28, 57, 63, 65ff. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 2. Vgl. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 3f., 8f., 16, 46, 65–69 u.a. Zur Kritik an Heinroths Handhabung der Zurechnungsfähigkeit siehe auch F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 122f.

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schichtlicher Ansatz, der dezidiert in der Tradition der Aufklärung, für Humanität und Vernunft steht, sich in der Anwendung in sein Gegenteil verkehrt. Heinroths Argumentation ist so einfach wie perfide und operiert, wie man in diesem Fall schon sagen muß, mit terminologischen und spekulativen Tricks. Wie auch bei Clarus und Marc entscheidet sich die Diagnose letztlich an der psychosomatischen Fragestellung. »War die Herzkrankheit die Ursache der wilden Leidenschaftlichkeit, der moralischen Verwilderung, dieses Menschen? oder hatte umgekehrt das unmoralische, wueste Leben desselben den krankhaften Herzzustand erzeugt?« Also somato-psychische oder psycho-somatische Verursachung stehen zur Debatte. Die Antwort läßt nicht lange auf sich warten: »Und soll in diesem Falle die moralische Verworfenheit […] aus organischer Krankheit erklaert und entschuldiget werden? aus Krankheit, die nur die endliche Folge, aber nicht der Grund von moralischer Depravation und der aus ihr fließenden psychischen Verworrenheit ist?« Bei Heinroth wird die Freiheit des Menschen allein als moralische profiliert, als Selbstbestimmung, die sich zwar widersprüchlich selbst negieren, jedoch nicht von außen und d.h. zum Beispiel vom Körper eingeschränkt werden kann. »Seine Freiheit ist eine moralische. Aber eben darum ist sie auch nicht an physische Bedingungen gebunden.« Unfreie Zustände sind damit immer selbst verschuldet und also auch zurechnungsfähig, denn die »Freiheit des Menschen« kann nicht »physisch gehemmt, d.h. von außen her beschraenkt werden«. Bei der Unfreiheit handelt es sich um einen Akt der Selbstnegation: »Nichts aber ist im Stande, die Freiheit zu verneinen oder zu verlaeugnen, außer sie selbst«. Mithin gehören »unfreie Zustaende nicht in das Gebiet des organischen, sondern des moralischen (selbstbewußten) Lebens«. Und in dieser Hinsicht lautet sein Urteil über Woyzeck ganz im Sinne des Clarus-Vorwortes: »der Lebenslauf W.’s beurkundet uns blos einen luederlichen Menschen mit verwilderten Sitten.« Die moralische Ebene der Freiheit steht mit der physiologischen Ebene der Notwendigkeit in keinerlei Beziehung. Diese Annahme befindet sich jedoch im Widerspruch zu weiteren Ausführungen Heinroths, daß körperliche Krankheiten zwar nicht die Ursache von Seelenstörungen, jedoch deren regelmäßige und notwendige Folge sind. So speise sich Woyzecks »koerperliches Leiden« aus »moralischen Quellen«.134 Demgegenüber ist jedoch einzuwenden: Gilt die psycho-somatische Verursachung, so kann auch die somato-psychische nicht kategorisch ausgeschlossen

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J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 10f., 58ff., 18, 37. Zur einseitig psycho-somatischen Verursachung ist im weiteren zu lesen: »Es giebt ueberhaupt keine aueßeren Ursachen der Seelenstoerungen, geschweige denn insbesondere organische […]. Umgekehrt aber hat Gemuethskrankheit jederzeit und nothwendig koerperliche Verstimmung, ja oft gar organische Zerruettung zur Folge, die ganz verkehrt fuer die Ursache der Gemuethskrankheit angesehen wird, da sie doch nur die Wirkung und gleichsam die aeußere Physiognomie derselben ist«, ebd., S. 64.

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werden.135 Im weiteren wird hier fast in der Klarheit eines Syllogismus gefolgert: Seelenstörungen sind dauerhafte Zustände der Unfreiheit des Bewußtseins, wobei Unfreiheit gut idealistisch auch durch Passivität, Freiheit hingegen durch Aktivität ersetzbar ist. Ergo läßt sich Seelenstörung als dauerhafter Zustand der Passivität bestimmen, was zugleich auch heißt, daß justitiable Handlungen in einem solchen Zustand gar nicht vorkommen können. Oder in den Formulierungen Heinroths: »Daher ist der Mensch zurechnungsfaehig, so lange er noch handeln, d. h. so lange er noch wollen kann. ›Wenn aber nun das Wollen aufhoert?‹ Dann hoert auch das Handeln auf, und die Frage nach der Zurechnungsfaehigkeit kann gar nicht Statt finden.«136 Mit diesen Schlußfolgerungen sind nicht alle Ausnahmeregelungen für Wahnsinnige und Rasende aus der Rechtsprechung getilgt, wie es zunächst scheint, sondern vor allen Dingen handelt es sich um ein Programm der Umwertung der psychologisch-forensischen Begrifflichkeit. Denn Menschen im Zustand selbst gewählter Unfreiheit verlieren nach Heinroth ihr Menschsein, seien als »Thier« zu beurteilen. Und in einem solchen Zustand verübte Aktivitäten seien dementsprechend nicht als Handlungen, sondern als »Ausbrueche wilder Triebe« zu werten. Es wäre ein Kategorienfehler, die Zurechnungsfrage im Hinblick auf diese tierische Natur und solche Ausbrüche in Anschlag zu bringen. Sie greift erst dann wieder, wenn diese Zustände vorüber sind. Denn »sobald er wieder Mensch ist«, dann ist »der Mensch fuer seine unfreien Zustaende verantwortlich«. Allmählich nähert sich der Verfasser dem eigentlichen Ziel seiner Argumentation, nämlich in der Gerichtspsychiatrie und Psychologie nicht einzelne Handlungen, sondern Zustände und d.h. eine Person, ihren ganzen Lebenslauf zu beurteilen und auch zu verurteilen. In Heinroths Woyzeck-Schrift zeigt sich in sehr klaren Zügen die Dialektik biographischer Erkenntnis im frühen 19. Jahrhundert, die im Namen der Humanisierung – hier konkret der Strafminderung – nur einen um so totaleren Zugriff auf das Leben beansprucht. Entgegen der »herkoemmlichen Grundsaetze«, denen zufolge »Seelenstoerungen« als »Krankheiten, d.h. als physische Hemmungen entschuldiget, so daß sie auch nicht einmal wegen moeglicher Verschuldung in Anschlag kommen«, gilt es nun die Person, ihr ganzes Leben für diese in Rechenschaft zu ziehen. Denn »bei den Seelenstoerungen, oder persoenlichen Krankheiten,« ist »die Person, das freie Wesen des Menschen, in Anspruch genommen«, »dessen Krankheiten ihre Scene im Bewußtseyns=Leben spielen, und als abnorme Gefuehle, Vorstellungen und

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Diese Kritik formuliert bereits der Referent der Woyzeck-Streitschriften, vgl. B. H. G., (Die Streitschriften von Clarus, Marc und Heinroth), S. 152. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 60. Ein Kritiker spricht bezüglich dieser argumentativen Volten dann auch von »neuerdings beliebten transcentendalen Beweisführungen« in der Psychiatrie, J. C. A. Grohmann, Ueber die zweifelhaften Zustaende des Gemueths, S. 320.

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Handlungen erscheinen, welche eine Folge des verkehrten Seelen= oder persoenlichen Lebens sind, und diesem zugerechnet werden muessen, demnach gar nicht, wie organische Krankheiten, als bloße Naturereignisse angesehen werden duerfen.« Das Prinzip der Selbstverschuldung soll in die Psychiatrie im Allgemeinen und die Forensik im Besonderen eingeführt werden. Die sogenannten Seelenkrankheiten »sind gar nicht Producte der Natur, sondern der sich selbst verletzenden Freiheit, und haben daher auch nicht die Gueltigkeit nothwendiger Entschuldigung.« Ja selbst ein »großer Theil der organischen Krankheiten« gehöre »unter die selbst verschuldeten Zustaende«, »z. B. wenn sich Jemand durch Ausschweifungen in der Geschlechtslust, oder im Trunke, koerperliche Zerruettungen zugezogen hat.« In der Gesetzgebung gibt es einen einzigen Fall, in dem dieses Prinzip der Selbstverschuldung und die Differenzierung von Handlung und Zustand bereits Anwendung gefunden hat, und dieser Fall wird für Heinroth zum Vorbild auch in Fragen von Seelenstörungen: In Einem Falle wenigstens spricht schon das buergerliche Gesetz fuer unsere Behauptung. Es ist der der selbstverschuldeten Trunkenheit. Niemand ist in Abrede, daß die Trunkenheit ein unfreier Zustand ist. Gesetzwidrigkeiten, in diesem Zustande begangen, werden nicht bestraft, eben weil er ein unfreier ist: aber der Zustand selbst wird bestraft, weil er verschuldet ist. Und es ist nicht zu laeugnen, daß die Seelenstoerungen, in ihren mannichfaltigen Nueancen, viel Aehnliches mit den verschiedenartigen Zustaenden der Trunkenheit haben.

In Psychiatrie und Physiologie der Zeit ist die Analogie von Wahnsinn und Trunkenheit wie gesagt ein feststehender Topos. Einzelne seelische Krankheitsbilder werden in Verbindung mit den verschiedenen Stadien der Alkoholisierung gebracht: »Die Charaktere des Wahnsinns, der Verruecktheit, der Tollheit, so wie des Bloedsinns, der Melancholie, der Willenlosigkeit, sie spiegeln sich alle in den verschiedenen Nueancen der Trunkenheit ab: nicht selten in Einem und demselben Individuum, und zwar in den verschiedenen Stadien des Rausches, der Betrunkenheit und der Besoffenheit.«137 Der Fall des trunksüchtigen Woyzeck, der seine Geliebte ermordet hat, bietet Heinroth die ideale Anwendung, um seinen Begriff von selbstverschuldeten Seelenstörungen als Resultat eines ›lüderlichen‹ Lebenslaufes und ›verwilderter Sitten‹ publik zu machen. In einer solch weitreichenden Argumentation ist eine Diskussion geistiger Partialerkrankungen, wie sie Clarus in Anbetracht der amentia occulta führte, vollkommen überflüssig und stellt nur eine unnötige »Grenz-Verwirrung« dar, wie Heinroth kritisch anmerkt. Einleitend hatte Heinroth angeprangert, daß die Zurechnungsfrage derzeit dazu mißbraucht werde, »Schuld in Unschuld«138 137

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J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 61–64. In seinem ›Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens‹ hatte Heinroth diese Stadien ausführlicher beschrieben, näheres hierzu s.u. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 24, 2.

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umzuschmelzen; mit seiner Woyzeck-Schrift versucht er demgegenüber geistige und sogar körperliche Krankheit in Schuld umzuschmelzen.139 Daß der idealistische Sittlichkeitsrigorismus der Psychiker im forensischen Bereich zu einer restaurativen Wende führt, zeigt sich in moderaterer Form ebenso bei Ideler. Denn gegenüber dem notwendigen »Rigorismus des Rechts«, das dem absoluten Prinzip sittlicher Freiheit Ausdruck verleiht, erscheint auch ihm jeder Einzelfall, ob Freispruch oder Verurteilung, »gleichgültig«.140 Dörner sieht in diesem vordergründigen Widerspruch zwischen abstraktem Humanitätsideal und inhumaner Praxis eine innere Logik am Werke, die eine der möglichen Folgerungen aus Kants Philosophie sei: »Die Unbedingtheit der Sittlichkeit, deren Anspruch das Subjekt von der Anlage her verpflichtet ist, legitimiert nahezu jedes Mittel, jeden Zwang, um ihr zum Sieg, zum Durchbruch durch alle äußeren Hindernisse und Widerstände und deren innere Korrelate, die Leidenschaften, zu verhelfen.«141 Und Ideler pointiert für die Forensik fast noch beredter als Heinroth die biographische Methode, denn das einer »genetischen Erklärung« bedürftige »Motiv« der Tat stehe in »Causalzusammenhang mit dem früheren Charakter des Inquisiten, mit seiner ganzen bisherigen Lebensführung«.142 Vielmehr muss der Arzt zur Beurtheilung der letzteren [That] den psychologischen Gesichtskreis des Thäters von einem übersichtlichen Standpunkte aus überschauen, damit er das wesentliche Verhältniss und den inneren Zusammenhang der gesammten Geistes- und Gemüthstätigkeit zu einander nach ihrem wahren Charakter erkenne, und nach diesem das Urtheil fälle. [...] Indem also der Arzt aus den Bekenntnissen des Thäters und aus anderweitigen gerichtlich ermittelten Thatsachen den Entwicklungsprocess des Motivs bis zum Augenblicke der incriminirten That so deutlich als möglich construirt, lässt er die dabei obwaltenden wesentlichen psychologischen Verhältnisse in ein helles Licht treten, an denen sich dann das Endurtheil mit Sicherheit zurechtfinden kann. Bringt er diese genetische Darstellung auf eine völlig überzeugende Weise zu Stande, so erlangt sie den vollen Werth einer wissenschaftlichen Demonstration, welche eben als solche jede Annahme des Gegentheils unbedingt ausschliesst. [...] Deshalb wird natürlich die ganze Darstellung um so beweiskräftiger ausfallen, je vollständiger der frühere Lebenslauf des Inquisiten, die Geschichte seiner geistig sittlichen Bildung, seiner wichtigsten Verhältnisse und Schicksale, seiner Handlungsweise, seiner Verirrungen, Leidenschaften, Gesundheitszustände, seiner natürlichen Geistes- und

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Schon sehr früh, in seinem Schulaufsatz ›(Über den Selbstmord)‹ hatte Büchner gegen eine solche Argumentationsrichtung klar Stellung bezogen und auf der Analogie von psychischen Krankheiten mit organischen bestanden: »Der Selbstmörder aus physischen und psychischen Leiden ist kein Selbstmörder, er ist nur ein an Krankheit Gestorbner. […] So wenig man nun von einem an der Auszehrung Gestorbnen sagen kann, der Narr oder der Sünder, warum ist er gestorben? eben so wenig darf man einem Selbstmörder aus dieser Ursache wegen seiner Tat einen Vorwurf machen wollen«, II, 42. K. W. Ideler, Lehrbuch der gerichtlichen Psychologie, S. 8. K. Dörner, Bürger und Irre, S. 267f. K. W. Ideler, Lehrbuch der gerichtlichen Psychologie, S. 236.

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Gemüthsanlagen, mit einem Worte Alles, wodurch sein Charakter sich bildete, dem Arzte zur Prüfung vorgelegt worden ist.143

Peter Hahn hat mit Referenz auf Idelers ›Biographien Geisteskranker in ihrer psychologischen Entwicklung dargestellt‹ (1841) diesen sogar als »Begründer einer vertieften biographisch-psychogenetischen Betrachtungsweise«144 bezeichnet. Was im 18. Jahrhundert Aufgabe der Literatur, spezifischer noch bei Blankkenburg des neuen Genres des Romans war, nämlich die ›innere Geschichte‹ eines Menschen zu erzählen; was Moritz in seinem ›psychologischen Roman‹ ›Anton Reiser‹ bereits mit einem wissenschaftlichen Anspruch versehen und was im Genre des Bildungsromans seine eigene literarische Ausgestaltung gefunden hatte, das wird jetzt als genetische Methode in den Kompetenzbereich der Gerichtspsychiatrie verwiesen. Es geht um die möglichst vollständige Darstellung eines Lebensverlaufes, der im Verbrechen oder psychologisch genauer im ›Motiv‹ sein eigentümliches Telos findet. Die Fallgeschichten der Gerichtspsychiatrie erscheinen dabei als verspätete und verzerrte Antipoden der literarischen Bildungsgeschichten, die mit der Ankunft des Protagonisten in der bürgerlichen Gesellschaft enden. Während in einem Fall in Hegels Diktion der Held »zuletzt« doch »sein Mädchen und irgendeine Stellung« bekommt, »heiratet« und »ein Philister so gut wie die anderen auch«145 wird, erzählen die Gutachten von den Schicksalen jener, die die Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft oft in finaler Weise verfehlen. Die wissenschaftliche Darstellung einer Biographie tritt in Konkurrenz zur literarischen oder läßt sich von dieser auch inspirieren, wie dies insbesondere das Vorwort des zweiten Clarus-Gutachtens zeigt. Büchners Dramenfragment wird diese Konkurrenzsituation von Wissenschaft und Literatur ebenso ausstellen, wie es ihren Umschlag in Komplizenschaft veranschaulicht. Am Fall Woyzeck und seinen publizistischen Folgen konnte bislang gezeigt werden, daß sich bereits im frühen 19. Jahrhundert die alltägliche juristische und forensiche Praxis der biographisch-genetischen Methode bedient, etwa in Form des vorgefertigten Fragenkatalogs für Vernehmungen, den Clarus im ersten Gutachten erwähnt. Über Vernehmungen und Zeugenaussagen werden beachtliche biographische Details von Woyzecks Leben und vor allem vom ›Entwicklungsprocess des Motivs bis zum Augenblicke der incriminierten That‹ zusammengetragen. Weitaus programmatischer vertreten dann die Psychiker diese Methode. Die psychosomatische Fragestellung nach dem Zusammenhang von ›Gemüthsanlagen‹, ›Leidenschaften‹ und ›Gesundheitszuständen‹, etwa in Idelers Formulierung, nimmt in der gerichtspsychiatrischen Rekonstruktion eines Lebensverlaufs eine bedeutende Stellung ein. Im Falle Woyzecks spitzen sich die Clarus-Gutachten und die nachfolgenden 143 144 145

K. W. Ideler, Einleitung, S. 47f. P. Hahn, Die Entwicklung der psychosomatischen Medizin, S. 941. G. W. F. Hegel, Ästhetik I/II, S. 659.

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Streitschriften sogar auf diesen Aspekt zu – unter Vernachlässigung von Umweltfaktoren, die bei Ideler mit ›wichtigsten Verhältnisse und Schicksale‹ zwar angedeutet, bei Clarus mit ›Nahrungslosigkeit‹ benannt werden, für die Diagnose jedoch außer acht bleiben. Auch diese Problematik einer notwendigen Erweiterung der Auffassung vom Menschen nicht allein als ein leibseelisches, sondern als ein »somato-psycho-soziales Phänomen«146 wird in Georg Büchners ›Woyzeck‹ ausgetragen. Auf die Ambivalenz der biographischen Erkenntnis auf dem Wege ihrer Institutionalisierung in ›totalen Institutionen‹ wie Irrenanstalt und Gefängnis im frühen 19. Jahrhundert hat Michel Foucault aufmerksam gemacht. Einerseits entsteht sie im Zuge der Liberalisierung von Psychiatrie, Strafjustiz und Vollzugsapparat, indem etwa über die Frage der Zurechnungsfähigkeit Strafminderung möglich wird. Ob Kriterien einer eingeschränkten Willensfreiheit sich finden lassen, diese Entscheidung erfordert andererseits eine umfassende Kenntnis der Biographie des einzelnen, die nun auf das Telos der Krankheit oder der Straftat festgeschrieben wird. Juristisch gesprochen handelt es sich um den Übergang vom Tat- zum Täterstrafrecht.147 Es entstehen entsprechende Sozialtypen, der Irre oder der Delinquent. »Der Delinquent als biographische Einheit, als Kern von ›Gefährlichkeit‹, als Repräsentant eines Typs von Anomalie.« Die von Heinroth psychiatrisch zum Zwecke der Disziplinierung des Irren oder von Ideler vom Gerichtspsychiater zur eindeutigen Bestimmung einer Tat eingeforderte biographische Methode stimmt denselben Tenor an, wie die von Foucault zitierte Gefängnisreform in den 30er Jahren in Frankreich. Der Delinquent unterscheidet sich vom Rechtsbrecher dadurch, daß weniger seine Tat als vielmehr sein Leben für seine Charakterisierung entscheidend ist. [...] Biographische Erkenntnis und technische Sanierung der Existenz. Die Beobachtung des Delinquenten »muß nicht nur auf die Umstände, sondern auch auf die Ursachen seines Verbrechens zurückgehen; sie muß sie in der Geschichte seines Lebens unter dem dreifachen Gesichtspunkt der Organisation, der gesellschaftlichen Stellung und der Erziehung aufsuchen, um die gefährlichen Anlagen der ersten, die mißlichen Folgen der zweiten und die schlimmen Vorfälle in der dritten zu erkennen und festzustellen. Diese biographische Untersuchung ist ein wesentliches Element des Gerichtsverfahrens bei der Klassifizierung der Strafen und wird dann eine Bedingung des Strafvollzugs bei der Klassifizierung der ›Moralitäten‹. Sie muß den Häftling vom Gericht ins Gefängnis begleiten, wo es die Pflicht des Direktors ist, die Untersuchungsbefunde nicht nur zu sammeln, sondern im Laufe der Haft auch zu vervollständigen, zu kontrollieren und zu korrigieren.« Hinter dem Rechtsbrecher, dem durch die Ermittlung der Tatsachen die Verantwortung für ein Vergehen zugeschrieben werden kann, zeichnet sich der Charakter des Delinquenten

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T. v. Uexküll und W. Wesiack, Psychosomatische Medizin und das Problem einer Theorie der Heilkunde, S. 9. Vgl. G. Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner, S. 10f.

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ab, dessen allmähliche Formierung durch die biographische Nachforschung aufgezeigt wird. Die Einführung des »Biographischen« ist von großer Bedeutung in der Geschichte des Strafwesens, weil sie den »Kriminellen« vor dem Verbrechen und letzten Endes sogar unabhängig vom Verbrechen schafft. Und weil von da aus eine psychologische Kausalität die juristische Zuweisung von Verantwortung begleitet und durcheinander bringt. Man begibt sich damit ins Labyrinth der Kriminologie, aus dem man heute noch längst nicht herausgekommen ist: jede determinierende Ursache, welche die Verantwortung nur verringern kann, zeichnet den Urheber des Rechtsbruchs mit einer um so ungeheuerlicheren Kriminalität und macht um so strengere Straf- und Besserungsmaßnahmen notwendig. Und je mehr die Biographie des Kriminellen in der Gerichtspraxis die Analyse der Umstände ergänzt, um eine Einschätzung des Verbrechens zu ermöglichen, desto mehr verwischen sich die Grenzen zwischen dem Diskurs des Richters und dem Diskurs des Psychiaters: wo sie ineinander übergehen, bildet sich der Begriff des »gefährlichen« Individuums, der es erlaubt, über die gesamte Biographie ein Kausalitätsnetz zu ziehen und ein Besserungs-Straf-Urteil zu fällen.148

IV.3. Büchners ›Woyzeck‹ zwischen Naturwissenschaft, Recht und Ästhetik Es ist mit Sicherheit davon auszugehen, daß Georg Büchner mit dem hier skizzierten Woyzeck-Diskurs gut vertraut war – das zeigt die minutiöse Einarbeitung der Gutachten in das Drama. Bereits in seinem Elternhaus dürfte er auf diesen Fall gestoßen sein, denn im selben Jahrgang der ›Zeitschrift für Staatsarzneikunde‹, in der auch das zweite Clarus-Gutachten erschien, veröffentlichte sein Vater als Großherzoglich-Hessischer Bezirks-Physikus sein Gutachten zum Fall des Soldaten Jünger. Dieser hatte in plötzlicher Wut seinen Korporal mit einem Säbel angegriffen. Ernst Büchner machte glaubhaft, der Soldat habe in einem »Anfall von vorübergehendem Wahnsinn«149 gehandelt, und Jünger wurde frei gesprochen. Der Fall Jünger und Ernst Büchners ›Gutachten über den Gemüthszustand eines Soldaten im Augenblick seines Vergehens im Dienste, durch thätliches Vergreifen am Vorgesetzten‹ prägt dann vor allen Dingen die szenische Gestaltung und Dynamik der Rasierszene im Dramenfragment des Sohnes. Büchners Vater wird über diesen Fall hinaus den Sohn mit seiner psychiatrischen Tätigkeit und der ihm dort begegnenden sozialen Realität vertraut gemacht haben. Als Bezirks-Physikus oblag ihm auch das ›Armenkrankenpflege‹-Wesen.150 Während Georg Büchners Medizinstu148 149 150

M. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 327, 323f. Foucault zitiert hier Ch. Lucas, De la réforme des prisons, II, 1838, S. 440–442. E. Büchner, Gutachten über den Gemüthszustand eines Soldaten im Augenblick seines Vergehens im Dienste, S. 70. Vgl. G. Büchner, Sämtliche Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann, Bd. 1, S. 727 (Kommentar). Im folgenden wird Büchner nach dieser Ausgabe unter Nennung des Bandes und der Seitenzahl zitiert. Siehe im weiteren E. G. Franz und R. Loch, Arzt aus Tradition und

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dium in Gießen gehörte das Fach ›Gerichtliche Medizin‹ zum Studienplan. Und womöglich ist er hier erneut auf den Fall Woyzeck in der Vorlesung von Ernst Ludwig Nebel über ›Gerichtliche Heilkunde‹ gestoßen, die dieser 1833/34 hielt. Der Vorlesung lag das ›Lehrbuch der gerichtlichen Medizin‹ von Adolph Henke zugrunde, der sich als Fürsprecher der Clarus-Gutachten profiliert hatte.151 Außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, daß er im Zuge eines ›Kollegs mit anatomischen Übungen‹ die Leiche des Mörders Johann Dieß sezierte. Dieser Fall gehört neben Woyzeck, Schmolling, Jünger und dem Fall Rivière in Frankreich zu den weiteren Intertexten von Büchners Drama.152 Für diese Studie und den Diskurs der Psychosomatik sind allerdings insbesondere die Woyzeck-Gutachten von Belang, auf die sich die folgenden Ausführungen konzentrieren. Die Gutachten zum Fall Woyzeck wie auch weiterer ähnlich gelagerter Fälle hat Büchner nicht allein als »Tatsachenmaterial« verwendet, sondern insbesondere das zweite Clarus-Gutachten ist, wie Dedner zuspitzend formuliert, als »Strukturquelle«153 zu betrachten. Ihm kommt eine ähnliche Bedeutung zu wie Friederichs ›Unsere Zeit, oder geschichtliche Uebersicht der merkwürdigsten Ereignisse von 1789–1830‹ für ›Danton’s Tod‹ oder dem Oberlin-Bericht für ›Lenz‹. Handlungsschemata, -orte und -motive, Figurenkonstellation und Namen, das soziale Umfeld, die Krankheitssymptome bis zu einzelnen Reden des historischen Woyzeck haben Eingang in die Handschriften gefunden. Und ebenso wie im Falle der anderen genannten Intertexte steht auch ›Woyzeck‹ in einem äußersten Spannungsverhältnis zu seinem Prätext. Manfred Pfister spricht für eine solche Form der Intertextualität in Erinnerung an Bachtin von »Dialogizität«.154 Büchners ›Woyzeck‹ gewinnt in dieser Hinsicht die Qualität eines Gegengutachtens zu Clarus.155 Allerdings beläßt es Büchner keineswegs bei dieser einfachen Form von Intertextualität, sondern für ›Woyzeck‹ wäre die

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Neigung, S. 69; S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 85–89. Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 119. Zu Büchners akademischer Ausbildung siehe jetzt ausführlich U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 24–78; zu seinem psychiatrischen und forensischen Kenntnisstand siehe im weiteren S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 85–99; M. Kitzbichler, Aufbegehren der Natur, S. 123f. Vgl. I, 714–729 (Kommentar). I, 721 (Kommentar); Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 114. M. Pfister, Konzepte der Intertextualität, S. 29. Am vehementesten vertritt Alfons Glück diese Ansicht. Er behauptet, Woyzeck sei unzurechnungsfähig gewesen, auch Büchner sei zu diesem Urteil gekommen und habe darum »in der Figur des Doktors im Woyzeck Clarus vor das Tribunal der Tragödie [ge]stellt«, Woyzeck – Clarus – Büchner (Umrisse), S. 426; vgl. ders., Militär und Justiz in Georg Büchners Woyzeck, S. 245, 247. Zur Kritik dieser These siehe bereits S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 166–170.

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Bezeichnung ›Interdiskursivität‹ treffender.156 Denn es handelt sich nicht allein um Text-Prätext-Beziehungen, sondern um ganze Diskurse, die hier zitierend und kommentierend in den Blick geraten und in Form einer Metareflexion auf ihre kommunikativen und bio-psycho-sozialen Grundlagen hin befragt werden. Die Diskursivität ist dabei den Woyzeck-Schriften selbst eingeschrieben. So verweisen die Schriften von Marc und Heinroth schon im Titel auf einen Textraum, der textintern dann noch erweitert wird, z.B. um Gutachten zu anderen Fällen. Es wird ausgewiesen oder unausgewiesen ausgiebig untereinander zitiert, zum einen zu Informationszwecken zum Fall Woyzeck, zum anderen im kritischen Kommentar, der auch Stil und Rechtschreibung umfaßt. Und die Legitimität des Zitierens wird u.a. im Plagiatsvorwurf selbst thematisch.157 Die Sprecherpositionen werden von den Kontrahenten ebenfalls bereits im Titel der Schriften sorgsam markiert, wenn einerseits von Clarus, »K. Sächsischem Hofrat, des Königlich Sächsischen Zivilverdienst- und des Kaiserl. Russischen Wladimirordens IV. Klasse Ritter, ordentl. des. Professor der Klinik, des Kreisamts, der Universität und der Stadt Leipzig Physikus und Arzt am Jakobsspital«, von »Herrn Hofrath Dr. Clarus«, von »Heinroth, öffentlicher Professor der psychischen Heilkunde«, von »Herrn Dr. und Professor J. C. A. Heinroth« die Rede ist, und andererseits vom einfachen Doktor Marc, »D.«, »Landgerichts-Physikus und ausübendem Arzte zu Bamberg«.158 Die Debatte der Psychiker und Somatiker gewinnt also auch im Falle Woyzecks Züge einer 156

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Von Phänomenen der »Diskurskoppelung« und »Überschneidung von Diskursen« im Werk Büchners spricht Rudolf Drux, »Eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche«, S. 346, 348. Die diskursive Verfassung des Falls Woyzeck arbeiten auch heraus: Peter Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 243–258; Rüdiger Campe, Johann Franz Woyzeck; G. Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner, S. 45–49. Das Zitat als prägendes Merkmal der Büchner-Texte ist Helmut Müller-Sievers zufolge in Reaktion auf eine philosophisch-wissenschaftliche Orientierungskrise im frühen 19. Jahrhundert zu verstehen, vgl. Desorientierung, S. 13–50. Stilkritik und Plagiatsvorwurf, Marc habe auf den ersten dreißig Seiten seines Textes einen »Abdruck« von Clarus gebracht, den er »gleichsam fuer seine eigene Arbeit ausgiebt«, bringt Heinroth einleitend, um dann mit einer Liste von Rechtschreibfehlern fortzufahren, J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 3. So lautet der vollständige Titel von Clarus’ Veröffentlichung des zweiten Woyzeck-Gutachtens in der ›Zeitschrift für die Staatsarzneikunde‹: Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen von Dr. Johann Christian Clarus, K. Sächsischem Hofrat […]. Vgl. J. C. A. Heinroth, öffentlicher Professor der psychischen Heilkunde auf der Universität zu Leipzig, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift: War der am 27. August 1824 zu Leipzig hingerichtete Moerder J. C. Woyzeck zurechnungsfaehig?; War der am 27ten August zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? Enthaltend eine Beleuchtung der Schrift des Herrn Hofrath Dr. Clarus: ›Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Joh. Christ. Woyzeck nach Grundsätzen der Staatsarzneikunde aktenmäßig erwiesen‹. Von Dr. C. M. Marc, K. b. Landgerichts-Physikus und ausübendem Arzte zu Bamberg; C. M. Marc, (A)n Herrn Dr. und Professor J. C. A. Heinroth in Leipzig, als Sachverwalter des Herrn Hofrathes Dr. Clarus.

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solchen zwischen Universitäts- und Anstaltspsychiatrie.159 In der Figur des Professors wird Büchner dem in seinem Drama Rechnung tragen. Heinroth präsentiert den Streitfall Woyzeck als einen den einzelnen Fall übersteigenden »Krieg«,160 der Sammelrezensent der Woyzeck-Schriften spricht von einer »literarischen Fehde […] im Gebiete der medicinischen Psychologie«161 und zeigt sich sensibel für die agonale Gesprächssituation. Es handelt sich um einen Diskurs, in dem die Rahmenbedingungen thematisch werden, der einen bestimmten psychisch-somatischen Code hat, und in dem Fragen nach ›Normen‹ der Forensik im Hinblick auf legitime Krankheitsbilder, die Validität ihrer Urteile und die Anzahl der Gutachter verhandelt werden. Auch um die disziplinäre Abgrenzung wird gestritten, denn die Rolle des Psychiaters zwischen »Arzt« oder »medicinische[m] Richter«162 steht zur Disposition. Der hinter den Initialen B. H. G. anonym bleibende Sammelrezensent erweitert das Textkorpus bereits mit dem Verweis auf die Gutachten zum Fall Schmolling. In der Zitation von Clarus bei Marc, Marc bei Heinroth und umgekehrt sowie aller drei Autoren in den weiteren Sammelrezensionen und Kommentaren wird Intertextualität zu einem wesentlichen Merkmal der Woyzeck-Debatte. Büchner greift mit dem Fall Woyzeck also nicht irgendeinen Mordprozeß auf, sondern einen Diskurs, in dem dessen Rahmenbedingungen selbst schon thematisch werden und der darüber hinaus weitreichende geschichtliche Folgen zeitigt. Er leitete eine restaurative Wende in Gerichtspsychiatrie und Justiz ein und zeigt zum ersten Mal die tödlichen Konsequenzen, die mit der psychosomatischen Fragestellung verbunden sein können. In Frankreich hat der Fall Rivière eine vergleichbar große Rolle gespielt.163 Die verspätete Publikation von Büchners Drama – entstanden in den Jahren 1836/37 wurde es erst 1875 und 1878 in Zeitschriften, 1880 in einer Gesamtausgabe von Büchners Werken aus dem Nachlaß von Karl Emil Franzos ediert –164 hat den Text aus diesen historisch-diskursiven Verbindungen herausgelöst. Der Fall Woyzeck war in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts bereits so weit in Vergessenheit geraten, daß das Dramenfragment aufgrund des schwer entzifferbaren Figurennamens zunächst unter ›Wozzeck‹ reüssierte. Den Bezug zum historischen Fall Woyzeck hat Hugo Bieber erst

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Diesen institutionellen Charakter der Debatte stellt heraus K. Dörner, Bürger und Irre, S. 262– 279, v.a. S. 273f. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 2. B. H. G., (Die Streitschriften von Clarus, Marc und Heinroth), S. 145. So in Marcs Kritik an Clarus’ Gutachtenstil, der sich nicht auf medizinische Beobachtung beschränke, sondern juristische Urteilskompetenz beanspruche, Marc, An Heinroth (1826), S. 16f., zit. nach P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 271. Vgl. Der Fall Rivière. Hrsg. von M. Foucault. Vgl. I, 706–711 (Kommentar); B. Dedner, Nachwort, S. 176–180; H. Poschmann, Georg Büchner, S. 234–245.

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1914 hergestellt.165 Büchners Drama als ästhetischer Kommentar zu den Entwicklungen in Psychiatrie, Medizin, Wissenschaft, Militär und Justiz – diese zeitgenössische Aufnahme blieb dem Text verwehrt. Eine Aufforderung aus ›Danton’s Tod‹: »Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden« (I, 62), scheint über der Versuchsanordnung von Büchners ›Woyzeck‹ zu stehen. Das Individuum wird hier tatsächlich als ein Schnittpunkt von Diskursen präsentiert. Und bei dieser Formulierung wäre es vorschnell, gleich an die Diskursanalyse des 20. Jahrhunderts zu denken. Ihre historischen Vorläufer hat diese eben im 19. Jahrhundert, das die Einsicht in das Ich als ein »Bündel von Trieben und Gefühlen«, als »Kreuzungspunkt von Zusammenhängen«, etwa des »Milieus«, oder als »Mittelpunkt von Kraftwirkungen«166 formuliert. Büchners spezifischer Beitrag zu dieser Reformulierung des Menschen im Spannungsfeld von Trieben und Milieu liegt in der Sprachanalyse. Mit den ›Phrasen‹ wird neben Psyche, Körper und Umwelt die Sprache bzw. zeichenhaftes Ausdrucksgeschehen als vierte Koordinate in die Betrachtung aufgenommen. Dabei wird im Drama zugleich deren deformierende und konstruktive Macht plastisch. Nach der in ›Lila‹ anschaulich gewordenen Sprachtherapie ist Büchner derjenige, der diese Dimension systematisch in den psychosomatischen Diskurs einbringt und sie zugleich auf ihre machttheoretischen Konsequenzen hin befragt. Büchners Drama zeigt die diskursive Umstellung der Woyzeckfigur durch Psychiatrie, Medizin, Wissenschaft und Militär, entwickelt aber auch literarische Strategien, seine Figur aus dieser Umstellung zu befreien. Zum einen verändert er auf der Makroebene die Grundlagen des Diskurses, etwa im Gattungswechsel von der Gutachtenprosa zur dramatischen Reinszenierung des Protagonisten, zum anderen weist er auf einer Mikroebene in einzelnen Momenten auf alternative Sprach- und Handlungsmöglichkeiten. Später, in der Psychoanalyse Freuds wird diese diskursund sprachanalytische Dimension der Psychosomatik in der Wahrnehmung von Krankheit als seelischleiblichem Ausdrucksgeschehen und der ›talking cure‹ eine wissenschaftliche Verankerung finden. Das von Büchners Drama präsentierte machtanalytische Potential ist dort jedoch und vielleicht auch bis heute noch nicht hinreichend ausgeschöpft. 167 IV.3.1. Medizin, Wissenschaft und Moral. Die Kritik von Urteilsstrukturen Büchners Umgang mit dem Woyzeck-Material ist im Detail durch äußerste Genauigkeit gekennzeichnet – so werden die Symptome des historischen Woy165 166

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Vgl. I, 696 (Kommentar). Die Zitate stammen von Wilhelm Dilthey (V, 177; VII, 135, 250), entsprechende Nietzscheoder Freud-Zitate ließen sich ergänzen und gründen ihrerseits in der physiologischen Forschung, die im Kontext von Büchner noch näher erläutert wird. Das akzentuieren auch A. Glück, Woyzeck, S. 206ff.; G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 195ff.

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zeck minutiös nachgezeichnet und wörtliche Rede aus den Clarus-Gutachten zitiert –, weist in den Grundstrukturen unter Ausnützung der durch den Gattungswechsel von der Prosa der Gerichtsgutachten zum Drama sich bietenden Möglichkeiten jedoch massive Abweichungen auf. Die Dramatisierung Woyzecks wird im folgenden als Ermächtigung der Woyzeck-Stimme gelesen, die gleichsam aus den diskursiven Umstellungen der Gerichtspsychiatrie, den Deutungen von Clarus, Marc, Heinroth u.a., befreit wird und nun wieder für sich selbst sprechen darf.168 In diesem Zuge werden allerdings, weit über den Einzelfall hinausgehend, nicht allein die Diskursbedingungen und Urteilsstrukturen der Forensik beleuchtet, sondern die moderne Auffassung des Menschen in der disziplinären Vielfalt von Wissenschaft, Militär, Religion, Moral und Kunst. In seinem ästhetischen Kommentar im Zusammenhang mit dem Geschehen um Woyzeck vollzieht Büchner eine Demokratisierung des Diskurses, die mit zwei grundlegenden Strategien arbeitet: einmal mit der Aufwertung unterlegener Sprecherpositionen, der sich die Argumentation erst in einem zweiten Schritt zuwendet, und einmal mit der Abwertung von Autoritäten. Dies gelingt Büchner, indem er die sich erst nach Woyzecks Hinrichtung entspinnende gerichtspsychiatrische Debatte in die Handlungszeit des Dramas hineinverlegt, in dem uns die letzten zwei, drei Tage vor dem Mord und dieser selbst geschildert werden. Das führt zur paradoxen Lage, daß Woyzeck den Agenten der Gerichtspsychiatrie gleichsam schon vor der begangenen Tat in die Hände fällt. Dies läßt sich als literarische Realisierung einer Einsicht lesen, die zuspitzend so formuliert worden ist: Die Justiz, Kriminologie, Psychiatrie und das Gefängnis habe im 19. Jahrhundert »den ›Kriminellen‹ vor dem Verbrechen und letzten Endes sogar unabhängig vom Verbrechen«169 geschaffen. Tathergang und Urteil werden in Büchners Drama so ineinander geschoben, daß zwischen beiden ein ursächlicher Zusammenhang besteht. So ergeht das Urteil, die Diagnose des Doktors »aberratio mentalis partialis« (I, 210), vor dem begangenen Mord, und der Menschenversuch an Woyzeck, das Ernährungsexperiment des Doktors, kann wiederum ursächlich für die Erkrankung und den Mord (mit-)verantwortlich gemacht werden. Die sich bei der Thematik ebenfalls anbietende analytische Dramenform, etwa ein Gerichtsdrama, das den Tathergang in der Verhandlung rekonstruiert und so auch die Gutachter zu Wort kommen läßt, wurde gerade nicht gewählt.170 Sondern Büchner zeigt synthetisch, ganz so wie 168

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Auf die »mediale Konkurrenz« zwischen Bühnenwerk und Gutachten sowie auf die dramatische Befreiung des Datenmaterials »von perspektivischen Überformungen der Gutachter« macht auch Peter Ludwig aufmerksam, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 264, 269. M. Foucault, Überwachen und Strafen, S, 324. Glück übersieht diese Differenz, wenn er ›Woyzeck‹ umstandslos in die Tradition der »Gerichtsspiele« der attischen Tragödie stellt, Militär und Justiz in Georg Büchners Woyzeck, S. 247; vgl. ders., Woyzeck, S. 204ff., 210. Georg Reuchlein führt mit Bedauern die fehlende Dimension eines Gerichtsdramas auf den Fragmentcharakter zurück, vgl. G. Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner, S. 47f. Rüdiger Campe

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es die gerichtspsychiatrische Arbeit nach Ideler erfordert, »aus den Bekenntnissen des Thäters und aus anderweitigen gerichtlich ermittelten Thatsachen den Entwicklungsprocess des Motivs bis zum Augenblicke der incriminirten That« und läßt dabei mit dem Eifersuchtskomplex und der psychosomatischen Symptomsprache auch die »obwaltenden wesentlichen psychologischen Verhältnisse in ein helles Licht treten«. Zu einem eindeutigen, »jede Annahme des Gegentheils unbedingt« ausschließenden »Endurtheil« fügt sich Büchners »genetische Darstellung«171 allerdings nicht. Die erste Handschrift verzeichnet als ein solches mögliches Endurteil die Rede des Polizisten oder Gerichtsdieners: »Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schön Mord« (I, 189).172 Diese finale Kollision und Fügung des Guten, Wahren und Schönen mit Mord führt das Urteilen selbst ad absurdum. In der genetischen Darstellung von Woyzecks Entwicklungsprozeß bis zur Tat und gleichzeitiger Schilderung der Verurteilungen entsteht im dramatischen Präsens eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die weitaus komplexere Wirkungszusammenhänge in Szene setzt als die zuvor betrachtete forensische Debatte. Büchners dramatische genetische Darstellung tritt in bewußte Konkurrenz zur forensischen, indem nicht die Biographie des einzelnen erzählt wird, sondern die Geschichte von Erfahrungsstrukturen, die Subjekt und Objekt, Täter und Opfer gleichermaßen prägen. So bleiben die als Individuen gezeichneten Figuren des Stücks, Woyzeck und Marie, gleichsam ohne Vergangenheit,173 hingegen wird die Geschichte von Krankheitsbildern, Berufen, sozialen Ordnungen etc. berichtet. Büchners Historiographie ist nicht an der Einheit der Person ausgerichtet, was sich u.a. an den Umarbeitungen einzelner Figuren in den Handschriften verfolgen läßt. Wolfgang Martens hat dies ausgehend von der Figur des Barbiers in H 1,10 und ihren Transformationen in den weiteren Handschriften gezeigt. Allerdings bezieht er die Einsicht, daß Büchner »in motivischen Elementen, nicht in individuellen Personen«174 denke, nur auf die Nebenfiguren. In Anbetracht der Umformungen des historischen Woyzeck in Büchners Drama, der ebenfalls seziert, in einzelne Merk-

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hingegen koppelt Büchners Drama zu stark vom gerichtspsychiatrischen Woyzeck-Diskurs ab, nur weil sich im Drama »die Repräsentation der Repräsentationsakte nicht« auf den »Täter Woyzeck« bezieht bzw. allgemeiner gesprochen, die Frage der Zurechnungsfähigkeit aus dem engen gerichtspsychiatrischen Rahmen entlassen wird, Johann Franz Woyzeck, S. 236. K. W. Ideler, Einleitung, S. 47f. Vgl. G. Büchner, Woyzeck. Bd. 7.1, S. 20. Sabine Kubik hat anläßlich dieses Ausspruchs zu Recht bemerkt, Büchners Drama wende sich »kritisch gegen eben jene Eindeutigkeit, die das Wesen des juristischen wie auch des forensischen Diskurses ausmacht«, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 169. Kittsteiner und Lethen sprechen von einer »Entzeitlichung der Handlung als Folge der IchLosigkeit des Helden«, übersehen jedoch, daß Zeit und Geschichte jenseits der Person zur Darstellung kommen, Ich-Losigkeit, Entbürgerlichung und Zeiterfahrung, S. 254. Zum Zusammenhang von Büchners literarischer und der zeitgenössisch in den Naturwissenschaften praktizierten ›genetischen Methode‹ s.u. W. Martens, Der Barbier in Büchners Woyzeck, S. 371.

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male zerlegt und auf mehrere Figuren verteilt wird, läßt sich dies jedoch auf das gesamte Drama, einschließlich der Hauptfiguren beziehen. Die um die Einzelperson konzentrierte forensische Woyzeck-Debatte löst sich im Drama in die Gestaltung eines pathologischen Feldes auf. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, gehören zu diesem Feld der Barbier, der Doktor, der Professor, Woyzeck, der Narr, der Hauptmann und die alkoholisierten Figuren des Stücks, die Handwerksburschen und der Tambourmajor. IV.3.1.1. Die Genese von Berufsrollen, Wissenschaftsformen und Versuchsanordnungen Die Figur des Doktors, die dann mit dem partiellen Wahnsinn Diagnosen ins Spiel bringt, wie sie für den historischen Woyzeck diskutiert wurden, taucht erst in der zweiten Handschrift auf. Im ersten Entwurf gibt es jedoch mit dem Barbier einen Vorläufer des Arztes, der zugleich auch mit Bader, Wundarzt und Chirurg zu den zunfthandwerklichen Vorgängern des im 19. Jahrhundert sich wissenschaftlich professionalisierenden Mediziners gehört.175 In der Szene 1,10 verweist das »Rasirmesser« in der Hand des Barbiers medizingeschichtlich auf das Skalpell des Arztes voraus. Zugleich hat diese Figur eine Berufskrankheit, einen verkrümmten Rücken, »spinosa pericyclyda; ich hab ein lateinischen Rükken. Ich bin ein lebendges Skelett, die ganze Menschheit studirt an mir«, die sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung macht und ihr so auch den Lebensunterhalt sichert. »Ich bin die Wissenschaft. Ich bekomm für mei Wissenschaftlichkeit alle Woche ein halb Gulde, schlag Er mich nicht grad oder ich muß v(er)hungern.« In der Figur des Barbiers ist also eine Täter-OpferKonstellation zusammengezogen, die in den nachfolgenden Handschriften in das Opfer Woyzeck als Versuchsobjekt und in den Doktor als Täter auseinanderdividiert wird. Auch die Figurencharakterisierung in Szene 1,21 zeichnet den Barbier als Präfiguration der Doktor-Figur der weiteren Handschriften: »BARBIER dogmatischer Atheist. Lang, hager, feig, geistreich, Wissenschaftl.« (I, 182,189) Daß Büchner in der ersten Handschrift den ursprünglich erlernten Beruf des historischen Woyzeck als »Friseur«176 in einer eigenen Figur, neben dem Soldaten Louis, gestaltet, zeigt seine auch im weiteren noch zu beobachtende

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Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 87. Ausführlich zur Transformation der Figur und dieser Szene in den weiteren Handschriften siehe W. Martens, Der Barbier in Büchners Woyzeck. Zur historischen Entwicklung der Heilberufe siehe C. H. Schauenburg, Handbuch der öffentlichen und privaten Gesundheitspflege, S. 344–352; K. Pfeiffer, Medizin der Goethezeit, S. 6–8; und zu den Professionalisierungsbestrebungen im frühen 19. Jahrhundert im Zuge der Entwicklung einer Staatsarzneikunde siehe P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 65–69. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 79.

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Arbeitsweise, das Datenmaterial zu Johann Christian Woyzeck im Drama auf mehrere Protagonisten aufzuteilen. Im zweiten Entwurf ist es dann Woyzeck, der sich als Versuchsobjekt verdingt. Er erhält vom Doktor alle »Tag 3 Grosch(e) und Kost« für Ernährungsversuche, die durch regelmäßige Urinproben kontrolliert werden. »Hat er schon sei Erbse gegessen, nichts als Erbsen, nichts als Hülsenfrüchte, cruciferae, merk’ er sich’s. Die nächste Woche fangen wir dann mit Hammelfleisch an.« Durch diese Versuche, in denen er Woyzeck eingestandenermaßen – in der lateinischen Bezeichnung für Kreuzblütler –177 ans Kreuz der Wissenschaft schlägt, erhofft sich der Doktor »eine Revolution in der Wissenschaft« (I, 195f.). Mit dem Ernährungsexperiment bezieht sich Büchner auf entsprechende Forschungen mit einseitiger Ernährung, die etwa seit 1815 an Tieren und auch Menschen vorgenommen wurden und deren Ergebnisse u.a. durch eine veränderte Harnstoffkonzentration im Urin dokumentiert wurden.178 Vor allem in den frühen 30er Jahren in Frankreich wurden zunächst an einer Person, dann in breiter angelegten Versuchsreihen u.a. an Soldaten Ernährungsstudien mit Gelatine und Hülsenfrüchten durchgeführt, die ein nationalökonomisches Interesse an billigen Nahrungssubstituten für ärmere Bevölkerungsschichten verfolgten, etwa für das Militär oder für Insassen von Hospitälern, Irrenanstalten und Armenhäusern. Die Bevölkerungsexplosion und die gleichzeitige Verarmung breiter Schichten im Zuge der Industrialisierung entwickelten sich im 19. Jahrhundert auch zu einem ernährungstechnischen Problem. Mit dem gezielten Menschenversuch macht Büchners Doktor Woyzeck zu einem Instrument der Lösung dieser Problematik und weist darin gleichsam prophetisch auf die weitere wissenschaftliche Entwicklung in Deutschland. Erst wenige Jahre nach der Niederschrift von Büchners ›Woyzeck‹, 1840, wird Justus Liebig ernährungsphysiologische Experimente in Gießen an einem ›Detachement Soldaten‹ durchführen und seine Ergebnisse 1842 publizieren. Im Clarus-Gutachten war mit der erwähnten »Nahrungslosigkeit« auch ein Anhaltspunkt für die dramatische Inszenierung der Ernährungsfrage gegeben. Diese galt dort zwar als Grund für die »Traurigkeit, Niedergeschlagenheit und Verschlossenheit« des historischen Woyzeck, nicht jedoch als legitime Ursa-

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Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 97. Ausführlich hierzu: J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 461–467; Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 183–188; U. Roth, Georg Büchners Woyzeck als medizinhistorisches Dokument; A. Glück, Der Menschenversuch; A. Glück, Woyzeck. Büchner verweist auf Müllers ›Handbuch‹ in seiner Dissertation, vgl. II, 84, 120, 122, und er hat auch für die Darstellung der Forschungen anderer ausgiebig auf Müllers Handbuch zurückgegriffen, vgl. U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 52f., 56f., 59f., 66f., 439. Für die zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Debatten stellt Müller die wichtigste Referenz dar, wie sich auch am ›Woyzeck‹ noch verschiedentlich zeigen läßt.

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che einer Seelenstörung.179 In anderen psychiatrischen Überlegungen der Zeit wurde hingegen der Verdauungstrakt sehr wohl in einen ursächlichen Zusammenhang mit Seelenstörungen gebracht, so bei Pinel, Reil und später bei den Somatikern. In den von Reil tradierten Fallgeschichten Pinels liegt insbesondere bei Anfällen der Manie ohne Delirium eine »brennende Hitze im Unterleibe« vor, die über die »Schlagadern des Halses« bis zum »Gehirn aufsteigt« und etwa einen »unwiderstehlichen Drang zum Morden«180 hervorrufen kann. Zeitgenössische Ernährungsexperimente ließen einen Zusammenhang zwischen »Hungernden« und »Irren«181 erkennen. In Büchners Dramenfragment greift der Doktor diese somato-psychische Argumentation auf, wenn er im Zuge seines Ernährungsexperiments als dessen psychische Folgen eine »schöne fixe Idee, eine köstliche alienatio mentis« diagnostiziert. Auch körperlich zeigt seine Versuchsreihe an Woyzeck durchschlagende Erfolge. So kann dessen Haarausfall direkt auf die einseitige Ernährung zurückgeführt werden, Magendies Versuche an Hunden hatten zu ebendiesem Ergebnis geführt.182 Die gesamte körperliche und somato-psychische Symptomatik Woyzecks erscheint so vom Doktor induziert: Halluzinationen, Verfolgungswahn, rasender Puls, Schweißausbrüche, Schwindelanfälle bis schließlich zur Mordtat. Daß die Ernährungsexperimente zumeist letal ausgehen, hatte William Starke im Selbstversuch am eignen Leib erfahren müssen – nach einer auf Zucker basierenden Diät verstarb er nach wenigen Monaten –, wie auch Magendies Tiere.183 Es wird deutlich, 179

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 115. Clarus argumentiert, daß »Unterleibskrankheiten […] keineswegs notwendig und in allen Fällen mit einer Hemmung oder mit einem Verlust des freien Verstandesgebrauches verbunden« seien, ebd. S. 111. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 389. Zu Unterleibskrankheiten als Ursache von Geisteskrankheit siehe auch A.-L.-J Bayle, Allgemeine Bemerkungen über chronische Unterleibsentzündung und die mit derselben häufig verbundene Seelenstörung; F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 117, 119, 168, 203, 256f., 264–267. J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 466. Die von Büchners Doktor verzeichnete geringe Harnstoffkonzentration könnte auf folgenden Fall anspielen: »Der Urin enthält noch Harnstoff, wie Lassaigne […] bei einem Irren nach einem Hungern von 18 Tagen fand«, ebd. S. 466, vgl. S. 570. Schon Pinel hatte während der Französischen Revolution 1793/94 an den Irren in Biçetre bemerkt, daß Brotmangel deren Zustand verschlimmere, vgl. J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 444. Auch Reil hält den Zusammenhang von Wahnsinn und Nahrung fest, vgl. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 466ff. Johannes Müller kann die bislang ›sympathisch‹ erklärte Fernwirkung zwischen Organen und Nerven, wodurch etwa »Veränderung des Sehens und Hörens« mit »Krankheiten der Unterleibsorgane« in Verbindung stehen, durch das von ihm zuerst ausformulierte Konzept des Reflexbogens plausibel machen, J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 727, vgl. 749f. und s.u. Vgl. Szene 4,1 bei Poschmann bzw. 3,1 bei Dedner und J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 463; Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 184. Vgl. U. Roth, Georg Büchners Woyzeck als medizinhistorisches Dokument, S. 517. Zu den

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daß Büchner durch die Einführung der Ernährungsexperimente die Rahmenbedingungen der forensischen Woyzeck-Debatte nachhaltig verändert. Die im Clarus-Gutachten unabhängig voneinander verhandelten Themen Ernährung und Psychosomatik werden verbunden, und dadurch sind ganz andere ursächliche Zusammenhänge und Zurechnungsfragen erkennbar. Mit seinen Ernährungsexperimenten reiht sich Büchners Doktor in die Reihe der Somatiker ein. Die von ihm anvisierte »neue Theorie« scheint offensichtlich vom Zusammenhang des Verdauungstraktes mit Geistesstörungen zu handeln, und mit Woyzeck soll sie experimentell bewiesen werden. Auch die Charakterisierung der Vorläufer-Figur, des Barbiers, kann hier noch einmal ins Spiel gebracht werden. Als »dogmatischer Atheist« (I, 197, 189) wäre auch sein Nachfolger eher im somatischen Lager zu verorten. Die Versuchungsanordnung des Doktors stellt einen totalen Zugriff auf Woyzecks Leben dar, das körperlich-psychisch manipuliert, in seinem zeitlichen Ablauf normiert wird und auch noch seine anderen Arbeitsbereiche, etwa seine militärischen Tätigkeiten in den eigenen Plan mit einbezieht. DOCTOR Woyzeck! er kommt ins Narrenhaus, er hat eine schöne fi xe Idee, eine köstliche alienatio mentis. Seh’ er mich an, was soll er thun, Erbsen essen, dann Hammelfleisch essen, sei Gewehr putzen, das weiß er Alles und da zwische die fi xen Ideen, die +, das ist brav Woyzeck, er bekommt ein Groschen Zulage die Woche, mei Theorie, mei neue Theorie, kühn, ewig jugendlich. Woyzeck, ich werde unsterblich. Zeig’ er sei Puls! ich muß ihm morgens und Abends den Puls fühlen. (I, 197)

Auch die Erwähnung des Narrenhauses paßt hier ins somatische Bild, ist die Debatte der Psychiker und Somatiker doch auch eine der Universitäts- gegen die Anstaltspsychiatrie. Der Doktor ist hier nicht allein Fürsprecher der modernen Irrenanstalten, sondern in seiner Person verkörpert er diese. ›Er kommt ins Narrenhaus‹ ist keine Zukunftsprognose, sondern eine Gegenwartsschilderung. Denn alle Disziplinierungsmaßnahmen moderner totaler Institutionen wie Gefängnis, Militär und Irrenanstalt wendet der Doktor bei Woyzeck bereits an. Selbst die körperliche Züchtigung bei Zuwiderhandlung scheint nicht ausgeschlossen, denn er »tritt auf ihn los«. Und auch der erzieherisch-moralisierende Ton fehlt nicht: »O! Woyzeck das ist schlecht«, »abscheulicher Aberglaube«. Woyzeck ist schon Insasse im Narrenhaus des Doktors, dem zur Vollständigkeit nur noch die architektonische Realisierung fehlt. Sprachlich drückt sich der totalitäre Zugriff im Sprechakt des Imperativs aus, auf den die Szene 2,6 immer deutlicher zuläuft. Anfänglich werden die Aufforderungen noch in Fragen verpackt: »Muß er nicht aufs secret? Mach er«, um schließlich im Stakkato deut-

zumeist letalen Ernährungsexperimenten mit Tieren siehe auch ausführlich J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 461–467.

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licher Befehle zu enden: »Seh’ er mich an«, »Erbsen essen«, »sei Gewehr putzen«, »Zeig’ er sei Puls!« (I, 195f.). Mit dem Gewehr putzen wird hier auch auf eine mögliche Allianz und Konkurrenz zwischen den modernen Institutionen aufmerksam gemacht. Das Militär stellt im Dramenfragment die zweite Ordnungsmacht dar, die einen vergleichbar umfassenden Zugriff auf Woyzecks Alltag hat, wie dies der Doktor für seine Disziplin beansprucht. Militärisch wird Woyzecks Zeit durch Zapfenstreich (2,1) und »Verles« (I, 192) strukturiert und neben eigentlich soldatischen Pflichten durch diverse Nebentätigkeiten angefüllt, wie Stöcke schneiden und den Hauptmann rasieren. Woyzecks Liebes- und Familienleben ist durch rechtliche und finanzielle Schwierigkeiten gestört, die das Militär der Ehe eines einfachen Soldaten in der damaligen Zeit in den Weg stellte.184 Und selbst bei dem Nebenbuhler handelt es sich noch um einen ranghöheren Vertreter des Militärs. Daß militärische und medizinische Disziplin ineinander greifen und sich insofern komplizenhaft in der Zurichtung des Individuums ergänzen, zeigt sich in der beiderseitigen Befehlsstruktur. Durch das sprachliche Training, das Woyzeck im Militär durchlaufen hat, so daß er jede Rede des Hauptmanns mit einem notorischen ›Ja wohl‹ beantwortet, ist er bestens für die Imperative des Doktors konditioniert. Daher ist es nur konsequent, daß er auch im Gespräch mit dem Doktor militärische Haltung annimmt: »steht ganz gra(de)« (I, 196). Als Zurschaustellung gelungener Arbeitsteilung zwischen Militär und Medizin läßt sich auch die Szene 2,7 lesen. Woyzeck befindet sich hier im Gespräch mit dem Hauptmann und dem Doktor und wird dabei gleichsam zwischen zwei Disziplinen aufgerieben, die beide ihr böses Spiel mit ihm treiben. Die Szenenfolge 2,6–7 ist ein gutes Beispiel für die enge zeitliche und thematische Fügung der Szenen in Büchners Drama. Eben noch hatte der Doktor Woyzeck mit dem Gewehrputzen an seine militärischen Pflichten erinnert, und schon taucht metonymisch der Hauptmann auf der Bildfläche auf. Er informiert Woyzeck über Maries Liaison mit dem Tambourmajor und weidet sich an dem durchschlagenden Erfolg seiner Rede: »Kerl er ist ja kreideweiß.« Dies gibt wiederum dem Doktor Gelegenheit, seine Studien an Woyzeck weiter zu betreiben. Jetzt unter der Fragestellung, welche körperlichen Symptome dieser psychische Schock hervorruft. »DOCTOR Den Puls Woyzeck, den Puls, klein, hart, hüpfend, ungleich. [...] Gesichtsm(us)keln starr, gspannt, zuweilen hüpfend, Haltung aufgericht gspannt.« (I, 199) Dieser Protokollstil erinnert nicht

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Vgl. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 97; A. Glück, Militär und Justiz in Georg Büchners Woyzeck; Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 193–197. Knapp spricht von einer »militärischen de-facto-Leibeigenschaft«, Georg Büchner, S. 202. Müller-Sievers dokumentiert seine These »Woyzeck ist ein Pauper der Sprache« vorrangig an der militärischen Struktur von Befehl und Gehorsam, in die der Protagonist von Büchners Drama eingelassen ist, Desorientierung, S. 140.

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von ungefähr an Clarus’ medizinische Untersuchungen des Inquisiten Woyzeck.185 Nur gehörten diese in den geregelten Gang des gerichtspsychiatrischen Begutachtungsprozesses. Der in 2,7 geschilderte psychosomatische Zusammenhang in der Beschreibung einer psychischen Ursache und ihrer körperlichen Folgen kann mit zeitgenössischen Entwicklungen in der Nervenphysiologie kontextualisiert werden, die in den Arbeitsbereich des Naturwissenschaftlers Georg Büchner gehören. Charles Bell, ein Pionier der Nervenlehre, ist dem »mysterious influence of soul on body«186 mit an Tier und Mensch durchgeführten Experimenten auf der Spur. Bell hatte 1811 mit seiner Entdeckung der motorischen Funktion der vorderen Wurzel des Spinalnervs einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung des Reflexbogens geleistet, dessen vollständiges Bild in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts von Johannes Müller gezeichnet wird. Wie Büchners Dissertation dokumentiert, war er mit den Arbeiten Bells gut vertraut, und es läßt sich im weiteren zeigen, daß er diese nicht nur für die Beschreibung des Nervensystems der Flußbarben zu Rate zog, sondern auch für die physiologisch genaue Beschreibung von Reiz-Reaktionsketten beim Menschen in ›Woyzeck‹.187 Bell untersucht den Einfluß der Seele auf den Körper in ›Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression‹ (1822) in der konkreten Physiologie der Atmungsnerven, deren weit verzweigtes Netz Brust, Herz und Kopf umspannt und gleichermaßen für die vitale Grundfunktion des Atmens und für das Ausdrucksvermögen des Menschen verantwortlich ist. Als Ausdrucksformen eines psychischen »terrors«

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»Blick, Miene, Haltung, Gang und Sprache völlig unverändert, die Gesichtsfarbe wegen Entbehrung der freien Luft und Bewegung etwas blasser, Atemholen, Hautwärme und Zunge völlig natürlich.« J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 92. Eine ausführlichere Schilderung findet sich im ersten Gutachten vgl. J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 143ff. C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 309. Zu Bells Beitrag zur Beschreibung des Reflexbogens siehe E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 110–121. Als Klassiker der vergleichenden Anatomie und Nervenlehre findet Bell in Büchners Dissertation Erwähnung, vgl. II, 73, 117. Er verweist dort auf die französische Übersetzung eines 1824 unter dem Titel ›An exposition of the natural system of the nerves of the human body‹ veröffentlichten Sammelbandes von Bell, in den auch der oben genannte Vortrag ›Of the Nerves‹ aufgenommen ist. Die vollständige Angabe der bei Büchner nur mit einen Kurztitel genannten Übersetzung lautet: Exposition du système naturel des nerfs du corps humain suivies des mémoires sur le même sujet, lus devant la Société Royale de Londres, par Ch. Bell, trad. de l’anglais par J. Genest avec des observations inédites et un nouveau mémoire envoyés par l’auteur. Paris 1825. Johannes Müller hat Bells These, »dass das ganze respiratorische System der Nerven dem Ausdruck der Leidenschaften dient« in sein ›Handbuch der Physiologie‹ aufgenommen und ausführlich dargestellt, J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen fuer Vorlesungen, S. 333. Es spricht jedoch vieles dafür, daß Büchner im Falle Bell das Original rezipierte, vgl. U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 60f., 71. Als Physikotheologe könnte Büchner auch Bell im Auge gehabt haben, wenn er in seiner Probevorlesung von der teleologischen Richtung in England spricht, siehe Roth, ebd., S. 204–210, 474f.

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werden in diesem Vortrag u.a. benannt: »eyes intently fixed on the object of his fears«, »hesitating and bewildered steps«, »spasm on his breast«, »his heart knocks at his ribs«, »the lips and cheeks being ashy pale«.188 Eine ähnliche Symptomvielfalt ist an Woyzeck in Szene 2,7 zu beobachten, von dem ›kreideweiß‹, dem harten Puls, dem starren, stechenden Blick (»er ersticht mich ja mit sei Auge«) bis zum unsicheren Gang (»geht mit breiten Schritten ab erst langsam dann immer schneller«, I, 199). Verfolgt der Doktor mit der Erbsendiät ein somato-psychisch angelegtes Forschungsprojekt, so zeigt diese Szene, daß er auch für eine psycho-somatische Fragestellung, nach den konkreten physiologischen Reaktionen auf einen psychischen Reiz, Interesse zeigt. Welche Folgen ein solches Erlebnis haben kann, formuliert in 3,9 der Hauptmann: »es sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen hellen Schreck.« (I, 211) In 2,7 macht Woyzecks Suizid-Gedanke auf die möglichen letalen Konsequenzen einer seelischen Verletzung aufmerksam: »Der Mensch! Es ist viel m(ö)glich. […] Sehn sie so ein schön festen grauen Himmel, man könnte Lust bekomm, ein Kloben hineinzuschlage und sich daran zu hänge« (I, 199). Zu Recht ist in der Forschung dieser vom Hauptmann zugefügte und vom Doktor medizinisch protokollierte psychische Schock als zentrales eskalierendes Moment in Woyzecks Krankheitsverlauf festgehalten worden, das bereits auf die »sogenannte ›Schreckpsychose‹ (Emil Kraepelin) und später d[ie]›psychischen Traumata‹ (Josef Breuer / Sigmund Freud)«189 vorausdeute. Allerdings ist die Psychogenese von Krankheiten bereits eine Erkenntnis des 18. Jahrhunderts, das konnte an Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹, an Goethes ›Lila‹ und Reils ›Rhapsodieen‹ beobachtet werden – der Schreck galt hier sowohl als Auslöser wie als Therapeutikum von Krankheiten –,190 und ist im 19. Jahrhundert schon bis ins medizinische Laienbewußtsein des Hauptmanns vorgedrungen. Jetzt kann jedoch der vormals ›mysteriöse Einfluß der Seele auf den Körper‹ auf der Grundlage der neueren physiologischen Forschung exakter über die Ner-

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C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 307f. In Anlehnung an Bell formuliert auch Müller: »Die Athembewegungen werden bis zum Weinen, Seufzen, Schluchzen verändert, die Gesichtsmuskeln verzerrt, in den deprimirenden Leidenschaften, wie in der Angst, im Schrecken, in der Furcht, sind alle Muskeln des gesammten Körpers abgespannt, indem der motorische Einfluss des Rückenmarkes und Gehirns abnimmt. Die Füsse tragen nicht, die Gesichtszüge werden hängend, das Auge starr, der Blick gebannt, ohne Ausflucht, und diess kann bis zur momentanen Lähmung des ganzen Körpers und besonders der Schließmuskeln fortschreiten.« J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 815. G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 205. Breuer und Freud bezeichnen das »psychische Trauma« als »Schreckaffekt« (SH, 29). Siehe u.a. den Art. Wahnsinnigkeit vom Erschrecken. In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 52 [1747], Sp. 862f. Die entsprechende Literatur zum Einfluß der Leidenschaften auf das Wechselverhältnis von Leib und Seele und auf körperliche Krankheiten verzeichnet J. B. Friedreich, Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 193–211.

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ven verfolgt werden. So verzeichnet Franz Amelung als mögliche Folgen eines »heftige[n] Schreckens« »Schlagflüsse, Ohnmachten und einen plötzlichen Tod« verursacht durch einen Blutandrang im Gehirn, der dann reflektorisch auf weitere lebenswichtige Organe wirkt: »Diese Gemüthsaffecte haben alle mehr oder weniger heftige Congestionen nach dem Kopfe zur Folge. Diese Congestionen können […] so stark werden, daß sehr bedeutende Zufälle eintreten, wie z.B. Schlagflüsse, epileptische Zufälle, und vermöge der sympathischen Rückwirkung auf die Organe der Brust und des Unterleibs verschiedene andere Zufälle, welche wir bereits erwähnt haben, wie namentlich beschleunigte Respiration, Herzklopfen, vermehrten Puls, Erbrechen, Durchfall, Gelbsucht, Gallenfieber u.s.w.«191 Im Kontext dieser physiologisch-psychiatrischen Erkenntnisse erscheinen die Handlungsweisen von Hauptmann und Doktor in einem deutlicheren Licht: als psychisch-physische Attacken auf ihr Gegenüber. Dem Hauptmann sind die möglichen letalen Konsequenzen seiner Eröffnung gegenüber Woyzeck durchaus bekannt, wie seine Formulierung in 3,8 »es sind schon Leute am Schreck gestorben« belegt. Es zeigt sich hier, was bereits die Ernährungsexperimente dokumentierten, Büchner bringt den Fall Woyzeck in seinem Drama auf den neuesten naturwissenschaftlichen Stand und verweist darin auf die zentralen Umbrüche des 19. Jahrhunderts: die nationalökonomisch relevante Ernährungsfrage und die Umwertung des Menschen als Reflexwesen. Im weiteren verdeutlicht die Szene 2,7, daß dem Doktor in Büchners Drama jede Alltagssituation – hier das Gespräch auf der Straße – und jedes Leiden eine Möglichkeit zu ›klinischer Beobachtung‹ bietet, für die er sein Versuchsobjekt auch entsprechend belohnen will. So verspricht er dem »Phänomen« Woyzeck nach dieser Episode »Zulag« (I, 211, 199). Die im Drama veranschaulichte Nähe zwischen Militär und Medizin wirkt sich allerdings nicht nur arbeitsteilig aus, sondern auch in konkurrierenden Machtansprüchen, die in der Konfrontation von Hauptmann und Doktor ausgetragen werden.192 Dabei profiliert sich in Gestalt des Doktors die Medizin als die modernere und aggressivere Ordnungsmacht, der hierarchie- und schichtenunabhängig alles und jeder zum Beobachtungs- und Versuchsgegenstand werden kann. Die Krankheit und der Tod sind die großen Gleichmacher. Woyzeck ist zwar aufgrund seiner finanziellen Notlage für den Doktor ein besonders einfaches Opfer, jedoch weisen die in 2,7 erwähnten weiteren Patienten darauf, daß er keineswegs sein einziges bleibt. »DOCTOR Frau, Sie ist in 4 Woch todt, [...] ich hab’ schon 20 solche Patienten gehabt«. Und auch der Hauptmann qualifiziert sich in 2,7 mit seiner psychosomatischen Sympto191 192

F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 289, 288. Dedner nennt als mögliche Anregung für den situativen Kern der Szene das Gedicht ›Der Zweykampf zwischen einem Arzt und einem Hauptmann‹ von Johann Jaeglé, vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 45.

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matik bereits als ein solches. Seine Kurzatmigkeit (»keucht die Straße herunter«), »Angst«, Schreckhaftigkeit (»es sind schon Leute am Schreck gestorben«) und sein Schwindelgefühl (I, 197ff.) sprechen dafür, daß auch er bald in die Hände des Doktors fallen könnte. Im dritten Entwurf dieser Szene ist diese Option dann deutlich ausgearbeitet worden. Der Hauptmann adressiert den Doktor beruflich: »Herr Doctor, ich bin so schwermüthig ich habe so was schwärmerisches, ich muß immer weinen, wenn ich meinen Rock an der Wand hängen sehe, da hängt er«, und erhält postwendend von diesem seine Diagnose: In den nächsten vier Wochen habe er einen Hirnschlag zu erwarten. DOCTOR Hm, aufgedunsen, fett, dicker Hals, apoplectische Constitution. Ja Herr Hauptmann sie könne eine apoplexia cerebralis krieche, sie könne sie aber vielleicht auch nur auf d. einen Seite bekomm, und dann auf der einen gelähmt seyn, oder aber sie könne im besten Fall geistig gelähmt werden und nur fort vegtirn, das sind so ongefähr ihre Aussichte auf d. nächste 4 Wochen. Übrigens kann ich sie versichern, daß Sie eine von den interessanten Fällen abgebe und wenn Gott will, daß ihre Zunge zum Theil gelähmt wird, so machen wir d. unsterblichsten Experimente. (I, 211)

Der Doktor erscheint hier erneut in der Nachfolge von Charles Bell, der in seinem Vortrag vor der Royal Society ›Of the Nerves‹ mit Begeisterung einen seiner Patienten mit halbseitiger Lähmung vorstellt. An ihm ließe sich die Differenz von willkürlichen und unwillkürlichen Nerven gut beobachten und sein halbseitig gelähmtes Gesicht veranschauliche den funktionellen Zusammenhang von Atmung und Ausdruck. Außerdem fordert er genauere anatomische Kenntnisse ein, damit »apoplexies« von »diseases of lethargy and somnolency« 193 unterschieden werden können. Dieser Trennschärfe wird Büchners Doktor gerecht, indem er auf das vom Hauptmann präsentierte Krankheitsbild, Schwermut und Schwärmerei, nicht eingeht und sich an die konstitutionellen Fakten hält. Da dieser Doktor im weiteren auf eine Zungenlähmung hofft, ist es durchaus möglich, daß er mit dem zukünftigen Versuchsobjekt Hauptmann auf den Spuren von Bell der im Nervensystem gekoppelten Funktionseinheit von Atmung, Ausdruck und Sprache nachgehen will. Allerdings kann die Wahrneh193

C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 304, vgl. 296. Bell war offensichtlich auch im deutschen Sprachraum für seine Versuche mit halbseitig Gelähmten bekannt, wie Franz Amelungs Hinweis dokumentiert, der sich auf »folgende Beobachtung von Bell« bezieht, »dass nur bei halbseitiger Zerstörung des Gehirns die psychischen Functionen ungestört bleiben und mithin die eine noch gesunde Hälfte hier gleichsam die Functionen des Ganzen vertritt«, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 153. Amelung verweist auf eine Veröffentlichung in der ›Revue medicale‹ (1831) und auf deren Übersetzung im ›Magazin der ausländischen Literatur der gesammten Heilkunde‹ (22, 1831): Bell’s Beobachtung von Atrophie der einen Gehirnhaelfte mit einer incompleten Paralyse der entgegengesetzten Koerperhaelfte, unter Beibehaltung der intellectuellen und sensoriellen Faehigkeiten, S. 525ff. Ein Hinweis auf Bells Studien zu halbseitigen Lähmungen findet sich auch in Johannes Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 642.

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mung der Nerven als »instruments of expression«194 in der Nachfolge Bells in dieser Szene wie im Drama insgesamt nicht allein der Figur des Doktors angelastet, sondern muß auf den Autor übertragen werden, der mit entsprechenden Nebentexten die Aufmerksamkeit auf die leibseelischen Zusammenhänge von Atmung, Ausdruck und Sprache lenkt. Etwa wenn es in 2,7 einleitend heißt: »Hauptmann keucht die Straße herunter, hält an, keucht […] schnauft« (I, 197). Schon in seiner Dissertation hatte sich der Naturwissenschaftler Büchner besonders für den Zusammenhang von Verdauung, Atmung und Sprache interessiert, der über den Vagus-Nerv hergestellt wird. Es sei dieser Nerv, der das »vegetative zum animalen Leben« erhöhe: »C’est ainsi que nous avons la conscience de l’acte de la digestion et de la respiration par le nerf vague; que la langue, partie essentielle du canal intestinal, devient un organe soumis à la volonté«; »So werden wir uns des Aktes der Verdauung und der Respiration durch den Vagus bewußt; so wird die Zunge als ein wesentlicher Bestandteil des Verdauungskanals ein dem Willen unterworfenes Organ«.195 Darüber hinaus erscheinen die Nerven in 3,9 aber nicht nur als Ausdrucksinstrumente, sondern sie können auch als tödliche Waffen eingesetzt werden. An der Szene 2,7 wurde dies an Woyzecks Reaktion auf den vom Hauptmann provozierten psychischen Schock beleuchtet, jetzt ist es dieser selbst, dem der Doktor mit seiner Diagnose einen solchen tödlichen Schrecken beibringt. »HAUPTMANN Herr Doctor erschrecken Sie mich nicht, es sind schon Leute am Schreck gestorben, am bloßen hellen Schreck« (I, 211). Mit dieser Bemerkung erweist sich der Vertreter des Militärs als ein medizinisch gebildeter Laie, der die Diagnose des Doktors als das kennzeichnet, was sie ist, nämlich eine Mordattacke. Die Somatiker der Zeit dachten, wie oben an Amelung skizziert wurde, ausführlich über den Zusammenhang von ›heftigem Schreck‹ und ›Schlagfluß‹ oder ›plötzlichem Tod‹ nach, insbesondere bei Personen mit einer »dazu disponirenden und die nachtheilige Wirkung der Gemüthsaffecte begünstigenden körperlichen Anlage«, wie der vom Doktor beschriebenen apoplektischen Konstitution. Schlaganfälle waren für das Studium von Geisteskrankheiten in zweifacher Hinsicht von besonderem Interesse. Zum einen weil an ihnen der eben vorgestellte psychosomatische Zusammenhang von Schock und Gehirnlähmung anschaulich wurde; zum anderen weil die somatische Grundlage von Geisteskrankheiten hier in besonders deutlicher Weise hervortrat. »Wenn in irgend einem Falle sich die Seelenstörung ziemlich klar als ein Gehirnleiden zu

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C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 309, 307f. II, 130, 169, 572, vgl. 169, 125f., 567f. Die in dieser Ausgabe abgedruckte deutsche Übersetzung von Büchners Dissertation stammt von Otto Döhner. Zum Vagus siehe auch C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 290; F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 157.

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erkennen giebt und als solches gleichsam handgreiflich nachgewiesen werden kann, so ist es in denjenigen Fällen der Geisteszerrüttung, welche nach Schlagflüssen zurückbleiben.« Amelung nennt »Lähmung«, »Delirien«, »bleibende Verrücktheit«, »Schwach- und Blödsinn«.196 Die vom Doktor in 2,6 an Woyzecks somatisch induziertem partiellen Wahnsinn skizzierte ›neue Theorie‹, die er in 2,7 psychosomatisch ausarbeiten kann, erfährt mit dem Hauptmann so eine sinnige Erweiterung. Entweder trifft diesen der Schlag sofort als Folge des heftigen, durch die Diagnose bewirkten Schrecks, dann ist er ein Beweis für den psychosomatischen Zusammenhang. Oder dieses Schicksal ereilt ihn erst in wenigen Tagen oder Wochen und er gibt ein Sinnbild für die organische Ursache von Seelenstörungen ab und erweitert neben dem Versuchsobjekt Woyzeck das Symptomspektrum sowie die Versuchsanordnungen. Bei dem Dialog von Doktor und Hauptmann handelt es sich um ein satirisch verzerrtes Arzt-Patienten-Gespräch, um einen klassischen Fall des Aneinandervorbei-Redens und auch -Sehens. Denn zum einen artikuliert der Patient psychische Symptome, während der Arzt nur auf die sichtbaren körperlichen Bezug nimmt. Zum anderen erhält der Patient anstatt erwartbarer therapeutischer Ratschläge in der Schnelldiagnose auf der Straße sein Todesurteil. Der Doktor macht sich in diesem Vorgang den Hauptmann gleich zweifach untertan: zum einen sprachlich, indem er auf dessen Redeinhalt gar nicht eingeht und in einer seltsamen Mischung aus hessischer Mundart und lateinischem Fachjargon, »sie könne eine apoplexia cerebralis krieche«, seine Überlegenheit ausspielt;197 zum anderen körperlich, indem die wissenschaftliche Indienstnahme des Körpers des Hauptmanns, entweder als Versuchs- oder als Sektionsobjekt, nur noch als Zeitfrage erscheint. Die medizinischen Konsultationen des Hauptmanns und Woyzecks weisen in den zutage tretenden sprachlichen und leibseelischen Mißverhältnissen strukturelle Gemeinsamkeiten auf, zum Teil in spiegelbildlicher Verkehrung. Wendet sich Woyzeck mit schweren somatischen Symptomen an den Arzt, »Herr Doctor ich hab’s Zittern«, »Herr Doctor es wird mir dunkel. Er setzt sich«, so erhält er keine diesen Sprech- und Körperakten gemäße professionelle Hilfe, sondern wird als Versuchsobjekt den Studenten vorgeführt. Der Doktor ist »ganz erfreut« (I, 218f.) über die von seinem Ernährungsexperiment hervorgerufenen körperlichen Verfallserscheinungen und über die Gelegenheit, sie öffentlich zur Schau zu stellen. Sucht Woyzeck hingegen ein naturphilosophisches Gespräch mit dem Doktor auf Augenhöhe, so ignoriert dieser auch hier den Redegehalt seines Gegenübers und stellt ihm mit der »schönen fixen Idee« eine psychische Diagnose. Und so müssen vergleichsweise unauffällige

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F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 286, 245. Knapp spezifiziert näher einen Darmstädter Stadtdialekt, vgl. G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 195.

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Aussagen Woyzecks herhalten, um dessen »neue Theorie« (I, 197) zu bestätigen. Es ist bezeichnend, daß Woyzeck in Büchners Drama gerade nicht in den Zuständen von Verfolgungswahn und Halluzinationen professionell für verrückt erklärt wird, sondern in einem Moment, der auch als argumentatives Aufbegehren gegen die Versuche des Doktors verstanden werden kann. Weitaus treffsicherer in ihrem Urteil sind da schon die Woyzeck nahestehenden medizinischen Laien Andres und Marie, die ihn nur in Zuständen tatsächlicher Verrückung für verrückt erklären: »MARIE […] Er schnappt noch über mit den Gedanken«; »ANDRES Franz, du kommst in’s Lazareth«.198 Die Diagnose stellt sich so als ein Akt der Deutung dar, die entweder durch eine Theorie, eine Versuchsanordnung oder persönliche erste Eindrücke strukturiert sein kann und dementsprechend Symptome wahrnimmt oder nicht, diese als legitim erachtet oder nicht. Die Zuschreibung von Krankheit vollzieht sich in einem diskursiven Wechselspiel von Selbst- und Fremdbezeichnung. Der Gutachter Clarus hatte den historischen Woyzeck in den Vernehmungen umständlich in dieses komplexe interaktive Spiel von Wahrheit und Deutung im Prozeß der Diagnose eingeführt. So wird der Inquisit aufs »allerstrengste« auf die »reine Wahrheit« verpflichtet, die Deutungskompetenz über die Aussagen beansprucht jedoch allein der Arzt, denn sein Gegenüber »selbst sei nicht imstande zu beurteilen, was für Folgerungen aus denselben gezogen werden könnten«. In den Vernehmungsprotokollen bringt der historische Woyzeck durch seine Schilderungen sowohl bestimmte Symptome, etwa die Halluzinationen, Träume und die Vollblütigkeit, als auch spezifischer bestimmte Krankheitsbilder wie den fixen Wahn oder die stille Wut ins Gespräch. Darüber hinaus stellt er sich mit der durch die Wienbergin-Episode ausgelösten »beständigen Unruhe«199 als Ursache der weiteren psychosomatischen Störungen selbst eine Diagnose. Insofern er die eigene Erkrankung als Resultat einer moralischen Verfehlung deutet, bewegt sich Woyzeck noch im Krankheitsverständnis des vorherigen Jahrhunderts, des ›moral managements‹. Clarus differenziert in seinem Gutachten dann zwischen legitimen und illegitimen Symptomen, der Vollblütigkeit auf der einen, den einfachen Sinnestäuschungen auf der anderen Seite, und widerlegt die durch Woyzeck ins Spiel gebrachten Krankheitsbilder. In Büchners Drama wird der Prozeß der Zuschreibung von Krankheit in pointierter Form auf einen Machtkampf zugespitzt, in dem der Patient jeweils sprachlich und körperlich unterliegt. Dies konnte an den entstellten Arzt-Patienten-Gesprächen des Doktors mit dem Hauptmann und Woyzeck gezeigt werden.200 198 199 200

I, 204, 217, siehe auch I, 179, 180, 184, 192, 200, 212. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 91f., 141. Vgl. S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 62–73, insbesondere S. 71ff.

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Als Herr der diagnostischen Wahrheit und als Agent moderner experimenteller Forschung verkörpert der Doktor in Büchners Dramenfragment einen Machtanspruch, der sich also auch gegenüber dem Vertreter des Militärs behauptet. Mit der in 2,7 genannten hohen Sterblichkeit seiner Patienten kann er sogar als Todesmacht dem Militär quasi in seiner eigenen Domäne Konkurrenz machen. Auch diese Todesverfallenheit kann als spezifisch somatische Prägung der Doktor-Figur gewertet werden. Von der wichtigen Rolle, die Sektionen in diesem Zweig der Psychiatrie spielen, wurde schon gesprochen. »Krankengeschichten und Leichenoeffnungsberichte«201 erfreuen sich bei den Somatikern eines gleichermaßen hohen Interesses. Und dies bestätigte sich noch einmal in Marcs Streitschrift zum Fall Woyzeck, in der der Leichenbefund das zentrale Argument abgab. Die Konkurrenz zwischen Militär und Medizin wird in Büchners Drama im in 2,7 einleitenden, in 3,9 abschließenden rhetorischen Geplänkel zwischen Hauptmann und Doktor zugunsten des letzteren entschieden. In den Anreden »werthester Grabstein«, »Herr Doctor, Sargnagel, Todtenhemd« (I, 197f.) gesteht ihm der Hauptmann die Herrschaft über das Reich des Todes zu, der sich auch er selbst unterzuordnen hat. In 3,9 endet die Konfrontation von Medizin und Militär, für das gesamte Drama sprechend, mit folgenden Worten: DOCTOR Ich empfehle mich, geehrtster Herr Exercirzagel. HAUPTMANN Gleichfalls, bester Herr Sargnagel. (I, 211)

Die wechselseitigen Respektsbezeugungen lassen sich im Hinblick auf die im vorangehenden aufgezeigte disziplinäre, arbeitsteilige Nähe zwischen den Institutionen wörtlicher nehmen, als in Anbetracht des ironischen Tonfalls vermutet werden könnte. Militärische und medizinische Disziplin greifen so gut ineinander wie der Reim von ›-zagel‹ und ›-nagel‹, und doch hat sich hier die eine der anderen unterzuordnen. Ein vergleichbar ambivalentes Verhältnis unterhält der Doktor zur Figur des Professors. Ähnlich wie im Falle des Hauptmanns und der mit ihm assoziierten Disziplin des Militärs sind Analogie und Konkurrenz auch für diese Beziehung charakteristisch. Die Gemeinsamkeiten zwischen Doktor und Pro201

F. Amelung, Kurze Nachricht von dem Hospitale und Irrenhause Hofheim im Großherzogthum Hessen, S. 321. Daß Büchner hier auch auf eigene Erfahrungen aus dem Medizinstudium zurückgreifen konnte, bestätigt eindrucksvoll die Bildlichkeit in seinem Brief an Adolph Stöber von 3. November 1832: »Ich komme eben aus dem Leichendunst und von der Schädelstätte, wo ich mich täglich wieder einige Stunden selbst kreuzige, und nach den kalten Brüsten und den toten Herzen, die ich da berührte, erquickte mich wieder das lebendige, warme an das Du mich drücktest über die Paar Meilen hinaus, die unsere Cadaver trennen.« II, 364. Von Autopsien bzw. tödlich verlaufenden Krankheiten und interessanten Fällen berichtet auch der Brief an Eugène Boeckel vom 7. September 1832, vgl. I, 361f. Der Briefwechsel mit Boeckel, der durch europäische Hospitäler und Hörsäle tourte, vermittelt insgesamt ein gutes Bild der hohen Patientensterblichkeit in der damaligen Zeit.

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fessor haben in früheren Ausgaben sogar dazu geführt, daß beide Figuren in der Szene ›Der Hof des Professors‹ miteinander kontaminiert wurden.202 Beide werden als Vertreter der Wissenschaft profiliert, was sich sprachlich in den beiderseitigen Latinismen dokumentiert, und beide machen sich Woyzeck zu Dienste. Allerdings werden mit wenigen Strichen Differenzen eingezeichnet, die insbesondere für die genetische Darstellung des Dramas relevant sind. Wie im Zeitraffer wird in der Szene ›Der Hof des Professors‹ durch letztgenannten und den Doktor die Abfolge historischer Wissenschaftstypen und -paradigmata vor Augen geführt. Und zwar der Weg von der Naturphilosophie zur modernen experimentellen Forschung. Über die Frage nach dem »Verhältniß des Subjectes zum Object« beginnt der Professor203 seine Vorlesung im Begriffsraum idealistischer Philosophie, um dann schrittweise über deren Anwendung in bezug auf die Natur, respektive die »organische Selbstaffirmation des Göttlichen«, bis zum Tierversuch zu gelangen: »meine Herren, wenn ich dieße Katze zum Fenster hinauswerf, wie wird dieße Wesenheit sich zum centrum gravitationis und d. eignen Instinct verhalten.« Beantwortet wird die Frage durch die herbeizitierte wissenschaftliche Hilfskraft Woyzeck (»brüllt Woyzeck!«), der offensichtlich die Katze aufgefangen hat: »Herr Professor sie beißt.« Die Abwärtsbewegung vom »hohen Standpunkte« idealistischer Begriffsspekulation zu den Niederungen empirischer Forschung wird nicht nur durch den Redegehalt und den Katzenversuch veranschaulicht, sondern auch durch die räumliche Gestaltung der Szene: »Studenten unten, der Professor am Dachfenster«. Wobei die vermeintlich hohe Stellung des Akademikers gleich in seinem ersten Satz in ein moralisches Zwielicht gerät, wenn er, bevor er auf die »Selbstaffirmation des Göttlichen« zu sprechen kommt, zunächst seinen Blick anderweitig schweifen lässt: »Meine Herrn, ich bin auf dem Dach, wie David, als er die Bathseba sah; aber ich sehe nichts als die culs des Paris der Mädchenpension im Garten trocknen.« (I, 218) Dieser lüsterne Voyeurismus verbindet den Professor mit dem Hauptmann204 und darf in beiden Fällen als Merkmal dafür gelten, daß sie für das Alte, Unzeitgemäße einstehen – hier eine ehemals dem Adel zugebilligte Libertinage, die bei ihnen nur noch in ihrer visuellen Schwundform weiter existiert. Der Doktor befindet sich hingegen von vornherein gemeinsam mit den Studenten auf dem Hof und das heißt in dieser Szene auch in den Niederungen 202 203

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Vgl. I, 690f. (Kommentar). In der Forschung ist darauf hingewiesen worden, daß Büchner die Figur des Professors sowohl in ihrer theoretischen Ausrichtung als auch in ihren persönlichen Eigenheiten vermutlich an Johann Bernhard Wilbrand angelehnt hat, ein in Gießen lehrender spekulativer Naturphilosoph, Botaniker, Zoologe und Anatom. Auch der Doktor wird einige von dessen Zügen erben, vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 178– 182; S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 177ff. Vgl. dessen Bemerkung in 3,5: »Wenn ich am Fenster lieg, wenn’ es geregnet hat und den weißen Strümpfen so nachsehe, wie sie über die Gasse springen, – verdammt Woyzeck, – da kommt mir die Liebe!«, I, 207.

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der Empirie. Insgesamt verkörpert er hier einen egalisierenden Blick. Er nimmt dem Professor die Vorlesung aus der Hand und überführt diese gleichsam in die Form einer Lehre am Krankenbett. Gemeinsam mit dem Doktor umstehen die Studenten nun das Versuchsobjekt Woyzeck und werden zur eigenen Diagnose aufgefordert: »fühlen sie meine Herrn fühlen sie, sie betasten ihm Schläfe, Puls und Busen«. Sinnesphysiologisch führt die Szene von dem auch erkenntnistheoretisch gemeinten visuellen Unvermögen des Professors, »aber ich sehe nichts«, über den klaren, noch durch das Instrument der »Loupe« geschärften Blick des Doktors bis zu einem handgreiflichen Umgang mit der Wirklichkeit im Betasten, Befühlen und der Pulsmessung, der schließlich auch von den Studenten aufgenommen wird. Die auch räumlich strukturierte hierarchische Sprechsituation zwischen dem Professor und den Studenten wird so in eine egalitäre aufgelöst. Der Professor widersetzt sich dem nur kurz, mit »Ricinus, herauf« (I, 218f.), versucht er noch einmal die Situation zu wenden, ist jedoch dort oben am Dachfenster zu weit weg vom Geschehen, um noch eingreifen zu können. In diesen Momenten zeigt sich unbestreitbar der Erkenntnisfortschritt der in Gestalt des Doktors auftretenden wissenschaftlichen Entwicklung. Die Wissenschaft ist nun näher an den Dingen und bemächtigt sich der Welt nicht mehr durch begriffliche Spekulation, sondern durch exakte Beobachtung und (Puls-)Messung. Die Schattenseiten dieses Fortschritts werden an Woyzeck sichtbar. Diente er dem Professor noch als wissenschaftlicher Gehilfe, so wird er im Blick des Doktors wieder zum Versuchsobjekt und schließlich sogar zum Versuchstier degradiert. Die Szene 4,1 zeigt in prägnanter Kürze den Übergang vom Tierzum Menschenversuch und schließlich zum Menschen- als Tierversuch, denn Woyzeck mutiert in der Anrede des Doktors zur »Bestie« (I, 219) Mensch, an der tierische Verhaltensweisen demonstriert werden können. Mit den in den Professor- und Doktor-Szenen erwähnten Versuchsszenarien erzählt Büchners Dramenfragment auch die Geschichte der experimentellen Forschung. Der Katzenversuch in 4,1, das in 2,6 genannte Sammelprojekt und die in 2,6 und 3,8 erwähnten Tier-Präparationen rekapitulieren gleichsam die anhand von Tierversuchen vollzogene Pionierarbeit Albrecht von Hallers, der als eine solche Autorität experimenteller Physiologie auch in Georg Büchners Dissertation präsent ist.205 Als ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg vom Tier- zum Menschenversuch erscheinen die in 2,6 zwar angelegten,206 jedoch erst in 3,8 ausformulierten Selbstversuche und -beobachtungen des Doktors. Sein universaler, egalisierender Blick richtet sich eben unterschiedslos sowohl auf Läuse und Menschen (4,1) und damit auch auf sich selbst. So hält er ebenso protokollarisch wie bei seinem casus Woyzeck die eigene physische Reaktion 205 206

Vgl. II, 70f., 76, 79, 81f., 84, 143, und 901 (Kommentar). Vgl.: »ich steckt grad mei Kopf hinaus, zwischen ++ und +.«, I, 196.

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auf einen psychischen Reiz – Woyzecks unzeitiges Urinieren – durch Pulsmessung fest: »DOCTOR mit Affect […] Nein Woyzeck, ich ärgere mich nicht, Ärger ist ungesund, ist unwissenschaftlich. Ich bin ruhig ganz ruhig, mein Puls hat seine gewöhnlichen 60« (I, 209). Ruhe und Affektlosigkeit gehören zum zeitgenössischen Verhaltenskodex des modernen Naturwissenschaftlers, der angesichts von schreienden Tieren, eigenen Schmerzen oder leidenden Mitmenschen Objektivität bewahren muß. Peter Ludwig verweist auf die Stilisierung eines »selbst-lose[n] Disziplin-Ich« unter standestypischer Berufung auf Haller in den wissenschaftlichen Publikationen und den Autobiographien der Naturwissenschaftler der Zeit.207 Hallers Protokollstil hatte Schule gemacht, das dokumentiert auch Georg Büchners eigene Wissenschaftsprosa. Die Beschreibung einer Vivisektion in seiner Dissertation ist der sehr viel älteren Hallers im Duktus verwandt. Ich habe bei lebendigen Tieren von mancherlei Gattung und von verschiedenem Alter, denjenigen Teil entblößet, von welchem die Frage war; ich habe gewartet, bis das Tier ruhig gewesen ist, und zu schreien aufgehört hat, und wenn es still und ruhig war, so habe ich den entblößten Teil durch Blasen, Wärme, Weingeist, mit dem Messer, mit dem Ätzsteine, (Lapis infernalis) mit Vitriolöle, mit der Spießglasbutter, gereizet. Ich habe alsdann Acht gehabt, ob das Tier durch berühren, spalten, zerschneiden, brennen oder zerreißen, aus seiner Ruhe und seinem Stillschweigen gebracht würde; ob es sich hin- und herwürfe, oder das Glied an sich zöge, und mit der Wunde zückte, ob sich ein krampfhaftes Zücken in diesem Gliede zeigte, oder ob nichts von dem allen geschähe.208 Je ne pus produire de mouvemens ni en le tiraillant, ni en l’irritant avec la pointe du scalpel, dans le même individu chez lequel le frottement des branchies produisit à l’instant les plus vifs ébats. Le poisson parut absolument insensible pendant l’irritation du nerf, qui, du reste, n’était pas coupé. (II, 120)209

In 3,8 erwähnt der Doktor ein weiteres, offensichtlich durch methodische Selbstversuche zu erweisendes Forschungsprojekt, dessen Ablauf durch Woyzecks Zuwiderhandlung gestört wurde: »ich streckte grade die Nase zum Fenster hinaus und ließ die Sonnestrahlen hinein fallen, um das Niesen zu beobachten« (I, 209). Mit diesen Forschungen zum Nießreflex befindet sich der Doktor an der vordersten Front zeitgenössischer physiologischer Forschung. Mit dem Niesen als Irritation der Atmungsnerven und instinktive Schutzreaktion hatte sich Charles Bell 1822 beschäftigt; Friedrich Arnold erklärte 1831 das durch helles Licht hervorgerufene Niesen durch Nervenreizung; Johannes Müller nimmt 1833 ebendiesen Fall bereits als eine durch das Gehirn vermittelte Reflexbewe207 208 209

P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 293; zu den zeitgenössischen Versuchsszenarien zwischen Selbst- und Menschenversuch siehe ebd. S. 293–298. A. v. Haller, Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, S. 15. »Ich konnte, weder indem ich an ihm zerrte noch indem ich ihn mit der Spitze des Skalpells reizte, Bewegungen hervorrufen, beim selben Exemplar, bei dem das Reiben der Kiemen augenblicklich die lebhaftesten Zuckungen hervorrief. Der Fisch schien beim Reizen des Nervs, der im übrigen nicht durchtrennt war, völlig gefühllos zu sein.« II, 561.

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gung wahr und Alfred Wilhelm Volkmann führt dies 1837 weiter.210 Am deutlichsten verweist Büchners Doktor allerdings auf Johannes Müller, der in seinem ›Handbuch der Physiologie‹ mitteilt: »Ich niese, wie viele Andere, sobald ich helles Sonnenlicht sehe.« Er klärt diesen Sachverhalt folgendermaßen auf: »Reizung der Nasaläste des N. trigeminus in der Nase bewirkt Niesen, und selbst dann, wenn die Reizung secundär ist, wenn z.B. der Reiz des Sonnenlichtes auf den Sehnerv zuerst, dieser auf das Gehirn wirkt, das Gehirn eine secundäre Erregung der Nasennerven und gleichzeitig der Athemnerven verursacht.«211 In seiner Dissertation hatte Georg Büchner selbst bezüglich des Iris-Reflexes an Fischen experimentiert.212 Und weitere sinnesphysiologische Selbstversuche der 30er Jahre sind im Kontext dieser Studie erwähnenswert. Ernst Heinrich Weber war unter anderem durch seine berühmten Selbstversuche mit Zirkelspitzen dem Tastsinn als menschlichem Grundsinn auf der Spur.213 Die Ergebnisse dieser Forschungen ließen ihn zum Mitbegründer der dann in den 60er Jahren von Theodor Fechner ausgerufenen Psychophysik werden, indem er erstmals die Beziehungen zwischen Leib und Seele in experimenteller Untersuchung systematisch verfolgte. Vorarbeiten zu diesen Studien hatte Weber zuvor am Nervensystem von Fischen unternommen, die in Georg Büchners Dissertation zum Nervensystem der Flußbarbe die wichtigste Referenz bilden und die er zum Teil durch eigene Beobachtung präzisieren kann.214

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Vgl. C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 300, 305; zu Arnold vgl.: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 42; und zu Volkmann siehe E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 133. J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, S. 333, vgl. 680, 694f., 700, 727, 746. Die in der Forschung breit vertretene Ansicht, die Experimente des Doktors würden »aufgrund ihrer offenkundigen Sinnlosigkeit der Lächerlichkeit« preisgegeben, wie Sabine Kubik u.a. formuliert haben, trifft also nicht zu, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 186. Allenfalls die Behauptung, die naturwissenschaftliche Sinnstiftung werde hier satirisch behandelt, läßt sich halten. Es heißt dort, er könne »assurer que j’ai vu le diamètre de la pupille changé, après avoir remis dans l’obscurité le poisson dans l’œil duquel j’avais fait tomber une vive lumière à l’aide d’une lentille« (»versichern, daß ich den Durchmesser der Pupille verändert gefunden habe, nachdem ich den Fisch, in dessen Auge ich erst mit Hilfe eines Brennglases helles Licht hatte fallen lassen, wieder ins Dunkel gebracht hatte.«) II, 85, 522. Müller verhandelt Nies- und Iris-Reflex in einem Atemzug, vgl. Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, S. 335, 692f., 700f., 722. Zur zeitgenössischen Deutung des Pupillenreflexes siehe im weiteren E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 109f. E. H. Weber, Ueber den Tastsinn [1835]. Anhand zweier Zirkelspitzen wies Weber zunächst an sich selbst, dann auch an anderen den Abstand nach, in dem Berührungsreize noch getrennt wahrgenommen werden, von 1mm an der Zungenspitze bis zu 60–70 mm am Rücken. Ausführlich werden Webers Ergebnisse dargestellt in: J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen, Bd. 1, S. 683ff. Webers Versuche werden in dieser Studie im Kontext von Wilhelm Diltheys sinnesphysiologischem Interesse noch einmal Beachtung finden, vgl. Kap. V.2. Vgl. II, 70, 87ff., 93, 95f., 98, 101, 103, 107, 109ff., 118f., 121, 133, zur Präzisierung Webers siehe u.a. 103 und 900f. (Kommentar); U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 43, 45f., 48f., 51, 70, 79, 88, 108, 120f., 125, 128.

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Die Selbstversuche und -beobachtungen des Doktors verweisen also auf den in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts sich vollziehenden Übergang in der sinnesphysiologischen Forschung vom Tier- zum Menschen- über den Selbstversuch. Dieser Prozeß läßt sich auch anhand zeitgenössischer Ernährungsexperimente dokumentieren, die ebenfalls von William Starke, John Dalton, Jean Nicolas Gannal und Carl Gotthelf Lehmann zunächst am eigenen Leib durchgeführt wurden.215 Mit dem Ernährungsexperiment an Woyzeck vollzieht der Doktor dann den nächsten Schritt zum systematischen Menschenversuch. Dieser Weg war bis zu Liebigs Experimenten Anfang der 40er Jahre in Deutschland noch Zukunftsmusik, wurde jedoch in Frankreich mit der von Henri Milne Edwards an Soldaten durchgeführten Nahrungssubstitution durch Gelatine bereits beschritten.216 Die in Büchners Drama ausgestellte Diskrepanz zwischen dem äußerst harmlosen Selbstversuch des Doktors, das Niesen, und dem massive physische und psychische Wirkungen zeitigenden Ernährungsexperiment an Woyzeck vertieft die wissenschaftskritische Intention. Mit dem Übergang zum Menschen- als Tierversuch an der ›Bestie‹ Woyzeck in 4,1 veranschaulicht das Drama die möglichen ethischen Konsequenzen des veränderten wissenschaftlichen Blicks und der neuen Methodik. Dem modernen Wissenschaftler ebnen sich alle Unterschiede ein, nicht nur zwischen transzendentalem und empirischem Standpunkt, Gott und Mensch bzw. zwischen den Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Tier sowie Labor und Lebenswelt. Dem forensisch und juristisch festgestellten gefährlichen Individuum Woyzeck kontrastiert Büchners Drama so die Gefährdung durch die Autonomiebestrebungen der Wissenschaften im 19. Jahrhundert, die aus allen theologischen, philosophischen und moralischen Bindungen entlassen sind. In wenigen Strichen projiziert Büchner in ›Der Hof des Professors‹ als Gefahr des anbrechenden naturwissenschaftlichen Zeitalters die Wahrnehmung der Lebenswelt als einer universalen Versuchsanordnung. Darüber hinaus erlangt der hier geschilderte Katzenversuch in Analogie zum Menschenversuch an Woyzeck für das gesamte Drama Parabelcharakter. Woyzeck wird mit dem Mord an Marie tatsächlich der Aufforderung des Doktors nachkommen, »Bestie, soll ich dir die Ohrn bewege, willst du’s machen wie die Katze«. Er wird es wie die Katze in dieser Szene machen, die, als Versuchstier aus dem Fenster geworfen, auf das erste ihr begegnende Lebewesen mit einer natürlichen Abwehrbewegung reagiert, wie Woyzeck am eigenen Leibe erfahren muß: »Herr Professor sie beißt.« (I, 218f.) Der Selbstschutzmechanismus wendet sich nicht gegen den Aggressor, sondern gegen eine Person, die, wie

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Vgl. U. Roth, Georg Büchners Woyzeck als medizinhistorisches Dokument, S. 505f.; Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 185. Vgl. U. Roth, Georg Büchners Woyzeck als medizinhistorisches Dokument, S. 510f.; Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 185f.

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der weitere Verlauf der Szene zeigt, sich in einer ebenso schwachen Lage wie das Versuchstier befindet und zu dessen Nachfolger wird. Ein Opfer beißt hier das andere. Ebenso ließe sich Woyzecks Mord an Marie lesen. Ein weiteres Beispiel einer Gewaltkette bieten die Nebentexte in 2,6 und 2,8. War Woyzeck zunächst selbst Gegenstand einer Attacke des Doktors, »tritt auf ihn los«, so wiederholt er dessen Verhalten dann gegenüber Louisel, wie die weibliche Hauptfigur in dieser Handschrift noch heißt: »geht auf sie los.« (I, 196, 200) Einen epischen, den Zuschauer zur Reflexion aufrufenden Charakter erhält ›Der Hof des Professors‹ auch durch den rhetorischen Gestus des Zeigens. Indem, wie Poschmann ausführt, durch die wiederholten Wahrnehmungsappelle, »Meine Herrn«, »beackte Sie«, »fühle sie« (I, 218), die Aufmerksamkeit auf die »Vorführsituation« gelenkt wird, macht das Drama hier ähnlich wie im Falle der Jahrmarktsszenen durch das Spiel im Spiel auf »seine eigene, der wissenschaftlichen Demonstration vergleichbare, Vorführstruktur aufmerksam«.217 Zu ergänzen und auszuführen wird jedoch noch sein, daß auf diesem Wege auch die Differenzen zwischen wissenschaftlicher und verschiedener Formen ästhetischer Zurschaustellung hervorgehoben werden. Die im Professor verkörperte wissenschaftliche Vorgeschichte des Doktortypus ist allerdings auch in anderen Szenen und in anderer Form in Büchners Dramenfragment gegenwärtig. In den Szenen 2,6 und 3,8 wird diese historische Entwicklung in die Figur des Doktors selbst hineinverlegt, der sich binnen einer Szene vom Naturphilosophen und Psychiker zum somatisch orientierten Empiriker verwandelt.218 Mit seinem in 2,6 skizzierten Sammelprojekt – Woyzeck wurde beauftragt, »Frösche«, »Laich«, »Süßwasserpolypen«, »Hydra, Vestillen Cristatellen« (I, 196) zu besorgen – verfolgt er »naturkundlich-klassifikatorische Interessen des 18. Jahrhunderts (Linné, Buffon)«.219 Sein moralisierender Ton zu Beginn der Szene, »Die Welt wird schlecht sehr schlecht«, und die unbedingte Koppelung des Menschseins an die Willensfreiheit verorten ihn im Lager der Psychiker. Beides, Moral und Willensfreiheit, führt er gegen Woyzeck zu Felde, der, anstatt wissenschaftlich verwertbar beim Doktor zu urinieren, »auf die Straß gepißt hat«. Woyzeck beruft sich diesbezüglich auf seinen natürlichen Drang, »wenn die Natur aus ist«, den der Doktor jedoch als »Aberglaube« nicht gelten läßt. Auch der »musculus constrictor vesicae« sei »dem Wille unterworfen«. Eine so prosaische Angelegenheit wie der Blasenschließmuskel gibt dem

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I, 754 (Kommentar). Peter Ludwig hat in minutiöser wissenschaftsgeschichtlicher Kontextualisierung Büchners Doktor als ein »sehr wirklichkeits- und alltagsnah gestaltetes Exemplar des zeitgenössisch modernsten Wissenschaftlertyps« gezeichnet, dabei entgeht ihm aber die historische Tiefendimension der Figur, P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 286. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 177. Siehe hierzu ausführlich U. Roth, Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck.

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Doktor damit Gelegenheit zu einem emphatischen Plädoyer: »Woyzeck der Mensch ist frei, im Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit« (I, 195f.). Man kann bei diesen Äußerungen sowohl an den Büchner aus eigener Anschauung bekannten Gießener Naturphilosophen Wilbrand denken, dem sich die »Herrschaft des geistigen Lebens« auch an der »Verdauung«220 und Entleerung zeigt, als auch an Heinroth, dem in seinen Begriffsspekulationen zum Fall Woyzeck jegliche Form der Aktivität zum Indiz der Willensfreiheit und mithin der Zurechnungsfähigkeit wird und dem ergo auch das Urinieren zu solchen Aussagen animieren müßte. Allerdings läßt sich in den Doktor-Szenen auch eine besondere somatische Pointe erkennen. Denn die hier vorgenommene Korrelation von Pissen und Willensfreiheit erinnert an die psycho-physiologischen Analogieverhältnisse von Intelligenz und Kopf, Gefühl und Brust, Begehren und Unterleib, die u.a. Nasse vertreten hat und denen zufolge, wie Amelung referiert, »das Willensvermögen sich hauptsächlich durch die Ganglien und Nervengeflechte des Unterleibs kund gäbe.«221 Während Woyzeck also in korrekter Sprache der Somatiker seinen Unwillen gegen das Experiment unter Zuhilfenahme des Unterleibs zum Ausdruck bringt, antwortet der Doktor anfänglich in der Sprache der Psychiker mit dem Hinweis auf die vernünftige Willensfreiheit. Die Doktor-Szenen forcieren so die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen als satirisches Darstellungsmittel, indem Woyzeck und Doktor in gegenläufigen Entwicklungsschritten aneinander vorbeireden und der Figur des Chiasmus gemäß die Rollen tauschen: Woyzeck schreitet vom natürlichsomatischen Ausdruck mit dem Wunsch, im Buch der Natur zu lesen, zur älteren Naturphilosophie zurück, während der Doktor vom anfänglichen Psychiker zum modernen Somatiker mutiert in seiner Diagnose von Woyzecks partiellem Wahnsinn. Darüber hinaus kann das Plädoyer für die Willensfreiheit auch auf die zeitgenössische Forensik zurückgeführt werden, die in ihr gerade in Abgrenzung zum Tier das Wesen des Menschen sah.222 Und schließlich läßt sich im Kontext der Szenen 2,6 und 3,8 auf den Wandel in der physiologischen Forschung in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts im Hinblick auf die Ausscheidungsfunktionen aufmerksam machen. Verschiedentlich wird noch das ältere Galensche Modell vertreten, demzufolge alle Verrichtungen des vegetativen und animalischen Lebens vom Gehirn kontrolliert werden, das Gehirn sogar als ›Ausscheidungsorgan‹ zu apostrophieren ist. Als fortschrittlicher erweisen sich die Annahmen eines autonomen vegetativen

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Johann Bernhard Wilbrand, Physiologie des Menschen. Gießen 1815, zit. nach Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 180. F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 118. Vgl.: »Durch Vernunft und Freiheit erhebt sich der Mensch über das Thier«, Adolph Henkel, zit. nach Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 40.

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Nervensystems, das alle grundlegenden Vitalfunktionen auch unabhängig vom Gehirn trägt und mit den Ganglien eigenständige Nervenzentren besitzt, die als ›kleine Gehirne‹ durch den Körper geistern. Bereits im 18. Jahrhundert hatten Johnstone, Soemmerring, Reil, Carus und Bichat auf diese Trennung aufmerksam gemacht, wobei ersterer die Weisheit der Natur unterstrich, die zentralen lebenserhaltenden Vorgänge wie Blutzirkulation, Verdauung und Ausscheidung nicht den »caprices of an ignorant will«,223 gemeint war der menschliche, zu überlassen. Der Vagus, nicht der Wille, hatte damit die Herrschaft über die Ausscheidungsfunktionen angetreten. Erst eine technische Neuerung, das Mikroskop, brachte in den 30er Jahren dann für Johannes Müller, Remak, Henle und Volkmann letztliche Klarheit über die Mikrostruktur der Nerven und damit auch über die funktionelle Unabhängigkeit des vegetativen vom Zentralnervensystem, aber auch über deren Verbindung.224 Noch ohne Mikroskop, sondern nur mit einer »loupe« in der Hand, war Georg Büchner in seiner Dissertation über das Nervensystem der Flußbarben im Blick auf den Vagus zwar genau an dieser Verbindung »de la vie animale et de la vie de nutrition«225 interessiert, für deren genaue Bestimmung fehlte ihm hingegen die technische Ausstattung. In seinem Drama ist der Doktor besser ausgerüstet, neben der Lupe wird in 2,6 auch ein Mikroskop erwähnt. Der Wandel vom Galenschen Modell zum komplexeren kleidete sich deutlich in theologisch-politische Metaphorik. Laut Charles Bell hat sich seit Galens Zeit die Hypothese gehalten, »that the brain presides over the body«.226 Mit den ›kleinen Gehirnen‹ verband sich also auch ein Aufstand des Körpers und eine Demokratisierung dieses monarchischen Prinzips. Das Streitgespräch des Doktors mit Woyzeck über den Harndrang, in dem der eine den Willen auch zum Herrscher über den Blasenschließmuskel erklärt, während der andere wie vormals Johnstone die Weisheit der Natur bemüht, läßt sich also auch im Hinblick auf diesen zeitgenössischen Disput in der Physiologie lesen. In seiner Fürsprache für die Natur beweist Woyzeck sogar leib-

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Zit. nach E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 330. Von Gehirn und Rückenmark als »secretory organs« spricht Gruithuisen 1781, von den Ganglien als »small brains« ist mehrfach die Rede, S. 77, 31 u.a. Zu Reils und Carus’ Unterscheidung von cerebralem Nerven- und Gangliensystem respektive animalem und vegetativem Leben vgl. U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 358–363. Vgl. E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 351–359. II, 114, vgl. 125f., 554f., 567. Büchners naturwissenschaftliche technische Ausrüstung bestand nach Roth aus Skalpell, Nadel, Pinzette und Lupe, U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 76. E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 29. In politischer Methaporik beschreibt auch Reil die Differenzierungen im Nervensystem: »Diese Heerde [im Nervensystem] stehn zwar in der Regel, mit dem Gehirn in Gemeinschaft; aber durch Krankheiten können sie von demselben abspringen und als Rebellen-Oberhäupter ihre eigenen Züge, unabhängig von dem Gehirne, leiten.« J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 63.

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seelisches rhetorisches Geschick, indem er nicht allein die Wort-, sondern auch die Körpersprache bemüht. Insbesondere die überarbeitete Fassung der Szene (3,8) akzentuiert diese zeichentheoretische Dimension. Anlaß des Gesprächs ist ja, daß Woyzeck im »auf die Wand pissen« seiner Natur freien Lauf gelassen hat und mit dieser Äußerung als bezahltes Versuchsobjekt, das seinen Urin beim Doktor abzuliefern hat, einen Vertragsbruch nach Wort und Schrift begangen hat, wie dieser ihm vorhält: »Ein Mann von Wort«, »Ich hab’s schriftlich, den Akkord in der Hand«. Durch die auffällige Sprach- und Schriftmetaphorik wird Woyzecks auf der Wand hinterlassene Nachricht zumindest im äußeren Kommunikationssystem des Dramas als ein in natürlichen Zeichen formulierter Einspruch gegen die Versuchsanordnung des Doktors lesbar. In Johannes Müllers ›Handbuch der Physiologie‹ erscheint das »unwillkürliche Harnlassen« als natürliche Reaktion »nach zu langem Zurückhalten des Harns«,227 wozu Woyzeck per Vertrag verpflichtet worden ist. Der Körper verweigert sich so dem Experiment. Auch im inneren Kommunikationssystem wird diese Weigerung dann von Woyzeck verbal aufgenommen und weitergeführt: »Aber Herr Doctor, wenn einem die Natur kommt«, und zwar unter gleichsam strategischer Mitsprache des Körpers: »Aber mit der Natur ist’s was andres, sehn sie mit der Natur er kracht mit den Fingern das ist so was, wie soll ich doch sagen«. Mit seiner anschließenden Geste »legt d. Finger an d. Nase« (I, 209f.) lenkt er die Aufmerksamkeit schließlich auf ein Sinnesorgan, das in besonderem Maße dazu geeignet scheint, die von ihm vorgetragene ›Naturphilosophie‹ zu unterstützen. Die intertextuellen Bezüge dieser Szene zu Büchners Dissertation legen dies nahe. Denn dort galt sein besonderes Interesse zwei Nerven, Vagus und Trigeminus, die als ›einfachste‹ Nerventypen Grundlage aller spezialisierteren sind, »ihre Funktion« darin haben, »das vegetative Leben mit dem animalen Leben zu verbinden« und in unterschiedlichen Graden der Feinabstimmung für den Austausch mit der Welt und deren Erkenntnis verantwortlich sind. Le nerf vague se comporte à l’égard de la cavité thoracique et abdominale, comme le trijumenau à l’égard de la cavité nasale et buccale. Le premier est aux organes de la respiration et de la digestion matérielle ce que le second est aux organes d’une digestion et d’une respiration plus subtile, idéale pour ainsi dire, savoir aux organes du goût et de l’odorat. [Anm.] De même que l’organisme s’empare, par la digestion et la respiration, de la matière elle-même des corps extérieurs, il saisit par l’odorat et le goût leur essence matérielle la plus subtile, en sorte que cette respiration et cette digestion consistent en une fonction purement sensitive. (II, 125f.)228

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J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, S. 334. In 2,6 war nur vom »auf die Straß«, »wie ein Hund« und »an die Wand pissen« (I, 195f.) die Rede, der schriftliche Vertrag wurde gar nicht erwähnt. »Der Nervus vagus verhält sich zur Brust- und Bauchhöhle wie der Trigeminus zur Nasen- und Mundhöhle. Der erste ist für die Organe der Atmung und der materiellen Verdauung das, was

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Woyzecks Körper ist in Szene 3,8 klüger als sein Kopf und dessen Ausdrucksvermögen. Wo ihm die adäquaten Worte noch fehlen, da weisen die Finger den Weg. Vom unteren Ausscheidungsorgan über die Hand an die Nase gleiten sie den Körper hinauf und wiederholen auf diese Weise die vom Physiologen Büchner postulierte Sublimierung von Vagus zum Trigeminus. Im Zuge dieses Vorgangs verfeinert sich auch die Rede Woyzecks von der kruden Verteidigung des Harndrangs zu einem auch vom Doktor zugestandenen subtileren Philosophieren über die Natur, »Woyzeck, er philosophirt wieder.« Mit dem Fingerzeig an die Nase, bei der Artikulation des Wunsches, im Buch der Natur zu lesen, deren Zeichen zu entziffern – »was für Figurn die Schwämme auf d. Boden wachsen. Wer das lesen könnt« –, profiliert sich Woyzeck nicht nur als Naturphilosoph alter Schule in Konkurrenz zum Doktor, sondern er führt auch ein alternatives modernes Erkenntnismodell und ein alternatives Versuchsszenario vor Augen. Es handelt sich um eine Erkenntnis, bei der Hand und Kopf, körperliche und gedanklich-sprachliche Artikulation gemeinsam Schritt halten, und um eine Versuchsanordnung, in der Innen- und Außenperspektive, Teilnahme und Beobachtung nicht getrennt werden. Woyzeck philosophiert über die Natur, während er selbst in Naturprozessen begriffen ist, und zeigt gestisch auf die Zusammengehörigkeit der niederen und subtileren Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Artikulationsorgane. Die auffällige Bewegung der Finger erinnert noch einmal an Herders Modell des Selbstbewußtseins als Selbstbetastung und ebenso an Webers zeitgenössische Selbstversuche mit dem Tastsinn. Diese Form physiologischer Selbsterkenntnis findet in der Zeit weite Verbreitung. Schon 1822 rät Charles Bell in seinem Vortrag vor der Royal Society seinen Zuhörern, um die bei der Atmung, dem Sprechen und dem Gesichtsausdruck tätigen Nerven und Muskeln kennen zu lernen, doch einfach Hand an sich zu legen: »By placing the hand upon the neck, we may be sensible that the mastoid muscle has two motions. […] In snuffing or smelling, if we place the fingers on the portions of the mastoid muscles which are attached to the sternum, we shall find every little motion of the nostrils accompanied with corresponding actions of the sternal portions of the muscles in the neck.«229 Mit dem Finger an der Nase erinnert Woyzeck gestisch den Doktor auch noch einmal an seinen

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der zweite für die Organe einer feineren, sozusagen ideelen Verdauung und Atmung ist, nämlich für die Geschmacks- und Geruchsorgane. [Anm.] So wie der Organismus vermittels der Verdauung und Atmung von der Materie selbst der äußeren Dinge Besitz ergreift, so erfaßt er durch den Geruchs- und Geschmackssinn ihr feinstes materielles Wesen, so daß diese Atmung und diese Verdauung eine ausschließlich sensitive Funktion haben« (II, 567). Büchners Entdeckung über das besondere Verhältnis von Trigeminus und Vagus bei den Flußbarben sicherte ihm einen Eintrag in die dritte Auflage von Johannes Müllers ›Handbuch der Physiologie‹; vgl. U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 80ff. C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 296.

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Selbstversuch mit dem Niesen als adäquateren Weg experimenteller Forschung und deckt so auch dessen physiologische Inkonsequenz auf. Denn Niesen und unwillkürliches Harnlassen werden in der zeitgenössischen Physiologie als reflexive Abwehrreaktionen in einem Atemzug genannt, mit zweierlei Maß darf wissenschaftlich nicht gemessen werden.230 Woyzecks Lektion in Sachen Wissenschaft wird vom Doktor jedoch nicht angenommen, sondern als »schönste aberratio mentalis partialis« pathologisiert. Und Woyzeck wird erneut auf das Versuchsobjekt und die der medizinischen und militärischen Disziplin gemäße Rede, das »Ja wohl« (I, 210), reduziert. In allen drei genannten Fällen, auf Naturphilosoph, Psychiker oder auf die physiologische Debatte über die verschiedenen Modelle von Nervensystemen hin gelesen, verortet sich der Doktor jedenfalls im Kontext der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts mit seinen Aussagen zur Willensfreiheit im nicht mehr zeitgemäßen Lager derer, die Wissenschaft, sei es der Natur oder der Seele, noch unter dem Dach der Philosophie betreiben. In der überarbeiteten Fassung der Szene (3,8) findet eine Umakzentuierung statt, indem das in 2,6 genannte Sammelprojekt des Doktors wegfällt und nun eher Woyzeck, auch durch die stärker ausformulierte leibseelische Sprach- und Schriftmetaphorik, als alternativer Naturphilosoph erscheint. Die Wandlung des Doktors in 3,8 wird so deutlicher auf jene vom Psychiker zum Somatiker konzentriert. Innerhalb weniger Zeilen mutiert er vom Verfechter der Willensfreiheit zu einem somatisch orientierten experimentellen Forscher. Damit ist die auf wenige Augenblicke verkürzte historische Zeitraffung, die in der Szene ›Der Hof des Professors‹ zu beobachten war, in den Doktor-Szenen fast noch radikaler umgesetzt, indem sie am Leibe einer Figur vollzogen wird. Auch die Szene ›Der Hof des Professors‹ läßt sich unter dem psychiatrischen Gesichtspunkt noch einmal betrachten. Insofern dort universitäre und klinische Forschung, Wesensbestimmung und empirische Beobachtung in der Gestalt von Professor und Doktor gegeneinander geführt werden, kann sie ebenfalls als Inszenierung des Methodenstreits der Psychiker und Somatiker gelesen werden. Der Professor ist an der »Wesenheit« der Katze interessiert, während der Doktor mit seiner »Loupe« schon darauf blickt, wovon diese »neue Species […] wesentlich verschieden« (I, 218) ist, also einen vergleichend-funktionalen Ansatz verfolgt. Nasse hatte dementsprechend in seinem Verständnis von Erfahrungswissenschaft die »Erkenntniß des Wesens« der Analyse funktionaler »Beziehungen«231 nachgeordnet, während Heinroth sein ›Lehrbuch der Stoerun230

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So in Müllers ›Handbuch der Physiologie‹: »Reize auf die Schleimhaut der Nase bewirken Niesen, Reize im Schlund, in der Speiseröhre, im Magen, im Darm bewirken die Concurrenz der respiratorischen Bewegungen zum unwillkürlichen Stuhlgang, und Harnlassen und zum Austreiben der Frucht.« Bd. 1, S. 333, vgl. ebd. S. 694f., 698, 725. C. F. Nasse, Grundzuege der Lehre von dem Verhaeltnis zwischen Seele und Leib in Gesundheit und Krankheit, S. 3.

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gen des Seelenlebens‹ tatsächlich erst mit definitorisch-spekulativen Wesensbestimmungen einleitet, etwa »das Wesen der Gesundheit« ist »Freyheit«,232 bevor er zur empirischen Konkretion schreitet. In 4,1 wird diese psychiatrische Debatte klar zugunsten der Somatiker entschieden, mit den oben skizzierten ambivalenten Konsequenzen. IV.3.1.2. Zur naturwissenschaftlichen Methode Büchners Bislang wurde anhand der Figur des Doktors Georg Büchners dramatische genetische Methode als eine historische Betrachtung von Erfahrungs- und Wissensstrukturen vorgeführt, die mit dem Barbier und dem Professor die Entstehung von Berufsrollen berücksichtigt, mit Hauptmann und Professor institutionelle und disziplinäre Allianzen und Konkurrenzen veranschaulicht, in sinnesphysiologischer Konkretion, sprachlicher Differenzierung sowie in verschiedenen Versuchsszenarien die Geschichte wissenschaftlicher Einstellungen und Methoden vorführt, psychiatrische und physiologische Debatten reinszeniert und schließlich die ethischen Konsequenzen all dieser verschiedenen Geschichten ausstellt. Jetzt ist es an der Zeit, das Drama auch an das von Georg Büchner in seiner Dissertation formulierte naturwissenschaftliche Verständnis von »genetischer Methode« (II, 69) heranzuführen bzw. insgesamt den bereits anklingenden intertextuellen Spuren zwischen Georg Büchners wissenschaftlicher und dramatischer Arbeit ausführlicher nachzugehen. Mit seinem Selbstversuch zum Nießreflex erhält der Doktor in 3,8, wie bereits vermerkt, ein modernes Forschungsprofil. Er schließt an die Arbeiten von Johannes Müller und Volkmann zum gerade erst benannten Reflex und Reflexbogen auf. Und die Figur des Doktors tritt auf diesem Wege auch in Beziehung zu Georg Büchners eigener wissenschaftlicher Arbeit. In den 1830er Jahren prägten Johannes Müller und Marshall Hall die Begriffe ›Reflex‹ und ›Reflexbogen‹ in ihrem präzisen biologischen Sinn. Eine Beschreibung des Reflexbogens nach Müller lautet: Sowohl der Schlund als Magen, als Mastdarm, Urinblase, Uterus, alle diese Theile stehen durch ihre Nerven in einem solchen Zusammenhang mit den Gehirn- und Rückenmarksnerven, dass jeder heftige Reiz in Schlund, Magen, Mastdarm, Urinblase, Uterus nicht bloss die Zusammenziehung der Bauchmuskeln und des Zwerchfells verursacht zum Austreiben des Reizes nach oben oder nach unten. Diese Wirkung geschieht durch Reflexion der Reizung von Aesten des Nervus vagus im Schlund und Magen auf das Gehirn und von sympathischen Zweigen des Magens auf das sympathische System und auf Gehirn und Rückenmark, durch

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J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens. Erster oder theoretischer Theil, S. 23. An Heinroths Woyzeck-Schrift hatte ein Kritiker die oben bereits vorgestellten, »neuerdings beliebten transcentendalen Beweisführungen« bemängelt, J. C. A. Grohmann, Ueber die zweifelhaften Zustaende des Gemueths, S. 320.

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Reflexion der Reizung von Nerven des Mastdarms, des Uterus, der Urinblase, theils sympathischen Nerven, theils Aesten der Sacralnerven auf das Rückenmark.

Das ältere im 18. Jahrhundert gängige Paradigma der Sympathie als Fernwirkung zwischen Organen wird in Müllers Rede von den »Sympathieen eines grossen Theils von Nerven«233 nun nervenphysiologisch überholt und durch den Reflex abgelöst. Die deutschen Physiologen, in der Tradition romantischer Naturphilosophie stehend, entwickelten eine für die Zukunft richtungweisende monistische Variante der Reflextheorie, die eine evolutionäre Kontinuität von physischen und psychischen Reflexen annahm und so auch die sensomotorischen, unbewußten Aktivitäten des Gehirns in den Blick rückte. Die Arbeiten von Müller, Volkmann und Wilhelm Griesinger trugen zur modernen Auffassung des Reflexes als basaler Einheit jeder nervösen Funktion bei,234 die Körper und Seele gleichermaßen wie Tier und Mensch miteinander verbindet. Mit dem Niesen bzw. allgemeiner gesprochen mit über das Gehirn vermittelten Reflexbewegungen war das komplexe zerebrospinale System des Reflexbogens vollständig beschrieben, indem neben dem Rückenmark nun auch als zweites Reflexzentrum das Gehirn berücksichtigt wurde. Die ersten Anfänge des Reflexbogens konnten in dieser Studie an Hallers Reiz- und Erregungslehre beobachtet werden.235 Und die in ›Woyzeck‹ erwähnten Selbstversuche des Doktors hinsichtlich des Nießreflexes weisen voraus auf die um 1900 populär werdende nasale Reflextheorie Wilhelm Fließ’, die für Sigmund Freud wichtig sein wird. Vor allem aber gerät die Arbeit des Doktors mit dem Niesen in die Nähe von Georg Büchners eigener physiologischer Forschung. Denn Büchners Dissertation ›Mémoire sur le système nerveux du barbeau‹ (1836) erweist sich gerade in diesem Diskussionszusammenhang als besonders hellsichtig, indem sie die evolutionäre anatomische Verwandtschaft zwischen den beiden Reflexzentren Rük233

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J. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen für Vorlesungen, S. 334f. Im dritten Teil seines Handbuchs, in der ›Physik der Nerven‹, formuliert Müller dieses hier im Rahmen von Bells These von der psychosomatischen Relevanz der Atmungsnerven eingeführte Konzept des Reflexbogens dann ausführlich aus und leitet diese ganz neuen Einsichten als bedeutenden »Fortschritt unserer Wissenschaft« ein, die zeitgleich, aber unabhängig von einander von Marshall Hall und ihm selbst entwickelt wurden. Er setzt sich damit von der zeitgenössischen Erklärung ab, daß allein der Nervus sympathicus für das Zusammenwirken von Organen und Nerven im menschlichen Körper verantwortlich sei, vgl. 688–701. Zum Sympathie-Konzept siehe auch E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 52f. »The reflex is not seen as one mode of the nervous action among several others, but as the basal unit from which all other modes of nervous function are evolved. On this view the reflex [...] must have application throughout the cerebrospinal axis, up to and including the cerebrum. It follows that mental function cannot be excluded from the scope of reflex theory, but must be seen as a further mode of reflex action.« E. Clarke and L. S. Jacyna, NineteenthCentury Origins of Neuroscientific Concepts, S. 130. Griesinger datiert den Nachweis der »Reflexaction im Nervensysteme« auf die Arbeiten Whytts und Hallers, nennt im weiteren Unzer und Reil, die ›Rhapsodieen‹, und schließt: »so gebührt doch M. Hall und J. Müller das Verdienst seiner empirischen Begründung und des Nachweis seiner ganzen Wichtigkeit«, Ueber psychische Reflexactionen, S. 76.

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kenmark und Gehirn nachweisen will. Büchner spricht vom Gehirn als ›Anschwellung des Rückenmarks‹.236 Zwar erwiesen sich die beiden Grundannahmen seiner Arbeit, sowohl die genetische Hypothese über die Entstehung des Gehirns, die so genannte Wirbeltheorie des Schädels, als auch die anatomischen Spekulationen über die Analogie von Hirn- und Spinalnerven als irrig.237 Nichtsdestoweniger war dieser Ansatz im Hinblick auf einen genetisch-funktionalen Vergleich von Rückenmark und Gehirn in bezug auf die Reflextätigkeit richtungweisend. So beruft sich Wilhelm Griesinger 1844 auf die von Goethe und Oken vertretene Schädeltheorie und deutet sie funktional um. »He argued that, just as the brain (whether literally or figuratively) ›grew out of‹ the spinal cord, so brain functions evolved gradually from the simpler forms of reflex.«238 Was Büchner bei den Flußbarben zu finden hoffte, nämlich die »einfachsten Formen« (II, 162) des Nervensystems, aus denen alle komplexeren sich entwickelt haben, das wurde dann nicht in der Anatomie der Nerven und Wirbel, wohl aber in den durch sie hindurchgehenden Reflexen gefunden. Eine der Grundannahmen romantischer Naturphilosophie, eine kontinuierliche, graduelle Evolution, prägt dann die Aussagen über den Zusammenhang physischer und psychischer Reflexe. Griesinger und sein englischer Kollege Thomas Laycock sprechen demgemäß von einer kontinuierlichen Entwicklungslinie, die von automatischen Akten über Reflexe, Instinkte und Gefühle bis zur Intelligenz verläuft.239 Noch bevor diese Übergänge begrifflich prägnant in der Physiologie erfaßt werden, spielt Büchners ›Woyzeck‹ auf dieser Klaviatur, indem in einzelnen Szenen etwa innerhalb weniger Zeilen von den Reflexvorgängen, Pissen und Niesen, zu Fragen der Willensfreiheit übergegangen wird, bis das Gespräch schließlich mit einer psychischen Diagnose, wie in 2,6 und 3,8, endet. Das Drama verzeichnet so in ganz einfachen, alltäglichen Handlungen fast wie nebenbei die radikale, mit dem Konzept des Reflexes sich vollziehende Veränderung des Menschenbildes in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Diese wird

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Vgl. II, 131, 573. Später resümiert Büchner die Ergebnisse seiner Dissertation mit folgenden Worten: »Daraus folgt, daß der Kopf nur das Ergebnis einer Metamorphose des Rückenmarks und der Wirbel ist«, II, 582. Vgl. II, 897ff. (Kommentar). Zur Schädeltheorie siehe H. Müller-Sievers, Desorientierung, S. 60–74; U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 317–335. E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 135. Siehe hierzu Griesingers Einleitung in: Archiv für physiologische Heilkunde 3 (1844), S. 10. Vgl. W. Griesinger, Ueber psychische Reflexactionen, der vom Rückenmark zum Gehirn, vom Reflex über habitualisierte Bewegungen bis zu Vorstellungen aufsteigend argumentiert. Und siehe Laycocks prägnante Formulierung zwei Jahr später: »The automatic acts pass insensibly into the reflex, the reflex into the instinctive, the instinctive are quasi emotional, the emotional are intellectual. This gradation of structure and function observed in the nervous system, is observed also with reference to all other structures of his body.« Thomas Laycock, On the reflex function of the brain. In: British and Foreign Medical Review 19 (1845), S. 298–311, S. 311, zit. nach E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 145.

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über Reflexneurose und Behaviorismus bis weit ins 20. Jahrhundert hineinwirken. Die widersprüchliche Zeichnung des Doktors im ›Woyzeck‹ entspricht also durchaus der zeitgenössischen deutschen Physiologie im Allgemeinen und Büchners eigenem Forschungsprofil im Besonderen, das ebenfalls eine eigentümliche Mischung von spekulativer Naturphilosophie und Empirismus darstellt.240 Seine Dissertation ist dementsprechend in eine ›Partie descriptive‹ und eine ›Partie philosophique‹ zweigeteilt. Der erste Teil beschreibt die exakte Forschung, zu der zahlreiche eigene Präparationen und Tierversuche gehörten. Büchner sezierte neben den »in großer Zahl untersuchten Flußbarben« auch »Zuchtkarpfen, Hechte, Barsche, Maifische (Alosa) und auch Frösche« und »präparierte von ihnen Vorführpräparate, die er auch in seinem Kurs im WS 1836/37 in Zürich verwendete.«241 Das erinnert an den Doktor in 2,7, der sich vom baldigen Tod einer Patientin ein »int(ere)ssants Präparat« (I, 198) erhofft.242 Büchners Bericht über die im Rahmen seiner Dissertation vorgenommenen Vivisektionen wurde bereits oben zitiert und in die Tradition des Hallerschen unbeteiligten Protokollstils gestellt. Um einen Versuch am lebenden Objekt handelt es sich auch im Drama, etwa wenn der Doktor in 2,7 Woyzecks Reaktion auf einen psychischen Reiz beobachtet und im standestypischen Protokollstil festhält. Und Büchner gibt dem Doktor mit der »Loupe« (I, 218) auch jenes Instrument in die Hand, das er aufgrund der Feinheit der von ihm untersuchten Nerven neben dem Skalpell für seine Präparationen brauchte (II, 107).

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Während seines Medizinstudiums in Straßburg traten Büchner mit seinen Lehrern ErnestAlexandre Lauth, der naturphilosophisch orientiert war, und Georges-Louis Duvernoy, der die empirische Vorgehensweise verfolgte, bereits diese beiden unterschiedlichen Richtungen entgegen und beeinflussten ihn nachhaltig. Sie lassen sich nach Knapp um weitere für Büchner wichtige Namen ergänzen, so wäre die Linie exakter Forschung durch »Cuvier – Meckel – Duvernoy – Wernekinck« benannt, die spekulative durch »Saint-Hilaire – Goethe – Lauth – Carus – Müller – Oken«, G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 38, vgl. 12, 36. Siehe im weiteren II, 880 (Kommentar); O. Döhner, Georg Büchners Naturauffassung, S. 39f.; O. Döhner, Neuere Erkenntnisse zu Georg Büchners Naturauffassung und Naturforschung. U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 1–16, gibt einen Forschungsüberblick zum Thema Büchner und die Naturwissenschaften und entwickelt ein sorgfältiges Portrait des Naturwissenschaftlers Büchner im Kontext der zeitgenössischen Wissenschaftsströmungen. Helmut Müller-Sievers hat ausgehend von Büchners in einen beschreibenden und einen philosophischen Teil gegliederten Dissertation den Konflikt von Beschreibung und Interpretation, respektive Metonymie und Metapher als Signatur des wissenschaftlichen Zeitalters herausgearbeitet, die sich auch auf der Oberfläche von dessen dichterischem Werk zeige, vgl. Desorientierung, S. 9f., 53f., 93–100 u.a. II, 878 (Kommentar). Von der Präparation eines toten Patienten berichtet auch Charles Bell vgl. C. Bell, Of the Nerves which associate the muscles of the Chest, in the actions of breathing, speaking, and expression, S. 302.

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Die entscheidende Differenz zwischen Forschungsbericht und Dramenfragment liegt in der Übertragung vom Tier auf den Menschen, dadurch entfaltet sich erst das wissenschaftskritische Potential. Diese Übertragung liegt allerdings auch in der Konsequenz von Büchners Dissertation, die mit empirischer Methode der Grundannahme einer kontinuierlichen Evolution nachgeht. Diese wiederum gehört zum zweiten philosophischen Teil seiner Dissertation und wird von weiteren romantisch-spekulativen Erklärungsansätzen flankiert. Der vergleichenden Morphologie Goethes verdankt sich die Annahme einer »Einheitlichkeit des Bauplans im Aufbau der Lebewesen«, die kontinuierliche Tier-Mensch-Vergleiche ebenso erlaubt wie das Durchdeklinieren von Nerven und Organen nach dem Modell der Analogie. Dieses bekundet sich sowohl in der zentralen These, »daß es sechs Paare von ursprünglichen Hirnnerven gibt, daß diesen sechs Schädelwirbel entsprechen«, als auch in Formulierungen wie: der Trigeminus sei ein Vagus in »einer höheren Potenz«, im Augapfel sei das Gehirn repräsentiert, Nerven und Gehirnteile entsprächen einander oder die Mundhöhle wiederhole das Verdauungsrohr, die Nase das Atmungsrohr (II, 542, 582, 567, vgl. 571f., 583). Charakteristisch für die naturwissenschaftlichen Entwicklungsgeschichten des 19. Jahrhunderts ist der Fortschrittsglaube, die aufsteigende Stufenleiter, an deren Spitze der Mensch steht. Sprachlich realisiert sich dies auch in Büchners Dissertation in der Rede von der ›höheren Potenz‹243 und der »stufenweisen Betrachtung der Organismen«. Methodisch ist es jedoch nicht die Opposition von unten und oben, die seine Untersuchung leitet, sondern jene von Einfachem und Komplexem. Wobei seine Prämisse bei der Analyse des Nervensystems der Flußbarben ist: »Die einfachsten Formen leiten immer am Sichersten« (II, 162). In ›Woyzeck‹ ist es hingegen vor allen Dingen die Kehrseite dieses entwicklungsgeschichtlichen Denkens, die hierarchische Abstufung der Lebewesen und die absteigende Linie, die zur Darstellung kommt. Die fatalen ethischen Konsequenzen des Tier-Mensch-Vergleichs konnten bereits am Verhalten des Doktors gegenüber Woyzeck veranschaulicht werden im ›Tierversuch‹ an der ›Bestie‹ Woyzeck. Neben den ernährungsphysiologischen Experimenten wäre auch noch einmal an die sprachlichen Umwertungen der Psychiker auf dem Hintergrund ihres entwicklungsgeschichtlichen Ansatzes zu erinnern – Heinroth sah im Wahnsinn das Menschsein verloren und die Rückkehr des Tieres –, die hier inszeniert werden. Das gegenläufige Hinunterdeklinieren vom Mensch zum Tier ist auch die satirische Pointe der Jahrmarktsszenen, wenn die »Fortschritte der Civilisation« durch das astrono243

Vgl. II, 126, 162, 167, 567. So kommentiert auch U. Roth: »mit der Kategorie der Potenz als Charakteristikum einer Stufenfolge innerhalb des Naturganzen reiht sich Büchner ein in jene Tradition der philosophisch sich begründenden Naturforschung des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts […]: Die Denkfigur der Potenzierung durch polare Entgegensetzung als Ausdruck einer hierarchischen Stufung des Organischen ist vor allem bei Schelling manifest«, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 487.

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mische Pferd repräsentiert werden, das »viehische Vernunft«, »Person« und »verwandler Mensch«, und wenn der »Aff’ […] schon ei Soldat«, die »unt(er) st Stuf von menschliche Geschlecht« (I, 193, 178) ist.244 Das Gegeneinander von auf- und absteigenden Entwicklungslinien strukturiert dann ebenfalls die mögliche Schlußszene ›D. Idiot. D. Kind. Woyzeck‹. Der Szenentitel kann in Anbetracht der geistigen Fähigkeiten als aufsteigende Linie interpretiert werden, insofern die als Idiot oder Narr bezeichnete Figur gemäß der zeitgenössischen Psychiatrie einen allgemeinen, dauerhaften Zustand der Geistesschwäche repräsentiert,245 die Geisteskräfte des Kindes noch nicht voll ausgebildet und diejenigen Woyzecks partiell eingeschränkt sind. In der Szene orientiert sich das Kind jedoch gleichsam nach unten und entscheidet sich gegen Woyzeck und für den Idioten – »WOYZECK will das Kind liebkosen, es wendet sich weg und schreit« – , der »jauchzend […] mit d. Kind weg[läuft]« (I, 219). Auch im Ausspruch des Doktors: »Behüte wer wird sich über einen Menschen ärgern! einen Menschen! Wenn es noch ein Proteus wäre, der einen krepirt!« (I, 196), dokumentiert sich die Um- und Abwertung des Menschen. Mit dieser Nennung des Proteus wird die Forschung des Doktors wiederum eng an Georg Büchners eigene naturwissenschaftliche Arbeit herangeführt. In seiner Dissertation erwähnt er den Proteus anguinus, den Grottenolm. Dieses seltene Tier erfreute sich zeitgenössisch äußerster wissenschaftlicher Beliebtheit, denn es nahm »entwicklungsgeschichtlich eine interessante Übergangsstellung« ein und an ihm zeigte sich eine »bemerkenswerte Ausbildung der Seitenlinie des Eingeweidenervs (Nervus vagus)«, der »Nervus lateralis«,246 dem Büchner bei den Flußbarben auf der Spur war. Mit diesem erwünschten Präparat würde die Doktor-Figur neben dem Nießreflex noch einmal mit aktuellster physiologischer Forschung in Verbindung gebracht. Bei dem in der Doktor-Szene

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Auch Poschmann verweist hinsichtlich der Naturphilosophie des Marktschreiers auf Büchners Dissertation, vgl. Kommentar, II, 886. Günter Oesterles Befund: »Die Stoßrichtung des TierMensch-Vergleichs in den beiden Marktszenen ist gerichtet gegen Descartes’ Dualismus von Tier und Mensch, Leib und Seele«, und die weiteren genannten philosophiegeschichtlichen Bezüge (La Mettrie, Helvétius, Cabanis) erweitern das diskursive Spektrum dieser Szenen noch beträchtlich und zeigen einmal mehr das in ›Woyzeck‹ praktizierte Verfahren der Diskurskoppelung, Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 211. Zu Büchners Kritik an Descartes’ Dualismus siehe II, 230. »Narrheit ist allgemeine Verkehrtheit und Schwäche der Seelenkräfte, ohne Tobsucht und Blödsinn, doch dem letzten am nächsten verwandt«, J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 396, vgl. 305–439. Darüber hinaus vergleicht Reil den Narren mit dem Kind, vgl. ebd., S. 397f., 401. Die Analogie von Kindern und Wahnsinnigen ist allerdings ein alter philosophiegeschichtlicher Topos, den Büchner bei den Descartes-Kritiken referiert, vgl. II, 248. II, 887 (Kommentar); vgl. II, 134, 577; U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 440. In Johannes Müllers ›Handbuch der Physiologie‹ wird der Proteus anguinus im Kontext der modernen Ernährungsexperimente als Hungerkünstler geführt, der fünf oder sogar zehn Jahre nur in Brunnenwasser überleben könne, vgl. Bd. 1, S. 467. Ein Präparat des begehrten Proteus anguinus stand auch auf Goethes Wunschliste vgl. WA IV/29, 148.

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erwähnten Proteus könnte es sich allerdings auch um eine Amoeba proteus aus der Spezies der Infusorien handeln, und damit um einen Vertreter »aus dem Tierreich der niedrigsten Stufe« (HA 13, 57).247 Dann verbände den Doktor und den Naturwissenschaftler Büchner das Interesse für den »einfachsten primitiven Typus« (II, 160), von dem man auszugehen habe, um die Entwicklungsgeschichte in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus signalisiert die Nennung des Proteus übergreifend eine naturwissenschaftliche Haltung und eine bestimmte Wissenschaftsrichtung, berücksichtigt man den Namengeber, den zwischen den Elementen und zwischen Tier und Mensch sich verwandelnden Meeresgott der griechischen Mythologie und die Funktion, die ihm im naturwissenschaftlichen Diskurs des beginnenden 19. Jahrhunderts insbesondere bei Goethe zukommt. Seine Entdeckung der Urpflanze und damit der Beginn seiner vergleichenden Morphologie steht im Zeichen der Suche nach dem »wahren Proteus«. Am 17. Mai 1787 schreibt er aus Neapel: »Ferner muß ich dir vertrauen, daß ich dem Geheimniß der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das Einfachste ist was nur gedacht werden kann. […] Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen in’s Unendliche erfinden, die consequent sein müssen, das heißt: die, wenn sie auch nicht existiren, doch existiren könnten […] und eine innerliche Wahrheit und Nothwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen. […] Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne.« (WA I/32, 43f.) In seiner Probevorlesung verortet Büchner den eigenen Ansatz dezidiert in jener deutschen Tradition einer »genetischen« oder »philosophischen Methode« und nennt Goethes »Metamorphose der Pflanze aus dem Blatt« (II, 69, 158, 160). Goethes Begriff der Metamorphose248 umfaßt sowohl den Gestaltwandel in der Individualentwicklung eines Organismus als auch jenen zwischen den Arten in der Annahme einer Gesetzmäßigkeit der Entwicklung und einer Einheitlichkeit der Grundbaupläne von Lebewesen, ohne daß damit jedoch schon der evolutive Artenwandel gemeint wäre. Die Urpflanze als zugleich real existierende biologische Form und wissenschaftliches Konstrukt wird später vom Begriff des Typus abgelöst, der deutlicher die Idee als das herausstellt, was das Vielfältige der 247 248

Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 42f.; U. Roth, Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck, S. 269, 271–277. Zum Folgenden siehe die Art. Metamorphose (Hans Joachim Becker), Urpflanze (Marie-Luise Kahler), Urphänomen (John Erpenbeck). In: Goethe-Handbuch, Bd. 4/2, S. 700–702, 1077– 1082; W. von Engelhardt, D. Kuhn, Johann Wolfgang Goethe (1749–1832). Zum Typus-Begriff bei Goethe vgl. D. Kuhn, Typus und Metamorphose.

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Erscheinung auf eine Einheit zurückbezieht. Mit dem »Begriff vom Typus« verbindet sich die »Idee einer gesetzlichen […] Bildung und Umbildung« (WA II/13, 41) von Organismen. Ausgefeilt hat Goethe die Typologie vor allem in anatomisch-osteologischer Hinsicht, etwa im ›Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie‹ (1795). Der »anatomische Typus« der Säugetiere im Sinne eines »allgemeinen Bildes« oder »Schemas« ist hier der gesuchte »Proteus« (WA II/8, 10, 12, 18). Durch diese beiden Begriffe, Metamorphose und Typus, gestaltet sich Goethes Konzept des Lebens als einer »bewegliche[n] Ordnung« (WA II/8, 60), wobei die Typologie für Ordnung, Gesetz, eine gewisse Regel und Konsequenz in der Entwicklungsgeschichte steht, während die Metamorphose das Moment der Freiheit bezeichnet. Zu diesem vergleichenden Ansatz des Gestaltwandels tritt mit der »genetischen Betrachtung« eine zeitliche Komponente, das »sukzessive Werden« (LA I/11, 114f.) im Prozeß der Naturgeschichte hinzu. In Anlehnung an Goethe hat Carus die »genetische Methode« als eine Form der Naturbetrachtung beschrieben, die »die Natur nicht als Beharrendes, Erstarrtes und folglich Totes« ansieht, sondern als »ein stets Werdendes«, und darüber hinaus als eine Betrachtung, die ihrem Gegenstand gegenüber homolog ist. Denn aus der Auffassung der Natur als beweglicher Ordnung und stetem Werden erwächst notwendig ein Darstellungsproblem. Es bedarf einer Methode, deren Gang, wie Carus formuliert, »möglichst gleich ist dem Gange, in welchem wir die Naturerscheinungen selbst hervortreten, entstehen sehen«.249 Goethe selbst spricht davon, daß der Typus, »das allgemeine Bild«, auf »genetische Weise« (WA II/8, 11) von der Natur abgezogen werden müsse. Er löst diese Darstellungsproblematik ästhetisch, etwa in dem Gedicht ›Metamorphose der Tiere‹ oder in Form literarischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung wie in seiner Rezension zum Akademiestreit zwischen Georges Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire. Der Leitsatz »›Ich lehre nicht, ich erzähle.‹ (Montaigne.)« wird dort auf dem Wege von »biographischen Versuchen« umgesetzt. Die dort auch proklamierte »genetische Denkweise, deren sich der Deutsche nun einmal nicht entschlagen kann«, umfaßt damit nicht nur den Metamorphose-Gedanken und seinen beweglichen Nachvollzug in den Techniken von »Sondern und Verknüpfen« (HA 13, 228, 227, 250, 233), sondern auch eine bewegliche, literarische Form der (Natur-) Geschichtsschreibung. Das von Goethe hervorgehobene nationale Gepräge des Akademiestreits, mit Saint-Hilaire als germanophilem und von deutschem Entwicklungsdenken beeindruckten Wissenschaftler, prägt dann auch Georg Büchners Dissertation und vor allem seine Probevorlesung. Er unterscheidet hier eine englisch-französische teleologische von einer deutschen genetisch-philosophi-

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Die Zitate stammen aus: C. G. Carus, [Rezension von] Versuch über die Metamorphose der Pflanzen, übersetzt von Frédéric Soret. In: ders., Vorlesungen über Psychologie, hier zit. nach U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 267.

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schen Methode und verortet das eigene Arbeiten dezidiert in letzterer Tradition. Mit den Begriffen Metamorphose, Typus und genetische Methode, mit seinem Plädoyer für die Selbstgenügsamkeit der Natur, ein Urgesetz der Schönheit und der Teleologiekritik zeigt sich Büchners Ansatz Goethes zwischen empirischer Wissenschaft, Philosophie und Ästhetik vermittelnder Naturbetrachtung verwandt.250 Büchners Definition der in seiner Dissertation zur Anwendung kommenden genetischen Methode lautet, ein »äußerst gewissenhaftes Vergleichen«, »ausgehend von den einfachsten Organisationen und fortschreitend Schritt für Schritt zu den entwickeltsten.« Ausgangspunkt ist das Nervensystem von »der untersten Stufe der Rangordnung der Wirbeltiere« oder, wie es in der Probevorlesung heißt, der »einfachste primitive«, der »ursprüngliche Typus« (II, 504, 160, 162). Es wird im folgenden noch zu betrachten sein, wie sich dieses naturwissenschaftliche Verständnis der genetischen Methode einerseits zu jenem verhält, welches uns in der Psychiatrie und Forensik der Zeit begegnet war, und andererseits zu Büchners im ›Woyzeck‹ praktizierter literarischer Technik, die bislang unter dem Motto Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und umgekehrt sowie Figurengenese und -verknüpfung verhandelt worden ist und die durchaus als vergleichende Typologie bezeichnet werden kann. Man ist fast versucht, das Vorkommen des Proteus im ›Woyzeck‹ als selbstreflexive Wendung zu verstehen, indem der Text durch das lateinische Wort für ›Gestaltwandler‹ sein Verfahren in Analogie und Abgrenzung zu den Naturwissenschaften benennt. Fortführen ließe sich diese Argumentation, folgt man der weiteren Geschichte des Proteus bei Goethe. Denn dieser wird nicht allein mit Urpflanze und Typus assoziiert, sondern er wird in Erinnerung an die griechische Mythologie zum Symbol der wissenschaftlichen Naturbeherrschung schlechthin. Im Gespräch mit Riemer äußert Goethe: »Für eine chemische Gesellschaft wäre ein gutes Motto und Emblem die Stelle im Homer von Menelaus und Proteus (Odyssee IV, 450 ff.). Proteus kann für ein Symbol der Natur, Menelaus für ein Symbol der naturforschenden und der naturzwingenden Gesellschaft gelten.«251 In ›Faust II‹ tritt Proteus schließlich als »allegorische Verkörperung der Metamorphose«252 auf, als derjenige, der im Besitz des

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Die Nähe zu Goethes Naturauffassung haben betont: H. Mayer, Georg Büchner und seine Zeit, S. 366–379; O. Döhner, Georg Büchners Naturauffassung, S. 167–292; D. Müller Nielaba, Die Nerven lesen, S. 11f., 22, 31–42; während U. Roth auch die Unterschiede u.a. zwischen Goethes regulativem und Büchners konstitutivem Typusbegriff akzentuiert und neben Goethe Carus und Johannes Müller als wichtige Referenzen ins Spiel bringt, vgl. Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 383, 483, 246ff., 271ff. Nichtsdestoweniger sind die Beispiele von Büchners Teleologiekritik offensichtlich an Goethes Argumentation in ›Erster Entwurf einer Einleitung‹ und dann wiederholt in ›Principes de philosophie zoologique‹ angelehnt, vgl. II, 158, und WA II/8, 17f.; HA 13, 241ff.; U. Roth, Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften, S. 478. Goethes Gespräche. Hrsg. von Woldemar Freiherr von Biedermann, Bd. 2, S. 6. JA 3, 796 (Kommentar).

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Wissens um Zeugung und Entstehung des Lebens ist: »Hinweg zu Proteus! Fragt den Wundermann: / Wie man entstehn und sich verwandlen kann.« Er berät den Homunkulus, die Schöpfung noch einmal von vorn, im Meer zu beginnen: »Da fängt man erst im Kleinen an […] / Und bildet sich zu höherem Vollbringen« (WA I/15.1, 160, 166). Als Prinzip von Metamorphose und Entstehung des Lebens rückt Goethes Proteus in deutliche Spannung zu der ganz anders gelagerten Laboratoriums-Szene in Büchners ›Woyzeck‹ und der Hoffnung des Doktors auf einen krepierenden Proteus. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergeben sich für die Erwähnung des Proteus in Büchners Drama verschiedene Lesarten. Mit dem Goethe-Kontext rückt die Doktor-Figur noch einmal in die Tradition deutscher Naturphilosophie, die in 2,6 auch mit dem Sammelprojekt angezeigt war und in 3,8 nur noch durch den Namen des Meergottes vertreten wird. Allerdings erschiene der Doktor dann als später Nachfahre einer naturwissenschaftlichen Richtung, die sich unter seinen Händen in ihr Gegenteil verkehrt hat. Ist Goethes proteische Naturforschung auf die Entstehung des Lebens als ein Prozeß stetigen Werdens gerichtet, so ist Büchners Doktor nur an einem krepierenden Gestaltwandler interessiert. Naturwissenschaft im Dienste des Lebens ist zu einer solchen im Dienste des Todes geworden.253 Überleitend zur zweiten Lesart kann diese Verkehrung aber auch als Ausstellung einer inneren Logik aufgefaßt werden. Durch die Doktor-Figur würden nur die potentiell letalen Konsequenzen auch der Naturphilosophie akzentuiert. Die Suche nach dem wahren Proteus, dem Schlüssel und Modell allen Lebens, verkörpert ebenso einen Forscher- und Fortschrittsdrang, dessen gewalttätiges Potential auch bei Goethe zunehmend an die Oberfläche der Texte tritt: So etwa in der Äußerung gegenüber Riemer von der ›naturzwingenden Gesellschaft‹; in ›Faust II‹, wo der naturzwingende Fortschritt im Dammbauprojekt dann über Leichen geht; und schließlich in der Revolutionsmetaphorik, die er vor dem zeitlichen Hintergrund der Julirevolution 1830 für den Akademiestreit bemüht – er spricht von »einer so bedeutenden wissenschaftlichen Explosion«, auf die man »selbst nach der großen politischen, aufmerksam geblieben« (HA 13, 250) sei. Diese Metaphorik findet in Büchners Drama Aufnahme, wenn der Doktor bemerkt: »Es giebt eine Revolution in der Wissenschaft, ich sprenge sie in die Luft.«254 In dieser, auch im vorangehenden schon bemerkten Nähe 253

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Dies wird in der Überarbeitung der Doktor-Szenen noch deutlicher: Ist dieser in 2,6 noch an der Fortpflanzung niederer Tiere interessiert, so ist es in 3,8 mit dem krepierenden Proteus nur noch deren Tod, vgl. U. Roth, Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck, S. 276f. I, 209, vgl. 196, und II, 885 (Kommentar). Peter Ludwig hat auf die weite Verbreitung einer naturwissenschaftlichen Revolutionsmetaphorik im frühen 19. Jahrhundert aufmerksam gemacht, die sich ähnlich wie im Falle Goethes als gemäßigte Alternative zu den politischen Revolutionen oder in bewußter Abkehr von diesen profiliert, vgl. »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 85–87.

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zwischen der Figur des Doktors und dem sich zur Goethe-Tradition bekennenden Naturwissenschaftler Büchner zeigt sich die Kompromißlosigkeit seiner Wissenschaftskritik, die eben auch die Selbstkritik einschließt.255 In der Dissertation und der Probevorlesung fehlen diese Töne, die der gleichzeitig entstehende ›Woyzeck‹ nur um so schärfer anschlägt. Die Äußerung des Doktors: »Behüte wer wird sich über einen Menschen ärgern, ein Menschen! Wenn es noch ein proteus wäre, der einem krepirt!«, läßt sich so als polemische Reformulierung aus der Probevorlesung verstehen: »Es dürfte wohl immer verg(eblich sein, die Lösung des Problems in der) verwickeltsten Form, nämlich bei dem (Menschen zu versuchen.) Die einfachsten Formen leiten immer am Sichersten, we(il in) ihnen sich nur das Ursprüngliche, absolut Notwendige zeigt.« (I, 209; II, 162) Der Privatdozent in Zürich, der im Wintersemester 1836/37 ›Zootomische Demonstrationen‹ lehrt, für das Sommersemester 1837 ›Vergleichende Anatomie der Wirbelthiere‹ ankündigt,256 unterzieht seine beiden wissenschaftlichen Techniken, die empirische Einzelforschung und den naturphilosophisch-vergleichenden Ansatz in der Figur des forschenden Arztes einer grundlegenden Kritik. Hieran anschließend läßt sich noch eine dritte Lesart im Zusammenhang mit dem krepierenden Proteus anführen, die sich sehr viel glatter in die bisherige Forschung zu dieser Figur einfügt. Gerade auch vor dem Goethe-Hintergrund zeigt sich der Doktor noch einmal als Verkörperung einer einseitigen, auf das Trennende, Tote gerichteten Naturwissenschaft, für die im Akademiestreit Cuviers statischer Empirismus steht. IV.3.1.3. Literarische Vorläufer von Barbier und Doktor Über den Goethe-Kontext hinaus kann die in der Probevorlesung thematisch werdende und im ›Woyzeck‹ realisierte Engführung von Naturwissenschaft und Kunst bzw. Ästhetik noch an einem weiteren Aspekt der genetischen Zeichnung der Figurengruppe Barbier, Doktor, Professor veranschaulicht werden. Denn diese Gruppe wird nicht nur mit den zentralen psychiatrischen, forensischen, physiologischen und wissenschaftstheoretischen Debatten der Zeit verknüpft, sondern sie profiliert sich auch durch literarische intertextuelle Bezüge. Diese seien hier kurz erwähnt, schreibt sich Büchner doch in eine lange Tradition der Verbindung von Literatur und Medizin ein. Mit der in der ersten Handschrift eingeführten Figur des Barbiers, an die in den späteren Entwurfsstufen noch Woyzecks rasierende Tätigkeit erinnert, werden die Literarisierungen jener zunfthandwerklichen Heilberufe wie Barbier, Bader, Wundarzt und Chirurg im Drama präsent gehalten, an denen der zügige Fortschritt medizinischer Professionalisierung im Namen der Staatsarzneikunde im frühen 19. Jahrhundert 255 256

Vgl. II, 886 (Kommentar). Vgl. G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 31.

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abgelesen werden kann, indem sie binnen kürzester Zeit verschwanden.257 Ihnen wird in der Literatur eine ganzheitliche Perspektive zugeschrieben, das konnte bereits an den ›Wilhelm Meister‹-Romanen beobachtet werden. Im Hinblick auf Büchners Barbier wäre insbesondere auf E.T. A. Hoffmanns Peter Schönfeld / Pietro Belcampo aus den ›Elixieren des Teufels‹ zu verweisen, in dem in komischer Verzerrung noch einmal das Universalgenie aufblitzt. Er ist in diesem Roman in Personalunion Friseur, Barbier, leibseelischer Menschenformer, Krankenwärter, Lebensretter, Puppenspieler und seiner eigenen Einschätzung nach Verkörperung der Narrheit – »ich selbst bin die Narrheit« – und damit »Genie«. Insgesamt ist Schönfeld, wie schon sein Name indiziert, in allen seinen Tätigkeiten mit dem schönen Schein befaßt und darum Künstler. So erscheint er als komisches Double von Goethes Verazio/Magus oder Novalis’ Klingsohr und Sylvester, in denen Medizin, Kunst und Zauberei eine Synthese eingegangen waren. Die Narrheit figuriert in den ›Elixieren‹ als karnevaleske Gegenvernunft, die der »Vernunft beizustehen« habe. Schönfeld belehrt sein Gegenüber: »in der Narrheit findest du nur dein Heil, denn die Vernunft ist ein höchst miserables Ding, und kann sich nicht aufrecht erhalten, sie taumelt hin und her wie ein gebrechliches Kind, und muß mit der Narrheit in Compagnie treten, die hilft ihr auf und weiß den richtigen Weg zu finden nach der Heimat – das ist das Tollhaus«. Es sind Details, die in Büchners Text Eingang finden: die Rhetorik der Selbstrepräsentation des Barbiers: »Ich bin die Wissenschaft« (I, 182), seine berufsspezifische Krümmung des Rückens, seine Geschwätzigkeit, sein Philosophieren und eine gemeinsame Geste, die Schönfelds und Woyzecks körpersprachlicher Ausdruck des Philosophierens ist (»den Zeigefinger an die Nase gelegt«,258 »legt d. Finger an d. Nase«, I, 210). Und über die Bezüge zu Hoffmanns närrisch-künstlerischem Friseur Peter Schönfeld, der seinerseits wieder in der Tradition der von Hoffmann geschätzten Narren Shakespeares steht, bleibt in Büchners Text eine Erinnerung an eine solche karnevaleske Gegenvernunft bewahrt. Diese ruft Woyzeck selbst zu Beginn der Schaubuden-Szene auf: »Narre-Welt! Schön Welt!« (I, 193), sie wird allerdings 257

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Vgl. W. Martens, Der Barbier in Büchners Woyzeck; Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 87f. Zur Entwicklung der Staatsarzneikunde siehe P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 65–69. E. T. A. Hoffmann, Die Elixiere des Teufels, S. 258f., vgl. 103–110, 119–122, 303–306. In Schönfelds Charakterisierung hat Hoffmann einerseits nach zeitgenössisch-psychiatrischen Bestimmungen der Narrheit gearbeitet, so mit der »zu schnellen Folge der Ideen« und der »grossen Geschwätzigkeit«, vgl. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 397. Andererseits steht Schönfeld auch in der literarischen Tradition von Shakespeares weisen Narren, vgl. Die Elixiere des Teufels, S. 584 (Kommentar), die ebenso im ›Woyzeck‹ durch den Barbier, den Narren und in Woyzecks Philosophieren wach gehalten wird. In ›Leonce und Lena‹ ist es vor allem Valerio, der diese Tradition beerbt, siehe H. H. Hiebel, Allusion und Elision in Georg Büchners Leonce und Lena, v.a. S. 358–367. Zu lebensweltlichen und literarischen Bezügen des Narren siehe auch: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 59f.

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im weiteren Verlauf des Dramas keine Chance mehr haben, gerade nicht in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Woyzecks Bewußtseinszustand. Günter Oesterle hat auf die »Zweigesichtigkeit« der Komik gegenüber historisch »Überholte[m] und Unabgegoltene[m]«259 aufmerksam gemacht, das nicht nur der Lächerlichkeit preisgegeben, sondern wie im Falle von Büchners Barbier und der Narrheit im ›Woyzeck‹ auch ästhetisch gerettet wird. Ganz anders verhält es sich mit der Figur des Doktors und ihren satirischmakabren Vorgängern. In der Forschung ist diesbezüglich zu Recht auf die seit dem Mittelalter geläufige literarische Arztsatire hingewiesen worden, deren Quintessenz Jean Paul folgendermaßen zusammenfaßt: »Wenigstens dreimal hundert tausend Epigrammen und Satiren gegen die Aerzte lauten auf die Pointe aus: sie morden.«260 Mit Jean Pauls eigenen Arzt-Figuren, Dr. Sphex aus ›Titan‹ und Dr. Katzenberger, verbindet Büchners Doktor das vertraglich abgesicherte Ernährungsexperiment mit nur einer Person und seine Neigung, seine verstorbenen Patienten zu präparieren bzw. ihnen einen baldigen Tod zu prophezeien. Die Katzen-Episode im ›Hof des Professors‹ dürfte von ›Dr. Katzenbergers Badereise‹ inspiriert sein, der als »abscheulicher Katzen-Berger und -Würger« im Dienst der Wissenschaft seinen »Namen mit der Tat«261 führt. Jean Pauls und Büchners satirisch-makabren Arzt-Figuren ist gemeinsam, daß sie »wie hohlspiegelartig pervertierte Verkehrungen der grandiosen Aufklärungs- und Wohlfahrtsversprechen des szientifischen Wissenschaftsglaubens«262 erscheinen: Heilung im Dienste des Lebens hat sich in Tötung im Dienste der Wissenschaft verkehrt. Die Überlegungen dieses Kapitels zur genetischen Zeichnung der Figurengruppe Barbier, Doktor und Professor haben insbesondere in Anbetracht des Doktors zu einem Bild dieser Figur geführt, das in entscheidenden Nuancen vom bisher in der Forschung gezeichneten abweicht. »Intellektuelle Defekte, nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft, sondern – ausgedrückt in Wahrnehmungsdefiziten und Gefühlskälte – auch psychischer Art, moralische Defekte aufgrund des unmenschlichen Ernährungsversuches, wissenschaftlicher Dilettantismus festgemacht an dem falschen Gebrauch der chemischen und medizinischen Nomenklatur, und all dies grotesk übersteigert: dies ist die Quintessenz der bisherigen Forschungen zu der Figur des Doktors in Georg 259 260

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G. Oesterle, Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 218. Das Zitat leitet die Satire ›Ob nicht die Wissenschaften sowol als das peinliche Recht den besten Gebrauch von den Aerzten machen könnten‹ ein, J. Paul, Jugendwerke II, Vermischte Schriften I. Sämtliche Werke II, Bd. 2, S. 201. Siehe hierzu E. Steppacher, Büchners ›Doktor‹ und Jean Pauls ›Dr. Sphex‹; S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 250ff.; P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 284f., 299f. J. Paul, Schmelzles Reise nach Flätz, Dr. Katzenbergers Badereise, Leben Fibels, Der Komet, Selberlebensbeschreibung, Selina. Sämtliche Werke I, Bd. 6, S. 111. P. Ludwig, »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 300.

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Büchners Woyzeck.« Udo Roth hat demgegenüber bereits an der Szene 2,6, jedoch auch beschränkt auf diese, gezeigt, daß Büchners Doktor mit zeitgenössischen zoologischen »Grundlagenforschungen«263 beschäftigt ist. Im Rahmen dieser Studie konnten darüber hinaus die in dieser Figur zur Darstellung kommenden zentralen Umbrüche in den Natur- und Humanwissenschaften des frühen 19. Jahrhunderts aufgewiesen werden. Es kommen nicht nur, wie bislang angenommen, Clarus und Wilbrand als Paten für Büchners Doktor in Frage,264 sondern es müssen auch so illustre Namen wie Heinroth, Charles Bell, Johannes Müller und Goethe genannt werden, also die maßgeblichen Wissenschaftler ihrer Zeit und Disziplin; und schließlich darf diesbezüglich auch der begabte Nachwuchsnaturwissenschaftler Georg Büchner nicht vergessen werden, der seine literarische Figur im eigenen Forschungsfeld situiert. Es handelt sich bei diesem Doktor also um einen ernstzunehmenden Typus des modernen Wissenschaftlers, dessen satirische Züge nicht in den einzelnen Merkmalen liegen, sondern in deren Überzeichnung und in der konzentrierten Anhäufung. Dessen Grundlagenforschung ist in der überarbeiteten Fassung der Doktor-Szene (3,8) gänzlich auf den Menschen fokusiert, unter Streichung des zoologischen Sammelprojektes. Neben dem schon vielfach bearbeiteten und wissenschaftsgeschichtlich verorteten Ernährungsexperiment konnten mit Niesen und Pissen die zentralen physiologischen Debatten der Zeit kontextualisiert werden. Zum einen geht es in der Diskussion über das Urinieren in 3,8 um das Zusammenspiel von vegetativem und animalem Nervensystem, das auch in der zeitgenössischen Wissenschaft an den Ausscheidungsfunktionen verhandelt wird. Ist der Kopf oder der Unterleib, der Wille oder der Vagus das Tonangebende? Zum anderen wird mit dem Niesen die gerade erst begrifflich erfaßte Reflextätigkeit angesprochen. Beide Aspekte, das in vegetatives und animales differenzierte Nervensystem und ein über das Gehirn vermittelter Reflex, gehören in den Entdeckungszusammenhang des Reflexbogens in der 30er Jahren des 19. Jahrhunderts und damit zur folgenschwersten anthropologischen Neuerung dieses Jahrhunderts, insofern der Mensch nun verstärkt in seinen unwillkürlichen, unbewußten Bewegungen und in seinen Umweltbezügen wahrgenommen wird. Das Ernährungsexperiment des Doktors an Woyzeck steht in einem geneti-

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U. Roth, Das Forschungsprogramm des Doktors in Georg Büchners Woyzeck, S. 255. In 2,6 seien mit der im Sammelprojekt sich ausdrückenden zoologischen Grundlagenforschung »Züge eines ernstzunehmenden und sich mit den bahnbrechenden Erkenntnissen der Zeit auseinandersetzenden Wissenschaftlers zu beobachten«, die in 3,8 hingegen getilgt würden, ebd., S. 271. Auch Ludwig hat für die Figur des Doktors eine Negativliste aus der Büchner-Forschung zusammengetragen, vgl. »Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft«, S. 284. Justus Liebig, der in der älteren Forschung noch als weitere Referenz genannt wurde, muß, wie Burghard Dedners Nachforschungen ergeben haben, von der Liste gestrichen werden, da sein ernährungsphysiologisches Experiment und entsprechende Publikationen erst in die Zeit nach 1837 fallen, vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 183f.

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schen Zusammenhang mit dieser Neuerung und zeigt vor dem Hintergrund der nationalökonomischen Ernährungsfrage angesichts zunehmender Nahrungslosigkeit breiter Bevölkerungsschichten deren soziale Tragweite. Die Wissenschaftskritik in Büchners ›Woyzeck‹ setzt damit bei den (menschlichen) Grundfunktionen des Lebens: Essen, Ausscheiden und Abwehr (Niesen) – wie später zu zeigen sein wird, kommt das Trinken noch hinzu –, an und führt so die Auswirkungen moderner wissenschaftlicher Wahrnehmung im Alltag vor. Genau dies ist auch der springende Punkt im Hinblick auf die Überarbeitung der Doktor-Szenen: Anstatt auf »Hydra, Vestillen Cristatellen« und dem »linken Backzahn von einem Infusionsthier« ist nun die Forschung des Doktors auf »pissen«, »Niesen«, Erbsenessen und deren Zusammenhang mit einer »aberratio mentalis partialis« konzentriert (I, 196, 209f.). Rezeptionsästhetisch lassen sich diese Veränderungen zweifach auswerten: Polemisch im Hinblick auf die Tragödientradition, insofern die einfachsten menschlichen Verrichtungen Gegenstand dramatischer Dialoge werden; demokratisch im Hinblick auf Verstehbarkeit und den Rezipientenkreis. So ist das ›Niesen‹, anders als ›Cristatellen‹, jedem verständlich und indiziert dem wissenschaftlichen Experten jedoch zugleich zeitgenössische Grundlagenforschung. Die forensische Woyzeck-Debatte um die Zurechnungsfähigkeit und der psychiatrische Widerstreit zwischen Psychikern und Somatikern um die Wechselwirkung von Leib und Seele wird in Büchners ›Woyzeck‹ durch die eingearbeitete physiologische Grundlagenforschung gleichsam geerdet. Die zeitgenössische Nervenlehre verbindet, was in den Clarus-Gutachten noch unverbunden bleibt, Umwelteinfluß, Ernährungsfrage und Wahnsinn, oder was auch die Somatiker noch nicht begrifflich genau fassen können, physische und ›psychische Reflexe‹.265 Für das literarische Werk Büchners von besonderem Interesse sind die Studien von Charles Bell über die Nerven, durch die Ausscheidung, Atmung, Gestik, Mimik und Sprache zusammengefügt sind, so daß alle Austauschprozesse eines Individuums mit seiner Umwelt, von den körperlichen Verrichtungen über den gestisch-mimischen Ausdruck bis zur Wortsprache, systemisch aufeinander bezogen sind und so tatsächlich ein ganzheitliches Ausdrucksgeschehen in den Blick gerät. Büchners Dissertation über das Nervensystem der Flußbarben erscheint in diesem Kontext auch als Grundlagenforschung für seine literarischen Texte. Im ›Woyzeck‹ wird dieses Kaleidoskop der Austauschprozesse und Ausdrucksmöglichkeiten ebenso wie deren Beschränkungen in Haupt- und Nebentext, in Redegehalt und gestisch-mimischer Regieanweisung durchgespielt. Die zeitgenössische naturwissenschaftliche und psychiatrische Forschung wird insbesondere durch die Figurengruppe Barbier,

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Die Nerven in ihrer medialen Funktion ermittelt auch Daniel Müller Niebala ausgehend von Büchners Probevorlesung, allerdings ohne Berücksichtigung der zeitgenössischen Nervenlehre, vgl. Die Nerven lesen.

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Professor und Doktor ins dramatische Präsens geholt. Dabei entzieht sich das Forschungsprofil von Büchners Doktor einer eindeutigen Verortung in den oppositionellen Lagern der Zeit, sei es der Naturphilosophie und des Empirismus oder in der auch am Fall Woyzeck ausgetragenen Debatte zwischen Psychikern und Somatikern. Seine neue an Woyzeck erprobte Theorie über den Zusammenhang von Ernährung und Geisteskrankheiten argumentiert offensichtlich somato-psychisch, ebenso gehören die mit dem prognostizierten Hirnschlag des Hauptmanns angesprochenen Versuche in diesen Rahmen. Auch die weitere, nicht in dieser Figur exemplifizierte physiologische Forschung zur Wirkung von Narkotika auf das Bewußtsein – auf die Funktion des Alkoholismus im Drama wird noch einzugehen sein – ist der somatisch orientierten Psychiatrie zuzuordnen. Mit den vier Momenten: partieller Wahnsinn bzw. wie der zeitgenössische Fachbegriff lautet Manie ohne Delirium, Schlaganfälle, Alkoholismus und Willensfreiheit, rekonstruiert das Drama einen psychiatrischforensischen Diskurs, indem die dynamische, äußere Verursachung von Krankheiten, die organische Ätiologie und die psychischen Folgen sowie Fragen der Zurechnung miteinander verbunden sind. Wobei mit der Manie ohne Delirium eine zustandsbedingte, zeitlich begrenzte Einschränkung der Willensfreiheit gemeint ist, die in puncto Zurechnungsfähigkeit dem durch Alkohol hervorgerufenen Bewußtseinszustand vergleichbar ist und ebenso von außen und / oder organisch verursacht sein kann. Als Paradebeispiel für die körperliche Ursache des Wahnsinns gilt dann wiederum der Schlaganfall, so daß in der literarischen Inszenierung dieser wissenschaftlichen Verknüpfung Woyzecks diagnostizierter partieller Wahnsinn in der prognostizierten halbseitigen Gehirnlähmung des Hauptmanns sein Pendant findet. Wilhelm Griesingers These ›Jede Geisteskrankheit ist Gehirnkrankheit‹, mit der der somatische Siegeszug in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeläutet wird, bereitet sich so im vergleichenden wissenschaftlichen und literarischen Ansatz vor. Mit dem Protokoll der physischen Folgen eines psychischen Schocks bei Woyzeck, derjenigen eines psychischen Reizes bei sich selbst und dem dem Hauptmann beigebrachten ›tödlichen Schrecken‹ bekundet Büchners Doktors allerdings ein ebenso großes Interesse an psycho-somatischer Theoriebildung und reiht sich damit in die Tradition der psychischen Verursachung auch organischer Leiden ein, die ins 18. Jahrhundert zurückreicht und sich in den 20er, 30er Jahren im Forschungsprofil der Psychiker in besonderer moralischer Schärfe sedimentiert. Sein Plädoyer für die Willensfreiheit und sein Moralisieren gegenüber Woyzeck wie auch sein historischer Vorläufer, der Professor, sind Referenzen an die Psychiker. Anders als der bisherigen Büchnerforschung gilt die widersprüchliche Zeichnung des Doktors dieser Studie allerdings nicht als Indiz einer wissenschaftlichen oder intellektuellen Schwäche dieser Figur, sondern sie wurde als Beispiel einer umfassenderen literarischen Technik der Geschichtsschreibung in ›Woyzeck‹ vorgestellt. An der Figur des Doktors zeigt sich in besonderer Prägnanz die 261

genetische Darstellung des Dramas, indem die in ihm zusammengefügte Merkmalskomplexion sich in vielfältige Entwicklungsgeschichten entwirren läßt: von den Psychikern zu den Somatikern, von der Naturphilosophie zur empirischen Wissenschaft, von der Begriffsspekulation zur klinischen Beobachtung, vom Tier- zum Menschenversuch. Büchners Doktor kann in Anlehnung an Goethes Proteus als Allegorie der wissenschaftlichen Revolution des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Die Schnellebigkeit dieses historischen Prozesses übersetzt sich im Drama in das Stakkato der Merkmalsabfolge; der sekundenschnelle Gestaltwandel dieser Figur in 2,6 und 3,8 vollzieht sich in Rede, Gebärde, Sprachstil, seinen Forschungsprojekten und der Physiognomie. Das Aggressionspotential solchen Fortschritts wird sprachvirtuos bis in den Nebentext hinein gleichsam in Reim und Akkumulation gezeigt: »tritt auf ihn los«, »schießt ihm nach« (I, 196, 199). Und es ist der Hauptmann, der, neben dem Selbstkommentar des Doktors »ich sprenge sie in die Luft« (I, 209), die Explosivkraft der in dieser Figur vereinigten Merkmale ins metaphorische Bild von Blitz und Donner bringt (I, 199). Es ist ein Donnerhall und es sind Täter-Opfer wie Woyzeck, die sich im Gefolge der naturwissenschaftlichen Revolution des frühen 19. Jahrhunderts befinden. Büchners Drama läßt die Geschichte, die Rahmenbedingungen, den Sprachcode, das Menschenbild, die Wissensformationen und Versuchsanordnungen dieser Revolution in seltener Klarheit vors Auge des Betrachters treten. IV.3.1.4. Die Genese von Krankheitsbildern Im vergleichenden anthropologischen und psychiatrischen Blick von Georg Büchners Dramenfragment ›Woyzeck‹ werden einfache Täter-Opfer-Konstellationen zugunsten von komplexen Reihenbildungen aufgegeben – das Opfer des einen wird zum Täter am anderen –, die Fragen der Zurechnung und Verantwortung immer weiter aufschieben. Das hier zu betrachtende pathologische Feld legt davon Zeugnis ab und sinnbildhaft führt dies die Zwillingsgeburt von Woyzeck und Doktor und mithin von Opfer und Täter, Patient und Arzt aus der Figur des Barbiers vor Augen. Wenden wir uns nun der zweiten Figurengruppe dieses Feldes zu, den Kranken, in deren Umfeld Woyzeck gehört und die im Vergleich seinen leibseelischen Zustand spiegeln und dadurch konturieren. Die Unvernunft tritt im Drama mit dem Narren, dem Hauptmann, den Handwerksburschen, dem Tambourmajor und Woyzeck in historisch-sozialer Differenzierung auf sowie in verschiedenen Krankheitsbildern und -stadien. Für die genetische Darstellung dieser Figurengruppe kommt dem Narren eine ähnliche Funktion zu wie dem Barbier in bezug auf die vorangehende. Durch den Narren erhält die Dramatisierung des Wahnsinns ihre historische Tiefendimension. Der Narr repräsentiert sowohl einen kulturgeschichtlichen und literarischen (Arche-)Typus als auch ein zeitgenössisches Krankheitsbild. Auf Shakespeares ›weise Narren‹ und E. T. A. Hoffmanns Peter Schönfeld als 262

literarische Referenzen wurde bereits aufmerksam gemacht. An die kulturgeschichtliche Tradition des Hofnarren oder karnevalesker Formen der Narrheit ist gleichfalls zu erinnern,266 sie ruft im Drama Woyzecks Ausspruch »NarreWelt! Schön Welt!« (I, 193) angesichts der Jahrmarktsbuden wach. Die alte herrschafts- und gesellschaftskritische Funktion des Hofnarren oder jene handlungskommentierende Shakespearscher Narren nimmt auch Büchners Figur wahr. Seine Reden machen zwar im inneren Kommunikationssystem des Dramas keinen Sinn, in der Wendung an das Publikum deuten seine Märchenzitate und Kinderreime jedoch das Bühnengeschehen. So antizipiert er im Anklang an die Rede des Mondes im Grimmschen Märchen ›Die sieben Raben‹ mit »Ich riech, ich riech Blut«267 in der ersten Wirtshaus-Szene die spätere Mordtat. Wobei die hier reklamierte besondere Sensitivität des Narren wiederum auf die zeitgenössische Psychiatrie rekurriert, derzufolge eine erhöhte Reizbarkeit bzw. »Reizbedürfniss des Geruchsorganes« als Kennzeichen »der Wahnsinnigen« angesehen wurde, in »Folge des gereizten Gehirnzustandes«.268 Die zeitgenössische psychiatrische Nomenklatur bestimmt die Narrheit neben partiellem Wahnsinn, Tobsucht und Blödsinn als vierten Typus der Geisteskrankheit, die eine dauerhafte »allgemeine Verkehrtheit und Schwäche der Seelenkräfte«269 repräsentiert. Damit verkörpert der Narr in der pathologischen Skala von Büchners Drama ein Extrem, von dem die zeitlich begrenzten, von außen bedingten dynamischen Zustände der Handwerksburschen und des Tambourmajors, des Hauptmanns und Woyzecks abweichen und zu dem sie vergleichend in Beziehung gesetzt werden können. In den Woyzeck-Gutachten taucht der Begriff mehrfach auf. Der historische Woyzeck beschreibt seine zunehmende geistige Erkrankung mit den Worten, »es sei ihm gewesen, als ob ihn alle für den Narren halten wollten.«270 Marc faßt die Quintessenz seiner Stellungnahme zum Fall in die Worte: »W. hat wie ein Narr gelebt, und ist wie ein Narr gestorben«, und Heinroth greift diese Wendung wiederholt auf, in der Absicht, den psychiatrischen Dilettantismus seines Vorredners bloß zu stellen.271 Büchners Drama bezieht sich auf diese Zuschreibungen insofern, als Woyzeck in den verschie266

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Zur Ikonographie des Narren in der Frühen Neuzeit, zu Narrenschiff, Narren- und Possenspiel sowie Narrenfest und -tanz siehe M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, S. 25–42. Zum Aussterben des Hofnarren im 18. Jahrhundert und seiner ›Verklammerungsfunktion‹ für moderne Außenseiterexistenzen siehe W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, S. 90–96. I, 179, vgl. 187, 216, 219 sowie 771, 779f. (Kommentar); Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 61f., 77, 84f. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 742. J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 396, vgl. 305–439. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 97. C. M. Marc, War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? S. 76. Vgl. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 46, 69.

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denen Handschriften verschiedentlich von seiner Umwelt als Narr bezeichnet wird (vgl. I, 179f., 192, 212). Der Narr ist allerdings nicht nur ein pathologisches Äquivalent zu Woyzeck, sondern er vertritt diesen auch in seiner Vaterfunktion (vgl. H 3,16). In einem als mögliche Schlußszene konzipierten Dialog entscheidet sich das Kind gegen Woyzeck, es »wehrt sich« gegen seinen Vater, wie es im Nebentext heißt, und für den Narren. Im Schlußbild »läuft« dieser »mit d. Kind weg.« (I, 219) Der Narr ist also ebenso als konkurrierendes Doppel zu Woyzeck angelegt. Auf die vergleichende Perspektive und die implizite Stufenfolge dieses Szenentitels ›D. Idiot. D. Kind. Woyzeck‹ wurde schon aufmerksam gemacht. Weist die Figur des Narren historisch auf die Frühe Neuzeit, die Renaissance zurück, so verkörpert der Hauptmann in Büchners Drama zwar ein sehr viel jüngeres, in den 1830er Jahren jedoch ebenfalls überholtes Krankheitsbild, nämlich den Melancholiker und Schwärmer des 18. Jahrhunderts. Bei Büchner profiliert sich Woyzeck als moderner Irrer gerade in Abgrenzung zum Narren und zum Hauptmann. Über den pathologischen Diskurs wird im Drama eine Verwandtschaft zwischen dem Hauptmann und Woyzeck hergestellt, was bislang in der Forschung zugunsten der militärischen Hierarchie zwischen diesen beiden Figuren und damit auch der Zuordnung des Vorgesetzten zur ›Tätergruppe‹272 vernachlässigt wurde. Im Hinblick auf Woyzecks partiellen Wahnsinn und das mit diesem diskursiv gekoppelte und am Hauptmann exemplifizierte Phänomen von Schlaganfällen wurde dies im vorangehenden Kapitel bereits aufgezeigt. Diese Verwandtschaft läßt sich im weiteren sowohl anhand der Entwurfsstufen wie auch im Hinblick auf die genetische Darstellung eines Krankheitsbildes veranschaulichen. Blickt man noch einmal auf die Szene 1,10 zurück, so wird ersichtlich, daß der Barbier in seiner beruflichen Tätigkeit nicht nur Vorläufer des Doktors und mit seiner Berufskrankheit Woyzecks Vorgänger ist, sondern daß seine rührselige Gemüts- und Tonlage – »Freunde, ich bin gerührt«, »Gerührt«, »Er weint« – sowie einige seiner moralisierenden Redeanteile auf den Hauptmann übergehen. Der Barbier räsoniert in 1,10: »Und ein ordentlicher Mensch hat sein Leben lieb, und ein Mensch, der sein Leben lieb hat, hat kein Courage, ein tugendhafter Mensch hat keine Courage! Wer Courage hat ist ei Hundsfott« (I, 181f.). Dies findet sein Echo in 2,7 in der Tonlage des Hauptmanns gegenüber dem Doktor: »ein guter Mensch geht nicht so schnell«, und Woyzeck: »weil er ein guter Mensch ist«, um schließlich in die nahezu exakte Wiederholung zu münden: »ein guter Mensch hat keine courage nicht! ein Hundsfott hat courage!« (I, 197–200) In der dritten Handschrift sind Gemütslage und Redeanteile des Barbiers dann in die Rasierszene 272

So spricht u.a. Knapp von Tambourmajor, Doktor und Hauptmann als »Repräsentanten der Unterdrückungsverhältnisse«, Georg Büchner, S. 191. Auf die Ähnlichkeit zwischen Hauptmann und Woyzeck im Hinblick auf das Krankheitsbild haben zuvor schon aufmerksam gemacht: W. Martens, Zur Karikatur in der Dichtung Büchners; H. Wetzel, Die Entwicklung Woyzecks in Büchners Entwürfen, S. 385.

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eingewandert, die in ihrer Figurenkonstellation und szenischen Gestaltung wieder stärker auf 1,10 verweist. Nur daß jetzt anstatt »Barbier, Unterofficier« (I, 181) über der Szene »Der Hauptmann. Woyzeck« und »Hauptmann auf einem Stuhl. Woyzeck rasirt ihn« steht, und nicht mehr der Barbier, sondern der Hauptmann »Gerührt« gegenüber Woyzeck eine wahre Salve an tautologischen, widersinnigen Moralismen von sich gibt: »Ein guter Mensch thut das nicht«, »Woyzeck, er ist ein guter Mensch«, »aber mit Würde Woyzeck, er hat keine Moral!«, »Woyzeck er hat keine Tugend«, »Du bist ein guter Mensch« (I, 205ff.). In Anbetracht der Textgenese haben Woyzeck und der Hauptmann also eine gemeinsame Geschichte, insofern sie beide in wichtigen Zügen durch ihren Vorläufer, den Barbier, gezeichnet sind. Die hier skizzierte Umarbeitung der Szene 1,10 in den weiteren Handschriften wirft noch einmal ein deutliches Licht auf die zuvor geäußerte Bemerkung, Büchners Dramenfragment arbeite nicht mit der Einheit der Person. Redeanteile, Gemütslagen, Physiognomien und Bewegungen entwickeln im Text ein Eigenleben, wandern von Figur zu Figur, von Szene zu Szene; manchmal führt dies sogar zur szenischen Verkehrung der Ausgangslage. In 1,10 sind die Verhältnisse im Hinblick auf Beruf, die auszuführende Tätigkeit und die Redeanteile vergleichsweise normal: der Rasierte spricht wenig und die Geschwätzigkeit des Barbiers kann beinahe als eine weitere deformation professionelle gelten. In 3,5 hat sich die Situation soweit verändert, daß die Regieanweisung »Hauptmann auf einem Stuhl. Woyzeck rasirt ihn« auch für den Lesetext fast notwendig erscheint, um auf das Mißverhältnis von situationsgerechtem Verhalten und Sprachverhalten des Hauptmanns aufmerksam zu machen. Denn die Geschwätzigkeit ist jetzt auf den Rasierten übergegangen, was in seiner Lage – Woyzecks Rasiermesser an seiner Kehle – dazu führt, daß er sich entweder selbst gefährdet oder Woyzecks Arbeit verhindert. Neben der gemeinsamen Textgenese werden Woyzeck und der Hauptmann jedoch auch durch die Geschichte ihrer Krankheitsbilder miteinander verbunden. Im Hinblick auf den Hauptmann fallen in der dritten Handschrift die entscheidenden Stichworte: »ich werd’ melancholisch«, »Herr Doctor, ich bin so schwermüthig ich habe so was schwärmerisches« (I, 206, 211). Er stilisiert sich hier als Melancholiker und Schwärmer und posiert damit in einem überholten Krankheitsbild des 18. Jahrhunderts. Mehrere Facetten der Melancholie wurden in dieser Studie bereits verhandelt: Der religiöse Melancholiker und Schwärmer ist uns im Kontext von Karl Philipp Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ begegnet und wird in seiner pietistischen Prägung insbesondere in Büchners ›Lenz‹ noch einmal aufgenommen.273 Die Melancholie im

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Vgl. C. Seling-Dietz, Büchners Lenz als Rekonstruktion eines Falls ›religiöser Melancholie‹. Zur Wahrnehmung von Jakob Michael Reinhold Lenzens literarischer ›Herzenssprache‹ im Kontext des Pietismus siehe S. Komfort-Hein, Literarische Reflexionen einer Sprache des Herzens.

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Zusammenhang mit Liebesdingen war Gegenstand in Novalis’ und Goethes Werk. In Anbetracht des Hauptmanns ist allerdings auch an Kants Auffassung der Melancholie zu erinnern, die deren Nähe zur Hypochondrie, also zur eingebildeten Krankheit demonstriert: »Die Tiefssinnigkeit (melancholia) kann sich auch ein bloßer Wahn von Elend sein, den sich der Trübsinnige (zum Grämen geneigte) Selbstquäler schafft.« Und mit Bedacht trennt Kant hier den Tiefsinnigen vom »tiefdenkenden«274 Menschen. Eine Unterscheidung, die der Hauptmann insbesondere in der Rasierszene unterläuft. Mit dem Hauptmann und Woyzeck stehen sich in Büchners Drama also auch der Wahn von Elend und das reale Elend, ein antiquierter Hypochonder und ein moderner Irrer gegenüber.275 Und im weiteren dürfte für die Selbststilisierung des Hauptmanns insbesondere der alte, seit Dürers ›Melencolia I‹ (1514) geläufige Topos der Melancholie als Gelehrtenkrankheit relevant sein, ikonographisch u.a. durch das Motiv des aufgestützten Kopfes und das Stundenglas festgehalten.276 Denn eine solche Denkerpose versucht der Hauptmann im übertragenen Sinn in der Rasierszene gegenüber Woyzeck einzunehmen, und es ist wohl kein Zufall, daß er hier über die Vergänglichkeit räsoniert, ja recht eigentlich die Zeitwahrnehmung zur zentralen Ursache und Symptomatik seiner Krankheit wird. Bleibt man bei Dürers Kupferstich und den dort gezeigten Zeichen der Melancholie, so können auch die durch Schlüssel und Beutel dargestellten traditionellen Charaktereigenschaften Gewalt und Reichtum mit der Figur des Hauptmanns in Verbindung gebracht werden. Und noch die Konversationsfloskel des Hauptmanns, das Wetter, läßt sich in die Melancholietradition einordnen, wird diese Krankheit im 18. Jahrhundert doch auch als englische Krankheit bezeichnet und mit den besonderen klimatischen Bedingungen auf der Insel in Zusammenhang gebracht.277 Seine »[p]fiffige« Demütigung Woyzecks im Hinblick auf den »schlimm; Wind«: »Ich spür’s schon, s’ist so was Geschwindes draußen; […] so was aus Süd-Nord« (I, 206), greift medizinhistorisch sogar weiter zurück und erinnert an die besondere Bedeutung der Winde für Melancholie oder Epilepsie in der antiken Heilkunst.278 274 275

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I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, BA 142. Günter Oesterle hat bezogen auf den Hauptmann vom literarisch durch Sterne und den Sturm und Drang geprägten »Typ des ›sentimentalen Melancholikers‹« gesprochen und faßt die Konstellation Woyzeck-Hauptmann folgendermaßen: »Der Hauptmann ist eine komische, klassenspezifisch differierende Variante des tragischen Woyzeck.« Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 219, 224, vgl. 223f. Zu Dürers Kupferstich und den Emblemen der Melancholie ist immer noch maßgeblich R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 406–522. Vgl. I, 206, 198f. Zur Bezeichnung der Melancholie als englischer Krankheit siehe G. Cheyne, The English Malady (1733). Auf das Wetter bezieht sich auch der Melancholiker Leonce, vgl. I, 135f., und L. Völker, Die Sprache der Melancholie in Büchners ›Leonce und Lena‹, S. 125; R. Majut, Studien um Büchner, S. 29ff. Siehe u.a. das Kapitel ›Die Konstellation der Jahreszeiten und ihre Wirkung auf die Gesundheit‹ aus ›Die Umwelt‹: »Wenn aber der Sommer im Zeichen des Nordwinds steht […] ist diese

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Über die Figur des Hauptmanns wird in Büchners Drama mit der Melancholie die Genese von Krankheitsbildern und ihrer wissenschaftlichen Erfassung indiziert, wobei sich eine Spannung zwischen der veralteten, ins Laienbewußtsein herabgesunkenen Begrifflichkeit des Hauptmanns: melancholisch, schwermütig und schwärmerisch, und der modernen Diagnostik des Doktors: »schönste aberratio mentalis partialis, zweite Species« (I, 210), aufbaut. Im vergleichenden Blick auf den Hauptmann und Woyzeck lassen sich auch an letzterem rudimentäre Züge der Melancholie entdecken. Werden beim Vorgesetzten die Merkmale der Gelehrtenkrankheit und der Hypochondrie satirisch aufgenommen, so wird im Falle Woyzecks die religiöse Melancholie und jene aus Liebe tragisch fortgeschrieben. Dem Protagonisten legt sich im Drama das eigene Elend im religiösen Wahn aus und der Liebesverlust wird zum auslösenden Moment seines völligen Zusammenbruchs. Als Relikt vergangener Zeiten inszeniert sich der Hauptmann insbesondere gegenüber den Vertretern der schnellebigen Moderne, Woyzeck und dem Doktor. Beiden gegenüber klagt er stets imperativisch die Langsamkeit einer anderen Epoche ein. Woyzeck muß sich anhören: »Langsam, Woyzeck, langsam; ein’s nach d. andern; er macht mir ganz schwindlich. [...] Woyzeck er sieht immer so verhetzt aus. Ein guter Mensch thut das nicht«. Die Szene 2,7 wird mit folgendem Kontrapunkt eröffnet: »HAUPTMANN Wohin so eilig geehrtester Herr Sargnagel? DOCTOR Wohin so langsam geehrtester Her Exercirzagel.« Und gegenüber dem Doktor ist im weiteren zu vernehmen: »Rennen Sie nicht so. [...] Sie hetzen sich ja hinter d. Tod drein. Ein guter Mensch, der sein gutes Gewissen hat, geht nicht so schnell.« (I, 205f., 197, 210) In den gleich lautenden, moralischen Verurteilungen beider verkennt der Hauptmann die vollkommen unterschiedlichen Ursachen der jeweiligen Zeitknappheit. Während Woyzeck aufgrund der materiellen Notlage seiner selbst und seiner Familie chronisch überarbeitet ist und im Stück von einer schlecht bezahlten Tätigkeit zur nächsten hetzt,279 verkörpert der Doktor bis in seine Bewegungen hinein den Fortschrittsgeist der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert. Er hetzt von einem Forschungsprojekt und einer Beobachtungsmöglichkeit zur nächsten, da ihm, wie bereits anschaulich wurde, potentiell jede Alltagssituation Anlaß zur ›klinischen‹ Beobachtung geben kann. Mit seinem moralischen Urteil hat der Hauptmann also in einem gewissen Sinn Recht und mit der Wendung ›Sie hetzen sich ja hinter d. Tod drein‹ bringt er die zuvor bereits ausgestellte Todesverfallenheit des modernen Wis-

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Entwicklung besonders ungünstig [für die galligen Konstitutionen]. Denn sie trocknen aus, und es befallen sie trockene Augenkrankheiten und hitzige, langwierige Fieber, manche auch Melancholie«; und das Kapitel ›Bedeutung von Nord- und Südwind für das Auftreten der Anfälle‹ aus ›Die heilige Krankheit‹ in: Hippokrates, Ausgewählte Schriften, S. 143f., 179f. Zum kaum die Lebensbedürfnisse eines einzelnen abdeckenden niedrigen Soldatenlohn siehe: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 193–196.

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senschaftstypus auch treffend auf den Punkt, die Argumentation ad personam geht jedoch fehl. Ähnliches läßt sich auch im Hinblick auf Woyzeck sagen. Im Vergleich mit einem ›offenen Rasiermesser‹ umfaßt der Hauptmann Woyzecks Existenz und deren im Drama ausgetragene Täter-Opfer-Dialektik: »Er läuft ja wie ein offnes Rasirmesser durch die Welt, man schneidt sich an ihm, er läuft als hätt er ein Regiment Kosack zu rasirn und würde gehenkt über dem letzten Haar nach einer Viertelstunde« (I, 198). Ein gefährliches Individuum ist Woyzeck nur insofern, als er Instrument, ›Rasiermesser‹, nicht Täter hinter der Tat ist. Die Verletzung anderer passiert gleichsam unabsichtlich (›man schneidt sich an ihm‹) und resultiert aus der eigenen Notlage einer Existenz, die unter ständiger Todesdrohung steht. Dieser Bildlichkeit steht die vom Hauptmann auch gegenüber Woyzeck vorgenommene Argumentation ad personam diametral entgegen. Nicht nur in seinem Lob der Langsamkeit, sondern auch in seinem notorischen moralischen Urteil erweist sich der Hauptmann als ein Relikt. Neben dem Melancholiker verkörpert er ebenso den Moralisten des 18. Jahrhunderts.280 Die Unangemessenheit seines Urteils resultiert zum einen aus der übermäßigen Anwendung – jede Alltagshandlung wird moralisch qualifiziert, was sprachlich zur formelhaften Entleerung der Aussagen führt –, zum anderen aus der historischen Situation. Adressieren die Moralvorstellungen des 18. Jahrhunderts das handlungsfähige, zurechnungsfähige Subjekt,281 so verzeichnet Büchners Drama zeitdiagnostisch für das 19. Jahrhundert gerade dessen Verschwinden. Das Überhandnehmen von aus Gründen der leibseelischen Verfassung, des Alters oder des Geschlechts, juristisch oder anderweitig nicht voll zurechnungsfähiger Personen zeichnet sich am dramatis personae ab: Mit Woyzeck, Marie, dem Hauptmann, Andres, der Großmutter, weiteren Frauen und Kindern,282 den alkoholisierten Handwerksburschen und dem Tambourmajor sind sie deutlich in der Überzahl. Und jene Figuren im Drama, die durch Eigennamen hinreichend individualisiert sind, daß ihnen persönlich Handlungen zugeordnet werden könnten, Franz Woyzeck und Marie Zickwolf, erscheinen als Schnittpunkt vielfacher Abhängigkeiten, die sie eher als subjectum im 280

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Oesterle formuliert im Rekurs auf Wolfgang Lepenies und Harald Weinrich diesbezüglich: »Um die Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt wissenschaftsgeschichtlich die Ablösung des ›Prinzips der Moralisierung‹ durch das ›Prinzip der Verzeitlichung‹. Der Hauptmann versucht diese Wende lebensgeschichtlich noch einmal aufzuhalten«, Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 221. »Tat heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Akt als Urheber der Wirkung betrachtet, und diese zusamt der Handlung selbst können ihm zugerechnet werden […]. Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind«, I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, AB 22. An Kants Bemerkungen hat sich zu Büchners Zeit nichts geändert: »Kinder sind natürlicherweise unmündig […]. Das Weib in jedem Alter wird für bürgerlich-unmündig erklärt; der Ehemann ist ihr natürlicher Kurator.« I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, B 135.

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Sinne des Unterworfenseins, denn als Subjekte im Sinne von handlungsmächtigen Akteuren erscheinen lassen. So spricht der Doktor vom »Subjekt Woyzeck« (I, 210), nachdem er zuvor dessen Einhaltung medizinischer und militärischer Disziplin abgefragt hatte. Durch das Verschwinden des autonomen Subjekts entsteht ein moralisches Vakuum, daß u.a. durch die Leerformeln des Hauptmanns in ›Woyzeck‹ – ›Er ist ein guter Mensch‹ etc. – konturiert wird. Es verweist auf eine Moralität, die die neuen gesellschaftlichen Agenten der Moderne, Ordnungsmächte, Institutionen, Disziplinen und Wissensstrukturen, einrechnen und zur Verantwortung ziehen könnte. Stilistisch setzt Büchner diesen Sachverhalt in der typisierten Figurenzeichnung und Namengebung dieser anonymen Agenten um: Hauptmann, Doktor, Professor, Gerichtsdiener. Der pathologische Diskurs in ›Woyzeck‹ hat auch darin seine Funktion, auf dieses moralische Dilemma aufmerksam zu machen. Kehren wir zur Gegenüberstellung von Hauptmann und Woyzeck und deren psychiatriegeschichtlicher Relevanz zurück, so wäre als nächstes das herauszustellen, was beider Pathographien gemeinsam ist: ihre fixen Ideen. Während die Woyzeck-Figur angelehnt an den historischen Prätext eine Vielzahl fixer Ideen aufweist: die Freimaurer-Visionen, das göttliche Strafgericht, das Stimmenhören, der Mordbefehl, beschränken sich jene des Hauptmanns auf den Vorstellungskomplex von Stillstand und Bewegung. Im Gespräch mit dem Doktor in Szene 3,9 sind es die Bewegung von Pferden, das »zu Fuß gehn müssen«, das »Rennen«, »Rudern« und die Hetze des Arztes, die ihm »Angst« (I, 210) machen. In der Rasierszene hatte der Hauptmann diese fixen Ideen bereits vorformuliert und an Woyzecks Person – »Langsam, Woyzeck, langsam«, »er sieht immer so verhetzt aus« – festgemacht. Durch Zeitvorstellungen erhalten seine gedanklichen Fixierungen hier einen metaphysischen und zeitdiagnostischen Überbau: »360 Monate, und Tage, Stunden, Minuten!«, »der ungeheuren Zeit«, »Ewigkeit«, »Augenblick«, »Beschäftigung«, »Zeitverschwendung«. Mit seinem Leiden an der Zeit nimmt der Hauptmann die klassische Melancholikerpose ein, gehören doch seit alters her mit Kronos-Saturn und runden Zeitsymbolen wie Lebensrad, Zeitrad, Globus, Kugel, Mühl- und Spinnrad Zeit-Allegorien, das Betrauern der Vergänglichkeit, aber auch die untätige Zeitverschwendung der acedia zur Topik dieser Krankheit.283 »Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werd’ melancholisch.« (I, 205f.) Worauf der Hauptmann in Büchners Dramenfragment psychosomatisch reagiert, das ist die Bewegung des neuen, durch Woyzeck und den Doktor verkörperten Zeitalters. Oder wie Günter Oesterle es ausgedrückt hat: »Den Hauptmann schauderts, angesichts der Kopernikanischen Wende.«284 In der Gestalt von Woyzeck tritt ihm in

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Vgl. R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 250, 268f., 290, 309, 313ff., 425, 465f., 473, T. 1, 59, 76, 80, 95, 100f., 112, 115, 120f., 123, 133f., 137–141, 148f., 152f. G. Oesterle, Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 219. Oesterle identifiziert

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seinen ersten Anfängen das von Nahrungslosigkeit und Überarbeitung gezeichnete ›verhetzte‹ 19. Jahrhundert der Industrialisierung und Massenverelendung entgegen: »er macht mir ganz schwindlich« (I, 205). Und im Doktor begegnet ihm der Fortschrittsgeist des naturwissenschaftlichen Zeitalters und die sprichwörtlichen Leichen, über die es geht: »Sie hetzen sich ja hinter d. Tod drein« (I, 210). Beide Formen der Schnellebigkeit haben dieselben Auswirkungen auf diesen veralteten Menschentypus, dessen gefühlte Erkrankung einem vergangenen Zeitalter angehört: »ich werd’ melancholisch« (I, 206). Das wird auch in der Szene 3,9 ganz deutlich, wenn der Doktor auf das ihm präsentierte unzeitgemäße psychische Krankheitsbild gar nicht reagiert, sondern allein die somatische »apoplectische Constitution« des Hauptmanns, »aufgedunsen, fett, dicker Hals« (I, 211), wahrnimmt und deren letale Folgen diskutiert. Vor dem Auge des Zuschauers entsteht so auf der Ebene des äußeren Kommunikationssystems im Zusammenspiel aus seelischer Selbstbeschreibung des Patienten und körperlicher Fremdbeschreibung des Arztes ein psychosomatischer Typus, dessen geistige Fixierung auf Stillstand und Restauration vermittelt durch eine behäbige Lebensweise sich mit einer entsprechend dickleibigen krankheitsanfälligen Konstitution paart. In dieser Zeichnung erinnert die Figur an moralistisch-satirische Lasterbilder der acedia, der zum Charaktertypus der Melancholie gehörenden lasterhaften Trägheit, in der Frühen Neuzeit.285 Der Hauptmann ist mehrfaches Sinnbild einer Zeitkrankheit. Seiner eigenen Wahrnehmung nach leidet er an der Vergänglichkeit und nimmt als Melancholiker dabei die Pose einer Modekrankheit des 18. Jahrhunderts ein. In der Dramengegenwart erscheint er hingegen als pathologische Verkörperung der Restauration. In dieser Funktion ist er Analogon und Antipode zu Woyzeck, der die psychosomatischen Folgen der Modernisierungsprozesse zu tragen hat. Zu den Zügen der Woyzeck-Figur, die auf die Melancholie des 18. Jahrhunderts zurückverweisen, gehören jene der religiösen Melancholie. Diese waren schon in der forensischen Woyzeck-Debatte thematisch. Denn Clarus und Heinroth hatten ihre moralische Verurteilung des Delinquenten an dessen Kälte gegenüber Religionsdingen festgemacht. Darüber hinaus erscheinen die Reden des historischen Woyzecks über apokalyptische Visionen und Geistererscheinungen als göttlichen Offenbarungen als geradezu klassischer Fall von ›falschen Religionsbegriffen‹, um die sich der Aufklärungsdiskurs um religiöse Melancholie drehte (Kap. II.2); und Clarus behandelt diese dann auch in einem dementsprechenden aufklärerischen Duktus, indem er sie »natürlich«, als eine Verwechselung reeller äußerer und innerer Ursachen mit Übersinnlichem erklärt.

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diese Zeitvorstellungen als philosophiegeschichtliche Rudimente, die von Descartes über Spinoza und Jacobi bis zu Hegel reichen, vgl. S. 219–221. Zu den Zeit-Modellen im ›Woyzeck‹ siehe auch H.-D. Kittsteiner und H. Lethen, Ich-Losigkeit, Entbürgerlichung und Zeiterfahrung, Siehe R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 427ff.

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Woyzecks »abergläubische Einbildungen« erfahren so etwa eine wissenschaftliche Rückführung auf den unruhigen Blutumlauf oder seine »Furchtsamkeit«.286 Das Drama konterkariert diese wissenschaftliche Diagnostik, indem es in einzelnen Szenen in einen direkten Dialog mit dem Clarus-Gutachten tritt und zu einer alternativen Repräsentation von Woyzecks Symptomsprache gelangt. Dieser Vorgang soll im folgenden unter dem Motto ästhetische Ermächtigung der Woyzeck-Stimme nachgezeichnet werden. Besonders ausführlich rationalisiert Clarus in dieser Hinsicht Woyzecks Täuschungen des Gehörsinnes, also das Stimmen- und Geräuschehören, das jeweils auf eine innere Ursache, entweder ein durch »Kongestionen des Blutes nach dem Kopfe« bewirktes Ohrensausen oder nicht mehr bewußte Selbstgespräche und die Stimme des Gewissens zurückgeführt wird. Bei jeder einzelnen der von Woyzeck geschilderten Halluzinationen weist Clarus so minutiös nach, daß Woyzeck »das Subjektive mit etwas Objektivem verwechselt habe.«287 Diese Passagen sind von besonderem Interesse, da sie in Büchners Drama eine ebenso minutiöse Kommentierung finden. Und zwar indem der Dramentext zum einen sehr genau der in den Clarus-Gutachten überlieferten Symptomsprache folgt – was dort als direkte Rede Woyzecks erscheint, wird hier nahezu gänzlich übernommen –, zum anderen konterkariert er Clarus’ Rationalisierungen ganz deutlich nicht als Verwechselung des Subjektiven mit dem Objektiven, sondern als Verwechselung von Objektivem mit Objektivem. In der Szene ›Freies Feld‹ werden Woyzecks akustische Halluzinationen in biblischer Sprache geschildert: »WOYZECK Es pocht hinter mir, unter mir stampft auf d. Boden hohl, hörst du? […] und ein Getös herunter wie Posaunen«, und zugleich wird deren Zusammenhang mit der realen Außenwelt verdeutlicht, indem Andres den Zapfenstreich erwähnt, der aus der fernen Stadt beide zum Appell zurückruft. Die Krankheit zeigt sich so auch in einer gestörten Realitätswahrnehmung und wird in einem umfassenderen Bezugssystem wahrgenommen. Nicht nur als ein leibseelischer Zusammenhang, der hier mit dem ›es pocht‹ deutlich auch indiziert ist – verweisend auf das Pochen des Blutes und damit auf Clarus’ somatische Erklärung –, oder als ein gedankliches Mißverhältnis, das hier in Woyzecks Rationalisierungsversuchen des namenlosen ›Es‹ mit den Freimaurern und in der apokalyptischen Sprache des Gottesgerichts ebenfalls mitgemeint ist, sondern Krankheit erscheint hier zudem ursächlich, situativ und symptomatisch in ihren Umweltbezügen. Es liegt ein dynamisches Krankheitsverständnis vor, diese ist von außen (mit-)bedingt. Dies läßt sich allerdings nicht in eine einfache Monokausalität überführen derart,

286 287

J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 107, vgl. S. 98f. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 108, 110.

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der militärische Zapfenstreich und Drill verursache hier Woyzecks Verfolgungswahn, aber er steht doch in Zusammenhang mit diesem. Daß die militärische Lebensform Pathologien befördert, zeigt sich im vergleichenden Blick des Dramas insofern, als alle seine Vertreter, Woyzeck, Andres, der Hauptmann und der Tambourmajor im Stück ein als krankhaft qualifizierbares Verhalten an den Tag legen. Beschränkt sich Büchners ›Lenz‹ auf Zustandsschilderung und suspendiert Fragen der Ätiologie, so trifft dies in abzuwandelnder Form auch auf ›Woyzeck‹ zu. Für das Drama ist zwar nicht das Fehlen wissenschaftlich erfaßter Ursache-Wirkungszusammenhänge charakteristisch, sondern ganz im Gegenteil deren überbordende Präsenz, das Resultat ist jedoch ähnlich: die Wahrnehmung eines pathologischen Zustands in seiner ganzen Komplexität. Schildert die Eingangssequenz von ›Lenz‹, wie es einem zumute ist, dem es »manchmal unangenehm« ist, »daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte«, so führt uns ›Woyzeck‹ in das Leben eines Menschen ein, der wörtlich den Boden unter den Füßen verliert, »stampft auf d. Boden hohl, hörst du? Alles hohl da unten« (I, 225, 202). Es handelt sich um einen bio-psycho-sozialen Zustand, in dem das Pochen des Blutes, das Ohrensausen, die Furchtsamkeit, der Verfolgungswahn, der Aberglaube, die Überarbeitung und die militärische Disziplin ineinandergreifen und sich wechselseitig befördern. Die fundamentalsten Formen sinnlicher Wahrnehmung sind gestört. Die literarische Anatomie von Büchners Drama zeigt dies insbesondere in der Szenenfolge 3,1–2 im vergleichenden Blick auf ein Alltagsgeräusch, den Zapfenstreich, und dessen unterschiedliche Wahrnehmung durch drei Hörer: Woyzeck arbeitet das ferne Geräusch aus der Stadt in seine apokalyptischen Visionen ein; Andres registriert die Töne als das, was sie sind, ein militärischer Befehl zum Einfinden in die Kaserne: »ANDRES Hörst du? Sie trommeln drin. Wir müssen fort«; und zeitgleich versetzen die akustischen und visuellen Reize des Zapfenstreichs, das Vorbeiparadieren des Tambourmajors, Marie in der Stadt in erotische Spannung: »MARIE das Kind wippend auf d. Arm: He Bub! Sa ra ra ra! Hörst? Da komme sie.« (I, 202f.) Eine ähnliche Reiz-Reaktionskette findet sich im Drama noch einmal in der Szenenfolge 3,11–13, hier in radikalisierter Form, insofern diese nun direkt auf den Mordbefehl und damit auf die Mordtat zusteuert. Wieder sind es reale Töne, die sich in Woyzecks Bewußtsein festsetzen, verzerrt und umgedeutet werden. Er steht am offenen Fenster des Wirtshauses, beobachtet und belauscht den Tanz Maries mit dem Tambourmajor. Marie verbalisiert die Tanzbewegung und den Rhythmus der Musik im »Immer, zu, immer zu«, das Woyzeck »erstickt« aufnimmt, in eigene Bewegung und Gestik umsetzt und das ihm zur Formel für die Unzucht der Welt wird: »Immer zu – immer zu. Fährt heftig auf und sinkt zurück auf die Bank immer zu immer zu schlägt die Hände ineinander. Dreht Euch, wälzt Euch. Warum blaßt Gott nicht Sonn aus, das Alles in Unzucht sich übernander wälzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh.« In der darauffolgenden Szene ›Freies Feld‹ entwickelt sich aus diesem Transfer von 272

Tanz und Musik in Worte, dann in leibseelische Erregung und schließlich in die Vorstellung vom Gottesgericht der Mordbefehl, der wiederum wie in Szene 3,1 scheinbar aus dem nicht mehr tragfähigen Untergrund tönt: Immer zu! immer zu! Still Musik. – Reckt sich gegen d. Bod(en). He was, was sagt ihr? Lauter, lauter, stich, stich die Zickwolfin todt? stich, stich die Zickwolfi(n) todt. Soll ich? Muß ich? Hör ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hör ich’s immer, immer zu, stich todt, todt.

Und diese sich mit Maries »Immer, zu« langsam in Bewegung setzende, im Stakkato von 3,12 »immer, immer zu« ihren Höhepunkt erreichende Wortkette klingt in 3,13 im Dialog mit Andres wieder ab: »Andres! Andres! ich kann nit schlafe, wenn ich die Aug zumach, dreh’t sich’s immer und ich hör d. Geigen, immer zu, immer zu. Und dann sprichts aus der Wand, hörst du nix?« (I, 213f.). Was Büchner hier beschreibt, ist das allmähliche Entstehen dessen, was in der zeitgenössisch-psychiatrischen Diktion noch ›fixe Idee‹ oder ›fixer Wahn‹ genannt wird. Der Begriff ›fixe Idee‹ wurde in der vorliegenden Studie bereits im Zusammenhang mit der religiösen Melancholie verhandelt, im ausgehenden 18. Jahrhundert ist er jedoch keineswegs auf die Diskussion ›falscher Religionsbegriffe‹ beschränkt, sondern er avanciert zum zentralen Terminus psychologischer und psychiatrischer Diagnostik. Um 1900 wird ihn Janet im Kontext der Hysterie wieder ins Spiel bringen (Kap. V). Bei Reil gehört der »fixe Wahn«, auch »partieller Wahnsinn« oder »Melancholie« genannt, neben Wut, Narrheit und Blödsinn zu den vier »Arten der Verrücktheit«. »Der fixe Wahnsinn besteht in einer partiellen Verkehrtheit des Vorstellungsvermögens, die sich auf einen oder auf eine Reihe homogener Gegenstände bezieht« und die die »Freiheit seines Begehrungsvermögens beschränkt, und dasselbe gezwungen, seiner fixen Idee gemäss, bestimmt.« Reil erörtert dann ausführlich verschiedene Formen fixer Ideen ihrem Inhalt gemäß: »Am meisten pflegen fixe Ideen zu interessiren, die sich auf Religion, Staatsverfassung, Ehre, Habe Liebe, und Liebe für die eigne Gesundheit beziehn.«288 Um 1820 war das Krankheitsbild einer fixen Idee bereits so weit ins medizinische Alltagswissen eingedrungen, daß der historische Woyzeck eine ziemlich genaue Umschreibung dieses Zustands gibt: »Übrigens habe er einen Gedanken, den er einmal gefasst habe, nicht leicht wieder los werden können«.289 Clarus hatte in seinem ersten Gutachten dann auch auf den entsprechenden Fachbegriff, »fixe Idee«,290 Bezug genommen, allerdings in seinen Gesprächen mit Woyzeck für deren Vorkommen keine Indizien gefun288 289 290

J. C. Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, S. 305–308, 311. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 97. »Daher findet sich auch in seinen Erzählungen und Urtheilen nicht die geringste Spur, dass irgend eine unrichtige oder überspannte Vorstellung von den Gegenständen der sinnlichen oder übersinnlichen Welt, oder von den Verhältnissen seiner eigenen physischen und moralischen Persönlichkeit sich seines Verstandes ausschliessend bemeistert, den freyen Gesichtspunkt für

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den. Im zweiten Gutachten wird er bei diesem Eindruck bleiben und Woyzecks Halluzinationen und Visionen als Aberglaube oder einfache Sinnestäuschung abtun. Der Doktor in Büchners Drama ist hingegen hoch erfreut, wenn er bestimmte Äußerungen Woyzecks als »schöne fixe Idee« diagnostizieren kann. Denn offenbar gehören fixe Ideen zu den erhofften Resultaten seines Ernährungsexperiments. Und so müssen vergleichsweise unauffällige Aussagen Woyzecks herhalten, um dessen »neue Theorie« (I, 197) zu bestätigen. In der Szenenfolge 3,11–13 schildert Büchner allerdings einen Prozeß der Fixierung, der diesen Namen auch verdient und darüber hinaus das damalige psychiatrische Krankheitsbild der fixen Idee gründlich dekonstruiert. Denn es handelt sich nun keineswegs mehr nur um eine ›Verkehrtheit des Vorstellungsvermögens‹, sondern um eine fundamentale Verkehrung aller Verhältnisse von Körper, Seele und Gesellschaft. In den Prozeß der Fixierung wird der Körper in Woyzecks Auffahren und Zurücksinken in 3,11 und seinem Schwindel in 3,13 einbezogen; die grundlegenden Koordinaten der sinnlichen Wahrnehmung sind außer Kraft gesetzt, so die räumliche Lokalisierung von Geräuschen in 3,12 und 13; die Unterscheidung von Realität und Imagination funktioniert nicht mehr. Was in diesen Szenen fixiert wird, ist nicht eigentlich eine Idee, sondern eine Wortfolge ›immer zu‹, an die sich wechselnde Vorstellungen: die Eifersucht, die Unzucht, das Gottesgericht, der Mordbefehl anhängen. Das ›Immer zu‹ ist das alltagssprachliche Korrelat für die kreisende Fixierung der Ideen, und seine Genese aus der kreisenden Tanzbewegung Maries macht zugleich deutlich, daß solche Fixierungen Reaktionsweisen auf eine Verkehrung der sozialen Verhältnisse sind. In diesem Fall Maries Hinwendung zum Tambourmajor, die als hinzukommendes Element den in 3,1 schon beschädigten Boden von Woyzecks Existenz so brüchig werden läßt, daß Stimmen, ein Mordbefehl, daraus hervortönen. Das Krankheitsbild der fixen Idee wird in ›Woyzeck‹ auch als ein Prozeß der sprachlichen Fixierung beschrieben, der zunehmend tautologisch wird und in dem die Sprache als Ausdrucks- und Kommunikationsmittel ihren Dienst versagt: »Hör ich’s immer, immer zu, stich todt, todt.« (I, 214) Auf Verständnis kann die Mitteilung solcher leibseelischen Zustände nicht mehr hoffen, wie sich an Andres’ Reaktion in 3,13 zeigt. Im Immerzu der Wahrnehmungsverzerrung, des körperlichen Schwindels, der Vorstellungen und der Sprachbewegung wird Woyzeck in den Kreis seiner Existenz eingeschlossen. Die in Szene 3,12 in krassem Gegensatz zu Handlungsort und Szenentitel ›Freies Feld‹ plastisch werdende Unfreiheit Woyzecks übersteigt die nach Reil für den fixen Wahn charakteristische Beschränkung der ›Freiheit des Begehrungsvermögens‹ bei weitem, insofern mit dem Körper und den Koordinaten sinnlicher Wahrnehmung bereits die Grundlagen dieses Vermögens beschädigt andere Verhältnisse verrückt und die richtige Beurtheilung derselben getrübt habe, oder, mit andern Worten, zur fixen Idee geworden sey.« J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 146.

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sind. Und die Szenenfolge 3,11–13 ist ganz deutlich als Kontrafaktur der wissenschaftlichen Erklärungen des Clarus-Gutachtens gestaltet, das als natürliche Ursachen: Eifersucht, Geisterfurcht, Sinnestäuschung, Neigung zum Selbstgespräch und Blutwallungen nennt. Von gleicher Beschaffenheit ist der Vorfall, wo er, als er im Bette an die Kirmse und an seine dort anwesende Geliebte voller Eifersucht dachte, Violinen und Bässe durcheinander zu hören glaubte und nach dem Rhythmus der gewöhnlichen Tanzmusik ihr die Worte unterlegte: immer drauf, immer drauf. Am deutlichsten erscheint diese Verwechslung des Objektiven mit dem Subjektiven in den bei Untersuchung des Degens, der nachher zum Mordinstrument gedient hat, angeblich gehörten Worten: Stich die Frau Woostin tot, die nach allem Vorhergegangenen nichts anderes gewesen sein können als der lebhaft erwachende Vorsatz zu der nachher vollführten Tat, dem er bei seiner Gewohnheit, mit sich selbst zu sprechen, Worte gegeben und den die Stimme des Gewissens mit den Worten: du tust es nicht beantwortet, der damit kämpfende Vorsatz aber mit den Worten: du tust es doch bestätigt hat.291

Die biographischen Details und die wörtliche Rede des historischen Woyzeck werden in Büchners Verarbeitung des Gutachtens beibehalten und gewinnen ihre kritische Qualität gegenüber ihrem Herkunftsort, indem hier ins dramatische Präsens versetzt wird, was dort in der professionellen Kommentierung als subjektive Täuschung und Aberglaube erscheint. Büchner objektiviert, was Clarus als Verwechselung des Subjektiven mit dem Objektiven entlarven will. Auf der Bühne sehen und hören wir Woyzeck im Zustand der Halluzinationen, und diese Zustände werden in 3,11–13 in der Realität ihrer gestörten Umweltbezüge geschildert. Die Symptomsprache Woyzecks wird so vom wissenschaftlichen Überbau der Gutachtenprosa befreit; dies stellt einen mikrostrukturellen Aspekt in der Ermächtigung der Woyzeck-Stimme in Büchners Drama dar. Bei den Vorstellungen von einem göttlichen Strafgericht, die in beiden hier besprochenen Szenenfolgen Woyzeck kennzeichnen, handelt es sich um ›falsche‹, weil einseitige Religionsbegriffe im Sinne des Aufklärungsdiskurses. Mit der Pathologisierung der Religion, der religiösen Melancholie, waren damals etwa religiöse Strömungen wie der Pietismus im Visier. Die dritte Entwurfsstufe des ›Woyzeck‹ vertieft diese Anklänge mit der neu hinzugekommenen sogenannten Testamentsszene noch deutlich. Die Leidenstheologie ist dort durch das Zitat eines pietistischen Kirchenliedes von Christian Friedrich Richter »Leiden sey all mein Gewinst« präsent, das später als Lied ›Eines Krancken‹ betitelt wurde und auch in ›Lenz‹ genannt wird.292 Insofern sich Woyzecks Wahn in 3,1 und 3,11 in biblische Sprache kleidet und eine potentiell krankmachende Leidenstheologie ins Drama Eingang findet, steht auch Büchners ›Woyzeck‹ in der Tradition der Aufklärung und ihrer Wendung gegen die Religion. Aller291 292

J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 110. Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 64f.

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dings werden die damaligen einfachen Kausalitäten in der Art, schon die falschen Religionsbegriffe allein würden den Wahn hervorrufen, in der komplexen bio-psycho-sozialen Zuständlichkeit, die das Drama schildert, endgültig verabschiedet. Darüber hinaus verdeutlichen Woyzecks Züge eines religiösen Melancholikers die historische Tiefendimension des Dramas im Hinblick auf die Genese von Krankheitsbildern und erfüllen darin eine ähnliche Funktion wie Narr und Hauptmann. Es zeigt sich einmal mehr, daß die religiöse Melancholie nicht eine Modekrankheit des 18. Jahrhunderts unter anderen ist, sondern die moderne Zeitkrankheit par excellence. Neben dem kritischen und dem historischen Blick auf die Religion läßt sich in Büchners Drama allerdings auch noch eine dritte moralische Perspektive herausstellen. Denn es ist die Sprache der Bibel, die es in den Szenen 3,5 und 3,16 überhaupt noch erlaubt, Fragen der Moral, der individuellen Verantwortung und der Schuld zu stellen. In Büchners tragischen Helden des vierten Standes, Woyzeck und Marie, entfaltet die Bibelsprache ihr gesellschaftskritisches Potential, das Büchner schon im ›Hessischen Landboten‹ erprobt hatte. Das ›Religionsgespräch‹ zwischen Hauptmann und Woyzeck in 3,5 bietet hierfür ein Beispiel. Der Vorgesetzte spricht Woyzeck die Moral im Namen von gesellschaftlicher Konvention und Kirchenrecht ab: »er hat kein Moral! […] Er hat ein Kind, ohne den Segen der Kirche, wie unser hochehrwürdiger Herr Garnisonsprediger sagt«. Woyzeck hingegen, der sich bislang in diesem einseitigen Gespräch auf einen seinem Dienstgrad gemäßen phatischen Sprechakt, das »Ja wohl, Herr Hauptmann«, beschränkt und Demütigungen hingenommen hatte, kontert diesen Angriff auf seine Familie mit einem fast Lutherischen Glaubensverständnis, dem jenseits kirchlicher Institutionen alle Gläubigen gleich nah zu Gott sind: »WOYZECK Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehn, ob das Amen drüber gesagt ist, eh’ er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen.« Dem mehrfach überlieferten Jesuswort: »Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solcher ist das Reich Gottes« (Mk 10,14; Lk 18,16) bzw. das »Himmelreich« (Mt 19,14), gehen bei Matthäus und Markus jene ›Über Ehe und Ehescheidung‹ voraus. Das im Zusammenhang mit Fragen des kirchlichen Eherechts also vollkommen treffende Bibelzitat und die Bibelfestigkeit des vermeintlich unmoralischen Untergebenen zeigen ihre Wirkung beim Hauptmann, denn diese »kuriose Antwort« macht ihn ganz »confus«. Das Monologisieren des Vorgesetzten über seine eigene melancholische Befindlichkeit und die Moral wandelt sich nun zu einem echten Dialog zwischen den beiden Anwesenden. Und es ist Woyzeck, der gegenüber den Tautologien seines Vorgesetzten, »Moral das ist wenn man moralisch ist«, die nötige Trennschärfe in den moralischen Diskurs einführt. Durch das Jesuswort hat er auf die religiös verbürgte Menschenwürde sowie den Unterschied von biblischer Ethik und Kirchenrecht aufmerksam gemacht – schon hier kann ihm der Hauptmann gedanklich nicht 276

mehr folgen. Traktiert Woyzecks Rede doch Grundprobleme einer Unterscheidung von Ethik und Moral,293 insofern erstere unbedingte Sollensansprüche formuliert und letztere den Inbegriff von Normen, Werturteilen und Institutionen bezeichnet. Schon der biblische Kontext, Jesu Worte über die Ehe thematisieren diesen Sachverhalt im Gegeneinander von Gotteswort und Moses Gesetzen. Eine solche Differenzierung kennt auch Luthers Eheverständnis im Rahmen seiner Zwei-Reiche-Lehre. Denn die Ehe ist ihm nicht Sakrament, sondern nur ein bloß »äußerlich, weltlich Ding«;294 und ebenso ist die Trauung als nachträgliche öffentliche Bekundung einer bereits durch Willenserklärung vollzogenen Tatsache nur ein kirchlicher Akt von geringer Wertigkeit. Fast urprotestantisch erscheinen daher Woyzecks Worte über die Gleichgültigkeit des »ob das Amen drüber gesagt ist, eh’ er gemacht wurde« (I, 206f.). Im Protestantismus führte das Verständnis der Ehe als ›weltlich Ding‹ zur Anerkennung der staatlich sanktionierten Zivilehe. In der Aufklärungszeit verzichtete die evangelische Kirche auf ihre konsistoriale Ehegerichtsbarkeit. Der Code civil und das Allgemeine Preußische Landrecht (1794) brachten die konfessionslose obligatorische oder fakultative Zivilehe, zu einer einheitlich-überregionalen deutschen Gesetzgebung kommt es erst im Zuge des Kulturkampfes 1874/75. Im frühen 19. Jahrhundert sind das Zusammenleben von Mann und Frau, Sexualität und Fortpflanzung dementsprechend noch Gegenstand von zum Teil konfligierenden regionalstaatlichen, kirchlichen und berufsständischen Regelungen, wie sich an Woyzecks rechtlich-moralischem Dilemma zeigt: Die militärische Gesetzgebung verhindert seine Ehe, die kirchliche Moral denunziert ihn dafür. In der Rasierszene wird also nicht nur die sprichwörtliche bürgerliche Doppelmoral thematisch, sondern eine sehr spezifisch historische. Der Inquisit Woyzeck hatte die für 3,5 relevanten Aussagen zu Protokoll gegeben, daß er während seiner Militärzeit »von den Offizieren mancherlei unverdiente Kränkungen habe erfahren müssen und sich zugleich seiner beabsichtigten Heirat immer mehr Schwierigkeiten in den Weg gestellt hätten«.295 Die erzwungene Ehelosigkeit der Soldaten mit ihren sozialen Folgen für die Garnisonsstädte: Liebschaften, sitzengelassene Bürgerstöchter, uneheliche Kinder oder gar Kindstötungen, hatte bereits Jakob Michael Reinhold Lenz dramatisiert und sozialreformerisch in Angriff genommen – neben dem Clarus-Gutachten bilden ›Die Soldaten‹ hier die wichtigste intertextuelle Referenz.296 Während 293

294 295 296

Hier ist die Differenz zwischen Sollensethik und Moralkodex bzw. Sitte gemeint; vgl. H. Krämer, Integrative Ethik, S. 10ff.; A. Pieper, Ethik und Moral, S. 18–22. Die zwei weiteren Ebenen dieser Unterscheidung zwischen Strebensethik und Moralphilosophie sowie zwischen ethischer Metareflexion und Moralphilosophie werden in der Rasierszene ebenfalls relevant. Zit. nach Art. Ehe. In: RGG, 2. Aufl., Bd. II, Sp. 22–38, Sp. 37. Zum Folgenden siehe auch die Art. ›Ehe‹ der 1. und 3. Aufl. der RGG. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 97. Zu den ›Soldaten‹ und ›Lenz‹ diesbezüglichem sozialreformerischen Projekt vgl. S. Pautler, Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 208–335.

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der aktiven Dienstzeit war es einfachen Soldaten und Offizieren verboten, eine Ehe einzugehen, bzw. gab es nur wenige, an hohe Geldsummen gebundene Ausnahmeregelungen. So durften im Großherzogtum Hessen in einer Kompanie nur vier Verheiratete dienen, die vor der Eheschließung 600 Gulden vorweisen mußten. Darüber hinaus reichte der Sold eines einfachen Soldaten nur für das Lebensnotwendigste für eine Person, nicht aber für die Ernährung einer Familie.297 Nur durch Nebentätigkeiten, etwa dem Stöcke-Schneiden in der Szene ›Freies Feld‹, dem ärztlichen Experiment oder eben dem in 3,5 vorgeführten Rasieren, gelingt es Woyzeck, Marie und das Kind zu unterstützen. Szenische Details – das Kind muß auf einem »Stuhl«, anstatt in einem Bett schlafen, Marie betrachtet sich in einem »Stückchen Spiegel« (I, 204f.) – zeigen jedoch deren Armut und wie schlecht ihm dies gelingt. Indem Woyzeck gegenüber dem Hauptmann den Zusammenhang von »Geld« und »Moral« anspricht, bringt er seine existentielle Notlage genau auf den Punkt; und zugleich hält er in diesem Vorgang seinem Gegenüber einen Spiegel vor, der das ›Er hat keine Moral‹ auf diesen selbst zurückwirft.298 Denn während Woyzeck gerade damit beschäftigt ist, ein Zubrot für seine Familie zu verdienen, wirft ihm der Vertreter des Militärs, in Kenntnis der erzwungenen soldatischen Ehelosigkeit, diese im Namen einer anderen, gesellschaftlich-kirchlichen Konvention vor. Woyzecks umgelenkte Adressierung kommt auf eine »confuse« Art auch beim Hauptmann an: »Wenn ich sag: er, so mein ich ihn, ihn« (I, 207), allerdings ohne bleibende Konsequenzen. Mit der Erwähnung des Geldes führt Woyzeck die mit dem Bibelzitat eingeleitete Argumentation jedoch weit über seine persönliche Lage und den Konflikt zweier Konventionen hinaus ins Grundsätzliche. Er verweist auf das fundamentale Problem der Gerechtigkeit in Anbetracht von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen und Klassen: »Wir arme Leut. Sehn sie, Herr Hauptmann, Geld, Geld. Wer kein Geld hat. Da setz einmal einer seinsgleichen auf die Moral in die Welt.«299 Das Moralisieren wäre also durch Gesellschaftskritik und -veränderung zu ersetzen. Erst die Abschaffung der sozialen Ungleichheit

297 298

299

Vgl. Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 192– 197.; S. Pautler, Jakob Michael Reinhold Lenz, S. 304–335. Geldbeutel und Geldkasten, Reichtum und Geiz sind seit dem Mittelalter ikonographische und charakterliche Attribute des Melancholikers, vgl. R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 406–409, T. 1, 74, 79, 81f. Es ist also besonders sinnig, daß Woyzeck gerade gegenüber dem Hauptmann, diesem selbstinszenierten Melancholiker, den Zusammenhang von Geld und Moral erläutert. Bei dem letzten Satz handelt es sich um eine unvollständig ausgeführte Korrektur Büchners. Ursprünglich stand: »Da setz einmal einer sein’sgleichen (d.h. Kinder) auf die moralische Art in die Welt«, vermutlich war dann beabsichtigt: »Da setz’ einmal einer (…) auf die Moral in d(er) Welt«, Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 32f.

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zwischen Armen und Reichen würde den Boden für eine gerechte, nicht schichtenspezifische Moral bereiten. Und auch dieser zweite Argumentationsschritt bewegt sich im vom Hauptmann vorgegebenen Rahmen der Religion, insofern die zeitgenössische Leidenstheologie mit ihrer Zwei-Reiche-Lehre in ihrer ideologischen Funktion ausgestellt wird: »Unseins ist doch einmal unseelig in der und der andern Welt, ich glaub’ wenn wir in Himmel kämen, so müßten wir donnern helfen.« (I, 207) Woyzeck spielt hier auf Gottlieb Conrad Pfeffels Gedicht ›Jost‹ an. In diesem vertröstet ein »frommer Pater« den »Durch Frohnen abgezehrten« Bauern auf das Himmelreich: »Die Ruhe, die euch nie beglückt, / Freund, werdet ihr im Himmel finden«; erhält darauf jedoch die Antwort: »Wir armen Bauren werden wohl / Im Himmel frohnweis donnern müssen«.300 Konnte Woyzeck zuvor durch das Bibelzitat auf die Diskrepanz zwischen Jesuswort und jenem des Garnisonspredigers aufmerksam machen, so gilt dies nun auch hinsichtlich der materiellen Rahmenbedingungen christlicher Ethik. Auch die in Gedicht und Zitat bloßgestellte Leidenstheologie, die sich mit der sozialen Ungleichheit beschwichtigend abfindet, steht im Kontrast zum Wort Jesu, folgt doch seiner Segnung der Kinder direkt das Gespräch mit dem Reichen und das bekannte Diktum: »Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme« (Mk 10,25; Mt 19,24; Lk 18,25). Der Zusammenhang von Ehe- und Sexualmoral mit Fragen sozialer Ungleichheit, durch den Woyzeck sich in der Rasierszene gegenüber dem Hauptmann argumentativ und rhetorisch behaupten kann, ist also bereits im biblischen Kontext angelegt. Der Hauptmann weicht dieser grundsätzlichen Moral- als Gesellschaftskritik allerdings aus und versucht das Gespräch über den Tugendbegriff erneut auf die Ebene individuellen Verhaltens zurückzubringen, wiederum im persönlichen Angriff: »Woyzeck er hat keine Tugend«. Dieser gibt sich jedoch so schnell nicht geschlagen, sondern bringt zwei Einwände. Zum einen bindet er auch den individuellen Habitus an die materiellen Grundlagen zurück: »wenn ich ein Herr wär und hätt ein Hut eine Uhr und eine anglaise, und könnt vornehm reden ich wollt schon tugendhaft seyn.« Zum anderen greift er des Hauptmanns Beispiel für tugendhaftes Verhalten, sexuelle Enthaltsamkeit,301 auf und lehnt sie im Namen der menschlichen Natur ab: »Man hat auch sein Fleisch und Blut. […] Sehn Sie, wir gemeinen Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur« (I, 207). Die besondere argumentativ-rhetorische Pointe dieses Eintretens für die natürlichen Bedürfnisse des Menschen liegt darin, daß es in bestem Lutherdeutsch geschieht, in Anspielung auf den ›Großen Katechis-

300 301

Zit. nach I, 759 (Kommentar). Auch die sexuelle Enthaltsamkeit gilt als traditionelle Charaktereigenschaft der Melancholie, mit der sich der Hauptmann in dieser Szene generell schmückt, vgl. R. Klibansky, E. Panofsky und F. Saxl, Saturn und Melancholie, S. 424.

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mus‹, also das Standardwerk christlicher Tugendlehre. Auf der Einsicht in die Unwiderstehlichkeit des Geschlechtstriebes gründete gerade das protestantische, gegen die papistische Doppelmoral gerichtete Eheverständnis, demzufolge diese der »edelste«, noch »über allen anderen geistlichen und weltlichen Ständen« angesiedelte Stand ist: »Denn wo es nach der Natur geht, wie sie von Gott eingepflanzt ist, ist es nicht möglich, außerhalb der Ehe keusch zu bleiben. Denn Fleisch und Blut bleibt Fleisch und Blut, und die natürliche Neigung und Reizung geht unverwehrt und ungehindert (ihren Gang), wie jedermann sieht und fühlt.«302 Urchristlich oder urprotestantisch ist also Woyzecks Widerrede gegen den Hauptmann, der den Garnisonsprediger ins Feld geführt hatte und dann unversehens mit Bibel- und Luther-Zitat nach Strich und Faden katechisiert wird. Der Katechismus, griechisch ›Kinderlehre‹, nach Luther für »die Kinder und Einfältigen (einfachen Leute)«,303 wird in Büchners Drama zum wirksamen rhetorischen Instrument dieser einfachen Leute. Woyzeck spricht in der Rasierszene im Namen der »Kindlein«, der »arme Leut«, der »gemeinen Leut« (I, 206f.). Büchners Woyzeck wiederholt in diesem Gespräch mit den Stichworten Bibel und Geld eine schon von seinem Autor im ›Hessischen Landboten‹ praktizierte Strategie. Denn dieser Text eröffnet sein gesellschaftskritisches Potential in der Engführung von biblischer Metaphorik und Statistik, im Gegeneinander von christlichem Ideal und sozialem Elend.304 Auch Jesu Worte zur Ehe, zu den Kindern und den Reichen sowie Luthers Heiligung der von Gott eingepflanzten körperlichen Liebe gehören im ›Woyzeck‹ zu dem historisch Unabgegoltenen, an dem die Wirklichkeit zu messen ist und das der Text in seiner genetischen Darstellung bewahrt. Büchners Woyzeck schlüpft in dieser Szene in die Rolle eines Philosophen, seine Überlegungen berühren die geläufigen Unterscheidungen von Ethik und Moral gleich in mehrfacher Hinsicht. Zum einen drückt sich in seinem Räsonnement ein ethisches »Streben, das gehemmt« ist und »sich zu orientieren sucht«,305 aus. Mit dem Versuch, sich im Denken zu orientieren – »die Tugend! ich

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M. Luther, Der Große Katechismus, S. 646f. In der ersten Handschrift befindet sich ein weiterer Hinweis auf den Katechismus als ethischer Leitlinie für Woyzeck, insofern er sich das 5. Gebot vorsagt, vgl. I, 183. Luthers Einspruch gegen die Enthaltsamkeit beruft sich auch auf medizinische Kenntnisse der »Ärzte«, »wenn sie sprechen: Wo man mit Gewalt aufhält dieser Natur Werk, da muß es in das Fleisch und Blut schlagen und Gift werden, daraus dann ungesunde, schwache und schwindsüchtige, stinkende Leiber werden«, M. Luther, Vom ehelichen Leben, S. 195f. M. Luther, Der Kleine Katechismus, S. 590. Vgl. die Aussagen Adam Kochs über Georg Büchner im 1842 vorgelegten ›Bericht der BundesZentralbehörde‹ über die ›Gesellschaft der Menschenrechte‹: »die aus ihr hervorgegangenen Flugschriften müßten ihre Ueberzeugungsgründe aus der Religion des Volks hernehmen, in den einfachen Bildern und Wendungen des neuen Testaments müsse man die heiligen Rechte der Menschen erklären«, zit. nach: G. Büchner, F. L. Weidig, Der Hessische Landbote, S. 125. Zur statistisch-biblischen Textstrategie siehe G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 69ff. H. Krämer, Integrative Ethik, S. 78.

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hab’s noch nicht so aus« (I, 207) –, und mit den Fragen nach der richtigen Lebensführung erfüllt er einen »Minimalbegriff von Ethik«, demgegenüber »Moralphilosophie ein Mehr an Regulativen und mit der Außenorientierung ein kategoriales Novum«306 bedeutet. Durch diesen, neben ihm nur noch bei Marie zu findenden, ethischen Grundtrieb ist Woyzeck im dramatis personae ausgezeichnet. In Büchners dramatischer Volte wird der Mörder zum ethischen Zentrum des Textes. Woyzecks Strebensethik verweist dabei auf das christliche Glücksversprechen des Himmelreichs, das er für seinen Sohn in Anspruch, von dem er selbst sich hingegen im Pfeffel-Zitat ausnimmt. Im Versuch, das sein Streben Hemmende zu thematisieren, spielen mit Bibel und ›Großem Katechismus‹ sollensethische Elemente eine Rolle, von denen aus die zeitgenössischen kirchlichen und militärischen Konventionen kritisierbar werden. Und schließlich thematisieren seine ethischen Reflexionen über die materiellen Rahmenbedingungen und die moralische Sprache – »die Tugend! ich hab’s noch nicht so aus« – »auf einer Metaebene moralisches Handeln grundsätzlich«.307 Es liegt an der Unbelehrsamkeit des Hauptmanns, daß Woyzecks Philosophieren über den Moment hinaus nicht wirken kann. Sein Vorgesetzter reagiert, wie später in 3,8 auch der Doktor, indem er ihn pathologisiert: »du denkst zuviel, das zehrt, du siehst immer so verhetzt aus«, und ihn wieder in die militärische Befehlsstruktur zurückholt: »Geh’ jetzt und renn nicht so; langsam, hübsch langsam die Straße hinunter.« (I, 207) In den Szenen 3,5 und 3,8 gelingt Woyzeck in seltener Klarheit die Einsicht in die sozialpolitische Lage und seine eigene Situation, indem Armut, Religion, Militär, Moral, Wissenschaft und Medizin in ihrem wechselseitigen Bezug reflektiert und kritisiert werden. Einmal sind es Jesus- und LutherWorte, einmal ist es ein ganzheitlicher leibseelischer Ausdruck und ein ebensolches Wissenschaftsverständnis, die zu seinen Waffen in der rhetorischen Auseinandersetzung werden. Der Gesprächsverlauf beider Szenen ist parallel konstruiert, auf einen Angriff von seiten seiner Dienstherren Hauptmann und Doktor verteidigt sich der Untergebene und Handlanger. Das in beiden Fällen szenisch gestaltete eklatante Mißverhältnis besteht in der nicht allein rhetorischen, sondern physisch-materiellen Attacke von seiten des Militärs und der Medizin einerseits und Woyzecks sprachlicher Verteidigung andererseits. Die Armut, der geringe soldatische Lohn, die Ehelosigkeit, die erzwungenen Nebentätigkeiten, die Überarbeitung, die Hetze, die physische Schwächung durch das Ernährungsexperiment bilden in beiden Szenen den materiellen Hintergrund. Das Rasiermesser in Woyzecks Hand verdeutlicht in 3,5 die ungleichen 306 307

H. Krämer, Integrative Ethik, S. 77. A. Pieper, Ethik und Moral, S. 21. Die Thematisierung moralischer Sprache und Zuschreibung geht auf das Clarus-Gutachten zurück. Dort heißt es: »Er habe sich daher auch immer geärgert, wenn die Leute von ihm gesagt hätten, daß er ein guter Mensch sei.« J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 97f.

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Mittel in dieser Auseinandersetzung, in Anbetracht der anderen metonymisch oder metaphorisch durch den Text wandernden Waffen: der soldatische Säbel und das ärztliche Skalpell.308 Die einzige physische Abwehrreaktion mit einem Messer, die Woyzeck im Drama ausführt, wendet sich nicht gegen diese gleichsam systemischen Angreifer, die er in 3,5 und 3,8 noch sehr genau lokalisieren kann, sondern gegen eine Person, deren Handlungsweise nicht als Angriff auf ihn gemeint war – in dieser Form instrumentalisiert erst der Hauptmann in 2,7 Maries Affäre mit dem Tambourmajor. Und die Tötung Maries wird von einer Person ausgeführt, die, wie die Szenenfolge 3,11–13 gezeigt hat, zunehmend Zustände fundamentaler Wahrnehmungsstörung kennt. Die Religion findet in Georg Büchners ›Woyzeck‹ also eine ambivalente Darstellung: Der Wahn kleidet sich in religiöse Metaphorik (3,1 und 3,11), so daß der Protagonist an die religiösen Melancholiker des 18. Jahrhunderts erinnert; die Religion gibt den ›armen Leut‹ aber auch eine Waffe zu diskursiver Selbstbehauptung an die Hand. In der Testamentsszene wird die Jesus- und Luther-Allusion von 3,5 sogar noch verstärkt. Durch die detaillierte Angabe des Datums: »ich bin heut Mariae Verkündigung d. 20. Juli alt 30 Jahr 7 Monat und 12 Tage« (I, 217), wird Woyzeck ganz deutlich an Christus herangerückt.309 Dies läßt sich in den vorgeschlagenen Interpretationsansatz einer Ermächtigung der Woyzeck-Stimme im Allgemeinen integrieren, wie es im Besonderen auch als Spitze gegen die moralische Verurteilung des Delinquenten von seiten der Psychiker gelesen werden kann. Laut Heinroth hatte Woyzeck durch seine moralische Verworfenheit als »Vernunftwesen« und als »Christ« versagt; auch Clarus bemängelte seine zu ›schwache‹ und ›frostige‹ religiöse Empfindung.310 Schließlich wird neben dem Narren und dem Hauptmann über den pathologischen Diskurs noch eine weitere Figurengruppe mit Woyzeck assoziiert. Es handelt sich um den Barbier, die Handwerksburschen und den Tambourmajor.

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Im Detail sind es »Säbel«, »Messer«, »Rasirmesser«, »Pistol«, »Gewehr«, »Kugel(n)« (I, 177, 180f., 183, 188, 200, 214, 182, 198, 193, 215, 197, 199). Von Formen des Tötens: Jagen, Schießen, Stechen, Totschlagen, Sprengen u.s.w., ist beständig die Rede. Zu erinnern ist im Hinblick auf 3,5 auch noch einmal an den von Büchners Vater begutachteten Fall des Soldaten Jünger, der in plötzlicher Wut seinen Korporal mit einem Säbel angegriffen hat, vgl. E. Büchner, Gutachten über den Gemüthszustand eines Soldaten im Augenblick seines Vergehens im Dienste. Wie Norbert Abels zu Recht vermerkt, muß nicht mit apokrypher Überlieferung argumentiert werden, die Christus zu seiner Hinrichtung im 30. Jahr sein läßt, sondern in Anlehnung an den historischen Woyzeck kann die dreijährige Prozeßzeit hinzuaddiert werden, vgl. Die Ästhetik des Pathologischen, S. 619. Zur falschen Datierung von Mariae Verkündigung siehe: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 66. Einer religiösen Deutung, wie sie Wittkowski u.a. vorgelegt haben, sei damit allerdings nicht das Wort geredet, vgl. W. Wittkowski, Georg Büchner. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 25; vgl. J. C. A. Clarus, Früheres Gutachten, S. 141, 147.

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Sie alle verbindet das Lob bzw. das Lied vom »Branntewei das ist mei Leben«.311 Dieses Krankheitsbild und seine Relevanz im Drama ist bisher von der Büchner-Forschung übersehen worden. Die in den Clarus-Gutachten mehrfach verzeichnete Eigenschaft Trunksucht wird in Büchners Handschriften von Woyzeck abgetrennt312 und geht über auf sozial gleichgestellte Figuren, den Barbier in 1,10, die Handwerksburschen in 2,4 und 3,11 sowie auf den Nebenbuhler, den Tambourmajor in 3,14. Darüber hinaus verdankt sich dieser Eigenschaft des historischen Woyzeck der dramatische Handlungsort Wirtshaus. Auch in Anbetracht des Alkohols bestätigt sich Wolfgang Martens Einsicht, daß Büchner »in motivischen Elementen, nicht in individuellen Personen«313 denkt. Der historische Woyzeck wird in Büchners Drama gleichsam seziert, in einzelne Merkmale zerlegt und auf mehrere Figuren verteilt. In den multikausal gezeichneten Zusammenhängen erscheint die Trunksucht im Drama damit als eine alternative Reaktionsweise auf die soziale Lage, Armut wie im Falle des Barbiers und der Handwerksburschen, oder die militärische Disziplin, wie im Falle des Tambourmajors,314 an der Büchners Woyzeck womöglich nur durch seine Überarbeitung und die Versorgungsnotlage seiner Familie gehindert wird. Auch der Hauptmann partizipiert an dem Zusammenhang von Alkohol und Militär, insofern die brandtweinselige Rührung des Barbiers in 1,10 auf ihn übergeht. Ursächlich führt der Alkohol wiederum zur Gewalt, dies veranschaulichen die antisemitischen Ausfälle der Handwerksburschen in 2,4 und 3,11 sowie die Szene 3,14, in der Woyzeck den Gewalttätigkeiten des alkoholisierten Tambourmajors zum Opfer fällt. In modulierter, geminderter Form wird über die Trunksucht analog zum Fall Woyzeck der Zusammenhang von sozialer Lage, somato-psychischem Zustand und Gewalt an weiteren Figuren anschaulich. Mit der Trunksucht bringt Büchner ein Krankheitsbild ins Drama, das im frühen 19. Jahrhundert sowohl in der Psychiatrie wie auch in der Forensik weitläufig diskutiert wurde und das beide Diskurse miteinander vernetzt. In der psychiatrischen Debatte gilt der Alkoholkonsum den Psychikern als Indiz der Amoralität des Patienten. So hatte Heinroth Woyzecks Trinkerei beurteilt und darüber hinaus versucht, über den Alkohol jegliche geistige Störung als 311 312

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I, 181, vgl. 194f., 212, 215. Vgl. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 80, 85f., 88, 90, 96, 100, 108, 121, 122, 124; U. Walter, Der Fall Woyzeck, S. 369. In H 1,11 erklärt sich Andres zwar noch Woyzecks für ihn unverständliche Rede mit »Er ist besoffen« (I, 183), die weiteren Handschriften tilgen jedoch die Verbindung von Woyzeck und Alkohol, die auch hier eher Indiz für Andres’ durchgängig im Stück verzeichnetes Unvermögen ist, Woyzecks Rede und Handlung zu folgen. Vgl. G. Büchner, Woyzeck. Bd. 7.2, S. 344ff. W. Martens, Der Barbier in Büchners Woyzeck, S. 371. Siehe hierzu Woyzecks Aussage im Clarus-Gutachten: »auch könne er nicht leugnen, dass er überhaupt und besonders während seiner Dienstzeit oft zu viel Branntwein getrunken habe«, und sein Feldwebel und mehrere Kameraden erinnern sich, daß er »dem Trunk sehr ergeben« gewesen sei, J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 96, 124.

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selbstverschuldet und damit als zurechnungsfähig zu deklarieren. Von somatischer Seite hatten Marc und Grohmann neben dem unruhigen Blutumlauf und einem anzunehmenden Gehirnleiden auch den Alkohol als Moment der somatischen Verursachung einer Geisteskrankheit eingerechnet und so auf verminderte Schuldfähigkeit des Delinquenten plädiert. Die sogenannten ›geistigen Getränke‹ wie auch Narkotika waren als dynamische Ursache von Geisteskrankheiten anerkannt, was sich auch in den entsprechenden rechtlichen Anordnungen zeigt. Schon das Reskript zur Einweisung melancholischer Personen in öffentliche Anstalten von 1810, das Clarus’ Befragung von Woyzeck zugrunde lag, räumte der äußeren Veranlassung der Krankheit durch »in den Koerper gekommene Gifte«, etwa dem »Mißbrauch« von »geistigen Getraenken«315 eine Rolle ein. In den 30er Jahren wendete sich die experimentelle physiologische Forschung auch der Wirkung von Narkotika auf das Nervensystem zu, so daß der Zusammenhang von Alkohol und Geisteskrankheit exakter verfolgt werden konnte. Der Somatiker Franz Amelung zeigt am Beispiel des Alkohols, inwiefern »[d]ynamisch wirkende materielle Ursachen« Geisteskrankheiten hervorrufen können, indem sie »directen Einfluß auf das Nervensystem überhaupt und auf das Gehirn insbesondere« haben. Der »Mißbrauch geistiger Getränke« kann eine »akute Verrücktheit, das sogenannte Säuferdelirium (delirium tremens), oder eine chronische Verrücktheit« hervorrufen. Der »ganze psychische Mensch, seine Denk-, seine Fühl- und Handlungsweise [wird] durch die Trunkenheit verändert.« Amelung unterscheidet verschiedene Stadien der Wirkung, von einem anfänglichen »Gedanken jagen« bis zu »wahrer Wuth und Tobsucht«, in welcher die betroffene Person die »tollkühnsten und strafbarsten Handlungen begeht.« Bei der Trunksucht handelt es sich um einen »gleichsam künstlich erzeugten und vorübergehenden Wahnsinn« und daher vergleicht Amelung diesen Zustand auch mit der »mania sine delirio«. Mit seiner dynamisch-somatischen Wirkung auf das Gehirn wird der Alkohol für Amelung geradezu zu einem Analyseinstrument für Geisteskrankheiten: »Es will uns dünken, als ob die genaue Betrachtung der Trunkenheit, die Art und Weise, wie sie zu Stande kommt, ihre Wirkungen und Erscheinungen, so wie ihre Folgen, uns einen tiefen vergleichenden Blick in das Wesen der Geisteskrankheiten überhaupt zu thun erlaubt.«316 Es scheint fast, als habe der Autor des ›Woyzeck‹ dem nur zustimmen können. Denn Woyzecks dynamisch induzierter partieller Wahnsinn wird im vergleichenden Blick des Dramas ebenfalls durch die somato-psychischen alkoholisierten Zustände des Barbiers, der Handwerksburschen und des Tambourmajors konturiert. Vor allen Dingen 315

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Reskr. (an saemmtliche Beamten), die sorgfaeltigen Anzeigen ueber den Zustand melancholischer Personen betr., vom 29. Juni 1810. In: Karl Gustav Schmalz, Die Königl. Sächsischen Medizinal=Gesetze älterer und neuerer Zeit, S. 436–441, S. 440. F. Amelung, Ueber den Begriff, das Wesen und die Pathogenie der psychischen Krankheiten, S. 216, 217, 219f.

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läßt sich die Transformation der Manie ohne Delirium von einem partiellen zu einem periodischen Wahnsinn, die sich physiologisch-psychiatrisch in den 30er Jahren über die Wahrnehmung des Reflexbogens und damit größerer systemischer Einheiten im Körper vollzieht, besonders prägnant an Phänomenen des Alkoholkonsums veranschaulichen. Waren nach der älteren Nomenklatur partiell nur bestimmte geistige Vermögen betroffen, im fixen Wahn einige Vorstellungen und das Begehrungsvermögen, so zeigen Menschen nach dem Genuß von geistigen Getränken einen Leib und Seele umfassenden, aber zeitlich begrenzten Wahn. Aus der räumlich lokalisierten Wahrnehmung entwikkelt sich eine von periodischen, ganzheitlichen Zuständen. Büchners Drama zeigt diesen Übergang in der Zusammenstellung von Woyzecks Zuständen mit jenen der Trunksüchtigen in besonderer Präzision. Das Krankheitsbild eines periodischen Wahns erlaubt es, Woyzeck sowohl in Momenten der Klarheit wie in 3,5 und 3,8 zu zeigen, als auch in solchen einer fundamentalen leibseelischen Störung, wie an 3,1 und 3,11–13 veranschaulicht wurde. Darüber hinaus liegt in der psychiatrischen Vernetzung von periodischem Wahn und Trunksucht eine dramatisch nutzbare Differenzierung einzelner Stadien, eine eskalierende Zustandsfolge sowie eine binäre Typologie vor, die eine aggressive Reaktion von einer autoaggressiven unterscheidet. Mitte der 30er Jahre ist die Analogie von Wahnsinn und Trunkenheit schon ein feststehender Topos, der auch in den Gesetzestexten und in der Forensik ausführliche Berücksichtigung findet. Ein Entwurf eines Strafgesetzes für das Königreich Hannover berücksichtigt im Hinblick auf Unzurechnungsfähigkeit neben »Anfällen der Raserei« auch die »unverschuldete Trunkenheit«, das österreichische Gesetzbuch nennt die »periodische Sinnenverrückung durch Berauschung«.317 Johann Baptist Friedreich widmet in seinem ›Systematischen Handbuch der gerichtlichen Psychologie‹ neben der mania sine delirio der Trunkenheit die eingehendsten Überlegungen in Fragen der Zurechnungsfähigkeit und kann sich hier auf eine breite Forschung seit Anfang des Jahrhunderts stützen. Als auffällige Gemeinsamkeiten werden u.a. die Neigung zu Selbstgesprächen und Sinneshalluzinationen genannt. Friedreich kommt nach der Diskussion der Forschungslage zu dem abschließenden Urteil: »Es wird denn nicht mehr bezweifelt werden, dass der Trunksüchtige an einer mit somatischen und psychischen Abnormitäten gemischten Körperkrankheit leide, und dass die in Anfalle vollbrachten gesetzwidrigen Handlungen auf dieselbe Weise zu beurtheilen seyen, als wenn sie im Delirium eines Fiebers oder im Wahnsinne selbst begangen worden wären.« Die Unzurechnungsfähigkeit bleibt nicht auf den akuten Rausch beschränkt, sondern gilt auch für habituelle Trinker und die durch konstanten Mißbrauch hervorgerufenen »Seelenkrankheitsformen«, 317

Zit. nach J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 250, 253.

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den »trunkfälligen Wahnsinn«, »die trunkfällige Tollheit« und das »Delirium tremens«.318 Mit dieser Ansicht kann sich Friedreich auf die forensische Autorität von Adolph Henke berufen. Auch Wilhelm Griesinger merkt an: »Wer je Wahnsinnige beobachtet hat, dem muss die frappante Aehnlichkeit der Erscheinungen bei einigen dieser Kranken mit den Zufällen der narcotischen Vergiftung aufgefallen sein«, und nennt u.a. das Beispiel »Alcoholvergiftung«. In beiden Fällen handle es sich um somato-psychische Veränderungen, um »Affectionen des Rückenmarks und Gehirns durch die narcotischen Mittel« und um »Alterationen der Empfindung und Bewegung, der Vorstellung und Strebung« bei »Seelenstörungen« bzw. »psychischen Krankheiten«. Griesinger argumentiert im Kontext einer »Hemmungstheorie«, die das Gehirn als vermittelnde, verzögernde und auf Ausgleich bedachte Schaltzentrale wahrnimmt. Physiologisch sei dies am seit langem bekannten Phänomen verstärkter Reflextätigkeit bei geköpften Tieren beobachtbar, physiologisch-psychologisch am Alkohohl, der »früher vorhandene Hemmungen der Vorstellungen löse«, was auch zur »Rücksichtslosigkeit der Rede und Handlung« führe. »Zerstreuung der Vorstellungen«, »Phantasie und die überraschenden Combinationen des Witzes« können so ebenso auf den Alkohol zurückgeführt werden wie »Schwätzer«, die »mit unerhöhrter Frechheit das Wort für sich usurpiren«.319 Eine ähnliche Symptomatik des Alkohols zeigt sich in Büchners Drama. Die Geschwätzigkeit und sprunghafte Rede des Barbiers in 1,10 ist so einerseits eine auch in der Literatur bereits festgehaltene deformation professionelle, wie Martens im Blick auf Goethes ›Die Aufgeregten‹ und E.T. A. Hoffmanns ›Die Elixiere des Teufels‹ vermerkt,320 andererseits Wirkung des Alkohols. Im enthemmten Vorstellungs- und Redefluß zeigt sich auch die Alkoholisierung der Handwerksburschen in 3,11. Zunächst werden mit dem 1. und 2. Handwerksburschen scheinbar zwei Varianten des narkotischen Effekts vorgeführt, eine selbstdestruktive weinerliche: »meine Seele stinkt nach Brandewein. […] ich muß ein Regenfaß voll greinen«, und eine aggressive: »Ich will ein Loch in die Natur machen. Ich bin auch ein Kerl, du weißt, ich will ihm alle Flöh am Leib todt schlage.«321 Diese münden jedoch, wie die Schlußwendung des ersten dokumentiert, in ein und dieselbe Gewaltbereitschaft: »Zum Beschluß, mei(ne) geliebten Zuhörer, laßt uns noch über’s Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.«

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J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 779f., 804. W. Griesinger, Ueber psychische Reflexactionen, S. 99–104. Vgl. W. Martens, Der Barbier in Büchners Woyzeck, S. 374, 380. Griesinger differenziert ebenfalls zwei mögliche Reaktionsweisen auf eine Alkoholvergiftung in Abhängigkeit vom vorherigen Zustand, entweder der »Totaleindruck« psychischer »Kraft« oder Traurigkeit. Damit sind dann auch die beiden »Grundformen des Wahnsinns«, »Manie« und »Depression«, vorgezeichnet, Ueber psychische Reflexactionen, S. 103, 108, 105.

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(I, 212f.) Woyzecks zunehmende durch Maries Tanz mit dem Tambourmajor und ihr ›Immer zu‹ ausgelöste psychische Verstörung in dieser Szene wird so durch die alkoholisierte reizbare Stimmung der Handwerksburschen gerahmt und zugleich gespiegelt. Eine weitere Analogie der Bewußtseinszustände zwischen den Handwerksburschen und Woyzeck findet sich zwar nicht mehr im Textsubstrat, jedoch in der Textgenese. So hatte der historische Woyzeck im Clarus-Gutachten berichtet, daß seine Freimaurer-Träume und -Visionen auf »allerhand nachteilige Gerüchte über die Freimaurer« zurückgingen, die ihm »reisende Handwerksburschen«322 mitgeteilt hatten. Dies ist noch einmal ein Beispiel für Büchners Umgang mit dem historischen Material, das in einzelne thematische Komplexe, in einfache Formen und Typen zerlegt und umgruppiert wird, ohne jedoch die vormaligen Bezüge gänzlich zu mißachten bzw. zu verkehren. So findet zwischen Woyzeck und den Handwerksburschen ein gleichsam geregelter Austausch statt: Die Trunkenheit des historischen Woyzeck geht im Drama auf diese über, während im Gegenzug das im Clarus-Gutachten mit ihnen verbundene Freimaurermotiv von den Handwerksburschen gänzlich abgekoppelt und auf die Kunstfigur Woyzeck übertragen wird. Und solche Transformationsprozesse lassen sich dramenintern auch zwischen den Handwerkern und dem Narren beobachten. In den Wirtshaus-Szenen der ersten Fassung, H 1,5 und 1,17, ist es noch der Narr dem das »Puh! Das riecht«, »Puh! Der stinkt schon« zugeordnet wird; in 2,4 wiederholt dies der Handwerksbursche in Variation »Es stinkt mir, es riecht mir«; in 3,11 ist es in dessen Rede dann zum »meine Seele stinkt nach Brandewein« (I, 179, 187, 194, 212) geworden. Der physiologisch-psychologische Vergleich zwischen Seelenstörung und narkotisiertem Bewußtsein spiegelt sich also auch hier im Übergang vom Narren zur nach Branntwein stinkenden Seele und der beiderseitig erhöhten Sensitivität. Die olfaktorische Metaphorik des Dramas registriert dabei zeitgenössische physiologische Annahmen. So galt etwa der somatischen Richtung ein spezifischer durch das Gehirnleiden und die entsprechenden Sekretionen verursachter Geruch als untrügliches Erkennungszeichen des Wahnsinns, das Simulation ausschließe. Auch an habituellen Trinkern wurde eine besondere »Hautausdünstung« wahrgenommen. Und eine besondere Reizbarkeit bzw. »Reizbedürfniss des Geruchsorganes« wurde als Gemeinsamkeit »der Wahnsinnigen und der Betrunkenen« angeführt, das als »Folge des gereizten Gehirnzustandes«323 angesehen wurde. In Szene 3,14 wird dann schließlich drastisch am Tambourmajor der Übergang von der enthemmten alkoholisierten Rede zu ebensolcher Tat geschildert: »Wer kein bsoffe Herrgott ist der laß sich von mir. Ich will ihm die Nas ins

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 98. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 803, 742, vgl. 162ff.

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Arschloch prügeln. […] sie ringen, Woyzeck verliert«. Die Handlung in dieser Szene führt vom »Schnaps« des Tambourmajors direkt zu Woyzecks »blut« (I, 214f.). Was in einem klassischen, tektonischen Drama der Höhepunkt wäre, die verbale Konfrontation der Antagonisten, ist hier zum ungleichen physischen Kampf zweier körperlich und seelisch deutlich in Mitleidenschaft gezogener Figuren geworden, deren Sprachfähigkeit stark eingeschränkt ist.324 In diesem Umgang mit dem Alkohol konterkariert Büchners Dramenfragment deutlich die moralische Argumentation des Clarus-Gutachtens, das im Vorwort in Anlehnung an die Psychiker die Trunksucht des Delinquenten als Kennzeichen des moralischen Verfalls nannte. In Heinroths Woyzeck-Schrift ist zu lesen: »denn Huren und Saufen sind doch Laster und keine koerperlichen Krankheiten«.325 Der Somatiker Grohmann hatte hingegen in seiner Erwiderung auf das Clarus-Gutachten gerade Woyzecks Trunksucht als zweites, die Zurechnungsfähigkeit einschränkendes Moment neben einem anzunehmenden schweren Gehirn- und Nervenleiden genannt.326 In Anbetracht des Alkohols zeigt sich noch einmal Heinroths widersprüchliche Auffassung von psychosomatischen Zuständen, die einerseits psychologisch und physiologisch genau wahrgenommen werden, andererseits aber in der Einbindung in die moralische Theorie einseitig im Sinne der Selbstverschuldung ausgelegt werden. So kann sich einerseits Friedreichs forensisches Handbuch in Verteidigung der Unzurechnungsfähigkeit Betrunkener auf Heinroths Differenzierung verschiedener Stadien der Trunkenheit und damit auch der Unfreiheit berufen: 1) der »Rausch« als ein unfreier Zustand rücksichtsloser Rede und Handlung, in dem »dreiste Beleidigung« ebenso vorkommen kann wie »dreiste Liebkosung«; 2) die »Betrunkenheit«, die einen »traumaehnlichen Zustande« bezeichnet; und 3) schließlich die »Besoffenheit«, in der der Mensch zum »Rasenden«327 wird. Andererseits gelten Heinroth selbst diese skizzierten unfreien Zustände, wenn 324

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Mit »TAMBOURMAJOR Der Kerl soll dunkelblau pfeifen« (I, 215) findet auch ein Austausch der Rede zwischen dem historischen Woyzeck und dem Tambourmajor statt, denn das hatte Woyzeck gegenüber seinem Vermieter geäußert, vgl. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 86, 101, und Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchners Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 57f. J. C. A. Heinroth, Ueber die gegen das Gutachten des Herrn Hofrath D. Clarus von Herrn D. C. M. Marc in Bamberg abgefaßte Schrift, S. 37. »In Brandtweintrinkern besonders, wie ich vielfältig die Beobachtung gemacht habe, geht am Ende die Schwäche des Körpers und der Seele in jenen Torpor über, wo die Seele nicht mehr ihrer mächtig ist.« J. C. A. Grohmann, Ueber die zweifelhaften Zustaende des Gemueths, S. 311. J. C. A. Heinroth, Lehrbuch der Stoerungen des Seelenlebens, Zweyter oder praktischer Theil, S. 272f; vgl. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 737f. Insofern Heinroth die Grade der Trunkenheit nach der Raserei schließlich in einen »dem Schlagflusse aehnlichen Schlafe, der auch nicht selten in Apoplexie uebergeht« (ebd., S. 274), münden läßt, gehört auch die »apoplectische Constitution« (I, 211) des Hauptmanns zeitgenössisch in den Verweisungszusammenhang des Alkoholismus.

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sie selbstverschuldet sind, als zurechnungsfähig. Im Hinblick auf den Alkohol wiederholt sich die schon aus der Woyzeck-Debatte bekannte Argumentationsfigur, die den Körper vornehmlich als Aufschreibefläche der Seele wahrnimmt – »jede Stufe des Versinkens in den suendigen Zustand, wird durch einen Strich gleichsam auf dem Kerbholze des Koerpers bezeichnet«. Das Verhältnis von Innerem und Äußerem wird als Ausdrucksverhältnis aufgefaßt, wenn von den »aeußeren organischen gradweisen Bezeichnungen des inneren psychischen, in der Sphaere der Freiheit fortschleichenden, krebsartig den inneren (freien) Menschen verzehrenden Uebels« gesprochen wird. So hinterläßt eben auch das moralische Laster der Trunksucht seine körperlichen Spuren und die Trunksüchtigen befinden sich in einem »gebunden=unfreie[n], durch eigene Verschuldung hervorgebrachte[n] Zustand«,328 der niemals die Zurechnungsfähigkeit aufhebt. Diese Argumentation hatte sich Clarus in seinem WoyzeckGutachten zu eigen gemacht, denn dessen Vollblütigkeit sei »durch eine unordentliche Lebensweise und besonders durch den Mißbrauch starker Getränke vermehrt« worden. Das Vorwort formuliert dann noch deutlicher, das Laster der »Trunkenheit« habe neben Arbeitsscheu, Spiel und Geschlechtslust »allmählich zu Verbrechen und zum Blutgerüste führen können«.329 Die physiologische Forschung mit der Wirkung von Narkotika auf das Gehirn- und Nervensystem in den nachfolgenden Jahren hat Heinroths Ansicht desavouiert und die Verursachung umgekehrt. Neben den durch das Ernährungsexperiment hervorgerufenen Verfallserscheinungen Woyzecks erweitern die gradweise durch Alkoholvergiftung gezeichneten Figuren, der Barbier, die Handwerksburschen und der Tambourmajor, das somato-psychische Symptomspektrum im Drama, das auch in ihrem Fall mit sozialen Ursachen und gewalttätigen Konsequenzen verbunden ist. Büchners dramatische Handhabung der Trunkenheit läßt sich ebenfalls in den argumentativen Rahmen einer Ermächtigung der Woyzeck-Stimme einordnen, die bislang markant im Ernstnehmen der in den Gutachten mitgeteilten Symptomsprache und der direkten Rede des Delinquenten, an seinem Philosophieren in 3,5 und seinem leibseelischen Einspruch gegen den Doktor in 3,8 sowie an der Christus-Allusion von 3,17 herausgestellt werden konnte. Kittsteiner und Lethen haben hinsichtlich Büchners Umformung des historischen Woyzeck von einer »Entbürgerlichung«330 des historischen Woyzeck gesprochen; eine These, die an Plausibilität verliert angesichts des arbeits- und obdachlosen Alkoholikers, den die Gutachten zeigen und der auch eine längere 328

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J. C. A. Heinroth, System der psychisch=gerichtlichen Medizin, S. 264f. Vgl. J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 782–790, der der Vorstellung von Heinroths Position eine ausführliche Widerlegung folgen läßt. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 105, 78. H.-D. Kittsteiner und H. Lethen, Ich-Losigkeit, Entbürgerlichung und Zeiterfahrung.

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Geschichte der Gewalt gegen Frauen hat.331 Insbesondere die Abänderung der beiden letzten, wie die Vernehmungen zeigen, miteinander zusammenhängenden Aspekte332 ordnet sich eher dem Bestreben ein, seinen Protagonisten mitleidsfähiger zu machen.333 Ist der Alkoholismus bis heute in der öffentlichen Wahrnehmung eine nicht voll anerkannte Krankheit, so war diese Sucht im frühen 19. Jahrhundert trotz der somatischen Forschung noch weitaus mehr als moralisches Laster verschrieen und wurde von den Psychikern erneut in diesem Sinn instrumentalisiert. Büchner hat dieses diskursiv mehrfach vernetzte heiße Eisen in seinem Text aufgegriffen, allerdings von seinem Protagonisten fern gehalten, wohl um dem von den Psychikern so stark gemachten Argument der Selbstverschuldung keinen Raum zu geben. Neben den bislang skizzierten mikrostrukturellen Umarbeitungen des Woyzeck-Stoffes sollen nun jene auf der Makroebene betrachtet werden, die sich dem Prozeß der Umarbeitung der Gutachtenprosa ins Dramatische verdanken. Auch in dieser Hinsicht kann von einer Ermächtigung der Woyzeck-Stimme gesprochen werden. Hier sind zunächst jene Veränderungen zu nennen, die dem Gebot dramatischer Prägnanz und Kürze folgen und insofern nur der Konzentration des umfangreichen biographischen Materials dienen, also nicht als gravierende Eingriffe anzusehen sind. Fast den Aristotelischen Zeitvorgaben für die Tragödie folgend – ein Sonnenumlauf – verkürzt Büchner, was sich im Leben Woyzecks innerhalb eines Jahrzehnts abspielt, auf die im Drama präsentierte Handlungszeit von wenigen Tagen und Stunden bis zum Mord. In Marie werden zwei Frauen aus Woyzecks Leben zusammengezogen, die Woostin, das Mordopfer, und eine frühere Geliebte, die Wienbergin, mit der Woyzeck zehn Jahre zuvor ein Kind hatte, die er heiraten wollte, jedoch aufgrund von Schwierigkeiten, die sich der Heirat während der Militärzeit in den Weg stellten, sitzen gelassen hat. Dies ereignete sich »vor und nach dem 30sten« Jahr, und auf diesen Vorfall datieren auch Woyzecks Symptome: »vollblütig«, »Spannung« in den Adern, »Stechen im Kopfe«, »schmerzhafte Zusammenziehung in der Gegend des Herzens« und ein »krampfhafter Schmerz in den Gliedern«,

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So berichten zwei ehemalige Geliebte, mehrere Zeugen und Woyzeck selbst von Schlägen, Mißhandlungen, einem Angriff mit einem Mauerstein, mit einer Tonscherbe, einem Treppensturz, vgl. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 83, 86, 90f., 103f., 124. Eine Nachbarin gibt zu Protokoll, Woyzeck sei »nur ein einziges Mal betrunken gewesen, wo er sehr viel gesprochen und erzählt habe, er habe selbigen Tages seine Geliebte geprügelt«; die Wienbergin gibt zu Protokoll, »daß er sich aber teils durch Eifersucht, teils durch Trunkenheit oft zu Härte und zu Tätlichkeit gegen sie habe verleiten lassen«, J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 90, 124. Auf dieses Bestreben haben aufmerksam gemacht G. Reuchlein, Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner, S. 69; S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 171.

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»auf welchen Herzklopfen, Angst, Schlagen in den Adern und Hitze im Kopfe gefolgt sei. […] Der Anfang dieser Zufälle habe sich gerade zu der Zeit ereignet, wo er zu Stralsund mit der Wienbergin Umgang gehabt und seine Gedanken immer auf die Vollziehung seiner Verbindung mit ihr gerichtet habe.« Woyzeck deutet in den Vernehmungen diese Episode als Auslöser seiner Erkrankung, seiner eskalierenden Zornausbrüche und »Menschenscheu«. »Der Gedanke an sein Kind und an diese von ihm verlassene Person sei ganz allein die Ursache seiner beständigen Unruhe geworden und dass er nie habe einig mit sich selbst werden können.«334 Wenn Büchner die ehemalige Geliebte und das Mordopfer in eine Figur zusammenzieht und seine Kunstfigur zur Handlungszeit im dreißigsten Jahr sein läßt, so setzt er die Deutung, die der historische Woyzeck seinem Leben und seiner Krankheit gibt, in konzentrierte dramatische Form um. Bereits hierdurch tritt das Dramenfragment in äußerste Spannung zum kommunikativen Gestus des Clarus-Gutachtens. Sind dort die Pro- und Contra-Argumentationen daran ausgerichtet, die in indirekter, in wenigen Fällen auch direkter Rede wiedergegebenen Äußerungen Woyzecks zu desavouieren, so werden sie mit der Kunstfigur Marie und der Handlungszeit zu Grundstrukturen des Dramas. Dies läßt sich als Ermächtigung der Woyzeck-Stimme lesen, die insofern vom Überbau der Gutachtenprosa befreit wird und nun wieder für sich selbst sprechen darf. Die Übersetzung der indirekten Rede der Erzählstimme des Clarus-Gutachtens in die Figurenrede des dramatischen Präsens ist ein weiteres ebenso einfaches wie effektives literarisches Mittel einer solchen Ermächtigung, und es entfaltet seine ganze Wirkung vor allem im Hinblick auf die Symptomsprache Woyzecks. Allein der Gattungswechsel von der Prosa des Clarus-Gutachtens zum Drama erzeugt eine Enthierarchisierung des Diskurses. Im ersten Teil des Gutachtens, bei Durchsicht der Akten und den Vernehmungen Woyzecks, beschränkt sich der Sprecher noch auf die Rolle eines Chronisten, bis auf wenige Erzählerkommentare ist das Geschehen also extern fokalisiert. Im zweiten Teil, der eigenen Stellungnahme wandelt sich die Perspektive der Rolle des Arztes gemäß zum auktorialen Standpunkt, von dem aus die Äußerungen Woyzecks als Falschaussage, als gedanklicher Irrtum und Aberglaube, jedoch als durchgängig zurechnungsfähige Rede kommentiert werden. In seiner Belehrung zu Beginn der Vernehmung hatte Clarus sich selbst als allwissende Entscheidungsinstanz über dessen Aussagen eingeführt: »Er selbst sei nicht imstande zu beurteilen, was für Folgerungen aus denselben gezogen werden könnten, und er möge daher wohl bedenken, daß eine Unwahrheit, mit der er sich vielleicht zu retten glaube, ebensogut zu seinem Verderben gereichen könne.«335 Ideler hatte in seinen Überlegungen den Fokus des Gerichtspsychiaters sehr deutlich als 334 335

J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 95ff. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 92.

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Übersicht beschrieben. Der »Arzt« muß »zur Beurtheilung« der Tat »den psychologischen Gesichtskreis des Thäters von einem übersichtlichen Standpunkte aus überschauen«,336 hieß es dort. Dem Gebrauchstext Gutachten entsprechend liegt hier eine klare Leserlenkung vor und der Text endet mit einer eindeutigen Diagnose. Neben dieser Expertenstimme findet sich im Vorwort des Gutachtens noch eine dritte Stimme, die an die allwissenden, moralisierenden Erzähler der Aufklärung erinnert und mit »Arbeitsscheu, Spiel, Trunkenheit«, »Geschlechtslust« und »schlechte Gesellschaft« auch die alten Krankheitsursachen des ›moral management‹ nennt. Diese Erzählhaltung und die genannten Ursachen lassen sich allerdings auch in das zeitgenössische moralische Krankheitsverständnis der Psychiker einreihen. Und es ist diese Erzählstimme, die die Theatermetaphorik vom öffentlichen Spektakel des »Blutgerüstes« ins Spiel bringt. Auch der Gattungswechsel findet also im Gutachten einen Anhaltspunkt, den Büchner auf vollkommen gegenläufige Art und Weise aufgreift. Es wird kein Schauer- und Rührstück geschrieben, das der Abschreckung und moralischen Läuterung des Publikums im Namen der »Heiligkeit des Gesetzes«337 dient, sondern eines, das die kommunikativen Mechanismen dieser verschiedenen Formen von Verurteilung zugleich ausstellt und unterläuft. Büchner tut dies, indem er die strukturellen Möglichkeiten der Gattung nutzt. Das Drama kennt keine vermittelnde Kommunikationsinstanz, keinen Erzähler, der den Autor im Text vertritt.338 Damit fällt die Hierarchie zwischen Erzähler- und Figurenrede weg, die Sprecher sind strukturell gleichberechtigt. Es liegt eine strukturelle kommunikative Gleichheit zwischen Woyzeck und den Experten im Drama vor, die gewahrt bleibt, obwohl in der konkreten Konfrontation mit Doktor, Professor und Hauptmann Gesprächs- und soziale Hierarchien in ihrer deformierenden Wirkung ausgestellt werden. Möglichkeiten der Gattung, so etwas wie ein Erzähleräquivalent einzuführen, die Spielleiterfiguren und Kommentatoren, werden von Büchner genutzt, jedoch so eigentümlich besetzt, daß sie ihre Funktion höchst widersinnig erfüllen. Zu nennen sind Andres, der Marktschreier, der Narr, die Handwerksburschen und die Großmutter, eventuell wäre auch der Gerichtsdiener noch in diesem Sinne ausgearbeitet worden. Sie alle teilen in ihrer Rede etwas mit, was in seinem Gehalt im inneren Kommunikationssystem auf der Bühne nicht aufgeht, sondern sich an die Zuschauer wendet, die gesamte Handlung reflek-

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K. W. Ideler, Einleitung, S. 47. Von somatischer Warte aus wird ebenfalls der Anschein von Allwissenheit gefordert: »Der Arzt lasse dem zu Untersuchenden nicht im Geringsten merken, dass er zweifelhaft oder ungewiss ist; er muss Alles schon zu wissen scheinen, um Alles zu erfahren«, J. B. Friedreich, Systematisches Handbuch der gerichtlichen Psychologie für Medicinalbeamte, Richter und Vertheidiger, S. 173f. J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 77f. Zum dramatischen Kommunikationsmodell im Unterschied zum narrativen immer noch maßgeblich ist M. Pfister, Das Drama, S. 20ff.

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tiert und kommentiert. In der Szene ›Freies Feld‹ singt Andres Verse aus dem Volkslied ›Welterfahrung‹, das von der Liebe, dem »Bei einander schlafen« und der letztlichen Trennung handelt, »Nun ade, herztausiger Schatz, / Jetzt komm ich nicht wieder!«,339 und damit bereits zu Beginn des Dramas das Ende präfiguriert. Die von Andres besungenen friedlich nebeneinander grasenden Hasen werden im weiteren Verlauf des Stückes mit einem anderen Volkslied assoziiert, ›Ein Jäger aus der Pfalz‹, womit auf den Umschlag von Liebe in Gewalt gedeutet ist. Der Marktschreier stimmt mit der »viehischen Vernunft« und den grotesken »Fortschritten der Civilisation« (I, 193) in die zentrale anthropologische Thematik des Dramas ein; der Narr und die Großmutter kommentieren die Handlung durch Märchenzitate.340 Diese Reden haben einen desillusionierenden Effekt, distanzieren den Zuschauer vom Bühnengeschehen und ermöglichen eine Haltung kritischer Reflexion. Sie bewirken damit das, was epische Mittel im modernen gleichnamigen Dramentypus hervorrufen sollen. Betrachtet man sich hingegen die Figuren, die hier als Spielleiter oder Erzähler fungieren, so verfehlen sie die üblichen Charakterisierungen dieser Position auf signifikante Weise: »der ›Darüberstehende‹«, »der Überschauer der Ereignisse«, »ein weiser Mann«, »der in ruhiger Besonnenheit das Geschehene übersieht«.341 Büchners Erzählfiguren stehen nicht über, sondern in mehrfachem Sinn abseits vom Geschehen. Es handelt sich nicht um sprachmächtige Individuen, die in Spielleitermanier etwa die anderen Figuren an Strippen bewegen, und auch die Erkenntnisfähigkeit eines bewußten Kommentars zum Geschehen muß ihnen abgesprochen werden. Das wird besonders an der als »Narr« bzw. in einer Handschrift auch als »Idiot« (I, 219) bezeichneten Figur deutlich. Der Marktschreier, der Narr und die Großmutter sind kulturgeschichtliche und literarische (Arche-)Typen, und ihre Rede ist – im Falle der beiden letztgenannten – keine individuelle, sondern eine dementsprechend kollektive Rede, sie zitieren Volksmärchen. Andres ist zwar durch seinen Eigennamen im Stück individualisiert, durch seine Sprachohnmacht ist jedoch auch er auf eine kollektive Rede, die Volkslieder als beinahe einzigem Ausdrucksmittel angewiesen. Seine Repliken auf Woyzecks Äußerungen lassen sich nur selten sinnvoll im inneren Kommunikationssystem des Dramas deuten, sondern machen erst in der Wendung an das Publikum Sinn. Er teilt Woyzecks soziale Lage bis in die Bettgenossenschaft hinein und ist die einzige Bezugsfigur, nachdem die Beziehung zu Marie durch die Tambour-Episode gestört ist. Für die Figur des Andres gibt es im ClarusGutachten zwei Anhaltspunkte. Einmal wird ein Stiefbruder genannt, mit dem 339 340 341

Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 14. Vgl. I, 744 (Kommentar). Vgl. I, 185, 187, 216. M. Kesting, Das epische Theater, S. 48f. Mit dem ›weisen Mann‹ zitiert Kesting Goethes Beschreibung des Rhapsoden in ›Über epische und dramatische Dichtung‹.

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Woyzeck eine Zeit lang durch die Lande reiste. Zum anderen wird erwähnt, daß er, während er darauf hoffte, als Stadtsoldat Arbeit zu finden, mit einem »Tambour Vitzthum einige Wochen lang in einem Bette geschlafen«342 habe. Die Großmutter gehört nicht allein zum Genre des Märchens, sondern sie kann auch als geschlechtliches Gegenbild zu dem oben genannten ›weisen Mann‹ gesehen werden, den Goethe als Rhapsoden zeichnete. Darüber hinaus ist sie Derivat der Großfamilie und damit einer vergangenen sozialen Ordnung, die bereits im 18. Jahrhundert Auflösungserscheinungen zeigte. Ihre Präsenz im Text erinnert an diesen Schwund und unterstreicht so deutlich die Bindungslosigkeit Woyzecks, dem im Verlauf des Stücks auch noch seine unbürgerliche Kleinfamilie zerbricht. Die Zitation von Texten mit kollektiver Autorschaft – neben Märchen und Volkslied ist als drittes die Bibel zu nennen, die hauptsächlich Marie und Woyzeck Worte bietet, wo die eigene Sprache versagt – verweist in ihrer epischen Funktion nicht nur auf das moderne Drama Bertolt Brechts voraus, sondern kann auch als Reaktivierung des Chors der antiken griechischen Tragödie verstanden werden.343 Die genannten Erzählfiguren sind so etwas wie Woyzecks erweiterte Familie, auf die ein oder andere Weise sind sie ihm jedenfalls verwandt. Es handelt sich um Vertreter und Vertreterinnen aus gesellschaftlichen Randgruppen, die von einer ungesicherten Sprecherposition aus abseitige Reden führen. In Büchners Drama haben sie die Funktion als eine Art Chor die Woyzeck-Stimme zu flankieren und in einem gewissen Sinn auch zu legitimieren. Sie gehören zu den Ermächtigungsstrategien des Textes. Wenn es die Stimme des Narren ist, die das vermittelnde Kommunikationssystem u.a. trägt und in der mithin Interpretamente für die gesamte Dramenhandlung zu finden sind, so stützt dies auch die Stimme Woyzecks.344 Es handelt sich mit Foucault gesprochen um ein Sichtbarmachen »disqualifizierte[r] Wissensarten«345 und um ein Hörbarmachen an den Rand gedrängter Sprecherpositionen.

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J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 88f. Zum Stiefbruder vgl. ebd., S. 83. Die gegensätzliche Einschätzung der Zitation dieses Textkorpus in der Forschung, einerseits Ausdruck der Sprachohnmacht und refrainartige Ideologisierung des einfachen Volkes, vgl. etwa H. Müller-Sievers, Desorientierung, S. 138ff., andererseits Sprachermächtigung und chorische Funktion, vgl. N. Abels, Die Ästhetik des Pathologischen, S. 619; S. Kubik, Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners, S. 171, wäre jeweils im Hinblick auf einzelne Szenen und für das innere oder äußere dramatische Kommunikationssystem zu spezifizieren. Auch in diesem Fall entzieht sich Büchners ›Woyzeck‹ dem Pauschalurteil. In älteren Editionen findet sich als eine Lesart der schwer entzifferbaren Zeile in Szene 2,3 noch die Wendung »Narr von Verstand« (I, 783). M. Foucault, Dispositive der Macht, S. 60.

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IV.3.2. Büchners realistische Ästhetik Der Naturwissenschaftler Georg Büchners macht in seinem Drama, wie gezeigt wurde, vor der satirischen Kritik seiner Zunft keinen Halt und entblößt in Doktor und Professor den gefährlichen Kern der modernen Wissenschaften. Ähnliches ließe sich in bezug auf den Schriftsteller Büchner sagen, denn auch die Literatur, spezifischer noch die Tragödie und die kritische Reflexion ästhetischer Urteile werden in ›Woyzeck‹ verhandelt. Die Äußerung am Ende des Stücks »Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schön Mord« (I, 189) verweist darauf. Die über Maries Leiche vom Gerichtsdiener gesprochenen Worte erinnern wohl nicht von ungefähr an das Kunstideal der Weimarer Klassik und an Goethes aus Anlaß von Schillers Tod verfertigten ›Epilog zu Schillers Glocke‹: »Indessen schritt sein Geist gewaltig fort / Ins Ewige des Wahren, Guten, Schönen, / und hinter ihm, in wesenlosem Scheine, / Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.« (HA 1, 257) Das Hehre und das Gemeine gehen in der Rede des Gerichtsdieners wie auch im gesamten Drama Büchners eine eigentümliche Verbindung ein. Der abschließende Kurzschluß von Mordkommission und Kunstideal läßt sich in zweifacher Hinsicht auslegen, zum einen in Richtung auf eine Dekonstruktion des Tragischen, zum anderen als Reaktion auf die unheilige Allianz von ästhetischem Pathos und Hinrichtung, die insbesondere im Vorwort von Clarus’ Gutachten aufscheint. Mit der Formel vom guten, wahren und schönen Mord beleuchtet Büchners Drama an seinem Ende die konstitutive Funktion des Todes in der Tragödie. Erst mit dem Tod des oder der Protagonisten ist eine Handlung wirklich abgeschlossen, so die normative Auslegung von Aristoteles’ ›Poetik‹ im sogenannten Ausgangskriterium.346 Nach Martin Opitz handelt die Tragödie also von »Todtschlaegen / verzweiffelungen / Kinder- vnd Vaetermoerden / brande / blutschanden / kriege vnd auffruhr / klagen / heulen / seuffzen vnd dergleichen«.347 Das skandalon des ästhetischen Genusses angesichts von Mord und Totschlag, die Lust an eleos und phobos wird sowohl in Opitz’ Aufzählung als auch in Büchners Rede vom schönen Mord präsent gehalten. Die vielfachen Vorausdeutungen des Endes im Drama meinen so nicht nur das persönliche Schicksal, sondern weisen auf die Struktur des Tragischen. Auf der Bühne »da rollt Abends der Kopf« und »es weiß niemand, wer sein Kopf drauf lege wird« auf »die Hobelspän« (I, 202, 217). Das seit der Antike bestehende dramatische Paradox, daß in der Kombination von Stände- und Ausgangskriterium, die

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Aristoteles’ Rede, die Tragödie sei »die Nachahmung einer in sich geschlossenen und ganzen Handlung« mit »Anfang, Mitte und Ende«, wobei unter Ende zu verstehen sei, daß »nach ihm nichts anderes mehr eintritt«, wurde in der Folge mit dem Tod der Hauptfiguren gleichgesetzt, Poetik, S. 25. Siehe hierzu die Diskussion bei Gustav Freytag, Die Technik des Dramas, Neubearbeitung, S. 112ff. M. Optiz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 30.

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Komödie vom Glück der »gemeinen Leute«, die Tragödie aber vom Unglück der »Königliche[n]«348 handelt, löst Büchner wie in der Forschung bereits vielfach festgehalten wurde, tragikomisch. Indem eine Person des vierten Standes zum tragischen Helden avanciert, wird Woyzeck ästhetisch aufgewertet. Nicht ohne jedoch in diesem Vorgang die ästhetischen Konventionen fraglich werden zu lassen, nach denen es das (ganz alltägliche) Unglück eines gemeinen Menschen ist, was zur ästhetischen Aufwertung führt. Büchners ›Woyzeck‹ ist in dieser Hinsicht eine dramatische Parallelaktion zur Tragikomödie ›Leonce und Lena‹, die vom Glück der Adeligen handelt. Mit der Bevölkerung der dramatischen Bühne mit gemeinen und, wie gezeigt werden konnte, kranken Leuten subvertiert das Stück allerdings nicht nur die Ständeklausel, sondern auch das mit ihr zusammenhängende Moralitätskriterium. Aristoteles’ Wendung, »die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen«,349 ist literargeschichtlich zwar vorrangig ständisch ausgelegt worden, war jedoch moralisch gemeint. In der Schlußwendung vom ›guten Mord‹ ist der ganze Zynismus des traditionellen tragischen moralischen Urteils festgehalten. Diese ständische Moral der Tragödie, die den guten mit dem herrschenden und reichen Menschen gleichgesetzt hat, nimmt Büchners Drama ins Visier. Hier ist der gemeine der bessere, der mitleidsfähige und mitleidswürdige Mensch. Auf dieser Ebene liest sich die Rasierszene nicht allein als eine Verhandlung über Fragen gesellschaftlicher, sondern auch ästhetischer Gerechtigkeit. Man hat fast den Eindruck, als ginge Büchner an die Ursprünge dramatischer Normierung zurück und wäge die Begriffe neu, wenn Woyzeck in 3,5 vom bessergestellten Vorgesetzten – einem Herrschenden – als »guter Mensch« (I, 206f.) bezeichnet wird und performativ vollzieht, was nach Aristoteles Merkmal des ethos eines tragischen Helden zu sein habe: Tüchtigkeit. Tüchtig ist in der ›Poetik‹ allerdings nicht im Sinne von arbeitsam gemeint, sondern an Herrschaftsverhältnisse gekoppelt. Je mehr Macht ein Mensch hat, desto tüchtiger ist er. Darum werden Frauen und Sklaven aus dem tragischen Fach ausgeschlossen: »allerdings ist ja wohl die Frau im allgemeinen unterlegen, und der Sklave vollauf untüchtig.«350 Die Macht- als eine genuin ästhetische Frage verhandelt Büchners Drama mit umgekehrten Vorzeichen. Der gemeine, überarbeitete, körperlich und geistig desolate, absolut ohnmächtige Mensch wird der tragischen Behandlung und tragischer Wirkung fähig, während die untätigen Herrschenden, in der Rasierszene konkret der das Laster der acedia verkörpernde Hauptmann, der satirischen Behandlung und dem Verlachen der Komödie ausgesetzt werden. Mit dem Geld benennt Woyzeck in 3,5 nicht nur die materiellen Rahmenbedingungen moralischen

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M. Optiz, Buch von der Deutschen Poeterey, S. 30. Aristoteles, Poetik, S. 9. Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 47, und siehe die Erläuterungen S. 121.

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Verhaltens im Generellen, sondern deckt auch die Kriterien der ästhetischen Zuschreibung von Moralität auf. Das zentrale Stichwort: »Es muß was Schöns seyn um die Tugend«, fällt jedenfalls und der der Tragödie eigene mit Ständeklausel und Moralitätskriterium zusammenhängende hohe Ton, »und könnt vornehm reden« (I, 207), wird ebenfalls erwähnt. Nach dem schönen und guten Mord läßt sich auch der wahre Mord auf Aristoteles’ Bestimmung des Tragischen zurückbeziehen, erfüllt sich das Kriterium der Wahrscheinlichkeit bei der Tragödie doch dadurch, daß sich »die Dichter an die Namen von Personen [halten], die wirklich gelebt haben.«351 Ein solch widerständiger Umgang mit Normierungen des Dramas läßt sich auch im Hinblick auf die Theorie von den drei Einheiten beobachten. ›Woyzeck‹ ist zwar als Prototyp der modernen offenen Form des Dramas vorgestellt worden,352 vielfach übersehen hat man dabei allerdings, daß sich diese Offenheit erst in bestimmter Negation zur klassisch geschlossenen Form konstituiert. Burghard Dedner hat auf die beinahe aristotelisch streng eingehaltene Einheit der Zeit in Büchners Stück aufmerksam gemacht.353 Die Handlungszeit umfaßt nicht mehr als zwei bis drei Tage und die einzelnen Szenen erscheinen fast lückenlos gefugt. So gemahnt z.B. in der Szenenfolge 3,1–2 dasselbe Geräusch, der Zapfenstreich, die Figuren auf dem Feld und jene in der Stadt an die Zeit. Diese Aufdringlichkeit der Zeit in ›Woyzeck‹, durch den militärischen Drill, durch die Uhr des Tambourmajors, durch Woyzecks Hetze und des Doktors Eile sowie die diesbezüglichen Sprechakte des Hauptmanns, bewirkt jedoch eine anti-klassische moderne Einheit der Zeit, indem diese in Gestalt der revolutionsartigen Beschleunigung der Moderne selbst zum Zentrum des Textes wird. Eine solche Zeit erlaubt keine Geschichtserzählung mehr, sondern läßt sich nur noch im oben skizzierten stakkato- und montagehaften Geschichtenerzählen der einzelnen Szenen vermitteln. Der in ›Woyzeck‹ praktizierte anatomische und vergleichende Blick, die genetische Darstellung richtet sich also nicht allein auf Personen und naturwissenschaftliche Diskurse, die in ihre Einzelteile zerlegt und rekombiniert werden, sondern ebenso auf die Literatur- und Gattungsgeschichte der Zurschaustellung. Neben klassischen Bestimmungen des Tragischen lassen sich in Abbreviatur anführen: ein in der Jahrmarktsszene durch die Schaustellerbude indiziertes »Gegentheater«354 von unten; die typenhafte Zeichnung der Nebenfiguren erinnert sowohl an die Commedia dell’arte als auch an frühneuzeitliche (oder aufklärerische) Lastersatiren; Shakespeares Theater; das durch intertextuelle Verweise auf Lenz’ ›Soldaten‹ und auf Goethes ›Faust‹ im Text präsente

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Aristoteles, Poetik, S. 31. Vgl. V. Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama. B. Dedner, Nachwort, v.a. S. 201–206; Dedner, Die Handlung des ›Woyzeck‹. G. Oesterle, Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 216.

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Drama des Sturm und Drang und das sich teilweise mit den genannten Stükken überlappende bürgerliche Trauerspiel.355 Büchners Figuren sind nicht nur Schnittpunkte vielfältiger medizinischer, wissenschaftlicher und philosophischer Geschichten, sie haben auch eine lange literarische Tradition hinter sich. Im Falle der Protagonisten fungiert deren Name diesbezüglich als intertextueller Marker. Bei der weiblichen Hauptfigur verbinden sie ihre in den Entwürfen einander ablösenden Vornamen: Magreth in H 1, Louise in H 2, Marie in H 3, mit Goethes Gretchen, Schillers Louise Millerin sowie Ludwig Tiecks Louise aus ›Der Abschied‹, schließlich mit Marie aus Lenz’ ›Soldaten‹. Der Nachname Zickwolf ist eine chiastische Wiederholung des zweisilbigen Woyzeck und verweist auch in seinem Wortgehalt: Zicklein und Wolf, auf das austauschund verkehrbare der im Text präsentierten Opfer-Täter-Verhältnisse. Mit dem Nachnamen Woyzeck referiert Büchners Kunstfigur auf die historische Person und das Textkorpus der psychiatrisch-forensischen Debatte.356 Die Vornamen, in H 1 Louis, in H 2 und 3 Franz, und die bewußte Abtrennung des Vornamens von Johann Christian Woyzeck – in Büchners Stück geht Christian auf das Kind über – darf als Mittel verstanden werden, um auf der Kluft zwischen der historisch überlieferten Person und der Kunstfigur zu beharren. Mit den Jahrmarktsszenen und ›Der Hof des Professors‹ zeigt das Drama zwei Momente der Zurschaustellung: einen karnevalesk-ästhetischen, der im vorangehenden unter dem anthropologischen Gesichtspunkt des Heraufdeklinierens vom Tier zum Mensch betrachtet wurde, und einen medizinisch-wissenschaftlichen, der umgekehrt das Herunterdeklinieren vom Mensch zum Tier zeigt. Ästhetische und wissenschaftliche Repräsentation treten so in Büchners Stück in Analogie und Konkurrenz. Beide vollziehen sich im öffentlichen Raum, beide schärfen als Spiel im Spiel die Aufmerksamkeit für Akte des Zeigens und die sinnesphysiologische Wahrnehmung: »Sehn sie«, »Lern Sie«, »Fragen sie den Arzt«, »sehn sie der Mensch«, »fühlen sie meine Herrn fühlen sie« (I, 178, 218f.). Mit dieser Engführung der Repräsentationsweisen reagiert ›Woyzeck‹ kritisch auf diskursive Übergriffe, die als Signum der Naturwissenschaften im frühen 19. Jahrhundert im Allgemeinen, der Woyzeck-Debatte im Besonderen gelten können. Die Anleihen bei Theologie und Philosophie der Psychiker wurden anhand von Heinroth vorgestellt und auch die im Vorwort des Clarus’ Gutachten reaktivierte Besserungsästhetik wurde bereits erwähnt. Dieses Vorwort lohnt noch einmal einen Blick, spricht der Autor dort doch seinem Text eine Vieldeutigkeit zu, die bislang der Kunst vorbehalten war. Das »wichtige Aktenstück« wendet sich an »gebildete Leser«, »Psychologen«, »Rechtsgelehrte«, den

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Zu den literarischen intertextuellen und Gattungsbezügen siehe: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 119, 225–251; I. Oesterle, Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Vgl. R. Campe, Johann Christian Woyzeck.

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»Gerichtsarzt« und schließlich an »Alle Leser aller Stände«, die das Spektakel des Blutgerüsts und der gutachterliche Begleittext daran gemahnen sollen: »Besser zu sein, damit es besser werde.«357 Indem bei Büchner der Gerichtsdiener die Wendung vom ›wahren, guten, schönen Mord‹ bringt, ist die Anmaßung der Forensik, die in ihren Urteilen die Wahrheit der Wissenschaft, moralische Dignität und die Wirkungsweise der Kunst für sich bemüht, auf den Punkt gebracht. Diskursive Grenzüberschreitungen sind das Merkmal der WoyzeckDebatte und der in ihr involvierten Wissenschaften. Büchners Interdiskursivität reagiert kritisch hierauf, indem die Bedingungen dieser Auseinandersetzung, ihre Geschichten, Akteure und Codes, die konkreten leibseelischen Sprechakte und ihre sozialen, ethischen Konsequenzen zur Darstellung kommen. Auf die im frühen 19. Jahrhundert sich abzeichnende Ästhetisierung von (natur-)wissenschaftlichen Diskursen, die sich besonders unheilvoll an Clarus’ Vorwort zeigt, reagiert Büchner mit einer Naturalisierung der Ästhetik, die auf ihre materiellen sowie körperlich-geistigen einfachsten Grundlagen zurückgeführt wird. Ausgehend von der Rede des Gerichtsdieners vom ›wahren Mord‹ lassen sich die Grundzüge von Büchners realistischer Ästhetik zeichnen. Durch die Verwendung des Namens Woyzeck erhält Büchners Drama Glaubwürdigkeit, denn – so schon Aristoteles – »das Mögliche [ist] auch glaubwürdig«; und es referiert zugleich auf den Modus, in dem Wirklichkeit strukturiert und überliefert ist. In Aristoteles’ ›Poetik‹ ist es der Mythos, im Falle Büchners das durch den Namen Woyzeck zusammengehaltene Textkorpus. Das Reale vollzieht sich in leibseelischen Sprechakten, die historisch-sozial bestimmt sind, und es tradiert sich nur in Geschichten, etwa in den Gutachten der Gerichtsarchive, anstatt in der Geschichte. Das in Büchners Werk durchgängig praktizierte intertextuelle Verfahren tritt so nicht in Gegensatz zu seiner vielfach proklamierten realistischen Ästhetik, sondern ist deren grundlegende Technik. Die Zeichenhaftigkeit der Welt muß für Natur und Kultur gleichermaßen eingerechnet werden, das war eine Erkenntnis, die die Naturphilosophie den Naturwissenschaften mitgegeben hatte. Nicht erst in der Sphäre des Menschen, sondern bereits in der Natur sind Zeichen, Formen, Typen, ist Ordnung und gesetzmäßige Entwicklung zu finden. Der Büchner der Probevorlesung formulierte es so: »Die Natur ist groß und reich, […] weil sie nach dem einfachsten Plane die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.« (II, 583f.) Im dramatischen Modus hält Woyzeck diese Einsicht präsent: »Habe Sie schon die Ringe von den Schwämm auf dem Bode gesehe, lange Lini, + Kreise, Figurn, da steckt’s! da! Wer das lesen könnte.« (I, 196)358 Als Zeichenleser und als

357 358

J. C. A. Clarus, Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck, S. 77, 79. Vgl. I, 210. Die Kommentare verweisen bei diesen Formulierungen zu Recht auf die romantische Naturphilosophie, auf Novalis’ Chiffrenschrift der Natur und Ludwig Tieck. Siehe: Erläuterungen und Dokumente. Georg Büchner Woyzeck. Hrsg. von B. Dedner, S. 99; I, 763.

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Zeichenschaffender ist der Mensch Bestandteil des Naturprozesses. Einfachste natürliche Verrichtungen gehören in den Rahmen einer kontinuierlichen natürlich-kulturellen Semiose. Insbesondere der überarbeitete Entwurf der Doktor-Szene macht diesen Gradualismus deutlich, indem Pissen, Niesen und Essen in der Sphäre von »Wort«-Bruch, Moral, ökonomischem Tauschhandel, natürlichem Bedürfnis und Willensfreiheit, von »Character« und »Structur«, von »auf die Wand pissen« und »schriftlich[em] Akkord« (I, 209f.) verhandelt werden. Büchners Drama führt in diesem Vorgang einer Re-Naturierung der Kultur das Menschsein auf die grundlegendsten Lebensvollzüge zurück: Essen und Trinken, Sexualität und Fortpflanzung, leibseelische Ausdrucksakte und Abwehrmechanismen. Ästhetik erscheint wieder als Fundamentallehre sinnlicher Wahrnehmung: Hören, Sehen, Riechen, Tasten und Schmecken erlangen in ›Woyzeck‹ außergewöhnliche dramatische Präsenz. Im besonderen sind es die Übergänge zwischen Leib und Seele, die psychosomatischen Zustände, die hier interessieren. In seiner naturwissenschaftlichen Arbeit analysiert Georg Büchner diese Übergänge im Zusammenspiel von vegetativem und animalem Nervensystem, in der Analogie von Hirn- und Spinalnerven, durch die Akte der Verdauung, Zeugung, Atmung und Sprache miteinander verbunden werden. In seiner Philosophie-Vorlesung hat Büchner diesen Erfahrungsbereich, der sich jenseits von Descartes’ Dualismus von res cogitans und res extensa eröffnet, begrifflich skizziert: »Doch erfahren wir in uns noch Manches, was sich weder auf den Körper, noch die denkende Substanz allein bezieht und aus der innigen Vereinigung von beiden entspringt, als Appetit, Hunger, Durst, Gemütsbewegungen, die nicht bloß im Denken bestehen, als die Bewegung zur Freude, Traurigkeit, Liebe, endlich alle Empfindungen, als des Schmerzes, Kitzels, des Lichts, der Farben, Töne, Gerüche e.c.t.« (II, 208) Im ›Woyzeck‹ schließlich werden diese leibseelischen Erfahrungen nicht nur literarisch gestaltet, sondern sie sind durch die eingearbeiteten philosophischen und naturwissenschaftlichen Kontexte auch in ihrer historisch-sozialen Strukturiertheit erkennbar. Die naturwissenschaftliche Kontextualisierung zeigt, inwiefern das Leben in seinen einfachsten Vollzügen diskursiv bestimmt ist. Durch das Ernährungsexperiment und durch die Problematisierung von Alkoholismus, Apoplexie, Manie ohne Delirium, Ausscheidungs- und Ausdrucksfunktionen erhält die zeitgenössische physiologische und psychiatrische Forschung Eingang ins Stück und zeigt ihre praktischen Folgen. Die umfassende bio-psycho-soziale Manipulierbarkeit des Lebens gewinnt als prägendes Charakteristikum der Moderne Gestalt. Im ›Woyzeck‹ werden dabei systematisch Diskursschnittstellen herausgearbeitet: etwa zwischen Religion, Sexualmoral, Kirchen- sowie Militärrecht und Ökonomie wie in der Rasierszene oder zwischen Philosophie, Psychiatrie und Physiologie, wie in der Professor- und den Doktor-Szenen. Im Vordergrund der Darstellung steht jeweils das oft widersprüchliche Praktischwerden von Wissensarten: der religiösen Ethik im Kirchenrecht oder in einer die sozi300

ale Ungleichheit bemäntelnden Leidenstheologie; der Willensfreiheit in dem grotesk überzogenen, auch die organische Erkrankung noch einrechnenden Theorem der Selbstverschuldung der Psychiker; somatischer Grundannahmen in Versuchszenarien. Mit dieser Eigenart wiederholt Büchners Drama das Charakteristikum seines Prätextes, des Clarus-Gutachtens bzw. umfassender des Woyzeck-Diskurses. In diesem gehen juristische Fragestellungen zur Zurechnungsfähigkeit, Psychiatrie, Physiologie, Moral, Theologie und Ästhetik eine eigentümliche Mischung ein. Im Hinblick auf die diskursive Vielfalt seines Materials verhält sich Büchners Text fast wissenschaftlich-ordnend. Die spezialisierte Forschung wird wie gesagt auf alltägliche Lebensvollzüge konzentriert und an diesen exemplifiziert: Essen, Trinken, Sexualität, Abwehr, Ausdruck. Die Häufung der Erklärungsmuster für die Tat des historischen Woyzeck wird durch die Ausweitung des pathologischen Feldes im Drama gleichsam entwirrt, so wird etwa der Alkoholismus von diesem abgetrennt und auf eine andere Figurengruppe verschoben. Auch das in der 1820er Jahren noch fehlende nervenphysiologische Wissen wird im Drama durch Verweise auf die neueste reflextheoretische Forschung ergänzt. Überhaupt zeigt das in den 30er Jahren entstehende, für das ganze 19. Jahrhundert so prägende Reflexparadigma seine diskursiven Stärken schon in Büchners Drama, insofern es die zentralen binären Oppositionen der Zeit miteinander verbinden kann und das Medium ihres Austauschs darstellt: Tier und Mensch, Körper und Seele, Passivität und Aktivität, Determinismus und Willensfreiheit. Der Zusammenhang dieser Begriffe ließ sich reflextheoretisch umformulieren, was sich auch in Wilhelm Griesingers auf die 30er Jahre zurückblickenden Äußerung dokumentiert, die »Hauptgegensätze, die auf dem Grund der Untersuchungen über Reflexactionen lagen«, seien: »Passive Reception oder Empfindung – automatische Reaction oder Willkühr – Mechanismus oder psychische Freiheit«.359 Ein Merkmal des Woyzeck-Materials wird durch Georg Büchners Umformung allerdings in besonderer Weise zu Bewußtsein gebracht: Zeichen und Schrift schneiden ins Fleisch und haben (potentiell) letale Konsequenzen. Diesen pragmatischen Zusammenhang von Gutachten und Urteil, den Clarus’ Schrift durch die Besserungsästhetik zu verdecken sucht, stellt ›Woyzeck‹ prägnant aus. Und mit den im vorangehenden skizzierten Momenten der Ästhetikkritik weitet Georg Büchners diskurspolitische Arbeit diesen Befund noch aus, indem nicht nur die Pragmatisierung des Guten, Wahren und Schönen in Forensik, Psychiatrie und Naturwissenschaften des frühen 19. Jahrhunderts der Kritik unterzogen wird, sondern auch die ästhetische Funktionalisierung des Todes und die formierende oder deformierende Prägekraft der Hochkultur.

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W. Griesinger, Ueber psychische Reflexactionen, S. 82.

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Das Dramenfragment ›Woyzeck‹ rückt auch die Rede vom Schönen des Naturwissenschaftlers Büchner in ein Zweilicht. »Das Enthüllen der schönsten und reinsten Formen im Menschen, die Vollkommenheit der edelsten Organe, in denen die Psyche fast den Stoff zu durchbrechen« scheint, wird in seiner Probevorlesung ›Über Schädelnerven‹ als Anliegen der philosophischen bzw. genetischen Methode benannt und mit den Namen Lavater und Goethe in Zusammenhang gebracht. Schönheit, Vollkommenheit und Selbstzweckhaftigkeit soll nun die Naturbetrachtung an ihrem Gegenstand entdecken, und damit alle Attribute, die die klassische Autonomieästhetik dem Kunstwerk zuschrieb. »Die Natur handelt nicht nach Zwecken […]; sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da.«360 Demgegenüber beurteilt die mit England und Frankreich in Beziehung gebrachte »teleologische« Schule das Dasein nach seiner »größtmöglichsten Zweckmäßigkeit«: »Sie kennt das Individuum nur als etwas, das einen Zweck außer sich erreichen soll, und nur in seiner Bestrebung, sich der Außenwelt gegenüber teils als Individuum, teils als Art zu behaupten.« (II, 157f.) Diese offensichtlich ästhetischen und ethischen Anklänge, die zur Differenzierung naturwissenschaftlicher Methodik hier herangezogen werden, sind in mehrfacher Hinsicht irritierend. Zum einen erscheint das ›Enthüllen schönster, reinster, edelster Formen im Menschen‹ als Selbstbeschreibung für Büchners eigenes Verfahren – man erinnere sich an die Schilderung von Vivisektionen in der Dissertation, wo mit dem Skalpell an Fischen die einfachsten Formen der Nerven entblößt wurden – als ein ebenso kruder Euphemismus wie des Gerichtsdieners Rede vom schönen, wahren und guten Mord. In beiden Fällen verschleiert der schöne Schein im nachträglichen Kommentar zum Geschehen die tatsächlichen Gewaltverhältnisse. Zum anderen verwendet Büchner eine ästhetische Begrifflichkeit, die sich sonst nicht in seinen Texten findet und die, zur Beunruhigung der Büchner-Forschung,361 ganz deutlich auf die klassische Weimarer Autonomieästhetik oder die idealistische Naturphilosophie verweist. In diesem Denken scheint ein ästhetisch-ethischer Anspruch geborgen zu sein, auf den auch Büchners Realismus nicht verzichten kann. Im vergleichenden Blick auf die ästhetisch-ethische Diktion der Probevorlesung und die naturwissenschaftliche

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361

Hierbei handelt es sich um eine markant verkürzte Spinoza-Paraphrase aus dessen ›Ethik‹, die Büchner in seiner Philosophie-Vorlesung vorgetragen hat. Die Selbstgenügsamkeit ist dort Attribut der Substanz: »Alles was ist, ist entweder in sich oder in etwas anderm. Das was in sich ist, kann nur durch sich selbst begriffen werden, es ist der Grund seiner selbst, sein Wesen involviert Dasein.« II, 295, vgl. G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 39. Vgl. etwa den Kommentar von Poschmann I, 913ff., oder Döhners Irritation angesichts der Tatsache, daß Büchner in der Probevorlesung die moderne wissenschaftliche rein kausale Erklärung als teleologisch ablehnt, hingegen für eine Metaphysik im Sinne idealistischer Naturphilosophie optiert, vgl. O. Döhner, Georg Büchners Naturauffassung S. 98; G. P. Knapp, Georg Büchner, S. 39f.

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Diktion des Dramas ›Wozyeck‹ lassen sich abschließend die Grundzüge von Georg Büchners contraintuitiven und contrafaktischen Realismus skizzieren. Als eine der Grundeinsichten dieses Realismus darf jene in die Einheit von Leben und Erkennen gelten. In der Probevorlesung drückt sich dies in einer Formulierung aus, der zufolge das Dasein selbst ein Ausdrucksgeschehen ist, ein geordneter, geformter Produktionsprozeß. Das »Grundgesetze für die gesamte Organisation« lautet, »das ganze körperliche Dasein des Individuums« ist »die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt.« Und die menschliche ordnende wissenschaftliche Tätigkeit ist in diesen Formierungsprozeß der Natur einbezogen. Durch die »Botanik und Zoologie, die Physiologie und vergleichende Anatomie«, in »einem ungeheuren, durch den Fleiß von Jahrhunderten zusammengeschleppten Material, das kaum unter die Ordnung eines Kataloges gebracht war, bildeten sich einfache, natürliche Gruppen; ein Gewirr seltsamer Formen unter den abenteuerlichsten Namen, löste sich im schönsten Ebenmaß auf; eine Masse Dinge, die sonst nur als getrennte, weit auseinander liegende facta das Gedächtnis beschwerten, rückten zusammen, entwickelten sich auseinander oder stellten sich in Gegensätzen gegenüber.« (II, 158f.) Diese Einsicht in die Homologie von Naturentstehung und -betrachtung datiert auf Goethes Morphologie zurück und hat u.a. in seinem Lehrgedicht im Gedanken einer »beweglicher Ordnung« des Lebens und des menschlichen Begreifens Ausdruck gefunden: »Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig, / Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich auffschwang, / Nachzudenken.« (WA II/8, 60) Und aus dieser Auffassung einer natura naturans entwickelt sich folgerichtig ein Darstellungsproblem, das »wissenschaftliche[s] Verlangen« und »Kunst- und Nachahmungstriebe« gleichermaßen betrifft. Denn soll die Natur als bewegte Ordnung abgebildet werden, »nirgend ein Bestehendes, nirgend ein Ruhendes, ein Abgeschlossenes«, so haben wir uns, »wenn wir einigermaßen zum lebendigen Anschaun der Natur gelangen wollen, selbst so beweglich und bildsam zu erhalten, nach dem Beispiel mit dem sie uns vorgeht.« (HA 13, 55f.) In Georg Büchners Drama ist es Woyzeck, der explizit an die natura naturans und ihre ästhetischen Prozesse erinnert. In diesem Vorgang, wie in 3,8 gezeigt, entwickelt er auch Züge einer wissenschaftlichen Methodik, die mit der Selbstimplikation des Wissenschaftlers in die Naturprozesse jener in der Probevorlesung philosophisch bzw. genetisch genannten Richtung zuzurechnen wäre; während der Doktor mit der restlosen Verwertung seiner Patienten, nach dem Tod noch im Präparat, gerade in Reinkultur die dort apostrophierte ›größtmöglichste Zweckmäßigkeit‹ der teleologischen Schule verkörpert. Die Teleologie bleibt im Drama allerdings nicht auf eine naturwissenschaftliche Methode beschränkt, sondern erscheint als Ideologie der modernen Lebenswelt schlechthin, die am casus Woyzeck in seiner Indienstnahme durch die totalen 303

Institutionen Militär, Medizin und Justiz, aber auch durch die Kunst, leibseelisch durchexerziert wird. Diese neue Religion des anbrechenden industriellen und naturwissenschaftlichen Zeitalters bringt die Predigt des Handwerksburschen sprachlich auf den Punkt: »Warum ist der Mensch? – Aber wahrlich ich sage Euch, von was hätte der Landmann, der Weißbinder, der Schuster, der Arzt leben sollen, wenn Gott den Menschen nicht gschaffen hätte?« (I, 213). Contrafaktisch ist die realistische Ästhetik von Büchners ›Woyzeck‹, weil sie sich zu dieser nachgezeichneten Wirklichkeit kritisch verhält. Das ästhetischethische Postulat der Probevorlesung ›Alles was ist, ist um seiner selbst willen da‹ ist im Drama nicht nur per negationem anwesend, sondern es übersetzt sich auch in mikro- und makrostrukturelle Textstrategien, die in signifikanter Abweichung vom vorangehenden Woyzeck-Diskurs eine Ermächtigung der Woyzeck-Stimme ermöglichen sowie umfassender jene vergessener, an den Rand gedrängter Lebensformen und Wissensformationen. Die genetische Methode des Dramas erinnert historisch Unabgegoltenes, gesellschaftlich nicht Realisiertes, von dem aus sich die Konturen der gesellschaftlichen Wirklichkeit besonders scharf abzeichnen. Die eingenommene ästhetische Perspektive gründet dabei auf einer ethischen Entscheidung, wie dies die Formulierung aus dem Kunstgespräch in ›Lenz‹ besonders klar und vorausweisend auf ›Woyzeck‹ ausspricht: »Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel« (I, 234). In dieser Hinsicht schließt Büchner an den ›Realismus‹ des Sturm und Drang, an Herders Ästhetik von unten und Moritz’ Erfahrungsseelenkunde mit ihrem sozialen Engagement an: »[der Denker] kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des ungluecklichsten unter seinen Mitgeschoepfen zu setzen«.362 Contrafaktisch ist diese realistische Ästhetik allerdings auch in dem einfacheren Sinn, den die Probevorlesung nahelegt, wenn dort zwischen den »facta« als einer »Masse Dinge« und den »einfachen, natürlichen Gruppen« (II, 159) unterschieden wird, die sich in der Natur durch den mäeutischen Zugriff wissenschaftlicher Ordnung herausbilden. In ihrer Ordnungsfunktion ist Büchners literarische genetische Methode durchaus seiner naturwissenschaftlichen verwandt. Proklamiert die vergleichende Anatomie Goethescher Prägung, an die sich die Probevorlesung anlehnt: »Naturgeschichte beruht überhaupt auf Vergleichung«, so gilt dies auch für die im Woyzeck dramatisierte Kulturgeschichte. Auch sie wendet sich den »Analogien der Geschöpfe und ihren geheimnisvollen Verwandtschaften« (WA II/8, 7, 220) zu, wie das pathologische Feld im Drama zeigt. Zeichnet die Dissertation die Nervengenese anhand einfacher formativer Typen nach, so ordnet auch der Dramentext das neue nervenphysiologisch 362

K. P. Moritz, Fortsetzung der Revision der drei ersten Baende dieses Magazins. In: MzE 4/2, S. 1–24, S. 6.

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informierte Menschenbild typologisch an und läßt über die historische Entwicklung oder die Gemeinsamkeit einzelner Merkmale Figurengruppen entstehen. Seine Ordnungsfunktion nimmt er allerdings nicht nur auf der Ebene der Figurenzeichnung wahr, sondern auch im Hinblick auf die Strukturierung des Woyzeck-Materials. Wie im vorangehenden anschaulich gemacht, werden Diskursschnittstellen markiert, etwa im Falle des Alkoholismus, der in der Psychiatrie, Physiologie, Forensik und Rechtsprechung gleichermaßen diskutiert wird, oder die in den Schriften zu Woyzeck noch fehlenden physiologischen Erkenntnisse wie die Lehre vom Reflex werden dramatisch eingespielt. Einen der wichtigsten Akzente setzt die vergleichende Anatomie insofern, als sie die Lebewesen in Abhängigkeit von ihrer Umwelt wahrnimmt. Wenn Goethe schreibt: »das Thier wird durch Umstände zu Umständen gebildet«, und: »Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres, / Und die Weise zu leben sie wirkt auf alle Gestalten / Mächtig zurück« (WA II/8, 18, 59), dann handelt es sich um eine frühe Form der Milieutheorie, die ihren endgültigen Siegeszug dann mit Darwins Evolutionstheorie antreten wird. Georg Büchners ›Woyzeck‹ bringt das Individuum in seinen Umweltbezügen auf eine literarisch ganz neue Weise auf die Bühne, denn die grundlegendsten physiologischen Austauschprozesse wie Ernährung, Ausscheidung und Atmung rücken ins Zentrum der dramatischen Handlung und bilden den brüchigen Boden für die höherstufigen leibseelischer Kommunikation. Die Wechselwirkung zwischen Gestalt und Lebensweise wird insbesondere am psychosomatischen Typus des Hauptmanns und dramatisch differenzierter an den Zuständen Woyzecks plastisch. Die naturwissenschaftlichen Methoden werden in Büchners Drama also nicht nur einer scharfen Kritik ausgesetzt, sondern sie finden ihre Umsetzung auch in einer »literarischen Physiologie«. Deren konstruktives Verhältnis zu den Wissenschaften hat Günter Oesterle festgehalten: »Die Kunst – und das gilt beispielsweise für Jean Paul und Georg Büchner – gibt die naturwissenschaftlichen Beobachtungsmethoden kritisch der Lächerlichkeit preis und erschließt sich gleichwohl literarisch eine Darstellungsart, die sich der Öffnung der Naturwissenschaften für Fragen des sozialen Lebens verdankt.«363 Bei Büchners Übertragung naturwissenschaftlicher Methodik in ein literarisches Textverfahren dürfen allerdings auch die deutlichen Unterschiede nicht übersehen werden. Sie können aus einer Problematik der vergleichenden Anatomie entwickelt werden. Dieser ist vorgeworfen worden, »daß eine morphologische Betrachtungsweise Kritik am analysierten Gegenstand weitgehend ausschließt, da naturgesetzliche Werdeprozesse nur verstehend nachvollzogen, nicht aber kritisiert werden können.«364 Man könnte hingegen behaupten, daß Georg Büchners Drama das Kunststück gelungen ist, in der Überblendung 363 364

G. Oesterle, Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie, S. 201. K. R. Mandelkow, Goethe in Deutschland, Bd. 1, S. 143, vgl. 185f.

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von Natur- und Kulturprozessen eine literarische Morphologie zu begründen, die sich diesen Prozessen gegenüber sehr wohl kritisch verhalten kann. Sie tut dies durch eine Veränderung der Perspektive und Umakzentuierungen, die dennoch im von der vergleichenden Anatomie eröffneten diskursiven Feld bleiben. Das Herunterdeklinieren von Entwicklungsgeschichten als stilistisches Merkmal des Dramas wäre hier noch einmal zu nennen, gerade angesichts von Goethes Rede vom Menschen als »höchstes Geschöpf« (WA II/8, 60) in seinem Lehrgedicht ›ΑΦΡΟΙΣΜΟΣ‹. Durch die Auswahl seines Materials, den Woyzeck- oder auch den Lenz-Stoff, lenkt Büchners literarische Arbeit den Blick auf die zum entwicklungsgeschichtlichen Denken dazu gehörenden, aber durch den Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts verdeckten Verfallsprozesse. Abweichungen und Mißbildungen gehören theoretisch zur gesetzmäßigen Entwicklung dazu, diese Einsicht hält auch Goethe 1830 anläßlich des Akademiestreits fest: »Sehen wir aber die Abweichungen, Mißbildungen, ungeheure Mißgestalten, so erkennen wir, daß die Regel zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig sei, daß die Wesen zwar nicht aus derselben heraus, aber doch innerhalb derselben sich ins Unförmliche umbilden können« (HA 13, 234). Ins Zentrum des entwicklungsgeschichtlichen Denkens rückt diese Einsicht allerdings erst mit Büchners Dramatisierung. Die ›bewegliche Ordnung‹ des Lebens wird hier gerade in ihren unförmlichen Extremen dargestellt, etwa in Doktor und Hauptmann als Allegorien des Fortschritts und der Restauration. Und es sind nicht allein die Individuen, die sich in ›Woyzeck‹ ins Unförmliche ausbilden, sondern – eingedenk der von der vergleichenden Anatomie postulierten Wechselwirkung zwischen Lebenswelt und Gestalt – auch die modernen Umstände. Zu einer Ästhetik des Schönen fügt sich dieses Material nicht mehr. Die Begrifflichkeit der Probevorlesung von schönsten, reinsten und edelsten Formen, von Vollkommenheit, Göttlichem und Harmonie, von einem Urgesetz der Schönheit verharrt darum in satirisch-kritischer Distanz zum ›Woyzeck‹. Anwendung finden diese Worte nur noch im Kontext einer abstrakten Rede über die Natur, die im Drama zur Darstellung kommende konkrete Wirklichkeit treffen sie nicht mehr. Die Probevorlesung mit ihren Euphemismen und rhetorischen Steigerungsformen stellt aus, was am entwicklungsgeschichtlichen Denken bloß schöner Schein, Ideologie ist; sie bewahrt aber auch im ästhetischethischen Anspruch des ›Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da‹ den Kern dieses Denkens. Diese Formulierungen beinhalten einen Appell, daß es eine Wirklichkeit geben müsse, die eine realistische Ästhetik mit solchen Worten beschreiben könnte. Zu Georg Büchners kritischer literarischer Morphologie gehört im weiteren die konsequente Verschränkung von Natur- und Kulturprozessen. Genauer gesagt werden wechselseitig natürliche Vorgänge in ihrer diskursiven Strukturiertheit gezeigt und Kultur auf ihre materielle, natürliche Basis zurückgeführt. Ernährung und Ausscheidung unterliegen in der Versuchsanordnung des Dok306

tors einer vertraglichen Regelung und kommen im Drama insgesamt in ihrer Abhängigkeit von Physiologie, Psychiatrie und Forensik zur Darstellung. Fragen der Willensfreiheit und der Moral werden an leibseelische Ausdrucksakte und die Subsistenz rückgebunden. Die leibseelische Existenz des Menschen ist der Ort dieses Umschlags von Kultur in Natur und umgekehrt. In den 1820er und 30er Jahren wird das Leib-Seele-Problem in seinem erfahrungswissenschaftlichen Zuschnitt auf den Begriff gebracht. Die psychosomatische Fragestellung ist so Dreh- und Angelpunkt von Büchners Drama, der vorausgehenden Woyzeck-Debatte und der naturwissenschaftlichen Diskurse. Mit der diskursiven Prägung von Natur und Körper kann auch das contraintuitive Moment von Georg Büchners realistischer Ästhetik benannt werden. Zeichenhafte Ausdrucks- und Kommunikationsprozesse strukturieren unsere Wirklichkeit auch dort, wo wir vermeintlich nur mit Natur Umgang haben. Das ist der besondere Akzent von Büchners im ›Woyzeck‹ praktizierten intertextuellen und interdiskursiven Verfahren, das die bereits in ›Danton’s Tod‹ umgesetzte Einsicht erweitert, daß uns Geschichte immer textförmig in Geschichten überliefert ist. Und schließlich kann Büchners literarische genetische Methode auch noch einmal gegenüber jener gleichnamigen psychiatrischen Methode profiliert werden, die insbesondere die Psychiker im frühen 19. Jahrhundert geprägt haben. Ihnen dient die ›genetische Darstellung‹ in den Krankengeschichten oder den Gerichtsgutachten dazu, die Biographie des einzelnen möglichst detailliert zu rekonstruieren im Hinblick auf das diagnostische Telos einer Seelenstörung oder einer Tat. Auf diesem Wege entstehen Kranken- oder Täterbiographien vor bzw. unabhängig von der Krankheit oder dem Verbrechen. In Anlagen, Temperamenten, Lastern und moralischen Verfehlungen werden Anzeichen der späteren Abweichung gesucht. In der Aufhebung der »Grenzen zwischen dem Diskurs des Richters und dem Diskurs des Psychiaters« wird, wie Foucault schreibt, das »›gefährliche‹ Individuum« hervorgebracht, über dessen »gesamte Biographie« ein »Kausalitätsnetz« gezogen, ein »Besserungs-Straf-Urteil« 365 gefällt wird. Der gesamte »frühere Lebenslauf des Inquisiten, die Geschichte seiner geistig sittlichen Bildung, seiner wichtigsten Verhältnisse und Schicksale, seiner Handlungsweise, seiner Verirrungen, Leidenschaften, Gesundheitszustände, seiner natürlichen Geistes- und Gemüthsanlagen« soll laut Ideler »dem Arzte zur Prüfung vorgelegt«366 werden. Büchners Drama verweigert sich dieser Form der biographischen Erkenntnis und damit auch der Logik seines Materials, der Woyzeck-Gutachten, auf subtile Weise. Das Kausalitätsnetz, das Psychiatrie, Forensik, Medizin und Physiologie im frühen 19. Jahrhundert über die menschliche Existenz ziehen, wird im kritischen Zitat entblößt und am casus 365 366

M. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 324. K. W. Ideler, Einleitung, S. 48.

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Woyzeck in seinen wörtlich einschneidenden Wirkungen vorgeführt. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den Sprechakten des Urteilens, die über die genannten naturwissenschaftlichen Disziplinen hinaus auch noch in Kunst und Moral verfolgt werden. Das Drama bringt so nicht das gefährliche Individuum Woyzeck, den Sozialtypus des Delinquenten oder Irren auf die Bühne, sondern gefährlich erscheinen nun die Umstände, die in einer Ausweitung des pathologischen Feldes fast das gesamte Figurenpersonal in Mitleidenschaft ziehen und deren Geschichten im Modus der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und im Stakkato des modernen Fortschritts erzählt werden: die Geschichte von Versuchsanordnungen und wissenschaftlichen Methoden, von Krankheitsbildern und Berufsrollen. In satirische Sozialtypen verdichten sich die ›richtenden Instanzen‹, die Vertreter von Militär, Wissenschaft und Medizin, die Darstellung Woyzecks hingegen beschränkt sich auf Zustandsbilder, die ihn in Momenten leibseelischer Verstörung ebenso zeigen wie in den zwar selteneren, jedoch vorhandenen Momenten geistiger Klarheit. An dem geschichtlichen Zeitpunkt, an dem die Archivierung des Individuums in Gutachten, Krankenblättern, Fallgeschichten und Identitätspapieren ihren Lauf nimmt, betreibt Büchner die Destruktion dieser Form biographischer Erkenntnis. Indem das Zum-Fall-gemacht-werden selbst Gegenstand der dramatischen Historiographie ist, wird das Genre der Fallgeschichte ausgehöhlt.

308

V.

Biographische Erkenntnis. Der Fall Nietzsche

Die biographische Erkenntnis wurde in dieser Studie als fünftes zentrales Element des psychosomatischen Diskurses bezeichnet. Im vorangehenden konnte veranschaulicht werden, wie sich diese Erkenntnisform als eine wissenschaftliche Methode der Fremdbeobachtung in Psychiatrie und Forensik des frühen 19. Jahrhunderts entwickelt. Am ›Fall Nietzsche‹ kommt nun erneut die Selbstbeobachtung ins Spiel, die im ausgehenden 18. Jahrhundert in Karl Philipp Moritz’ psychologischer Zeitschrift ›Gnothi sauton‹ am Beginn der Erfahrungswissenschaften vom ganzen Menschen stand. Im folgenden läßt sich zeigen, daß am Fall Nietzsche Techniken der Selbst- und Fremdbeobachtung erprobt und in verschiedenen Psychologien methodisch festgehalten werden: Nietzsches Tiefenpsychologie, Diltheys verstehende Psychologie und Freuds Psychoanalyse. In der jeweiligen Verschränkung von Kranken- und Lebensgeschichte werden zudem drei verschiedene Versionen erkennbar, Sinn in das natürlich-kulturelle Geschehen von Krankheit und Gesundheit zu bringen, so daß Psychologie und Hermeneutik eine enge Verbindung eingehen. Friedrich Nietzsches Lebensgeschichte ›Ecce homo‹ wendet sich noch einmal auf die Tradition der literarischen Autobiographie der Goethezeit zurück, allerdings ist der Beobachterstandpunkt nun derjenige einer ›großen Vernunft des Leibes‹. Wilhelm Dilthey, Lou Andreas-Salomé, Sigmund Freud und Karl Jaspers nehmen, unterschiedlich vertraut mit Leben und Werk des Philosophen, diesen als Fall, aber auch als wissenschaftlichen Konkurrenten wahr und profilieren das eigene Denken in diesem Horizont. Die Introspektion wird dabei zum polemisch eingesetzten Spielball in diesem Schlagabtausch. Die von Nietzsche vorgenommene leibliche Dezentrierung des bewußten Ich spiegelt sich bei Dilthey im Ausgehen von einem Strukturzusammenhang des Seelenlebens und einer psychophysischen Lebenseinheit, bei Freud in der Rolle des Unbewußten als zentralem Akteur. Daß sich die Bedingungen für eine Selbstverständigung durch die zunehmende bürokratische Erfassung des Individuums im 19. Jahrhundert verändert haben, wurde schon im vorangehenden anschaulich. Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹ reagiert mit der Archivfiktion und einem am Vertrag orientierten Schriftprinzip bereits auf diese Veränderungen. Jedoch geschieht das Eingehen des Individuums in die Mitteilung, den Brief, das Tagebuch, die Novelle und schließlich den Archivroman hier noch unter dem Vorzeichen der Heil-Kunst. Georg Büchners Dramenfragment stellt dann die in wissen309

schaftlich-urteilendem Interesse vorgenommene schriftliche Erfassung von Individualität in Gerichtsakten, Krankenblättern, Fallgeschichten und Identitätspapieren aus. Der Delinquent Woyzeck ist in dem sich um ihn entspinnenden Diskurs ein vielfach besprochenes, aber sprachlos bleibendes Individuum. Für den einzelnen kann sich seine Lebensgeschichte so, wie Büchner es zur Darstellung bringt, nur auf wenige äußere Daten verkürzen: »Friedrich Johann Franz Woyzeck, geschworner Füsilir im 2. Regiment, 2. Bataillon 4. Compagnie geb. – d. – d. ich bin heut Mariae Verkündigung d. 20. Juli 30 Jahr 7 Monat und 12 Tage.« (I, 216f.) Wenn Friedrich Nietzsche in seiner Philosophie von ›Personal-Acten‹ ausgehen will, dann ist ebenfalls dieser bürokratische Hintergrund mitzudenken und die Abgrenzung von diesem. Und sein Versuch, Individualität aus solchen Formen der Fremdbeobachtung zu befreien, setzt genau am Körper und den leibseelischen Grundfunktionen des Lebens an, die bei Büchner so auffällig in den Bühnenvordergrund drängten. So unterschiedlich die beiden Protagonisten der Fallgeschichten dieser Studie, der wahnsinnige Mörder Woyzeck und der wahnsinnige Philosoph Nietzsche, ihr soziales Milieu sowie die sich um sie lagernden Diskurse auch sind, verbindet sie doch mehr als bloß ihr Vorname. Nietzsches kritische Hermeneutik, die lehrt, Interpretation als einen Willen zur Macht wahrzunehmen, setzt Büchners in ›Woyzeck‹ Gestalt gewordene Kritik von Urteilsstrukturen fort.

V.1.

Nietzsche: Eine Philosophie auf ›Personal-Acten‹ beruhend Meine liebe Lou, Ihr Gedanke einer Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten ihrer Urheber ist recht ein Gedanke aus dem ›Geschwistergehirn‹: ich selber habe in Basel in diesem Sinne Geschichte der alten Philosophie erzählt und sagte gern meinen Zuhörern: ›dies System ist widerlegt und todt – aber die Person dahinter ist unwiderlegbar, die Person ist gar nicht todt zu machen‹ – zum Beispiel Plato.1

So schreibt Friedrich Nietzsche an Lou Salomé vermutlich am 16. 9. 1882. Gedanken zu einer solchen Form biographischer oder autobiographischer Erkenntnis durchziehen das gesamte Werk Nietzsches, angefangen von der hier erwähnten Vorlesung und Abhandlung zur ›Philosophie im tragischen Zeitalter 1

Erstmals publiziert wurde dieser Brief faksimiliert in: L. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Mit 2 Bildern und 3 facsimilirten Briefen Nietzsches, o.S. Siehe auch F. Nietzsche, Briefe. Bd. III/1, S. 259f. Die Briefe werden im folgenden unter der Sigle KGB zitiert. Die folgenden Ausführungen sind bereits publiziert in: Schmaus, Eine Philosophie auf ›Personal-Acten‹ beruhend.

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der Griechen‹ über die ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹ bis ins Spätwerk, wo die ›Person dahinter‹ in den Wagner-Schriften, im ›Zarathustra‹ und im ›Ecce homo‹ zum zentralen Leitfaden wird. In ›Jenseits von Gut und Böse‹ heißt es: »Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war: nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires«.2 Welche Form unwiderlegbarer, nicht-tot-zumachender menschlicher Existenz verbirgt sich allerdings in dieser Überlegung? Der einfache biologische Körper, das idealistische Subjekt oder das biographische Individuum wird es nicht sein. Zu bekannt sind Nietzsches Ausfälle gegen einen vermeintlichen Täter hinter der Tat. Ist der Gedanke einer auf PersonalAkten beruhenden Philosophie auch eine Konstante von Nietzsches Werk, so unterliegt er doch erheblichen Wandlungen und wird in jedem Text in anderen Facetten entfaltet. Folgende, in dem einleitenden Zitat bereits angelegte Aspekte dieser Philosophie lassen sich unterscheiden: Das Interesse am psychologischen oder physiologischen Fall bzw. am Typus Mensch, jenes am Psyche und Soma umschließenden ganzen Menschen, das Interesse an der Einheit von Leben und Erkennen sowie von Leben und Werk. Zusammengenommen liefern diese Ansichten vom Menschen Grundzüge einer ›existentiellen Hermeneutik‹, die Leiblichkeit, Selbstwerdung und Schriftlichkeit miteinander verschränkt. Ausgehend von obigem Zitat soll der Werdegang dieser auf Personal-Akten beruhenden Hermeneutik anhand der ›Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹, von ›Schopenhauer als Erzieher‹ und ›Ecce homo‹ näher skizziert werden. V.1.1. Psychologie Mit dem im Brief verwendeten Begriff der Reduktion ist Nietzsches Psychologie, seine »Schule des Verdachts« (KSA 2, 13) angesprochen, die die Moral, den Geist, alle Hinterwelten auf die Triebe zurückführt. ›Entlarvungspsychologie‹3 hat man dies genannt. In den frühen Schriften über die Griechen und Schopenhauer wird diese Schule des Verdachts nur am Rande geübt, sie dominiert aber die späten Texte, insbesondere die Wagner-Schriften, wo die »Psychologie des Schauspielers« (KSA 6, 31) Wagner und damit jene der modernen Kunst analysiert wird. Im Untertitel von ›Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen‹ (1889) tauchen auch die Personal-Akten in ihrer diagnostischarchivarischen Funktion wieder auf. Eine der erkenntnisleitenden Prämissen dieser Psychologie lautet: »hinter aller Logik [...] stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer

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F. Nietzsche, Sämtliche Werke. Bd. 5, S. 19. Aus dieser Ausgabe wird im folgenden unter der Sigle KSA zitiert. Vgl. G. Gödde, Nietzsche und Freud. Jaspers spricht von seiner enthüllenden bzw. entlarvenden Psychologie, s. K. Jaspers, Nietzsche, S. 111, 114.

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bestimmten Art von Leben« (KSA 5, 17). Es geht darum, die »unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen« (KSA 3, 348) aufzudecken. Unter dem Blickwinkel der Psychologie verdient Nietzsches Begriff der Person eine nähere Beleuchtung, denn mit diesem ist nicht oder nicht allein das biographisch unverwechselbare Individuum gemeint, sondern als psychologische und soziologische Kategorie wird ›Person‹ mit ›Typus‹ gekoppelt. Die Person kommt hier wieder ihrem begriffsgeschichtlichen Ursprung nahe: ›persona‹, das ist die Maske, die der Schauspieler in der griechischen Tragödie trug.4 Das Wort verweist also auf eine Rollenidentität, etwas Aufgesetztes. Die Person ist ein Oberflächenphänomen. Sie ist Ausdruck einer historisch-kollektiven, strukturellen oder auch physiologischen Konstellation. Die Person dient als methodisches Instrument, aus ihr lassen sich die »Hieroglyphen des allgemeinen Lebens« (KSA 1, 357) herauslesen. In ›Ecce homo‹ pointiert Nietzsche seine methodische »Kriegs-Praxis« folgendermaßen: »ich greife nie Personen an, – ich bediene mich der Person nur wie eines starken Vergrösserungsglases, mit dem man einen allgemeinen, aber schleichenden, aber wenig greifbaren Nothstand sichtbar machen kann.« (KSA 6, 274)5 Die Person als Vergrößerungsglas funktioniert in den Texten Nietzsches jedoch in beide Richtungen, positiv und negativ. Zum einen werden das Genie, die großen Menschen und die Unzeitgemäßen bis zum Übermenschen vergrößert, zum anderen werden die zeitgemäßen und die häßlichen Menschen bis zum Zwerg in ›Zarathustra‹ verkleinert. Die »reinen Typen« der Philosophie: Metaphysiker, Mystiker, Skeptiker, Materialisten, der »ästhetische Mensch« und die »›historischen‹ Naturen«, um nur einige zu nennen, wurden bereits im frühen Griechenland ausgebildet und »die ganze Nachwelt hat nichts Wesentliches mehr hinzu erfunden.« (KSA 1, 810, 831, 840, 807) Die philosophischen Systeme der Griechen kann man verwenden, »um das Bild des Philosophen zu gewinnen: wie man vom Gewächs an einem Orte auf den Boden schliessen kann.« In ihnen verkörpert sich das Idealbild des Philosophen, der »große Mensch« (KSA 1, 801). Und da es sich in diesem Fall auch noch um einen zeitgemäßen Typus handelt, repräsentieren die großen Menschen zudem ihr Volk, die Griechen als »die wahrhaft Gesunden« (KSA 1, 805), und ihr Zeitalter, das tragische. Kommt Nietzsche später auf die eigene Zeit zu sprechen, so ist diese harmonische Einheit von einzelnem und Zeitalter zerfallen. Der Philosoph in Gestalt Schopenhauers ist nun der große Unzeitgemäße. Er hat in seinem Werk das Bild des »heroischen Menschen« 4

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In dieser Bedeutung verwendet Nietzsche den Begriff im Nachlaß: »Die Vielheit der Personen (Masken) in Einem ›Ich‹«; »Man ist reicher als man denkt, man trägt das Zeug zu mehreren Personen im Leibe, man hält für ›Charakter‹, was nur zur ›Person‹, zu Einer unserer Masken, gehört.« KSA 11, 168, 248. Vgl. auch die Formulierung »Unterscheidung von Person und Sache« (KSA 6, 318) in bezug auf den Strauss-Essay.

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gezeichnet, das uns »gegen unsre Zeit erziehen« (KSA 1, 375, 363) kann. Als Bildungsziel der Menschheit wird hier folgender Lehrsatz festgehalten: »die Menschheit soll fortwährend daran arbeiten, einzelne grosse Menschen zu erzeugen – und dies und nichts Anderes sonst ist ihre Aufgabe.« (KSA 1, 383f.) Für diese großen Menschen fallen hier die Begriffe Philosoph, Künstler, Heiliger, Genius (KSA 1, 382, 403). Der zeitgemäße, gegensätzliche Typus ist der historische Mensch, »wie wir Gelehrte« (KSA 1, 414), dem Nietzsche sich hier noch selbst zuordnet. In der späteren Vorrede zu ›Menschliches, Allzumenschliches‹ aus dem Jahr 1886 wird Nietzsche sich mit jenem Typus identifizieren, der Typologie und Person als Erkenntnismethoden gebraucht, dem »Psychologen«. Der »Kälte« dieses Typus liegt ein besonderer biographischer Werdegang zugrunde, denn ehemals ist er Patient gewesen, »welcher eine Menge schmerzlicher Dinge, die er unter sich hat, hinter sich hat, nachträglich für sich noch feststellt und gleichsam mit irgend einer Nadelspitze fest sticht.« (KSA 2, 371) Nietzsches Psychologie ist also zu eigen, daß Erkenntnisobjekt, der ›Fall‹, und Erkenntnissubjekt eine gemeinsame Geschichte teilen, »Arzt und Kranker in Einer Person« (KSA 2, 375) sind. Psychologie wird somit zur Autobiographik. Zum einen erzählt sich der Psychologe am fremden Objekt die eigene Vergangenheit, zum anderen wird das fremde Objekt als Bestandteil des eigenen Selbst, als überwundene Stufe auf dem Weg der Selbstwerdung festgestellt. Das eingangs erwähnte Vergrößerungsglas läßt also nicht nur menschliche Typen als Ausdruck einer Gruppe, eines historischen Kollektivs oder eines Zeitalters vor das Auge treten, sondern es rückt auch das Leben des Betrachters in den Fokus und gehört darin zu jener Bedeutungsebene einer auf Personal-Akten beruhenden Philosophie, die im folgenden unter dem Stichwort ›Existentielle Hermeneutik‹ näher beleuchtet werden soll. V.1.2. Der ganze Mensch Neben dem psychologischen verweist eine auf Personal-Akten beruhende Philosophie jedoch auch auf den Menschen als physiologischem Fall; oder genauer gesagt auf die Einheit von Psyche und Soma und die Konzeption des ganzen Menschen hinter dem Werk. Nietzsche insistiert: »Meine Schriften reden nur von meinen eignen Erlebnissen – [...] ich bin darin, mit Leib und Seele« (KSA 12, 232). Und seine Physiologie zielt in Umkehrung der psychosomatischen Argumentationsrichtung darauf, somatopsychisch das »Geistige [...] als Zeichensprache des Leibes festzuhalten!« (KSA 10, 285) Die Abhandlung ›Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹ wird mit der Frage eingeleitet, ob die Philosophie therapeutische Aufgaben erfüllen könne, um sie zu verneinen. Hingegen ist sie in eine Diätetik des Lebens eingebunden. Die Philosophie ist nur den »wahrhaft Gesunden« zuträglich und muß zur »rechten Zeit« (KSA 1, 805) im Leben eines Volkes begon313

nen und auch beendet werden. Wird sie dies nicht, so zeigt sie Spuren einer gefährlichen Überalterung. So etwa im Falle des Parmenides, der durch seine »verhängnißvolle erste Kritik des Erkenntnißapparats«, indem er die »Sinne und [...] die Vernunft jäh auseinander riß, [...] zu jener gänzlich irrthümlichen Scheidung von ›Geist‹ und ›Körper‹ aufgemuntert [hat], die, besonders seit Plato, wie ein Fluch auf der Philosophie liegt.« (KSA 1, 843) Der Aufhebung dieses Fluches ist Nietzsches weiteres Werk verpflichtet. In der Vorrede von 1886 zur ›Fröhlichen Wissenschaft‹ erinnert er noch einmal an diesen Fluch, wenn die Philosophie insgesamt als eine verfehlte Geschichte der »Auslegung des Leibes«, als ein »Missverständniss des Leibes« (KSA 3, 348) bezeichnet wird. Ebenfalls zur Diätetik gehört Nietzsches Referat von Anaxagoras Lehre vom Werden, nach der »alles sogenannte Werden ein Ausscheiden ist« (KSA 1, 862). Das Werden wird so nach dem Modell der Ernährung gedacht. Mit dieser Denkfigur ist ein Metaphernpool geöffnet – Erkennen als Einverleiben und Verdauen etc. –, den Nietzsche in zahlreichen seiner Schriften bis zum kategorischen Ernährungs-Imperativ des ›Ecce homo‹ fruchtbar entfalten wird.6 Ein möglicher therapeutischer Effekt der Philosophie ist dann vor allem Gegenstand der autobiographischen Äußerungen des Spätwerks. Hier entwirft Nietzsche eine Dialektik von Krankheit und Gesundheit, deren Synthesis die »grosse Gesundheit« (KSA 6, 338) ist. Die autobiographischen Aussagen der späten Jahre, die Vorreden von 1886 und ›Ecce homo‹, lassen sich dem Genre der Pathographie oder besser der Genesungsgeschichte zuordnen. Das Leben wird hier am »Leitfaden des Leibes«,7 spezifischer noch am Leitfaden des kranken Leibes erzählt. ›Ecce homo‹ teilt sich zu gleichen Teilen in eine Krankenund Werkgeschichte auf. Eine Erzählform bietet dabei der somatopsychische Gedankengang: der kranke Körper bedingt den Geist und d.h. auch die Philosophie, das Werk. Die hier genannten Symptome umfassen Physiologisches: »physiologische Schwäche«, »Excess von Schmerzgefühl«, »Gehirn-Schmerz«, »Schleimerbrechen«, »tiefste Schwäche des gastrischen Systems«, »Augenleiden« (KSA 6, 265), und Psychologisches: »Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit« (KSA 2, 15), solches, was früher unter den Begriff ›Melancholie‹ gefaßt wurde.8 Die somatopsychischen Bedingungsverhältnisse sind vielschichtig. Das Magen-, Kopf- und Augenleiden, Migräneanfälle und extreme Kurzsichtigkeit 6

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Vgl.: »Man kann sie sich, zum Handgebrauch, so formuliren: ›wie hast gerade du dich zu ernähren, um zu deinem Maximum von Kraft, von Virtù im Renaissance-Stile, von moralinfreier Tugend zu kommen?‹« (KSA 6, 279). Siehe hierzu ausführlich Barbara Thums, Auf der Suche nach einem neuen asketischen Ideal. KSA 11, 249, 282, 565, 578. Vgl. H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes; S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, S. 115–159; V. Caysa, Art. Leib/Körper. In: NietzscheHandbuch. Hrsg. von H. Ottmann, S. 271–273; R. Käser, Arzt, Tod und Text, S. 179–207; M. Pasley, Nietzsche’s use of medical terms; T. A. Long, Nietzsches’s Philosophy of Medicine. Insbesondere die acedia verweist auf die älteren Melancholie-Diskurse, vgl. hierzu H.-J. Schings, Melancholie und Aufklärung.

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erfordern eine bestimmte Lebensform, die an diätetischen Fragen nach »Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht« (KSA 6, 295) orientiert ist. Die Existenz als »fugitivus errans«9 seit 1879, ständig auf der Suche nach dem richtigen Ort, dem richtigen Klima ist krankheitsbedingt. Der stete Ortswechsel, das Reisen resultiert in einer Form des Kontextualismus, der im ›Ecce homo‹ den Autor, das Werk und den Ort seiner Entstehung in Kongruenz setzt. Der Körper erscheint hier in seiner alten humoralen, fluidalen Form als ein Medium ohne feste Grenzen, durchlässig für seine Umgebung und solchermaßen in den Prozeß des Werdens eingebunden. So ist die »Morgenröthe« – ein Buch, »einem Seegethier gleich«, »erschlüpft in jenem FelsenWirrwarr nahe bei Genua« – mit ihrem Autor identisch: »Zuletzt war ich’s selbst, dieses Seegethier« (KSA 6, 329). Gleichfalls dem Paradigma des Humoralleibes angehörend erweist sich der Körper in ›Ecce homo‹, wenn die Werke in therapeutischer Form als ›Ausscheidungen‹ in bezug auf eine »Ernährung des Geistes« (KSA 6, 325) verstanden werden. Seit der Antike bis noch weit ins 19. Jahrhundert hinein stellten Aderlaß und Abführmittel die privilegierten therapeutischen Maßnahmen dar, um den Säftehaushalt des Körpers wieder ins Gleichgewicht zu bringen.10 Als solchermaßen erholsame Ausscheidung wird etwa »Menschliches, Allzumenschliches« stilisiert: »ich habe mich mit demselben vom Unzugehörigen in meiner Natur freigemacht.« (KSA 6, 322) Der große Akteur in ›Ecce homo‹ ist nicht jenes Subjekt, das man gemeinhin als erzählendes und erlebendes Ich in der Autobiographie kennt, sondern hier nimmt diese Rollen der Körper ein. Er ist der Handelnde, der, wie oben erwähnt, eine Veränderung der Lebensform erzwingt: »Die Krankheit löste mich langsam heraus«, sie gibt das Recht zu einer »vollkommnen Umkehr aller meiner Gewohnheiten«. Schließlich wird das Ich durch sein Augenleiden »vom ›Buch‹ erlöst« (KSA 6, 326), und d.h. vor allem vom Bücher-Lesen. Das Augenleiden ermöglicht eine Umstellung vom rezeptiven Bücher-Lesen zum produktiven Bücher-Schreiben. Es handelt sich nun nicht mehr um die Griechen, Wagner oder ›Schopenhauer als Erzieher‹, sondern um den Körper als Erzieher. Der Leib ist in dieser Autobiographie somit nicht nur zentraler Protagonist, sondern er gebiert den Erzähler. Für den Inhalt und für die Form des Erzählens zeichnet er verantwortlich. Er bedingt den Wandel des philosophischen Erkenntnisinteresses hin zu den leiblichen »Grundangelegenheiten des Lebens« (KSA 6, 296). So ist es der »Schmerz«, der die Psychologie lehrt, er ist der »Lehrmeister des grossen Verdachtes«, durch ihn wurde »das Leben selbst [...] zum Problem« (KSA 3, 350). Die Werkphasen werden im Modus des Krankheitszyklusses dargestellt (KSA 6, 265). Werk und Körperzustand entsprechen

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So die Selbstbezeichnung im Brief an Paul Rée vom Juli 1879: KGB II/5, 431. Vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 14f.

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einander, es handelt sich um ein Ausdrucksverhältnis.11 So sollte man laut IchErzähler nur einem »Gedanken Glauben schenken«, der »im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem [...] auch die Muskeln ein Fest feiern.« (KSA 6, 281) Umgekehrt bringt die »tiefste physiologische Schwäche« in der ›Morgenröthe‹ eine »Dialektiker-Klarheit par excellence« hervor, die als »Décadence-Symptom« (KSA 6, 265) gewertet wird. Der Dekadent gehört zu Nietzsches »physiologischen Typen« (KSA 6, 50) – Wagner wird diesem Typus zugerechnet – und verkörpert sein Zeitalter: schwächlich, morbid, Ausdruck des Historismus und der christlichen Sklaven-Moral. Bei dieser Zeichnung handelt es sich weniger um eine somatopsychische Typologie, als um eine psychosomatische oder genauer gesagt soziosomatische, denn die Physis ist hier durch das Zeitalter geprägt. Das autobiographische Ich des ›Ecce homo‹ rechnet sich selbst zum Teil, in einigen Phasen und dem väterlichen Erbteil nach, zu diesem Typus. Jedoch entwickelt es anhand dieser Dekadenz-Zustände eine Dialektik von Krankheit und Gesundheit, die in einer großen Gesundheit kulminiert, der noch die Krankheit »ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehr-leben« ist und ein »Angelhaken der Erkenntniss« (KSA 6, 266; 2, 17). Neben den bereits erwähnten Errungenschaften, die der Erzähler der Krankheit verdankt, gehört im weiteren die »Freiheit vom Ressentiment«.12 An dieser Stelle erläutert er auch, worin der Erkenntnisgewinn der Krankheit liegt. Denn Erkennen setzt Erleben voraus, und so ist es von Vorteil, möglichst viele physische Zustände zu erleben, nicht nur einem physiologischen Typ anzugehören, sondern möglichst vielen. Die große Gesundheit ist darum kein Zustand, sondern ein Prozeß, der die Abfolge von Krankheit, Genesung und Gesundheit perpetuiert. Die »grosse Gesundheit« ist »eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgibt, preisgeben muß ...« (KSA 6, 338). Ihr Kennzeichen ist ein »Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der grossen Gesundheit ist« (KSA 2, 18). Der kranke Körper bedingt auch die Form des Philosophierens. Nietzsche führt verschiedentlich den Aphorismus auf sein Kopf- und Augenleiden zurück,13 und sein ebenfalls an einer ganzheitlichen Konzeption des Menschen interessierter Exeget Jaspers folgt ihm in dieser Deutung.14

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Vgl.: »Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen«, KSA 3, 349. KSA 6, 272. Zum Ressentiment heißt es im weiteren: »Das Problem ist nicht gerade einfach: man muss es aus der Kraft heraus und aus der Schwäche heraus erlebt haben.« Vgl. KGB III/1, 58, 63, 121f. Vgl. K. Jaspers, Nietzsche, S. 353, 372.

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›Ecce homo‹ vollzieht damit die Umwertung der Autobiographie als Bewußtseinsgeschichte zur Autobiographie als Leibgeschichte. Auf die Fragen ›Warum ich so weise bin‹, ›Warum ich so klug bin‹, ›Warum ich so gute Bücher schreibe‹ antwortet jeweils der Körper. Soweit es die Ego-zentrierte Grammatik zuläßt, erscheinen hier der Körper und seine Zustände in der Position des Subjekts. Der Körper wird gleichsam zum Schreibenden. Dies geschieht auch im Spiel mit den Begriffen ›Schriftsteller‹ und ›Autor‹, indem die schreibende Hand und damit der Schriftsteller zum zentralen Organ wird, während der diktierende Kopf zum ›bloßen‹ Autor degradiert wird. Die Anekdote zur Entstehung von ›Menschliches, Allzumenschliches‹ lautet demgemäß: »Ich diktirte, den Kopf verbunden und schmerzhaft, er [Peter Gast] schrieb ab, er corrigirte auch, – er war im Grunde der eigentliche Schriftsteller, während ich bloss der Autor war.« (KSA 6, 327) Als eine weitere ironische Umwertung der Autobiographie zur Leibgeschichte liest sich der Beginn von ›Ecce homo‹: »Das Glück meines Daseins, seine Einzigkeit vielleicht, liegt in seinem Verhängniss: ich bin, um es in Räthselform auszudrücken, als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.« (KSA 6, 264) Unschwer läßt sich hierin der Kontrapunkt zu Goethes autobiographischen ›Zahmen Xenien‹ erkennen: »Vom Vater hab’ ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Von Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabuliren.« Beantworten Goethes Zeilen die Frage abschlägig, worin man noch »Original« angesichts der vielfältigen »Überliefrung«15 sein könne, so resultiert hier die ›Einzigkeit‹ gerade aus der zwiespältigen Überlieferung. Schreibt sich Goethe mit der ›Lust zu fabulieren‹ in die weibliche Genealogie ein, so setzt der Erzähler in ›Ecce homo‹ dezidiert nur das väterliche Erbe fort.16 Die Mutter taucht nur noch einmal im Text auf, nämlich als »tiefster Einwand gegen die ›ewige Wiederkunft‹« (KSA 6, 268). Während sich Goethe auf die Charaktereigenschaften des Ich bezieht, meint ›Ecce homo‹ primär die biologische Vererbung. Das Körperkonzept, das hier angesprochen wird, ist das zeitgenössische der Vererbungslehre. Der Leib in ›Ecce homo‹ setzt sich also aus Körperbildern verschiedener Epochen zusammen und liefert in dieser Zitatcollage keine einheitliche Gestalt. Als überwiegende Tendenz kann jedoch festgehalten werden, daß der unzeitgemäße, alte humoralpathologische Leib polemisch gegen den zeitgemäßen nervösen ins Feld geführt wird. Der Erzähler stilisiert sich als Phlegmatiker (»Mein Blut läuft langsam«)17 und damit als absoluter Gegensatz zum zeitgenössischen nervösen

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WA I/3, 367f. Siehe hierzu auch die entsprechende Formulierung in ›Dichtung und Wahrheit‹, WA I/27, 373. Auf diese Bezüge hat bereits Friedrich Kittler aufmerksam gemacht: Wie man abschafft, wovon man spricht. Vgl. KSA 6, 266, 267f., 269, 271, und KSA 14, 472f. Der alten Säftelehre zufolge zeichnet sich das Blut des Phlegmatikers dadurch aus, »daß es zur Bewegung nicht schnelle«, Art. Temperament. In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon. Bd. 42 [1744], Sp. 763–772, Sp. 765.

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Körper (»Man darf keine Nerven haben«, KSA 6, 265, 297), für den exemplarisch Wagner steht.18 Das bewußte Ich in seiner ›Einzigkeit‹ wird allerdings nicht nur dadurch demontiert, daß diese Einzigkeit als genealogisches Derivat bloßgestellt wird, sondern auch dadurch, daß die dem Genre der Autobiographie eigentümliche Bildungs- als Fortschrittsgeschichte umgewertet wird. Das Ich in ›Ecce homo‹ schreitet die Stufenleiter der Erkenntnis nicht zu einem höheren Selbst hinauf, sondern zu einem »untersten Selbst« hinunter. In den »kränksten und schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens« wird dieses Selbst entdeckt und diese »Rückkehr zu mir« erscheint als »höchste Art von Genesung« (KSA 6, 326). Das unterste Selbst ist instinkt- bzw. triebgesteuert. Es rechnet sich zugute, daß seine Lebensführung unbewußt verlief, getrieben von einer Aufgabe, jedoch in Unkenntnis dieser Aufgabe und auf Wegen des »Sich-Missverstehns« (KSA 6, 293). »Etwas ›wollen‹, nach Etwas ›streben‹, einen ›Zweck‹, einen ›Wunsch‹ im Auge haben – das kenne ich Alles nicht aus Erfahrung.« (KSA 6, 294f.) Die im Untertitel von ›Ecce homo‹ prominent gestellte Frage ›Wie man wird, was man ist‹ beantwortet der Text mit der konsequenten Demontage des Bewußtseins und der Selbsterkenntnis. Das »Bewusstsein ist eine Oberfläche« (KSA 6, 294), die das unterste Selbst bedeckt und verdeckt – das, was man ist –, und der Weg zu diesem Selbst verläuft über die Ahnungslosigkeit des Bewußtseins. »Dass man wird, was man ist, setzt voraus, dass man nicht im Entferntesten ahnt, was man ist.« (KSA 6, 293) Der Weg des Verstehens verläuft über somatische Zustände, über die skizzierte Dialektik der großen Gesundheit und das Triebgeschehen. Gleich dem organischen Wachstum bedarf dieser Prozeß seiner eigenen Zeit: »Lauter Gefahren, dass der Instinkt zu früh ›sich versteht‹« (KSA 6, 294). Das erzählende Ich degradiert sich nicht nur gegenüber der schreibenden Hand zum ›bloßen Autor‹ seiner Texte, sondern versetzt auch jenes vermeintlich zentrale Organ der Selbsterkenntnis und der künstlerischen Produktion, das Bewußtsein, an die Peripherie des Geschehens. Von der »Künstlerschaft meines Instinkts« (KSA 6, 294) ist allein die Rede. Im Nachlaß bezeichnet Nietzsche das »Ich-bewußtsein« als hinzugekommenes letztes, fast überflüssiges Organ, als »Bewußtsein der Einheit«. Gegenüber dem Leib, der vorangehenden »einverleibten arbeitenden Einheit aller Funktionen« (KSA 9, 563) bleibt es defizitär oder eben nur »das Zweit-Wichtige« (KSA 10, 285). An anderer Stelle verwendet Nietzsche für das Bewußtsein die Metapher der Haut.19 Jedoch ist es nicht die menschliche Haut, sondern die Schlangenhaut, die als Vehikel der Bedeutung dient. Ebenso wie die Schlange sich zyklisch häutet, wandelt sich auch die Oberfläche des Bewußtseins. 18 19

Vgl. KSA 6, 22: »Wagner est une névrose«. Vgl. KSA 1, 340; 2, 371f.; 3, 275; 5, 51.

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›Ecce homo‹ erzählt auch diese Geschichte der Häutungen und Verwandlungen, und zwar als eine Geschichte der permanenten Selbsttäuschungen. Diese sind lebensdienlich gewesen, jetzt werden sie jedoch in dieser Funktion erkannt und bejaht, was auch bedeutet, daß sie nachträglich korrigiert werden. Wo in den früheren Texten von den tragischen Philosophen Griechenlands, von Schopenhauer oder Wagner die Rede war, werden diese Namen jetzt durchgestrichen und durch das Ich, durch Nietzsche oder Zarathustra ersetzt. Denn es gilt: »Jetzt, wo ich aus einiger Ferne auf jene Zustände zurückblicke, deren Zeugniss diese Schriften sind, möchte ich nicht verleugnen, dass sie im Grunde bloss von mir reden.« (KSA 6, 320)20 Schließlich münden diese Ich-Setzungen in die Gleichsetzungen Zarathustra-Nietzsche und Dionysos-Nietzsche.21 Diese »Einsetzregeln« sind sowohl als »historischer Größenwahn«22 der Hermeneutik gelesen worden, die durch die Autor-Werk-Einheit und die Formel von Erleben, Ausdruck und Verstehen zu solchen Einsetzungen drängt, wie auch als Symptom einfachen Größenwahns.23 Auf die Hermeneutik will ich im folgenden noch ausführlicher zu sprechen kommen. Zunächst darf die rhetorische Geste der Hyperbel24 bei diesen Korrekturen nicht übersehen werden. Im weiteren wird diese Hyperbel zweifach konterkariert. Zum einen durch Korrekturen, in denen Nietzsche seine Autorschaft relativiert – wie im oben genannten Falle Peter Gasts – oder dementiert, wie im Falle des ›Hymnus auf das Leben‹: »Der Text, ausdrücklich bemerkt, weil ein Missverständniss darüber im Umlauf ist, ist nicht von mir: er ist die erstaunliche Inspiration einer jungen Russin, mit der ich damals befreundet war, des Fräulein Lou von Salomé.« (KSA 6, 336) Zum anderen haben wir bereits gesehen, daß das Ich dieses Textes parasitär aufruht auf dem Instinkt, dem Leib und schließlich der genealogischen Herkunft dieses Leibes. Das Spiel der Einsetzungen läuft in ›Ecce homo‹ nicht nur hinauf zum Größenwahn, zum Übermenschen oder »Ueber-Nietzsche«,25 wie Salomé bemerken wird, sondern auch hinunter zum untersten Selbst der Instinkte und Triebe. Um Umwertungen und Einseitigkeiten handelt es sich in beiden Fällen. Hatte Nietzsche in Basel sein Philosophieren mit der Frage nach der unwiderlegbaren, nicht-tot-zu-machenden Person hinter dem System begonnen, so beantworten ›Ecce homo‹ wie auch ›Zarathustra‹ diese Frage mit der Einsetzung der »grossen Vernunft« des Leibes: »Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« (KSA 4, 39f.) Das zum Leib

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Vgl. auch KSA 6, 312, 314, 317, 328, 425. Vgl. KSA 6, 349. F. Kittler, Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 96, 98. So diagnostizierte etwa das Turiner ›Gutachten‹, vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Bd. 3, S. 308. Vgl. A. Nehamas, Nietzsche, S. 38ff. L. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, S. 244, 268, 282, 292.

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umgewertete Selbst besteht aus einer pluralen organischen Funktionseinheit, zu der eben auch das Bewußtsein gehört: »Am Leitfaden des Leibes erkennen wir den Menschen als eine Vielheit belebter Wesen, welche theils mit einander kämpfend, theils einander ein- und untergeordnet« (KSA 11, 282) sind. Physiologisch wird das plurale Selbst in ›Ecce homo‹ durch die genealogische ›doppelte Herkunft‹ und im Durchgang durch die verschiedenen somatischen Zustände und physiologischen Typen der Dialektik der großen Gesundheit gezeichnet. Psychologisch vervielfältigt sich das Selbst ebenfalls in der entsprechenden Typologie und durch die genannten Ich-Einsetzungen. ›Ecce homo‹ bleibt allerdings nicht bei einer amorphen Vielheit des Selbst stehen, sondern diese wird »in Eins [ge]dichtet« (KSA 6, 348). Die bislang skizzierte dominierende somatopsychische Denkbewegung wird durch eine psychosomatische ergänzt. Es geht dann nicht mehr allein um die leibseelische Selbst-Diagnose, sondern um eine erzählerische Selbsterschaffung. Dieser soll im abschließenden Kapitel ›Existentielle Hermeneutik‹ nachgegangen werden. V.1.3. Leben und Erkennen Wurden bislang der psychologische und physiologische Fall als mögliche Bedeutungsschichten der auf Personal-Akten beruhenden Philosophie aufgezeigt, so ist es jetzt an der Zeit, die Akten auf ihren lateinischen Ursprung im actus hin zu befragen. Denn seit der ›Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹ profiliert sich die Philosophie bei Nietzsche als Handlung, als Lebensform. Man »lebt[e] philosophisch« (KSA 1, 812) dort. Von den Griechen kann man lernen »zum Leben, nicht zum gelehrtenhaften Erkennen, alles Erlernte als Stütze« zu benutzen, weil sie das, »was sie lernten, sogleich leben wollten.« (KSA 1, 806f.) In Nietzsches Philosophiegeschichte gehören neben den Lehrsätzen und -methoden darum auch Lebensstil, Kleidung, Gestik der Philosophen sowie Momente erlebter Erkenntnis. Parmenides Lehre vom Sein wird als ein solcher Moment plötzlicher Erkenntnis stilisiert, der »für sein eignes Leben zum Grenzstein« (KSA 1, 836) wird und die vorsokratische Philosophie in zwei Epochen zerteilt. Anekdotisch schildert uns der Erzähler was »[a]n jenem Tage« zufällig und »plötzlich« geschah, durch den die »furchtbaren Abstraktionen«, wie das »Seiende« und das »Nichtseiende« und die Zerteilung der Erkenntnisorgane in die Welt kam, wo nach Amputation der Augen, Ohren und Zunge nur noch »des Gedankens Kraft« (KSA 1, 841ff.) übrig bleibt. Eine ähnlich dramatische Inszenierung einer Erkenntnis als plötzlichem und folgenschwerem Erlebnis wird erst wieder der ›Zarathustra‹ bieten. Zarathustras Erlebnis der ewigen Wiederkunft ist durchaus als Gegenmoment gezeichnet, der Parmenides’ »Todesruhe [...] des Seins« (KSA 1, 844) wieder zugunsten des Werdens auflöst. In ›Schopenhauer als Erzieher‹ wird die griechische Einheit von Leben und Erkennen, wo der Philosoph »durch das sichtbare Leben und nicht bloss durch 320

Bücher«, »durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben« ein Beispiel geben konnte, noch einmal als ein Idealbild des »ganzen Menschen« (KSA 1, 350, 355) zitiert. Als ein Leitbild befähigt diese Vorstellung dazu, über sich hinaus zu wollen, es bedingt den Willen zu einem »höheren Selbst«, »damit endlich wieder der Mensch entstehe, welcher sich voll und unendlich fühlt im Erkennen und Lieben, im Schauen und Können, und mit aller seiner Ganzheit an und in der Natur hängt, als Richter und Werthmesser der Dinge.« (KSA 1, 385) Biographische Bedingungen, die Schopenhauers Entwicklung zu unzeitgemäßer ganzheitlicher Existenz begünstigen, sieht Nietzsche in der durch Reisen mit dem Vater erfahrenen kosmopolitischen Erziehung, durch die er »nicht Bücher, sondern Menschen kennen« (KSA 1, 408) lernen konnte, sowie der späteren finanziellen Unabhängigkeit, vor allem aber in der Abstinenz von den Gelehrten, der Bildung seiner Zeit. Im weiteren ist es die frühzeitige »Vision« des Lebens als Weltgericht, die »zu den herrlichen Bedingungen seiner Existenz« gehört, da sie seinem Leben eine »Aufgabe« (KSA 1, 410f.) gibt. Wieder ist es wie im Falle des Parmenides oder später Zarathustras die plötzliche Erkenntnis, die als Berufung sowohl die Willensfreiheit des Menschen einschränkt – »wenn man unter Freiheit den närrischen Anspruch, seine essentia nach Willkür wie ein Kleid wechseln zu können, versteht« (KSA 1, 831) –, da sie ihm mit Notwendigkeit eine Aufgabe zuteilt, als auch zur systematischen Lebensführung anhält. Denn mit dieser Unverfügbarkeit soll freiheitlich oder spielerisch umgegangen werden, was Nietzsche exemplarisch durch den Künstler, im ästhetischen Zustand verwirklicht sieht. Ein Aspekt, der später unter dem Stichpunkt ›Existentielle Hermeneutik‹ behandelt werden soll. Zu Nietzsches Konzeption einer praktischen Philosophie im Schopenhauer-Essay gehört schließlich noch sein Diktum, daß es nur eine mögliche Form der Kritik von Philosophie gebe, »nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne« (KSA 1, 417). Der Zusammenhang von Erlebnissen und Gedanken, Formulierungen, daß man »durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist«, diese »durchlebt«26 habe, durchziehen ›Menschliches, Allzumenschliches‹. Im ›Zarathustra‹ wird der Erkenntnis- dann konsequent zum Lebensprozeß umgewertet, indem Zarathustras Erleben und Durchleben des Ewigen-Wiederkunfts-Gedankens als »höchster Formel der Bejahung« des Daseins die »Grundconception des Werks« (KSA 6, 335) abgibt. Hier macht Zarathustra auch auf das Verfallsdatum von Begründungsverhältnissen aufmerksam: »Das ist lange her, dass ich die Gründe meiner Meinungen erlebte« (KSA 4, 163). ›Ecce homo‹ präsentiert die Lebensgeschichte des Autors vor allem als Werk- und Leibgeschichte, wie im vorangehenden skizziert. Neben den diätetischen Überlegungen und der Dialektik der ›großen Gesundheit‹ wird der Zusammenhang von Erleben und 26

KSA 2, 358, 44; vgl. auch 325, 236, 358.

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Erkennen erneut durch Momente der Inspiration, der plötzlichen Erkenntnis dramatisiert.27 So ist ›Ecce homo‹ selbst, wie der Ich-Erzähler einleitend kommentiert, Resultat eines »vollkommnen Tages«. An diesem Tag, Nietzsches 44. Geburtstag, vollzieht sich im Selbstgespräch – »Und so erzähle ich mir mein Leben« –, in der Schrift eine Wiedergeburt des Sprechers, durch die er sich in den allgemeinen Prokreationskreislauf, »wo Alles reift« (KSA 6, 263), einschreibt. Auch die Empfängnis des ›Zarathustra‹ wird in jedem Schritt, von der Befruchtung im August des Jahres 1881 über die »achtzehn Monate für die Schwangerschaft« bis zur »plötzlichen und unter den unwahrscheinlichsten Verhältnissen eintretenden Niederkunft im Februar 1883«, in der Metaphorik von Inspiration und Prokreation stilisiert. Das Resultat, das alter ego, der »Sohn Zarathustra«,28 »als Typus [...] überfiel mich ...« (KSA 6, 335ff.). Dem folgt dann eine kurze Skizze zur »Erfahrung der Inspiration«, die mit dem Begriff der Offenbarung an die religiöse Tradition solcher Erfahrungen anknüpft und ebenso wie ›Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹ das Moment der Notwendigkeit und Unfreiheit in diesem Erlebnis hervorhebt: »ich habe nie eine Wahl gehabt.« Neu hinzugekommen ist die Ausgestaltung der somatischen Seite dieses Zustands: »Thränenstrom«, »ein vollkommenes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen«. Was im weiteren diese Erfahrung kennzeichnet – auch dies eine Reminiszenz an die Mystik –, ist eine gewaltsam sich aufdrängende Gleichnisrede, wobei die »Unfreiwilligkeit des Bildes« (KSA 6, 339f.) als Garant für den Realitätsgehalt der Worte gilt. Gedanke und Ausdruck werden also im Zustand der Inspiration empfangen. Zudem sind der Wille und das Erkennen von den diätetischen Rahmenbedingungen abhängig. Als ganzheitliche Erfahrung ist die Inspiration auf den richtigen Ort, das richtige Klima und die rechte Zeit angewiesen. Nietzsches praktische Philosophie propagiert so einen Kontextualismus: »[E]in Fehlgriff in Ort und Klima [kann] Jemanden nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten [...]: er bekommt sie nie zu Gesicht.« (KSA 6, 282) V.1.4. Existentielle Hermeneutik Bislang wurden die Begriffe ›Reduktion‹, ›Person‹ und ›Personal-Akten‹ des einleitenden Zitats näher beleuchtet. Nun sollen die ›Akten‹ als Aufzeichnungsfläche der Person, der Zusammenhang von Leben und Schreiben ebenso wie die Bewegungsrichtung des Denkens in den Blick genommen werden: Also ›die 27

28

Für Jaspers sind solche Momente einer plötzlichen, »überfallenden Erfahrung« bzw. »mystische Erfahrungen« mögliche Zeichen für den Einfluß eines ›biologischen Faktors‹ auf Nietzsches Spätphilosophie, K. Jaspers, Nietzsche, S. 82, 90. Einfacher gesagt können sie als Symptome einer Krankheit diagnostiziert werden. Als ›Sohn‹ bezeichnet Nietzsche den ›Zarathustra‹ in Briefen, vgl. KGB III/1, 508ff.

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Person dahinter‹ und ihre eigentümliche Existenzweise, ›unwiderlegbar‹ und ›nicht-tot-zu-machen‹. Das ›dahinter‹ kann zeitlich ausgelegt werden, denn die unwiderlegbare Person ist vor dem Werk gar nicht vorhanden. Eine einfache Widerspiegelungs- oder Ausdruckstheorie greift zu kurz. Die Person ist Resultat des Textes; der Text, das philosophische System ist ein Ins-Werk-Setzen der Person: »das ›Werk‹, das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst Den, welcher es geschaffen hat« (KSA 5, 224). Es handelt sich um einen Vorgang der Selbsterschaffung. Die Praxisbezogenheit dieser Philosophie, der actus, wäre hier noch einmal hervorzuheben. Nehamas hat in diesem Sinne auf die Literarizität der Figuren Nietzsches hingewiesen und sein Werk in Gänze als autobiographisch gekennzeichnet.29 Abzugrenzen ist die Person hinter dem Werk von der Person vor dem Werk, die Gegenstand für Psychologen, »Physiologen und Vivisektoren des Geistes« (KSA 5, 343) werden kann. Diese psychologische oder physiologische Komponente einer auf Personal-Akten beruhenden Philosophie wurde bereits im ersten Kapitel skizziert. Daß die Selbsterschaffung, um die es jetzt gehen soll, im Falle Nietzsches äußerst erfolgreich gewesen ist, davon zeugt eine durchaus kritisch gemeinte Äußerung der Schwester: »ich mußte es erkennen Fritz ist anders geworden er ist so wie seine Bücher«. Auch seine literarische Breitenwirkung hat sie abschätzig kommentiert, so äußert sie über Lou Salomé, diese sei »die personifizierte Philosophie meines Bruders«.30 Neben dieser Interferenz von Leben und Werk, Person und Buch gehört zu Nietzsches Hermeneutik des Selbst eine Umwertung der Selbsterkenntnis in Selbsterschaffung, die in den Texten allmählich fortschreitet. Im Spätwerk heißt es dann exemplarisch von Goethe: »er disciplinirte sich zur Ganzheit, er schuf sich...« (KSA 6, 151). Zentrale Elemente dieser Selbsterschaffung sind die Selbstüberwindung, womit auf die Prozeßhaftigkeit des Geschehens und auf seine Unabschließbarkeit aufmerksam gemacht wird, und der momentan erreichte Zustand von ›Ganzheit‹, ›Einheit‹ oder Zusammenhang. Diese Hermeneutik des Selbst ruht ihrerseits auf einer grundlegenderen Hermeneutik des Daseins auf, derzufolge der Mensch wie alles organische Leben ein interpretierendes Wesen ist. Der Wesenszug von Existenz ist Interpretation. Im Nachlaß hat Nietzsche dies »Wille zur Macht« genannt: Der Wille zur Macht interpretirt: bei der Bildung eines Organs handelt es sich um eine Interpretation; er grenzt ab, bestimmt Grade, Machtverschiedenheiten. Bloße Machtverschiedenheiten könnten sich noch nicht als solche empfinden: es muß ein wachsen-wollendes Etwas da sein, das jedes andere wachsen-wollende Etwas auf seinen Werth hin interpretirt. [...] Der organische Prozeß setzt fortwährendes Interpretiren voraus.« (KSA 12, 139f.)

29 30

Vgl. A. Nehamas, Nietzsche. Zit. nach W. Kaufmann, Nietzsche, Philosoph – Psychologe – Antichrist, S. 62.

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Das begriffliche Denken ist als »Nöthigung« zu verstehen, »uns eine Welt zurechtzumachen, bei der unsre Existenz ermöglicht wird« (KSA 12, 418).31 In der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ wird die Frage gestellt, »ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ›Sinn‹ eben zum ›Unsinn‹ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist«, und bejaht: »Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ›unendlich‹ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst.« (KSA 3, 626f.) Die »Erhöhung des Menschen« wird als »Überwindung engerer Interpretationen« (KSA 12, 114) gefaßt. Verfolgt man die Wandlungen von Nietzsches existentieller Hermeneutik, so führt der Weg einerseits von der Selbsterkenntnis über die Selbsterziehung zur Selbsterschaffung und andererseits zeichnet sich eine Radikalisierung hin zu einer Hermeneutik des Daseins ab. Was vormals dem Text- und Selbstverstehen vorbehalten blieb, wird dann zum Grundzug des Lebens insgesamt. Wollte man diese Entwicklung in einer Anekdote erzählen, so müßte sie etwa folgendermaßen klingen: Ab dem Zeitpunkt, an dem Nietzsche seine berufliche Philologen-Existenz aufgibt, wird ihm die ganze Welt zum Text. Die Abhandlung ›Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹ eröffnet mit ihrem ersten Satz nicht das Paradigma des philosophischen Verstehens oder des Text-Verstehens, sondern dasjenige des zwischenmenschlichen Verstehens: »Bei fern stehenden Menschen genügt es uns ihre Ziele zu wissen, um sie im Ganzen zu billigen oder zu verwerfen.« Gleich im Vorwort nimmt Nietzsche seine Philosophiegeschichte aus dem Diskurs der Philosophie verstanden als Logik oder Erkenntnistheorie heraus. Wahr oder falsch sind keine Kriterien für die Beurteilung von Systemen,32 sondern es ist eben »eine persönliche Stimmung«, die sie »unwiderleglich« macht. Dem hat sich auch das Darstellungsverfahren anzupassen: »Ich erzähle die Geschichte jener Philosophen vereinfacht: ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat«. Im späteren Vorwort präsentiert sich der Sprecher noch deutlicher als Anekdotenerzähler: »Aus drei Anecdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben«. Es handelt sich also durchaus um ein literarisches Erzählverfahren, dessen Ziel es ist, »jene Naturen« – gemeint sind die großen Menschen – »nachzuschaffen« (KSA 1, 801ff.). Es handelt sich um eine literarische Reanimation der großen Griechen, die nun in ein »Geistergespräch« (KSA 1, 808) versetzt werden. Ihre »Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls einmal dagewesen und also möglich« (KSA

31 32

»Das vernünftige Denken ist ein Interpretiren nach einem Schema, welches wir nicht abwerfen können.« KSA 12, 194. »Nun sind philosophische Systeme nur für ihre Gründer ganz wahr: für alle späteren Philosophen gewöhnlich Ein großer Fehler«, KSA 1, 801.

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1, 801). Zu dieser Art zu leben gehört »die tugendhafte Energie«, »ihre eigne Form zu finden und diese bis ins Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden.« (KSA 1, 807) Der Typus des »ästhetischen Menschen« und der Gedanke des Lebens als Kunstwerk taucht hier auf: »Es ist als ob Anaxagoras [...] uns zuriefe: das Werden ist kein moralisches, sondern nur ein künstlerisches Phänomen« (KSA 1, 869). Dem Menschen wird das Kunstwerk darin zum Vorbild, daß sein Entstehen jenes auch für die Formung des Menschen relevante Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung vorführt. So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und Harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerkes paaren müssen. (KSA 1, 831)

Angesichts der Kunst kann der Begriff der Willensfreiheit ad absurdum geführt werden und durch den der »irrationalen Willkür« (KSA 1, 869) ersetzt werden, für den sowohl der Künstler wie auch das Kind stehen. Diesem Gedanken, die Welt und sich selbst als ein Kunstwerk zu betrachten, gesellt sich schließlich mit Heraklit noch der Anspruch der Selbsterkenntnis hinzu: »Mich selbst suchte und erforschte ich« (KSA 1, 835). Im Erforschen klingt bereits das Selbstexperiment Nietzsches an, und die Erinnerung an das delphische Orakel an dieser Stelle weist im weiteren darauf hin, daß es sich bei diesem Vorhaben um kein leichtes handelt. Den Schwierigkeiten der Selbsterkenntnis widmet sich dann der Schopenhauer-Essay ausführlich. Hier wird erläutert, daß solche Erkenntnis nicht direkt zu haben und zudem ein gefährliches Unternehmen ist, durch das man sich unheilbar verletzen kann. Die Metaphorik der Selbsterkenntnis, »sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen« (KSA 1, 340), bleibt bis in die Spätphilosophie erhalten. Noch in den ›Dionysos-Dithyramben‹ endet ein solcher Abstieg ins Ich, »im eignen Schachte / [...] dich selber angrabend«, im Reim »Selbstkenner! ... / Selbsthenker! …« (KSA 6, 391, 392). Der ungefährlichere Weg der Selbsterkenntnis ist der indirekte. Das »Wesen« des Selbst läßt sich an seinen Ausdrucks- und Kommunikationsformen ablesen, über »Freund- und Feindschaften«, »Blick und Händedruck«, »Bücher und die Züge unsrer Feder«. Vor allem aber sind es die »verehrten Gegenstände« und die »wahren Erzieher und Bildner« des Selbst, die »das Grundgesetz deines eigentlichen Selbst« aussagen. Der ungefährliche Weg geht nicht nach Innen und Unten, sondern nach Außen und Oben: »Vergleiche diese Gegenstände, sieh, wie einer den andern ergänzt, erweitert, überbietet, verklärt, wie sie eine Stufenleiter bilden, auf welcher du bis jetzt zu dir selbst hingeklettert bist; denn dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir« (KSA 1, 340f.). In diesen Formulierungen steckt eine Version des von 325

Nietzsche vielfach variierten Pindar-Spruchs ›Werde, der du bist‹.33 Mit dem Untertitel ›Wie man wird, was man ist‹ bietet ›Ecce homo‹ später eine weitere Variante. Die Selbsterkenntnis wird hier mit den Momenten der Selbstüberwindung und -erschaffung gekoppelt. Ziel des Prozesses ist das »höhere Selbst«, das durch die Einsicht in das eigene »Ungenügen« und durch den Willen zur Selbstopferung (KSA 1, 385, 371) erreicht werden soll. Das höhere Selbst ist der Mensch in seiner Möglichkeitsform. Walter Kaufmann hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die dritte ›Unzeitgemäße Betrachtung‹ in diesen Gedanken der Existenzphilosophie besonders nahesteht.34 Die, sei es durch ein Grundgesetz des Selbst oder durch das Idealbild des Menschen, bedingte Zielgerichtetheit des Prozesses ist ein Aspekt, der in der Spätphilosophie wiederkehrt. Dort ist zwar nicht mehr vom Selbst des Bewußtseins, sondern von jenem des Leibes die Rede, jedoch ist auch dieses durch ein organisierendes Prinzip, einen Grundwillen oder Trieb strukturiert. Notwendigkeit und Spiel werden sich auch dann noch die Waage halten. Die Erziehung und der Weg des Selbstverstehens ist im Schopenhauer-Essay allein ein negatives Geschäft, es handelt sich darum, das Ich, »etwas durchaus Unerziehbares und Unbildbares« (KSA 1, 341), vom Bildungsschutt der Zeit zu befreien. »Wir haben uns über unser Dasein vor uns selbst zu verantworten; folglich wollen wir auch die wirklichen Steuermänner dieses Daseins abgeben und nicht zulassen, dass unsre Existenz einer gedankenlosen Zufälligkeit gleiche.« (KSA 1, 339) Eine weitere Eigentümlichkeit des hier propagierten Erziehungsgedankens besteht darin, daß zwischen Buch und Person kein Unterschied gemacht wird. Schopenhauer tritt Nietzsche »[z]war nur als Buch« gegenüber – »und das war ein grosser Mangel« –, wirkt auf ihn jedoch nichtsdestoweniger als ein »bewegtes, unbefangenes und ungehemmtes Naturwesen«. Damit das Buch als Naturwesen wirken kann, bedarf es einer besonderen Anstrengung des Lesenden: »Um so mehr strengte ich mich an, durch das Buch hindurch zu sehen und mir den lebendigen Menschen vorzustellen« (KSA 1, 350). Es handelt sich beim Fremdverstehen also um eine dem Selbstverstehen analoge Operation. In beiden Fällen sollen die Ausdrucksformen eine indirekte Lektüre der ihnen zugrundeliegenden Erlebnisstruktur ermöglichen. Dieses ›Zurücklesen‹ wird Nietzsche später auch physiologisch begründen.35 Und der Tradition der Hermeneutik gemäß ist das Verstehen nur dann erfolg33 34 35

Vgl. KSA 3, 519; 4, 297; 9, 555, und die Briefe an Lou Salomé, KGB III/1, 203, 247f., 282. Vgl. W. Kaufmann, Nietzsche, Philosoph – Psychologe – Antichrist, S. 185. »Das Sich-hineinleben in andere Seelen ist urspr nichts Moralisches, sondern eine physiologische Reizbarkeit der Suggestion: die ›Sympathie‹ oder was man ›Altruismus‹ nennt, sind bloße Ausgestaltungen jenes zur Geistigkeit gerechneten psycho-motorischen Rapports (induction psycho-motrice meint Ch. Féré) Man theilt sich nie Gedanken mit, man theilt sich Bewegungen mit, mimische Zeichen, welche von uns auf Gedanken hin zurück gelesen werden«, KSA 13, 297. Zur Nietzsche-Lektüre des Charcot-Schülers Féré siehe H. E. Lampl, Ex oblivione; B. Wahrig-Schmidt, »Irgendwie, jedenfalls physiologisch«.

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reich, wenn es seinem Gegenstand gegenüber homolog ist.36 Nietzsche ist nicht einfach Leser Schopenhauers, sondern er stilisiert sich zu dessen Sohn und zum einzigen Adressaten: »Ich verstand ihn als ob er für mich geschrieben hätte« (KSA 1, 346). Von den eigenen Schriften heißt es später im ›Ecce homo‹: »Man muss für sie geschaffen sein« (KSA 6, 258). Mit der Unterscheidung von Selbst und wahrem Selbst im SchopenhauerEssay – etwa in dem Zuruf: »sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst« (KSA 1, 338) – ist eine Problematisierung der Selbsterkenntnis vorgezeichnet, die Nietzsche in der Folge entfalten wird. Denn mit dieser Unterscheidung ist die Möglichkeit der Verwechslung in die Welt gekommen. Entweder verwechselt man sich selbst zwischen scheinbarem und wahrem Selbst oder die anderen tun dies. Potenziert wird dieses Problem noch durch die von Nietzsche im weiteren angenommene These einer ›SubjektVielheit‹, von der schon oben die Rede war. Auf diese Schwierigkeit reagiert ›Ecce homo‹. Der Text will nicht nur sagen ›wie man wird‹, sondern auch ›was man ist‹. Das Vorwort beginnt mit dem Imperativ: »Verwechselt mich vor Allem nicht!« Es gilt sowohl bestimmte Vorstellungen der anderen als auch eigene Selbsttäuschungen zu korrigieren. Die letzteren Korrekturen, die Ersetzungen von Wagner und Schopenhauer durch Nietzsche wurden bereits genannt, aber auch Fremdzuschreibungen wie »Popanz«, »Moral-Ungeheuer«, »Heiliger« (KSA 6, 257f.) sind abzuwehren. ›Ecce homo‹ ist demzufolge eine doppelte Redesituation zu eigen, die sich auch in den zwei Paratexten, dem Vorwort und dem ›Zwischenblatt‹ oder »Exergon«37 bekundet. Einmal wendet sich der mit Nietzsche unterzeichnende Sprecher an das unverständige, zeitgenössische Publikum – und in der Hoffnung auf zukünftige verständigere Leser – mit der Absicht, »zu sagen, wer ich bin.« (KSA 6, 257) Das andere Mal wendet sich der mit Dionysos unterzeichnende Ich-Erzähler38 an sich selbst, mit einer anderen Motivation des Erzählens, nämlich um Dank zu sagen: »Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? Und so erzähle ich mir mein Leben.« (KSA 6, 263) Gemeinsam ist beiden Erzählsituationen, daß es um die Frage von Tod oder Leben bzw. um die Unsterblichkeit geht. Im ersten Vorwort steht das Leben in Frage: »es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, daß ich lebe? ... Ich brauche nur irgend einen ›Gebildeten‹ zu sprechen, der im Sommer ins Oberengadin kommt, um mich zu überzeugen, dass ich nicht lebe ...« (KSA 6, 257). Das Zwischenblatt nimmt eine Gleichsetzung zwischen Leben, Unsterblichkeit und Schrift vor: »Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich durfte es begraben, – was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich. Die Umwerthung aller

36 37 38

Vgl. M. Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 163. J. Derrida, Otobiographien, S. 33. Vgl. KSA 6, 374.

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Werthe, die Dionysos-Dithyramben und, zur Erholung, die Götzen-Dämmerung«. In einem Fall handelt es sich um eine erhoffte literarische Reanimation in der Außenwirkung, im anderen Fall um ein sich Erfreuen, ein Erbauungsbuch. Jedenfalls spricht immer ein Untoter – »ich bin [...] als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch« (KSA 6, 263f.) – bzw., wie es eingangs im Brief hieß, eine ›nicht-tot-zu-machende Person‹. Ob in der Lektüre der alten Griechen oder im Schreiben der eigenen Lebensgeschichte, beide Male liegen uns ›Geistergespräche‹ vor. Die Existenzweise in der Schrift, die Person im bzw. hinter dem Werk erweist sich als die dauerhaftere, aber auch prekärere. Diese Person kann im Verstehen reanimiert und d.h. nachgeschöpft werden, sie ist aber auch auf dieses Außen, das Publikum angewiesen. Es gibt ein hermeneutisches Jenseits von Leben und Tod.39 Die Form der Selbsterkenntnis, die uns in ›Ecce homo‹ vorliegt, ist somit eine Selbst(nach)schöpfung, ein Übergang in eine andere Existenzform. Das Selbst geht vom Leib in das Textkorpus über. Handelt es sich bei dem Selbst des Leibes um eine sich selbst organisierende, organische Einheit, deren Prozesse weitgehend unbewußt ablaufen, so erhält das Selbst des Bewußtseins als peripheres Organ dieses Verbandes die Funktion, die Abgrenzung innen/außen zu regulieren. Genealogisch argumentiert Nietzsche, daß das Bewußtsein »überhaupt sich nur unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses entwickelt hat, – dass es von vornherein nur zwischen Mensch und Mensch [...] nöthig war, nützlich war [...]. Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch« (KSA 3, 591). Eine ähnliche Begründung wird für die Existenz des Buches ›Ecce homo‹ im Vorwort gegeben. Es soll eine Kommunikationssituation zwischen Autor und Leser herstellen: »In Voraussicht, dass ich über Kurzem mit der schwersten Forderung an die Menschen herantreten muss, die je an sie gestellt wurde, scheint es mir unerlässlich, zu sagen, wer ich bin.« (KSA 6, 257) Die Identität der Person wird in den Dienst der Mitteilungsfunktion gestellt, die Synthetisierung der Subjekt-Vielheit zur Einheit des Bewußtseins ist ein Erfordernis der zwischenmenschlichen Verständigung. Mit der zweifachen Adressierung der Vorworte wird diese doppelte Bewegung, Abgrenzung nach außen und Eingrenzung nach innen, kenntlich gemacht. Im weiteren erscheint es nun plausibel, warum die Autobiographie als Werkgeschichte erzählt wird. Ist das Selbstbewußtsein wesentlich Kommunikationsinstanz, so dokumentiert es sich als solches am besten in seinen fixierten, schriftlichen Mitteilungen. Die Differenz zwischen der großen Vernunft des Leibes

39

Vgl. auch Nietzsches Äußerung in dem eingangs zitierten Brief an Salomé vom September 1882 über ihr ›Lebens-Gebet‹ und seine Komposition dazu: »Das wäre so ein kleines Weglein, auf dem wir Beide zusammen zur Nachwelt gelangten« (KGB III/1, 259). Derridas Lektüre von ›Ecce homo‹ beschäftigt sich vor allem mit diesem autobiographischen Schritt »jenseits der Opposition zwischen Leben und/oder Tod«, J. Derrida, Otobiographien, S. 39.

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und der kleinen des Bewußtseins liest sich in ›Ecce homo‹ darum auch so: »Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften.« (KSA 6, 298) Neben der bereits skizzierten Demontage des Bewußtseins durch den Leib handelt es sich hierbei um den zweiten Akt dieser Demontage: Im artikulierten Selbstbewußtsein in der Schrift bin ich nicht mir selbst am nächsten, sondern am fernsten40 – ich bin im ›Andren‹ –, weil ich in zwischenmenschlicher Kommunikation begriffen bin und auf Worte als »Mittheilungszeichen« unserer »Gemeinschafts- und Heerden-Natur« angewiesen bin. »[D]as Bewusstsein [gehört] nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen« und folglich wird »Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, ›sich selbst zu kennen‹, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen« (KSA 3, 592). Seine Autobiographie zu schreiben bedeutet dann, »seinen Fall [zu] verallgemeiner[n]« (KSA 2, 21). Ironischerweise liest sich ›Ecce homo‹ auf der Folie dieser Überlegungen als jenes Buch Nietzsches, das sich dem Anderen, dem Lesenden am meisten zuwendet, obwohl es gemeinhin als Dokument der Egozentrik verstanden wurde. Auch in der Lebensgeschichte von Nietzsches alter ego Zarathustra erscheint das Selbstbewußtsein, die Figur als Effekt einer Kommunikationssituation, deren Eckpfeiler bereits im Titel genannt werden: ›Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen‹.41 Gegenüber dem Schopenhauer-Essay und den nachfolgenden Verwechslungsproblemen hat sich in diesem Text jedoch Entscheidendes verändert. Das dem Mitteilungsbedürfnis geschuldete und immer noch täuschungsanfällige Bewußtsein ruht auf einer stabilen, täuschungsresistenten Einheit des Leibes, dem ›untersten Selbst‹ auf, und dies greift, wie bereits gezeigt, auf dem Wege der Dialektik der großen Gesundheit jeweils korrigierend in die Prozesse des Bewußtseins ein. Es handelt sich um eine »doppelsinnige Beziehung zwischen Entdeckung und Schaffen«.42 Das unterste Selbst des Leibes ebenso wie die Einheit zwischen Leib und Bewußtsein ist zu entdecken, die Einheit der vergangenen und gegenwärtigen Bewußtseine ist zu schaffen. Es kommt darauf an, im Erzählen die organische Verbindung von stabilem Zentrum, dem LeibSelbst, und der aufgrund des Außeneinflusses fluktuierenden Peripherie des Bewußtseins herauszustellen. Dies geschieht in der engen Verschränkung von Leib- und Werkgeschichte. Die Einheit des Bewußtseins wird nachträglich ebenfalls als organisches Wachstum geschildert, angetrieben durch ein vereinigendes Prinzip, einen

40 41

42

Vgl.: »Jeder ist sich selber der Fernste«, KSA 3, 560. Anke Bennholdt-Thomsen hat in ihrer Studie überzeugend die wechselnden Kommunikationssituationen zum Leitfaden der Analyse gemacht: Nietzsches ›Also sprach Zarathustra‹ als literarisches Phänomen. A. Nehamas, Nietzsche, S. 241.

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»Grundwillen«43 oder eine »Aufgabe«,44 wie es in ›Ecce homo‹ heißt. Die Rede von einer Lebensaufgabe wird zum strukturierenden Leitmotiv des Textes, sie wird in zahlreichen Formulierungen beschworen und in ihrer welthistorischen Bedeutung skizziert, etwa »einen Augenblick höchster Selbstbesinnung der Menschheit vorzubereiten« (KSA 6, 330). In einer anderen, im ›Zarathustra‹Zitat vorgetragenen Variante lautet die Aufgabe: »Und das ist all mein Dichten und Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall.« (KSA 6, 348) Die Autobiographie, die Personal-Akten werden so zur Lebensaufgabe in ›Ecce homo‹. Das In-Eins-Dichten eines Lebens steht pars pro toto für die Personal-Akten der Menschheit. Die Archivierung wird in diesem Zuge mit der Bejahung des Daseins, der Formel von der Ewigen Wiederkehr verbunden. Lebensaufgabe ist die interpretierende Sinnstiftung. Und das Zusammentragen des Lebens vollzieht sich auf dem Wege des Zitats. Jene Texte und die ihnen zugehörigen Selbstfigurationen, die sich nahtlos an das gegenwärtige Ich anschließen lassen, werden unkommentiert in ›Ecce homo‹ integriert. Es handelt sich vor allem um Zitate aus dem fünften Buch der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ und dem ›Zarathustra‹. Insbesondere die älteren Selbstentwürfe und Schriften erfahren jedoch eine massive Umdeutung, sei es als Ausdruck einer Krise, wie ›Menschliches, Allzumenschliches‹, sei es als Selbsttäuschung, wie die ›Unzeitgemäßen Betrachtungen‹, oder sei es als notwendiger Irrweg, wie die Philologen-Existenz: »Es ist meine Klugheit, Vieles und vielerorts gewesen zu sein, um Eins werden zu können – um zu Einem kommen zu können. Ich musste eine Zeit lang auch Gelehrter sein.« (KSA 6, 321)45 Durch die Kette der Ich-Einsetzungen von Schopenhauer bis Dionysos erscheint der Prozeß der bewußten Aneignung im weiteren als ein unabschließbarer – enden würde er erst mit dem Abbruch der Kommunikation mit anderen. »Einheit« vollzieht sich so als ein »fortdauernde[r] Prozeß der Integration«.46 Die Schriften zeugen von den jeweiligen Zuständen ihres Autors, nicht anders ist ›Ecce homo‹ auch nur Ausdruck des gegenwärtigen sammelnden und in Eins 43

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46

KSA 5, 248, dort heißt es: »Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe, unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und Ob’s – verwandt und bezüglich allesammt unter einander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne.« Vgl. auch: »Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint: bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Verzahnungen auffinden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Diess ist die Aufgabe des Biographen: er muss nach dem Grundsatze über das Leben denken, dass keine Natur Sprünge macht.« KSA 2, 640. KSA 6, 257, vgl. im weiteren: 270, 274, 282, 283, 293, 294, 321, 325, 327, 345, 349, 350, 355, 357, 360. Auch hier handelt es sich um eine Anspielung auf die bereits erwähnten ›Zahmen Xenien‹, WA I/3, 369: »Immer hab’ ich nur geschrieben / Wie ich fühle, wie ich’s meine, / Und so spalt’ ich mich, ihr Lieben, / Und bin immerfort der Eine.« A. Nehamas, Nietzsche, S. 237.

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dichtenden Ich. Bei den zugrundeliegenden Zuständen handelt es sich wie im Falle der oben angesprochenen Inspiration bzw. der plötzlichen Erkenntnis um besondere Zustände erhöhter Kommunikativität. »Der aesthetische Zustand hat einen Überreichthum von Mittheilungsmitteln, zugleich mit einer extremen Empfänglichkeit für Reize und Zeichen. Er ist der Höhepunkt der Mittheilsamkeit und Übertragbarkeit zwischen lebenden Wesen«. Die Mitteilung ist Ausdruck erhöhten Lebens und vermittelt diesen Zustand auch im Verstehen. »Jede reife Kunst«: »Jede Erhöhung des Lebens steigert die Mittheilungs-Kraft, insgleichen die Verständniß-Kraft des Menschen.« Die Kunst zielt auf eine Kongruenz zwischen Produzierendem und Rezipierendem: »Alle Kunst [...] redet immer nur zu Künstlern, – sie redet zu dieser Art von feiner Erreglichkeit des Leibes.« (KSA 13, 296f.) Die im Zwischenblatt formulierte einsame Erzählsituation, das Zwiegespräch erweist sich in Nietzsches Spätphilosophie als identisch mit der im Vorwort vorgestellten Erzählsituation, die sich an die zeitgenössischen und künftigen Leser wendet. Bei dem öffentlichen Selbst des Vorwortes und dem privaten Selbst des Zwischenblattes handelt es sich um ein und dieselbe Person. Denn wir haben gesehen, daß Nietzsches Kontextualismus sowohl von einem fluidalen, durch seine Umwelt – Ernährung, Klima, Ort – beeinflußten Körper als auch von einem durch seine jeweiligen Zustände und Kommunikationssituationen bedingten Selbst ausgeht. Für sein ›ganzes Leben Danksagen‹ bedeutet dann, daß all diese Kontexte ebenfalls bejaht werden müssen, damit das Gewordensein bejaht werden kann. Insofern tendiert die Autobiographie zur Menschheitsgeschichte. Das welthistorische Pathos von ›Ecce homo‹ ist also durchaus konsequent. Das Selbst wurde in Nietzsches Werk auf eine lange Reise der Vermittlung geschickt: Zunächst auf den Weg der Selbsterziehung durch Vorbilder, die griechischen Philosophen, Wagner und Schopenhauer; dann die Einsicht, daß Selbsterkenntnis nur indirekt über den Weg der Ausdrucksformen des Geistes zu haben ist; und schließlich wurde mit der großen Vernunft des Leibes eine Umakzentuierung des Protagonisten vorgenommen. Was der kleinen Vernunft am Ende noch zu tun bleibt, ist die Entscheidung, nun selbst zum Erzieher – wohlgemerkt im Dienste des Leibes – zu werden. Dazu gehört die nachträgliche Bejahung des eigenen gewachsenen physisch-psychischen Selbst, die Erkenntnis des leitenden Prinzips dieses Selbst, des Grundwillens oder der Aufgabe, und die Bereitschaft, diese nun anderen mitzuteilen, »indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. ›Wie es mir ergieng‹, sagt er sich, muss es Jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und ›zur Welt kommen‹ will.« (KSA 2, 21) Nietzsche erzählt im Spätwerk von mehreren solchen Entscheidungen. Zwei Mal im Pseudonym, in der Vorrede von 1886 zu ›Menschliches, Allzumenschliches‹ im Namen des freien Geistes und im ›Zarathustra‹, schließlich in ›Ecce homo‹ im eigenen Namen: »Nietzsche als Erzieher« (KSA 6, 320). Die bewußte Selbstformung hat am Wachstum des Selbst zwar 331

den geringsten Anteil, sie macht es jedoch zu einem kommunizierbaren. Und die in Schriftform fixierte In-Eins-Dichtung des Selbst kann dann ihrerseits zum Vorbild der Lebenspraxis werden. Eins ist Noth. – Seinem Charakter ›Stil geben‹ – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. (KSA 3, 530)

Durch das Schreiben können folgende Alltagspraktiken eingeübt werden: 1. Selbstbeherrschung,47 2. ästhetische Übersicht, 3. Selbstgenuß und Erholung. Als erholsam bezeichnet Nietzsche in den letzten Jahren das Schreiben vor allem dann, wenn nicht das eigene Selbst, sondern die Personal-Akten anderer Gegenstand sind: »wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte – in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit«. Als »Kur und Selbst-Wiederherstellung« (KSA 2, 14) erscheinen rückblickend die ›Zurechtfälschungen‹ und ›Zurechtdichtungen‹ der Griechen und Unzeitgemäßen zu verwandten Geistern, als »kleine Erleichterung« ›Der Fall Wagner‹, als »Müssiggang eines Psychologen« (KSA 6, 11, 58) die ›Götzen-Dämmmerung‹. Auch dem Lesen wird eine solchermaßen erholsame Funktion zugeschrieben (KSA 6, 284f.). Stehen die Personal-Akten anderer Personen zur Diagnose, befindet sich der Sprecher also in der Rolle des Psychologen und Physiologen, so hat Lesen und Schreiben eine erholsame Funktion. Handelt es sich um eine Zusammenschau des eigenen Selbst und so um eine Indienstnahme dieses Selbst durch seine Aufgabe, dann ist dies hartes Selbsttraining wie im Falle von ›Zarathustra‹ und ›Ecce homo‹. Wobei insbesondere am letzten Beispiel veranschaulicht werden konnte, daß Selbstbeherrschung und -erbauung, Selbstverpflichtung und -genuß zusammengehen. Mit diesen Funktionen des Schreibens für das Leben ist die oben angesprochene psychosomatische Argumentationsrichtung Nietzsches skizziert. Im Wechsel von erholsamen und asketischen Schreib- und Lesestrategien48 wirkt die bewußte Selbstformung zurück auf die organische und steigert diese. Das eigene leibseelische Wohlbefinden ist allerdings nur ein, und man ist fast genötigt zu sagen, Nebeneffekt dieses Kommunikationsaktes. Denn dem hermeneutischen Zirkel von Teil und Ganzem vergleichbar impliziert die Selbstbejahung auch jene des Menschen und des Daseins insgesamt. Ein solches Sprechen ist »jasagend bis zur Rechtfertigung, bis zur Erlösung auch alles Vergangenen.« (KSA 6, 348) Nietzsches existentielle Hermeneutik ist so zwangsläufig mit einer umfassenderen Hermeneutik des Daseins verbunden. Hinter einer 47 48

Vgl.: »Du solltest Herr über dich werden«; »lange gefährliche Uebungen der Herrschaft über sich«, KSA 2, 20; 3, 350. Zu Nietzsches Verständnis von Askese siehe B. Thums, Auf der Suche nach einem neuen asketischen Ideal.

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auf Personal-Akten beruhenden Philosophie verbirgt sich gleichermaßen der psychologische und physiologische Fall, der Typus, die leibseelische Einheit, die Philosophie als Lebenspraxis und schließlich das mit den Akten sich andeutende archivarische und summarische Interesse einer In-Eins-Dichtung des Lebens. Das Charakteristikum von Nietzsches Philosophie ist die Einzeichnung des Leibes in die Kunstlehre vom Verstehen. Auch Dilthey wird in seiner pragmatistischen Phase einen ähnlichen Schritt erwägen, indem er eine Verbindung der Hermeneutik mit dem Konzept des Reflexbogens bedenkt. Erleben, Ausdruck und Verstehen könnten so mit Reiz, Verarbeitung und Reaktion gekoppelt werden (Kap. V.2.5). Für eine Hermeneutik, die gleichermaßen die somatopsychischen wie auch die psychosomatischen Wechselwirkungen im Blick hat, wird es im 20. Jahrhundert, nach der Trennung der Geistes- und Naturwissenschaften keine Nachfolger mehr geben. In der Psychoanalyse wird die Psychosomatik dominieren. Die Eigenlogik des Leibes bleibt dort auf der Strecke, er wird zur Aufschreibefläche der Seele. Die für Nietzsche eigentümliche Teilnehmerperspektive von Patient und Arzt in einem wird durch eine einsinnigere, hierarchische Beziehung abgelöst: Der eine ist unbewußt sich artikulierender Körper, der andere diagnostizierendes Bewußtsein.

V.2. Verstehende Psychologie: Dilthey, Jaspers V.2.1. Dilthey – Nietzsche In der Forschung ist mehrheitlich die große gedankliche Nähe zwischen Nietzsche und Dilthey betont worden, die Differenzen seien nur als unterschiedliche Nuancierungen ein und derselben Sachverhalte zu verstehen. Kamerbeek führt unter Verweis auf Bollnow den Lebensbegriff an und Visser bringt das Erleben ins Spiel.49 Nach Helmut Pfotenhauer teilt Nietzsche mit Dilthey die Ansicht, die historische Wirklichkeit als Zwecksetzungen wertorientierter Individuen zu sehen, akzentuiere jedoch radikaler die Beschränkungen des Verstehens. Ziele der Ältere auf Ausgleich und das Gesunde, so denke der Jüngere vom Extrem aus, den Rauschzuständen und dem Kranken.50 Stegmaier spricht von einer »gemeinsamen Philosophie der Inkommensurabilität und Individualität«, deren charakteristischer Unterschied darin liege, daß Nietzsche sich »immer stärker auf das Persönliche« konzentriere, während Dilthey »sich durch methodische Disziplinierung vom allzu Persönlichen«51 zu befreien suche. Volker Gerhardt hebt die ›anthropologische Nähe‹ zwischen den beiden Denkern hervor und 49 50 51

J. Kamerbeek, Dilthey versus Nietzsche, S. 70; G. Visser, Dilthey und Nietzsche, S. 224. H. Pfotenhauer, Mythos, Natur und historische Hermeneutik, S. 336, 339f.; H. Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 62, 68, 80f. W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 66.

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grenzt allein die unterschiedliche Methodik »zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Einstellung zur Philosophie«52 ab. Erkennbar ist es wiederum die biographische Erkenntnis, die hier als Gemeinsamkeit und Differenz der beiden Philosophen benannt wird. Dies ist kaum verwunderlich, läßt sich Wilhelm Dilthey doch als der Anwalt der biographischen Erkenntnis im ausgehenden 19. Jahrhundert bezeichnen. Praktisch hat er dies in seinen Schleiermacher- und Hegel-Biographien vor Augen geführt, wie auch in kürzerer essayistischer Form in den Dichter-Portraits von ›Das Erlebnis und die Dichtung‹ (1906), seiner erfolgreichsten Publikation. Theoretisch gilt ihm die Biographie bzw. Autobiographie als »höchste und am meisten instruktive Form, in welcher uns das Verstehen des Lebens entgegentritt« (VII, 199). So ist auch die methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften in der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ (1883), wie der Autor vermerkt (I, XX), gleichsam als Zwischenschritt in das schließlich doch unvollendet gebliebene Projekt der Schleiermacher-Biographie eingeschaltet. Es handelt sich um eine Metareflexion der biographischen Erkenntnis. Diltheys Hochschätzung der Lebensgeschichte rührt daher, daß diese am Einzelschicksal vorführt, was die Anthropologie in allgemeinen Strukturen, die Geschichtswissenschaft in größerer Breite beschreiben will: »die Erfassung der ganzen Wirklichkeit eines Individualdaseins, seine Naturbeschreibung in seinem geschichtlichen Milieu, [ist] ein Höchstes von Geschichtsschreibung […], gleichwertig durch die Tiefe der Aufgabe jeder geschichtlichen Darstellung, die aus breiterem Stoff gestaltet« (I, 33) ist. Auch bei Dilthey haftet der biographischen Erkenntnis der Drang zur Menschheitsgeschichte an, der in Nietzsches ›Ecce homo‹ beobachtet werden konnte. Und der unvollendete Steinbruch seiner Schleiermacher-Biographie legt ein beredtes Zeugnis ab von der Unabschließbarkeit dieser Erkenntnisform. Hatte sich das Welthistorische bei Nietzsche vornehmlich literarisch realisiert, auf dem Wege der Intertextualität, so läßt sich dieser Drang nach Dilthey wissenschaftlich nur durch arbeitsteilige Systeme von Einzelwissenschaften bändigen. Es handelt sich um die bekannte Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften, wobei die psychophysische Lebenseinheit Mensch, mit der sich die Anthropologie im allgemeinen, die Biographie im Einzelfall beschäftigt, eine notwendige Interferenz dieser beiden Wissenschaftslogiken hervorruft. Nach diesen Präliminarien wird es nicht erstaunen, daß sich auch das Gespräch zwischen Nietzsche und Dilthey um die ›Introspektion‹ dreht. Wilhelm Dilthey hat in seiner Nietzsche-Rezension die intellektuelle Zeitgenossenschaft in der Profilierung einer biographischen Erkenntnis vis-à-vis den Herausforderungen der Naturwissenschaften treffend auf den Punkt gebracht: »Der Blick in das Innere des Menschen, das Studium der psychischen Zustände zieht 52

V. Gerhardt, Selbsterkenntnis und Selbstbesinnung, S. 35.

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in immer höherem Grade das Auge der Gebildeten auf sich, und diese Studien beginnen sich eine Stellung neben den Naturwissenschaften im allgemeinen Interesse zu erwerben. In dieser Richtung anzuregen, sei es auch vielfach zum Widerspruch, ist das Werk von Friedrich Nietzsche: Menschliches, allzu Menschliches, ein Buch für freie Geister. Chemnitz 1878, nebst seinem Anhang wohl geeignet.« (XVII, 390) Der Name Dilthey fällt in Nietzsches gesamtem Werk nie. Allerdings ist der Aphorismus Nr. 355 ›Der Ursprung unsres Begriffs ›Erkenntniss‹‹ der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ als Reaktion auf Wilhelm Diltheys ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ (1883) gelesen worden.53 Der Aphorismus erschien im fünften, der Zweitauflage beigefügten Buch der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ 1886. Ob es sich bei dem »Vorsichtigsten« unter den Philosophen tatsächlich um Dilthey handelt, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Es ist hingegen wahrscheinlich, wie Kamerbeek annimmt, daß der in Berlin dem Dilthey-Kreis angehörende Heinrich von Stein bei seinem Besuch bei Nietzsche im Sommer 1884 diesen mit den unlängst publizierten Gedanken seines Mentors vertraut gemacht hat.54 Die im Aphorismus vorgenommene parodistische Entgegensetzung von ›natürlichen‹ und ›unnatürlichen‹ Wissenschaften, also Geisteswissenschaften, kann sich fast nur auf Dilthey und dessen Versuch einer methodischen Grundlegung der Geisteswissenschaften in der »inneren Erfahrung« und den »Tatsachen des Bewußtseins« beziehen. In der Vorrede zur ›Einleitung‹ heißt es, nur hierin »fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken« (I, XVII). Nietzsche formuliert in ›Der Ursprung unsres Begriffs ›Erkenntniss‹‹ über die Philosophen: Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum Mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der ›inneren Welt‹, von den ›Thatsachen des Bewusstseins‹ auszugehen, weil sie die uns bekanntere Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu ›erkennen‹, das heißt als Problem zu sehen, das heißt als fremd, als fern, als ›außer uns‹ zu sehn […]. Die große Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente – unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte – ruht gerade darauf, daß sie das Fremde als Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu wollen […]. (KSA 3, 594)

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54

Vgl. J. Kamerbeek, Dilthey versus Nietzsche; G. Misch, Dilthey versus Nietzsche; H. Pfotenhauer, Mythos, Natur und historische Hermeneutik, S. 330f., 368; H. Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 59–63; W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 22–25; G. Visser, Dilthey und Nietzsche. Zur umfangreichen Forschung zu Nietzsche und Dilthey im Kontext der Lebensphilosophie siehe W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 25f. Von Stein besuchte Nietzsche in Sils-Maria vom 26.–28. August 1884, vgl. KSA 15, 141. Zur Heinrich von Stein-Episode in Nietzsches Leben siehe C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Bd. 2, S. 324–335.

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Und so ließen sich weitere Äußerungen Nietzsches als Reaktion auf Diltheys Programm lesen. In Diltheys Vorrede heißt es im folgenden: »Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen« (I, XVIII). Und Nietzsche kontert im Frühjahr 1884: »Wir sind mißtrauisch, vom ›Denkenden‹ ›Wollenden‹ Fühlenden in uns auszugehen. Das ist ein Ende und jedenfalls das Verwickeltste und Schwerst-Verständliche.« (KSA 11, 96) Nietzsches zweifache Problematisierung der Selbsterkenntnis, einmal im Rahmen einer kritischen Psychologie, einmal aus der Perspektive des Leibes, wurde im vorangehenden ausführlich vorgestellt. Sie wendet sich scheinbar mit einigem Recht im Namen einer Tiefenhermeneutik gegen eine geisteswissenschaftliche Methode vom Typus der Diltheyschen, die trotz der Apostrophierung des ganzen Menschen viel von Bewußtsein, Evidenz und sicherem Wissen spricht.55 Aus den biologischen und historischen Tiefen der Menschheitsgeschichte schöpft das Spätwerk Nietzsches jenes Potential, um das vermeintlich bekannte Selbst fremd zu machen. Mit dem späten Nietzsche und dem frühen Dilthey stehen sich Tiefen- und Einfühlungshermeneutik kritisch gegenüber. Wilhelm Dilthey war hingegen mit Nietzsches wichtigsten Schriften vertraut und er hat sich seit seiner 1880 erschienenen Rezension zu ›Menschliches, Allzumenschliches‹ immer wieder zu ihm geäußert. Mit Werner Stegmaier lassen sich drei Phasen in Diltheys Nietzsche-Rezeption festhalten.56 In der Frühphase begrüßt Dilthey in Nietzsche den Kulturpsychologen und Gefährten auf dem Weg »psychologische[n] Gewahrwerdens und historische[n] Forschens«. Er fühlt sich zwar »vielfach zum Widerspruch« angeregt, lobt jedoch seinen »oft die Mitte der Sache treffenden Blick« (XVII, 390). Zur Hochzeit der ersten Nietzsche-Mode in den ausgehenden 90er Jahren werden die Töne dann schärfer. Nietzsche wird als Zeitphänomen diagnostiziert und einer Methodenkritik unterworfen. Drei immer wiederkehrende Kritikpunkte kristallisieren sich heraus: Erstens habe sich Nietzsche ausschließlich der Introspektion als Erkenntnismethode bedient und diese bis zum Exzeß, d.h. bis zu seinem endgültigen Zusammenbruch getrieben. Dies ist Diltheys nur beiläufig erwähntes, kurzes Statement zum pathologischen Fall Nietzsche: »Nietzsche steht als ein schreckendes Beispiel dafür da, wohin das Brüten des Einzelgeistes über sich selbst führt«. Die diagnostizierte »immer erneute Selbstbeobachtung« führt den Laienarzt Dilthey zu folgender Überlegung: »Wer mag sagen, welchen Anteil 55

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Spricht Helmut Johach im Vergleich zur Freudschen Tiefenhermeneutik von Diltheys »harmonisierender Betrachtungsweise«, so ließe sich dies ebenso gut auf Nietzsches Tiefenhermeneutik beziehen, Dilthey, Freud und die Humanistische Psychologie, S. 46. Vgl. W. Stegmaier, Philosophie der Fluktuanz, S. 68–73. Zu Diltheys Nietzsche-Kritik siehe auch J. Figl, Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts.

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dieses innerlich zerstörende Unternehmen an der Zerrüttung seines Geistes oder des Geistes von Rousseau hatte!« (IV, 528f.)57 Einige Jahre später, im Hölderlin-Essay klingt der Befund schon freundlicher. Immerhin wird dort die Krankheit nicht allein der selbstzerstörerischen Neigung des Philosophen angelastet, sondern gleichermaßen auch dem Zeitalter. Und der kulturelle Gewinn pathologisch-genialer Naturen erscheint hier ungleich höher: »Dies waren die historischen Bedingungen, unter denen von Hölderlin bis auf Leopardi geniale Naturen auftraten, die mit einer beinahe pathologischen Reizbarkeit für die Harmonien wie für die Dissonanzen ausgestattet waren, welche die Welt in unserer Seele hervorruft. […] und indem in Hölderlin die seelische Reizbarkeit mit der Ungunst seiner Verhältnisse zusammenstieß, ist er demselben Schicksal verfallen wie nach ihm Nietzsche.«58 Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf Nietzsches vermeintliche Absage an die historische Methode, die Dilthey mit Verweis auf die zweite ›Unzeitgemäße Betrachtung‹ herausstellt: »Er sagte der Geschichte ab, vielleicht im Überdruß an der Grenzenlosigkeit des kritischen Details, ohne welches sie doch nicht Wissenschaft ist. [...] von Basel aus schrieb er seine Absage an die Historie.« (IV, 528f.) Und drittens läßt sich der hier schon genannte Vorwurf des unwissenschaftlichen Philosophierens festhalten. Dilthey bezeichnet Nietzsche auch als psychologischen und historischen Dilettanten: »Er verwarf aus Unkenntnis die Psychologie als Wissenschaft. […] Er blieb in der Benutzung historischer Tatsachen für das Verständnis der Zweckzusammenhänge der Kultur vollständiger Dilettant.« (VIII, 201) Es ist auffällig und in der Forschung auch vielfach konstatiert worden, daß die beiden erstgenannten Kritikpunkte in der Sache fehlgehen und zum Teil Nietzsches eigene Diktion gegen ihn selbst wenden. Die Kritik an der Introspektion liest sich als einfaches Echo des Aphorismus Nr. 355,59 und überdies nimmt Dilthey Nietzsches Rhetorik der Häutungen aus dem SchopenhauerEssay für sich in Anspruch. Dort hieß es: »Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig abziehn und wird doch nicht sagen können: ›das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale.‹« (KSA 1, 340) Dilthey formuliert im Brief an Graf Paul Yorck von Wartenburg: »Nietzsche hat doch wirklich das furchtbare Wort der Zeit ausgesprochen. […] Nur das geschichtliche Bewußtsein, daß der Mensch weder seine Häute abschälen und sich finden kann wie er an sich ist (worüber Nietzsche verrückt wurde) noch

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In ähnlichen Formulierungen wiederholt sich die Kritik an der Introspektion in IV, 529; VII, 250; VIII, 198, 226, und in einem Brief an Graf Paul Yorck von Wartenburg vom Mai 1897, Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877– 1897, S. 238f. W. Dilthey, Das Erlebnis und die Dichtung, S. 398. Der Text wird im folgenden unter der Sigle ED zitiert. So jedenfalls hat Kamerbeek dies ausgelegt vgl. J. Kamerbeek, Dilthey versus Nietzsche, S. 59.

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eine Gesellschaft machen (so wenig als eine Religion), kann über diese Standpunkte hinausführen.«60 Und selbst Diltheys prominentestes, auch gegen Nietzsche gewendetes Plädoyer für die historische Erkenntnis: »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte« (VIII, 226), läßt sich noch als Nietzsche-Zitat ausweisen. Denn bereits in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ war zu lesen: »Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht nicht lange aus, um sich kennen zu lernen: wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort« (KSA 2, 477). Im Falle der biographischen und der historischen Erkenntnis werden die Differenzen zwischen Nietzsche und Dilthey also im Detail zu suchen sein. Von seiten Diltheys wurde die Abgrenzung von Nietzsche um 1900 womöglich auch darum dringlicher und fiel schärfer aus, weil es den eigenen philosophiegeschichtlichen Standpunkt zu sichern galt. Gegenüber von Wartenburg heißt es im Mai 1897 weiter: »Sehr amüsirt hat mich, wie hübsch ich mich nun im Ueberweg-Heinzeschen Grundriß [...] ausnehme, eingekapselt in die Geschichte der Philosophie, in einem Paragraphen begraben zwischen Fechner – Wundt etc. und Max Stirner und Nietzsche.«61 Aus diesem Grab hat sich Dilthey in der Folge dadurch befreit, daß er Nietzsche philosophiegeschichtlich als ›Lebensphilosoph‹ eingeordnet hat und damit als einen genialischen, aber unwissenschaftlichen Wegbereiter der eigenen Philosophie. Diese Argumentationsfigur wird auch Freud in seiner Abgrenzung von Nietzsche bemühen (Kap. V.3.2). In diesem Zuge werden die Formulierungen anerkennender. In der Rollenprosa von ›Der Streit der Weltanschauungen‹ wird Nietzsche sogar als »tiefste[r] Philosoph der Gegenwart« (VIII, 229) angesprochen. Montaigne, Schopenhauer, Carlyle, Richard Wagner, Tolstoi, Ruskin, Maeterlinck und eben auch Nietzsche gehören nun zum Kreis jener »Lebensphilosophie« (VIII, 197; V, 370), die nach einer Phase der Abstraktion und wissenschaftlichen Ausdifferenzierung die Philosophie wieder auf den Boden der Lebenspraxis zurückführt. Sie tut dies, indem sie erneut die »Fragen nach Wert und Ziel des Daseins« (VIII, 194) stellt. Diesen Laienphilosophen wird jetzt sogar eine eigene Methodik zugesprochen, denn ihr »Verfahren ist das einer methodischen Lebenserfahrung geworden, welche grundsätzlich die systematischen Voraussetzungen ablehnt« (VIII, 197). Von Nietzsches methodischer Lebenserfahrung wird später auch Karl Jaspers sprechen (Kap. V.2.6). Dilthey rückt diese von den Lebensphilosophen praktizierte »methodische Induktion« als »Realpsycho-

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Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877– 1897, S. 238f. Der Graf hatte zuvor bereits den »pathologische[n] Zustand« der Zeit angesprochen, in dem das »sozialistische Moment« und ein »[b]andloser selbstsüchtiger Nietzscheanismus und genußsüchtiges Heerdenbewußtsein« nur »verschiedene Tonarten desselben Systems« seien, ebd., S. 229f. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877– 1897, S. 238f.

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logie« (VIII, 197) in seine dreigliedrige verstehende Psychologie ein,62 die im weiteren noch die Struktur- und die Individualpsychologie umfaßt. Nietzsches Wille zur Macht, als »freie Entwicklung der Lebensfunktionen« umformuliert, soll seinen historischen Ort in der Strukturpsychologie erhalten, indem diese freie Entwicklung für die »frühe Menschheitsgeschichte« (VIII, 19), nicht jedoch für den Kulturmenschen Bedeutung erhält. Der genannte Personenkreis der Lebensphilosophen legt es schon nahe, daß Nietzsches Stil des Philosophierens nun nicht mehr allein als unwissenschaftlich, sondern positiv in seiner Nähe zur Kunst wahrgenommen wird. In Anlehnung an die zuerst von Lou Andreas-Salomé unterschiedenen drei Phasen von Nietzsches Denken heißt es: »Die letzte Folgerung, welche jemand aus der Verneinung der Erkenntnis in ihrem diskursiven, logischen Verfahren ziehen konnte, ist in Nietzsche repräsentiert und von ihm ausgesprochen. Der kulturschaffende Mensch ist ihm erst der Künstler, dann das wissenschaftliche Bewußtsein, endlich, da er auch an dessen Mission verzweifelt, der wertschaffende, wertsetzende Philosoph.« (VIII, 199) Den Lebensphilosophen gelingt es, das hermeneutische Potential der Dichtung zu entschlüsseln und zu verallgemeinern. »Die Dichtung ist Organ des Lebensverständnisses, der Poet ein Seher, der den Sinn des Lebens erschaut« (V, 394), schreibt Dilthey emphatisch. Eine Philosophie, die sich der Kunst annähert, kann darum auch mit Diltheys Zustimmung rechnen. Ihm »ist das philosophische Denken von Carlyle oder Nietzsche eben darin positiv, daß es die in der Lebenserfahrung erhaltene, von den Dichtern und den Schriftstellern über Lebensführung ausgebildete Verfahrungsweise zu verallgemeinern und zu begründen strebt.« (V, 412) Damit relativiert sich auch der letzte der drei genannten Kritikpunkte an Nietzsche. Zu den Fragen der Selbsterkenntnis und der Geschichte haben wir gesehen, daß die Positionen auf den ersten Blick derart austauschbar erscheinen, daß dieses sich auch rhetorisch widerspiegelte. Im genaueren Nachzeichnen von Diltheys historisch-biographischer Methode werden im folgenden die in der Akzentuierung liegenden Differenzen herauszuarbeiten sein: Gegenüber Nietzsches Unbewußtem in Gestalt des Leib-Selbst profiliert Dilthey den unbewußten erworbenen Strukturzusammenhang der Seele; zu Nietzsches am Machtwillen orientierter Genealogie bildet Diltheys auf die Hervorbringung von Einheit und durch eine immanente Teleologie gerichtete Entwicklungsgeschichte das Gegenstück. Der offensichtlichste Unterschied in der Methodik – der eine praktiziert die Philosophie als Lebens- und Kunstform, der andere versucht sie als Wissenschaft zu profilieren – wird von Dilthey elegant durch sein philosophiegeschichtliches Konzept der ›Lebensphilosophie‹ umgangen. Sie ist wichtige Wegbereiterin für das eigene ›bescheidenere und weniger diktatorische‹ 62

Zu Diltheys Konzeption einer verstehenden Psychologie vgl. M. Jung, Dilthey zur Einführung, S. 131–138.

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Projekt einer verstehenden Psychologie. Mit deutlichem Anklang an Nietzsche und seine Zarathustra-Figur liest sich die Erfolgsgeschichte der gemeinsamen Zusammenarbeit dann so: das Leben soll aus ihm selber gedeutet werden – das ist der große Gedanke, der diese Lebensphilosophen mit der Welterfahrung und mit der Dichtung verknüpft. […] Und wie sie den Namen der Philosophie selbst für sich in Anspruch nehmen, bereiten sie, wie die religiösen Denker es einstmals taten, heute neue Entwicklungen der systematischen Philosophie vor. Denn nachdem die allgemeingültige Wissenschaft der Metaphysik für immer zerstört ist, muß eine von ihr unabhängige Methode gefunden werden, Bestimmungen über Werte, Zwecke und Regeln des Lebens zu finden, und auf der Grundlage der beschreibenden und zergliedernden Psychologie, welche von der Struktur des Seelenlebens ausgeht, wird innerhalb methodischer Wissenschaft eine, wenn auch bescheidenere und weniger diktatorische Lösung dieser Aufgabe zu suchen sein, welche die Lebensphilosophen der Gegenwart sich gestellt haben. (V, 370f.)63

Lektüre-Erlebnisse Was sich im vergleichenden Blick auf die Texte von Nietzsche und Dilthey vor allem zeigt, ist die intellektuelle Zeitgenossenschaft. Beide nehmen die Herausforderung des von Robert Mayers Energieerhaltungssatz, von Virchows Zelltheorie und Darwins Abstammungslehre geprägten naturwissenschaftlichen Zeitalters an. Und beide legen zeitlebens ein intensives Interesse für die entsprechenden Neuerscheinungen an den Tag. Neben Schopenhauer wird Friedrich Albert Langes ›Geschichte des Materialismus‹ für Nietzsche zum prägendsten Lektüre-Erlebnis. Er hat sich diese Studie im Sommer 1866, gleich nach ihrem Erscheinen, zugelegt und schreibt an seinen Freund Gersdorff Ende August 1866: »Wir haben hier einen höchst aufgeklärten Kantianer und Naturforscher vor uns.« Wenige Monate später, im November des Jahres formuliert er im Brief an Hermann Mushacke schon emphatischer: »Das bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, ist unzweifelhaft Lange, Geschichte des Materialismus, über das ich eine bogenlange Lobrede schreiben könnte. Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange – mehr brauche ich nicht.« In den folgenden Monaten und Jahren hat Nietzsche seine philologischen Studien immer wieder vernachlässigt und die ›Geschichte des Materialismus‹ zur Hand genommen, wie etwa die Empfehlung an Gersdorff vom 16. Februar 1868 dokumentiert: »Wenn 63

Eine ähnliche Formulierung findet sich im Hölderlin-Essay: »Deutung des Lebens aus diesem selber, Fortgang zum Bewußtsein der in ihm enthaltenen Werte nach ihrer Kraft und ihrer Begrenzung, wie dies auch Byron, Leopardi, Schopenhauer und Nietzsche, in wesentlichen Zügen verwandt mit Hölderlin, versucht haben«, ED, 396. Der Vergleich Hölderlin-Nietzsche wird auch im Hinblick auf ›Hyperion‹ und ›Zarathustra‹ und deren Genre, den »philosophischen Roman« gezogen, ED, 405; vgl. 414f., 351, 377. Bereits Hölderlins Figur verweise auf das »aristokratische Bewußtsein« und die »Erfahrung Nietzsches, daß Kraftbetätigung als solche letzte und höchste Freude sei«, ED, 403; vgl. 408.

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Du Lust hast Dich vollständig über die materialistische Bewegung unsrer Tage, über die Naturwissenschaften mit ihren Darwinschen Theorien, ihren kosmischen Systemen, ihrer belebten camera obscura etc. zu unterrichten, zugleich auch über den ethischen Materialismus, über die Manchester-Theorie etc. so weiß ich Dir immer nichts Ausgezeichneteres zu empfehlen als ›die Geschichte des Materialismus‹ von Friedr. Alb. Lange (Iserlohn 1866), ein Buch, das unendlich mehr giebt als der Titel verspricht und das man als einen wahren Schatz wieder und wieder anschauen und durchlesen mag.« Obwohl noch Student der Philologie in Leipzig projektiert Nietzsche unter dem Eindruck Langes eine philosophische Dissertation, die dann aus karrierestrategischen Gründen fallen gelassen wird. So schreibt er an Deussen im Frühjahr 1868: »Wenn Du übrigens Ende dieses Jahres meine Doktordissertation bekommst, so wird Dir mehreres aufstoßen, was diesen Punkt der Erkenntnißgrenzen erläutert. Mein Thema ist ›der Begriff des Organischen seit Kant‹ halb philosophisch, halb naturwissenschaftlich. Meine Vorarbeiten sind ziemlich fertig.« Die erhaltenen Literaturlisten zeigen, daß sich Nietzsche in der zweiten Hälfte der 60er Jahre unter Anleitung Langes tatsächlich umfassend in die Naturwissenschaften seiner Zeit eingearbeitet hat. Dieses Interesse wird zeitlebens nicht mehr erlahmen und vor allem im Spätwerk an die Textoberfläche treten. Neben der materialen Bekanntschaft mit den Naturwissenschaften verdankt Nietzsche Lange insbesondere seine erkenntnis- und wissenschaftskritische Perspektive: »Das Reich der Metaphysik, somit die Provinz der ›absoluten‹ Wahrheit ist unweigerlich in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden. Wer etwas wissen will, begnügt sich jetzt mit einer bewußten Relativität des Wissens – wie z.B. alle namhaften Naturforscher.«64 Diltheys Äußerungen zu Lange sind weitaus nüchterner, nichtsdestotrotz gilt ihm die ›Geschichte des Materialismus‹ als »eines der Bücher, welche die Wendungen in dem philosophischen Geist unseres Jahrhunderts bezeichnen.« (XVII, 101) Auch er schätzt den Quellenwert dieser Studie. So empfiehlt er den Studenten in seiner Breslauer Vorlesung zur Psychologie und Anthropologie 1878 nahezu ausschließlich Lange, um sich über die Geschichte der Psychologie und die Forschungslage zu informieren: »Sehr zu empfehlen: Lange ›Geschichte des Materialismus‹ (3. Aufl. in 2 Bänden [Iserlohn 1876–1877).« Carus’ ebenfalls genannte »Geschichte der Psychologie 1808« kommt hingegen nicht gut weg: »ohne rechten wissenschaftlichen Sinn« (XXI, 33; vgl. 29). Auch in seiner Schleiermacher-Monographie hebt er Langes historischen Überblick hervor.65 Die weiteren Nennungen Langes sind von der Hochachtung für diesen »moder64 65

KGB I/2, 159, 184, 257, 269; vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche. Bd. 1, S. 195, 197–201, 238f.; G. Moore, Gregory, Nietzsche, Biology and Metaphor, S. 35, 44, 97ff. »Es ist ein Verdienst der Geschichte des Materialismus von F. A. Lange, auf einige materialistische Schriften von Physikern und Ärzten aus dem 17. und beginnenden 18. Jahrhundert die Aufmerksamkeit gelenkt zu haben«, XIII, 84.

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nen Repräsentanten« (VIII, 229) Kants geprägt, jedoch auch vom Gestus der Überschreitung dieses dualistischen Denktypus.66 Ähnlich wie im Falle Nietzsches datiert auch Diltheys eingehende theoretische und sogar praktische Beschäftigung mit den Naturwissenschaften seiner Zeit auf die späten 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. Seine Basler Professur beginnt er 1866 mit physiologischen Studien und Unterweisungen im Labor seines Kollegen Wilhelm His: »Dort in Basel begann ich mit Anthropologie und Psychologie und erhielt dadurch einen ganz neuen Anstoß. Johannes Müller und Helmholtz faßten mich völlig; ich hörte ein Jahr durch die physiologischen Vorlesungen meines Freundes His und erhielt von ihm Anleitung im Präparieren.«67 Und diese früh zutage tretenden »schlimmen Neigungen für Evolutionslehre, Anthropologie«68 halten an, wie Dilthey gegenüber Graf von Wartenburg noch 1890 anläßlich seines ›Systems der Ethik‹ eingesteht. In seiner Breslauer Zeit vertieft Dilthey, wie die sogenannte ›Breslauer Ausarbeitung‹ und seine zwischen 1875–1882 regelmäßig gehaltenen Vorlesungen über Psychologie und Anthropologie dokumentieren, vor allen Dingen seine Kenntnisse zur Sinnes- und Gehirnphysiologie und zum Nervensystem. Namen und Theoreme, die in seinen Vorlesungen wie auch in seinen Schriften immer wieder auftauchen, sind: Helmholtz’ Sinnesphysiologie, Wilhelm Wundts physiologische Psychologie, Herbarts Theorem von der Enge des Bewußtseins, Johannes Müllers Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, das Weber-Fechnersche Gesetz der Bewußtseinsschwelle und Theodor Meynerts Arbeiten zur Gehirnphysiologie, zur »Lokalisierung unserer geistigen Fähigkeiten im Gehirn«.69 In Berlin setzt Dilthey seine Psychologie-Vorlesungen bis zum Wintersemester 1893/94 fort, bis mit Carl Stumpf ein Kollege berufen wird, dem er die Vermittlung des Lehrstoffs über die zeitgenössische, vor allem experimentell ausgerichtete Psychologie übertragen kann.70 1894 legt er dann mit den ›Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie‹ seinen eigenen Entwurf vor. Die in dieser Abhandlung stellenweise polemisch vorgetragene Frontstellung gegen die naturwissenschaftliche, erklärende Psychologie verdeckt, daß Dilthey seine Erkenntnisanthropologie im engen Dialog mit gerade diesem Ansatz entwickelt hat und, wie er an anderen Stellen deutlich macht, ein Ergänzungsver-

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Vgl. IV, 447; XIX, 33, 52, 202f., 207, 385; XX, 242; XXI, 47, 146. Siehe auch den ›Vorbericht der Herausgeber‹ in: XIX, XIX, XXVII. Der junge Dilthey. Hrsg. von Clara Misch, S. 283f. Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877– 1897, S. 90. Diese Zusammenstellung in besonders knapper Form findet sich in der Psychologie-Vorlesung von 1878, vgl. XXI, 43ff., und im weiteren 4, 16f., 303f. Den späteren Kollegen hatte Dilthey seinen Berliner Studenten schon in seiner PsychologieVorlesung des Jahres 1888/89 angepriesen, mit Hinweis auf dessen Schrift ›Über den psychologischen Ursprung der Raumanschauung‹ (1873). Diltheys unten skizzierte Ausführungen zum Tastsinn und zur Raumauffassung werden zeigen, was ihn an Stumpf interessiert haben dürfte.

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hältnis zwischen verstehender und erklärender Psychologie gerade angesichts der ›Doppelnatur‹ des Menschen anvisiert. Nur gab es eben hinsichtlich des »zeitweiligen Übergewichtes des naturwissenschaftlichen Geistes« (V, 259) zum einen für die Geisteswissenschaften ein größeres wissenschaftliches Defizit zu bearbeiten. Und zum anderen besannen sich die Naturwissenschaften, so die Diagnose dieses Kritikers, nicht immer auf ihre Tugenden einer exakten, experimentellen Wissenschaft, sondern unternahmen Ausflüge ins Reich der Metaphysik wie etwa im Falle von Ernst Haeckels Monismus. Für einen Geisteswissenschaftler, der seinen Arbeitsbereich als Kritik der Metaphysik bestimmt, mußten sie so zur Zielscheibe werden. Diltheys polemischer Ton in den ›Ideen‹ läßt sich auf diese Ursachen zurückführen. Für das Rezeptionsschicksal dieser Abhandlung und für ihren Autor hatte dieser Ton allerdings nachteilige und nachhaltige Konsequenzen. Er führte zu einer ebenso scharf formulierten Rezension von Hermann Ebbinghaus, ein geschätzter Berliner Kollege Diltheys71 und prominenter Vertreter des erklärenden Ansatzes. Diese trug dazu bei, daß Diltheys ›Ideen‹ zum Teil gar nicht erst gelesen wurden, so bekennt z.B. Husserl, er habe »unter dem Einfluß der glänzenden Antikritik Ebbinghaus’ die Diltheysche große Arbeit zu lesen nicht für nötig gehalten«.72 Dilthey selbst wurde von dieser Kritik so nachhaltig getroffen, daß er seine systematische Arbeit an einer verstehenden Psychologie als erkenntnisanthropologischer Grundlegung der Geistes- und auch Naturwissenschaften abbrach und sich für Jahre auf seine historisch-monographischen Arbeiten zu Schleiermacher und Hegel zurückzog. Der Dilthey, der für diese Studie von Interesse ist und der zu Recht als Ahnherr der Psychosomatik geführt wird,73 ist darum zu seinen Lebzeiten weitgehend unpubliziert geblieben bzw. nur in einzelnen versprengten Aufsätzen an die Öffentlichkeit getreten. Seine systematische Arbeit zwischen der Veröffentlichung der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ (1883) und dem ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ (1910), in der er u.a. über eine biologische Erweiterung der Psychologie nachdachte (XIX, 345), mußte darum zum großen Teil aus dem Nachlaß rekonstruiert werden, wie dies in den Arbeiten von Peter Krausser, Helmut Johach, Rudolf A. Makkreel,

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Ebbinghaus wurde auf Vorschlag von Wilhelm Dilthey und Eduard Zeller ab Juni 1886 vom Privatdozenten zum a.o. Professor der Philosophie an der Berliner Universität befördert. 1894 wechselt er als ordentlicher Professor der Philosophie nach Breslau, u.a. wohl auch aufgrund des Dissens mit Dilthey und der im Jahr zuvor erfolgten Nichtberufung auf den neugeschaffenen dritten Lehrstuhl für Philosophie in Berlin, den Carl Stumpf erhielt, vgl. H.-J. Lander und M. Huth, Hermann Ebbinghaus: Über das Gedächtnis (1885), S. 59. E. Husserl, Phänomenologische Psychologie, S. 34. Siehe zur Ebbinghaus-Kritik: H. Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie; F. Rodi und H.-U. Lessing, Einleitung; H.-U. Lessing, Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. Vgl. E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 56.

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Manfred Riedel und Hans-Ulrich Lessing geschehen ist.74 Dieser Dilthey liegt erst in den ›Gesammelten Schriften‹, insbesondere den Bänden XIX (1982), mit der ›Breslauer Ausarbeitung‹, XX (1990) und XXI (1997), mit den Logik- und Psychologie-Vorlesungen, ediert vor. Ferdinand Fellmann und Matthias Jung sprechen bezüglich dieses Werkabschnitts von Diltheys pragmatistischer Phase und machen so auf seine Nähe zum amerikanischen Pragmatismus eines William James aufmerksam, mit dem ihn eine empirische, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit integrierende Handlungstheorie und Hermeneutik jenseits des Behaviorismus verbindet.75 Das Individuum als ›psychophysische Lebenseinheit‹ gewinnt so im Denken Diltheys zunehmend an Kontur und theoretischer Relevanz. Der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts physiologisch vollständig beschriebene Reflexbogen wird für Dilthey, wie später auch für Freud, zu einem Modell, das sowohl eine wechselwirksame Verbindung zwischen Psyche und Soma sowie Individuum und Umwelt zu denken erlaubt, als auch die Erzählung einer Entwicklungsgeschichte des ganzen Menschen ermöglicht. Diltheys intellektuelle Zeitgenossenschaft mit Nietzsche zeigt sich in dieser Hinsicht vor allem darin, daß beide – wenn auch kritisch – im Kontext des Darwinismus argumentieren. Und zwar insofern sie eine Evolutionstheorie des Bewußtseins entwerfen, die zwischen physiologischen und psychologischen Systemen keine radikale Trennung, sondern nur graduelle Veränderungen annimmt. Sowohl Körper und Seele als auch Tier und Mensch werden so in Abstufung einfacherer und komplexerer Organisationseinheiten als Variation einer Grundstruktur angesehen. Die Zeitgenossenschaft reicht hier bis in die Rhetorik hinein. Der Körper bildet entwicklungsgeschichtlich wie auch wissenschaftstheoretisch die gesicherte Basis, auf der der psychisch-sozial-kulturelle Überbau aufruht. Die Wissenschaften vom Körper geben das einfache Strukturmodell, den ›Leitfaden‹ für die Geisteswissenschaften ab. Aus Nietzsches vielfach wiederholter Rede vom ›Leitfaden des Leibes‹ wird bei Dilthey der damaligen Reflexbogenlehre entsprechend die spezifischere Rede von der »Gliederung des Nervensystems als Leitfaden« (XIX, 101). Auch in ihrem Rezeptionsverhalten gegenüber der Darwin-Schule lassen sich Gemeinsamkeiten entdecken: Etwa eine beiderseitige Abneigung gegenüber bestimmten Formen der Darwin-Popularisierung. So bezeichnet Nietzsche Ludwig Büchner als »Klassiker des Pöbels« (KSA 7, 596), während Dilthey dessen »fanatische materialistische Doktrin« (VIII, 105) brandmarkt. Von Interesse ist ihre beiderseitige, eigentümlich emphatische Aufwertung eines Darwin-Adepten aus der zweiten Reihe: Georg Heinrich Schneider. 74

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Siehe P. Krausser, Kritik der endlichen Vernunft; H. Johach, Handelnder Mensch und objektiver Geist; R. A. Makkreel, Dilthey; M. Riedel, Hermeneutik und Erkenntniskritik; H.-U. Lessing, Die Idee einer Kritik der historischen Vernunft. Siehe F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, S. 12f., 17f., 23; M. Jung, Dilthey zur Einführung, S. 12f., 14f., 40, 95, 119.

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Georg Heinrich Schneider ›Der thierische Wille‹ (1880) Zu Zwecken empirischer Forschung an Meerestieren hatte sich dieser Schullehrer eine Anstellung in Neapel besorgt und unter schwierigen finanziellen Bedingungen, wie er im Vorwort schildert, seine Experimente und Beobachtungen in einem kleinen Privataquarium vorgenommen. Nach fünfjähriger Forschungszeit veröffentlicht Schneider sein Material unter dem Titel ›Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre‹ (1880). Nietzsche und Dilthey haben Schneiders Studie mit Interesse gelesen76 und jeweils in ihre Entwicklungsgeschichten – von den Trieben zum Willen – eingearbeitet, Nietzsche in seine Genealogie der Moral und Dilthey in sein ›System der Ethik‹ (1890). Es handelt sich hierbei um eine erstaunlich übereinstimmende Lektüre, die sich auf dieselben Passagen bei Schneider stützt77 und diesen auch einen vergleichbaren funktionellen Ort im eigenen Denken zuweist. Dilthey hat sowohl 1881 Schneiders ›Der thierische Wille‹ als auch 1883 den Folgeband ›Der menschliche Wille vom Standpunkt der neueren Entwicklungstheorien‹ (1882) rezensiert (XVII, 425f., 465). Schneider will mit seiner ersten Studie die empirischen Voraussetzungen für eine Reform der Philosophie, verstanden als »Pflege der Geisteswissenschaften«, schaffen, und zwar gleichermaßen in Richtung auf eine »praktische Lebensphilosophie« wie auch auf eine »wissenschaftliche d.h. positive Philosophie«. Wissenschaftlich zu philosophieren, das heißt für ihn die Anwendung der »neueren naturwissenschaftlichen Methoden«, vergleichende Beobachtung und Experiment, um auf dieser Basis eine »vergleichende Psychologie« auszuarbeiten und »die Entwickelungsgesetze der Intelligenz zu ergründen«. Schneider versucht in seinem Buch, die ältere, schon bei Aristoteles, Cuvier, Leibnitz, Goethe, Lamarck und eben in der neueren Evolutionstheorie Darwins zu findende Annahme einer »stufenweise Steigerung der thierischen Intelligenz«78 empirisch zu beweisen und auf den Menschen auszuweiten. In seiner Rezension würdigt Dilthey 1881 dieses Vorhaben, den seit Aristoteles bekannten Gedanken der »Verwandtschaft der seelischen Lebensäußerungen in der Stufenfolge der Organismen« nun mit den Mitteln exakter Wissenschaft, d.h. durch »Beobachtung und Experiment«, zu verfolgen, als »geistvolle[n] Versuch« (XVII, 425). Schneider differenziert die Trieblehre aus und zeigt, inwiefern die verschiedenen tierischen Triebtypen die Grundlage für abstraktere geistige Fähigkeiten bilden. 76

77 78

Schneiders Buch befindet sich in Nietzsches nachgelassener Bibliothek vgl. KSA 14, 686f. Im Vorwort des Herausgebers zu Diltheys ›System der Ethik‹ ist zu lesen: »Eine starke Anregung kam ihm auch aus dem Buch von Georg Heinrich Schneider«, X, 12. Nietzsche bezieht sich auf die Seiten 13, 29, 58, 64–75, vgl. KSA 14, 686f., Dilthey auf die Seiten 13f., 64–71, 174f., 208f., 238ff. vgl. X, 52–57. G. H. Schneider, Der thierische Wille, S. 4ff., 11.

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»Indem ich alle animalischen Triebe in Empfindungs-, Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Gedankentriebe eingetheilt, die complicirten Handlungen in Combinationen solcher aufgelöst und den Uebergang von Vorstellungstrieben im Wahrnehmungs- und Empfindungstriebe gezeigt habe, glaube ich die Erklärung der Gewohnheitsbewegungen in ihrer psychologischen Werthigkeit besser angedeutet zu haben als Darwin.« In bezug auf menschliche Instinkte und Triebe werden dann Nahrungs-, Erwerbs-, Liebes-, Schutz-, Contractionstrieb, Scham, Mutterliebe und der Spieltrieb genannt. Letzterer hat seinen Zweck in sich selbst, er dient allein dem »Verbrauch der angespeicherten Nervenkraft«.79 Triebe sind laut Schneider durch Selektion, Anpassung und Vererbung sedimentierte Gewohnheitshandlungen. So bildet sich das Innenleben gleichsam plastisch aus wiederholten Reaktionsmustern auf die Umwelt. Schneider beruft sich hier auf Charles Darwins 1872 publizierten und noch im selben Jahr von Carus ins Deutsche übertragenen ›Ausdruck der Gemütsbewegungen‹ und das dort vorgetragene »Princip zweckmäßig associirter Gewohnheiten«. Dies besagt, daß im Laufe der Evolution Triebe, aus ihnen resultierende Bewegungen und zweckmäßig mit ihnen assoziierte Gefühlszustände durch Wiederholung eine dauerhafte Verbindung eingehen. Schneider zitiert Darwin, der wiederum Alexander Bain zitiert: »Handlungen, Empfindungen und Gefühlszustände, welche zusammen oder in dichter Aufeinanderfolge vorkommen, zu verwachsen oder zusammen zu hängen streben, und zwar in einer solchen Weise, daß wenn irgend eine von ihnen später der Seele dargeboten wird, die andern in der Idee hervorgerufen zu werden geneigt sind«.80 Nietzsche hält dann angeregt durch Schneider und die organische Metaphorik verstärkend fest: »Triebe sind höhere Organe, wie ich’s verstehe: Handlungen Empfindungen und Gefühlszustände in einander verwachsen, sich organisirend, ernährend – – –« (KSA 10, 304).81 Und einige Seiten später wird die Habitualisierung noch einmal als entscheidender Evolutionsfaktor genannt: »Instinkte aber sind alte Gewohnheiten des Handelns, Arten, seine vorhandene Kraft auszugeben« (KSA 10, 315). Die Auffassung der Triebe als Gewohnheitshandlungen und komplexe assoziierte Verbindungen wird im Anschluß an Schneiders ›Der thierische Wille‹ auch in Diltheys ›System der Ethik‹ vertreten. Er sieht den »Grundplan des Lebewesens« im Reiz-Reaktionsschema gegeben: »Eindruck und Reaktion auf denselben, […] das ist das Schema eines Lebewesens.« In Reaktion auf wie79

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G. H. Schneider, Der thierische Wille, S. 14, 71, vgl. ebd. S. 64–71, und die Übersicht S. 397– 404. Die energetische Lesart des Spieltriebes wie auch die Ausführungen zu Schutztrieb und Scham hat sich Nietzsche notiert, vgl. KSA 10, 315f. G. H. Schneider, Der thierische Wille, S. 13. Bei Darwin heißt es: »Mr Bain remarks, that ›actions, sensations, and states of feeling, occurring together or in close succession, tend to grow together, or cohere, in such a way that when any one of them is afterward presented to the mind, the others are apt to be brought up in idea‹.« C. Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals, S. 36. Dieses Nachlaßfragment ist bislang noch nicht der Schneider-Lektüre zugeordnet worden.

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derkehrende Reize, also auch aus Gewohnheit, wie Schneider und Nietzsche sagen, entwickeln sich dann die komplexeren organischen und psychischen Strukturen des Menschen: »Dann entsteht in dieser organischen Materie bei der Rückkehr desselben Reizes ein innerer Zustand, der das Bewußtsein des Bekannten, Eingewöhnten einschließt: das Wiedererkennen. […] Gedächtnis, Phantasievorstellungen entwickeln sich, und nun differenziert sich auch das Triebleben, entsprechend der Trennung der organischen Systeme sondern sich Nahrungstrieb, Bewegungstrieb, Schutztrieb usw.« (X, 48f.) Und noch stärker als in Schneiders Assoziationspsychologie des Willens unterstreicht Dilthey die Untrennbarkeit der mit dem Trieb gegebenen komplexen Verbindung: »Die Art des Zusammenwirkens von Empfindungen, Trieben, Gefühlen ist eine andere. Gefühle verschmelzen unter gewissen Bedingungen unterschiedslos, Triebe bilden eine Totalkraft, etc. So finden wir eine Einheit von Begierden, Gefühlen, ein Zusammenwachsen derselben« (X, 52).82 Nietzsche nutzt Schneiders Entwicklungsgeschichte des Willens zur Kritik der traditionellen Moral mit ihren Begriffen von Gut und Böse. So nimmt er eine evolutionstheoretische Umwertung vor, indem die »Bösen« mit Schneider als »rudimentär« (KSA 10, 305) aufgefaßt werden, d.h. in Analogie zu rudimentären Organen und Trieben. Diese waren ehemals im Evolutionsprozeß zweckmäßig – Schneider nennt die menschlichen Fuß-, Haut- und Ohrenmuskeln und das menschliche Zähneblecken als Beispiel eines rudimentären Triebes –,83 haben ihre Zweckmäßigkeit jedoch in der Gegenwart eingebüßt. Und auch Dilthey verwendet Schneider, um die menschliche Moral auf ihre tierischen Füße zu stellen: »Aufsuchen der Geliebten und ihr Folgen, Werbung durch Liebesspiele, Eifersucht auf Nebenbuhler, deren Vertreibung, Kämpfe: dies alles schon bei Fischen, ganz allgemein aber bei Säugetieren so gut als in den geschriebenen und gelobten Romanen der Menschen. Die Vögel werben mit Gesang, wie es bei den Menschen geschieht. […] Im Menschen verketten sich auf dieser Unterlage viele höheren Gefühle: volle Lebensgemeinschaft, Unverbrüchlichkeit der Treue, historische Gefühle.« (X, 54) Und schließlich ziehen beide Philosophen aus Schneiders vergleichender Psychologie den Schluß, daß es einer ihr angemessenen Moral um eine ganzheitliche Kraft- bzw. Lebenssteigerung gehen müsse. Nach Nietzsche ist demnach »die Moral zu verändern 1) es muß zuerst die Kraftvermehrung ins Auge gefaßt werden 2) zu zweit die Kraft-Verwendung, das Wie? Der erste Gesichtspunkt bisher übersehen.« (KSA 10, 316) Für Dilthey wird »psychologisch« der »Kern des ursprünglichen Gehalts von Tugend« erfaßbar: »Das einfachste

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In seiner Rezension hatte Dilthey davon gesprochen, daß Schneider vom »Vorhandensein zweckmäßiger Beziehungen zwischen gewissen Erkenntnisakten und bestimmten Gefühlen und Trieben« (XVII, 425) ausgehe. Vgl. G. H. Schneider, Der thierische Wille, S. 29f., 418f.

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Gefühl dieser Art ist das freudige Bewußtsein der Kraft, die Steigerung des Lebensgefühls«. Im Rückblick sowohl auf die »schöne Lebensgestalt des griechischen Ethos« wie auch auf »Schleiermachers bildende Ethik« sieht Dilthey die Möglichkeit zur »Bildung der psychischen Animalität« in der »Erkenntnis und Benutzung des psychophysischen Verhältnisses« und d.h. in der »Diät, das Wort im weitesten Verstand genommen. […] Die Mäßigung und richtige Leitung der Ernährung, die Verstärkung der körperlichen Übungen und Tätigkeiten sind die wahren Mittel, Lebensfreudigkeit in einem gesunden Körper zu erhalten und den Geschlechtstrieb in seiner natürlichen mäßigen Form.« (X, 59f.) Schneiders Willenslehre gehört damit zu jenen naturwissenschaftlichen Arbeiten, die es Dilthey ermöglichen, die wichtigsten Aspekte seiner verstehenden Psychologie zu profilieren: deren Grundlegung im Verständnis des Menschen als psychophysischer Lebenseinheit, die aus Fühlen, Wollen und Denken zusammengesetzte Totalität des Bewußtseins und schließlich die Psychologie als Erfahrungswissenschaft und ihre an der antiken praktischen Philosophie angelehnten Orientierungsleistungen in der Moderne. Denn an Schneider lobt Dilthey seinen »modernen Standpunkt, welcher von der Metaphysik nichts erwartet und eine positive Willenslehre auf Erfahrung zu begründen unternimmt.« (XVII, 465) V.2.2. Psychologie als Erfahrungswissenschaft ›Anthropologie und Psychologie als Erfahrungswissenschaft‹ ist der Titel einer Vorlesung, die Wilhelm Dilthey im Wintersemester 1881/82 in Breslau hält (XXI, VII) und dann in Berlin bis in die 90er Jahre weiterführt. In seinen Psychologie-Vorlesungen vermittelt Dilthey weniger seinen eigenen Ansatz – dafür sind seine Logik-Vorlesungen ergiebiger – als den Lehrstoff der zeitgenössischen naturwissenschaftlich orientierten Psychologie. Damit veranschaulichen sie jedoch eindrücklich, wie kontinuierlich und umfassend sich der als Begründer der Geisteswissenschaften in die Tradition eingegangene Philosoph mit seinem naturwissenschaftlichen Zeitalter auseinandergesetzt hat.84 Auch seine Rezensententätigkeit zeigt dies (XVII). Um es in aller Deutlichkeit festzuhalten, von den in diesem Kapitel behandelten Autoren ist es nicht der Philosoph des Leibes Nietzsche oder der gelernte Neurologe Freud, der die zeitgenössischen Naturwissenschaften am souveränsten überschaut und systematisch in das eigene Denken einarbeitet, sondern es ist eben der Geisteswissenschaftler Dilthey. Die Psychologie-Vorlesungen weisen so auf eine wichtige Komponente von Diltheys Begriff ›Erfahrungswissenschaft‹, denn mit diesem ist das durch die 84

Im Vergleich mit Nietzsche und Freud fällt nur das gänzliche Fehlen der Charcot-Schule bei Dilthey auf.

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Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert realisierte Erkenntnisideal empirischer, positiver, exakter, experimentell und vergleichend verfahrender Forschung verbunden. Gegenüber den Naturwissenschaften haben die Geisteswissenschaften ein methodisches Defizit: »Zu gleicher Zeit sind die Wissenschaften des Menschen und der Gesellschaft weit zurückgeblieben hinter den Anforderungen, welche in der Naturwissenschaft an Methoden gestellt werden.« (XXI, 368) Nicht umsonst leitet Dilthey seinen Versuch, den Naturwissenschaften methodisch auf Augenhöhe zu begegnen, gemeint ist die ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹, mit einem Helmholtz-Zitat ein (I, 1). Psychologie als Erfahrungswissenschaft ist so laut Dilthey erst aufgrund der neueren Erkenntnisse der Naturwissenschaften möglich geworden: »Die Psychologie konnte erst da beginnen, als die Physiologie bereits eine gewisse Reife erlangt hat.« (XXI, 252) Dies liegt an ihrem Gegenstand, der psychophysischen Grundstruktur des Menschen, an seiner »Doppelnatur« (XXI, 130). Während seine seelische Seite dem Erleben einfach zugänglich ist und sich die moderne Psychologie darum auch in Anbetracht dieser menschlichen Seite auf ein umfangreiches historisches Archiv des biographischen Wissens zurückwenden kann, getreu Diltheys Motto »Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte« (VIII, 226), bedurfte die natürliche Seite des Menschen erst der exakten Beschreibung durch die Naturwissenschaften. Psychologie und Anthropologie – diese Begriffe verwendet er gleichbedeutend (I, 29) – war daher bislang sozusagen nur die Lehre vom halben Menschen. Und dies ist, wie noch zu zeigen sein wird, auch Diltheys Kritik an der idealistisch geprägten Psychologie von Kant bis Herbart und ihrer Konzentration auf das ›Ich denke‹. Ein erfahrungswissenschaftlicher Zugang zum ganzen Menschen ist laut Dilthey erst die Errungenschaft des 19. Jahrhunderts. »Und wie der Mensch als psychische Lebenseinheit in der inneren Erfahrung gegeben ist, so ist er als leibliche Organisation, als Körper, in der äußeren Wahrnehmung gegeben. Er ist ein psychophysisches Wesen. […] Daher ist die Psychologie erst in unserem Jahrhundert in das Stadium einer strengen Wissenschaft eingetreten, nachdem Mathematik, Physik, dann Chemie und zuletzt Physiologie sich als Erfahrungswissenschaften konstituiert hatten. Joh. Müller, Helmholtz, Weber, Fechner haben den Zusammenhang physiologischer Vorgänge mit psychischem Geschehen an den elementaren Prozessen untersucht.« (XXI, 276) Als wichtigste Methoden, die zuerst in den Naturwissenschaften entwickelt und dann auf die Geisteswissenschaften übertragen wurden, nennt Dilthey das zunächst in der Physiologie praktizierte Experiment und das in der Biologie angewandte vergleichende Verfahren (VII, 130). Das Hinzutreten der Natur zur Seele des Menschen im 19. Jahrhundert verändert allerdings das Nachdenken über diese nachhaltig. Damit kommen wir auf eine zweite wichtige Komponente von Diltheys Konzeption der Psychologie als Erfahrungswissenschaft zu sprechen. Denn diese profiliert sich nicht nur im Angesicht der modernen Naturwissenschaften, sondern ist auch histori349

sches Resultat des Verfalls der Metaphysik.85 Davon hatte schon die ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ in ihrem zweiten Buch ›Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften. Ihre Herrschaft und ihr Verfall‹ berichtet. Die Geisteswissenschaften sind der moderne Nachfolger der Metaphysik und dies trifft im besonderen auf die Psychologie als »Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften« (XXI, 276) zu. Denn die psychologische Einstellung entlarvt die Geschichte der Metaphysik als undurchschauten Projektionsmechanismus. Das Vorhaben der voraussetzungslosen »Auffassung der inneren Zustände« läßt erkennen, daß »auch alle Metaphysik nie etwas anderes tat, als den erlebten Zusammenhang im Innern zu übertragen auf das Universum, bald einen logischen, bald einen Willens-Zusammenhang« (XX, 311). Bilder des eigenen Selbst, Bilder des psychischen Lebens sind es, welche den Metaphysiker geleitet haben, als er über Denkbarkeit entschied und deren insgeheim wirkende Gewalt ihm die Welt umwandelte in eine ungeheure phantastische Spiegelung seines eigenen Selbst. Denn das ist das Ende: der metaphysische Geist gewahrt sich selber in phantastischer Vergrößerung, gleichsam in einem zweiten Gesicht. So trifft die Metaphysik am Endpunkte ihrer Bahn mit der Erkenntnistheorie zusammen, welche das auffassende Subjekt selber zu ihrem Gegenstand hat. Die Verwandlung der Welt in das auffassende Subjekt durch diese modernen Systeme ist gleichsam die Euthanasie der Metaphysik. (I, 405)

Es handelte sich zum einen um Vorgänge der Materialisierung oder Substantialisierung, so in den Spekulationen über eine »einheitliche Spontaneität oder seelische Substanz« (V, 237), zum anderen um Projektionen des Inneren nach außen. Die Geisteswissenschaften sind nach Dilthey wesentlich nachmetaphysische Wissenschaften. Sie sind im Algemeinen, die Psychologie im Besonderen, mit der fortgesetzten Selbstaufklärung des Geistes betraut; sie praktizieren eine »allmähliche Aufklärung der Voraussetzungen, unter welchen das Denken arbeitet« (XIX, 36). Die Psychologie profiliert sich als Metaphysik-Polizei, die erneuten Spekulationen etwa auch in den Naturwissenschaften oder Residuen alter Metaphysik nachspürt, wie z.B. die Vorstellung einer Seelensubstanz, die Dilthey auch noch bei Herbart und Lotze am Werk sieht. »Was wir also suchen, ist eine von jeder Voraussetzung freie, eine von aller frühen Metaphysik unbeeinflußte Erörterung der psychischen Prozesse« (XXI, 25), das lehrt Dilthey seine Hörer 1878. Fast ein Jahrzehnt später eröffnet er seine Vorlesung ›Psychologie als Erfahrungswissenschaft‹ mit der programmatischen Überschrift: »I. Es ist der Standpunkt, welcher Metaphysik verwirft, der Standpunkt, welcher nichts als Erfahrung anerkennt, von dem wir die Psychologie betrachten« (XXI, 249).

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Vgl. M. Jung, Dilthey zur Einführung, S. 71–86.

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Dieser radikal nachmetaphysischen Standortbestimmung verdanken sich auch Diltheys Formulierungen, die eine Nähe zum Positivismus indizieren. Es sind dies die bekannten, in der Forschung vielfach tradierten Formeln, es komme darauf an: »das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen«; »Leben erfaßt Leben«; »Leben zeigen wie es ist – danach streben wir« (V, 4; VII, 136; XIX, 330). Und es finden sich auch weniger geglückte bildliche Ausdrücke für dieses Vorhaben: »Wie der Jäger das Gamswild beschleicht, nähern wir uns über Gletscher und Eis und zwischen Abgründen der gewaltigen Wahrheit, welche in der Wirklichkeit des Lebens liegt.« (XIX, 276) Hier soll, so scheint es, ohne metaphysischen oder auch nur theoretischen Überbau Wissenschaft getrieben werden: »Nur daß man die Tatsachen zunächst hinnehme, beschreibe, zergliedere, nicht aber auf unsere gegenwärtig vorherrschende Psychologie reduzieren wolle«; keine »vorzeitige Einmischung der Theorie in die Beobachtung« (VI, 274; XIX, 95). Die in seiner Schrift ›Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie‹ dann programmatisch vorgenommene Begriffsprägung transportiert genau diesen Fokus auf eine Tatsachenwissenschaft. Harte ›Fakta‹, kein metaphysisches oder ›moralisches Geschwätz‹, das war bereits hundert Jahre zuvor in Karl Philipp Moritz’ ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ zu lesen. Und schon dort erwies sich die griffige Formulierung für die dahinter stehende Problematisierung psychologischer Selbst- und Fremdbeobachtung als unterkomplex. Das gilt nicht weniger für Diltheys ›Leben erfaßt Leben‹. Seine Erkenntnisanthropologie wird in dieser Formel eher verdeckt als kenntlich gemacht und die Nähe zum Positivismus legt eine falsche Fährte. ›Leben erfaßt Leben‹ wird sich weniger im Sinne einer einfachen Tatsachenwissenschaft auslegen lassen als im Sinne der Hermeneutik, womit dann die Verwandtschaft zwischen dem Zuverstehenden und dem Subjekt des Verstehens bzw. jene zwischen alltäglichem und wissenschaftlichem Verstehen angezeigt ist. Die Bestimmung der eigenen Arbeit als »Kritik der historischen Vernunft« (I, 116), womit eine weitere Bedeutungsebene von ›Erfahrungswissenschaft‹ angesprochen ist, stellt hingegen den erkenntnistheoretischen Anspruch von Diltheys Denken sehr deutlich heraus. Es handelt sich um ein Philosophieren nach Kant und um eines über Kant hinaus. Als nachkantischer Kritizismus erweist sich die Einsicht, daß alles was ist, uns nur unter den Bedingungen der psychischen Struktur unseres Bewußtseins erscheint. »Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewußtseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur.« (I, XVII) Später formuliert Dilthey dies in den »obersten Satz der Philosophie«, den »Satz der Phänomenalität« um: »nach diesem steht alles, was für mich da ist, unter der allgemeinsten Bedingung, Tatsache meines Bewußtseins zu sein« (V, 90). Wohl nicht von ungefähr erinnert die Satzförmigkeit der Erkenntnisprämisse nun an Reinholds Satz des Bewußtseins, mit dem dieser Kants 351

transzendentale Apperzeption in einen systemtragenden Grundsatz umformuliert hatte. Der Satz der Phänomenalität ist dann, wie Diltheys Logik-Vorlesungen zeigen, explizit als Gegensatz zu Reinhold formuliert. Wurden mit Reinhold doch die gefährlichen Konsequenzen Kants deutlich: »Solipsismus oder unbedingte[r] Phänomenalismus«, »Illusionalismus« (XX, 303, vgl. 73, 275). Genauer gesagt tritt die Verkürzung von Bewußtsein auf Subjekt-ObjektRelationen bzw. insgesamt die intellektualistische Verkürzung von Bewußtsein und Außenwelt auf Vorstellungen bei Reinhold klar hervor. Das Philosophieren nach Kant wird Dilthey angesichts dieser Konsequenzen zu einer notwenigen Überbietung Kants. Diese erschöpft sich nicht allein im Aufweis der historischen Wandelbarkeit der Erkenntniskategorien – vom »historischen Apriori« (XIX, 44, 51) sprechen zur Hochzeit von Historismus und Neukantianismus viele –, sondern von einer Neufassung des Erkenntnissubjekts. Anstatt vom ›Ich denke‹ der transzendentalen Apperzeption ist nun von der irreduziblen Totalität des fühlenden, wollenden und vorstellenden Ich die Rede. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen […]. Die Methode des folgenden Versuchs ist daher diese: jeden Bestandteil des gegenwärtigen abstrakten, wissenschaftlichen Denkens halte ich an die ganze Menschennatur, wie Erfahrung, Studium der Sprache und der Geschichte sie erweisen und suche ihren Zusammenhang. Und so ergibt sich: die wichtigsten Bestandteile unseres Bildes und unserer Erkenntnis der Wirklichkeit, wie eben persönliche Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechselwirkung, sie alle können aus dieser ganzen Menschennatur erklärt werden, deren realer Lebensprozeß am Wollen, Fühlen und Vorstellen nur seine verschiedenen Seiten hat. (I, XVIII)

Darüber hinaus erhält das Erkenntnissubjekt nun auch einen Körper, so daß Diltheys Erfahrungswissenschaft vom Individuum als »psycho-physische[r] Lebenseinheit« (I, 29) handelt und auch von einer solchen ausgeführt wird. Anstatt Grundsatzphilosophie wird jetzt also Philosophie von unten getrieben, von den Erfahrungen, den Trieben, dem Körper aus. Die »Körperlichkeit meines Selbst« gehört zu jenen »fundamentalen Voraussetzungen der Erkenntnis«, die »im Leben gegeben« sind – »das Denken kann nicht hinter sie greifen.« (V, 136f.) Ein Ich ohne Körper ist nicht denkbar. »Es gibt keine Form des Bewußtseins, die anders als zugleich mit ihrer Leiblichkeit hervortreten könnte.«86 Der Körper, im spezifischen der Tastsinn, ist Medium ursprünglicher Selbst- und Welt-

86

W. Dilthey, Leben Schleichermachers II/1, S. 293. Im folgenden wird der Text unter der Sigle LS zitiert.

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erfahrung sowie als Ausdrucksorgan mimisch-gestischer oder sprachlicher Mitteilung Voraussetzung für Intersubjektivität, wie Dilthey in seiner Schleiermacher-Biographie im Kontext von dessen Ethik ausführt: »Vernunfttätigkeit kann sich aber nie von Seelenleben zu Seelenleben erkennbar machen; in einem Leiblichen, Sinnlichen muß sie sich darstellen« (LS II/1, 283). Dieser Körper ist allerdings nicht jener der Naturwissenschaften, von dem wir über den Umweg von Messung und Experiment Kenntnis haben, sondern es ist der unmittelbar erlebte und gestaltende Körper. Das »Korrelat« der psychischen »Lebenseinheit ist der nach innerem Antrieb sich bewegende und wirkende Körper.« (VII, 159) Es ist der Körper der Geisteswissenschaften, der mit Dilthey gleichsam zum ersten Mal die Bühne der Wissenschaften betritt, diesen seinen Auftritt aber seinem Zwillingsbruder, dem naturwissenschaftlichen Körper, verdankt, dem er im Leben allerdings immer schon voraus war. Mit Begriffen wie ›Lagebewußtsein‹ und ›Körpergefühl‹ wird dieses körperliche Erleben näher bestimmt. Dilthey wird darin tatsächlich den ganzen Menschen als historische psycho-sozial-physische Lebenseinheit in seine Erkenntnistheorie eintragen, so daß die Herausgeber des 19. Bandes seiner Schriften zu Recht von seiner »Erkenntnisanthropologie« (XIX, XXII, XXIV) sprechen. Mit der Wahrnehmung des Menschen im Geflecht von ›persönlicher Lebenseinheit, Außenwelt, Individuen außer uns, ihr Leben in der Zeit und ihre Wechselwirkung‹, wie es oben heißt, ist das Menschenbild der medizinischen Psychosomatik des 20. Jahrhunderts in seiner ganzen Komplexität vorgezeichnet. Der Mensch wird schon bei Dilthey als »somato-psycho-soziales Phänomen«87 wissenschaftlich erfaßt. Allerdings könnte diesbezüglich noch einmal an Nietzsches oben zitiertes Notat vom Frühjahr 1884 erinnert werden, in dem er anmerkte, das ›Denkende, Wollende, Fühlende in uns sei ein Ende, jedenfalls das Verwickeltste‹ und darum wohl auch kein guter Ausgangspunkt für eine Tatsachenwissenschaft. Denn Diltheys Erfahrungswissenschaft nimmt mit der Totalität des Bewußtseins und der psychophysischen Lebenseinheit wirklich vom onto- wie auch phylogenetischen Ende, vom Verwickeltsten ihren Anfang. Der Gang der von Dilthey projektierten Wissenschaft geht vom komplexen, in der Erfahrung gegebenen Struktur- und Wirkungszusammenhang des Lebens aus, der beschreibend, zergliedernd bzw. analysierend in einfachere Bestandteile auseinandergenommen werden soll. Die »Analyse« geht vom »an die Sprache gebundenen und in Urteilen« verlaufenden »diskursiven Denken« »rückwärts« zu den »einfacheren Leistungen« (VII, 122). So beginnt die beschreibende Psychologie mit der Erlebnisperspektive des Erwachsenen, des »schon entwickelten Menschen«, des »reifen und fertigen Typus Mensch« wie sie auch phylogenetisch 87

T. v. Uexküll und W. Wesiack, Psychosomatische Medizin und das Problem einer Theorie der Heilkunde, S. 9.

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mit dem »Gipfel« einer »von den niedersten Stufen des tierischen Daseins aufwärts« verlaufenden »psychischen Entwicklungsreihe«, also dem »entwickelten Kulturmenschen« (VI, 63; V, 157) ihren Anfang nimmt. Eine Erfahrungswissenschaft vom Ende her kennt darum auch zwei zeitliche Dimensionen: synchron, die Beschreibung der gegenwärtigen Strukturen des Seelenlebens, diachron, die Geschichte ihrer Entstehung. »Entwicklungsgeschichte« (I, XVIII) ist die Methode, die Dilthey in Überbietung des Kantischen Ansatzes anführt. Das gilt auch für den eigenen erkenntnistheoretischen Standpunkt, so daß die ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ zunächst mit der Verfallsgeschichte der Metaphysik sich ihrer eigenen Genese versichert und auch ihre produktiven Vorläufer benennt, die einen Beitrag zu diesem Standpunkt geleistet haben. In der Vorrede werden für eine Erkenntnisanthropologie, die vom ganzen Menschen ausgeht, Herder und Wilhelm von Humboldt genannt (I, XVIII). In der Nachfolge Herders wird Dilthey noch einmal eine mit dem Begriff Selbstgefühl operierende Selbstbewußtseinstheorie ausarbeiten, die vom Tastsinn ausgeht. Darüber hinaus gilt ihm Herder als Vorreiter einer vom ganzen Menschen handelnden »geschichtlichen Poetik«: »Die unendlich wandelbare sinnlich geistige Organisation des Menschen in ihrem Verhältnis zur Außenwelt ist ihm die Bedingung der Schönheit wie des Geschmacks und diese wandeln sich mit ihr.« (VI, 121) Karl Philipp Moritz’ autobiographischer ›psychologischer Roman‹ Anton Reiser wird oft als frühes Dokument empirischer Psychologie und Beispiel gelungener Selbstbeobachtung genannt, in Abgrenzung gegenüber Haller oder Rousseau, und wird damit als wichtiges Material für eine wissenschaftlich zu vollendende Selbstbeobachtung gewürdigt.88 Das ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ hat Dilthey wahrgenommen (LS II/2, 622). Sehr viel früher, in seinem aus dem Jahr 1865 stammenden Novalis-Essay hatte Dilthey die Genealogie seines Denkens mit dessen »Realpsychologie« beginnen lassen – ein Begriff, den er adaptieren wird. Diese bezeichnet er als »einen uns naheliegenden Standpunkt« und charakterisiert sie als eine »Wissenschaft«, welche es mit dem »höchsten Phänomen«, der »Anschauung unseres eigenen Inneren« zu tun hat: »Er [Novalis] findet auf der anderen Seite, daß die reale Psychologie oder Anthropologie den unendlichen Gehalt der menschlichen Natur nur an seiner Entwickelung in der Geschichte zu studieren vermag. […] Was heißt Realpsychologie? Eine Psychologie, welche den Inhalt unserer Seele selber zu ordnen, in seinen Zusammenhängen aufzufassen, soweit möglich zu erklären unternimmt.« Zur »inneren Verwandtschaft der Bestrebungen dieser Epoche« um 1800 »mit denen der Gegenwart« trägt die bereits dort zu findende Erkenntnis bei, daß »Phänomene des Willens und der Gefühle auf die Verhältnisse der Vorstellungen nicht zurückführbar sind« 88

Vgl. V, 225; XXI, 24f., 27, 241, 281f.; XIX, 27. Siehe auch Diltheys Text: Selbstbekenntnisse eines Phantasiemenschen. Karl Philipp Moritz. In: XV, 356–371.

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(ED 306ff.). Im weiteren werden hier Schleiermacher, Hegel und Schopenhauer genannt. Fraglos kommt Schleiermacher, seiner ›bildenden Psychologie‹, in der Entwicklungsgeschichte der Diltheyschen Erfahrungswissenschaft die tragende Rolle zu, dokumentiert durch die lebenslange Arbeit an dieser Monographie. Für die Bedeutung Hegels ist es sprechend, daß Dilthey sich nach der Ebbinghaus-Kontroverse und dem Abbruch seines Projekts einer beschreibenden Psychologie in den nächsten Jahren der ›Jugendgeschichte Hegels‹ widmet. Ein näheres Eingehen auf den Einfluß Schopenhauers auf Diltheys »voluntaristische Bewußtseinstheorie«89 hat Ferdinand Fellmann bislang als Forschungsdesiderat eingeklagt. Die Publikation der Psychologie-Vorlesungen bestätigt dies. Hier räumt Dilthey Schopenhauers Psychologie in Abgrenzung zu seiner ›haltlosen‹ Metaphysik eine besondere Stellung ein: »was wertvoll in seinem Systeme ist, ist seine Psychologie, und diese seine psychologische Grundauffassung ist das Ergreifende, Bezaubernde und Fortreißende in seinem Systeme«. Den »Ausgangspunkt Schopenhauers«, demzufolge »der menschliche Wille etwas Primäres ist«, teilt Dilthey, nicht aber dessen weitere Konsequenz von der »Unseligkeit des Lebens« (XXI, 121f.). Man sieht also, Diltheys Erfahrungswissenschaft ist nicht nur onto- wie phylogenetisch verwickelt, sondern auch philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich. Auch in dieser Hinsicht ist es ein Sprechen vom Ende her, wenn auch nur von einem unspektakulären, momentanen Ende aus. Anders als Hegels Rede vom ›Ende der Geschichte‹ oder der ›Kunstperiode‹ ist Diltheys Diktion vom Fortschrittsoptimismus der Naturwissenschaften durchdrungen und erwartet ein ähnliches ›noch nicht‹ auch von den Geisteswissenschaften.90 Es zeigt sich, daß Entwicklungsgeschichten nicht nur von Lebewesen zu erzählen sind, sondern auch von Denksystemen wie dem der Metaphysik oder von kulturellen Struktur- und Wirkungszusammenhängen, also dem, was Dilthey im ›Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften‹ dann objektiver Geist nennen wird. Solche Erzählungen gehören zu dem von Dilthey projizierten Wissenschaftstypus der Geisteswissenschaften notwendig dazu, arbeiten diese doch an der fortgesetzten Selbstaufklärung des Geistes. Dies ist ein zentraler Aspekt der von Dilthey profilierten biographischen Erkenntnis. Es ist seine Version der Rückbindung von Denksystemen an das Leben, die Nietzsche mit seiner auf ›Personal-Acten‹ beruhenden Philosophie anstrebte. »Die Geisteswissenschaften ordnen ein, indem sie umgekehrt zu allererst und hauptsächlich die sich unermeßlich ausbreitende menschlich-geschichtlich-gesellschaftliche äußere 89 90

F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, S. 22, siehe auch S. 64, 76–82, 84, 87f. Was Hegel als Zusichselbstkommen des absoluten Geistes beschreibt, formuliert Dilthey bescheidener als Vollzug geschichtlicher Selbstbesinnung des Menschen: »Die Erkenntnis dieses Prozesses muß von dem gegenwärtigen (relativen) Vermögen der Selbstbesinnung ihren Ausgangspunkt nehmen und so, geleitet von der in der Entwicklung entstandenen Einsicht, diese Entwicklung selber begreiflich machen.« XIX, 57.

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Wirklichkeit zurückübersetzen in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen sind.« Ein Gedicht etwa müsse »in Leben zurückverwandelt« (VII, 119f., 214) werden. In den Schleiermacher- und Hegel-Monographien hatte er den »Zusammenhang zwischen dem Charakter, dem Leben eines Philosophen und seinem System« (II, 2, 463) herausgearbeitet. Dieser Wissenschaftstypus ist natürlich alles andere als voraussetzungslos, »die voraussetzungslose Erkenntnistheorie [ist] eine Illusion« (V, 150). Ihm gilt es als ausgemacht, »daß es keine voraussetzungslose Grundlegung der Wissenschaft gibt. […] Das Bewußtsein über die Voraussetzungen, mit welchem das Denken arbeitet, und die Prüfung derselben an ihren Konsequenzen«, »teilweise eine Eliminierung dieser Voraussetzungen«, »sind die einzigen Mittel, deren sich die Grundlegung der Wissenschaft zu bedienen vermag.« (XIX, 36) Zu diesem Schluß kommt Dilthey in einem Gedankengang über ›Philosophie der Erfahrung: Empirie, nicht Empirismus‹, in dem er sich auch mit Comte auseinandersetzt. Die Unterschiede seiner Tatsachenwissenschaft gegenüber Positivismus und Empirismus werden also deutlich genug gezeichnet.91 Wie Nietzsche diesen Wissenschaftstypus als ein Ausgehen von ›Verwickeltsten‹ zu kritisieren, reicht also nicht aus, vielmehr scheint es, als sei der doch eigentlich rhetorisch versierte jüngere Philosoph der formelhaften Diktion des Älteren aufgesessen. ›Leben durch Leben erfassen‹ läßt sich eben nicht mit einfacher Tatsachenwissenschaft übersetzen, sondern bedeutet ein Ausgehen von den höchst verwikkelten inneren Erfahrungen. Diese sollen analytisch beschrieben, geordnet und in ihre einzelnen Leistungen zerlegt werden. Die rätselhafteste Erfahrung von der wir notwendig ausgehen müssen, die zentrale Voraussetzung der Erkenntnis ist unsere Selbsterfahrung als psychophysische Lebenseinheit. Angesichts dieser menschlichen Verfassung muß Erkenntnistheorie zur Erkenntnisanthropologie werden oder, wie Dilthey sagt, zur Psychologie: »Erkenntnistheorie ist Psychologie« (V, 151). Psychologie als Erfahrungswissenschaft befaßt sich mit der Doppelnatur des Menschen: »Die Theorie dieser psycho-physischen Lebenseinheiten ist die Anthropologie und Psychologie.« (I, 29) Sie verhandelt den Menschen in seiner allgemeinsten und grundlegendsten Erlebnisperspektive, die anderen Geisteswissenschaften beschäftigen sich mit den spezifischen Rollen der psychophysischen Lebenseinheiten in »Systemen der Kultur: Recht, Sitte, Kunst, Religion, Wissenschaft« (XXI, 276). Und darum ist die Psychologie »Grundlage aller Erkenntnis des geschichtlichen Lebens, wie aller Regeln der Leitung und Fortbildung der Gesellschaft«; »sie ist demnach die erste und elementarste unter den Einzelwissenschaften des Geistes; dementsprechend bilden ihre Wahrheiten die Grundlage des weiteren Aufbaues.« (I, 32f.) So heißt es in der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ 1883. Mit dem letzten Wort ist bereits das Spätwerk ›Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistes91

Zur Kritik am Positivismus siehe auch XX, 237–243.

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wissenschaften‹ indiziert. Auch dort bezeichnet die psychophysische Lebenseinheit noch die grundlegendste Erlebnisperspektive, die Psychologie allerdings hat nach der Ebbinghaus-Episode ihren Status als sichere Grundlagenwissenschaft verloren. Der Begriff der inneren Erfahrung, der in der ›Einleitung‹ den festen Ausgangspunkt bildete, wird in den darauffolgenden Jahren zunehmend problematisch, so daß Diltheys Unternehmen von einer Überbietung Kants in Gestalt der ›Kritik der historischen Vernunft‹ eine selbstkritische Wendung nimmt und zunehmend mehr zu einer »Kritik der inneren Erfahrung« (XIX, 325) wird. Nur um auf die einheitliche Rhetorik jener aufmerksam zu machen, die um 1900 nach Kant und über Kant hinaus Wissenschaft betreiben wollen: Sigmund Freud nennt sein psychoanalytisches Programm eine »Korrektur der inneren Wahrnehmung« (GW 10, 270). Dilthey ersetzt die Analyse der inneren Erfahrung im ›Aufbau‹ durch eine Analyse des Ineinandergreifens vom Strukturzusammenhang der Seele und kulturellen Wirkungszusammenhängen, dem objektiven Geist. Dies läßt sich als adäquatere Version des in der ›Einleitung‹ vorgestellten Erkenntnisideals eines ganzen Menschen als psycho-physisch-sozialer Lebenseinheit verstehen. Die in den späten 80er, frühen 90er Jahren ausgearbeitete Strukturpsychologie gibt dann in Allianz mit einer ausdifferenzierten Hermeneutik eine angemessene Methode ab, die der eigenen Kritik der inneren Erfahrung standhält. V.2.3. Die psychophysische Lebenseinheit Diltheys Rede von der psychophysischen Lebenseinheit ist erkennbar an die von Ernst Heinrich Weber und Gustav Theodor Fechner begründete Psychophysik angelehnt.92 In den ›Elementen der Psychophysik‹ (1860) definiert Fechner diese Wissenschaft folgendermaßen: »Unter Psychophysik soll hier eine exacte Lehre von den functionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele, allgemeiner zwischen körperlicher und geistiger, physischer und psychischer, Welt verstanden werden.«93 Erst durch die von der Psychophysik praktizierte experimentelle Herangehensweise an den ganzen Menschen ist eine Psychologie als Erfahrungswissenschaft möglich geworden. Insofern sich die Psychophysik der »Feststellung von exakten Beziehungen« (XVIII, 86) zwischen Körper und Geist widmet, zollt Dilthey ihr seine uneingeschränkte Anerkennung. Sie hat »in einem begrenzten Zweig der Psychologie Erkenntnis psychischer Maßverhältnisse« eingeführt und somit »mathematische Klarheit« in 92

93

Auf die wichtige Rolle Webers bei der Begründung der Psychophysik weist Fechner selbst, vgl. Elemente der Psychophysik. Zweiter Theil, S. 548f., und nach ihm Wilhelm Wundt, vgl. Erlebtes und Erkanntes, S. 301f. Dilthey bedenkt ihn mit folgenden Worten: »Ernst Heinrich [Weber] wird als der Schöpfer der ersten psychophysischen Untersuchungen in der Geschichte der europäischen Wissenschaft jeder Zeit seine Stelle behaupten.« XVII, 222. G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 8.

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dieser befördert. So konnte etwa ein »funktionelles Verhältnis« (XXI, 14f.) zwischen Empfindung und Reiz nachgewiesen werden. Konkrete »Gesetze der Beziehung zwischen körperlichem und geistigem Leben« hat »zuerst Fechner« aufgestellt. »Das Studium dieser Beziehungen ermöglicht aber erst die elementaren Tatsachen des Seelenlebens: Empfindung, sinnliche Gefühle, Gedächtnis, wissenschaftlich zu erforschen.« (XXI, 276) Die Psychophysik zeigt auf einem »beschränkten Gebiete« die »Korrespondenz zwischen den psychischen Prozessen und denen des Nervensystems« auf. Ihre Schlußfolgerungen aus diesen Einsichten mittlerer Reichweite kann Dilthey jedoch nicht teilen. Eine »vollständige Korrespondenz« zwischen körperlichen und psychischen Prozessen scheint ihm eine unhaltbare Hypothese, die bereits wieder dem Reich der Metaphysik angehört. Angesichts der Vielzahl körperlicher Prozesse führe dies allein schon quantitativ zu absurden Annahmen – jede Zellbewegung ein Gedanke? »Welche Beziehung von Zellen und Nervenfäden soll einem verneinenden Urteil entsprechen?« (XIX, 279ff.) Und dem vorhandenen und erlebbaren Zusammenhang psychischer Prozesse könne so gar keine Rechnung getragen werden. Fechners »metaphysische Generalisation« (XIX, 310) weist er also ab. Diltheys ›Ideen‹ sind als Kampfschrift gegen die Psychophysik gelesen worden, obwohl er auch dort nicht die psychophysischen Einzelstudien, sondern nur deren monistische Ausweitung ins Visier nimmt.94 Fechner hatte seine monistische Version des psychophysischen Parallelismus Leibnizscher Prägung durch das weitergeführte Uhren-Gleichnis veranschaulicht – eine Textstelle, die Dilthey unausgewiesen seinen Hörern vorträgt: Leibniz hat eine Ansicht vergessen, und zwar die einfachstmögliche. Sie können auch harmonisch mit einander gehen, ja gar niemals aus einander gehen, weil sie gar nicht zwei verschiedene Uhren sind. Damit ist das gemeinsame Bret, die stete Nachhülfe, die Künstlichkeit der ersten Einrichtung erspart. Was dem äusserlich stehenden Beobachter als die organische Uhr mit einem Triebwerke und Gange organischer Räder und Hebel oder als ihr wichtigster und wesentlichster Theil erscheint, erscheint ihr selbst innerlich ganz anders als ihr eigener Geist mit dem Gange von Empfindungen, Trieben und Gedanken.95

Wilhelm Dilthey gibt seinen Studenten in der Psychologie-Vorlesung des Wintersemesters 1885/86 Fechners Position in folgenden Worten wieder: »Oder endlich, sagen die Neueren, man kann sich denken, es ist nur eine Uhr mit zwei Zifferblättern, einem äußeren und einem inneren. Es ist eine Uhr, welche sich nur außen und innen zeigt.« (XXI, 252)

94

95

Vgl. V, 142f., 165f., 238; XX, 241. Als generelle Kampfschrift gegen die Psychophysik haben Ebbinghaus, Ludwig Stein, Alois Riehl und Wilhelm Wundt die ›Ideen‹ gelesen, vgl. H. Ebbinghaus, Über erklärende und beschreibende Psychologie, S. 51, 78, 83, 86; und die Briefe Riehls, Steins und Wundts in: H.-U. Lessing, Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 217f., 222, 231f. G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 5.

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Gegenüber solchen, durch experimentelle Einzelstudien nicht gedeckten Spekulationen hält Dilthey an den Erkenntnisgrenzen und das heißt in diesem Fall an der ›Rätselhaftigkeit‹ des leibseelischen Zusammenhangs fest. Mit Emphase beschreibt er seine eigene Position so: »Das Allerrätselhafteste: das Verhalten des Seelenlebens zum Körper (meine Kritik!)« (XIX, 331). Der Nachdruck auf dem Begriff des Rätsels dürfte sich auf Emil Du Bois-Reymonds berühmten 1880 in Leipzig gehaltenen Vortrag ›Die sieben Welträthsel‹ beziehen, der wie bereits ein früherer Vortrag ›Über die Grenzen des Naturerkennens‹96 handelte und insofern Diltheys vollste Zustimmung fand.97 Ausführlicher beschreibt Dilthey die »Rätselhaftigkeit des Lebens« seinen Hörern in den Philosophie-Vorlesungen der späten Jahre: Es ist dies Doppelte in dem Antlitz des Lebens, kraft dessen wir Natur sind: wenn wir uns dem überlassen, naturalistisch uns verhalten – und die andere Seite, kraft deren wir Werte erzeugen, eine Entwicklung durchlaufen, die Arbeit des Lebens mit dem Bewußtsein einer Wertentwicklung vollziehen. – Es sind diese beiden Seiten, die unauflöslich miteinander verflochten sind – nicht einmal ›verflochten‹ können wir sagen, denn wie das zusammenhänge, das ist eben jenes große Weltmysterium, welches uns genau so unauflöslich ist, als es dem Heraklit oder den Pythagoräern unauflöslich gewesen ist. (XX, 331)

Die Spekulation über das Leib-Seele-Problem wird sogar als die »Metaphysik des 19. Jahrhunderts« bezeichnet, die es in »ihrem Keim [zu] zerstör[en]« gelte durch die Einsicht, daß dieses Problem »theoretisch gar nicht behandelt werden kann« (VIII, 174). Der Schluß, den Dilthey aus dieser Sachlage zieht, ist lakonisch formuliert und trifft sehr genau die Art und Weise, in der er mit diesem unlösbaren, nichtsdestoweniger aber wissenschaftlich produktiven Problem umgehen wird: Eine Theorie, die von der im eigenen Erleben gegebenen psychischen Struktur ausgeht, diese um ihre physiologische Basis erweitert und schließlich die solchermaßen theoriefähig gemachte psychophysische Lebenseinheit als Grundlage der Kulturwissenschaften begreift und in ihrer wissenschaftlichen Tragweite beschreibt. Vom Zusammenhang von Körper und Seele heißt es: »Alle Rätsel konstituieren sich hier. Aber die gegenwärtige Psychologie kann sie [nicht] definitiv lösen. Man muß sich mit folgendem begnügen: 1. Interesse für mich 2. das Thema Körper. 3. Grundlage aller sozialen und historischen Prozesse. Darüber hinaus nur kritisches Bewußtsein über Möglichkeit des Ich, der physiologischen Grundlagen etc.« (XIX, 434) Das leibseelische Grundverhältnis bezeichnet eine fundamentale Grenze des Erkennens, hinter die nicht zurückgegangen werden kann. Dementsprechend gilt: »Alle Begriffe, die wir über Verhältnis von Seele und Körper bilden können, sind dogmatisch:

96 97

E. Du Bois-Reymond, Über die Grenzen des Naturerkennens [1872]. Die sieben Welträthsel [1880]. Vgl. I, 9f., 12ff.; XVII, 5, 8, 222, 319f.; XX, 241; XXI, 47, 203, 388.

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nie überschreiten wir das in der Lebendigkeit enthaltende Verhältnis durch unser Denken.« (VIII, 229) Neben dem Uhrengleichnis gibt es eine weitere Passage aus Fechners ›Elementen der Psychophysik‹, die Dilthey in den Psychologie-Vorlesungen gerne vorträgt, wiederum ohne konkreten Verweis. Diese macht auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die man im wissenschaftlichen Umgang mit der Innen- und Außenperspektive der psychophysischen Lebenseinheit bekommt. Es ist eine notwendige Ungleichzeitigkeit zwischen den beiden Perspektiven gegeben. Der Zusammenhang von Körper und Seele kann entweder von außen beobachtet oder von innen erlebt werden, nicht jedoch beides zugleich. Fechner erläutert das so: Nicht so mit dem Zusammenhange der körperlichen und geistigen Welt, indem von beiden unmittelbar zusammengehörigen Factoren dieses Zusammenhanges immer nur der eine auf einmal in die unmittelbare Erfahrung tritt, während der andere unter der Decke bleibt. Denn indess wir uns unserer Empfindungen und Gedanken unmittelbar bewusst sind, können wir nichts von den Bewegungen im Gehirne wahrnehmen, welche daran gebunden sind und an welche sie ihrerseits gebunden sind, das Körperliche bleibt hier unter der geistigen Decke; und indess wir die Körper anderer Menschen, Thiere und der ganzen Natur unmittelbar der anatomischen und physiologischen, physikalischen und chemischen Untersuchung unterwerfen können, vermögen wir nichts unmittelbar von den Seelen, die den ersten, und dem Gotte, welcher der zweiten zugehört, zu erfahren; das Geistige bleibt hier unter der körperlichen Decke.98

Bei Dilthey wird die Bildlichkeit etwas drastischer: »Ein Zustand des Nachdenkens findet statt, während man das Gehirn nicht offenlegen kann; das Gehirn kann man offenlegen, wenn es nicht mehr denkt.« (XXI, 252)99 Die Schlußfolgerungen, die Fechner und Dilthey aus diesem Befund ziehen, sind einander diametral entgegengesetzt. Der erstere entscheidet sich dafür, vom äußeren Standpunkt, dem Körper als meßbaren auszugehen, eben weil hier exakt, experimentell etc. gearbeitet werden und über das Maß des Körpers auch auf jenes der Seele geschlossen werden könne. Das heißt aber auch, daß nur die »Seite der Abhängigkeit der Seele vom Körper«100 verfolgt wird und mithin eine Tendenz zur materialistischen Reduktion nicht in der Grundannahme, denn Fechner geht von einer wechselwirksamen Abhängigkeit von Körper und Seele aus,

98 99 100

G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 1f. Vgl. die entsprechenden Passagen bei Dilthey XVIII, 86; XXI, 14, 252, 276; I, 16. »Es ist ein Unterschied, ob man mit dem Gehirne denkt, oder in das Gehirn des Denkenden hineinsieht.« G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 4. »Ein Grund aber für die Psychophysik, den Verfolg der Seite der Abhängigkeit der Seele vom Körper von der gegentheiligen zu bevorzugen, liegt darin, dass nur das Physische dem Masse unmittelbar zugänglich ist, indess das Mass des Psychischen erst in Abhängigkeit davon gewonnen werden kann, wie später gezeigt wird. Dieser Grund ist entscheidend und bestimmt die Richtung des Ganges im Folgenden.« G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 9.

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wohl aber in der Durchführung der Psychophysik liegt. Sie argumentiert somatopsychisch. Dilthey hingegen wählt den zweiten Weg, die Erlebnisperspektive der körperlich-seelischen Einheit, und seine Begründung nimmt ebenso wie Fechner die wissenschaftliche Exaktheit für sich in Anspruch. Denn das ist ja die Pointe von Diltheys Konzeption der Geisteswissenschaften: Sie sind die eigentlich exakten Wissenschaften, da sie von der unmittelbaren Erfahrung, dem Erleben, ausgehen können, während sich die Naturwissenschaften nur künstlich-experimentell, hypothetisch-konstruktiv und insgesamt ›fiktiv‹ auf die Welt beziehen können. Das oben genannte Beispiel von einerseits dem jeden bekannten Zustand des Denkens und andererseits der Gehirnöffnung mag plastisch genug für die Differenz zwischen unmittelbarem und experimentellem Zugang zur Wirklichkeit sein. Die besondere Rolle der Hypothese in den Naturwissenschaften begründet Dilthey damit, daß diese analytisch immer nur von Einzelelementen sprechen kann, will sie Zusammenhänge, etwa Kausalität, thematisieren, so muß sie einen synthetischen Weg gehen. Ableitung »aus einer begrenzten Zahl von analytisch gefundenen Elementen« und dann »synthetischer oder konstruktiver Gang« (V, 158), um Beziehungen zwischen diesen Elementen herzustellen, so vollzieht sich nach Dilthey der naturwissenschaftliche Erkenntnisweg. Nun unterscheiden sich zunächst von den Naturwissenschaften die Geisteswissenschaften dadurch, daß jene zu ihrem Gegenstande Tatsachen haben, welche im Bewußtsein als von außen, als Phänomene und einzeln gegeben auftreten, wogegen sie in diesen von innen, als Realität und als ein lebendiger Zusammenhang originaliter auftreten. Hieraus ergibt sich für die Naturwissenschaften, daß in ihnen nur durch ergänzende Schlüsse, vermittels einer Verbindung von Hypothesen, ein Zusammenhang der Natur gegeben ist. Für die Geisteswissenschaften folgt dagegen, daß in ihnen der Zusammenhang des Seelenlebens als ein ursprünglich gegebener überall zugrundeliegt. Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir. (V, 143f.)

Für die moderne naturwissenschaftliche Psychologie konstatiert Dilthey in den ›Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie‹ zudem noch eine bedenkliche Zunahme »hypothetische[r] Erklärungselemente«, etwa eine im Parallelismus vorgenommene Annahme physiologischer Zwischenglieder zwischen psychischen Reihen oder unbewußter Vorstellungen. Demnach kann es sich bei einer Naturwissenschaft um ein höchst fiktives Unternehmen handeln, das sowohl die einzelnen Elemente als auch deren Verbindung erfindet, eben um eine »Konstruktion aus hypothetischen Erklärungselementen« (V, 168). Demgegenüber hat die geisteswissenschaftliche Psychologie den erlebten Zusammenhang als sicheren Ausgangspunkt, den sie beschreibend ausstellt. Sie bedarf also keiner hypothetischen Zusammenführung von Einzelelementen, sondern sie kann sich ausschließlich der Analyse widmen. »Ich verstehe unter beschreibender Psychologie die Darstellung der in jedem entwickelten 361

menschlichen Seelenleben gleichförmig auftretenden Bestandteile und Zusammenhänge, wie sie in einem einzigen Zusammenhang verbunden sind, der nicht hinzugedacht oder erschlossen, sondern erlebt ist.« (V, 152) Die in den ›Ideen‹ ausgetragene Kontroverse zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften in Gestalt der Konfrontation einer beschreibenden und einer erklärenden Psychologie nimmt so zum Teil deutlich polemische Züge an. Nicht nur das bekannte Diktum einer ›Seelenlehre ohne Seele‹ ist hier zu nennen, sondern auch die auf die gesamten Naturwissenschaften gemünzte Charakterisierung der erklärenden Psychologie als eines mehr oder weniger haltlosen hypothetischen Gebäudes. »Seelenleben kann ja doch nicht aus Bestandteilen komponiert, durch Zusammensetzung konstruiert werden, und der Spott des Faust über Wagners chemische Herstellung des Homunkulus trifft solchen Versuch mit. Die beschreibende und zergliedernde Psychologie endigt mit Hypothesen, während die erklärende mit ihnen beginnt.« (V, 175) Und Diltheys begriffsgeschichtliche Argumentation tut dann ihr übriges. Denn die methodische Differenzierung von Erklären und Verstehen wird mit den Begriffspaaren synthetisch-analytisch und rationell-empirisch assoziiert. Dies bezieht sich auf die von Christian Wolff vorgenommene Unterscheidung einer rationellen und empirischen Psychologie sowie Kants Abgrenzung von analytischen und synthetischen Urteilen. Damit wird die erklärende Psychologie aber jeweils mit Metaphysik in Gestalt von Wolffs rationeller Psychologie und Kants synthetischen Urteilen in Verbindung gebracht. Und dies geschieht einem Wissenschaftstypus, der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zugute hielt, sich erfolgreich von der Naturphilosophie des Idealismus verabschiedet zu haben. Ebbinghaus’ scharfe Anti-Kritik zeigt ein Sensorium für diese subtile Rhetorik. Im Vergleich mit der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ und dem ›Aufbau der geschichtlichen Welt‹ fällt Diltheys Differenzierung der Wissenschaftstypen in den ›Ideen‹ am deutlichsten aus. Mit dieser Abhandlung wollte er sich im wissenschaftlichen Feld gegenüber einer wohl eingeführten und erfolgreichen erklärenden Psychologie positionieren, die gerade Mitte der 90er Jahre dabei war, ihre dominierende Stellung auch universitär zu verankern. So begrüßt Alois Riehl Diltheys ›Ideen‹ vor allem angesichts der Umstände, »daß durch das fortgesetzte Ausliefern einer philos[ophischen] Lehrkanzel nach der anderen an die Psychophysiker die Sache unserer Wissenschaft schwer geschädigt wird.«101 Und der Ideen- und Sprachwitz von Diltheys Argumentation ist gerade angesichts der heutigen, durchaus vergleichbaren Situation bemerkenswert. Denn in seiner Überzeichnung läßt sich nicht nur ein Körnchen Wahrheit, sondern es lassen sich auch die gegenteiligen öffentlichen Vorurteile 101

Zit. nach H.-U. Lessing, Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 222.

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erkennen, die um 1900 vermutlich ebenso kursierten, wie sie dies um 2000 tun. In den ›Ideen‹ werden die vermeintlich harten Tatsachenwissenschaften der Natur, die sich Objektivität, Meßbarkeit, Reproduzierbarkeit und dadurch Naturbeherrschung und Praxisnähe auf ihre Fahnen geschrieben haben, ihres Hangs zum Hypothetisch-Metaphysischen überführt, indem sie von Atom bis quarks mit Entitäten Umgang pflegen, die auf ihre empirische Beglaubigung lange warten mußten oder dies immer noch tun. Sigmund Freud wird gut naturwissenschaftlich diesen hypothetischen Status auch für sein Unbewußtes beanspruchen (GW 17, 142ff.). Die schon damals mit »arm chair«-Wissenschaft102 geziehenen Geisteswissenschaften werden hingegen in ihrer Lebensnähe – »Dort also Abstraktion, hier umgekehrt Zurückübersetzen in die volle ganze Lebendigkeit« (V, 265) – und als sichere Erfahrungswissenschaften charakterisiert. Sie sollen in Gestalt einer verstehenden Psychologie sowohl in der Lage sein, den Naturwissenschaften Bodenhaftung zu geben, als auch metawissenschaftlich deren Ausflüge in die Metaphysik kritisch zu begleiten. Denn trotz der scharf gezeichneten Abgrenzung von Geistes- und Naturwissenschaften plädieren auch die ›Ideen‹ letztlich für eine notwendige Ergänzung der beiden Wissenschaftstypen gerade angesichts des Menschen. Dieser ist natürlich ungeachtet der griffigen Formel ›Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir‹ als psychophysische Lebenseinheit gleichermaßen versteh- wie erklärbar. Das verwickelte Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften stellt sich bei Dilthey mithin wie folgt dar: Wissenschaftsgeschichtlich sind die Naturwissenschaften Vorgänger der Geisteswissenschaften, wie im vorangehenden Kapitel erläutert. Ebenso fraglos bilden die »Tatsachen der Natur« ontologisch die »unteren Bedingungen des geistigen Lebens« und somit haben die »Geisteswissenschaften Naturtatsachen in sich, haben Naturerkenntnis zur Grundlage« (I, 17, 14).103 Wissenschaftsgeschichtlich und ontologisch geht die Natur dem Geist voran, erkenntnistheoretisch bilden jedoch die Geisteswissenschaften mit ihrem Ausgang von der inneren Erfahrung die Grundlage für die Naturwissenschaften.104 Denn sie definieren sich nach Dilthey als Wissenschaften, die von der Erlebnisperspektive der 1. Person ausgehen. Erkenntnistheoretisch und -praktisch stehen uns die geistigen Tatsachen im Erleben näher als die natürlichen. Dilthey konstatiert gegenüber der (außermenschlichen) Natur eine Entfremdung, die er später auch phylogenetisch als ein Herauswachsen der Psyche aus

102

103 104

So Ebbinghaus in seinem Antwortbrief zu Diltheys ›Ideen‹, zit. nach H.-U. Lessing, Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 228. Diese Einsicht wiederholt Dilthey in den ›Ideen‹ und im ›Aufbau der geschichtlichen Welt‹; vgl. V, 252; VII, 119. »Natur ist die Möglichkeitsbedingung des Bewußtseins, Bewußtsein die Erkenntnisbedingung der Natur.« M. Jung, Dilthey zur Einführung, S. 54.

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der Natur und kulturell als ein Anwachsen psychischer Vermittlungsstrukturen beschreiben wird: »Die Tatbestände in der Gesellschaft sind uns von innen verständlich […]. Die Natur ist uns fremd. Denn sie ist uns nur ein Außen, kein Inneres.« (I, 36) Der Schlüssel des Menschen zum Verständnis dieses Außen liegt dann in seiner eigenen psychophysischen Konstitution, in dem am eigenen Leib erlebten Zusammenhang von innen und außen. Die zwei Körper des Menschen, der eine als naturwissenschaftliches Objekt, der andere als erlebter Zustand, ermöglichen die grundlegenden Transferleistungen im Verständnis von Natur und anderen Menschen. Die vom ganzen Menschen ausgehende Erkenntnisanthropologie schränkt jeweils die Totalitarismen der Erkenntnisperspektiven ein. Der Innenperspektive wird ihre Tendenz zu einem Produktionsidealismus vorgehalten, wonach »die gesamte Außenwelt in meinem Bewußtsein gegeben, die Gesetze dieses Naturganzen unter den Bedingungen meines Bewußtseins stehend und sonach von ihnen abhängig« ist. Die Außenperspektive wird ihrer verkürzten Auffassung im »umfassenden Bilde der Bedingtheit des Geistigen durch das Körperliche« überführt. Eine verstehende Psychologie, die von der Erlebnisperspektive der psychophysischen Lebenseinheit handelt, abstrahiert den Menschen weder zu einem rein geistigen Wesen, noch zu einer mechanischen Maschine, sondern ist an der erlebten Wechselwirkung zwischen Seele, Körper und Umwelt interessiert. In Wirklichkeit entsteht ein Individuum, wird erhalten und entwickelt sich auf Grund der Funktionen des tierischen Organismus und ihrer Beziehungen zu dem umgebenden Naturlauf; sein Lebensgefühl ist wenigstens teilweise in diesen Funktionen gegründet; seine Eindrücke sind von den Sinnesorganen und ihren Affektionen seitens der Außenwelt bedingt; den Reichtum und die Beweglichkeit seiner Vorstellungen und die Stärke sowie die Richtung seiner Willensakte finden wir vielfach von Veränderungen in seinem Nervensystem abhängig. Sein Willensantrieb bringt Muskelfasern zur Verkürzung, und so ist ein Wirken nach außen an Veränderungen in den Lageverhältnissen der Massenteilchen des Organismus gebunden; dauernde Erfolge seiner Willenshandlungen existieren nur in der Form von Veränderungen innerhalb der materiellen Welt. So ist das geistige Leben eines Menschen ein nur durch Abstraktion lösbarer Teil der psycho-physischen Lebenseinheit, als welche ein Menschendasein und Menschenleben sich darstellt. (I, 14f.)

Der Weg vom Erleben zum wissenschaftlichen Erkennen läßt sich mit Dilthey als ein vierstufiger Prozeß beschreiben. Auf der ersten Stufe erscheint das Erleben bereits als primäre Form des Erkennens. Dilthey spricht von der »Intellektualität der inneren Wahrnehmungen« (XIX, 335). Auf der zweiten Stufe bringt eine verstehende Psychologie analytisch diese Intellektualität des Erlebens auf Begriffe, die sogenannten »Lebensbegriffe« (V, 192), und kann etwa aufzeigen, inwiefern sich eine fundamentale Urteils- und Aussagenlogik aus dem Erleben der psychophysischen Lebenseinheit in ihrer Umweltbeziehung ableitet. Sie beschreibt die Erlebnisperspektive des ganzen Menschen noch vor seiner Differenzierung in geistige und natürliche Tatsachen als Gegenstände der Geistes364

und Naturwissenschaften. Hierher gehören Diltheys Aussagen, daß jenseits ihrer methodischen Differenzierung in Erklären und Verstehen die beiden Wissenschaftstypen natürlich mit denselben grundlegenden Erkenntnisweisen von Induktion, Deduktion, Verbinden und Trennen operieren. Und um auf das enge Verhältnis von Erleben und Erkennen auf dieser Stufe aufmerksam zu machen, führt er die Rede von »Erfahrung zweiter Klasse« (XIX, 322) ein, die heute der Systemtheorie zugeordnet wird. Diese Fundamentalwissenschaft soll explizit Grundwissenschaft der Geisteswissenschaften sein. Ihre Anlage und einige Formulierungen im Hinblick auf das Verhältnis von verstehender und erklärender Psychologie lassen jedoch erkennen, daß ihr zumindest im Hinblick auf die Lebenswissenschaften innerhalb der Naturwissenschaften auch dort Grundlegungsfunktion zukommen soll. »Sie [beschreibende Psychologie] wird andererseits die erklärende Monographie durch Sammlung von Materialien, durch Beschreibung der Zusammenhänge des Seelenlebens und durch sorgfältige Analysen vorbereiten.« (V, 193) Auf der dritten Stufe des Erkennens lassen sich aufgrund von Abstraktionen die geistigen von den natürlichen Tatsachen sondern, und es kann die »relative Selbständigkeit« (I, 17) der Wissenschaftstypen und ihrer Erkenntnislogiken herausgearbeitet werden. Eine relative Abhängigkeit der Natur- und Geisteswissenschaften voneinander muß jedoch ebenso berücksichtigt werden. Denn die ersteren bleiben auf das vorgängige Erleben und Erkennen als ihre Erkenntnisbedingung bezogen. Und letztere bleiben sowohl im Hinblick auf die materiellen Möglichkeitsbedingungen ihrer abstrahierten ›geistigen Tatsachen‹ ständig auf die Naturwissenschaften verwiesen, als sie sich auch wissenschaftsgeschichtlich als deren Derivat erweisen. Für die Geisteswissenschaften ist ein gleichsam genetisches Herauswachsen aus den vorhergehenden Stufen des Erlebens und Erkennens konzipiert. In ihrem Lebensgehalt beziehen sie sich stets auf das Erleben, ihre Grundbegrifflichkeit soll ihnen durch die Erkenntnisanthropologie geliefert werden, wodurch ihre eigenen spezifischen Terminologien zu »Begriffen zweiter Ordnung« (I, 45) werden. Der handelnde Mensch, der vorangehend in seiner Grundstruktur beschrieben wurde, erscheint in den ausdifferenzierten Geisteswissenschaften in den Systemen von Recht, Wirtschaft, Gesellschaft, Kunst und Religion. Schließlich scheint der verstehenden Psychologie neben ihrer Funktion als Erkenntnisanthropologie auf der vierten Stufe des Erkennens auch noch eine wissenschaftskritische, insbesondere metaphysikkritische Funktion zuzukommen. So heißt es in den ›Ideen‹, die beschreibende Psychologie werde eine »Kontrolle ihrer Hypothesen«, jener der erklärenden Psychologie, »erleichtern« (V, 193). Diese Stufenfolge von Erleben, Erkennen, Wissen und Wissenschaftskritik kann helfen, sich innerhalb der Diltheyschen Argumentation zu orientieren, wo zum Teil Erleben gegen Wissenschaft, zum Teil Wissenschaft gegen Wis365

senschaft geführt wird. Vor allem die Differenz zwischen verstehender Psychologie als Erkenntnisanthropologie, also gemeinschaftliche Grundlagenwissenschaft, und Geisteswissenschaft in Konkurrenz zur Naturwissenschaft ist nicht klar markiert.105 Die Arbeiten nach der ›Einleitung‹ bis zu den ›Ideen‹ befassen sich zentral mit erkenntnisanthropologischen Fragestellungen. Später scheint Dilthey seine Argumentationsrichtung umzukehren. Es wird nicht erst das Fundament gelegt, sondern im ›Aufbau der geschichtlichen Welt‹ sollen zunächst die ausdifferenzierten Geisteswissenschaften verhandelt werden, »dann erst wird die allgemeine Erkenntnistheorie von den Ergebnissen dieses Studiums [der Geisteswissenschaften] aus einer Revision unterworfen werden können.« (VII, 120) Zunächst geht der Weg also von unten, dem Erleben, nach oben, der Wissenschaft, dann verkehrt sich die Argumentationsrichtung. Dies macht zugleich auf die Nachteile der oben skizzierten Stufenfolge des Erkennens aufmerksam, die eine einsinnige, lineare Entwicklung, etwa vom dunklen Erleben zu den Höhen des Geistes nahelegt. Das ist bei Dilthey natürlich nicht so gedacht. Sondern es handelt sich ja um geschichtliche, wechselwirksame Prozesse, in denen Wissen zu Erleben wird und umgekehrt. Die Erkenntnisanthropologie ist erst durch die moderne Naturwissenschaft möglich geworden und muß sich auch weiterhin von dieser informieren lassen. »Die Psychologie kann nicht der Naturwissenschaft untergeordnet werden, aber sie kann nur mit Hilfe der Ergebnisse der Physiologie wissenschaftlich vollendet werden.« (XXI, 203) Ebenso heißt es, daß die Psychologie als Erfahrungswissenschaft der »Ergänzung von physiologischen Grundlagen aus bedarf.« (XIX, 434) Und schließlich wird festgehalten, schon das Verständnis eines »einzelnen seelischen Zustands« setze dessen Zusammenhang mit äußeren Reizen, einem umgebenden Milieu voraus. Haß sei anders denn als Reaktion auf einen äußeren Einfluß gar nicht verstehbar. »Aufs höchste getrieben, ist Verstehen so nicht vom Erklären unterschieden, sofern ein solches auf diesem Gebiete möglich ist. Und das Erklären hat wieder die Vollendung des Verstehens zu seiner Voraussetzung.« (V, 334) Also allenthalben wechselwirksame Prozesse zwischen den vier Stufen des Erkennens, die als relative Selbständigkeit und zugleich Abhängigkeit skizziert werden. Daß mit solch komplexen Zusammenhängen nicht notwendig Erkenntnisaporien bezeichnet sind, zeigt Dilthey durch die Verwendung des hermeneutischen Zirkels als methodischen Allheilmittels im Umgang mit unübersichtlichen Lebensverhältnissen. Die Beziehung von Teil und Ganzem kann so auch die Entgegensetzung von Erklären und Verstehen als spezifischen Methoden in ihrer Verbindung zu einem umfassenderen Verstehen, die Dialektik von Erleben und Wissen fassen. Das Erleben läßt sich z.B. durch wissenschaftliche Erkenntnis leiten, diese kann die Zwecksetzung bestimmen oder durch Gewöh105

Vgl. M. Jung, Dilthey zur Einführung, S. 33–50.

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nung zum Bestandteil des seelischen Zusammenhangs werden, der das Erleben strukturiert. Die Breitenwirkung der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert ließe sich so als Sedimentierung einer Wissenschaft im Erleben beschreiben. Gerade auch unser körperliches Erleben, etwa der Krankheit als einer symbolisierenden Tätigkeit, hat sie verändert. Die historische Wandelbarkeit des Erlebens der psychophysischen Lebenseinheit auch in Reaktion auf die Wissenschaften ihrer Zeit ist durchgängiges Thema dieser Studie gewesen. Melancholie und Hysterie sind Krankheitsbilder, die dies besonders eindrücklich veranschaulichen. Mit dem Begriff der Psychogenese macht die Psychosomatik ja auf die kulturelle Vermitteltheit von Krankheit aufmerksam, die im Extremfall, wie Charcots Hysterikerinnen zeigen werden, wissenschaftlich antrainiert sein kann. Ein Wissenschaftstypus wie der Diltheysche, der die Erlebnisperspektive in den Vordergrund stellt und historisches Verstehen zu seiner Methode wählt, ist für die Psychosomatik ausgezeichnet gewappnet oder besser gesagt: Mit Dilthey profiliert sich die Psychosomatik als Geisteswissenschaft. Der Mensch wird als psychophysische Erlebniseinheit wahrgenommen: Was man als Physisches und Psychisches zu trennen pflegt, ist in dieser Tatsache ungesondert. Sie enthält den lebendigen Zusammenhang beider. Wir sind selber Natur, und die Natur wirkt in uns, unbewußt, in dunklen Trieben; Bewußtseinszustände drücken sich in Gebärde, Mienen, Worten beständig aus, und sie haben ihre Objektivität in Institutionen, Staaten, Kirchen, wissenschaftlichen Anstalten: eben in diesen Zusammenhängen bewegt sich die Geschichte. (VII, 80)

Mit dem erlebten Körper geht der Mensch aus dem Bereich der naturwissenschaftlichen Physiologie heraus und betritt jenen der geisteswissenschaftlichen Psychologie: »Unter den phänomenal gegebenen Körpern findet sich der menschliche, und mit ihm ist hier in einer nicht weiter angebbaren Weise das Erleben verbunden. Mit dem Erleben aber treten wir aus der Welt der physischen Phänomene in das Reich der geistigen Wirklichkeit.« (VII, 196) Und insofern sind auch die fundamentalen Überlegungen zur Erkenntnisanthropologie, die im vorangehenden als ein Erkennen zweiter Stufe, noch vor der Ausdifferenzierung in die beiden Wissenschaftstypen charakterisiert wurden, geisteswissenschaftlich qualifiziert und haben Teil am Gemeinsamen aller Geisteswissenschaften: »Sie sind alle fundiert im Erleben« (VII, 70f.). Einer der zentralen systematischen Bestandteile des psychosomatischen Diskurses, der holistische Ansatz, ist also in Diltheys Werk in ausgezeichnetem Maße ausgearbeitet und wird zum nucleus einer eigenen Wissenschaft, eben der verstehenden Psychologie. Der andere zentrale, mit Begriffen wie Psychogenese, Krankheit als Verhalten und psychische Kurmethode indizierte Bestandteil der Psychosomatik, der pathologische Gesichtspunkt, ist bei Dilthey hingegen gerade im Vergleich mit Nietzsche und Freud unterrepräsentiert. Die Psychologie ist eben als Grundlagenwissenschaft konzipiert, nicht als Heilverfahren. Von psychischen Kur367

methoden oder somatischer Behandlung ist selten die Rede. Allerdings wird sich noch zeigen, daß Dilthey die modernen Geisteswissenschaften auch mit der Aufgabe antiker praktischer Philosophie betraut, nämlich Orientierung im Leben zu geben. Sie sind darum latent mit Ethik gekoppelt. Auch fällt der pathologische Gesichtspunkt nicht gänzlich unter den Tisch. In seinen Psychologie-Vorlesungen vermerkt Dilthey: »Die Psychologie steht mit den Zuständen des gesunden und kranken Körpers in Beziehung« (XXI, 251). Verschiedentlich werden Halluzinationen, Hypnose, Träume und ähnliches als interessante und möglicherweise wissenschaftlich lehrreiche Abweichungen von den normalen Strukturen psychophyischer Lebenseinheiten genannt. Während bei Nietzsche und Freud gerade der kranke Körper und die kranke Seele erkenntnis- und wissenschaftsfördernd werden, steht bei Dilthey der gesunde, reife, voll entwickelte Mensch im Zentrum der Überlegungen. Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn Eine interessante Ausnahme von dieser Regel bildet sein 1886 gehaltener Vortrag über ›Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn‹. Hier argumentiert Dilthey fast in der Manier eines Francis Galton, der in umfangreichem Maße die Statistik als Methode in die Sozialwissenschaften einführte und in ›Hereditary Genius‹ (1869) und ›Inquiries into Human Faculty and its Development‹ (1883) Genie und Wahnsinn dementsprechend als statistische Abweichung von einem Durchschnitt definierte.106 Ganz ähnlich bestimmt Dilthey die Gemeinsamkeiten zwischen Genie und Wahnsinn, indem beide »von der Norm des Durchschnittsmenschen abweichen«, der Wahnsinnige nach unten durch eine »Minderung«, das Genie nach oben, durch eine »große Energie des seelischen Zusammenhangs«. Die anomalen, durch unterschiedliche Ursachen bedingten Energieverhältnisse führen allerdings zu demselben Ergebnis, nämlich zu einer freien Entfaltung der Bilder der Einbildungskraft jenseits der Kontrolle an der Wirklichkeit. Im Wahnsinn und in den analogen Zuständen von Traum, Hypnose und Narkose ist die mit der Realitätsprüfung beauftragte Instanz, der psychische Strukturzusammenhang, in ihren Funktionen eingeschränkt, so daß aus Vorstellungsbildern Wahnideen werden. In der dichterischen Einbildungskraft werden die Gesetze der Wirklichkeit durch einen Energieüberschuß sowohl des seelischen Zusammenhangs als auch seiner einzelnen Elemente, »einer ganz ungewöhnlichen Stärke der Eindrücke, Gefühle und Phantasievorstellungen«, überschritten. Dieser Überschuß und mithin das Genie erscheint dann als Idealbild des Menschen, als »der gesunde, der vollkommene Mensch.« (VI, 92, 94, 96) Es findet sich also auch bei Dilthey die für die Psychosomatik charakteristische relationale Begrifflichkeit von Krankheit und Gesundheit in Gestalt 106

Zur Statistik vgl. Inquiries into Human Faculty and its Development, S. 49–56; Hereditary Genius.

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der Abweichung von einem statistischen Durchschnitt. Dem Übermaß psychischer Energie korreliert in diesem Vortrag eine dementsprechende »Macht der sinnlichen Organisation«, das Genie verdankt sich nicht allein der Bildung, sondern es wird »geboren« (VI, 98, 100). Auch zum Wahnsinn in seiner psychologischen Darstellung als Schwäche der psychischen Kontrollinstanz wird das »physiologische Gegenbild« in Form von »Schwäche oder krankhafter Erregung« bestimmter Zentren der »Großhirnrinde« gezeichnet: »Solche Reizerscheinungen, die von den subkortikalen Zentren aus in die Hemisphären geworfen werden, sind die Halluzinationen.« (VI, 95) Hier werden das Genie und der Wahnsinnige also tatsächlich als psychosomatische respektive psychophysische Typen vorgestellt. Und es wird keinen anderen Dilthey-Text geben, in dem verstehende und erklärende Psychologie eine solch enge Verbindung eingehen. So erscheint auch die verstehende Psychologie in ihrer vergleichenden Typologie von Wahnsinnigem und Genie als eine experimentelle Wissenschaft, indem sie diese Abweichungen als Experimente der Natur wahrnimmt, die eine Erkenntnis der »Lebensgesetze« ermöglichen. Die »Natur« habe »Versuche für uns angestellt«; »Die Natur selber macht uns in den höchsten Leistungen der künstlerischen Einbildungskraft wie in den Zuständen, die von der Norm des wachen Lebens abweichen, Experimente vor, die vielleicht einen induktiven Schluß ermöglichen« (VI, 99, 92f.), heißt es im Vortrag. Die terminologische Nähe zur naturwissenschaftlichen Psychologie mag auch an den Adressaten liegen, schließlich hält Dilthey seinen Vortrag in einer militärärztlichen Bildungsanstalt. Seine Elogen über das im 19. Jahrhundert entstandene enge Band zwischen dem »ärztlichen Beruf und dem philosophischen Denken« und über »Medizin als einer Kunst« (VI, 90) ließen sich so unter dem Stichwort captatio benevolentiae verbuchen. Allerdings kann dieser Vortrag auch als Eröffnung einer Phase in Diltheys Werk verstanden werden, in der für ihn im Interesse an der Beschreibung der psychophysischen Lebenseinheit die Abgrenzung von Geistes- und Naturwissenschaft keine große Rolle spielt, vielmehr eine physiologische und biologische Erweiterung der Psychologie angestrebt wird. In seiner Poetik von 1887 werden Untersuchungen zur Physiologie des Dichters eingefordert (XVII, 392), die Ethik von 1890 entwickelt eine biologisch-psychologische Grundstruktur des Lebens und die Abhandlung ›Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht‹ (1890) arbeitet an einer physiologisch informierten, vom Tastsinn ausgehenden Selbstbewußtseinstheorie. Wenn Dilthey vor den Militärärzten von einer Psychologie als Erfahrungswissenschaft spricht, die »von der älteren reiferen Schwester, der Naturwissenschaft, zu lernen« sucht im Hinblick auf die »Beziehungen zwischen körperlichen und seelischen Vorgängen«, so skizziert er sein Arbeitsprojekt für die nächsten Jahre. Und einen ersten Ausschnitt dieser Psychologie bringt der Vortragende seinem Publikum bereits zu Gehör: »Und sie vermag schon heute 369

dem Mediziner ein Bild zu bieten, das von den elementaren Vorgängen aufwärts die Erscheinungen des gesunden wie des kranken Seelenlebens bis zu den Leistungen des Genies beschreibend und in gewissen Grenzen erklärend umfaßt.« (VI, 90f.) Die in diesem Vortrag vorgenommene Engführung von Erklären und Verstehen, von Physiologie und Psychologie führt dann auch dazu, daß es wohl keinen Dilthey-Text gibt, der Nietzsche und Freud näher steht als dieser. In seiner Charakterisierung des Genies als psychophysischem Kraftpaket und in der funktionalen Äquivalenz von Pathologie und Genie klingt Nietzsche an. Mit Freud teilt Dilthey zum einen die gehirnphysiologische Basis, Theodor Meynerts Lokalisationstheorie, die eine Apparatevorstellung tradiert – das Gehirn als »Ordnungs-, Hemmungs- und Regulierungsapparat« (VI, 95) –, für die auch Sigmund Freud in seiner 1895 projektierten »Psychologie für den Neurologen« (GW Nachtr., 376) ein psychologisches Pendant suchen wird. Diltheys erworbener seelischer Strukturzusammenhang und Freuds erste Topik mit den Systemen Un-, Vor- und Bewußt sind beiderseits vom Bild des Gehirns als Regulierungsapparat inspiriert, und beide räumen darin dem Unbewußten eine wichtige Rolle ein. Mit der Assoziation der dichterischen Einbildungskraft mit Wahnsinn, Traum und schließlich dem Spiel der Kinder und dem Mythos (VI, 98, 101) rückt ›Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn‹ in unmittelbare Nähe zu Freuds ›Der Dichter und das Phantasieren‹ (1908). Nimmt man noch eine andernorts gemachte Äußerung Diltheys hinzu, so fehlt auch die phylogenetische Aufladung des Unbewußten nicht: »Das Unbewußte in dem Vorgang dichterischen Schaffens, das Hineinragen des primitiven Menschen und seiner Art von Fühlen und Vorstellen in die Gegenwart, wie es sich in der anthropomorphistischen Auffassung des Dichters, seinem sozusagen mythologischen Schauen darstellt« (XVII, 392). Näher als in dieser Formulierung werden Dilthey, Freud und auch Nietzsche sich nicht mehr kommen. Vom Tastsinn zum Körperbild Das in ›Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn‹ skizzierte Arbeitsprojekt einer von den elementaren Vorgängen ausgehenden Seelenlehre, die sich von den modernen Naturwissenschaften belehren läßt, wiederholt fast noch einmal auf einem anderen Niveau von Erfahrungswissenschaft die Versuchsanordnung, die uns mit Condillacs Statue und Herders ›Plastik‹ im 18. Jahrhundert begegnet war. Ebenso wie Herder seine Selbstbewußtseinstheorie vom Gefühl, spezifischer noch vom Tastsinn aus entwickelte, wird auch Dilthey dies tun. Natürlich im Bewußtsein der historischen Nachfolge.107 Denn es gelte, die »von Condillac bis auf Helmholtz gehende Zurückführung der Materialität auf die Tast- und Bewegungsgefühle […] durch die psychologische Tatsache von dem 107

Zu Condillacs Statur siehe V, 93; XIX, 23, 112; XXI, 25, 28, 214; zu Herder s.o.

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Hintergrund dieser Empfindungen im Willen und im Gefühl« (XIX, 23) zu ergänzen. Allerdings haben sich die Untersuchungen zur Sinnesphysiologie, die mit Hallers Reiz- und Erregungslehre noch in ihren Kinderschuhen steckten, deutlich verändert. Daß sich die Psychophysik im 19. Jahrhundert mit den Arbeiten des Anatomen und Physiologen Ernst Heinrich Weber maßgeblich von experimentellen Studien zum Tastsinn herschreibt, zeigt die Hellsichtigkeit von Herders frühem erfahrungswissenschaftlichen Versuch. Johannes Müllers Nervenphysik und Webers Arbeiten bestätigen den Tastsinn onto- wie phylogenetisch als Grundsinn. Schon im Embryonalstadium werden seine Funktionen nachgewiesen108 und auch im niedersten Tierreich. Darüber hinaus ist er mit dem umfassendsten Sinnesorgan, der Haut, assoziiert und umschließt damit den ganzen Menschen. »Aus Rückenmark und Gehirn sprießen die Sinnesnerven, deren Endigungen über die ganze Oberfläche des menschlichen Körpers verbreitet sind; in dem in der Haut verbreiteten Tast- und Temperatursinne haben wir den Grundsinn zu gewahren« (XIX, 189), so Dilthey. Die Haut mit ihrem Sinn ist Medium zwischen Mensch und Welt.109 Durch sie geht gleichsam die Dialektik von Innen- und Außenperspektive hindurch, die die Psychophysik als ihr zentrales Erkenntnisproblem identifizieren mußte. Das qualifiziert sie natürlich in besonderem Maße auch zum psychosomatischen Medium, so daß im 20. Jahrhundert die Dermatologie zu einem geradezu klassischen Bereich der Psychosomatik wird. Wilhelm Wundt formuliert rückblickend in seiner Autobiographie: »Daran hat sich dann die weitere Vorstellung geknüpft, daß der Tast- oder, wie ihn Johannes Müller nannte, der Gefühlssinn gegenüber den übrigen oder sogenannten Spezialsinnen in doppelter Beziehung die Bedeutung eines allgemeinen Sinnes besitze: erstens insofern er über den ganzen Körper verbreitet, und zweitens weil er nach seiner Entwicklung der ursprünglichste Sinn ist, der schon bei den niedersten Tieren besteht, während die Spezialsinne erst einer späteren Entwicklung angehören.«110 Und ganz ähnlich faßt Dilthey den naturwissenschaftlichen Status quo, demzufolge der »Gefühlssinn« der »Grundsinn des Menschen« ist, 1880 in einer Rezension zusammen: »Schon durch die Ausbreitung seiner peripherischen Organe über fast alle Teile des Körpers und durch die Assoziation derselben mit denen aller übrigen Sinne stellt der Gefühlssinn sich auch äußerlich als die Grundlage des ganzen Sinnenund Geisteslebens des Menschen dar.« (XVII, 391) Damit ist der Tastsinn für Dilthey der geeignete Kandidat für seine Erkenntnisanthropologie, die von den elementaren Vorgängen ausgehen will. In Vorstudien zum niemals fertiggestellten zweiten Band der ›Einleitung in die Gei108 109 110

Dilthey stützt sich auf A. Kußmaul, Untersuchungen über das Seelenleben des neugebornen Menschen, vgl. V, 98f., 109; XXI, XXXIV, 220, 324. Zur Haut sind in jüngster Zeit viele wichtige kulturwissenschaftliche Studien erschienen, exemplarisch seien genannt: C. Benthien, Haut; Verborgen im Buch. Hrsg. U. Zeuch. W. Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 163.

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steswissenschaften‹ in den 80er Jahren finden sich schon verschiedene Ansätze hierzu, veröffentlicht hat er diese Gedanken in der Abhandlung über den ›Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt‹ 1890. Und dieser Titel zeigt es schon an, genauso wie ehemals für Herder über den Tastsinn Descartes’ Intellektualismus des cogito durch ein ›Ich fühle mich, ich bin‹ abgelöst werden konnte, wird auch für Dilthey der Tastsinn die Realität der Außenwelt verbürgen und ein Korrektiv zu jener Gefahr darstellen, die im Satz der Phänomenalität angelegt ist, nämlich alles auf Bewußtseinstatsachen zu verkürzen. Dafür ist aber eine Neufassung des Erkenntnissubjekts notwendig, die dieses nicht mehr als ein rein Vorstellendes begreift. In den allerersten Überlegungen zum Thema spielt Dilthey das Gedankenexperiment durch, für eine reine Intelligenz sei der Idealismus durchaus eine plausible Möglichkeit. Erst mit dem Willen und dem Gefühl seien Realitätserfahrungen zu machen. Psychophysische Existenz und »Totalität des Selbst« (XIX, 22) gehören also im Erleben von Wirklichkeit zusammen. Ferdinand Fellmann ordnet darum Dilthey in eine von Schopenhauer, Nietzsche und Alexander Bain begründete voluntaristische Bewußtseinstheorie ein.111 Die zentrale Rolle des Gefühls, das alle psychischen Akte: Vorstellungen und Begehrungen, mit Lust oder Unlust begleitet und damit Wertsetzungen ins Spiel bringt, geht in dieser Bezeichnung unter. »Jedes Gefühl« ist »im Grunde eine Wertmessung der Veränderung des Zustands.« (XIX, 170) Neben dem Willen spielen die Gefühle darum in Diltheys ›Ethik‹ eine zentrale Rolle. Abgesehen von der Einrechnung des Leib-Seele-Verhältnisses in die Erkenntnistheorie gehören also auch die drei Seiten eines realen psychischen Lebensaktes, Vorstellen, Wollen und Fühlen, berücksichtigt. Und in Anbetracht dieser drei Seiten ist wiederum die Abgrenzung zur alten Vermögenslehre wichtig. Denn natürlich steht diese Begrifflichkeit, wie Dilthey mehrfach betont, in der Tradition der im 18. Jahrhundert von Mendelssohn, Tetens und Kant begründeten, allerdings will Dilthey die damalige Substantialisierung bzw. Personifikation der Vermögen zu eigenständigen Akteuren vermeiden.112 Wie gesagt handelt es sich um die drei Seiten eines einzigen Prozesses, die zwar theoretisch abstrahierbar sind, praktisch aber immer gemeinsam auftreten. Für die Erfahrung von Wirklichkeit jedenfalls sind Wollen und Fühlen unverzichtbar. In Aufzeichnungen vor 1880 findet sich noch eine philosophische Diktion, die die Kontinuität zu den Bewußtseinstheorien um 1800 augenscheinlich macht. »Das Ding hat seinen Ansatzpunkt darin, daß mein Wille determiniert ist, sonach etwas außer ihm zu setzen gezwungen, daß mein Gefühl affiziert ist in Lust und Leid, sonach sich eines Eindruckes nicht erwehren kann. […] Wille und Gefühl, welche bestimmt werden, haben das, was sie bestimmt, als 111 112

Vgl. F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, S. 22f. Vgl. XIX, 111; XXI, 32, 267.

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ein Wirkliches d.h. Wirkendes für sich.« Gegenüber den empirischen, sinnesphysiologischen Studien seiner Zeit kann Dilthey so argumentieren, daß nicht der Tastsinn allein von der Realität der Außenwelt zeugt, sondern daß psychische Akte hinzu kommen müssen: »Hinter dem Tastgefühl steht der greifende, prüfende Wille […]. In dem Widerstand, den die tastende Hand erfährt, entsteht die Materialität nicht nur als eine bestimmte Weise der Tastempfindung, sondern Willenswiderstand ist zugleich in diesem Tastgefühl enthalten«. Gegenüber der idealistischen Tradition kann er plädieren: »Was bloß für unsere Vorstellung da ist, hat bei aller Evidenz für uns nicht dieselbe volle Wirklichkeit, als was für unser ganzes erfülltes Leben da ist.« Auch die uns aus Herders ›Plastik‹ bekannte Hierarchie der Sinne, der Vorrang der Hand vor dem Auge taucht hier wieder auf: »Direkt erfahren aber wird erst durch Bewegung, Bewegungsgefühl und Tast- und Widerstandsgefühl die Realität. Und nur weil sie erfahren ist, sind für uns die Gegenstände des Gesichtssinns real.« (XIX, 19ff.) Dilthey stützt sich mit dieser Einschätzung allerdings weniger auf die Ästhetik des 18. denn auf die Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts. Die Debatte bezüglich der Hierarchie der Sinne entspinnt sich nun im Hinblick auf deren Rolle für die Raum- und Zeitauffassung. Einen guten cicerone für die Schilderung dieser Auseinandersetzungen gibt Wilhelm Wundt in seiner Autobiographie ›Erlebtes und Erkanntes‹ (1921) ab, perspektiviert sie die physiologischen Entwicklungen doch im Hinblick auf ihre psychologische Verwertbarkeit – also aus einer Dilthey analogen Sicht.113 So vereinnahmt Dilthey in den ›Ideen‹ den physiologischen Psychologen und Begründer des weltweit ersten Instituts für experimentelle Psychologie in Leipzig, mit dem verschiedentlich der Beginn der Psychologie als eigenständiger Wissenschaft datiert wird, als einen vom Saulus der erklärenden zum Paulus der verstehenden Psychologie Bekehrten.114

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Das für die Ausführungen wichtige Kapitel 24 wird dementsprechend eingeleitet: »Die Theorie der Sinneswahrnehmung hat in der modernen Sinnesphysiologie eine höchst interessante Entwicklung zurückgelegt, die ihr charakteristisches Gepräge dadurch empfängt, daß sie mit einer streng physiologischen Auffassung der Erscheinungen beginnt, dann Schritt für Schritt zu einer Verbindung dieser mit psychologischen Hilfsbegriffen übergeht, um schließlich den ursprünglichen rein physiologischen Standpunkt vor dem Richterstuhl einer unbefangenen Kritik als einen unmöglichen darzutun«, W. Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 161. Bereits 1876 lobt Dilthey in seiner Rezension von Wundts ›Grundzüge der physiologischen Psychologie‹ (1874) die Studie dafür, »die Ergebnisse der heutigen physiologischen Forschung, insbesondere über Nervensystem und Gehirn und über Bau und Funktionen der Sinne, für das Verständnis des geistigen Lebens zu verwerten.« XVII, 71. Vgl. V, 166f. Der Philosoph Ludwig Stein, einer derjenigen, den Dilthey seine ›Ideen‹ mit der Bitte um Kommentar zugesandt hatte, findet v.a. an diesem Coup gefallen, den Vertreter erklärend-experimenteller Psychologie in Deutschland verstehender Elemente zu überführen: »wobei ich mit besonderem Vergnügen gemerkt habe, wie vornehm Sie Wundt behandeln und die Unhaltbarkeit, oder besser Unzulänglichkeit der erklärenden Psychologie an Wundt’s eigenem Hinauswachsen über diese glücklich exemplifiziert haben«, H.-U. Lessing, Briefe an Dilthey anläßlich der Veröffentlichung seiner Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie, S. 217. Wundts eigenes Antwortschreiben an Dilthey fällt in Anbetracht dessen

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Johannes Müllers Nervenphysik zufolge waren Raum und Zeit Resultate von Projektionen körperlicher Sinnesenergien nach außen, alle Sinne waren gleichberechtigt an diesem Vorgang beteiligt. Die weitere Forschung differenzierte die Leistungen der einzelnen Sinne in bezug auf Raum- und Zeitauffassung aus, »indem man«, so Wundt, »den Raum ausschließlich dem Tast- und dem Gesichtssinn, die Zeit dem Tast- und dem Gehörssinn zuteilte.«115 Der Tastsinn wurde so vor allem in Webers experimentellen Arbeiten zu einem Grundsinn und allein verantwortlich für die Raumauffassung. Ihm zerfiel das Tasten demgemäß in »drei Spezialsinne: den Drucksinn, den Temperatursinn und den Orts- oder Raumsinn«, die in der Feinheit ihrer Funktionen variierten. Durch Experimente mit Gewichten und Temperatur konnte er nachweisen, daß Druck- und Temperatursinn auf der gesamten Körperoberfläche nahezu gleich funktionieren – Gewichts- und Temperaturunterschiede werden auf/an Hand oder Fuß gleichermaßen feinsinnig wahrgenommen –, während die berühmten Zirkelversuche zeigten, daß der Raumsinn an verschiedenen Hautstellen unterschiedlich genaue Empfindungen liefert. Dilthey präsentiert seinen Hörern Webers diesbezügliche Versuchsanordnung in seiner Psychologie-Vorlesung: Weber betrachtet den Raumsinn als Generalsinn und weist die Einrichtung desselben zunächst an der Tastempfindung nach. An verschiedenen Stellen der Haut ist die Auffassung räumlicher Unterschiede verschieden. Die zwei Spitzen eines Zirkels rufen auf der Zungenspitze getrennte zwei Empfindungen hervor, wenn sie nur ½ Pariser Linie voneinander entfernt sind; sie müssen an der Nasenspitze schon drei, am Oberarm 30 Pariser Linien voneinander entfernt sein, um noch verschiedene Empfindungen hervorzurufen. Die Feinheit der Empfindlichkeit für Raumunterschiede fand Weber direkt proportional der Zahl der Nervenfäden, welche die in der Haut verlaufenden Nervenenden enthalten. (XXI, 325; vgl. 222)

Als Resultat dieser Zirkelversuche kartographiert Weber die Körperoberfläche dann anhand von »Empfindungskreisen«,116 so daß nun als Pendant zur Anatomie ein sinnenphysiologisches Bild des Menschen entstand. Im Unterschied zur Anatomie bildet sich dieses Bild jedoch in der Selbstwahrnehmung des Menschen, denn mit diesem Raumsinn hatte Weber ein psychologisch-physiologisches Äquivalent für die von Müller allgemein postulierte »Eigenschaft der Nerven« für »die räumliche Selbstauffassung aller Körperteile«117 gefunden.

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erstaunlich gelassen aus, gerade im Vergleich zu Ebbinghaus’ allergischer Reaktion. Er läßt sich die Vereinnahmung gefallen, akzentuiert dabei jedoch fast ausschließlich die PsychophysikKritik und bestreitet die vermeintliche Bekehrung, vgl. ebd. S. 231f. Eine Dilthey analoge Kritik an Fechners Metaphysik wiederholt Wundt in ›Erlebtes und Erkanntes‹, vgl. Kap. 38. W. Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 163. »Empfindungskreise« sind »diejenigen Kreise, innerhalb deren eine verschiedene lokale Empfindung nicht stattfand«, so erläutert Dilthey in seiner Psychologie-Vorlesung den Begriff, XXI, 152, vgl. auch XVIII, 102f.; XIX, 110. W. Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 162.

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Wenn Dilthey die räumliche Selbstwahrnehmung in seinen Überlegungen an den Tastsinn koppelt, befindet er sich also in der Nachfolge Webers. Der Tastsinn wird damit nicht nur mit der Aufgabe betraut, ein Seismogramm für die Realität der Außenwelt zu sein, sondern an ihm und durch ihn entwickelt sich auch eine differenzierte Lagebestimmung des erkennenden Selbst und ein differenziertes »Körperbild« (XIX, 167) desselben. Mit Hilfe von Webers Empfindungskreisen läßt sich die »Oberfläche des Körpers« als »überall organisiert, Bewegungen auszuführen und Widerstand zu empfinden« beschreiben: »alle Extremitäten sind beweglich, empfindbar und gefühlsfähig« (XIX, 22). Durch die »Feinheit der Empfindlichkeit für Raumunterschiede« und durch »deutlich lokalisierte, rings auf der Haut« auftretende »Temperatur- und Druckempfindungen« (XXI, 222; V, 107) bildet sich auch der erlebte Innenraum des verkörperten Selbst, der wiederum zur frühesten und haltbarsten Struktur des Seelenlebens gehört, durch die unser Innenleben verortet werden kann. Mit der Belehrung durch die zeitgenössische sinnenphysiologische Debatte zur Raum- und Zeitauffassung kann Dilthey eine Erkenntnisanthropologie entwickeln, die nicht allein vom verkörperten Individuum ausgeht, sondern durch dieses ein situatives, raum-zeitlichbestimmtes Erkennen in Rechnung stellt. Der zeitgenössische, insbesondere von Nietzsche praktizierte Perspektivismus erhält so seine anthropologische Basis. Über den Tastsinn kann die »Lage« des Selbst analytisch aufgehellt werden. Tasterfahrungen ermöglichen zugleich eine Selbstwahrnehmung »als ein einheitliches Ganze[s]«, »welches von einem Ort in der räumlichen Orientierung aus Widerstand übt und mit dem Spiel der Gefühle dies alles begleitet«, wie auch Orientierung im Raum des Realen, »vermöge der Bewegungen, Bewegungsgefühle und Tastgefühle« (XIX, 22f.) und also dementsprechendes gerichtetes Verhalten. Neben Wille und Gefühl erhält also der Körper eine tragende Rolle. Und schon in diesen frühen Überlegungen deutet sich an, daß es nicht nur um tastende, willentliche Erfahrungen von Objekten außer uns geht, sondern daß diese Erlebnisse eine Innenseite haben, sich in der tastenden Welterfahrung auch eine Selbsterfahrung verbirgt: »Der Willenswiderstand und die mit ihm zugleich auftretenden Gefühle konstituieren ein Außer mir. Es gibt eine Grenze und ein Jenseits. Diese Grenze fällt mit der meines Körpers zusammen: denn Körper ist das Kontinuum, außerhalb dessen mein Wille unmittelbar Bewegungen hervorbringt und Widerstand erfährt und das Spiel der Gefühle erlebt.« (XIX, 22) Erinnern die ersten Sätze dieser frühen Ausführungen zur Determinierung des Willens und Setzung eines Außen noch deutlich an den Idealismus, insbesondere an Fichtes im ›Naturrecht‹ vom Grundsatz ›das Nicht-Ich bestimmt das Ich‹ ausgehende Argumentation, so zeigt der Schluß die Richtung an, in der Dilthey in den 80er Jahren weiterarbeiten wird. Das Erleben von Wirklichkeit in bezug auf die Außenwelt und das Selbst wird in Prozesse von ›Impuls und Widerstand‹ zerlegt, so eine Kapitelüberschrift der Realitätsabhandlung. Beide Seiten, Außen- und Innensicht, physiologische Erklärung und psychologisches 375

Verstehen werden ausdifferenziert. Hatte man in den ersten Notizen zu Tastsinn und Realität der Objekte noch den Eindruck, hier werde im Widerstand etwas unmittelbar wahrgenommen, so werden jetzt die physio-psychologischen Vermittlungen deutlich herausgestellt und das Erlebnis als komplexes, zusammengesetztes dargestellt, das es analytisch zu beschreiben gilt. Was die ›Ideen‹ weitgehend nur postulieren, die analytische Zergliederung von Erlebnissen, das wird in den ›Beiträgen‹ in der Praxis vorgeführt. Und zwar an dem mit dem Tastsinn indizierten psychophysischen Grunderlebnis. Insbesondere die physiologische Seite der Beschreibung wird ausgebaut. Hatten die Aufzeichnungen vor 1880 die Tastgefühle nur kurz erwähnt, liest sich das 1890 dann so: Eine Bewegungsvorstellung taucht in uns auf und wirkt durch einen eigentümlichen Vorgang, der den Willensprozeß ausmacht, auf das motorische Feld. Es finden nun zentrifugale Erregungen statt und führen die peripherischen Lokomotionen herbei. Dieser Vorgang ist aber nicht von ihm entsprechenden Empfindungen (Innervationsempfindungen) begleitet. Wir wissen vielmehr von den so herbeigeführten Bewegungen nur vermittels der von der Peripherie her uns zugehenden Empfindungen, welche durch die Ausführung der Bewegungen hervorgerufen werden. Unter diesen beachtete und untersuchte man bekanntlich zunächst die Druckempfindungen der Haut, welche die Verschiebungen der Lage der Haut sowie der subkutanen Teile begleiten, alsdann die Kontraktionsempfindungen in den Muskeln, welche man zumeist als durch in den Muskeln eingehende sensible Nerven bedingt ansieht. (V, 100f.)

Aber auch im Hinblick auf die psychische Seite wird das Erlebnis komplexer registriert: »Impuls, willkürliche Bewegung, Druck, Widerstand, Hemmung, Eintreten des Nichterwarteten, Versagen des Gewollten und Verdrängbarkeit des Widrigen, Nichteintreten des Erwarteten bilden überall gleichsam die Innenseite des Zusammenhangs unserer Wahrnehmungen, Vorstellungen und Denkvorgänge.« (V, 131) Denn damit etwas als Widerstand wahrgenommen werden kann, muß der Impuls, die intendierte willkürliche Bewegung fortdauern, durch eine Druckempfindung gehemmt werden, ein vergleichendes Urteil muß in die Mitte treten, das Absicht und gegenwärtigen Zustand aneinanderhält. Der »innere Zusammenhang der Funktionen« bei der Entstehung unseres »Glaubens an die Außenwelt« sieht dann folgendermaßen aus: Der primäre typische Vorgang ist: ein Bewegungsimpuls mit einer bestimmten Intention dauert fort, jene wird verstärkt, und anstatt der intendierten äußeren Bewegung treten Druckempfindungen auf. Dieses Aggregat von der Empfindung bildet das typische Zwischenglied zwischen dem Bewußtsein des Impulses und dem der Hemmung der Intention. Hier ist nun das Urteil, daß das Eingetretene den Intentionen nicht entspreche, ein notwendiges Zwischenglied. Aber wo es da ist, entsteht nun ein neuer Willens- und Gefühlszustand, die Erfahrung der Hemmung der Intention. Dieser Verlauf ist nur möglich, weil beide Lebenszustände aneinander gehalten, verglichen werden, Unterschied festgestellt, ein Urteil gefällt wird. Sonst würden Impuls und Aggregat von Druckempfindungen tot nebeneinander stehen. (XIX, 352; vgl. V, 134)

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Der Akzent liegt nun deutlicher auf den »vermittelnden Denkvorgängen«, die zwar mit der anvisierten ›Totalität des Selbst‹ immer mitzudenken waren, jedoch jetzt erst ihren eigentlichen Stellenwert erhalten. Erleben heißt nämlich nicht nur willentliche und fühlende, sondern auch »denkende Erfahrung der Realität« und die vermeintlich »unmittelbare Gewißheit der Realität der Außenwelt«, die er einigen Schotten, Jacobi und französischen Zeitgenossen vorwirft, kann so als Täuschung des Bewußtseins überführt werden: »die Widerstandserfahrung nämlich entsteht zwar in einem zusammengesetzten Vorgang, aber tritt dann in unserem Bewußtsein nachträglich als ein Einfaches auf.« (V, 127) Mit diesen Überlegungen zeigt sich, inwiefern Erleben bereits die erste Stufe des Erkennens bedeutet und was die Konsequenzen des Satzes der Phänomenalität sind, alles steht unter den Bedingungen des Bewußtseins. Alle unsere Erfahrungen sind mit Vorgängen des Verbindens, Unterscheidens, Vergleichens verbunden und werden durch unsere psychische Struktur bestimmt: »Alles, schlechterdings alles, was in mein Bewußtsein fällt, enthält Gegebenes geordnet oder unterschieden oder verbunden oder bezogen, gleichviel in intellektuellen Vorgängen aufgefaßt.« (XIX, 335) Wahrnehmungen werden durch unsere vorherigen Erfahrungen strukturiert, die sich in einer festen psychischen Struktur sedimentieren. Wir sind hier erkennbar in jener Phase von Diltheys Werk angekommen, in der die selbstkritische Wendung zur »Kritik der inneren Erfahrung« (XIX, 335) vollzogen wird. Im willentlichen, fühlenden, urteilenden Zugriff auf die Welt entstehen »Täuschungen«, etwa die oben genannte, daß im Bewußtsein die Tasterfahrung als Einfaches auftritt, während sie in der Analyse als komplexer psychophysischer Vermittlungsvorgang zerlegt werden kann. Als weitere solche Verzerrungen des Bewußtseins nennt Dilthey unsere »Unfähigkeit zur Reproduktion von Gefühlen« (XIX, 335), die als Erinnerungen in einen anderen Modus wechseln, so daß sie stets nur im gegenwärtigen Erleben vorhanden sind und darum nicht adäquat vergleichend eingeordnet werden können: der aktuelle Schmerz ist immer der schlimmste. Weitere Täuschungen bestehen über die zeitliche Dauer von Erlebnissen, über Motive des Handelns, der Katalog läßt sich fortsetzen. Die Dignität unseres Erlebens der Außenwelt kommt aufgrund dieser Sachlage über »Überzeugungsgefühl«, »Interpretation« (XIX, 93, 337) oder ›Glauben‹, wie der Titel der Realitätsabhandlung besagt, nicht hinaus. Dilthey legt den interpretativen Zugriff auf die Welt vergleichbar grundlegend an, wie Nietzsche dies mit seinem Willen zur Macht getan hatte, differenziert die verschiedenen Formen der Interpretation in der Sinneswahrnehmung, im Begehren, in den Wertsetzungen des Gefühls oder in der Logik jedoch deutlicher aus. So wird die Kritik der inneren Wahrnehmung in zwei Argumentationsrichtungen vorgetragen, im Aufzeigen sowohl der »Intellektualität der inneren Wahrnehmungen« als auch der »Intellektualität der Sinneswahrnehmung« (XIX, 335). Auch dieses Mal läßt sich die Geistes- von der Naturwissenschaft 377

belehren, indem die Intellektualität der Sinneswahrnehmungen durch die vorangehende Sinnesphysiologie bereits zur anschaulichen Gewißheit geworden ist. Noch einmal können hier Webers Zirkelversuche genannt werden, die anhand der beiden Zirkelspitzen eindrücklich zeigen, daß Sinnesempfindungen nicht absolut, sondern in Relation aufeinander wahrgenommen werden. Wilhelm Wundt sah in Webers Entdeckung die Revolution in den Wissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts, da hier am einfachen psychologischen, aber für alles Naturerkennen bedeutsamen Fall das Relativitätsprinzip erkannt wurde, das bereits Einsteins Lehren in sich schloß.118 Die Relativität der Sinnesempfindungen erläutert Dilthey jedoch nicht allein mit Weber, sondern auch mit Johannes Müllers Lehre von den subjektiven oder spezifischen Sinnesenergien, die in den Entdeckungszusammenhang des WeberFechnerschen Gesetzes gehört. Müller setzt mit seiner Lehre seinerseits bei Goethes Überlegungen zu den Lichterscheinungen an, die innere Erregungen zu ihrer Ursache haben, und bei den Arbeiten Purkinjes, wie Dilthey den Hörern seiner Psychologie-Vorlesung erläutert. Die zwei Seiten dieser Lehre besagen, daß ein Reiz verschiedene Sinnesempfindungen auslösen kann, also in spezifische Sinnesenergien mündet – so ruft ein galvanischer Strom im Auge Lichterscheinungen, im Ohr Zischen hervor –, aber auch eine Sinnesempfindung verschiedene Reize sowohl äußere als auch innere zur Ursache haben kann. Ohrensausen läßt sich etwa auch auf Blutstauungen zurückführen.119 Schließlich führt Dilthey noch Helmholtz’ Theorie des unbewußten Schließens an, die als Weiterführung der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien seines Lehrers Müller auf dem Gebiet der physiologischen Optik vorgestellt wird. Von den Empfindungen als Wirkungen könne auf deren Ursache in der Außenwelt nur geschlossen werden gemäß eines an Kant angelehnten Aprioris der Kausalität.120 Als conclusio aus Weber, Fechner, Müller und Helmholtz kann gezogen werden: »Sinneswahrnehmungen sind ebensogut diskursive Vorgänge wie die

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»Ja nicht bloß das, sondern er ist es auch gewesen, der als der erste das in unserer Zeit so viel erörterte Prinzip der Relativität in seiner allgemeinsten Geltung im Gebiet der Sinnesempfindungen erkannt hat – eine Erkenntnis, die, so einfach sie auf den ersten Blick erscheinen mag, doch im Grunde die notwendige Anwendung dieses Prinzips auf die gesamte physische Welt in sich schließt, da uns alle äußere Erfahrung in unseren Sinnesempfindungen gegeben ist. Das von Weber gefundene Gesetz der Empfindungen sagt aber aus, daß wir die Empfindungen immer nur in ihrem Verhältnis zu einander, niemals nach ihrem absoluten Werte auffassen, daß für uns also z. B. zwei Druckempfindungen, die durch die zwei Gewichte von 10 und von 5 Grammen verursacht werden, in ihrem Verhältnis zu einander zwei anderen entsprechen, die durch 100 und durch 50 Gramm entstehen.« W. Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 301f. Dilthey erwähnt diese von Wundt auch schon früher vorgetragene allgemeine Relativitätsthese in seiner Psychologie-Vorlesung vgl. XXI, 216, 296. Dort wird die Relativität der Sinnesempfindungen auch von ihm an Webers Studien veranschaulicht, vgl. XXI, 213–216, 294ff. Vgl. XXI, 161ff.; XX, 267f.; XIX, 189; XVIII, 100. Vgl. V, 93ff.; XXI, 156f., 347f. Zu Helmholtz’ verschiedenen Werkphasen siehe die kritische Würdigung seines Schülers Wundt, Erlebtes und Erkanntes, Kap. 25.

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Denkoperationen« (XXI, 347). All diese Facetten der Intellektualität der Sinneswahrnehmungen machen darauf aufmerksam, daß es kein ›natürliches‹ oder Abbildverhältnis zwischen Objekt, Reiz, Sinnesempfindung und Vorstellungsbild gibt, sondern daß wir es eben auch hier mit Schlußverfahren, Interpretationen und mithin arbiträren Verhältnissen zu tun haben.121 Wilhelm Wundt stellt dies anhand der weiten Verbreitung des von Lotze geprägten Begriffs der ›Lokalzeichen‹ heraus. »In der Tat war der Ausdruck, die Sinnesempfindungen seien Zeichen oder Signale, die uns die Kenntnis der in dem uns umgebenden Raum befindlichen realen Objekte vermitteln, seit alter Zeit ein Bestandstück der im gewöhnlichen Leben herrschenden und der diesem entnommenen vulgären Psychologie der Physiologen.«122 Daß Sinnesempfindungen als Zeichen funktionieren ist also common sense der Sinnesphysiologie im ausgehenden 19. Jahrhundert. Und so stellt auch Dilthey seinen Studenten das Verhältnis von Empfindung und Ding folgendermaßen vor: »Sie sind Zeichen für diese, Symbole (äußere Vorstellung, Laut und Buchstabe, Zahlzeichen)«; »Die Natur ist gemäß der Relativität der äußeren Wahrnehmung für uns ein System von Zeichen, welches eine uns unbekannte, objektive Ordnung auf eine für das praktische Leben zureichende Weise abbildet.« (XIX, 190; XX, 155; vgl. 277) Mit den Überlegungen zur ›Intellektualität des Erlebens‹ will Dilthey also ein psychologisches Äquivalent zum zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Kritizismus formulieren und auch auf diesem Felde falsche Unmittelbarkeiten beseitigen. Er tut dies in einer der sinnesphysiologischen Argumentation vergleichbaren Art und Weise. Diese hatte aufgezeigt, daß der Modus von Empfindungen weniger durch den von außen kommenden Reiz als durch die Kommunikation zwischen Sinnes- und Zentralorgan, dem Gehirn, bestimmt wird, »es ist die Sprache dieser Netzhaut mit ihren Apparaten« (XX, 267). Ähnlich verhält es sich Dilthey zufolge mit unseren Zuständen und der sie bestimmenden psychischen Struktur, die unsere Erlebnisweise prägt. Unsere Zustände sind zwar auch, wie Empfindungen, Reaktionen auf eine Außenwelt, lassen sich jedoch ebenso wenig wie diese als direkte Reaktionen einfach auf die Außenwelt zurücklesen. Dies stellt Diltheys Antwort auf den Behaviorismus dar: Erleben ist eine primäre Form des Erkennens, die durch das wollende, fühlende, vorstellende Seelenorgan strukturiert ist. Es ist im weiteren wichtig festzuhalten: Wenn Dilthey von ›innerer Erfahrung‹ oder ›Tatsachen des Bewußtseins‹ spricht, die als feste Grundlage für eine verstehende Psychologie und darüber hinaus für die Geisteswissenschaften fungieren können, dann ist immer nur das Zustandsbewußtsein gemeint, nicht eine Form des explizierten etwa in einer

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»Somit sind die Qualitäten der Dinge nicht Abbilder von Eigenschaften des Wirklichen, sondern Effekte derselben in unserem Bewußtsein, welche gleicherweise durch unsere psychophysische Natur wie durch das Wirkliche bedingt sind.« XIX, 190. W. Wundt, Erlebtes und Erkanntes, S. 167.

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Autobiographie niedergelegten Selbstverstehens oder das Wesen, der Charakter eines Ich. Diese Form des ›Erkenne dich selbst‹ hält er für in hohem Maße täuschungsanfällig, siehe den obigen Katalog der Täuschungen des Bewußtseins. Seinen diesbezüglichen Skeptizismus drückt er in dem Goethe-Motto »individuum est in effabile« aus und weiter: »wir verstehen uns selbst nicht«; »so bleibt alles Verstehen immer nur relativ und kann nie vollendet werden. Individuum est ineffabile« (VII, 225; V, 330; I, 29; V, LXXXIVf.; VI, 57, 306). Kehren wir an dieser Stelle kurz auf den eingangs skizzierten Dissens zwischen Nietzsche und Dilthey in puncto Introspektion zurück, so kann dieser nun dahingehend entschieden werden, daß tatsächlich nicht von denselben Dingen die Rede war. Dilthey will die Geisteswissenschaften eben nicht auf einem Ich der Introspektion begründen – dieses hält er mit stetem Verweis auf Haller, Rousseau und Nietzsche für krankheitsgefährdet –, sondern auf einem aktuellen, zeitlich und in seinem inhaltlichen Umfang eng begrenzten Zustandsbewußtsein. Dieses bezeichnet er auch als »primitivsten Keim« von »Selbstbewußtsein«, der auch »niederen Tieren« (XIX, 160f.) zugesprochen wird. Die Kritik von Nietzsches Aphorismus trifft Diltheys Wissenschaftstyp also nicht. Sobald Erinnerungen ins Spiel kommen und mithin Prozesse der Nachbearbeitung von Bildern, die oft genug, so Dilthey, als Neuschöpfungen zu betrachten sind, können sich auch Verzerrungen der ursprünglich sicheren Tatsachen des Bewußtseins einschleichen. In seiner Poetik katalogisiert er solche Prozesse der Bildbearbeitung. Welche Methoden bleiben einer Wissenschaft, die möglichst nahe an diesem Zustandsbewußtsein bleiben will? Nach Dilthey zu allererst und eben doch Selbstbeobachtung ausgehend vom »Forscher selber« (XIX, 34), die sich der beschreibenden Zergliederung gegenwärtiger Zustände widmet. Die Realitätsabhandlung zeigt uns diese Methode in Aktion. Wir können hier dem Forscher-Ich bei der Arbeit zusehen. So heißt es über das Erleben eines Bewegungsimpulses: Ich taste mit der Sonde. Hierbei habe ich das Bewußtsein meiner Impulse, zugleich verlege ich aber an die Spitze der Sonde eine Widerstandserfahrung, da mir die Sonde als ein fühlsames Tastorgan, als eine Art von Fortsetzung der tastenden Hand erscheint. Die Natur dieser Tasterfahrung wird von mir in der Regel nicht näher beachtet. Bediene ich mich doch derselben gewöhnlich nur, um die Anwesenheit eines Objektes vermittels einer willkürlichen Bewegung festzustellen. Ich richte nun meine Aufmerksamkeit auf diesen Eindruck; er ist sowohl von dem der Schwere, als dem des Druckes augenscheinlich unterschieden.

Und der Zustand des Bestimmtwerdens wird folgendermaßen beschrieben: Ein Willens- und Gefühlszustand des Erleidens, des Bestimmtwerdens wird erfahren. Jeder kennt diesen Zustand aus Erfahrungen ganz anderer Art. Mitten in meiner Arbeit stört mich ein unwillkommenes Geräusch, eine fatale Vorstellung; ich vermag sie nicht zu verdrängen, ihr Druck lastet auf mir. Dieser Druck auf die

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psychische Aktion, dieser gepreßte Zustand von Unlust und von Hemmung besteht nun auch hier: Erfahrung, bestimmt zu sein. (V, 101f.)

In Abgrenzung zu den ›Reflexionstheorien‹ des Selbstbewußtseins123 konkretisiert Dilthey die hier geschilderte ›Selbstbeobachtung‹ – eigentlich ein unglücklicher Begriff – als »Innewerden« eines Zustandes: »es gibt ein Bewußtsein, welches nicht dem Subjekt des Bewußtseins einen Inhalt gegenüberstellt (vorstellt), sondern in welchem ein Inhalt ohne jede Unterscheidung steht. In ihm sind dasjenige, welches seinen Inhalt bildet, und der Akt, in welchem das geschieht, gar nicht zweierlei. Das, was inne wird, ist nicht gesondert von dem, welches den Inhalt dieses Innewerdens ausmacht.« (XIX, 66) Für ein solches Zustandsbewußtsein hatten die Frühromantiker auch den Begriff ›Selbstgefühl‹ geprägt, den der Schleiermacher-Biograph natürlich auch mitverwendet, obwohl er mit ihm nicht ganz einverstanden ist und er diesem in seiner Erkenntnisanthropologie auch noch eine zweite, andere Bedeutung geben wird.124 Innewerden ist die primäre Form des Erkennens der psychophysischen, wollenden, fühlenden und wahrnehmenden Lebenseinheit. Nicht allein die psychische Seite des Innewerdens: Aufmerksamkeit, Bewegungsgefühle oder Ruhen in sich, wird geschildert, sondern auch seine physische Seite: »Was als solches Innewerden mit ihm verbunden ist, das sind in der Wahrnehmung die Ruhe oder Bewegungs- und Sensationsgefühle, welche an die Funktion des Sinnes gebunden sind, die Spannung der Aufmerksamkeit, welche zugleich die Muskeln spannt, oder auch jenes Ruhen in sich, das so eigentümlich süß durch begleitende Gefühle, teils der Muskeln, teils an die Sensation gebunden, begleitet ist.« (XIX, 160) Innewerden ist die dem Erlebnis eigentümliche Form der ›Intellektualität‹. Sie wird zwar nicht in jedem Erleben vollzogen, es gibt auch das selbstvergessene Hingegebensein an einen Zustand, sie ist aber potentiell immer möglich. Der »Charakter des Erlebens [ist] ein Innewerden von Wirklichkeit« (VII, 218). Mit Zustandsbewußtsein und Innewerden sind allerdings nicht gleich alle erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Probleme gelöst, die schon allein mit der sprachlichen Formulierung des Innewerdens beginnen. Denn bei jeder Form »begrifflicher Fassung« haben wir es mit einer »Interpretation« (VI, 57) zu tun. Einem Erlebnisausdruck wie »ich bin sehr traurig« kommt nämlich nicht dieselbe Gewißheit zu wie dem Zustandhaben. »Die gewöhnliche Meinung ist sehr überzeugt, in der Aussage ›ich bin sehr traurig‹ nur dasselbe ausgedrückt, ausgesprochen zu besitzen, was unausgesprochen in dem Innewerden dieses Zustandes enthalten ist. Aber in Wirklichkeit ist diese Annahme schon in dem vorlie-

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Vgl. D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht. »Ein solches Innewerden, in dem ein Individuum seine eigene Zuständlichkeit besitzt, bezeichnet man wohl auch als Selbstgefühl, ob dieses gleich schon dem Wortlaut nach mehr in sich schließt.« XIX, 160.

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genden einfachsten Fall nicht berechtigt.« (XIX, 83) Einen Weg, dieses Problem zu lösen, geht Dilthey, indem er mit Überlegungen zur Urteils- und Aussagenlogik auf die Kontinuität zwischen der Intellektualität des Erlebens und grundlegenden wissenschaftlich-sprachlichen Erkenntnisweisen aufmerksam macht. Das diskursive, sprachliche Denken wächst gleichsam aus den Grundstrukturen des Lebens heraus. Prämisse ist: »daß das Wirkliche in seinen Inhalten und lebendigen Verhältnissen nicht durch das Denken abgeändert wird, sondern nur zum distinkten Bewußtsein kommt, solange das Denken seinen Normen entsprechend funktioniert.« (XIX, 340) Eine solche wissenschaftliche Methode, die dem Erleben nahe bleibt und die Normen einer aus diesem entwickelten Urteils- und Aussagenlogik beachtet, nennt Dilthey wiederum in Abgrenzung zur Selbstbeobachtung »Selbstbesinnung«. Im »Gegensatz gegen Erkenntnistheorie« vollzieht sich »Selbstbesinnung« als »Analysis des ganzen Bestandes und Zusammenhangs der Tatsachen des Bewußtseins […], welche eine Grundlegung des Zusammenhangs der Wissenschaften ermöglicht« (XIX, 79).125 Aber auch für eine als Selbstbesinnung verstandene Erkenntnisanthropologie gilt, daß sie der grundlegenden Relativität des Wissens unterliegt. Wilhelm Dilthey hat diesbezüglich in wünschenswerter Klarheit ein längeres wissenschaftliches credo abgegeben, das im Handschriftenkonvolut der ›Ideen‹ lag. Die Relativität jeder Einzelerkenntnis unterliegt in bezug auf die Außenwelt keinem Zweifel; aber in dem Studium der inneren Welt kehrt dieselbe Schwierigkeit in einer andern Form wieder. Die Begriffsbildung der Psychologie und ihre Anwendung ist stets relativ, provisorisch, denn sie ist immer bedingt durch Beziehungen in einem Ganzen, welche erst allmählich zu größerer Deutlichkeit erhoben werden. So bleibt nichts übrig als in die so entstehende schwankende Lage des Bewußtseins System zu bringen. Daß diese schwankende Lage tatsächlich von jedem erlebt wird, welcher die Rechtsgründe seiner Sätze und Begriffe sich logisch, erkenntnistheoretisch bewußt macht, ist die sicherste aller empirischen Erfahrungen über das menschliche Wissen. […] Der letzte logische Grund des Verhältnisses liegt aber darin, daß der Grad und die Art der Sicherheit einer logischen Operation nie am einzelnen bestimmt werden kann, sondern immer in den Beziehungen zu dem Ganzen enthalten ist. Dies ist, logisch angesehen, dieselbe Wahrheit, welche in der unbewußten psychischen Region durch das Prinzip des erworbenen Zusammenhangs repräsentiert wird. Der tiefer liegende Grund ist aber, daß der Zusammenhang des Ganzen im Seelenleben das Primäre ist. Hiernach gehen wir, auch wo der Spezialist gar kein Bewußtsein davon hat, vom Ganzen aus, und sind von dessen Auffassung für das einzelne abhängig. […] Wir können nur hierdurch den provisorischen Charakter und zugleich die inhaltliche Sicherheit unserer psychologischen Erkenntnis hiernach bestimmen. (V, LXXXIVf.)

Allerdings hat diese relative Sicherheit auf schwankendem Boden auch einiges für sich. Zunächst einmal ist sie wahrhaftiger Ausdruck eines Erlebens, dessen

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Zu Diltheys Reformulierung von Selbstbewußtsein als Zustandsbewußtsein und Selbstbesinnung vgl. Jung, Dilthey zur Einführung, S. 41ff.

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Evidenz sich jeglicher Forschender, wenn sie oder er nur will, klar machen kann. Dann ist hier ein wissenschaftliches Gemeinschaftsprojekt anvisiert, das sich durch ein Ineinandergreifen der Wissenssysteme, letztlich auch jener der Geistes- und Naturwissenschaften, stabilisiert. Das ist der hermeneutische Zirkel auf der wissenschaftlichen Ebene. Und schließlich ist hier noch ein weiterer stabilisierender Faktor genannt, der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens, mit dem auf einer grundlegenden existentiellen Ebene die für den hermeneutischen Zirkel charakteristische Dialektik von Teil und Ganzem noch einmal zur Anwendung kommt. Inwiefern die Auffassung des psychischen Strukturzusammenhangs inhaltliche Sicherheit bringt, bleibt in dieser Formulierung eher dunkel. Im ›Aufbau der geschichtlichen Welt‹ wird das Zusammenspiel von psychischem Struktur- und historischem Wirkungszusammenhang das den Geisteswissenschaften mögliche Maße an Objektivität sichern (VII, 137f.). Jetzt wollen wir vorerst verfolgen, welche Rolle der erworbene Zusammenhang des Seelenlebens im Erleben und Verstehen der Psychologie spielt. Hier deutet sich ein neues Erkenntnisproblem an, denn die Funktion dieses Zusammenhangs als ›Primäres‹, das unser aktuelles Erleben bestimmt, scheint als ›unbewußte psychische Region‹ selbst nicht erlebbar zu sein. Der Zugang zu diesem erfordert wohl eine andere Methode als jene der analytischen Zergliederung eines gegenwärtigen Zustands, die bislang an der Realitätsabhandlung veranschaulicht wurde. Das ›Erworbene‹ am Zusammenhang weist hier den Weg. Neben die in Innewerden und Selbstbesinnung konkretisierte Selbstbeobachtung tritt eine vergleichend-historische Methode. »Analysis der inneren Erfahrung« und »vergleichendes Studium der Seelenzustände« (XIX, 181) bilden die methodischen Grundpfeiler der verstehenden Psychologie. Die vergleichend-historische Methode kann wiederum in die Komponenten von Fremdverstehen, das Verstehen anderer uns verwandter Personen oder von Tieren, ›Wilden‹ und Kindern, und Entwicklungsgeschichte zerlegt werden. Im ersten Fall kommt man auf dem Weg von Analogieschlüssen dem psychischen Strukturzusammenhang anderer auf die Spur. Allerdings bleibt Dilthey bei dieser einfachen Einfühlungshermeneutik nicht stehen, sondern zeigt auch, daß dieses Verstehen über Objektivationen vermittelt ist und erst über das Fremdverstehen ein adäquates Verständnis des Selbst möglich wird. Im zweiten Fall wird der psychische Strukturzusammenhang durch die Geschichte seiner Genese aufgehellt und der vergleichende Blick auf Tiere, ›Wilde‹ und Kinder erbringt der historischen Methode ihr Anschauungsmaterial. Denn es existieren zwischen der tastenden Selbsterfahrung des Erwachsenen und »dem dunklen Gefühl eines von der Haut umgrenzten Innen des entwickelten Tieres oder des einjährigen Kindes« (XIX, 181) nur Gradunterschiede. An dieser Stelle sollte eine Prämisse der verstehenden Psychologie Diltheys genannt werden, die implizit schon in ›Dichterische Einbildungskraft und 383

Wahnsinn‹ zum Tragen kam. Im Hinblick auf psychische Strukturen gibt es keine qualitativen Unterschiede, sondern nur quantitative. Qualität läßt sich immer in Quantität auflösen. So wurden das Genie und der Wahnsinnige durch Stärke- bzw. Schwächegrade psychischer Energien in Abgrenzung zum Durchschnitt beschrieben. Beide Formen der Abweichung wurden so nicht als das ganz Andere, sondern als das prinzipiell Verstehbare vorgestellt. Diese Form der Quantifizierung ist für eine Hermeneutik, die stark auf Verwandtschaft als Bedingung des Verstehens setzt,126 diese aber biologisch bis auf psychische Strukturen von »Protoplasmaklümpchen« (V, 211) ausweitet, unverzichtbar. Schließlich versucht Dilthey in seiner pragmatistischen Phase eine Hermeneutik aus den Grundstrukturen des Lebens zu entwickeln. Einige seiner Herausgeber hat diese Quantifizierung als erklärender Fauxpas jedenfalls sehr irritiert (XIX, VW). In der Realitätsabhandlung wird auch die zweite vergleichend-historische Methode angedeutet, eine Entwicklungsgeschichte des psychischen Strukturzusammenhangs, die wohl schon mit dem Embryonalstadium zu beginnen hat: »Der Embryo des Säugetiers oder Menschen berührt häufig bei seinen Bewegungen die Wände der Gebärmutter und seine eigenen Teile berühren einander. […] Bevor das Junge geboren wird, besitzt es hiernach im Grundschema ein dunkles, vielleicht mehr traumartiges Bewußtsein der Trennung seines Eigenlebens von einem es rings bedingenden äußeren Etwas.« (V, 99f.) Ausführlicher erzählen die Aufzeichnungen der sogenannten ›Breslauer Ausarbeitung‹ eine »Entwicklungsgeschichte des Ichbewußtseins«. Ausgehend von der im Tastsinn erfahrenen Gleichursprünglichkeit von Welt und Selbst skizzieren sie durch Gewöhnung eingelebte Prozesse der wechselseitigen Verdichtung der Realität der Außenwelt und der Verfestigung einer psychischen Struktur, zu deren wichtigstem Bestandteil das Körperbild gehört. Endpunkt der Entwicklungsgeschichte, »deren höchste Schöpfung«, ist das »konkrete Bild unseres Ich« (XIX, 172). Als Erzählprämisse für diese Lebensgeschichte der psychophysischen Lebenseinheit wird formuliert, daß »die Bedeutung der Verbindung der Physiologie mit der Analysis des Selbstbewußtseins« darin besteht, »daß sie circumscripte Bedingungen für das Eintreten bestimmter analytisch ausgesonderter psychischer Tatsachen enthält.« (XIX, 98) Das erste hier geschilderte Grunderlebnis – wie wir gehört haben, vermutlich noch auf vor die Geburt zu datieren – ist die im Tastsinn erfahrene Abgrenzung von Welt und Selbst. Deutlicher als die Realitätsabhandlung formuliert die ›Breslauer Ausarbeitung‹ den Sachverhalt, daß die Erfahrung von Selbst und Welt gleichursprünglich ist. »Selbstbewußtsein ist die Korrelattatsache der Außenwelt« (XIX, 178). Und es wird noch einmal herausgestellt, daß an die126

»Erleben eines eignen Zustandes und Nachbilden eines fremden Zustandes oder einer fremden Individualität sind nun im Kern des Vorgangs einander gleichartig.« V, 276.

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sem Erlebnis die ganze psychophysische Lebenseinheit mit ihrem Körper, ihren Sinnen und der Totalität des Bewußtseins beteiligt ist. Wenn Selbstbewußtsein und Weltbewußtsein nur die beiden Seiten desselben Gesamtbewußtsseins sind: so ist dies nicht in einem theoretischen Vorgang gegründet; vielmehr werden wir zugleich unseres Selbst und der Dinge inne, weil in diesem kontinuierlichen Lebensakte die Totalität unseres Wesens wirksam ist. Unser Wille, der in den Bewegungsgefühlen, in der tastenden Hand, im schreitenden Fuße seiner selbst inne ist, erfährt die Gegenwirkungen, und so findet er sich gezwungen, Wahrnehmungen als Dinge zu setzen: Realität ist nichts anderes als dieses Erlebnis. (XIX, 153)

Dilthey läßt sich sogar dazu hinreißen, diese erste Berührung von Welt und Selbst nicht nur als Grundstruktur des Lebens zu bezeichnen, sondern er taucht mit Anklängen an die zeitgenössische Dramentheorie dieses Erlebnis in ein tragisches Licht. Gerade im Vergleich mit Nietzsche und Freud ist Dilthey mit Schilderungen einer grundlegenden Tragik des Lebens zurückhaltend. Das folgende Zitat ist eher eine Ausnahme in seinem Werk. Es zeigt aber, daß auch dieser vermeintlich auf ›Harmonie‹ abonnierte Denker die Dissonanzen des Lebens wahrgenommen hat, in ihnen sogar die wesentlichen Lebensprozesse erkennt: ohne eine Welt hätten wir kein Selbstbewußtsein, und ohne dieses Selbstbewußtsein wäre für uns keine Welt vorhanden. Was in diesem Akte der Berührung sozusagen sich vollzieht, ist das Leben – nicht ein theoretischer Vorgang, sondern was in dem Ausdruck Erlebnis von uns bezeichnet wird, Druck und Gegendruck, Position den Dingen gegenüber, die selber Position sind, Lebensmacht in uns und um uns, welche in Lust und Schmerz, in Furcht und Hoffnung, in Gram über das, was unüberwindlich lastet, in Seligkeit über das, was draußen dem Selbst sich zu eigen gegeben hat, beständig erfahren wird und da ist: nicht ein Zuschauer, das Ich, der vor der Bühne der Welt sitzt, sondern Handlung und Gegenhandlung selber, in dem, gleichviel, ob Könige darin fungieren oder Narren und Tölpel, dieselbe Tatsächlichkeit übermächtig erfahren wird. Daher es denen, die darin stehen, nie ein Philosoph eingeredet hat, das alles sei Vorstellung, Bühne, nicht Wirklichkeit. (XIX, 153)

Mit der Begrifflichkeit von Druck und Gegendruck, Handlung und Gegenhandlung verweist Dilthey deutlich auf den von ihm sehr geschätzten Gustav Freytag und seine klassisch gewordene Beschreibung der dramatischen Struktur als Spiel und Gegenspiel in ›Die Technik des Dramas‹ (1863).127 Eine evolutionstheoretische – Darwins ›Kampf ums Dasein‹ – und eine ästhetische Konflikttheorie gehen um 1900 ein Verbindung ein, die sich in solcher Diktion bekundet. Etwa auch in der Realitätsabhandlung: »Wille, Kampf, Arbeit, Bedürfnis, Befriedigung sind die immer wiederkehrenden kernhaften Elemente, welche das Gerüst geistigen Geschehens ausmachen. Hier ist das Leben selber.« 127

Dilthey hat die 3. Auflage der ›Technik des Dramas‹ (1776) wohlwollend rezensiert, vgl. XVII, 85f., 398ff.

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(V, 131) Sehr viel deutlicher und ausführlicher wird sich diese Rhetorik jedoch bei Sigmund Freud verfolgen lassen; Dilthey verwendet die tragischen Zwischentöne, wie gesagt, moderat. Anzufügen bleibt noch, daß in diesen Schilderungen der fälschliche Eindruck entstehen könnte, Diltheys Erkenntnisanthropologie arbeite wie Freuds Psychoanalyse mit Urszenen – dies ist gleichsam der literarischen Darstellung geschuldet. Tatsächlich handelt es sich um Langzeitprozesse der »Gewöhnung«, in denen das Selbst beginnend im Mutterleib ständig an die Außenwelt stößt, diese begreift, und sich allmähliche immer festere Konturen der Außenwelt wie auch des Selbst herausbilden. Erst durch Reflexe, unwillkürliche, dann willkürliche Bewegungen und die »Hemmung dieser Bewegungen läßt das ›Andere‹ allmählich als Erfahrungsbegriff sich bilden. Das Außen, gar die Außenwelt, ist ein spätes Ergebnis.« (V, 104) In der psychischen Struktur bildet sich die ganzheitliche Erfahrung am Außen in zwei Kreisen des Bewußtseins ab, denen vielleicht eine ähnliche Funktion zugeschrieben werden kann wie Webers Empfindungskreisen, die die Oberfläche des Körpers kartographierten. Die Opposition von Welt und Selbst wird ins Innere hineingenommen, denn es gilt ja der Satz der Phänomenalität, daß alles nur unter den Bedingungen des Bewußtseins wahrgenommen werden kann. »Mein Bewußtsein ist der Ort, welcher diese ganze scheinbar so unermeßliche Außenwelt einschließt« (XIX, 59). Beides, Empfindungen und vom außen unabhängige innere Zustände sind nur Modifikationen des Selbst und als solche »unmittelbar gegeben« (XIX, 337). Unterschieden sind sie jedoch in der Art und Weise, wie sie erlebt werden. Innen und Außen bezeichnen dann nur noch unterschiedliche Formen des Gegebenseins von psychischen Tatsachen. So trennen sich »innerhalb meines Bewußtseins zwei Kreise«, »deren einer von dem tätigen Ich erfüllt ist und umschrieben ist und gleichsam eine Artikulation seines Zusammenhangs darstellt, während der andere Hemmung des Willens, Druck auf ihn, Unabhängigkeit von ihm in allen Tatsachen enthält.« (XIX, 339) Bei den psychischen Tatsachen gibt es jedoch eine einzige Ausnahme, die in beiden Kreisen zugleich auftaucht, und das ist der menschliche Körper. Er wird durch Druck als Bestandteil der Außenwelt empfunden und in der Bewegung als Handlungsorgan des tätigen Ich erlebt. In der Selbstberührung fallen diese beiden Momente, Widerstand und Impuls zusammen. Denn dies ist nun das Entscheidende: was wir innewerden durch innere Wahrnehmung, dasselbe ist unseren Sinnen auch von außen gegeben und stellt sich ihnen als Körper unter Körpern, als ein Bestandteil der Außenwelt in immer neuen Verbindungen dar; indem bald die Hand einen Körperteil umschließt, innerhalb dessen ein Gefühl lokalisiert ist oder Muskelspannung empfunden wird, bald das Auge der Bewegung folgt, verketten sich innere Zustände und Sinnesvorstellungen zu dem festen Gerüst derjenigen zusammenliegenden Anschauung, die zugleich die unseres Selbst und unseres Körpers ist. […] Hierdurch erhalten die Muskelgefühle, Organgefühle und das Innewerden von Antrieben etc. ein festes Gerüst am Körperbild. (XIX, 166f.)

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Durch das Körperbild können sowohl innere Zustände lokalisiert werden, als auch das Selbst seine Lage zu anderen Dingen in der Außenwelt durch dieses bestimmt. Der erlebte Körper und die Vorstellung von ihm, die wir ausbilden, gehört damit zu den frühesten und wichtigsten Bestandteilen des Strukturzusammenhangs der Seele. Das Körperbild stellt ein tragfähiges Netz für die Strukturierung und Verarbeitung neuer Erlebnisse bereit. Durch »dieses Netz des Selbst« werden »Orientierung im Raum, Zeitmessung, ursächliche Zweckbeziehung etc.« ermöglicht, so daß der Mensch zur »Welt in gesetzmäßigen Verhältnissen« steht. Einen Teil der Außenwelt aufzufassen bedarf es der Gunst der Umstände; unser Körper ist uns in Wahrnehmung und Vorstellung beständig gegenwärtig, und so bildet er ein stets gegenwärtiges Vorstellungsganze, welches zu unserem Willen und unseren Gefühlen in besonderer Beziehung steht, welches von unserem Willen beherrscht [wird] und innerhalb dessen unmittelbare Gefühle auftreten. Die Orientierung dieses Körpers im Raum, seine Stellungen zur Außenwelt, die gleichbleibenden Beziehungen, welche er mit konstanten Bestandteilen dieser Außenwelt hat, dies alles bildet das Vorstellungsgerüst, innerhalb dessen wir jede einzelne psychische Lage fi xieren, bildet sozusagen ein Netz, innerhalb dessen und mit dessen Hilfe wir die einzelne Lage verzeichnen. […] Und zwar, auch wenn dieses Netz, das so entsteht und unser Selbst ist, nicht ausdrücklich wahrgenommen wird, so wird doch die einzelne Empfindung in es eingetragen. (XIX, 167)

Was sonst oft nur in Abbreviatur der erworbene Strukturzusammenhang der Seele genannt wird, kann so ausführlicher als ein »inneres Gerüst, eine Grundverzeichnung unseres leiblichen Selbst« beschrieben werden: Im Menschen entsteht durch die Verbindung erinnerter sinnlicher Gefühle und des durch sie erworbenen Zusammenhanges der Vorstellungen über unsere fühlsamen Organe mit den gegenwärtigen inneren Zuständen derselben ein fest verzeichneter Umkreis, innerhalb dessen Eigenleben, Heimlichkeit des Spiels der Gefühle stattfindet […]. Und an der Umgrenzung dieser von Trieben, willkürlichen Bewegungen und sinnlichen Gefühlen erfüllten Lebenssphäre treten nun, deutlich lokalisiert, rings auf der Haut Temperatur- und Druckempfindungen auf. Vor allem geben die Tasteindrücke Erfahrungen von Wirklichkeit, die jenseits unserer Haut und sonach Außen ist: von einem Anderen, das ganz außerhalb des Bezirkes unseres leiblichen Eigenlebens gelegen ist. (V, 107)

Das Körper-Bild meint nicht Abbild, sondern Bild in seiner medialen Funktion zwischen Innen und Außen und als »orientierungspraktisches Schema«.128 Am Körperbild setzt auch Diltheys Kritik an der Assoziationspsychologie an, der es vornehmlich um die Assoziation von Vorstellungen zu tun ist; während es sich beim Prozeß der Herausbildung eines Körperbildes um die Assoziation von »Muskel- und Bewegungsgefühlen, Organgefühlen einerseits und Sinnesempfindungen andererseits« und von »Vorstellungen von Körperteilen, von Lagen 128

F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, S. 63.

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und Bewegungen derselben« (XIX, 166) handelt. Dieses Körperbild wird zudem von Gefühlen begleitet, einem bestimmten Selbst- und Lebensgefühl. »Mit dem Wahrnehmungsbilde, welches von der Vorderfläche unseres Körpers beginnt und das Sehfeld erfüllt, verknüpfen sich Gefühle, und die Art, wie das geschieht, führt ebenfalls zu einem Innewerden einer vom Selbst geschiedenen Außenwelt.« (XIX, 177) Dies ist die zweite, qualifiziertere Bedeutung, die Dilthey dem Begriff Selbstgefühl gibt, der nun nicht nur im Anschluß an die Frühromantik die generelle Zuständlichkeit der psychophysischen Lebenseinheit meint, sondern deren individuellere Stimmung bezeichnet. Am Aufbau des Körperbildes als einem inneren Gerüst des Selbst zeigt sich eine existentielle Dialektik von Teil und Ganzem. Einzelne Erfahrungen am Außen, Tasterlebnisse wiederholen und verfestigen sich im Zuge der Gewöhnung in einem psychischen Strukturzusammenhang, der dann seinerseits das Erleben bestimmt. »Von der Unterscheidung des Selbst von den Dingen aus bildet sich durch Verknüpfung der Zustandsbilder sowie ihrer Bestandteile ein Gerüst.« (XIX, 166) Daß es sich um Bildungsprozesse handelt, unterstreicht Dilthey insbesondere terminologisch. Die einzelnen Erlebnisse werden eben auch als ›Zustandsbilder‹ bezeichnet und ihre Weiterverarbeitung durch die psychische Struktur wird »Erinnerungsbild« (VI, 97) oder auch ›Nachbildung‹ genannt. Die Prozessualität des Bildens, seine Eigendynamik wird gegenüber einer Abbild-Funktion deutlich betont. Das Bild hat eine »triebartige Energie. Es ist Leben, Vorgang. Es entsteht, entfaltet sich und erlöscht wieder.« (VI, 99) Mit dem Bild-Begriff grenzt Dilthey das schweigende Denken des Erlebnisses, seine spezifische Intellektualität, von der diskursiv-sprachlichen des Erkennens zweiter Stufe ab.129 Darüber hinaus erinnert das Bild gewolltermaßen an das alte schöpferische Vermögen der produktiven Einbildungskraft, so daß die realen psychischen Prozesse im Licht dieser Tradition beschrieben werden. V.2.4. Poetik als Erfahrungswissenschaft Die Verbindung zwischen Prozessen der Selbstbildung und poetischen Bildern hat Dilthey in den Jahren 1886 und 1887 vor allen Dingen in ›Dichterische Einbildungskraft und Wahnsinn‹ und ›Die Einbildungskraft des Dichters‹ herausgearbeitet. Die Poetik oder umfassender die Ästhetik wird darum in Diltheys Werk zu einer »Modellgeisteswissenschaft«.130 Die konkrete Medialität des Strukturzusammenhangs der Seele wird hier anschaulich, so werden Grundlagen der verstehenden Psychologie sichtbar. Dilthey formuliert in ›Die Einbil129

130

Fellmann sieht die Modernität von Diltheys pragmatistischer Hermeneutik gerade in dieser Bildebene begründet. Mit den Bildern kann auf die Medialität des Bewußtseins aufmerksam gemacht werden, als Leitbilder erhalten sie handlungspragmatische Funktion, als Abbild kognitive, als Ausdruck emotive, vgl. Symbolischer Pragmatismus, Kap. 5–8. R. A. Makkreel, Dilthey, S. 114.

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dungskraft des Dichters‹: »Die Hoffnung entsteht, daß durch die Poetik das Wirken der psychologischen Vorgänge in den geschichtlichen Produkten besonders genau aufgeklärt werden könne.« (VI, 109) Und diese Hoffnung konkretisiert er in den Abhandlungen in zweifacher Weise: Zum einen läßt sich an der Literatur die Wirkungsweise eines psychischen Strukturzusammenhangs ablesen, so daß das Erkenntnisproblem, inwiefern ein das Erleben strukturierendes Unbewußtes zur Kenntnis gelangen könne, rezeptionsästhetisch gelöst wird. Zum anderen trägt die Literatur in ausgezeichneter Weise zu einer Steigerung des Lebensgefühls bei, so daß die Poetik auch darin zur Modellgeisteswissenschaft wird, daß sie die lebensorientierende und diätetische Funktion der Tatsachen des Geistes entschlüsselt. Die Literatur wird bei Dilthey nach dem Novalis-Wort als »Realpsychologie« (ED, 306ff.) wahrgenommen, d.h. an ihr können konkrete Individuationsprozesse, die Herausbildung eines individuellen psychischen Strukturzusammenhangs im Kontext eines spezifischen Milieus, und einzelne Integrationsprozesse von Erlebnissen in diesen Zusammenhang beobachtet werden. Vor allem in seiner Poetik profiliert sich der Milieu-Theoretiker Dilthey. Und darüber hinaus stellt Dilthey zuerst in seiner Poetik heraus, welchen unschätzbaren Wert Objektivationen für das Verstehen haben. In der Sprache, dem Mythos, der Literatur und Kunst, überhaupt in allen geschichtlichen Leistungen haben wir gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns: Produkte der wirkenden Kräfte, welche psychischer Natur sind: feste Gestalten, welche sich aus psychischen Bestandteilen und nach deren Gesetzen aufbauten. Wenn wir die Vorgänge in uns oder anderen betrachten, so zeigen sie eine beständige Veränderlichkeit, etwa wie Raumgebilde, deren Umrisse sich beständig ändern würden; daher ist es unschätzbar, dauernde Gebilde mit festen Linien vor sich zu haben, zu denen die Beobachtung und die Analysis immer wieder zurückkehren kann. (V, 199f.)

Dieser Grundpfeiler seiner späten Hermeneutik und ihrer Lehre vom objektiven Geist wächst aus seiner Poetik heraus und zeigt darum, daß die These von Diltheys anti-psychologischer Wendung im hermeneutischen Spätwerk nicht zutrifft. Denn der späte Nachdruck auf das Ausdrucksverstehen entwickelt sich aus dem Erkenntnisproblem des unbewußten psychischen Strukturzusammenhangs und den Möglichkeiten seiner Erschließung. Die Poetik argumentiert dabei auf drei Ebenen: Produktionsästhetisch zeigt sie am Genie die Bedingungen und Verfahren der Literaturentstehung auf. Werkästhetisch ist das Kunstwerk Ausdruck der psychophysischen Lebenseinheit seines Schöpfers und diesem homolog strukturiert, so daß auch im Literaturverständnis erklärende und verstehende Methoden einander ergänzen sollen. Rezeptionsästhetisch wird das Ausdrucksverstehen als Nachbildung oder auch Nachschöpfung von Kunst dargestellt und zugleich die diätetische Funktion diese Vorgangs skizziert. 389

Produktionsästhetisch wird das Kunstwerk also auf seine Entstehung im Genie hin zurückgelesen, und nach der nun schon bekannten quantitativen Prämisse zeugt dieses wiederum in gesteigerter Form von den Funktionsweisen des normalen Seelenlebens. Dadurch erhalten wir hier eine der detailliertesten Schilderungen der seelischen Struktur, jenseits des uns aus der ›Breslauer Ausarbeitung‹ bekannten Körperbildes, und ihrer grundlegenden Funktionen in Diltheys Werk: Und zwar umfaßt dieser Zusammenhang unsere Vorstellungen, die in unseren Gefühlen gegebenen Wertbestimmungen und die in unserem Willen entstehenden Zwecke. Er besteht nicht in den Inhalten allein, sondern auch in den Verbindungen zwischen ihnen. Diese Verbindungen werden als Verhältnisse von Vorstellungen, als Wertabmessung, als Ordnung der Zwecke erfahren, erlebt und dann dem Zusammenhang des Seelenlebens eingeordnet. Eine Struktur gliedert in jedem von uns dies Ganze: von der Außenwelt her ruft das Spiel der Reize Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellungen hervor; nun wird in dem Mannigfachen der Gefühle der Wert dieser Veränderungen für das Eigenleben erfahren; und die von den Gefühlen erregten Antriebe und Willensakte wirken dann wieder nach außen zurück. Diese beständige Wechselwirkung zwischen unserem Eigenleben und dem Milieu, in dem es atmet, leidet und handelt: das ist unser Leben. – Dieser Zusammenhang des Seelenlebens wirkt nun auf die im Blickpunkte des Bewußtseins befindlichen Vorstellungen oder Zustände. Er wird besessen und wirkt und ist doch nicht bewußt. Seine Bestandteile sind nicht klar vorgestellt, nicht deutlich getrennt; ihre Verbindungen sind nicht unterscheidbar herausgehoben; und doch sind die im Bewußtsein befindlichen Vorstellungen und Zustände zu diesem Zusammenhang orientiert, an ihm begrenzt, bestimmt und begründet. Dunkel, wie wir ihn besitzen, reguliert und beherrscht er Affekte und Eindrücke. (VI, 94f.)

Die seelische Struktur wirkt so gleichsam als Apparatur für die Integration und Verarbeitung von Erlebnissen. Die Intellektualität des Erlebens wird in den Momenten der Wertbestimmung durch das Gefühl und der Einordnung in Vorstellungs- oder Zweckassoziationen veranschaulicht. Im Rückblick auf die im vorangehenden skizzierte Debatte zur Intellektualität der Sinnesempfindungen nimmt Dilthey hiermit eine vermittelnde Zwischenposition ein: Zwischen einem einfachen Empirismus, der von dem unmittelbaren Gegebensein der Außenwelt in unseren Empfindungen ausgeht, und dem Intellektualismus der vielfältigen neukantianischen Spielarten des Apriori sowie der Zeichenhaftigkeit der sinnlichen Empfindungen steht Dilthey mit dem durch Gewöhnung erworbenen Zusammenhang und seiner Bildhaftigkeit in der Mitte, indem er eine gleichermaßen erfahrungsgesättigte wie mediale Struktur beschreibt. Indem dieser Zusammenhang sowohl selbst bildhaftes inneres Gerüst als auch Medium für Prozesse der Bildverarbeitung ist, liegt uns hier eine Tiefenhermeneutik vor, die Fellmann geistesgeschichtlich zu Recht am »Übergang von der romantischen zur psychoanalytischen Hermeneutik«131 verortet. 131

F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, S. 60.

390

Mit Freud haben wir ein strukturierendes Unbewußtes, dessen Primärprozesse bildhaft sind. Und ähnlich dem Begründer der Psychoanalyse und seinen Traum-Mechanismen von Verdichtung, Verschiebung etc. hält auch Dilthey die Nachbearbeitungen von Erlebnissen durch den psychischen Apparat in einer Reihe formaler Regelmäßigkeiten fest. Bei der Transformation von Erfahrungen in »Erinnerungsbilder« und »Einbildungsvorstellungen« (VI, 97) sind folgende Veränderungen möglich: 1. Wegfall von Bestandteilen, etwa der Schwerkraft im Traum, 2. Größenveränderung oder Veränderung der Empfindungsintensität, 3. Integration neuer Bestandteile und Verbindungen bzw. spezifischer Prozesse der Symbolisierung.132 Unter Symbolisierung wird sowohl die Belebung äußerer Bilder durch einen hineingesehenen inneren Zustand verstanden als auch der Ausdruck eines Inneren in einem äußeren, sichtbaren Bild. In der »Traumsphäre der Dichtung«, ihrer dem »Spiel« der Kinder verwandten zweiten Wirklichkeit ist eine »freie Entfaltung der Bilder« (VI, 98) möglich, jenseits der sonst statthabenden Realitätskontrolle, und darum zeigt sie uns die Formen der Übersetzung eines Erlebnisses in schöpferische Bildung am prägnantesten. Frithjof Rodi hat im Anschluß an Diltheys Rede von der »Metamorphose der Bilder« (VI, 171) von seiner morphologischen Theorie der Einbildungskraft gesprochen und diesbezüglich auf das in der Poetik genannte Goethe-Zitat verwiesen: »Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen schloß« und mir »eine Blume dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie legte sich auseinander, und aus ihrem Innern entfalteten sich wieder neue Blumen aus farbigen, auch wohl grünen Blättern« (VI, 178).133 Das Befreiungspotential, das Dilthey der Kunst im Allgemeinen, der Literatur im Besonderen zuspricht, zeigt sich an diesem Punkt. Während das Individuum im Erleben vielfach bestimmt ist durch äußere Reize, das Milieu, die Zeit, seine Physis etc. veranschaulichen die technischen Verfahrungsweisen der dichterischen Einbildungskraft, inwiefern mit diesen Bestimmungen freiheitlich und schöpferisch umgegangen werden kann. Literatur ist Horizonterweiterung (V, 276) und Übung des Möglichkeitssinns des Menschen, so könnte im Anklang an seinen Zeitgenossen Robert Musil das rezeptionsästhetische, aus dem Genie-Begriff entwickelte credo Diltheys lauten. Die Kunst zeigt die relativen Freiheitsspielräume des Menschen im Umgang mit seiner Umwelt auf und darum ist sie ethisch qualifiziert. Eine der obigen Möglichkeiten zur Nachbearbeitung von Zustandsbildern, die Symbolisierung sollte noch näher beleuchtet werden, denn hierbei handelt es sich um eine durch die Literatur besonders ausgestellte, jedoch erkenntnisanthropologisch grundlegende und relativ früh erworbene Technik des Verste-

132 133

Vgl. VI, 99f., 172ff. Makkreel spricht von Gesetzen der Bildmetamorphose: »(1) das Gesetz der Ausschaltung, (2) das Gesetz der Steigerung und (3) das Gesetz der Ergänzung«, Dilthey, S. 134. F. Rodi, Morphologie und Hermeneutik, S. 62; siehe auch R. A. Makkreel, Dilthey, S. 150ff.

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hens, auf deren Relevanz die vorangehenden Zitate zur Funktion unseres Körperbildes bereits hindeuteten. Es wurde ja darauf hingewiesen, daß der Körper sowohl in die äußere Wahrnehmung als auch in die innere Erfahrung fällt und im Akt der Selbstberührung diese Doppelnatur unseres Körpers auch erlebt werden kann. Durch das eigene psychophysische Erleben ist uns darum eine Verbindung von innen und außen gegeben, die ihrerseits strukturierend für alles weitere Weltverhalten wird. Aus der »Verknüpfung unserer Seelenbewegungen mit unseren Körperbewegungen [entstehen] feste Verbindungen eines Inneren mit einem Äußeren«. Spezifischer noch sind es die »Reflexmechanismen«, durch die sich die Seele »in Miene, Gebärde und Tonverhältnissen« Ausdruck verschafft und »wir dann rückwärts überall ein Inneres in diesem Äußeren lesen können.« (VI, 275) Bei unserem eigenen Körperbild handelt es sich gleichsam um das Original aller Bilder,134 um den Primärprozeß des Bildens und um einen uns gegebenen psychophysischen Blick, mit dem wir nun auch alles andere ansehen und nach der uns eigentümlichen psychophysischen Struktur verstehen: In unserem psychophysischen Wesen ist uns die Beziehung eines Innen und Außen gegeben, und diese übertragen wir überall hin. Wir deuten oder versinnlichen unsere Zustände durch äußere Bilder, und wir beleben oder vergeistigen Außenbilder durch innere Zustände. […] Die kernhafte Idealität des Kunstwerks liegt in dieser Symbolisierung eines ergreifenden inneren Zustandes durch Außenbilder, in dieser Belebung äußerer Wirklichkeit durch einen hineingesehenen inneren Zustand. (VI, 99f.)

Der am eigenen Körper erlebte Zusammenhang eines Innen und Außen bildet einen Ausschnitt des psychischen Strukturzusammenhangs, der zwar nicht in Gänze zur Kenntnis gebracht werden kann, aber doch »stückweise« (V, 276) wie in dem vorliegenden Fall dem Erleben zugänglich ist. Denn wir erleben Kontinuität und Zusammenhang. Und die in uns sich vollziehende leibseelische Verbindung wird zum Paradigma jeglicher Form des erkennenden Weltbezugs bis zu den Kategorien des abstrakten begrifflichen Denkens, etwa der Kausalität. Es handelt sich um die »am meisten kernhafte und zentrale Verbindung, durch welche wir unsere Erfahrungen zu einem Ganzen verknüpfen. Die Art, wie hier Zustand und Bild als Inneres und Äußeres sich verweben, wird nicht erworben, sondern ist in dem psychophysischen Wesen des Menschen angelegt; gleichsam eine Erweiterung oder Projektion des eigenen Lebensbefundes findet hier statt; diese Anlage wird dann durch das Leben entwickelt. Hier liegt der tiefste Grund der Sprache, des Mythos, der Metaphysik, der Begriffe, durch welche wir die Welt konzipieren, ja selbst elementarer Rechtsvorstellungen« (VI, 175f.). 134

Vgl. das Kapitel ›Das Körperbild als Original der inneren Bilder‹, in: F. Fellmann, Symbolischer Pragmatismus, S. 62–67.

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Im Hinblick auf die Poesie veranschaulicht Dilthey die Wirkung der psychophysischen Innen-Außen-Relation zunächst am Sprachmaterial der rhetorischen Stilmittel. An den »Tropen« und ihrer Zweiseitigkeit von Zeichenseele und Zeichenkörper, »›Geist und Kleid‹, Beseelung und Versinnlichung, die Bedeutsamkeit der Gestalt oder Lautfolge und die bildliche Sichtbarkeit für das flüchtige Seelische« zeigt sich der psychophysische Projektionsmechanismus, »so sieht überall ein Künstlerauge«. Er zeigt sich dann allerdings auch am gesamten Kunstwerk, das gleichsam eine dem Menschen analoge psychophysische Struktur aufweist: »Das Symbolbilden, das die Seele des dichterischen Vorgangs ist, erstreckt sich so durch den ganzen Körper der Dichtung bis in die Personifikation und Metapher, die Synekdoche und Metonymie.« (VI, 226f.) Und ganz ähnlich Freuds Lexikon der Traumsymbolik geht auch Dilthey von »gesetzmäßigen Beziehungen zwischen inneren Zuständen und äußeren Bildern«, also von »natürlichen Symbolen« und menschlichen »Grundmythen« aus, bedingt durch die Struktur des ganzen Menschen: »Versteht man unter einem natürlichen Symbol das Bildliche, das in fester, gesetzlicher Beziehung zu einem inneren Zustande steht, so zeigt die vergleichende Betrachtung, daß auf Grund unseres psychophysischen Wesens ein Kreis natürlicher Symbole für Traum und Wahnsinn, wie für Sprache, Mythos und Dichtung besteht.« Bei diesen Bildern handelt es sich nicht mehr um Einkleidungen oder Sprachgewänder, sondern diese Tropen sind eine »natürliche Haut« (VI, 227). Hier wird noch einmal deutlich, warum es sinnvoll ist, nicht von Diltheys Erkenntnistheorie, sondern von seiner Erkenntnisanthropologie zu sprechen. Denn die leibseelische Grundverfassung des Menschen wird an diesem Punkt zum zentralen Merkmal des erkennenden, sprachlichen Erlebens, so daß tatsächlich der ganze Mensch in Erleben, Ausdruck und Verstehen in Rechnung gebracht wird. Und es läßt sich auch noch einmal aufzeigen, warum die Poetik eine ›Modellgeisteswissenschaft‹ ist, erweist sich die symbolisierende Tätigkeit des Menschen, die das Genie in besonderer Klarheit und gesteigerter Intensität vorführt, doch als Eingangstor zu jeglichem Erkennen. In ›Die Einbildungskraft des Dichters‹ datiert Dilthey den Entdeckungszusammenhang dieses psychophysischen Blicks zurück auf die Ästhetik Schillers und Herders, indem der »ästhetische Vorgang« dort als eine »Übersetzung von Erlebnis in Gestalt und von Gestalt in Erlebnis« begriffen wurde, und umfassender auf die durch die Namen Goethe und Schelling ergänzte ästhetisch-philosophische Weltansicht um 1800: »Das ästhetische Vermögen erhebt das in uns erlebte Verhältnis von Innen und Außen zu lebendiger Energie und verbreitet es auch über die dem Denken tote Natur« (VI, 117). Diltheys Poetik macht uns allerdings nicht nur mit dem psychophysischen Blick vertraut, sondern benennt mit dem ›typischen Sehen‹ auch noch einen weiteren erfahrungsstrukturierenden Bestandteil des seelischen Zusammenhangs. Auch dieses von dem Genie in ausgezeichnetem Maße praktizierte Sehen 393

schreibt sich von den oben genannten Transformationsregeln von Bildern her, von dem Prinzip der Steigerung ebenso wie von dem der Ergänzung. Der Dichter bringt einen »Typus« hervor, »der alle Erfahrung überschreitet und durch welchen wir doch die gemeinen Erfahrungen besser begreifen«, die dichterische Einbildungskraft bringt das »Typische, das Idealische« (VI, 92, 101) hervor. Das typische Sehen bewirkt eine Steigerung der Erlebnisintensivität, in der Literatur wird »mächtiger gefühlt« (VI, 172). Dem literarischen Typ kommt weiterhin als Verkörperung eines Allgemeinen eine Ordnungsfunktion zu. »Typisch ist, was in einem singulären Falle ein Allgemeines darstellt.« (VIII, 173) Ein Typus kann das »Regelhafte« einer »ganzen Gruppe ausdrücken« (V, 280). Makkreel faßt zusammen, das »Typische hat« das »Anliegen«, »die Einheit des Mannigfaltigen zu erkennen«, und spricht von Diltheys morphologischem Typusbegriff.135 Damit wird auf den ideengeschichtlichen Hintergrund dieses DiltheyBegriffs aufmerksam gemacht, auf seine Genese aus Goethes Werk, das die Typologie als literarisches und naturwissenschaftliches vergleichendes Verfahren eingeführt hatte (Kap. IV.3.1.2). In ›Über vergleichende Psychologie‹ wird das an der Kunst zu erlernende »typische Sehen« (GS V, 280) bei Dilthey so auch zu einer grundlegenden Technik seiner verstehenden Psychologie. Mit Dilthey wird die Typologie zu einer Methode der verstehenden Wissenschaften. Ihre Entstehung konnten wir zuvor am Zusammenhang von Naturauffassung und Literatur in der Goethezeit und Büchners Schriften beobachten. Dilthey legt die Herkunft seiner Methode aus der Literatur offen, und die Kunst erscheint unter diesem Gesichtspunkt als eine Vorform der Wissenschaft, als ein Erkennen zweiter Ordnung (V, 280; VI, 186). Neben der Steigerung der Gefühlsqualität und der gleichsam wissenschaftlichen Ordnungsfunktion spricht Dilthey der Literatur eine weitere wichtige Rolle zu, jene der Ergänzung unseres Lebens zu einer »Totalität des Erlebnisses« (VI, 177), die in der Wirklichkeit nur in seltenen Momenten zu erzielen ist. Die Funktion der Poesie ist daher zunächst, nur auf das Primäre angesehen, daß sie diese Lebendigkeit in uns erhält, stärkt und wachruft. […] Während wir in unserer wirklichen Existenz zwischen Begehren und Genuß in unruhigem Wechsel sind und das sich ausatmende Glück nur ein seltener Festtag dieser Existenz ist: erscheint der Dichter, bringt uns diese Gesundheit des Lebens, gewährt uns durch seine Gebilde solche lang dauernde Befriedigung, ohne bitteren Nachgeschmack, und lehrt uns, so zu fühlen und so die ganze Welt als Erlebnis zu genießen: in allem diesem der volle, ganze, gesunde Mensch. (VI, 131)

Der Literatur kommt hier wieder die Rolle zu, die sie schon in Herders Ästhetik von unten inne hatte, nämlich vor dem Hintergrund eines kulturdiagnostisch festgehaltenen Verlusts der schönen menschlichen Gestalt die Zeitgenossen wieder in Kontakt mit dieser Utopie vom ganzen Menschen zu bringen. 135

R. A. Makkreel, Dilthey, S. 153, 286.

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Sie ist Erfahrungs- und Schulungsraum für umfassendes Erleben. Ebenfalls in der Tradition der Goethezeit stehend differenziert Dilthey die Ergänzungsleistungen der Kunst gattungspoetologisch aus. Die Erlebnislyrik ermöglicht durch die im Text objektivierte »innere Erfahrung« die »Auffassung des eignen individuellen seelischen Zusammenhangs« als ein innerer Zustand vor dem Hintergrund äußerer Wahrnehmung. Denn das erlebende Selbst ist ja immer ein historisch relatives, situiertes: »Immer ist hier ein Selbst, von Umständen umgeben.« In der autobiographischen Reflexionsliteratur liegt die Betonung hingegen auf stärkeren und ausführlicheren Milieuschilderungen und der historischen Verortung. Dilthey nennt hier die Stoa, Marc Aurel, Augustinus, Schleiermacher, Fichte und Goethe: »Individualität unter ihren Umständen, Individualität sich abhebend von anderen Individualitäten gelangen so zu Auffassung.« (V, 244ff.) Der Literatur um 1800, den Bildungsromanen Goethes und Novalis’ im besonderen, wird in diesem Kontext eine eigentümliche Ausdifferenzierung zugesprochen. Sie brächten »die psycho-physischen Bedingtheiten, unter denen die menschlichen Typen sich ausbilden«, die »Zusammenhänge und Stufen einer Bildungsgeschichte zur breiten Darstellung« (V, 296). Das ist auch Ergebnis der vorliegenden Studie. Abschließend sei darauf aufmerksam gemacht, daß Diltheys Beschreibung der Ergänzungsleistungen von Poesie in bezug auf den ›vollen, ganzen, gesunden Menschen‹ nicht gehaltsästhetisch mißzuverstehen ist. Sie bedeutet kein Plädoyer für eine Ästhetik des Schönen, sondern ist allein eine funktionale, wirkungsästhetische Bestimmung. Eine Erlebnistotalität kann so auch die Pathographie dem Lesenden mitteilen. Daraus erklärt sich auch Diltheys Hochschätzung der Literatur seiner Zeit, des Realismus, die wohl weniger der persönlichen Neigung, denn der methodischen Einsicht entspringt: Dies Wirklichkeitsehen, Sehenwollen wenigstens, dies Streben, ihr all unser Denken, Bilden und Handeln mit reinem Sinne unterzuordnen und ihrem Gesetze die Wünsche und Ideale des Herzens anheimzugeben: das ist in unserem Zeitalter das Größte. […] Heute möchte die Kunst die realen Bezüge, in denen die Menschen untereinander und mit der Natur stehen, die Wirklichkeitsordnung, deren Gesetzen wir untertan sind, im Kunstwerk erblicken lassen. Das gärt in der Verwendung des biologischen Gesetzes der Vererbung, die sich schon bei der Sand findet, in der Bevorzugung der anomalen Seelenzustände und des Seelisch-Komplexen, die bei Balzac und Musset beobachtet werden kann, zumal aber in der Ableitung der Charaktere und Leidenschaften aus den sozialen Bedingungen. Eine ungeheure Aufgabe! (VI, 245)

V.2.5. Reflexbogen und hermeneutischer Zirkel Die markanteste Verbindung von Natur- und Geisteswissenschaften in Diltheys Erkenntnisanthropologie liegt in seiner Engführung des Reflexbogens mit dem hermeneutischen Zirkel vor. Erleben, Ausdruck und Verstehen können so mit 395

Reiz, Verarbeitung und Reaktion gekoppelt werden.136 Wie Matthias Jung schreibt, geht es um die »Einbettung des Sinnverstehens in einen organismisch basierten Mensch-Umwelt-Zusammenhang.«137 Die Dialektik von Teil und Ganzem erweist sich als erstaunlich wandlungsfähige Gedankenfigur der biographischen Erkenntnis. Im traditionellen Sinn kann die verstehende Kreisbewegung zwischen einzelnen Worten und dem Textganzen, zwischen dem Werk und seinem Urheber sowie zwischen dem Werk und einer Gattung oder Epoche vollzogen werden (V, 330). Der Schleiermacher-Biograph Dilthey hat natürlich dessen hermeneutische Typologie im Blick, das psychologische, auf den Autor gerichtete und das grammatische, auf historische Sprach- und Gesellschaftsformationen gehende Verstehen.138 Mit dem hermeneutischen Zirkel lassen sich allerdings nicht nur Texte verstehen, sondern mit dieser Technik kann auch die »Bedeutung des Lebens« als »Einheit von Zusammenhang der Teile und Wert des einzelnen« (V, LXXXIII) begriffen werden. Bei Dilthey vollzieht sich die reflextheoretische Erweiterung des Verstehens in zwei Schritten. Zunächst wird das an Schleiermacher profilierte Konzept des hermeneutischen Zirkels in der ›Breslauer Ausarbeitung‹ ontogenetisch, in der ›Ethik‹ dann phylogenetisch ausgearbeitet. Das Verstehen wandelt sich in diesem Zuge von einer rezipierenden zu einer produktiven Kulturtechnik. ›Kultur‹ selbst ist das Resultat der mit Sinn arbeitenden Handlungspraxis des ganzen Menschen. In der ›Breslauer Ausarbeitung‹ wird der hermeneutische Zirkel gemäß der »psycho-physischen Lebenseinheit« Mensch um eine physiologische Basis erweitert. Die nun als Funktionskreislauf von »Lebenseinheit« und »Außenwelt« beschriebene Wechselwirkung zwischen Teil und Ganzem stellt sich zunächst in ihrer einfachsten, wissenschaftlich durch »das Experiment« gesicherten Form der Reflexphysiologie dar.139 Unter dem »merkwürdigen, wichtigen Phänomen der Reflexbewegungen« seien die »infolge von Reizung sensibler Nerven ohne Vermittlung des Bewußtseins hervortretenden Muskelbewegungen« (XIX, 98) zu verstehen. Die Außenwelt wirkt über das zentripetale Nervensystem qua Reiz auf die Empfindung; andererseits gehen vom zentrifugalen Nervensystem, »sei es von einem psychischen Vorgang angeregt oder ohne einen solchen, Reize aus«, die »teils innerhalb des Organismus Drüsen sekretieren, Vorgänge im

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Vgl. hierzu M. Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 79ff.; P. Krausser, Kritik der endlichen Vernunft, S. 81–84, 97, 178; R. A. Makkreel, Dilthey, S. 380ff. Siehe hierzu auch die etwa zeitgleich entstehende Arbeit von John Dewey, The Reflex Arc Concept in Psychology [1896]. M. Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 80. Ausführlicher zu Schleiermachers Typologie vgl. Kap. V.3.2.4. Mit dem hermeneutischen Zirkel hatte sich Dilthey schon 1860 in seiner Schleiermacher-Preisschrift beschäftigt, vgl. V, LXXVIII, LXXXIf. Bei seiner detaillierten Beschreibung des Reflexbogens stützt sich Dilthey, wie Randbemerkungen verraten, auf Wilhelm Wundts ›Grundzüge der physiologischen Psychologie‹ (2. Aufl. 1880) und auf Henles ›Handbuch der systematischen Anatomie des Menschen‹ (2. Aufl. 1879), vgl. XIX, 101ff., 415.

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Ernährungsprozeß anregen etc., teils Bewegungen der Muskeln hervorrufen, welche dann teilweise die Lage des Organismus zur Außenwelt ändern oder Veränderungen in [der Außenwelt] einleiten. Indem diese Veränderungen wieder percipiert werden, findet in diesem Umsatz eine Art von Kreislauf des psychischen Lebens statt.« Die hier physiologisch nachgezeichnete Wechselwirkung zwischen Individuum und Umwelt läßt sich als Dialektik oder kybernetisch mit Peter Krausser gesprochen als »negative Rückkoppelung« bezeichnen. Denn sowohl die psychosomatische Funktionseinheit Mensch als auch die Umwelt werden in solchen Austauschprozessen verändert. Eine »solche Kreisstruktur handelt, in der jeder neue Durchlauf des Kreises durch den Erfolg des vorhergehenden in gerichteter Weise modifiziert wird.«140 Das physiologische Reflexschema gibt dafür den einfachen Leitfaden ab, dessen Struktur kann jedoch auf die Seele übertragen werden. Denn Körper und Seele gleichen einander funktional: »Diese Gliederung des Nervensystems und seiner Funktionen [entspricht dem] psychischen Leben in seiner Doppelstellung, als Einwirkungen von der Außenwelt empfangend und auf sie [wirkend oder] zurückwirkend.« (XIX, 99) Dadurch kann die Kreisbewegung von Reiz, Verarbeitung und Reaktion auch mit der komplexeren durch die Seele vermittelten von Erleben, Verstehen und Ausdruck assoziiert werden. Eindrücke werden zunächst durch die Gefühle bewertet und dann intellektuell-zeichenhaft weiterverarbeitet bis sie schließlich als Ausdrucksgeschehen wieder auf die Umwelt zurückwirken. Vor dem Hintergrund physiologischer Prozesse wird das hermeneutische Geschehen so handlungspragmatisch reformuliert, da der Ausdruck nun äquivalent zur Handlung erscheint und seine modifizierenden Folgen in der Umwelt berücksichtigt werden. Reflexive und psychische Prozesse sind gerichtet und zielen auf eine »Verminderung der Differenz zwischen dem Ist-Zustand des Systems« und einem »Soll-Zustand desselben«.141 Zu einer solchen Struktur-Beschreibung des physisch-psychischen Geschehens treten dann entwicklungsgeschichtliche Überlegungen hinzu. Die Seele wächst gleichsam aus dem Reflexmechanismus hervor, indem »das Denken« nur »eine Einschaltung zwischen Eindruck und Reaktion« (X, 13) ist. Auch Dilthey nutzt also analog zu Nietzsches großer Vernunft des Leibes die physiologische Begrifflichkeit, um die lange Tradition der alleinigen Hochwertung des Bewußtseins in ihre Schranken zu weisen.142 Im frühkindlichen Stadium wird das Leben noch weitgehend vom Reiz-Reaktions-Schema bestimmt, von einem

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P. Krausser, Kritik der endlichen Vernunft, S. 137. P. Krausser, Kritik der endlichen Vernunft, S. 138. »Wir nennen Reflexbewegungen diejenigen zweckmäßigen Bewegungen, die ohne Mitwirkung eines bewußten Willens stattfinden.« In diesem Kontext leistet er auch seinen Beitrag zu den Lokalisierungstheorien, denn »Sitz der Seele« sei das »Zentralnervensystem« und, da die Nervenbahnen als Leiter aufgefaßt werden, ist »die Seele« darum »im ganzen Körper nur mittelbar wirksam«, XXI, 51ff.

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»einfache[n] [...] Umsatz sensorischer Reize in Aussprache, Mimik, Handlung. [...] Allmählich schaltet sich dann zwischen diesen beiden Abteilungen des Verlaufs der psychischen Handlung ein selbständiger arbeitendes psychisches Leben ein.« Aber auch nach der Zwischenschaltung von »Vorstellungen« und eines »Zentrums« des Bewußtseins bleiben die Formulierungen über dessen Funktion moderat bis bescheiden. Denn durch dieses Zentrum werden unsere Wahrnehmungen und Handlungen »mitbestimmt, ja in vielen Fällen geleitet« (XIX, 103). Die in der ›Breslauer Ausarbeitung‹ der ›Einleitung in die Geisteswissenschaften‹ entwickelte Hermeneutik des ganzen Menschen macht Dilthey in seinen Ethik-Vorlesungen zur Grundlage seiner Natur- und Kulturgeschichte. Es handelt sich um eine Evolutionstheorie des ganzen, ethisch qualifizierten Menschen, der am Ende der Geschichte als Idealbild auftaucht: »Als der Höhepunkt erscheint der Mensch, dessen Innerlichkeit sein Wahrnehmen leitet und formiert und seine Handlungen in jedem Momente beherrscht: der Künstler, der Forscher, der sittlich Mächtige.« (XIX, 104) Sucht man ein Äquivalent zu Nietzsches ins Universalhistorische tendierender Autobiographie ›Ecce homo‹, so ist die ›Ethik‹ das geeignete Werk. Gerade auch in Anbetracht der Rolle, die der Autor seinem Text selbst in einem Brief an Wartenburg zuspricht: »Einmal mußte der große Versuch gemacht werden, ob mir dieser Abschluß meiner systematischen Gedanken gelingen könnte.«143 Der ontogenetischen Zwischenschaltung psychischen Lebens korrespondiert hier phylogenetisch die »Zunahme der psychischen Mitte« in der graduellen Entwicklung vom Tier- zum Menschenreich, vom Natur- zum »Kulturmenschen« (XX, 103). In der ›Ethik‹ bildet das Reflexschema den ›Grundplan des Lebewesens‹: »Eindruck und Reaktion auf denselben, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, das ist das Schema eines Lebewesens. Die von der animalischen Organisation getragenen Triebe werden durch Reize von außen angeregt und treten in Wirksamkeit; vermittels der Reflexmechanismen geben sie zweckmäßige Wirkungen auf die Außenwelt und stellen so die Anpassung zwischen dieser und dem Individuum her.« Die Evolutionsgeschichte hat so einen gerichteten Charakter, der durch Triebdifferenzierung zu einer Höherentwicklung führt. Den Übergang von tierischen zu menschlichen Trieben skizziert Dilthey u.a. entlang von Georg Heinrich Schneiders oben erwähnter Studie ›Der thierische Wille‹. In der allmählichen Ausdifferenzierung körperlicher und seelischer Prozesse bilden sich Freiheitsspielräume heraus. Denn in Abgrenzung vom nach Gesetzen wirksamen Naturgeschehen kennt das »Zusammenwirken von Empfindungen, Trieben, Gefühlen« keine starren Wirkungsbedingungen, sondern es ist historisch veränderlich. »Vergangenheit und Zukunft« (X, 52) bilden gegen143

Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877– 1897, S. 90.

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über den räumlich aufgefaßten Naturgesetzen die Möglichkeitsdimensionen des Menschen. Das Telos der Entwicklungsgeschichte ist die Selbständigkeit des Menschen: »Das Kind, der Naturmensch waren dem Spiel der Eindrücke preisgegeben; der entwickelte Kulturmensch ist frei. […] Die Entwicklung des Einzelnen wie der Fortgang der Kultur geht zur Freiheit.« (XIX, 105) Diltheys ›Ethik‹ schreitet ausgehend von den Trieben über eine Milieutheorie zur Gesellschaftstheorie und schließlich zur Moral fort.144 Historische Entwicklung wird in funktionalen Kreisbewegungen beschrieben, wobei Begriffe wie »Gefühls- und Triebkreise« (X, 52), in anderen Texten auch »Qualitätenkreis« der Sinne und »Erlebniskreise« (I, 10; VI, 310) Anwendung finden. In § 10 der ›Ethik‹ mündet die Argumentation in ein Konzept von Kultur und Kulturgeschichte, in deren Zentrum tatsächlich der ganze Mensch als erfahrungswissenschaftliches Datum und als Utopie zugleich steht. Der Paragraph rekapituliert noch einmal den Gang der Überlegungen vom einfachsten Grundplan des Lebens über die »beständige Anpassung der vitalen Lebenseinheit an ihr Milieu« und ihrer »Herstellung von vollem Leben« in »Befriedigung im Trieb- und Gefühlssystem« bis zur größeren per analogiam aufzufassenden Einheit einer Kultur: Dieser Zusammenhang findet nun auch im großen in der Gesellschaft einer Epoche statt. Man ist immer gewohnt, die Art, wie ein Zeitalter denkt, lebt, handelt, als Kultur zu bezeichnen. Von diesen Einsichten aus können wir nun den Begriff der Kultur besser definieren. Sie ist derselbe innere Zusammenhang, dieselbe konkrete Einheit, wie sie in der Person vorkommt. Ich nenne also diese konkrete Einheit, wie sie zugleich in Individuum und Gesellschaft einer Zeit auftritt, deren Kultur. Das Merkmal der Kultur ist sonach, die lebendige Einheit der Person zu sein. Die Kultur einer Zeit kann als die Weise angesehen werden, wie dieser Strukturzusammenhang Organe des Genießens, Wirkens, Schaffens sich gibt. (X, 105)

Damit ist ein methodisches Verständnis von Kultur und Kulturgeschichte formuliert, dem sich auch die historisch-systematische Argumentation dieser Studie zugehörig fühlt. Und Diltheys »Ethik als Erfahrungswissenschaft« (X, 11) macht darauf aufmerksam, daß sich in diesen Zusammenhängen Ethik als »lebendige Erfahrung« ereignet, die wir nicht »in abstracto ausdrücken können«, die trotzdem »nicht überempirisch, aber dem Wert und der Bedeutung nach ein Metaphysisches ist«.145 Sedimentiert hat sich die ästhetische und ethische Qualität des Zusammenhängens – etwa von Körper und Seele oder von Indi144

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»Hauptsatz: Die Evolution der Gesellschaft vollzieht sich in der Wechselwirkung der individuellen Kräfte inmitten eines Milieus. […] Die Evolution des moralischen Lebens vollzieht sich aber nur auf der Grundlage der sozialen Evolution überhaupt.« X, 88. Bei der sittlichen Entwicklung berücksichtigt Dilthey dann ebenso wie Nietzsche und Freud die modernen ethnologischen Arbeiten: »Der primitive Verband ist nach den modernen Forschungen nicht die Familie, sondern die Horde, der Stamm.« X, 93. Dilthey an Graf Yorck, Januar 1890, in: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897, S. 92.

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viduum und Gesellschaft – in kulturellen Objektivationen, denen im verstehenden Nachvollzug sowohl ihres eigenen Strukturzusammenhangs als auch ihres intertextuellen oder diskursiven Zusammenhängens mit anderen Objektivationen diese ihre Qualitäten abgelesen werden können. Kulturgeschichte ist so programmatisch auch Ästhetik- und Ethikgeschichte. In Diltheys ›Ethik‹ kommen der Literatur zwei Funktionen zu: Sie ist Realpsychologie, an ihr dokumentieren sich psychische Gesetze und insofern ist sie Material und Beweis dieser Erfahrungswissenschaft. Sie gehört aber auch zu den »sittlichen Systemen«146 und insofern ist sie Material und Beweis einer Ethik. Diese zwei Gesichter der Literatur waren auch in dieser Studie durch die Pathographien zum einen, die psychisch-ästhetischen Kurmethoden zum anderen Gegenstand. Und noch eine dritte Funktion wäre ergänzend zu nennen: eine kritische Metareflexion kultureller Objektivationen, wie sie besonders prägnant an Georg Büchners Ausstellung wissenschaftlicher und literarischer Urteilsstrukturen im ›Woyzeck‹ anschaulich wurde. Die Literatur träte so in Konkurrenz zu Diltheys verstehender Psychologie auf ihrer oben erwähnten vierten Stufe des Erkennens, die die disziplinäre Scheidung von Natur- und Geisteswissenschaften kritisch begleitet. Wilhelm Diltheys Auffassung des Lebens als ein Ineinander spiralenförmig sich höher entwickelnder Funktionskreisläufe stellt das theoretische Rüstzeug bereit, mit dem die Psychosomatik als medizinische Fachdisziplin im 20. Jahrhundert arbeiten wird. Seine verstehende Psychologie hat mit Begriffen wie Strukturzusammenhang des Seelenlebens, in ihrem funktionalen Verständnis des ganzen Menschen und in ihrer methodischen Differenzierung von Wissensformationen erster und zweiter Ordnung einen systemtheoretischen Ansatz für die Erfassung psychosomatischer Zusammenhänge geliefert. Im Unterschied zu anderen Systemtheorien bestimmt Diltheys jedoch die Perspektive der ersten Person und das Sinnverstehen als nucleus ihrer Methode. Durch das Ausgehen vom Erleben berücksichtigt seine Psychologie konsequent die Teilnehmerperspektive, und sie hat durch die reflexive Erweiterung des hermeneutischen Zirkels intersubjektives Verstehen sowohl als eine produktive kulturschaffende wie auch als eine rezeptive, immer auf die Vermittlung von Objektivationen (Ausdruck) angewiesene Technik ausgestellt. Der bislang unbekanntere Erkenntnisanthropologe

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Dilthey an Graf Yorck, Januar 1890, in: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897, S. 91. Vgl. ebd.: »Nun entwerfe ich ein Bild vom Haushalt des Seelenlebens und der Stellung des Systems von Trieben und Gefühlen in ihm. Der Mensch ist im Kern ein Bündel von Trieben. Dieses Bündel trenne ich aus einander. Ich zeige, wie nun nach den psychischen Gesetzen, wie ich sie entwickle (s. Poetik), Züge des Willens als eines Lebens höheren Grades entstehen«. Die Metaphorik vom Haushalt des Seelenlebens dürfte nicht von ungefähr an den Realpsychologen Novalis und sein Märchen von ›Eros und Fabel‹ erinnern.

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Dilthey bietet auch heute für die Lebens- und Kulturwissenschaften ein weitgehend noch ungenutztes methodisches Potential, gerade weil er darauf dringt, das Leben in seinen Übergängen von Natur und Kultur zu erfassen und kulturelle Objektivationen als besonders sprechende Zugänge zum Leben ausweist. V.2.6. Jaspers’ ›Nietzsche‹ Der Fragmentcharakter von Diltheys Werk und die späte Publikation des eigentlichen Kerns seines Denkens, der Erkenntnisanthropologie und Ethik, hat dazu geführt, daß er vor allen Dingen als Anwalt der Geisteswissenschaften wahrgenommen wurde und die nachfolgende Erklären/Verstehen-Debatte mit seinem Namen verbunden bleibt. Matthias Jung merkt an: »So ist dann in der Rezeption Dilthey merkwürdigerweise zum Kronzeugen eines starren Methodendualismus von hermeneutischem Verstehen und kausalem Erklären geworden, obwohl er die enge Bezogenheit beider Ansätze herausgestellt hat.«147 Karl Jaspers Psychiatrie und Philosophie zeigt diese einseitige Dilthey-Rezeption.148 Gerade seine Studie ›Nietzsche‹ (1936) profiliert sich vor dem Hintergrund der Erklären/Verstehen-Debatte und läßt dementsprechend Nietzsches ›große Vernunft des Leibes‹ wie auch den Körper des Philosophen weitgehend unberücksichtigt. Mit Karl Jaspers’ Studie kommt Nietzsches am ›Ecce homo‹ veranschaulichte existentielle Hermeneutik in der Existenzphilosophie an. Nietzsche als Wegbereiter der Existenzphilosophie,149 dieser Sachverhalt läßt sich insbesondere an Jaspers Aufnahme von Nietzsches hermeneutischen Überlegungen herausarbeiten.150 Jaspers’ ›Nietzsche‹ erfüllt in dieser Studie damit ein zweiseitiges Interesse: Als jüngster Text schließt er den Fall Nietzsche ab, methodisch

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M. Jung, Hermeneutik zur Einführung, S. 85. Rodi und Lessing halten fest, Diltheys verstehende Psychologie aus »die Ideen und die Abhandlung von 1895 wurden als Entwürfe einer neuen, beschreibend-zergliedernden Psychologie rezipiert und in der Folge von Spranger, Jaspers und anderen zur ›geisteswissenschaftlichen Psychologie‹ ausgebildet, wobei der Kontext, für den diese Abhandlungen jeweils konzipiert waren, aus dem Blick geriet.« F. Rodi und H.-U. Lessing, Einleitung, S. 8. Dietrich von Engelhardt faßt dann die methodische Ausrichtung von Jaspers’ ›Allgemeiner Psychopathologie‹ (1913) dahingehend zusammen: »Grundsätzliche Bedeutung soll für die Psychiatrie wie allgemein die Medizin der Methodendualismus von Erklären und Verstehen besitzen: Erklären als Methode der Naturwissenschaften, Verstehen – in der Tradition von Vico, Schleiermacher und Dilthey – als Methode der Geisteswissenschaften. [...] Jaspers unterscheidet statisches Verstehen, genetisches Verstehen, ideelles Verstehen, existentielles Verstehen und metaphysisches Verstehen.« D. von Engelhardt, Neurose und Psychose in der Medizin um 1900, S. 221. Siehe auch W. Schüßler, Jaspers zur Einführung, S. 15. Siehe hierzu: L. Giesz, Nietzsche; T. Seibert, Existenzphilosophie, S. 49–70, und die entsprechenden Abschnitte zur Nietzsche-Rezeption in Hans Martin Gerlachs Artikel ›Philosophie‹ in: Nietzsche-Handbuch. Hrsg. von Henning Ottmann, S. 489–499. Einen Forschungsüberblick über die hermeneutische Nietzsche-Rezeption gibt J. N. Hofmann, Hermeneutik nach Nietzsche, siehe im weiteren: J. Figl, Nietzsche und die philosophische Hermeneutik des 20. Jahrhunderts.

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vermittelt er zwischen Diltheys und Nietzsches Formen der biographischen Erkenntnis und überführt diese in eine eigenständige existenzphilosophische Variante. Auch Karl Jaspers gehört so zum Diskurs der Psychosomatik.151 In Karl Jaspers’ Monographie erhält Nietzsche den seiner eigenen Stilisierung gemäßen Status einer »Existenz der Ausnahme«.152 Nietzsche ist Jaspers zufolge ein Vorbild, dem man nicht nachfolgen kann, sondern »Philosophieren mit Nietzsche bedeutet ein ständiges sich gegen ihn behaupten.« (410) Der Psychiater und Philosoph ist an Nietzsches Psychologie und Typologie nur in geringem Maße interessiert, vielmehr dient sie ihm als Negativfolie, um sein existenzphilosophisches Menschenbild zu profilieren, das in seinen letzten Schritten über Nietzsche hinausgehen muß. Wird bei Nietzsche selbst die psychologische Beobachtung in den Prozeß der Selbstwerdung als Vergangenheitsbewältigung eingebunden, so grenzt Jaspers Psychologie und Existenzphilosophie als zwei verschiedene Erkenntnismethoden voneinander ab. Und er tut dies in der sich an Dilthey anschließenden Begrifflichkeit der Erklären/Verstehen-Debatte zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften. Die Existenzphilosophie rückt dabei in engste Nachbarschaft nicht zur »empirisch kausal forschenden, sondern [zur] verstehenden und soziologisch-historischen Psychologie« (27). Wird »psychologisch erklärt«, so ist diese »Methode [...] mehr herabsetzend als eigentlich verstehend«, dem steht ein »existenzerhellende[r], aus Liebe kommende[r] Blick für die Substanz des Gedachten« (5f.) gegenüber. Die Psychologie ist auf das empirische Dasein gerichtet, die Existenzphilosophie auf die Möglichkeit, das Werden der menschlichen Existenz. Die eine bringt ein an Regeln orientiertes, partielles und relatives Wissen hervor,153 das »technische«, etwa »diätetische, Daseinshilfe« (336) bieten kann, während die andere ein forderndes, an die menschliche »Freiheit appellierendes Denken« (107) darstellt. In einem Fall herrscht das betrachtende Urteilen vor, im anderen Fall vollzieht sich ein »inneres Handeln«, eine »existentielle Entscheidung« (117, 166). Jaspers würdigt Nietzsche zwar als Begründer der Psychologie im Sinne einer »Selbsterklärung« des Menschen »unter dem Schema der Triebpsychologie« (117), kritisiert jedoch seine popularisierende Rezeption in einer Entlarvungspsychologie. Nietzsche selbst wirft er die unsaubere Trennung dieser beiden Erkenntnismethoden zuungunsten der existenzphilosophischen Fassung des Menschen vor und die widersprüchliche, weil allein auf immanente Transzendenz angelegte

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Siehe hierzu auch E. L. Margetts, Historical Notes on Psychosomatic Medicine, S. 52f., der dies im Hinblick auf Jaspers’ ›Psychologie der Weltanschauungen‹ herausstellt. K. Jaspers, Nietzsche, S. 70. Im folgenden wird aus diesem Text unter Nennung der Seitenzahl zitiert. Vom »Ausnahme-Mensch« spricht Nietzsche im ›Ecce homo‹, KSA 6, 370. Bei den weiteren Überlegungen handelt es sich um Auszüge aus meinem Beitrag: Eine Philosophie auf ›Personal-Acten‹ beruhend. Vgl. S. 107, 111, 136, 271, 383.

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Ausformulierung der Bewegung der Selbstwerdung.154 Leere Transzendenz und »nicht sprechende Symbole« (384) wie der Übermensch, der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr, lautet das Verdikt. An dieser Profilierung von Psychologie und Existenzphilosophie im Kontext Nietzsches wird erkennbar, worin Nietzsche zum Wegbereiter der Existenzphilosophie werden konnte. Vor allem darin, daß Philosophie wesentlich als Praxis, als Lebensvollzug verstanden wird. Durch die methodische Differenzierung von Verstehen und Erklären wird die psychophysische Einheit des Menschen in ein Subjekt/Objekt der Geisteswissenschaften und ein Objekt der Naturwissenschaften zerteilt. Insofern Jaspers die »biologischen (d.h. im Prinzip naturwissenschaftlich erkennbaren) Faktoren« (79) diskutiert, die Nietzsches Philosophie insbesondere nach 1880 beeinflussen, sind seine Überlegungen gänzlich dieser Unterscheidung verpflichtet. Er hält solche biologischen Faktoren für unabweisbar, die er etwa in brieflichen Selbstäußerungen Nietzsches über Rausch- und heftige Gefühlszustände erkennt, sie seien jedoch auf Grund der Quellenlage und dem Entwicklungsstand der Psychiatrie nicht eindeutig als Vorstadien der 1888 ausbrechenden organischen Hirnerkrankung, der Paralyse, zu diagnostizieren. Die Krankheit wird als »vorzeitiger Abbruch« (90) von Nietzsches Werk gewertet. Deutlich vernehmbar spricht im Unterkapitel ›Krankheit‹ von ›Nietzsches Leben‹ nicht der Existenzphilosoph, sondern der Psychiater Jaspers. Dementsprechend findet Nietzsches leibgebundenes Denken bei Jaspers kaum Resonanz. Vielmehr wird es einer deutlichen Kritik unterzogen. Seine diätetischen und medizinischen Selbstversuche werden als »Tribut an medizinische Illusionen« (93) verbucht. Nietzsches naturwissenschaftliche Studien der späten Jahre seien wenig fundiert und führten in seinen Schriften allenfalls zu einem »biologischen Sprechen«, das sich als »vermeintliche Einsicht« (277) verkappt. Die Überlegungen zum Leitfaden des Leibes und zur Physiologie blieben bloße methodische Forderungen; die anvisierte leibseelische Einheit des Menschen sei eine wenig originelle Wiederaufnahme des Parallelismus-Gedankens. Letzteres bezieht sich auf Nietzsches Umwertung des Leibes zum Selbst und zur »grossen Vernunft«, gegenüber der »kleinen Vernunft« (KSA 4, 39) des Geistes. Einzig ein Philosophem Nietzsches bleibt von dieser Generalabrechnung ausgenommen: die Dialektik der großen Gesundheit. Allerdings wird sie im Kapitel über ›Nietzsches Leben‹ verhandelt und damit an den Rand des Werkes gedrängt. »Es ist also bei Nietzsche in seiner existentiellen Deutung eine Idee der Gesundheit maßgebend, welche nicht biologisch und medizinisch begründet ist, sondern auf den Wert des Menschen im Ganzen seines existentiellen Ranges geht.« Die große Gesundheit wird zu einer Form der Selbstüberwindung

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Vgl. S. 271, 383. Den »transzendenzbezogenen Existenzbegriff« Jaspers’ weist Braun als »Grunddifferenz« zu Nietzsche aus, H.-J. Braun, Karl Jaspers’ Beziehung zu Nietzsche im Blickfeld der Destruktion des Christentums, S. 381.

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und damit zu dem, was er später Existenzerhellung nennt. Nietzsches Deutung der Krankheit als Akteur seines Lebens ist Jaspers zufolge jedoch nur in einem übertragenen Sinne zu verstehen. »Es wird ein existentieller Sinn in der Sinnfremdheit bloßen Naturgeschehens gedacht«, aber keine Kausalität postuliert. Andernfalls handle es sich um eine »magische, abergläubische Vorstellung«. Das skandalon von Nietzsches Aufwertung des Leibes, nämlich dem Organischen Intentionalität zuzusprechen, kommt in Jaspers’ Entschärfung des Gedankens nur um so deutlicher zu Tage. Er nimmt seinerseits eine begriffliche Umwertung vor, wenn er, was bei Nietzsche Leib oder Selbst heißt, nun mit dem Begriff ›Existenz‹ bedenkt: Sie ist das »Dritte«, die »den Geist und den Körper tragende und beherrschende Existenz« (95f.). In weiteren Definitionen von Existenz155 taucht der Körper jedoch nicht wieder auf, so daß diese Umwertung eigentlich eine Rückwertung bedeutet. Die Existenz von Jaspers’ Existenzphilosophie wird mit Freiheit, Entscheidung, innerer Handlung assoziiert und in ihrem Transzendenzbezug qualifiziert, eine Eigenlogik des Leiblichen kennt sie nicht. Dies ist ein charakteristischer Zug der existenzialistischen NietzscheRezeption, und kann darüber hinaus als symptomatisch für den Existentialismus insgesamt gelesen werden. Denn was »von Nietzsche dargestellt wird, ist die Möglichkeit einer Daseinserfahrung über ein bloßes ›Sein zum Tode‹ hinaus durch die Entdeckung von [...] leiblichen Prinzipien.«156 Die Einheit von Leben und Erkennen, der praktische Impetus von Nietzsches Denken ist es, der ihn für Jaspers zum Wegbereiter der Existenzphilosophie werden läßt. In den vorangehenden Ausführungen zu Jaspers’ Abgrenzung von erklärender Psychologie und Existenzphilosophie als einem ›inneren Handeln‹ war dies bereits angeklungen. »Nietzsche ist [...] durch die Ganzheit seines Lebens und Denkens ein Ereignis.« (333) So lautet die Prämisse von Jaspers’ Nietzsche-Monographie. Ein Ereignis, das es verstehend nachzuvollziehen gilt. Seine Methode, um die »Einheit von Leben und Denken« in Nietzsches Werk anschaulich zu machen, verfährt darum zweigleisig: Zum einen will die Studie systematisch seine Gedanken als »notwendige Denkzusammenhänge« aufzeigen, zum anderen diese Gedanken biographisch »in ihrer zeitlichen Gestalt als das Ganze eines Lebens« (10f.) verorten. Dementsprechend teilt sich die Monographie in drei Teile: ›Nietzsches Leben‹, ›Nietzsches Grundgedanken‹, ›Die Denkweise Nietzsches im Ganzen seiner Existenz‹. In diesen Kapiteln sind es vor allem zwei Begriffe, an denen Jaspers den Vollzugscharakter von Nietzsches Philosophie festmacht: Existenzerhellung und reale Dialektik. Mit dem ersten Begriff wird der Zielpunkt von Nietzsches 155

156

»Existenz ist das Selbstsein, das ich allein dadurch bin, daß ich in der Welt bin, mit den Sachen zu tun habe und in dem Ganzen lebe.« S. 337. In der ›Psychologie der Weltanschauungen‹ wird »Existenz« mit dem »Leben der gegenwärtigen Individualität«, mit »Selbstreflexion«, dem »Ich«, der »Dialektik alles subjektiven Daseins« und dem »seelischen Leben« gekoppelt, S. 13. S. Grätzel, Die philosophische Entdeckung des Leibes, S. 212.

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Denken benannt, der zugleich auch der Zielpunkt der Existenzphilosophie ist, mit dem zweiten Begriff Nietzsches Methodik. Existenzerhellung meint ein appellatives, forderndes Denken: »Existenzerhellung erkennt nicht die Existenz, sondern appelliert an ihre Möglichkeiten.«157 Ein solches appellatives Denken erkennt Jaspers z.B. in Nietzsches Moralkritik, die nicht einfach auf die Zerstörung der bestehenden Moral oder auf die Setzung neuer Werte abzielt, sondern »die mögliche Existenz des Menschen zu erreichen sucht durch indirekte Erhellungen der von ihm erschauten Weisen existentieller Verwirklichung.« Er konkretisiert Nietzsches Appell in vier Stichpunkten: »1. Gegen das Allgemeine für das Individuum«, »2. Unschuld des Werdens« (127), »3. Schaffen: Schaffen ist die höchste Forderung, das eigentliche Sein« (129), »4. Der sich selbst hervorbringende Mensch« (132). Für eine Philosophie der Existenzerhellung ist also der Möglichkeitssinn charakteristisch, darüber hinaus aber auch die Form der indirekten Mitteilung. Die Metapher der Erhellung weist bereits darauf hin, daß es sich hier nicht um eine begriffliche Erkenntnis handelt, sondern um ein Erlebnis, das sprachlich nur indirekt, durch »signa« vermittelt werden kann. »Es ergeben sich in der Existenzerhellung notwendige Ausdrucksweisen, die in ihrer Paradoxie die Wahrheit der Existenz indirekt – wie es allein möglich ist – treffen.«158 Zu solchen signa Nietzsches rechnet Jaspers die Formeln: Schaffen, Leben und Wille zur Macht (130). Sie haben keinen erkennenden Charakter, denn sie beziehen sich eben nicht auf Wirkliches, sondern sie haben allein hinweisenden Charakter, da sie auf Mögliches deuten. Und in ihnen drückt sich die Begrenztheit des menschlichen begrifflichen Denkens aus. Nietzsches Stil ist für Jaspers darum von besonderem Interesse und gehört für ihn wesentlich zu seinem Werk. Neben den angeführten signa ist es vor allem die Figur des »gehaltvollen«159 bzw. »sprechende[n] Zirkels« bei Nietzsche, die für ihn zum »indirekten Zeiger« (291, 165) der Existenzerhellung wird. Im Gegensatz zu einem leeren liegt ein gehaltvoller, sprechender Zirkel dann vor, wenn das »verstandesmäßig Unzugängliche« in Erscheinung einer »logischen Unmöglichkeit oder Unlösbarkeit auftritt, worin das Gesagte als vermeintliche Erkenntnis einer bestimmten Sache sich wieder aufhebt.«160 Ein solcher Zirkel ist »nicht ein Zeichen schlechten Denkens, sondern von Wahrhaftigkeit.« (8) Das Denken der Existenz impliziert notwendig »formallogische Schwierigkeiten der Selbstbezüglichkeit«,161 da hier Erkennendes und Erkanntes in eins fallen. Die notwendigen Denkparadoxa gehören somit zu den Ausdrucksformen einer negativen Ästhetik. Solche gehaltvollen Zirkel entfaltet Jaspers in bezug auf Nietzsches Moralkritik (124ff.), 157 158 159 160 161

K. K. K. K. K.

Jaspers, Jaspers, Jaspers, Jaspers, Jaspers,

Vernunft Vernunft Vernunft Vernunft Vernunft

und und und und und

Existenz, Existenz, Existenz, Existenz, Existenz,

S. S. S. S. S.

52f. 14, 92. 91. 90. 90.

405

sein Verständnis der Wahrheit als Schein und als Werden (164f.) und seinen Perspektivismus (290ff.). Die Theorien werden so zu »Symptomen« oder »Ausdrucksmitteln« eines rational sich Entziehenden. »Die Theorie ist nicht Theorie eines so bestehenden Sachverhalts, sondern philosophisches Ausdrucksmittel, und zwar erstens für den existentiellen Appell an wesentliche Wahrheit als getragen von wesentlichem Leben, zweitens für die Möglichkeit eines das Leben transzendierenden Innewerdens des Seins.« (164f.) Existenzerhellung ist darum immer eine Form von Selbstverstehen bzw. ist das Selbstverstehen eine Form des erhellenden Existenzvollzugs: Wenn Existenz sich versteht, so ist das nicht wie das Verstehen eines Anderen, auch nicht ein Verstehen, das vom Verstehenden losgelöst noch Verständnis eines Gehalts bedeuten könnte, auch nicht ein Zusehen, sondern es ist der im Erhellen erst selbst werdende Ursprung. Es ist nicht wie das Teilnehmen an einem Anderen, sondern in eins das Verstehen und das Sein des Verstandenen.162

In der Nietzsche-Monographie ist das Kapitel, das sich mit der Frage beschäftigt ›Wie Nietzsche sein Denken und sich selbst versteht‹, ans Ende gesetzt. Jaspers sieht hier gleichsam Nietzsches Existenzerhellung zu. Er tut dies, indem er deren Methodik herausstellt. Die Wandlungen von Nietzsches Denken werden als methodisches Selbstexperiment beschrieben, in dem das Leben zum Instrument der Erkenntnis gemacht wird. Als »reale Dialektik«163 bezeichnet Jaspers nicht nur Nietzsches Perspektivismus oder seine Pluralisierung des Subjekts, sondern vor allem jenen Sachverhalt, daß er diese Erkenntnisformen realiter durchlebt habe: So »muß Nietzsche, wovon er spricht, auch selbst sein« (343). In diesen Experimenten vollziehe Nietzsche eine innere Handlung, eine Entscheidung: »sein Experimentieren [ist] die Weise seines geschichtlich existenten Entscheidens. In dem Selbstverständnis seines denkenden Lebens als Versuchen erreicht Nietzsche die ihm eigene Einheit von Leben und Erkennen.« (342) Daß Nietzsches spezifischer »Weg zum ganzen Menschsein« ein gefahrvoller ist, ein ständiges, scheinbar zielloses »Sichselberkreuzigen« (339, 346) bedeutet, betont Jaspers. Jedoch sieht er die Existenzerhellung des Ausnahmemenschen Nietzsche sich gerade in dieser realen Dialektik »im Horizont des Unendlichen« (347) vollziehen. Walter Kaufmann hat gerade in der propagierten Einheit von Leben und Erkennen Nietzsche als Vorboten des Existentialismus identifiziert,164 zu Recht

162 163

164

K. Jaspers, Vernunft und Existenz, S. 44. »Dieses, daß Nietzsche nicht nach überlieferter Methode in schneller Übersicht dialektisch denkt, sondern mit seinem ganzen Wesen lebendig die Positionen durchschreiten muß, nennen wir reale Dialektik. In ihr werden die Gegensätze und Widersprüche [...] unter einer existentiell offenen Synthesis vollzogen«, S. 346. Walter Kaufmann faßt den gedanklichen und stilistischen Zusammenhang von Nietzsches Selbstexperimenten unter »Nietzsches Existenzialismus«, W. Kaufmann, Nietzsche, S. 106. Thomas Seibert spricht von Nietzsches »existenzphilosophischem Denken des Werdens des

406

wie sich an Jaspers’ Nietzsche-Lektüre zeigt. Im weiteren findet Nietzsches existentielle Hermeneutik und seine Hermeneutik des Daseins bei Jaspers prominente Anerkennung in Formulierungen, die heute fast postmodern anmuten: »in der Theorie des Auslegens [ist] alles Dasein auslegendes und ausgelegtes Dasein, ist der zu lesende Text außer mir und in mir, ja bin ich selbst nur der Text, den ich lesen kann« (259).165 Aus diesem Verständnis resultiert auch der Akzent auf Nietzsches Mitteilungsformen. Mit Begriffen wie indirekte Mitteilung, signa und sprechender Zirkel entwickelt Jaspers in der NietzscheRezeption eine negative Ästhetik, die er auch als angemessene Redeweise der Existenzphilosophie ansieht. Über die Existenz läßt sich nämlich nur zeigend sprechen, diese Einsicht grenzt sie nach Jaspers vom Existentialismus ab.166 Nietzsches existentielle Hermeneutik ist zwar um das Moment des Leibes verkürzt, das ›Wie man wird, was man ist‹ löst sich existenzphilosophisch so in ein »Hervorbringen dessen« auf, »was ich schon bin im Sinne existentieller Möglichkeit« (133). Jedoch ist im Verständnis der Existenzerhellung als vollständiger Existenzumwandlung der Charakter der Selbstschöpfung erhalten geblieben. Mit ihren asketischen Schreib- und Lektürestrategien befindet sich die Existenzphilosophie Karl Jaspers’ in der Nachfolge Nietzsches. Das gilt vor allem auch für die eigene Nietzsche-Lektüre: »Die Aufgabe ist, selbst zu werden in der Aneignung Nietzsches.« (21)

V.3.

Psychoanalyse: Andreas-Salomé, Freud

V.3.1. Andreas-Salomés ›Nietzsche in seinen Werken‹ Lou Andreas-Salomé ist für Nietzsche das ›Geschwistergehirn‹ in Sachen einer auf Personal-Akten beruhenden Philosophie. Mit ihrer Monographie ›Friedrich Nietzsche in seinen Werken‹ liefert sie eine kongeniale Weiterentwicklung seiner existentiellen Hermeneutik. Unter ihrer Feder verwandelt sich der Fall Nietzsche in eine religionspsychologische Studie, die in wichtigen Zügen bereits die Psychoanalyse Freuds vorzeichnet, der sich die Autorin dann 1912/13 zuwen-

165

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Selbstes«, Existenzphilosophie, S. 58. Siehe auch: »Die Philosophie Nietzsches ist ›existenziell‹ in einem zweifachen Sinne: ihr Gegenstand ist der als mögliche Existenz begriffene Mensch; die Philosophie Nietzsches ist aber als sein Philosophieren gleichzeitig Ausdruck seines eigenen Selbstverständnisses und als ›Existenzmitteilung‹ (Kierkegaard) möglicher Spiegel des als Existenz aufgerufenen Lesers«, L. Giesz, Nietzsche, S. IXf. Siehe insbesondere die Unterkapitel ›Der sich selbst hervorbringende Mensch‹, S. 132f., und ›Die Welt ist Ausgelegtsein‹, S. 256–261. Nach Hofmann liegt Jaspers’ Verdienst darin, »daß er den Interpretationsgedanken bei Nietzsche zum gedanklichen Prinzip erklärt.« J. N. Hofmann, Hermeneutik nach Nietzsche, S. 268. Auf die Nähe von Jaspers’ und Derridas Nietzsche-Lektüren hat bereits Ernst Behler aufmerksam gemacht in: Derrida – Nietzsche, S. 88. Vgl. S. 298f., und K. Jaspers, Vernunft und Existenz, S. 52f.

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den wird.167 Die Nietzsche-Monographie ist 1894, also ein Jahr vor Josef Breuers und Sigmund Freuds ›Studien über Hysterie‹ erschienen, dem Gründungsdokument der Psychoanalyse. Dieser zeitlichen Koinzidenz gesellt sich eine inhaltliche hinzu: Friedrich Nietzsche erscheint in ihrem Text als männliches Pendant zu den Hysterikerinnen Breuers und Freuds. Daß er diesen auch in der Realität nicht allzu ferne war, davon wird mit der Episode Lipiner noch zu sprechen sein (Kap. V.3.2). Salomés Nietzsche-Studie weist nicht nur auf ihre eigene spätere psychoanalytische Tätigkeit und die religionspsychologischen Arbeiten Freuds voraus, sondern sie kann auch als frühes Zeugnis des Inputs Nietzscheanischer Psychologica und Typologien in den psychoanalytischen Diskurs gelesen werden.168 Mit der als »religionspsychologischen Studie«169 bezeichneten Monographie ›Friedrich Nietzsche in seinen Werken‹ schöpft Lou Andreas-Salomé das methodische Potential der im vorangehenden gezeichneten Typologie Nietzsches aus. Sie verfolgt den »religiösen Grundtrieb«, »der sein Wesen und Erkennen stets beherrschte«, von der »Emotion über den Tod Gottes«, die Nietzsche mit dem tollen Menschen in ›Menschliches, Allzumenschliches‹ gestaltete, bis zu den im Spätwerk zu findenden »verschiedensten Formen der Selbstvergottung« (178, 65). Und gerade in dieser religiösen Dialektik wird ihr jener – mit Nietzsche gegen Nietzsche gelesen – zum großen Zeitgemäßen, zum »Philosophen unserer Zeit«, zur »typischen Gestalt« (68) der Moderne. Nietzsches Pathographie hat so »psychologisch etwas geradezu Typisches« (288). Lou Salomé folgt Nietzsches ganzheitlichem Philosophieren. Es finden sich Überlegungen zur Physiognomie, zu den von Nietzsche selbst besonders geschätzten Organen, Hände und Ohren (37f., 160), zum »Werth des Leidens für die Erkenntniß« und über den Zusammenhang von Krankheitszyklus und Werkphasen. Allerdings sind hier die Vorzeichen hin zum Psychologischen und somit auch zum Psychosomatischen verschoben, denn »sein physisches Leiden [...] symbolisierte etwas Tiefinnerliches«. Seine Krankheiten sind ein »Erkranken an Gedanken« (42ff.), und Salomé schildert Nietzsches Drang zur Verkörperung von Gedanken – ein Vorgang der in der Psychologie Somatisierung170 genannt wird – als entscheidendes Moment seiner Pathographie. Zunächst sei dieser

167

168

169 170

Siehe L. Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud. 1913 eröffnet Salomé dann eine eigene psychoanalytische Praxis in Göttingen, vgl. E. Mühlleitner, Biographisches Lexikon der Psychoanalyse, S. 24ff. Siehe im weiteren C. Kanz, Geschlechterdifferenzen in Literatur und Psychoanalyse. So vermerkt Ellenberger: »Nietzsches Einfluß auf die dynamische Psychiatrie ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. Viel mehr noch als Bachofen ist Nietzsche als gemeinsame Quelle Freuds, Adlers und Jungs anzusehen.« H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 382. L. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, S. 65. Im folgenden wird im Text unter Angabe der Seitenzahl nach dieser Ausgabe zitiert. Shorter führt den Begriff auf Wilhelm Stekel, den Mitstreiter Freuds zurück, der ihn bereits 1924 benutzt habe, vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 259f., 397.

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Drang noch nicht am eigenen Körper, sondern im persönlichen Umgang und im Textkorpus ausgelebt worden. So habe Nietzsche Wagner und Rée zu Verkörperungen seiner Gedanken stilisiert (149f.), bis schließlich der Prozeß am eigenen Körper vollzogen wurde. Salomé deutet also Nietzsches körperlichen Zusammenbruch im Herbst 1888 als Konsequenz seiner Philosophie, als einen Vorgang der Somatisierung (281, 285, 294). In diesem Zuge unterzieht sie auch die Dialektik der großen Gesundheit einer massiven Kritik, denn diese Dialektik sei wesentlich Symptom, nicht etwa, wie Nietzsche selbst urteile, dessen Heilung. Die Gesundheit wird ihrer Größe beraubt und nur mehr als gleichgewichtiges Korrelat der Krankheit aufgefaßt. Diesen nun richtungslos gewordenen Circulus vitiosus von Krankheit und Gesundheit deutet sie als Ausdruck eines ihm zugrunde liegenden masochistischen Grundtriebes (S. 59ff.). Man kann so schon in Salomés Nietzsche-Monographie Ansätze der »Pionier[i]n der praktischen Psychosomatik«171 erkennen, zu der sie über den Weg zu Freud und der Psychoanalyse werden wird. Allerdings findet sich in ›Nietzsche in seinen Werken‹ auch noch eine ganz andere Präsenz des Körpers im Text. Und zwar durch die dem Text beigegebenen Fotografien und faksimilierten Briefe Nietzsches. Ihrer beider ›PersonalAkten‹ werden auf diesem Weg sehr subtil in die Studie eingearbeitet, ohne daß sie Privates oder gar Skandalöses über die Salomé-Nietzsche-Rée-Affäre preisgeben würde. Jaspers vermerkt in seiner Monographie enttäuscht: »Das Buch von Lou Andreas-Salomé [...] gibt außer einigen abgedruckten Nietzsche-Briefen keine Mitteilung über persönliche Beziehungen.« (59) Das eine Foto zeigt den Kopf Nietzsches, es handelt sich um einen schlecht retuschierten und vergrößerten Bildausschnitt aus dem berühmten ›Peitschenfoto‹ (Luzern, Mai 1882). Darunter findet sich Nietzsches faksimilierte Unterschrift aus einem Brief an Paul Rée: »Friedrich Nietzsche, ehemals Professor jetzt fugitivus errans« (298). Das ganze, von Nietzsche in Szene gesetzte Atelier-Foto zeigt Salomé auf einem Leiterwagen kniend mit einer Peitsche in der Hand, Rée und Nietzsche vor den Wagen gespannt. Der Fotografie geht eine Widmung des Buches an Paul Rée voran: »In treuem Gedenken gewidmet einem Ungenannten.« Zur Ikonographie, die Nietzsche mit diesem Foto zitiert, gehören u.a. die Darstellungen des Wagenlenkers der Seele aus Platos ›Phaidros‹. In ihrer Studie bringt Salomé diese Rahmung durch Fotografie, Unterschrift und Widmung auf verschiedenen Ebenen ins Spiel. Sie übernimmt darin unausgesprochen die Rolle der Seelenlenkerin für das Gespann Nietzsche-Rée. Sie wertet Nietzsches positivistische Phase, seinen »Réealismus« als Höhepunkt des Lebens und Werks, da nur hier die »Zügelung seiner tieferregten Innerlichkeit« durch den Wesenskontrast und die »nüchterne Denkweise« Rées geglückt sei, während diese Innerlichkeit in der Spätphilosophie befreit werde und diese »immer absolutere und reak171

A.-E. Meyer und U. Lamparter, Vorwort, S. 5.

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tionäre Züge« (132, 195, 287) annehme.172 Die Funktion einer »Randung zwischen dem Werk und dem Leben«173 – so spricht Derrida über die Vorworte Nietzsches – übernehmen auch die faksimilierten Briefe Nietzsches. Einer ist als Vorwort, zwei weitere werden im Kapitel ›Seine Wandlungen‹ abgedruckt und markieren die Zäsur zwischen der ersten und zweiten Phase seines Denkens. Weitere Briefe an Rée und Salomé werden im Normaldruck wiedergegeben. Der Handschrift kommt in der Verbindung von körperlicher Gestik und Schrift sowie über das Merkmal des Authentischen eine besondere Bedeutung zu. Im Schopenhauer-Essay nimmt Nietzsche demgemäß die »Züge unsrer Feder« (KSA 1, 340) als Ausdrucksform des Selbst wahr und billigt ihnen eine besondere Erkenntnisfunktion zu. Spricht Salomé davon, daß Nietzsche den »Stil des Charakteristischen« erfunden habe, »der den Gedanken nicht nur als solchen, sondern mit dem ganzen Stimmungsreichthum seiner seelischen Resonanz ausspricht« (158), so trifft dies um so mehr auf die Handschrift zu. Dies gilt insbesondere für den als Vorwort fungierenden Brief Nietzsches an Salomé, vermutlich vom 16. September 1882. In diesem Brief autorisiert Nietzsche Salomé als Biographin seines Lebens und Werks. Das Verfahren »einer Reduktion der philosophischen Systeme auf Personal-Acten« bezeichnet er als einen »Gedanken aus dem ›Geschwistergehirn‹« und als ein solches redet er sie im Verweis auf die »Bitte« der ›Fröhlichen Wissenschaft‹ an: Bitte. Ich kenne mancher Menschen Sinn Und weiß nicht, wer ich selber bin! Mein Auge ist mir viel zu nah – Ich bin nicht, was ich seh und sah. Ich wollte mir schon besser nützen, Könnt’ ich mir selber ferner sitzen. Zwar nicht so ferne wie mein Feind! Zu fern sitzt schon der nächste Freund – Doch zwischen dem und mir die Mitte! Errathet ihr, um was ich bitte? (KSA 3, 358)

Daß Salomé durch Nietzsches Briefe auch den Blick der Psychologin autorisiert sah, darauf macht vor allem der als Einleitung zum dritten Kapitel Das ›System Nietzsche‹ abgedruckte Brief aufmerksam, in dem Nietzsche sie bittet, aus der Perspektive seelischer »Antriebe« durch seine positivistische Phase »hindurch«, »dahinter!« zu sehen. Was sie hinter dieser und den anderen Phasen entdeckt, sind seelische Antriebe, die sie als geschlechtliche Physiognomie von Nietzsches Denken beschreibt. Neben der Reinszenierung der Dreieckskonstellation 172 173

Die »Hemmungslosigkeit« von Nietzsches Spätphilosophie wertet auch Jaspers als ein mögliches pathologisches Indiz, K. Jaspers, Nietzsche, S. 89. J. Derrida, Otobiographien, S. 23, vgl. 32f.

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Salomé-Nietzsche-Rée schreibt die Autorin also den ›Gender trouble‹ und den Körper im Text auch noch in anderer Form weiter. Ebenfalls durch NietzscheZitate autorisiert, jedoch in dieser Konsequenz deutlich als ein interpretativer Wille zur Macht kenntlich, wird Nietzsche durchgängig als »weibliches Genie« interpretiert. Die Physiognomie seines Denkens wird durch extreme Rezeptivität, »scheinbare innere Unselbständigkeit« und Hingebung bis zur Selbstaufgabe gekennzeichnet.174 Salomé vollzieht in ihrer Studie gleichsam einen Rollentausch der Geschlechter. Die von Nietzsche in seinen Briefen vielfach als ›Schülerin‹ adressierte Autorin tilgt diese Anrede in den zitierten Nietzsche-Briefen und läßt nur noch das ›Geschwisterhirn‹ stehen. Gemäß des Willens zur Macht als eines Willens zur Interpretation macht sie sich mit ihrer Studie zur Herrin über den früheren Lehrer. Dessen Lehre lautete ja: »In Wahrheit ist Interpretation ein Mittel selbst, um Herr über etwas zu werden.« (KSA 12, 140) Unwillkürlich drängt sich das Peitschenfoto wieder auf. Und es ist vielleicht nicht unschicklich zu sagen, daß in Salomés Studie im inszenierten Spiel der Personal-Akten – Fotografie und Faksimile – der Sadomasochismus als ein interpretatives Begehren Gestalt gewinnt. Um so mehr als im folgenden noch auf Salomés Diagnose der masochistischen Erlebnisstruktur Nietzsches einzugehen sein wird. Eine weitere Assoziation drängt sich auf. Nimmt man die Elemente von Salomés Diagnose zusammen: zügelloses Affektleben, Somatisierung und weibliches Genie, so rückt Nietzsche in deutliche Nähe zu der nur ein Jahr später von Breuer und Freud erfundenen Hysterika.175 Und vielleicht ist Salomés Verfahren, bewußte Symptome in unbewußte umzudeuten und somit den Patienten in die Rolle des Unwissenden abzudrängen, bereits ein Vorbote für die psychoanalytische Blindheit in bezug auf den eigenen Willen zur Macht. So spricht sie von Nietzsches »verborgene[m] ›Grundwillen‹, der, [...] ihm selbst völlig unbewußt, die Theorien Anderer zurechtschnitt, um sich in ihnen schließlich mit voller Kraft selber durchzusetzen.« (293) Lou Andreas-Salomés Studie ›Friedrich Nietzsche in seinen Werken‹ kleidet das Verhältnis von Leben und Werk fast ausschließlich in die Begrifflichkeit von Erleben, Erkennen und Ausdruck, so daß sie stärker als Nietzsche selbst an den Sprachduktus der von Dilthey konzipierten hermeneutischen, verstehenden Psychologie heranrückt. In den drei Kapiteln ihres Buches ›Sein Wesen‹, ›Seine Wandlungen‹ und ›Das ›System‹ Nietzsche‹ setzt sie sich zum

174 175

185, 71, 127, vgl. 153, 174f., 251, 267f. An einem der Nietzsche gewidmeten Diskussionsabende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wird diese Zuordnung dann von Isidor Sadger vorgenommen: »Es sei bei ihm [Nietzsche] auch ein großes Stück Hysterie; die epileptoiden Zustände ohne Bewußtseinsverlust, von denen er selbst aus seiner Jugend berichtet, dürften hysterische Erscheinungen gewesen sein.« Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Hrsg. von Herman Nunberg und Ernst Federn, Bd. I, S. 336. Aus den ›Protokollen‹ wird im folgenden unter der Sigle P und der Bandangabe zitiert.

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Ziel: »das Gedanken-Erlebnis in seiner Bedeutung für Nietzsches Geisteswesen – das Selbstbekenntnis in seiner Philosophie« herauszulesen. Sie vollzieht darin die auch Nietzsches Psychologie eigentümliche Reduktion des philosophischen Werkes auf eine dahinter liegende Triebstruktur. In der doppelten Perspektive von theoretischer Betrachtungsweise und persönlicher Lebensbeschreibung geht es ihr darum, die »Hauptzüge« seiner »geistige[n] Eigenart«, die »Grundlinien« (30f.) seines Lebens aus den Texten herauszupräparieren. Hinter den Texten entdeckt sie so neben dem bereits erwähnten »religiösen Grundtrieb« eine typische, immer wiederkehrende Erlebnisstruktur, die zunächst als »Ursache und Begleiterscheinung« die Wandlungen von Nietzsches Denken bedingt und schließlich im Spätwerk selbst zum »Erkenntnisinhalt« (178, 211) wird. Der Sadomasochismus ist zwar als psychoanalytische Kategorie noch nicht geboren, was Salomé jedoch anknüpfend an Nietzsches Begriffe der »Selbst-Vergewaltigung«, des »Selbstverwundungstriebes« (228, 48) diagnostiziert, ist ein sadomasochistischer Circulus vitiosus des Erlebens.176 Zu den Elementen dieser ewigen Wiederkehr gehören ein auf das innere Erleben verkürztes Leben und eine in ständigem inneren Kampf stehende Subjekt-Vielheit, die »sich in zwei einander gleichsam gegenüber stehende Wesenheiten zerspaltet, von denen die Eine herrscht, die Andere dient« (61). Diese Herr-Knecht-Dialektik motiviere die Wandlungen seines Denkens und ende schließlich in der Konfrontation von Nietzsche, dem Erlebenden und Erleidenden, mit »Ueber-Nietzsche« bzw. Zarathustra, dem Erkennenden.177 Die ›Dionysos-Dithyramben‹ liest sie so als »letzte Vergewaltigung Nietzsches durch Zarathustra.« (292, 296) Dieser Zwiespalt und die Verbindung von Erleben und Erkennen gestalten sich in den verschiedenen Werkphasen Nietzsches jeweils neu. Salomé muß der Verdienst zugesprochen werden, daß sie die bis heute übliche dreiphasige Werkeinteilung eingeführt hat.178 ›Metaphysik‹, ›Positivismus‹ und ›Mystik‹ wählt sie als Überschriften. In der mit den Namen Schopenhauer und Wagner sowie mit den Stichworten »das Dionysische, die Decadenz, das Unzeitgemäße, der Geniecultus« umschriebenen ersten Epoche erscheint das ganzheitliche, phi176

177

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Krafft-Ebing führt den Masochismus 1891 in der zweiten überarbeiteten Auflage seiner ›Psychopathia sexualis‹ ein, vgl. das erste Kapitel: Ueber Masochismus und Sadismus, S. 1–50. Im weiteren wird der Masochismus als ein »pathologisches Überwuchern weiblicher psychischer Elemente [...], als eine morbide Verstärkung bestimmter Züge der Frauenseele« angesehen, S. Nacht, Le masochisme. In: R.F.P. 10 (1938), H. 2, S. 177; zit. nach J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 304. In den Diskussionen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung wird später eine ähnliche Diagnose gestellt, nach Otto Rank sei »die Haupttriebfeder für Nietzsches ganzes Schaffen in seiner ursprünglich ›sadistischen‹ Anlage und ihrer mächtigen Verdrängung« zu finden. P II, 26; vgl. auch ebd., P I, 337, 339. Damit hat Salomé den von Freud als Dialektik von sadistischem Über-Ich und masochistischem Ich beschriebenen Sadomasochismus bereits in wichtigen Zügen vorgezeichnet, vgl. insbesondere ›Das ökonomische Problem des Masochismus‹, GW 13, 371–383; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 451. Vgl. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, S. 628.

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losophische Leben, das Nietzsche in der ›Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen‹ und in ›Schopenhauer als Erzieher‹ skizziert, als ein Ideal- und Sehnsuchtsbild. Während ihm in Wagner das Kunstgenie, der Praktiker gegenübertritt, findet sich Nietzsche in der Rolle des Erkennenden wieder, dem das »Denken ein Erleben« (104) ist. Die mit Paul Rée und den Begriffen Sokrates, Vernunft und Männlichkeit assoziierte zweite Phase ordnet in Form eines übertriebenen Intellektualismus das Leben dem Erkennen unter (53, 149), während in der letzten Werkphase laut Salomé die Philosophie immer persönlicher wird, er seinen »Seeleninhalt frei zum Weltinhalt« umdeutet, so »daß die Theorien [...] fast nur noch Bilder und Symbole inneren Erlebens sind«. Das von Nietzsche in einem Brief erwähnte »Princip des ›mihi ipsi scribo‹« regiere diese Texte, und zwar als unbewußte Symptomatik. Es handle sich um eine »unbewußte Selbstwiderspiegelung in den Theorien« (178, 175f., 201). Denn Salomé liest diese Schriften nicht als ›Theorien‹, sondern als physiognomischen Ausdruck und »geistiges Mienenspiel« ihres Autors. Die späten Texte seien ein »Schmerzensbekenntnis«, ein »Schrei nach Erlösung von sich selbst« (176f.). Der diagnostizierte Selbstverwundungstrieb verschaffe sich nun im »Gedanken einer Selbstopferung des Allzumenschlichen für das Uebermenschliche« (211) Ausdruck. Nietzsches geistiger Zusammenbruch im Herbst 1888 wird in der Konsequenz dieser Deutung zum Punkt des Umschlags, an dem »seine Philosophie sich in ein allerpersönlichstes Erleben zurückverwandelt« (281). Neben dieser Lektüre der Texte als unbewußte Symptomatik, als Praxis, zeichnet Salomé zudem das bewußte Persönlichwerden der Philosophie in der Spätphase als einen interpretativen Willen zur Macht und als einen Vorgang der Lebenssummierung nach. Salomé rückt in ihrer Wahrnehmung von Nietzsches letzten Texten kongenial an Nietzsches Selbstdeutung in ›Ecce homo‹ heran, obwohl sie sich nur auf die zu Lebzeiten publizierten Schriften stützt und dessen Autobiographie nicht einbezieht. Die als ›Geschwisterhirn‹ apostrophierte Biographin ist der ihr zugeschriebenen Rolle gerecht geworden, indem sie mit ›Friedrich Nietzsche in seinen Werken‹ das Zwillingsbuch zu ›Ecce homo‹ vorgelegt hat. In beiden Fällen werden Werk- und Krankengeschichte enggeführt und die Schrift erlangt den Status eines physiognomischen Ausdrucks. Außerdem weist Salomés Monographie auf die zwei Richtungen voraus, in die sich Nietzsches Tiefenpsychologie und -hermeneutik entwickeln wird. Den psychoanalytischen Weg wird sie selbst einschlagen und in den Jahren 1912–13 bei Freud in die Schule gehen;179 ihre Diktion von Erleben, Ausdruck und Verstehen wird in der verstehenden Psychologie Diltheys weitergeführt.

179

Siehe L. Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud; und H. Nunberg, Einleitung, S. XXXIII.

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V.3.2. Freud – Nietzsche Die Psychoanalyse etabliert sich um 1900 als eine Disziplin, die die biographische Erkenntnis ins Zentrum ihrer Therapie und Theorie stellt. Ihr Begründer, Sigmund Freud, gilt im weiteren als »Initiator der Psychosomatik«.180 Die Verschränkung von biographischer Erkenntnis und psychosomatischer Fragestellung läßt sich hier noch einmal – in spiegelbildlicher Verkehrung zu Nietzsches Version dieser Liaison – beobachten. War in Nietzsches ›Ecce homo‹ der Leib der Tonangebende in Lebens- und Schriftführung, so wird es im Werk Freuds die Seele sein. In Freuds Texten finden sich zahlreiche Äußerungen, die jenem NietzscheDiktum einer auf Personalakten beruhenden Philosophie ähneln. Dies kommt nicht von ungefähr, denn die Psychoanalyse schickt sich um 1900 an, die in Nietzsches Werk bereits methodisch praktizierte biographische Erkenntnis zur zentralen wissenschaftlichen Technik zu erheben. Die Lebensgeschichte des Patienten wird nahezu zum alleinigen Schlüssel der Diagnose. Nach der Formierungsphase der Psychoanalyse findet diese Technik dann nicht mehr nur klinische Anwendung, sondern sie wird vermehrt kulturdiagnostisch eingesetzt. So stellt etwa Sigmund Freud 1913 einem an der »Synthese der Wissenschaften« interessierten Kreis von Gelehrten ein mögliches »philosophisches Interesse« (GW 8, 391, 405) an der Psychoanalyse mit folgenden Worten vor: Die philosophischen Lehren und Systeme sind das Werk einer geringen Anzahl von Personen von hervorragender individueller Ausprägung; in keiner anderen Wissenschaft fällt auch der Persönlichkeit des wissenschaftlichen Arbeiters eine annähernd so große Rolle zu wie gerade bei der Philosophie. Nun setzt uns erst die Psychoanalyse in den Stand, eine Psychographie der Persönlichkeit zu geben. [...] Die intime Persönlichkeit des Künstlers, die sich hinter seinem Werk verbirgt, vermag sie aus diesem Werk mit größerer oder geringerer Treffsicherheit zu erraten. So kann die Psychoanalyse auch die subjektive und individuelle Motivierung von philosophischen Lehren aufzeigen, welche vorgeblich unparteiischer logischer Arbeit entsprungen sind, und der Kritik selbst die schwachen Punkte des Systems anzeigen.

Das klingt allerdings sehr nach ›Entlarvungspsychologie‹, wenn Freud auch Nachdruck darauf legt, daß die »psychologische Determinierung einer Lehre ihre wissenschaftliche Korrektheit keineswegs aus[schließt].« (GW 8, 406f.) Und diese Formulierungen weisen eine deutliche Nähe zu Nietzsches vorangehend skizziertem psychologischen Reduktionismus auf. Dies sollte nicht verwundern, apostrophiert doch Ludwig Klages Nietzsche als »wahren Gründer der modernen Psychologie«,181 und auch die Mitstreiter Freuds der Psychoana-

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F. G. Plaum und S. Stephanos, Die klassischen psychoanalytischen Konzepte der Psychosomatik, S. 203; vgl. B. Stokvis, Psychosomatik, S. 446ff. Zit. nach H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 376.

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lytischen Vereinigung stilisieren Nietzsche gleichsam zum Urvater der Psychoanalyse. Die Forschung hat bislang die unübersehbaren Gemeinsamkeiten zwischen Nietzsche und Freud ins Zentrum ihrer Überlegungen gestellt.182 Mehrheitlich fällt der Begriff Entlarvung; die Entdeckungen des Unbewußten spezifischer noch des Es, des Über-Ichs, der Trieblehre, der Sublimierung, der Übertragung, der Abwehrmechanismen, der psychischen Energetik sowie psychosomatischer Zusammenhänge werden beiden Autoren zugeschrieben.183 Stellvertretend sei hier Ernst Federn zitiert, der Herausgeber der ›Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung‹, der an einem der Diskussionsabende dieser Vereinigung konstatiert: »Nietzsche stehe uns so nahe, daß man nur fragen müsse, wie weit er nicht gekommen sei. Er habe eine Reihe der Funde Freuds intuitiv erkannt; er habe die Bedeutung des Abreagierens, der Verdrängung, der Flucht in die Krankheit, der Triebe als erster entdeckt; sowohl die normalsexuellen als auch die sadistischen Triebe.«184 Freud selbst waren solche Äußerungen sichtlich unangenehm – in diesem Fall sah er sich zu einer Aufzählung genötigt, was bei Nietzsche noch alles fehle –,185 und er hat eine solche Nietzsche-Filiation seines Werkes stets abgewiesen. Wie Henry Ellenberger von einer »Ähnlichkeit in ihrem Denken« auf einen »Einfluß«186 Nietzsches auf Freud zu schließen, ist darum vorschnell. Reinhard Gasser hat in seiner groß angelegten Studie zu Nietzsche und Freud nachgewiesen, daß sich für eine genauere Kenntnis der Schriften Nietzsches bei Freud keine Anhaltspunkte finden lassen.187 Die Gemeinsamkeiten beider Denker lassen sich wohl nicht auf dem Wege eines traditionellen Rezeptionsverhältnisses aufklären, sondern sie gründen vielmehr in der beiderseitigen Teilnahme an den naturwissenschaftlichen, psychologischen, eth-

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Reinhard Gasser betont in seiner Studie hingegen das »bislang in der vergleichenden Literatur nicht oder jedenfalls nicht hinreichend hervorgehobene Faktum, daß beide Theoriekomplexe für sich stehen und gegenüber der jeweils anderen Konzeption auch derart viele diametrale Elemente erkennen lassen, daß die wie immer gearteten Gemeinsamkeiten in den Hintergrund treten.« Nietzsche und Freud, S. 707. Vgl. L. Binswanger, Freuds Auffassung des Menschen; C. Dimitrow und A. Jablenski, Nietzsche und Freud; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 373–385; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹; M. Kaiser-El-Safti, Der Nachdenker; B. Mazlish, Freud and Nietzsche; B. Nitzschke, Zur Herkunft des ›Es‹; P. Seidmann, Nietzsche; F. Tramer, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud; Von Nietzsche zu Freud. Hrsg. von Johann Figl; K. R. Fischer, Nietzsche, Freud und die Humanistische Psychologie. P I, 337. Vgl. auch die Äußerungen von Adler: »Adler betont zunächst, daß von allen bedeutenden Philosophen, die uns etwas hinterlassen haben, Nietzsche unserer Denkweise am allernächsten stehe.« ebd., S. 336; und von Friedmann und Frey: »Ohne die Freudsche Lehre zu kennen, habe Nietzsche hier vieles daraus empfunden und vorausgeahnt.« P II, 25. »Außer dem Infantilismus finde sich bei Nietzsche auch der Mechanismus der Verschiebung nicht erkannt.« P I, 338. H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 382. Vgl. insbesondere R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 3–173.

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nologischen und religionswissenschaftlichen Diskursen ihrer Zeit.188 Nietzsche und Freud haben zum Teil dieselben Quellen studiert. Darwin,189 Haeckel und der Psycholamarckismus,190 Virchows Zelltheorie und deren darwinistische Weiterführung bei Wilhelm Roux, Mayers Gesetz der Krafterhaltung und Fechners Konstanzprinzip sowie insbesondere die Charcot-Schule sind hier zu nennen. Allerdings bleibt auch hinsichtlich dieser losen Ähnlichkeit aufgrund gemeinsamer Diskursteilhabe eine Gegenläufigkeit der Denkbewegungen »in allergröbster Vereinfachung« festzuhalten: »Nietzsche schlägt den Weg von der Philologie über die (Physio-)Psychologie zur Physiologie ein, Freud dagegen den von der Physiologie zur Psychologie.«191 Denn die Stellungen im diskursiven Feld und die intellektuellen Gegner sind jeweils andere. Nietzsche wendet sich im Namen des Leibes und im Schulterschluß mit der zeitgenössischen physiologisch orientierten Psychiatrie gegen eine ältere religiöse, moralische und idealistische Tradition der Hochwertung des Bewußtseins. Der Neuropathologe Freud sieht sich hingegen mit einem neuen Typus des Kranken – dem Neurotiker, der Hysterikerin – konfrontiert, an dem die aktuellen, auch von ihm anfänglich eingesetzten somatischen Therapien scheitern. Elektrotherapie, Wasserkuren und die Weir Mitchell Kur, eine kombinierte Mast-Ruhekur, waren damals en vogue.192 So gehört der Philosoph zwar nicht zu den verdeckten Quellen der Psychoanalyse, er ist jedoch jene Figur, an der Freud exemplarisch sein Unbehagen an der Philosophie insgesamt ausagiert. Nietzsche ist der einzige Philosoph, für den Freud in zwei längeren Diskussionsbeiträgen im Rahmen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung skizzenhaft eine ›Psychographie der Persönlichkeit‹ zeichnet, von der einleitend die Rede war. Und Nietzsche wird nicht allein zum Fallbeispiel der biographischen Erkenntnis, des ›psychologischen Reduktionsmuses‹ Freuds, er fungiert nicht nur für die Abgrenzung zwischen Psychoanalyse und Philosophie, sondern er wird auch zum Spielball im inter188

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Vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 429ff., 704f.; G. Gödde, Eine neue Interpretation, S. 468, 478. Die Verflechtungen des ›Es denkt‹-Diskurses von Lichtenberg über Schopenhauer, Feuerbach, Hartmann, Nietzsche, Weininger bis zu Freud und Groddeck hat B. Nitzschke nachgezeichnet, Zur Herkunft des ›Es‹. Freud besaß Darwins Werke sowohl in der Übersetzung von Carus als auch im englischen Original, vgl. H. Trosman and R. D. Simmons, The Freud Library, S. 666. Darwins ›Abstammung des Menschen‹ nennt er beispielhaft für eine Umfrage nach den ›zehn wissenschaftlich bedeutsamsten Büchern‹, vgl. GW Nachtr., 663. Zu Freud und Darwin siehe im weiteren F. J. Sulloway, Freud, S. 182f., 334–386, insbesondere S. 361–370. In Freuds Bibliothek befindet sich Lamarcks ›Zoologische Philosophie‹, vgl. H. Trosman and R. D. Simmons, The Freud Library, S. 666. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 434. Auch Friedrich Nietzsche war ein Anhänger der Weir Mitchell Kur: »Ich empfehle die Behandlung des Gewissensbisses mit der Mitchells-Kur«, KSA 13, 338; vgl. KSA 5, 265. Die somatischen Behandlungsmethoden listet Freud 1888 in seinem Handbuch-Artikel ›Hysterie‹ auf, vgl. GW Nachtr., 87f. Siehe auch eine entsprechende Aufstellung bei Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse, S. 125.

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nen psychoanalytischen Machtkampf. Reinhard Gassers Studie zeigt eindrucksvoll, daß der Name Nietzsche in nahezu jeder Auseinandersetzung zwischen Freud und seinen Mitstreitern bzw. Schülern eine entscheidende Rolle spielt. Schließlich verkörpert Nietzsche auf den ersten Blick fast in Reinkultur jenen neuen Typus des Patienten – in geschlechtlicher Variation den männlichen Hysteriker –,193 der zum Anlaß für die Entstehung der Psychoanalyse wird. Das vielgestaltige Krankheitsbild, Kopf- und Augenschmerzen, Verdauungsprobleme, alle Symptome sind vorhanden. Und wie bereits an Salomés Pathographie und an Äußerungen aus dem Umfeld Freuds veranschaulicht werden konnte, stimmen viele Zeitgenossen dieser Diagnose zu. Nietzsche hat sich im ›Ecce homo‹ vehement gegen eine solche Zuschreibung gewehrt. Zum einen aus strategischen Gründen: der Zeitkrankheit verfallen, ein ›nevrose‹, ist der Kontrahent Wagner, zum anderen ist sie ihm wohl auch nur allzu bekannt gewesen. Erst vor kurzem ist in der Nietzsche-Forschung eine Anekdote kolportiert worden,194 die zweifellos zu den Kuriosa des Nietzsche-Freud-Verhältnisses gehört. Die Episode spielt zwischen Sommer 1877 und Sommer 1878. Wie aus dem Briefwechsel zwischen Siegfried Lipiner, eines jungen jüdischen Dichters, glühenden Nietzsche-Verehrers und Studienkollegen Freuds, und Heinrich Köselitz (alias Peter Gast) hervorgeht, war Nietzsche zu einer Kur bei Josef Breuer in Wien angemeldet, auf Vermittlung von Lipiner. Dieser hatte eigenmächtig die Anmeldung vorgenommen, die finanziellen Mittel aufgetrieben und diesbezüglich mit Köselitz korrespondiert. Als Nietzsche die Sache ruchbar wurde, lehnte er dieses Ansinnen wütend ab, brach mit Lipiner, den er als Dichter des ›Entfesselten Prometheus‹ ein »veritables ›Genie‹«195 genannt hatte und mit dem er kurzzeitig in Korrespondenz stand. Anstatt zur ›talking cure‹ nach Wien ging Nietzsche dann zur Kaltwasserkur nach Baden-Baden. Aber es darf erlaubt sein zu spekulieren, was wohl aus dem Philosophen und – vielleicht noch spannender – was aus der Psychoanalyse geworden wäre, hätte nicht nur Anna O., sondern auch Friedrich N. deren therapeutische Praxis mitgeprägt. Nietzsches ›Ecce homo‹ als Fallbeispiel einer Selbstanalyse eines psychosomatisch Kranken gehört darum umso mehr in die nächste Nähe zu Breuers und Freuds ›Studien über Hysterie‹.

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Vgl. J. M. Charcot und P. Richer, Die Besessenen in der Kunst, S. 6, 115. Freud hat sich nach seiner Rückkehr aus Paris in den 80er Jahren zum Promotor des vor allem von Charcot vertretenen Krankheitsbildes männlicher Hysterie gemacht, vgl. H. F. Ellenberger, Die Entdekkung des Unbewußten, S. 594–603. Renate Müller-Buck hat die Korrespondenz zwischen Siegfried Lipiner und Heinrich Köselitz im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar entdeckt, vgl. zum Folgenden: Ach dass doch alle Schranken zwischen uns fielen! S. 16. Fiktiv ausgestaltet hatte eine solche Begebenheit schon Irvin D. Yalom in seinem Roman ›When Nietzsche Wept‹ (1992). F. Nietzsche, Sämtliche Briefe. Bd. 5, S. 278. Im folgenden wird nach dieser Ausgabe unter der Sigle KSB zitiert. Zu Lipiner und Nietzsche vgl. auch R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 22–26; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 111–117.

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Die verhinderte Nietzsche-Lektüre Bemerken möchte Prof. Freud noch, daß er Nietzsche nie zu studieren vermochte: zum Teil wegen der Ähnlichkeit, die seine intuitiven Erkenntnisse mit unsern mühseligen Untersuchungen haben, und zum andern Teil wegen des inhaltlichen Reichtums seiner Schriften, der ihn bei Versuchen zur Lektüre nie über ½ Seite herauskommen ließ.196

Diese Bemerkung Sigmund Freuds ist in einem Protokoll der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung als Diskussionsbeitrag zu einem Vortrag von Alfred Häutler über den ›Ecce homo‹ am 28. Oktober 1908 festgehalten. Es lassen sich noch weitere Äußerungen dieser Art zusammentragen.197 1914 spricht er von einem vorsätzlichen Verzicht der Nietzsche-Lektüre: »Den hohen Genuß der Werke Nietzsches habe ich mir dann in späterer Zeit mit der bewußten Motivierung versagt, daß ich in der Verarbeitung der psychoanalytischen Eindrücke durch keinerlei Erwartungsvorstellung behindert sein wolle.« (GW 10, 53) Schließlich erklärte er 1937, seine einzig wirkliche Verbindung zu Nietzsche sei Lou Andreas-Salomé gewesen.198 Die Forschung seit Freud ist psychoanalytisch geschult genug, um hinter solch vehementem Leugnen Verdrängtes zu vermuten.199 Diesen Plagiats-Vorwurf hat Reinhard Gassers Studie nun überzeugend widerlegt.200 Die Aussagen bleiben jedoch auch jenseits eines verdeckten engen Rezeptionsverhältnisses hinreichend paradox, um diese Spuren weiter zu verfolgen. In einem Atemzug impliziert das verbindliche Lob (›hohe Genuß‹) die genauere Kenntnis und streicht sie durch (›bewußt versagt‹). Warum sich Freud gegenüber Nietzsche zu solchen rhetorischen Finten genötigt sah, darauf ist die Antwort vielschichtig. Erstens handelt es sich um ein diskurspolitisches Phänomen. Die Nähe zu Nietzsche wurde Freud zeitlebens mit relativer Konstanz von anderen, zunächst Studienkollegen, dann aus verschiedenen Ecken der psychoanalytischen Bewegung angetragen. So sind die wenigen Nietzsche-Zitate im Werk Freuds, aus dem ›Zarathustra‹, aus ›Jenseits von Gut und Böse‹ und ›Menschliches, Allzu-

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P II, 28. Vgl. P I, 338; GW 14, 86. In Briefen an Thomas Mann (1929) und Lothar Bickel (1931) finden sich ähnliche Formulierungen, vgl. R. Burkholz, Reflexe der Darwinismus-Debatte in der Theorie Freuds, S. 177; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 160, 128f. Vgl. E. Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. 3, S. 253. Vgl. G. Wehr, Friedrich Nietzsche, S. 38; F. Tramer, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, S. 345; A. K. Wucherer-Huldenfeld, Grundgedanken bei Freud und Nietzsche, S. 46f. »Es gibt keinerlei Anlaß zur Annahme, daß Freud Nietzsche systematisch studiert – und dann als einzige und wichtigste Quelle seiner Auffassungen verleugnet habe.« P. Seidmann, Nietzsche, S. 434. Zu diesem Ergebnis kommt auch Gassers ausführliche Zusammenschau der Nietzsche-Stellen bei Freud. Er konnte »kein wie immer geartetes Indiz« dafür finden, daß Freud »sich auf ein Studium Nietzsches eingelassen, dies aber gleichwohl unterschlagen« habe, R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 170.

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menschliches I‹,201 nahezu ausschließlich auf Anregungen von anderen zurückzuführen, und ihre Form: falsche Zitierungen und Quellenangaben,202 zeugt von dieser äußeren Anregung. Zwar legt sich Freud 1900 eine nicht näher zu identifizierende Nietzsche-Ausgabe zu. Er schreibt an Wilhelm Fließ am 1. Februar 1900: »Ich habe mir jetzt den Nietzsche beigelegt, in dem ich die Worte für vieles, was in mir stumm bleibt, zu finden hoffe, aber ihn noch nicht aufgeschlagen.«203 Jedoch scheint es auch in den nächsten Jahren bei diesem Verhalten geblieben zu sein, denn Freud zitiert Nietzsche in seinen Schriften u.a. aus dritter Hand.204 Jenseits der eigenen Lektüre war Freud über die Person des Philosophen und sein Werk zeitlebens über Dritte bestens informiert. Gasser nennt folgende Personen, in deren Beziehung zu Freud der Name Nietzsche eine Rolle spielte: »H. Braun, J. Paneth, S. Lipiner, O. Gross, O. Rank, E. Hitschmann, A. Häutler, A. Frh. v. Winterstein, V. Tausk, A. Adler, C.G. Jung, F. Wittels, O. Pfister, L. Binswanger, A. Zweig«.205 Lou Andreas-Salomé wäre noch anzufügen. Bisweilen waren es, wie es scheint, wohl fast zu viele Informationen: »Von Nietzsche nichts wissen, war natürlich unmöglich«.206 Es darf nicht vergessen werden, daß Nietzsche um die Jahrhundertwende zu dem Gesprächsstoff intellektueller Zirkel avancierte, und auch weniger intellektueller wie satirisch Arno Holz’ Figur des Herrn Fiebig in den ›Sozialaristokraten‹ dokumentiert: »De janze Welt redt jetz von Ibermenschn! Nitschkn ham Se doch jelesn?«207 Spätestens in seiner Studienzeit dürfte sich Freud als Mitglied des ›Lesevereins der deutschen Studenten Wiens‹ des öfteren mit dieser Frage konfrontiert gesehen haben. Er trifft dort nicht nur glühende Nietzsche-Verehrer, wie etwa den bereits erwähnten Siegfried Lipiner oder Joseph Paneth, 201 202 203

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Vgl. GW 4, 162; 7, 407; 8, 290; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 203ff. Vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 41–46, 69f., 98–117. S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, S. 438. In keiner der Freud-Bibliotheken ist dieser Text oder diese Ausgabe noch vorhanden, sondern nur die Musarionausgabe, die Otto Rank in späteren Jahren Freud zum Geschenk machte, vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 40, 126f.; A. K. Wucherer-Huldenfeld, Grundgedanken bei Freud und Nietzsche, S. 46. Das in die 5. vermehrte Auflage der ›Traumdeutung‹ aufgenommene ›Nietzsche‹-Zitat (vgl. GW 2/3, 554) stammt aus einer Rezension von Eduard Hitschmann, der wiederum H. Schaffganz’ Studie ›Nietzsches Gefühlslehre‹ zitiert, der zwei auseinanderliegende Zitate aus ›Menschliches, Allzumenschliches I‹ in Zusammenhang gebracht hatte, vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 104f.; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 203. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 171. An Thomas Mann November 1929, zit. nach R. Burkholz, Reflexe der Darwinismus-Debatte in der Theorie Freuds, S. 177. A. Holz, Sozialaristokraten, S. 463. Siehe auch im ›Phantasus‹: »Im Hause, wo die bunten Ampeln brennen, / auf vergoldeten Stühlchen sitzend, / trinkt man Chablis, Pilsner und Sect, / kommt dann peu-à-peu auf Nietzsche, / zuletzt wird getanzt.« S. 86. Freud bemerkt dementsprechend an einem der Nietzsche gewidmeten Diskussionsabende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung: »Daß er [Nietzsche] so lange totgeschwiegen und dann zum Modegötzen wurde, wirkt fast komisch.« P II, 27. Zu Nietzsche als ›Modegötzen‹ um 1900 vgl. im weiteren die zahlreichen Nietzsche-Artikel in: Die Lebensreform. Hrsg. von Kai Buchholz, Rita Latocha, Hilke Peckmann, Klaus Wolbert; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 239–242.

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sondern es werden auch offizielle Diskussionen über Nietzsche geführt. Paul Rée spricht in einem Brief an Nietzsche vom 29. Juni 1877 diesbezüglich kurzerhand von einem »Wiener ›Nietzscheverein‹«.208 Und Freud wird auch im weiteren über Nietzsche auf dem laufenden gehalten. Paneth berichtet ihm brieflich über seine Begegnungen mit dem Philosophen im Winter 1883/84 in Nizza. Freud erinnert sich rückblickend gegenüber Arnold Zweig (und verwechselt die Orte): »In meiner Jugend bedeutete er [Nietzsche] mir eine mir unzugängliche Vornehmheit, ein Freund von mir, Dr. Paneth, hatte im Engadin seine Bekanntschaft gemacht und mir viel von ihm geschrieben.«209 Später, innerhalb der psychoanalytischen Bewegung, werden die Diskussionen über Nietzsche für Freud immer unerfreulicher. Die Urheberrechte des Philosophen werden ihm vorgehalten, was seinerseits gewisse Prioritätsängste ausgelöst haben dürfte.210 Und in vielen Fällen handelte es sich um Abgrenzungsgefechte, in denen der »Vater der Psychoanalyse«211 durch den gleichsam zum Urvater avancierten Philosophen attackiert werden sollte. Prominenteste Beispiele sind Alfred Adler und C. G. Jung. So wurde der Streit zwischen Freud und Adler coram publico über Nietzsche ausgefochten.212 Freud, zunächst Opfer dieser ›Nietzsche-Attakken‹, begann im Laufe der Jahre den rhetorischen Spieß umzudrehen, und verwies nun etwa seinerseits Georg Groddeck mit seinen Urheberrechtsansprüchen auf den Begriff des ›Es‹ an Nietzsche – zu Unrecht.213 In seinem Gedenkwort für Lou Andreas-Salomé stilisiert sich Freud schließlich zum erfolgreicheren intellektuellen und fast auch erotischen Nachfolger Nietzsches und fügt damit der bereits behandelten Dreiecksgeschichte um Salomé, Nietzsche und Rée ein neues Kapitel an. Denn jenes »junge Mädchen«, das sowohl den »Heiratsantrag« Nietzsches wie auch in den späteren Jahren dessen »kühne Ideen« ablehnte, ließ sich von ihm in die Psychoanalyse einführen und blieb dieser auch treu, was seiner Ansicht nach »als eine neue Gewähr für den Wahrheitsgehalt der analytischen Lehren« (GW 16, 270) zu gelten hat.214 Ebenfalls läßt sich die auffällige Verwendung Nietzscheanischer Diktion in den metapsychologischen Schriften der späten Jahre als eine solche Geste der Nachfolge und Überbietung 208 209 210 211 212

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Zit. nach R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 23, vgl. 7–29; B. Nitzschke, Zur Herkunft des ›Es‹; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 111–117. S. Freud – A. Zweig, Briefwechsel, S. 89; Vgl. auch R. F. Krummel, Dokumentation; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 30–36; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 115ff. Vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 94–97. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 171. Vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 171, 95; P. Seidmann, Nietzsche, S. 432ff.; G. Gödde, Eine neue Interpretation, 465f. Als den entscheidenden, ihn von der Psychoanalyse trennenden »Systemgedanken Adlers« bezeichnet Freud »seinen ›Willen zur Macht‹«, GW 10, 98. Vgl. GW 13, 251; B. Nitzschke, Zur Herkunft des ›Es‹; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 107– 117. Zu erinnern ist noch einmal an Freuds Aussage, Salomé sei das einzig wirkliche Band zwischen ihm und Nietzsche gewesen, vgl. E. Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. 3, S. 253.

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in einem deuten. Nietzsches Begriffe ›Umwertung‹,215 ›Wille zur Macht‹, ›Übermensch‹, ›Wiederkehr des Gleichen‹ werden verwendet, jedoch psychologisch entzaubert und umgewertet. Die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ wird als ein »aktives Verhalten des Betreffenden« (GW 13, 21), als Wiederholungszwang aufgeklärt. Der Übermensch wird als Urvater in die graue Vorzeit versetzt (GW 13, 138)216 oder erscheint in variierter Form als Über-Ich217 und mithin Residuum kultureller Prägung. Der »Wille zur Macht« – Nietzsches Inbegriff des Lebens – wird kurzerhand mit dem »Todes- oder Destruktionstrieb« (GW 13, 376)218 identifiziert. Zweitens agiert Freud sein Unbehagen an der Philosophie bzw. der Intuition oder Spekulation im allgemeinen am Fall Nietzsche aus. Die auch von seinen Zeitgenossen wahrgenommene Nähe von Freuds metapsychologischen Überlegungen zur Philosophie, spezifischer noch zu Nietzsche, mußte für seine als Naturwissenschaft konzipierte Psychoanalyse zum Problem werden. Insofern ist Nietzsche für Freud ein »unvermeidliches Problem« 219 gewesen. Und drittens hat Freud in der Psychographie Nietzsches Gedankenfiguren skizziert, die er erst in den nächsten Jahren ausformulieren wird: die Verschränkung von Psycho- und Soziopathologie in seinen kulturdiagnostischen Schriften zum einen, die Narzißmus-Theorie zum anderen. Das Phänomen Nietzsche wird so zu einem produktiven Problem Freuds, an dem er die für seine Kulturdiagnosen charakteristische Verbindung von Onto- und Phylogenese beinahe zum ersten Mal durchspielt. Nietzsche stellt für Freud einen geistigen Experimentierraum dar. Schließlich spricht Freud anders als seine Mitdiskutanten nicht vom ›Fall‹, sondern vom Rätsel Nietzsche: »Er steht vor uns allen als rätselhafte Persönlichkeit.« (P II, 27) Er ist für ihn kein einfacher Neurotiker, kein Fall männlicher Hysterie. Freud führt auch im Hinblick auf Nietzsches Krankheit keine psychosomatische, sondern eine somatopsychische Argumentation. Dies ist in seinem Werk eine Ausnahme.

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Vgl. GW 3/4, 335, 667, 554; P. Seidmann, Nietzsche, 433. Vgl. GW 13, 44. Seidmann bemerkt treffend: »Anschaulicher hätte Freud seine Beziehung zu Nietzsche gar nicht definieren können. Ließe sich der Gedanke des Übermenschen gleichsam als die in die Zukunft weisende Speerspitze von Nietzsches Visionen bezeichnen, dann brach Freud Nietzsches Werk mit dieser Umdeutung die Spitze ab und warf sie – als Illusion – hinter sich.« Nietzsche, S. 434. Siehe hierzu auch die frühe Formulierung in einem Brief an Wilhelm Fließ vom 31.5. 1897: »Kultur besteht in diesem fortschreitenden Verzicht. Dagegen der ›Übermensch‹«, S. Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 182; A. K. Wucherer-Huldenfeld, Grundgedanken bei Freud und Nietzsche, S. 67; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 282f. So schreibt Ellenberger: »der wesentliche Gehalt des Über-Ichs hat unverkennbar seinen Ursprung bei Nietzsche«, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 714. An anderer Stelle wird der Wille zur Macht im Kontext der Adlerschen Lehre genannt, vgl. GW 10, 98. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 173. Gasser bezieht sich hier auf eine Formulierung Eduard Hitschmanns.

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Religiöse Zwangsneurose, Homosexualität und Narzißmus. Die Diskussionsabende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zum Fall Nietzsche Der Fall Nietzsche stand an zwei Abenden der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung zur Diskussion, am 1. April und 28. Oktober 1908. Die Protokolle zu diesen aus Vortrag und anschließender Diskussion bestehenden Mittwochabenden, die anfänglich in Freuds Wohnung abgehalten wurden, zeichnete der bezahlte Sekretär der Vereinigung, Otto Rank, auf.220 Im April steht das Thema ›Nietzsche: Vom asketischen Ideal‹ auf der Agenda. Nach einleitenden Worten von Eduard Hitschmann zu Leben und Werk Nietzsches werden aus der 3. Abhandlung der ›Genealogie der Moral‹, ›Was bedeuten asketische Ideale?‹, die Absätze 5–9 vorgelesen und anschließend diskutiert. Hitschmann kommentiert diese Passagen einer reduktiven Psychologie gemäß, derzufolge »sich die subjektiven Anschauungen aus den persönlichen Eigenschaften und Erlebnissen des Philosophen determinieren« (P I, 336) ließen. Im Konkreten heiße dies, Nietzsches eigenes, auch sexuell asketisches Leben werde in der ›Genealogie‹ einer undurchschauten Selbstkritik unterzogen, also entsprächen »seine eigenen Ideale seinen unerreichten Wünschen.« (P I, 335) Mit beiden Argumenten, dem psychologischen Reduktionismus wie auch der These von der Wunscherfüllung, bewegt sich Hitschmann im Rahmen der vom psychoanalytischen Meister ausgegebenen Devisen. Anfang des Jahres hatte Freud in der ›Neuen Revue‹ seinen Beitrag ›Der Dichter und das Phantasieren‹ publiziert. In diesem werden ja bekanntlich die kulturellen Leistungen als »Wunscherfüllung«, als »eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit« (GW 7, 216) ausgewiesen. Welche breite Anerkennung diese Deutung im Kreis der Psychoanalytischen Vereinigung fand, zeigt sich auch am nächsten Nietzsche-Abend im Oktober des Jahres. Alfred Häutler referiert dann ›Ecce homo‹ unter dem Motto »Darstellung einer Wunscherfüllung« (P II, 22). Freud selbst pflichtet Hitschmann in seinem ersten Diskussionsbeitrag im April 1908 bei, wenn er die »Frage nach der subjektiven Bedingtheit der anscheinend so objektiven philosophischen Systeme« (P I, 338) zu einem der Hauptinteressen im Fall Nietzsche erklärt. Ansonsten weicht er in diesem ersten Statement der causa Nietzsche nahezu vollständig aus. Es sei nebenbei angemerkt, daß die Diskutanten, hätten sie nur einen Absatz in der ›Genealogie‹ zurückgeblättert, einen deutlichen Einwand gegen diese Form des Reduktionismus hätten lesen können. Denn dort weist Nietzsche selbst seine am Fall Wagner betriebene psychologische Reduktion in ihre Schranken mit der Bemerkung: »Man thut gewiss am besten, einen Künstler in so weit von seinem Werke zu trennen, dass man ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk. Er ist zuletzt 220

Vgl. E. Federn, Zur deutschen Ausgabe, S. XV; H. Nunberg, Einleitung, S. XIX. Zu den Nietzsche-Diskussionen vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 48–57; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 289–295.

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nur die Vorausbedingung seines Werks, der Mutterschoos, der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf, aus dem es wächst, – und somit, in den meisten Fällen, Etwas, das man vergessen muss, wenn man sich des Werks selbst erfreuen will.« (KSA 5, 343) Am zweiten Nietzsche-Abend im Oktober scheint es fast, als sei Freud dieser Mahnung eingedenk, denn er würdigt ›Ecce homo‹ dezidiert als Kunstwerk: »Das Kennzeichen dafür, daß diese Arbeit Nietzsches als eine vollwertige und ernste aufzufassen ist, bietet uns die Erhaltung der Meisterschaft in der Form.« Die einfachen, auch von ihm noch einmal wiederholten psychiatrischen Diagnosen greifen darum zu kurz: »Nietzsche war Paralytiker. Die Euphorie ist sehr schön ausgebildet etc. etc. [...] Eine gewisse sexuelle Abnormität ist sicher.« Und auch das von den anderen Mitgliedern der Vereinigung bemühte psychoanalytische Vokabular221 wird mit der Bemerkung: »[v]on einem neurotischen Leiden ist aber nichts zu finden«, in seine Schranken gewiesen. Aus dem einfachen ›Fall‹ wird so die »rätselhafte Persönlichkeit« Nietzsche. Hatte Lou Andreas-Salomé Nietzsche als typischen Vertreter seiner Zeit gezeichnet, so charakterisiert Freud den Philosophen, gleichsam vorausweisend auf Jaspers’ Monographie, als absolute Ausnahme-Existenz, als einen einmaligen Virtuosen der Introspektion: »Eine solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden.« Diesem Rätsel nähert sich Freud über verschiedene Verstehensversuche, »Formel[n]« (P II, 27f.), wie er sagt, in denen Theoreme anklingen, die er erst in den nächsten Jahren ausarbeiten wird: die phylogenetische Tragweite des Ödipuskomplexes in ›Totem und Tabu‹ (1912), die 1915 publizierte Narzißmustheorie und die Kulturdiagnostik der späten Schriften. So resümiert auch der Herausgeber der ›Protokolle‹ diesen Nietzsche-Abend: »Es ist interessant zu beobachten, wie klar und einfach gewisse Ansätze der Ichpsychologie in dieser Diskussion entwickelt werden.« (P II, 29) Nicht als eine vermeintlich verdeckte Quelle der Psychoanalyse ist Nietzsche von Interesse, sondern insofern er für Freud einen gedanklichen Experimentierraum darstellt. Ein erster Einstieg bietet sich für Freud mit Nietzsches genealogischem Rätsel zu Beginn des ›Ecce homo‹: »ich bin [...] als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt.« (KSA 6, 264) Er deutet dies als einen nochmaligen Vatermord.222 Gemeinsam mit der im Anschluß erwähnten pubertären »Christusphantasie« (P II, 27) Nietzsches zeichnen sich

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Nach Sadger ist Nietzsche »ein Prachtexemplar der Belastung. Es sei bei ihm auch ein großes Stück Hysterie«; Rank zieht den Vergleich zum »Zwangsneurotiker«, P I, 336, 339. Friedmann und Frey sprechen von »Neurose« und vom »Zusammenschrumpfen des Ichs«, Federn von einer »schweren Neurose«, Rie von »Psychose«. Adler resümiert schließlich: »Es sei keine Frage, daß Nietzsche heute als Neurotiker angesehen werden müßte«, ebd., P II, 25f., 29. »Hier seien ein paar Dinge interessant: z.B. daß er den Vater in der Biographie noch einmal tötet.« P II, 27.

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hier Konturen der späteren religionskritischen Schriften, ›Totem und Tabu‹ (1912/13), ›Der Mann Moses‹ und ›Die Zukunft einer Illusion‹ ab. Durch die dort vorgenommene Verschränkung des Ödipuskomplexes mit der Theorie von der Urhorde und der Hypothese über den Mord am Urvater wird aus dem bisher die individuelle Biographie prägenden ein stammesgeschichtliches Datum. Der Ödipuskomplex bezeichnet jetzt nicht mehr allein eine reale Eltern-KindSituation, sondern mit dem mythischen Mord am Urvater erscheint das ödipale Dreieck nun als strukturelle Konzeption, die zwischen dem Subjekt und dem natürlichen Objekt des Begehrens eine verbietende Instanz einsetzt.223 Das Auseinandertreten von Natur und Kultur, der Uranfang sozialer Organisation vollzieht sich auf diesem Wege. Im besonderen gilt Freud »die Vatertötung [...] als Ausgangspunkt der Religionsbildung« (GW 14, 93). Die Religion wird dadurch zur ersten kulturellen Leistung der Menschheit, sie ist deren erste soziale Organisationsform. Den religiösen Vorstellungen kommen somit zwei Funktionen zu. Sie sind zum einen »historische Reminiszenzen« (GW 14, 366) an diesen mythischen Ursprung der Gesellschaft, zum anderen und damit zusammenhängend rücken sie entwicklungsgeschichtlich in Analogie zur Kindheit und deren psychopathologischen Schwierigkeiten. Der Begriff ›Reminiszenz‹ läßt aufhorchen, beginnt die Psychoanalyse in den ›Studien über Hysterie‹ doch ihre Arbeit mit der Einsicht, »der Hysterische leide größtenteils an Reminiszenzen«.224 An Reminiszenzen leiden auch die Gläubigen, so daß Freud analog zur Psychopathologie nun eine Soziopathologie der Religion entwirft: »Die Religion wäre die allgemein menschliche Zwangsneurose, wie die des Kindes stammte sie aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung.« (GW 14, 367) Diese Gleichung von Religion und Zwangsneurose hat Freud erstmals 1907 in seinem Artikel ›Zwangshandlungen und Religionsübungen‹ publiziert. Im Oktober 1908 bietet sie auch die argumentative Folie für Freuds Überlegungen zum Rätsel Nietzsche. Sie erklärt zumindest, warum Freud die Befunde Vatertötung und Christusphantasien keineswegs psychopathologisch auswertet – wir erinnern uns, bei Nietzsche seien keinerlei neurotische Leiden festzustellen –, sondern soziopathologisch, ›allgemein menschlich‹. Nietzsche wird nicht diagnostiziert, sondern kritisiert. Der erstaunliche Befund zu jenem Philosophen, dem üblicherweise die Proklamation des ›Gott ist tot‹ angelastet wird, lautet: er sei zu sehr »Moralist geblieben, ist den Theologen nicht losgeworden.« (P II, 28) Es mutet eigentümlich an, nun um 1900 Sigmund Freud in der Rolle jener Aufklärer zu finden, die im 18. Jahrhundert im Zuge der Naturalisierung des Verständnisses vom Menschen die religiöse Melancholie als pathologisches Phänomen ins Spiel brachten, und ausgerechnet Nietzsche in der Rolle des Theolo-

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Vgl. J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 355f. J. Breuer und S. Freud, Studien über Hysterie, S. 31. Die ›Studien‹ werden im folgenden unter der Sigle SH nach dieser Ausgabe zitiert.

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gen, gleichsam als letzten religiösen Melancholiker. Denn dieses Krankheitsbild wurde wissenschaftlich bereits Mitte des Jahrhunderts weitestgehend verabschiedet. Karl Idelers ›Theorie des religiösen Wahnsinns‹ (1850) bildet hier den Schlußakkord. Mit dem Sieg der Somatiker über die Psychiker verschwindet auch die im 19. Jahrhundert von letzteren getragene, mit den Namen Heinroth und Ideler in Verbindung stehende Diagnose (Kap. IV.1–2). Dennoch überleben Elemente der religiösen Melancholie und werden in neue wissenschaftliche Diskurse übersetzt. Dies zeigen nicht zuletzt der Hysterie-Diskurs sowie der Fall Nietzsche und seine Diskussion in der Psychoanalyse. Zunächst ist es Jean-Martin Charcot, der eine Verbindung zwischen religiöser Melancholie und Hysterie herstellt, indem er retrospektive Nosographie betreibt und die Darstellung von Besessenheit in der Kunst und in alten Berichten über Hexenprozesse in sein modernes Krankheitskonzept der Hysterie integriert. Die Ikonographie der Besessenheit prägt dann auch die Phasen seiner ›grande hystérie‹, etwa in der religiösen »Bitthaltung« oder der »Kreuzigungs-Haltung«. Die zweite Phase der »unlogischen Haltungen« wird insgesamt mit der dämonischen Besessenheit, die dritte der »leidenschaftlichen Gebärden« mit jener religiöser Ekstase verglichen.225 Die dämonische Besessenheit, mystische Visionen und religiöse Figuren, wie etwa Theresa von Avila – die Breuer später als »Schutzheilige der Hysterie« (SH, 251) bezeichnet – werden auf diesem Wege rückblickend als Hysteriephänomene säkularisiert. Pierre Janet verhilft dann dem alten, im ausgehenden 18. Jahrhundert vielfach zur Erklärung der religiösen Melancholie herangezogenen Begriff der fixen Idee zu neuen wissenschaftlichen Ehren. Als Ursache der Hysterie benennt er ›unbewußte fixe Ideen‹.226 In seiner ›Psychopathia Sexualis‹ führt Krafft-Ebing die religiöse Schwärmerei auf eine unbefriedigte Sexualität zurück227 und dürfte mit dieser Diagnose einen nicht unwesentlichen Beitrag dazu geleistet haben, daß auch an der Wiege der Psychoanalyse die religiöse Melancholie Patin steht. Sigmund Freud erinnert sich in seinen frühen Texten zur Hysterie an Charcots retrospektive Nosographien und setzt mit seiner Ätiologie der Hysterie noch einmal bei der Vorstellung der Besessenheit an. An 225

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J. M. Charcot und P. Richer, Die Besessenen in der Kunst, S. 123, 125, 134, vgl. 5f. Siehe im weiteren M. Schneider, Nachwort, S. 148f.; G. Didi-Hubermann, Erfindung der Hysterie, Abb. XXII, XXIII, XXV; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 151f.; E. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 259, 264ff., 278, 282, 295ff., 300; G. Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor, S. 144. Zu Charcots Phasen im allgemeinen siehe J. M. Charcot und P. Richer, Die Besessenen in der Kunst, 115–130; Freud: SH, 37; GW Nachtr., 73f.; E. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 268–271; E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 179. Vgl. H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 508f.; E. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 464f. Über Janet findet sich der Begriff auch in frühen Freud-Texten, vgl. SH, 118; GW 5, 24, 278; GW 6, 239. R. von Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis, S. 7. Was die sexuelle Ätiologie der Hysterie betrifft, vertritt Krafft-Ebing allerdings eine gegenüber Freuds späterer Annahme einer Abwehr diametral entgegengesetzte Überzeugung, die Hysterie äußere sich in einer krankhaften Steigerung des Sexuallebens, vgl. ebd. S. 90f.

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Fließ schreibt er am 17. Januar 1897: »Erinnerst Du Dich, daß ich immer gesagt, die Theorie des Mittelalters und der geistlichen Gerichte von der Besessenheit sei identisch mit unserer Fremdkörpertheorie und Spaltung des Bewußtseins? […] Die Grausamkeiten gestatten übrigens einige bisher dunkle Symptome der Hysterie zu verstehen.«228 Vor allem sieht er in der mittelalterlichen Metaphorik die »Theorie einer Spaltung des Bewußtseins« versteckt, diese »religiöse Terminologie« gelte es in die »wissenschaftliche der Gegenwart« (GW 1, 31)229 zu übersetzen. Es ist anfänglich insbesondere der Begriff des »Fremdkörpers«230 in der hysterischen Psyche, der die Vorstellung der Besessenheit beerbt. Das psychische Trauma bzw. die psychischen Traumen bilden im seelischen Apparat eine isolierte Gruppe, die gleichsam chirurgisch entfernt respektive ausgetrieben werden muß. Auch in der Rede von ›hysterischen Stigmata‹ und ›Konversion‹231 scheint diese religiöse Genese noch durch. Mit der Berücksichtigung der »hysterischen Delirien der Heiligen und Nonnen«232 sowie seiner Studie ›Eine Teufelsneurose im siebzehnten Jahrhundert‹ (1923) übt sich Freud in der von Charcot vorexerzierten retrospektiven Nosographie. Allerdings verschiebt sich sein Blickwinkel im Laufe der Jahre von der als Hysterie diagnostizierten religiösen Melancholie, die ein individuelles Krankheitsbild bezeichnet, zur Wahrnehmung der Religion als »universeller Zwangsneurose« (GW 7, 139). Der Name Nietzsche fällt im Zuge dieser Veränderung. Nietzsche selbst hat sich mit dem »religiösen Wahn« und vor allem seiner Reformulierung durch die Charcot-Schule vielfach befaßt: »wir rechnen jetzt den größten Theil des psychologischen Apparates, mit dem das Christenthum gearbeitet hat, unter die Formen der Hysterie und der Epilepsoidis.« (KSA 13, 339)233 Er hätte es sich wohl nicht träumen lassen, daß die religiöse Melancholie in bezug auf seine eigene Person noch einmal eine Rolle spielen sollte. Gleichsam als Auftakt zu seiner weiteren Rezeption bringt Nietzsche den religiösen Wahnsinn bei seiner Einlieferung am 10. Januar 1889 in die Baseler Psychiatrie 228

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S. Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 161f. Vgl. auch: »Das Mittelalter kannte genau die ›Stigmata‹, die somatischen Kennzeichen der Hysterie, welche es in seiner Weise deutete und verwertete.« GW Nachtr., 40. So formuliert auch Breuer: »Die abgespaltene Psyche ist jener Dämon, von dem die naive Beobachtung alter, abergläubischer Zeiten die Kranken besessen glaubte.« SH, 269. »Wir müssen vielmehr behaupten, daß das psychische Trauma [...] nach Art eines Fremdkörpers wirkte, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muß«; »die Therapie wirke auch wie die Entfernung eines Fremdkörpers aus dem lebenden Gewebe«, SH, 30, 307; vgl. auch 157, 185, 240; GW 1, 476; GW Nachtr., 191. Vgl. GW 17, 6; GW Nachtr., 40, 57, 76; SH, 106, 134f., 141, 150, 166f., 186 u.a. SH, 34; vgl. GW 1, 14, 89; GW 17, 12; GW Nachtr., 159. Auf die Charcot-Schule verweist die hier erwähnte enge Verbindung von Hysterie und Epilepsie, wie sie die Bezeichnung einer der Phasen des hysterischen Anfalls als ›epileptoide Phase‹ dokumentiert, vgl. J. M. Charcot und P. Richer, Die Besessenen in der Kunst, S. 116f., und die Studie ›Études cliniques sur l’hystéro-épilepsie ou grande hystérie‹ (1881) des CharcotSchülers Paul Richer. Vgl. auch KSA 5, 67ff; G. Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor, S. 144–153, und Sigmund Freuds Handbuch-Artikel ›Hysteroepilepsie‹, GW Nachtr., 91f.

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Friedmatt selbst ins Gespräch. Gegenüber deren Leiter Prof. Dr. Ludwig Wille, einem ehemaligen Basler Kollegen, erinnert er sich: »Wille? Sie sind Irrenarzt. Ich habe vor einigen Jahren ein Gespräch mit Ihnen über religiösen Wahnsinn gehabt. Der Anlaß war ein verrückter Mensch, Adolf Vischer, der damals hier (oder in Basel) lebte.«234 Wille diagnostiziert beim Philosophen ›Paralysis progressiva‹,235 fortschreitende Gehirnerweichung – eine Diagnose, die, wenn auch nicht unumstritten, in der Forschung bislang die meiste Zustimmung gefunden hat. Auch die Wiener Psychoanalytische Vereinigung wird in ihren Diskussionen von diesem Befund ausgehen.236 Es wurde also eine organische Erkrankung festgestellt, die den weiteren theologisch-psychologischen Deutungen eines Julius Kaftan oder Julius Langbehn eigentlich die Grundlage hätte entziehen sollen. Lou Andreas-Salomés religionspsychologische Studie und ihre psychosomatische Krankheitsdeutung wurde ja bereits vorgestellt. In Kenntnis dieser Studie, jedoch – anders als Salomé – in erklärter Gegnerschaft gegen den Positivisten Nietzsche ruft der protestantische orthodoxe Dogmatiker Julius Kaftan die »dann in theologisch-psychologischen Kreisen in die verschiedensten Varianten verästelte These einer funktionellen Störung, also Geisteskrankheit« auf den Plan, »als Folge der unbewältigten Auseinandersetzung mit dem Christentum und mit der ›Gott-ist-tot‹-Deklaration in der ›Fröhlichen Wissenschaft‹.«237 In denselben Bahnen bewegte sich auch der als ›RembrandtDeutsche‹ bekannte Julius Langbehn mit seinem religiösen Heilungsversuch des Philosophen während seines Aufenthaltes in Binswangers Klinikum in Jena im Herbst 1889.238 Bei dem später zum Katholizismus konvertierenden Langbehn taucht sogar die alte theologische Begründung der religiösen Melancholie wieder auf. So charakterisiert er Nietzsche als »eine reine Natur, in die der Teufel

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Oeverbeck am 15. Januar 1889 im Brief an Heinrich Köselitz, zit. nach C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 49. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 54. Zur Diagnose auf progressive Paralyse als Folge einer syphilitischen Infektion vgl. P I, 336, 337; P II, 26, 27f. Siehe auch R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 53, der weitere Literatur verzeichnet, und P. Volz, Nietzsches Krankheit. In: Nietzsche-Handbuch. Hrsg. von Henning Ottmann, S. 57f. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 11f., vgl. auch Bd. 2, S. 617–630. Kaftan hatte im August 1888 den Urlaub in Sils verbracht und während dieser Zeit regen Kontakt zu seinem ehemaligen Baseler Kollegen Nietzsche gehabt. Er erinnert sich: »Ich habe aber während der ganzen Zeit niemals irgendwelche Spur einer beginnenden geistigen Erkrankung an ihm wahrgenommen«, Aus der Werkstatt des Übermenschen, S. 253ff. Nichtsdestoweniger bestreitet er später die »plötzliche Katastrophe« und meint Nietzsches Zusammenbruch sei dadurch vorbereitet und ausgelöst worden, daß »er Gott schlechterdings zum Leben brauchte, aber den lebendigen Gott und den Weg zu ihm verloren hatte.« Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral, S. 10. »Besonders Nietzsches Kampfstellung gegen das Christentum machte er (wie Kaftan) für die zeitweilige nervliche Erschöpfung verantwortlich und glaubte, daß wenn man Nietzsche wieder auf die rechte Bahn bringe, ihn mit seinem Eigentlichen, seinem idealen frommen Wesen aussöhne, so werde sich die Spannung lösen, die Zerrüttung des Gemüts sich aufheben.« C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 95f.

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gefahren ist.«239 Die religionspsychologischen Nietzsche-Bilder Salomés, Langbehns und Kaftans kommen, so unterschiedlich sie auch in ihrer polemischen Ausrichtung sind, darin überein, daß sie sich am individuellen Fall orientieren und im Namen eines recht verstandenen Glaubens dem abtrünnigen Philosophen ›falsche Religionsbegriffe‹ vorwerfen, wie man in Reminiszenz an die Sprache der Spätaufklärung formulieren kann. Sigmund Freuds in seinem Nietzsche-Statement anklingende Religionsdeutung bezieht im Hinblick auf beide Aspekte gänzlich andere Standpunkte. In ihrer psychoanalytischen Fassung hört die religiöse Melancholie auf, ein individuelles Krankheitsbild zu sein. Die Religion wird zur Universalie und »das ganze Menschengeschlecht zum Patienten« (GW 14, 109). Als entwicklungsgeschichtliche Kindheit der Menschheit wird ihr zum einen eine kulturhistorische und kulturprägende Funktion zugesprochen, zum anderen erscheint sie in dieser Form als eine notwendig zu überschreitende Phase. Als allgemein menschliche Zwangsneurose ist die Religion Bestandteil der Soziopathologie und damit ein von der Wissenschaft im Allgemeinen, der Psychoanalyse im Besonderen zu heilendes Übel. Richtige Religionsbegriffe kann es nach Freud aufgrund ihrer Unbeweisbarkeit und Realitätsferne nicht geben. ›Die Zukunft einer Illusion‹ spricht hier eine deutliche Sprache.240 Es obliegt der Psychoanalyse, die religiösen Vorstellungen als undurchschaute psychologische Mechanismen aufzuklären. Sie werden entweder in ihrem Vergangenheitsbezug als archaisches Erbgut ausgewiesen. So wird der Gottesbegriff durch den des Urvaters ersetzt bzw. Nietzsches Übermensch, wie oben bereits vermerkt, mit diesem identifiziert. Oder die religiösen Vorstellungen werden in ihrer Zukunftsorientierung als Wunschvorstellungen und Illusionen entlarvt. Soziologisch erscheint die durch die Neurose bedingte gesellschaftliche Isolation des Patienten als alternativer, moderner Weg zum ehemaligen Rückzug ins Kloster.241 Auch in ihrer therapeutischen Praxis versteht sich die Psychoanalyse als aufgeklärte, wissenschaftliche Erbin religiöser Riten. Dies thematisiert Freud des öfteren im Hinblick auf die Ablösung der Beichte durch die psychoanalytische Gesprächstherapie.242 Die gesellschaftliche »Funktion« des Analytikers bringt Freud auf die »Formel ›Weltliche Seelsorge‹« (GW 14, 293). Die epistemologische Kritik an der Religion schließt im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts insbesondere am Begriff der Projektion an, ›Wunscherfüllung‹

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Zit. nach J. C. P. Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 3, S. 100. Die Lehrsätze der Religion sind unbeweisbar, da sie »nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens« sind, »es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit«, GW 14, 352. Vgl. GW 8, 54, 418. »Man wirkt, so gut man kann, [...] als Beichthörer, der durch die Fortdauer seiner Teilnahme und seiner Achtung nach abgelegtem Geständnisse gleichsam Absolution erteilt«, SH, 299; vgl. auch 32, 114, 157, 228f.; GW Nachtr., 89.

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und ›Illusion‹ kommen erst später. In der ›Psychopathologie des Alltagslebens‹ (1901) findet sich folgende Formulierung: Ich glaube in der Tat, daß ein großes Stück der mythologischen Weltauffassung, die weit bis in die modernsten Religionen hineinreicht, nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie. Die dunkle Erkenntnis (sozusagen endopsychische Wahrnehmung) psychischer Faktoren und Verhältnisse des Unbewußten spiegelt sich – es ist schwer, es anders zu sagen, die Analogie mit der Paranoia muß hier zu Hilfe genommen werden – in der Konstruktion einer übersinnlichen Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewußten zurückverwandelt werden soll. (GW 4, 287f.)

In wörtlichem Anklang und unter Verweis auf diese Passage wiederholt Freud diese Religionskritik in seinem Diskussionsbeitrag im Oktober 1908 als Nietzschekritik: »[M]it großem Scharfsinn, gleichsam in endopsychischer Wahrnehmung,« habe der Philosoph »die Schichten seines Selbst« erkannt, begehe dann jedoch den Fehler, »die Erkenntnis, die er an sich gemacht hat, als Lebensanforderung nach außen« zu projizieren. »In ähnlicher Weise habe sich [...] die ganze Menschheit eine moralische Schattenwelt geschaffen, durch Projektion der endopsychisch wahrgenommenen Substanzen.« (P II, 27f.)243 Aufgrund dieses Projektionsmechanismus besteht laut Freud insgesamt eine Analogie zwischen den kulturellen Leistungen von Religion, Philosophie, Kunst und Neurose. Wobei des öfteren der Kunst die Hysterie, der Philosophie die Paranoia, der Religion die Zwangsneurose zugeordnet wird.244 Mit der in der ›Psychopathologie‹ erwähnten ›dunklen Erkenntnis‹ und der hier genannten »Introspektion« und »intuitiven Erkenntnis« (P II, 28) ist der weitere rhetorische Tenor von Freuds epistemologischer Nietzschekritik vorgezeichnet. Der Philosoph gehört seinen Erkenntnismitteln nach noch einem vorwissenschaftlichen, wie Freud in der Rolle des Säkularisierungstheoretikers formuliert, theologischen Zeitalter an. Dies ist der erste, phylogenetische Teil der »Formel«, die sich

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Die besondere Ironie dieser Nietzschekritik in den ›Protokollen‹ hebt Gasser hervor, denn »ausgerechnet Nietzsche [hat] selbst eine nicht nur beiläufige Analyse der Projektion vorlegt und dabei wesentliche Momente von Freuds späterer Theorie zur Sprache gebracht«, »nämlich: die Projektion als unumgängliches, allgemeines psychisches Phänomen; [...] als anthropomorphe Mythologie und schließlich und im besonderen als Abwehrmechanismus.« R. Gasser, Nietzsche und Freud, 276. »Der Hysteriker ist ein unzweifelhafter Dichter, wenngleich er seine Phantasien im wesentlichen mimisch und ohne Rücksicht auf das Verständnis der anderen darstellt; das Zeremoniell und die Verbote des Zwangsneurotikers nötigen uns zum Urteil, er habe sich eine Privatreligion geschaffen, und selbst die Wahnbildungen der Paranoiker zeigen eine unerwünschte äußere Ähnlichkeit und innere Verwandtschaft mit den Systemen unserer Philosophen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier Kranke in asozialer Weise doch dieselben Versuche zur Lösung ihrer Konflikte und Beschwichtigung ihrer drängenden Bedürfnisse unternehmen, die Dichtung, Religion und Philosophie heißen, wenn sie in einer für eine Mehrzahl verbindlichen Weise ausgeführt werden.« GW 12, 327; vgl. Zwangshandlungen und Religionsübungen. In: GW 7, 129–139; GW 9, 91; GW 10, 164.

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Freud für Nietzsche »zurechtgemacht« (P II, 28) hat: Nietzsche, der Philosoph der dunklen, intuitiven Erkenntnis; Nietzsche der Moralist und Theologe. Der zweite, ontogenetische Teil der Formel ist eng mit der Projektion verknüpft, berücksichtigt jedoch die individuelle Pathographie des Philosophen. Freud hat an diesem Nietzscheabend nicht nur den Ödipuskomplex im Hinterkopf, sondern er scheint bereits an einem weiteren psychoanalytischen Mythos, dem Narzißmus, zu arbeiten.245 Mit der Projektion und den ebenfalls erwähnten Aspekten ›Rückwendung auf das Ich‹ und ›Homosexualität‹246versammelt Freud im Oktober 1908 wichtige Elemente jenes Komplexes, den er dann 1911 am Fall Schreber und 1914 theoretisch in ›Zur Einführung des Narzißmus‹ beschreiben wird. Nietzsche »wendet sich auf das einzige Forschungsgebiet, das ihm geblieben ist und das ihm als Homosexuellen ohnehin näher lag, an das Ich.« (P II, 27) Anhand der autobiographischen Aufzeichnungen des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber wird Freud dieses Ich dann näherhin als Körper bezeichnen. Der primäre Narzißmus wird als Phase zwischen dem Autoerotismus und der Objektwahl in der libidinösen Entwicklung definiert. Das Individuum faßt seine »autoerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit« zusammen und nimmt sich, »um ein Liebesobjekt zu gewinnen, zunächst sich selbst, seinen eigenen Körper zum Liebesobjekt« (GW 8, 297). Der eigene Körper ist also nach einer ersten Synthesisleistung das anfängliche Liebesobjekt. Dies ist ein wichtiger Punkt, der auch für Freuds Auffassung der Hysterie eine Rolle spielen wird, insbesondere für das, was er ›somatisches Entgegenkommen‹ oder ›sekundären Krankheitsgewinn‹ nennt. Denn, daß der Körper in der Hysterie zum Ausdrucksmedium genommen wird, beinhaltet auch die Regression zu dieser narzißtisch-libidinösen Phase. Der ›Lustgewinn‹ somatischer Symptome in der Hysterie läßt sich so erklären.247 Auch der Projektionsmechanismus kommt in der Analyse des Falles Schreber zum Tragen. Denn die Gefühlsambivalenz verdrängter Homosexualität wird entweder als Paranoia nach außen projiziert, oder als Größenwahn ausagiert (GW 8, 299–303). Schließlich wird in diesem Text an eher beiläufiger Stelle tatsächlich Nietzsche genannt. Die Allgemeingültigkeit psychoanalytischer Symbolik soll anhand der von Schreber und Nietzsche verwendeten Sonne veranschaulicht werden. In beiden Fällen symbolisiere

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Dies merkt bereits der Herausgeber der ›Protokolle‹ an, vgl. P II, 27. Den Ausdruck ›Narzißmus‹ verwendet Freud erstmals auf einem Diskussionsabend der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 10. November 1909 und 1910 in der zweiten Auflage seiner ›Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‹ und in seinem Leonardo-Buch, vgl. STA 3, 39; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 317. Siehe auch die Äußerungen von Federn, Adler und Sadger in den ›Protokollen‹, P I, 336f.; P II, 26, 29. »Soweit mit dem Ausdruck ›somatisches Entgegenkommen‹ nicht mehr nur die Wahl eines bestimmten Körperorgans erklärt werden soll, sondern die Wahl des Körpers als Ausdrucksmittel selbst, wird man auch die Wechselfälle in der narzißtischen Besetzung des eigenen Körpers berücksichtigen müssen«, J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 135.

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sie die Vatersehnsucht.248 In ›Zur Einführung des Narzißmus‹ kommt dann noch die begriffliche Differenzierung zwischen dem primären, frühkindlichen und dem sekundären, pathologischen Narzißmus hinzu, die in der SchreberAnalyse bereits angelegt war, und diejenige zwischen Ich- und Objektlibido.249 Ferner werden im Kontext des Narzißmus und des ihm zugeordneten Krankheitsbildes der Paranoia die Grundlagen für die in ›Das Ich und das Es‹ (1923) ausgeführte Konzeption des Über-Ich gelegt. Von dem Anteil narzißtischer Libido an den sozialen Trieben hatte Freud bereits 1911 gesprochen. Jetzt wird die Bedeutung des primären Narzißmus für die Herausbildung eines Ichideals aufgezeigt, dem mit dem Gewissen eine »zensorische Instanz« (GW 10, 163) zur Seite gestellt ist, die nach dessen Maßgabe das Ich beurteilt. Das Über-Ich wird später beide Funktionen, Ichideal und Zensor, übernehmen.250 Im Fall des sekundären Narzißmus wird diese zensierende Instanz nach außen projiziert, so läßt sich der Beobachtungswahn, die Paranoia erklären. Der Kreis von der Erwähnung der Paranoia als soziopathologischem Phänomen in der ›Psychopathologie des Alltagslebens‹ über die Nietzsche-Diskussion und den Fall Schreber hat sich nun geschlossen. Freud ergänzt die bislang stark akzentuierte phylogenetische Komponente um ihr ontogenetisches Gegenstück, indem er den Mechanismus der Paranoia mit den Begriffen Narzißmus, Ichideal und Gewissen aufklärt. Auch die phylogenetische Argumentation wird in diesem Zuge präzisiert. In ›Totem und Tabu‹ (1913) und ›Zur Einführung des Narzißmus‹ wird neben dem Ödipuskomplex dieses zweite Mythologem in die Entwicklungsgeschichte der Menschheit integriert, und zwar indem es dem ödipalen Szenario der Religionsgründung vorgeschaltet wird. Der animistischen Phase intellektueller Überschätzung, »der Glaube an die Allmacht der Gedanken, die unerschütterliche Zuversicht auf die Möglichkeit der Weltbeherrschung« (GW 9, 110), korrespondiert Freud zufolge der Narzißmus. In Anlehnung an Auguste Comtes Drei-Stadien-Gesetz liest sich seine dreistufige Kulturgeschichte nun folgendermaßen: Es entspricht dann zeitlich wie inhaltlich die animistische Phase dem Narzißmus, die religiöse Phase jener Stufe der Objektfindung, welche durch die Bindung an die Eltern charakterisiert ist, und die wissenschaftliche Phase hat ihr volles Gegenstück in jenem Reifezustand des Individuums, welcher auf das Lustprinzip verzichtet hat und unter Anpassung an die Realität sein Objekt in der Außenwelt sucht. (GW 9, 111) 248

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Vgl. GW 8, 290. Auch in diesem Fall steckt hinter dem Nietzsche-Verweis wohl nicht die eigene Lektüre, sondern ein Patient habe ihm Nietzsches ›Vor Sonnenaufgang‹ aus dem ›Zarathustra‹ in diesem Kontext nahegelegt, schreibt Freud. Zu diesem Nietzsche-Verweis vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 68–73, der im weiteren den Nietzsche-Diskussionsbeitrag im Oktober 1908 als eine »Art Modell für die gut zwei Jahre später an Schreber entwickelte Theorie der Paranoia« auffaßt, S. 237. Vgl. STA 3, 40. Ein solches Über-Ich hatte Salomé bereits am individuellen Fall als ›Über-Nietzsche‹ skizziert.

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Von der vorangehenden narzißtischen Phase erbt die Religion noch einen weiteren, bisher noch nicht genannten Kritikpunkt, denn die menschliche Überschätzung ist in ihr nur geschmälert, nicht aufgehoben. Zwar wird die Allmacht den Göttern übertragen, diese bleiben jedoch beeinflußbar. Die entscheidende narzißtische Kränkung fügt erst die Wissenschaft dem Menschen zu. Und hier sind es vor allem drei wissenschaftliche Kränkungen, die Freud wiederholt erwähnt und durch die er seinen eigenen Platz in der Kulturgeschichte sichert. Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, daß unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hatte. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluß von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht. (GW 11, 294f.)

An anderem Ort spricht Freud hinsichtlich der kosmologischen, biologischen und psychologischen Kränkung auch von der wissenschaftlichen »Zerstörung dieser narzißtischen Illusion[en]« (GW 12, 7) und hebt darin die Bedeutung des Narzißmus als kulturkritischer Kategorie noch deutlicher hervor. Freuds Kultur- und Wissenschaftsgeschichte gibt Anlaß, die Konkurrenzsituation Nietzsche-Freud noch einmal zu profilieren. Die obige Rede von wissenschaftlichen ›Umwertungen‹ könnte hier sogar präzise auf diese Situation gemünzt sein, denn um das Vorrecht, sowohl das religiöse zugunsten des wissenschaftlichen Zeitalters verabschiedet zu haben, als auch dem Menschen die dritte ›empfindlichste Kränkung‹ zugefügt zu haben, konkurrieren Nietzsche und Freud. Und auch ihre Argumentationstechniken gleichen sich in einigen Punkten, übersetzen doch beide Einsichten der Biologie in die Sprache der Psychologie. Am auffälligsten zeigt sich dies in ihren Variationen des ›biogenetischen Grundgesetzes‹ von Ernst Haeckel, das in einer seiner zahlreichen Formulierungen lautet: »Die Ontogenie ist eine kurze und schnelle, durch die Gesetze der Vererbung und Anpassung bedingte Wiederholung oder Recapitulation der Phylogenie«.251 Für Freud bietet sein ›psychogenetisches Grundgesetz‹, die 251

E. Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte, S. 361f. Zu Freud und Haeckel vgl. F. J. Sulloway, Freud, S. 285ff., 364–370; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 100, 391, 644f.; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 336; R. Burkholz, Reflexe der DarwinismusDebatte in der Theorie Freuds, S. 58, 109, 137, 210f.; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbe-

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Annahme, daß der »Satz ›die Ontogenie sei eine Wiederholung der Phylogenie‹ auch auf das Seelenleben anwendbar sein müsse« (GW 8, 413), die Möglichkeit, Psychopathologie und Kulturdiagnostik miteinander zu verschränken. Vor allem dient es zu einer wechselseitig einsetzbaren Beweisführung: Einerseits fungieren die Neurotiker als empirischer Beweis für die Hypothesen über die Vorzeit, andererseits gelten die Wilden als experimentelle Beglaubigung der Neurosentheorie.252 In einer seiner zahlreichen Formulierungen dieses Grundgesetzes in der ›Traumdeutung‹ wird auch Nietzsche als dessen Kronzeuge bemüht: »Hinter dieser individuellen Kindheit wird uns dann ein Einblick in die phylogenetische Kindheit, in die Entwicklung des Menschengeschlechts, versprochen, von der die des einzelnen tatsächlich eine abgekürzte, durch die zufälligen Lebensumstände beeinflußte Wiederholung ist. Wir ahnen, wie treffend die Worte Fr. Nietzsches sind, daß sich im Traume ›ein uraltes Stück Menschtum fortübt, zu dem man auf direktem Weg kaum mehr gelangen kann‹, und werden zur Erwartung veranlaßt, durch die Analyse der Träume zur Kenntnis der archaischen Erbschaft des Menschen zu kommen, das seelisch Angeborene in ihm zu erkennen.« (GW 2/3, 554)253 Mit dem ›seelisch Angeborenen‹ ist zudem ein weiteres Biologem angesprochen, das Nietzsche und Freud psychologisieren, nämlich Lamarcks Lehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften. Sowohl Nietzsche als auch Freud sind wie zahlreiche ihrer Zeitgenossen Anhänger des Psycholamarckismus, der Lehre von der psychischen Vererbung, die in Freuds Worten davon ausgeht, »daß die psychischen Niederschläge jener Urzeiten Erbgut geworden waren, in jeder neuen Generation nur der Erweckung [...] bedürftig.« (GW 16, 241)254

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wußten‹, S. 79f.; zu Haeckel und Nietzsche vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 617; G. Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor, S. 2–9, 24–27, 89–95. Vgl. P. Ricœur, Die Interpretation, S. 210f. Es handelt sich bei diesem Zitat um einen Zusatz zur 5. vermehrten Aufl. der ›Traumdeutung‹ aus dem Jahr 1919 und, wie bereits vermerkt, um ein Zitat aus dritter Hand, vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 103ff. Später wird Freud Haeckels biogenetisches Grundgesetz dazu verwenden, die konservative Natur der Triebe insgesamt und seinen Todestrieb zu begründen, vgl. GW 13, 38f., und R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 645. Freud plante diesbezüglich mit Ferenczi ein Gemeinschaftsprojekt. Vgl. Freud an Ferenczi, 28. 1. 1917: »Mein Eindruck ist, daß wir uns voll den Psycholamarckisten, etwa Pauly, anschließen und wenig ganz Neues zu sagen haben werden«, zit. nach R. Burkholz, Reflexe der Darwinismus-Debatte in der Theorie Freuds, S. 99, 172; Freud an Abraham, Oktober 1917: »Die Absicht ist, L.[amarck.] ganz auf unseren Boden zu stellen und zu zeigen, daß sein ›Bedürfnis‹, welches die Organe schafft und umschafft, nichts anderes ist als die Macht der unbewußten Vorstellung über den eigenen Körper, wovon wir Reste bei der Hysterie sehen, kurz die ›Allmacht der Gedanken‹.« S. Freud, K. Abraham, Briefe 1907–1926, S. 244. Zu Freud und Lamarck vgl. im weiteren F. J. Sulloway, Freud, S. 382ff.; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 370f., 391f., 437f., 645; 652f.; U. Oevermann, Vorwort, S. XIII, XV; zu Nietzsche und Lamarck vgl. W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf; G. Moore, Nietzsche, Biology and Metaphor, S. 21ff., 27, 30, 44, 60; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 259, 645, 652. Zum Neolamarckismus um 1900 vgl. L. Büchner, Neu-Lamarckismus (1897).

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Kehren wir noch einmal zum Oktober 1908 zurück und fassen die bislang herausgearbeiteten Formeln Freuds für Nietzsche zusammen: Mit der Vatertötung und den Christusphantasien liegen so Indizien für einen unbewältigten Ödipuskomplex und mit der Homosexualität und Rückwendung zum Ich Indizien für eine narzißtische Regression vor.255 Dennoch zieht Freud die an sich naheliegenden psychopathologischen Schlüsse nicht, sondern betont mit dem Verweis auf die ganze Menschheit gleichsam die phylogenetische Normalität solcher soziopathologischen Anlagen. Dadurch begegnet er Nietzsche einerseits nicht als Patienten, sondern auf Augenhöhe der wissenschaftlichen Konkurrenz, um ihn andererseits genau auf dieser Ebene nur desto nachhaltiger zu diskreditieren, indem er den Philosophen aus dem wissenschaftlichen in das vormoderne religiöse Zeitalter zurück verbannt. Und dieses durch die Formeln ›Nietzsche, der Theologe‹, ›Nietzsche, der Narzißt‹ getragene Verdikt findet noch eine letzte Zuspitzung in einer nun tatsächlich ontogenetischen Formel, die den noch zugestandenen Rest wissenschaftlicher, psychologischer Einsicht als Verdienst der Krankheit anrechnet. Dann sieht man, wie in sein Leben als Schicksal die Krankheit tritt [...]. Durch die Krankheit vollständig vom Leben abgeschnitten [...,] beginnt er mit großem Scharfsinn, gleichsam in endopsychischer Wahrnehmung, die Schichten seines Selbst zu erkennen. Er macht eine Reihe glänzender Entdeckungen an seiner Person. [...] Eine solche Introspektion wie bei Nietzsche wurde bei keinem Menschen vorher erreicht und dürfte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht werden. [...] Was ihn zu dieser ganz ungewöhnlichen Leistung befähigt hat, durch alle Schichtungen hindurch die Triebe zu erkennen, ist der Auflockerungsprozeß durch die Paralyse. So hat er die paralytische Anlage in diesen wissenschaftlichen Dienst gestellt. (P II, 27f.) 256

Die Paralyse setzt jene zensorische Instanz außer Gefecht, die die Psychoanalyse im normalen Fall mühevoll therapeutisch umgehen muß, die für die Abwehr, die Übertragung und auch für die Mängel der Introspektion als Erkenntnismittel verantwortlich zeichnet. Es ist also die Paralyse, die Nietzsche zu einem Psychoanalytiker avant la lettre macht. Nietzsches psychologische Einsichten in ›Ecce homo‹ sind darum ein Krankheits- und ein einmaliger wissenschaftlicher Glücksfall. Beziehen sich die Zensurmaßnahmen der Psychoanalyse gemäß vor-

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Ausführlich wird Freud den Zusammenhang von homosexuellen Neigungen, Vatertötung und Christusideal später in ›Dostojewski und die Vatertötung‹ ausformulieren, vgl. STA 10, 267– 286. Gegenüber dem ihn von Theodor Reik als großen Vorläufer der Psychoanalyse angedienten »Psychologen Dostojewski« verhält sich Freud vergleichbar unduldsam wie gegen den Vorläufer Nietzsche: »Ich hätte ihm auch vorzuwerfen, daß sich seine Einsicht so sehr auf das abnorme Seelenleben einschränkt«, zit. nach T. Reik, Freud als Kulturkritiker, S. 64. Später in ›Zur Einführung des Narzißmus‹ wird der »Einfluß organischer Krankheit« noch einmal angemerkt: »es ist allgemein bekannt und erscheint uns selbstverständlich, daß der von organischen Schmerzen und Mißempfindungen Gepeinigte das Interesse an den Dingen der Außenwelt [...] aufgibt«, GW 10, 148, dann jedoch nicht mehr weiter verfolgt.

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rangig auf das Gebiet der Sexualität, so verabsäumt Freud es nicht, auch dieses ins Spiel zu bringen. Die Anlage von ›Ecce homo‹ lege es nahe, »daß ein Kapitel: ›Über meine Sexualität‹ hineingehört und vielleicht auch geschrieben wurde.« (P II, 28) Als externer Zensor habe wohl später die Schwester fungiert (P I, 338). So nahe, bis zu den Grundpfeilern der Psychoanalyse, bringt die Krankheit den Philosophen. Und Freud befindet sich seinerseits mit dieser somatopsychischen Argumentation im Gleichklang mit dem späten Nietzsche, den Vorworten aus den Jahren 1884 und ›Ecce homo‹, wo ebenfalls die Krankheit bzw. der Leib zum zentralen Akteur in Leben und Werk stilisiert wird. Allerdings gibt es an diesem Diskussionsabend und auch im weiteren keine Indizien dafür, daß Freud sich dieser Nachbarschaft bewußt war. In seinem einleitenden Vortrag über den ›Ecce homo‹ im Oktober 1908 erwähnt Alfred Häutler Nietzsches Krankheitsdeutung nur ganz beiläufig (P II, 23), und es spricht nichts dafür, daß Freud darüber hinaus genauere Kenntnisse des ›Ecce homo‹ hatte. Seine somatopsychischen Überlegungen an diesem Abend scheinen sich einer anderen Quelle zu verdanken. An dem vorherigen Nietzscheabend der Psychoanalytischen Vereinigung hatte Alfred Adler diese Deutung in die Diskussion gebracht, und er macht auch an dem zweiten Abend auf seine älteren Urheberrechte für diese aufmerksam (P I, 337; P II, 29). Überhaupt scheint sich Freud auf den Diskussionsabend im Oktober mit Hilfe des Protokolls der letzten Nietzsche-Sitzung vorbereitet zu haben, seine Formulierungen schließen vielfach wörtlich an dieses an. Die für Freud ungewöhnliche somatopsychische Argumentation klärt sich also als Aneignung eines Gedankens von Alfred Adler auf. Und man kann diese Nietzsche-Diskussion mit ihren Urheberrechtsfragen und ihren zwischen Seele und Leib schwankenden Krankheitsdeutungen bereits als ein Vorspiel des späteren Eklats zwischen Freud und Adler verstehen. Adlers somatopsychische Theorie der Organminderwertigkeit wird dann u.a. zu einem Stein des Anstoßes. Freud, und mit ihm die Psychoanalyse, wird bei der psychischen Genese organischer Krankheiten, und d.h. bei einer psychosomatischen Fragestellung bleiben. Die organisch induzierte psychische Krankheit wird zwar mit Konzepten wie dem ›somatischen Entgegenkommen‹ und der ›Aktualneurose‹ gestreift, bleibt jedoch im Rahmen dieser Wissenschaft marginal. Anhand dieser drei Formeln: Nietzsche als Theologe, Narzißt und Paralytiker, kommt Freud zu seinem abschließenden Urteil über den Philosophen. Bei Nietzsche handelt es sich um eine unheilvolle, weil unwissenschaftliche Verbindung von »Pastoralem« und »psychologischer Einsicht«: »Das Lehrhafte, Pastorale, das in ihm vom Christus-Ideal steckt, kommt zu seiner psychologischen Einsicht hinzu. Auf diese Art entstehen die verwirrenden, im Grunde aber richtigen Resultate der Nietzscheschen Anschauungen. Diese Formel habe er sich für Nietzsche zurechtgemacht.« (P II, 28) Mit dieser Argumentation nimmt Freud auf sehr subtile Art und Weise die Nietzsche von den anderen Mitglie435

dern der Wiener Psychoanalytischen Gesellschaft zugewiesene Rolle eines Urvaters der Psychoanalyse auf und wendet sie in aller Konsequenz gegen diesen. So wie er Jahre später Nietzsches Übermenschen in die Urzeit rückprojiziert, so versetzt er dessen Schöpfer hier in ein vormodernes Zeitalter. Die gemäße Reaktion auf einen solchen (wissenschaftlichen) Urvater ist, folgt man Freuds Kulturgeschichte, die dem Tabu eigentümliche Gefühlsambivalenz (GW 9, 64, 192). Der Träger eines Tabus gilt als heilig und gefährlich zugleich. Anstekkungsgefahr und Berührungsangst – auch die vor einer Gedankenberührung – sind signifikante Merkmale einer solchen Beziehung (GW 9, 26, 37, 39). In seinen Argumentationstechniken und rhetorischen Gesten dem Rätsel Nietzsche gegenüber agiert Freud genau diese Gefühlsambivalenz aus. Die bereits angesprochenen Paradoxa, höchstes Lob und ›Lektüreverbot‹, ein ›Reichtum der Schriften‹, der sich ›bewußt versagt‹ wurde, gehören in diesen Zusammenhang. Mit diesen argumentativ-rhetorischen Strategien gelingt Freud ein hermeneutisches Meisterstück, nämlich ein ›wissenschaftliches‹ Werturteil über Nietzsches Werk abgeben zu können, ohne dessen Schriften zu kennen. Durch die kulturgeschichtliche Einordnung des ›Theologen Nietzsche‹ werden das Werk im allgemeinen und seine unzureichenden Erkenntnismittel disqualifiziert. Und zugleich wird die eigene Lektüreenthaltung legitimiert und gleichsam der Psychoanalyse vorgeschrieben. Denn auf die abschließende Nietzsche-Formel folgt Freuds eingangs zitierte Bemerkung, »daß er Nietzsche nie zu studieren vermochte« (P II, 28). Die Nietzsche-Überwindung wird zu einem ähnlich dringlichen Programm wie »die Abwendung von der Religion«, die sich »mit der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehen muß« (GW 14, 367). Und in einigen der späteren religionskritischen Texte finden sich die Schlüsselbegriffe ›Intuition‹ und ›Introspektion‹ wieder, die Freud im Oktober 1908 an Nietzsche geheftet hat und die diesem von nun an auch in seinen weiteren Äußerungen anhängen werden: »Die wissenschaftliche Arbeit ist aber für uns der einzige Weg, der zur Kenntnis der Realität außer uns führen kann. Es ist wiederum nur Illusion, wenn man von der Intuition und der Selbstversenkung etwas erwartet; sie kann uns nichts geben als – schwer deutbare – Aufschlüsse über unser eigenes Seelenleben, niemals Auskunft über die Fragen, deren Beantwortung der religiösen Lehre so leicht wird.« (GW 14, 354) An dem ersten Nietzscheabend der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung war noch keine dieser drei Nietzsche-Formeln zu hören. Das argumentativ-rhetorische Rüstzeug für seinen weiteren Umgang mit Nietzsche entwickelt Freud erst im Oktober 1908. Im April dieses Jahres beginnt Freuds Diskussionsbeitrag mit folgender Bemerkung: »Prof. Freud betont vor allem sein eigentümliches Verhältnis zur Philosophie, deren abstrakte Art ihm so unsympathisch sei, daß er auf das Studium der Philosophie schließlich verzichtet habe. Auch Nietzsche kenne er nicht ...« (P I, 338). ›Nietzsche als Philosoph‹ ist eine Formel, die in den weiteren Äußerungen des Psychoanalytikers nicht wieder auftaucht. Das 436

mag zum einen an der griffigeren, im Oktober gefundenen Formel ›Nietzsche als Theologe‹ liegen, deren argumentativer Mehrwert schon herausgestellt wurde. Über sie läßt sich Nietzsche zwanglos in Freuds gerade im Entstehen begriffene dreistufige Kulturgeschichte einzeichnen, mit den skizzierten fatalen Konsequenzen für diesen. Zum anderen hat Freud mit dem Stichwort Philosophie ein Problem seiner eigenen intellektuellen Biographie und der von ihm konzipierten Wissenschaft angesprochen, das er sich womöglich schwerer vom Leib halten konnte als einen Theologen Nietzsche. Hinter der letztgenannten argumentativ und rhetorisch kunstvollen Fassade verbirgt sich eine weitere Gefühlsambivalenz, die sich nicht so schnell ad acta legen läßt. Freuds Selbstaussagen sind durchdrungen von dieser Ambivalenz gegenüber der Philosophie. Von seinem leidenschaftlichen Interesse an dieser in seiner Jugend- und Studienzeit – er erwog sogar unter dem Einfluß Franz Brentanos ein philosophisches Doktoratsstudium –257 spricht er des öfteren. So etwa in einem Brief an Wilhelm Fließ: »Ich habe als junger Mensch keine andere Sehnsucht gekannt als die nach philosophischer Erkenntnis, und ich bin jetzt im Begriffe sie zu erfüllen, indem ich von der Medizin zur Psychologie hinüberlenke«.258 Wie das philosophische Interesse psychologisch zu erfüllen sei, das faßt Freud 1901 in der ›Psychopathologie des Alltagslebens‹ dann in das bereits erwähnte Vorhaben der Überführung von Metaphysik in Metapsychologie. Die Äußerungen zur Philosophie werden in den nächsten Jahren zunehmend abweisender. Seine Kritik arbeitet mit den Begriffen Projektion und Paranoia. Die Philosophie wird in Freuds Kulturgeschichte zu einer Randerscheinung des religiösen, vorwissenschaftlichen Zeitalters. So erscheint der philosophische Systemwahn analog zu den Wahngebilden der Paranoia (GW 10, 164). Ihr Erkenntnisinstrumentarium wird auf Intuition, Spekulation und Selbstbeobachtung beschränkt.259 Die Nietzsche-Äußerungen gehören in diesen Rahmen. Zum einen handelt es sich hierbei erkennbar um ein Zerrbild alter Metaphysik. Die zeitgenössische positivistische Philosophie, für die sich Freud Zeit seines Lebens interessierte,260 war nicht gemeint. Zum anderen wird ebenfalls deutlich, daß die Einwände, vor allem Systemwahn und Selbstbeobachtung, in puncto Nietzsche ins Leere laufen. Dieser Philosoph hat sich selbst als schärfster Kritiker von System und Selbstbeobachtung ausgezeichnet.261 Es darf auch nicht vergessen werden, wel257

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Vgl. S. Freud, Briefe an Eduard Silberstein 1871–1881, S. 109, 115; A. K. Wucherer-Huldenfeld, Grundgedanken bei Freud und Nietzsche, S. 47; R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 15–18; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 93–95. Brief vom 2. 4. 1896, in: S. Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 142. Siehe etwa das apodiktische Diktum: »Der Philosoph, der keine andere Art der Beobachtung kennt als die Selbstbeobachtung«, GW 14, 104, vgl. GW 10, 164. Vgl. A. K. Wucherer-Huldenfeld, Grundgedanken bei Freud und Nietzsche, S. 48–52. Es ist möglich, daß Freud Nietzsches Kritik der Introspektion in ›Schopenhauer als Erzieher‹ bekannt war, da sein Studienkollege Lipiner im Leseverein am 28. April 1877 einen Vortrag über diesen Text hielt, vgl. R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 22f.; G. Gödde, Traditionslinien

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che zentrale Rolle die Selbstbeobachtung in der Entwicklung der Psychoanalyse gespielt hat. Die Entdeckung des Ödipuskomplexes geht auf Freuds Analysen der eigenen Kindheitserinnerungen zurück, die ›Traumdeutung‹ beinhaltet 43 Analysen von eigenen Träumen. Als methodisch kontrollierte Technik sollte die Selbstanalyse die zur Ausbildung des Analytikers dazugehörige Lehranalyse ergänzen und unbegrenzt fortsetzen.262 Im Hintergrund dieser kritischen Abgrenzung gegenüber der Philosophie steht die Profilierung der Psychoanalyse als eine den Erkenntniskriterien der Naturwissenschaften verpflichtete, ›ernsthafte‹ Wissenschaft. Ihre nicht nur im Empfinden ihres Gründers vorhandene, sondern auch von den Zeitgenossen zugesprochene Nähe zur Philosophie wird so zum Problem. Freud rechnet sie 1925 zu jenen Widerständen, die die gesellschaftliche Aufnahme der Psychoanalyse erschwert haben: So erwachsen der Psychoanalyse aus ihrer Mittelstellung zwischen Medizin und Philosophie nur Nachteile. Der Mediziner hält sie für ein spekulatives System und will nicht glauben, daß sie wie jede andere Naturwissenschaft auf geduldiger und mühevoller Bearbeitung von Tatsachen der Wahrnehmungswelt beruht; der Philosoph, der sie an dem Maßstab seiner eigenen kunstvoll aufgebauten Systembildungen mißt, findet, daß sie von unmöglichen Voraussetzungen ausgeht, und wirft ihr vor, daß ihre – erst in Entwicklung befindlichen – obersten Begriffe der Klarheit und Präzision entbehren. (GW 14, 104)

Allerdings machen diese Formulierungen die Schwierigkeiten von Freuds metapsychologischen und kulturgeschichtlichen Schriften der späteren Jahre nur um so deutlicher. Denn einerseits geben Beobachtungen aus zweiter Hand, etwa die ethnologischen Arbeiten Frazers, Lubbocks und Tylors das Material ab. Andererseits spielt die eigene Beobachtung dort nur vermittelt eine Rolle, wenn die klinischen Erfahrungen nach dem psychogenetischen Grundgesetz von Phylogleich Ontogenese hinzugezogen werden. Freuds Argumentation kann hier keine andere Dignität als die der Analogie in Anspruch nehmen. Wobei in der vergleichenden Analyse von Phylo- und Ontogenese wechselweise die argumentativen Lücken geschlossen werden sollen.263 Das Urszenario der gesellschaftlichen Entwicklung, die Geschichtsmythologien von Urvater und Urhorde, wird entlang der Beobachtungen der frühkindlichen Psychopathologie rekonstruiert. Dieses wiederum verleiht den frühkindlichen Phantasien in Form psychologischer Vererbung Realitätscharakter. Es ist eigentümlich zu sehen, wie intensiv

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des ›Unbewußten‹, S. 112f. Die im Schopenhauer-Essay kritisch gewendete archäologische Metaphorik, die Warnung davor: »sich selbst derartig anzugraben und in den Schacht seines Wesens auf dem nächsten Wege gewaltsam hinabzusteigen«, KSA 1, 340, findet bei Freud später jedoch eine zustimmende Verwendung im bildlichen Methodenvergleich der Psychoanalyse mit der »Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt«, SH, 157; vgl. GW 1, 426f. Vgl. GW 2/3, 223; D. Anzieu, Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 461ff.; F. G. Plaum und S. Stephanos, Die klassischen psychoanalytischen Konzepte der Psychosomatik, S. 203. Vgl. P. Ricœur, Die Interpretation, S. 197ff.

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Freud nach seinem großen wissenschaftlichen Irrtum, gemeint ist die sogenannte Verführungstheorie, in den nachfolgenden Jahren daran arbeitet, diesen Irrtum als einen notwendigen, produktiven aufzuklären. Freud mußte sich um 1897 eingestehen, daß die in der Analyse zu Tage geförderten, frühkindlichen Szenarien sexueller Verführung nicht der Realität entsprachen, sondern ›bloße‹ Phantasien waren. »Man hatte also den Boden der Realität verloren.« (GW 10, 55)264 In den nachfolgenden Jahren versucht Freud, diesen Boden wiederzugewinnen, indem die individuellen Phantasien als vererbte kollektive Realität ausgewiesen werden. Mit der »rein ›analogischen‹ Deutung«265 der Kultur gerät Freud allerdings tatsächlich in gefährliche Nähe zu der als Spekulation diskreditierten Philosophie. Gerade der Vergleich zu Nietzsches Überlegungen zur Kulturgenese, die ebenfalls eine analogische Übertragung naturwissenschaftlicher oder ethnologischer Beobachtungen darstellen, zum Teil unter Verwendung desselben Materials, macht dies deutlich. In Selbstaussagen zu den späteren Texten wird diese Gefahr dann auch thematisiert und entweder mit Hinweis auf »konstitutionelle Unfähigkeit« abgewiesen266 oder theorieimmanent selbst als autobiographische »regressive Entwicklung« beschrieben: »Nach dem lebenslangen Umweg über die Naturwissenschaften, Medizin und Psychotherapie war mein Interesse zu jenen kulturellen Problemen zurückgekehrt, die dereinst den kaum zum Denken erwachten Jüngling gefesselt hatten.« (GW 16, 32) Die Aussagen über Nietzsche gehören damit auch in die längere Geschichte der ambivalenten Beziehung Freuds zur Philosophie, in der diese als Jugendleidenschaft, als polemisches Gegenbild und schließlich als zugestandene Altersschwäche figuriert. V.3.3. Psychoanalyse und Psychosomatik In ›Die Zukunft einer Illusion‹ gehören die religiösen »Antworten auf Rätselfragen der menschlichen Wißbegierde, wie nach der Entstehung der Welt und der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem« (GW 14, 352), zu jenen Illusionen, die dem Menschen seine ungesicherte Existenz in der Welt erträglich machen. In seinem Werk hat Freud den Versuch unternommen, zumindest für die letztgenannte Rätselfrage eine wissenschaftliche Antwort zu finden. Die Psychoanalyse könne »ungeahnte Einsichten« in »die Zusammenhänge zwischen Seelischem und Leiblichem« liefern; sie sei sowohl für psychosomatische Krankheiten wie die Hysterie zuständig als auch für die »Behandlung grober Orga-

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Am 21. 9. 1897 leitet Freud den Brief an Fließ mit dem Bekenntnis ein: »Ich glaube an meine Neurotica nicht mehr«, um dann die Verführungstheorie zu verabschieden, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 186. Siehe im weiteren: GW 1, 382, 385; GW 11, 381–386; GW 13, 220. P. Ricœur, Die Interpretation, S. 165, siehe auch S. 76. So in der ›Selbstdarstellung‹: »Auch wo ich mich von der Beobachtung entfernte, habe ich die Annäherung an die eigentliche Philosophie sorgfältig vermieden. Konstitutionelle Unfähigkeit hat mir solche Enthaltung sehr erleichtert.« GW 14, 86.

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nerkrankungen«, »da nicht selten ein psychischer Faktor an der Entstehung und Erhaltung dieser Affektionen mit beteiligt« (GW 13, 225f.) sei, wie Freud mit Hinweis auf die Arbeiten von Jelliffe, Groddeck und Felix Deutsch bemerkt. Liefert die Psychoanalyse eine wissenschaftliche Antwort auf die Rätselfrage nach der Beziehung zwischen Körperlichem und Seelischem, so heißt das zum einen, daß die der Religion zugebilligte Trostfunktion dann in gänzlich anderem Gewand auftreten wird. Nichtsdestoweniger wird sich zeigen, daß auch die Psychoanalyse mit ihrem hermeneutischen Impetus ›Verstehen gleich Heilen‹ Trost und einen hohen ethischen Anspruch bereithält. Und das heißt zum anderen, wie insgesamt in der vorliegenden Studie, daß keine vollständige oder abschließende Antwort gegeben wird, sondern eine fragmentarische, die das Verhältnis von Körper und Seele nur insoweit bestimmt, als es in den Erfahrungshorizont dieser Wissenschaft fällt, also der klinischen Beobachtung, dem Experiment oder sonstwie der Erfahrung zugänglich ist. Allgemeine oder systematische Überlegungen zur Körper-Seele-Einheit finden sich darum in Freuds Schriften nicht. So darf es auch nicht verwundern, daß sich Freud in der philosophischen Debatte um Dualismus oder Monismus nicht einfach verorten läßt. Diese Modelle vermischen sich zum Teil in seinem Vokabular, und es läßt sich eine Entwicklung in seinem Denken von verschiedenen monistischen Spielarten – reduktionistischer Materialismus bzw. Biologismus, psychophysischer Parallelismus – hin zu einem holistischen Modell nachzeichnen, das hermeneutisch die Einheit von Körper-Seele-Umwelt als komplexes Ausdrucksgeschehen faßt. Diese tastende Suche steht im Einklang mit seiner an die naturwissenschaftliche Begriffsbildung angelehnten Überzeugung, daß die Definition von Grundbegriffen am Ende, nicht am Anfang der empirischen Wissenschaften zu stehen habe (GW 10, 210f.; 17, 142f.). Als ausgebildeter Neurologe und insbesondere durch seine Assistenzzeit im Labor Ernst Brückes von 1876–1882 geprägt, der ihn mit einer Aufgabe aus der Histologie des Nervensystems beauftragt (GW 14, 35), bewegen sich Freuds frühe Überlegungen über das Verhältnis von Körper und Seele im Rahmen eines materialistischen Reduktionismus. Dessen Grundsätze formuliert Du Bois-Reymond folgendermaßen: »Brücke und ich haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen; daß, wo diese bislang zur Erklärung nicht ausreichen, mittels der physikalisch-mathematischen Methode entweder nach ihrer Art und Weise die Wirksamkeit im konkreten Fall gesucht werden muß, oder daß neue Kräfte angenommen werden müssen, welche von gleicher Dignität mit den physikalisch-chemischen, der Materie inhärent stets auf nur abstoßende oder anziehende Componenten zurückzuführen sind.«267 267

E. Du Bois-Reymond, Jugendbriefe von Emil Du Bois-Reymond an Eduard Hallmann, S. 108, zit. nach E. Jones, Das Leben und Werk von Sigmund Freud, Bd. 1, S. 61f.

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Noch Freuds »Psychologie für den Neurologen« (GW Nachtr., 376), der ›Entwurf‹› von 1895, führt die psychischen Akte demgemäß auf Neuronen zurück. Allerdings macht Freud während dieser Zeit auch Erfahrungen, die ihm das Eigenrecht der Seele nachdrücklich vor Augen stellen. Zum einen sind dies die Mißerfolge mit seinen Patienten, Neurotiker und Hysterikerinnen, bei denen somatische Therapien nicht fruchten. Zum anderen sind es die Erfahrungen mit der Hypnose, die er in Frankreich macht. Die psychosomatische Fragestellung wird Freud von den Hysterikerinnen aufgedrängt. Die Hysterie ist die Zeitkrankheit par excellence,268 an ihr erfahren die zeitgenössische wissenschaftliche Theorie und die klinische Praxis ihre Grenze. Sie ist sprechender Ausdruck des vielfach apostrophierten ›nervösen Zeitalters‹269 und kann als leibhafte Rebellion gegen dessen Normierungen, insbesondere die geschlechtliche, verstanden werden.270 Die Hysterie ist auch ein vehementer Einspruch gegen eine ausschließlich am Körper orientierte Medizin.271 Es handelt sich um eine Krankheit, die sich der organischen Lokalisierung entzieht und bei der die bekannten somatischen Therapien nicht greifen.272 Die Entstehung der Psycho-

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Vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 95–128; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 209–213; E. Bronfen, Das verknotete Subjekt; M. Schuller, Hysterie als Artefaktum. Die Rede vom ›nervösen Zeitalter‹ ist um 1900 in aller Munde, so bei Paul Berger, Robert Musil und Leopold Löwenfeld, vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 213f. Siehe im weiteren: R. von Krafft-Ebing, Nervosität und neurasthenische Zustände, S. 10; W. Erb, Über die wachsende Nervosität unserer Zeit. Hermann Bahr formuliert apodiktisch: »wenn die Moderne Mensch sagt, so meint sie Nerven« (Kulturprofil der Jahrhundertwende, S. 152), und führt an anderer Stelle über den »neuen Menschen« weiter aus: »Sie sind Nerven; das andere ist abgestorben, welk und dürr. Sie erleben nur mehr mit den Nerven, sie reagieren nur mehr von Nerven aus. Auf den Nerven geschehen ihre Ereignisse und ihre Wirkungen kommen von den Nerven.« Die Überwindung des Naturalismus, S. 1020. Die Brüder Hart sprechen von der »nervösen Sinnlichkeit« als »symptomatische Erscheinung einer kranken Zeit«, Das ›Deutsche Theater‹ des Herrn L’Arronge, S. 861. Siehe im weiteren: W. Eckart, »Die wachsende Nervositaet unserer Zeit«; J. Radkau, Die wilhelminische Aera als nervoeses Zeitalter. »Given that hysterial paralysis affected mainly young women, larger cultural and social changes bearing on women’s lives generally also played a role. If nineteenth-century culture prescribed what it meant to be an ›ideal woman‹, perhaps it dictated as well the physical symptoms that rebellion from this ideal might entail.« E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 95f. Vgl. M. Schuller, ›Weibliche Neurose‹ und ›kranke Kultur‹, S. 18f., 22f. Die sich mit ihr profilierende Psychosomatik hat Meyer als »Gegenreformation« bezeichnet, »gegen die Reformation nämlich, welche ab der Mitte des letzten Jahrhunderts durch die Zellularpathologie Virchows und Kochs die bisherige Medizin radikal veränderte und dabei u.a. ›die Psyche‹ aus der Medizin verbannte.« Eine kurze Geschichte der Psychosomatik, S. 35. Ein Schüler Charcots, Gilles de la Tourette, hat die Hysterie darum auch als eine Krankheit »sine materia« bezeichnet: »Die Autopsien Hysterischer« brachten nichts »fühlbares oder in einem Wort: Organisches ans Licht.« Zit. nach M. Schneider, Nachwort, S. 146. Mit dem Versagen körperlicher Behandlungsmethoden begründet Freud die Entstehung der Psychoanalyse, sie »wurde aus der ärztlichen Not geboren, sie entsprang dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe, Wasserheilkünste und Elektrizität keine Linderung bringen konnten«, GW 12, 325. Vor der eigenen klinischen Erfahrung hatte Freud 1888 in seinem ›Hysterie‹-Artikel in Villarets ›Handwörterbuch‹ noch deutlich optimistischer geklungen: »bei

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analyse im Angesicht der Hysterie ist in mehrfacher Hinsicht ein Paradebeispiel für die schon verschiedentlich angeführte Interaktivität zwischen Arzt und Patient in der Hervorbringung insbesondere psychosomatischer Krankheitsbilder. Die Mitarbeit der Hysterikerinnen an den Therapieformen der Psychoanalyse ist ein gut bekanntes Phänomen. Als bedeutendstes Beispiel läßt sich Josef Breuers Patientin Anna O., alias Bertha Pappenheim, anführen, die mit der von ihr entwickelten und benannten ›talking cure‹ die psychische Kurmethode der Psychoanalyse entscheidend geprägt hat.273 Sie war jedoch kein Einzelfall. Freud beschreibt in seinem Artikel ›Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)‹ (1890)274 eindrücklich die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnde Gegenläufigkeit zwischen einer somatisch orientierten Medizin und den nervösen Patienten:275 Es gibt nämlich eine große Anzahl von leichter und schwerer Kranken, welche durch ihre Störungen und Klagen große Anforderungen an die Kunst der Ärzte stellen, bei denen aber sichtbare und greifbare Zeichen des Krankheitsprozesses weder im Leben noch nach dem Tode aufzufinden sind, trotz aller Fortschritte in den Untersuchungsmethoden der wissenschaftlichen Medizin. Eine Gruppe dieser Kranken wird durch die Reichhaltigkeit und Vielgestaltigkeit des Krankheitsbildes auffällig; sie können nicht geistig arbeiten infolge von Kopfschmerz oder von Versagen der Aufmerksamkeit, ihre Augen schmerzen beim Lesen, ihre Beine ermüden beim Gehen, sind dumpf schmerzhaft oder eingeschlafen, ihre Verdauung ist gestört durch peinliche Empfindungen, Aufstoßen oder Magenkrämpfe, der Stuhlgang erfolgt nicht ohne Nachhilfe, der Schlaf ist aufgehoben usw.

Als Gemeinsamkeit dieser Symptomvielfalt ist erkennbar, daß die »Leidenszeichen sehr deutlich unter dem Einfluß von Aufregungen, Gemütsbewegungen, Sorgen usw. stehen« (GW 5, 291f.). Es sind also die Neurotiker und Hysterikerinnen, die eine Re-Psychologisierung erzwingen, indem »physiologische Erklä-

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der Anwendung aller kräftigenden Heilmittel (Massage, allgemeine Elektrisation, Hydrotherapie) sieht man die schwersten akuten Hysterien, die eine völlige physische und moralische Zerrüttung der Kranken herbeigeführt haben, in wenigen Monaten der Gesundheit Platz machen.« GW Nachtr., 87. Freud war nicht der einzige Autor vom Ende des 19. Jahrhunderts, der die Hilflosigkeit physiologischer oder anatomischer Erklärungen angesichts der Nervosität konstatiert. So schreibt etwa auch Axenfeld: »Die gesamte Gattung der Neurosen gründet auf einer negativen Konzeption; sie entstand an dem Tag, als die pathologische Anatomie, die die Aufgabe übernommen hatte, Krankheiten durch Organveränderungen zu erklären, einer gewissen Anzahl pathologischer Zustände hilflos gegenüberstand und für sie keine Begründungen geben konnte.« zit. nach J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 50. Vgl. H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 659–667; A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse, S. 131–178, 348–382. Hirschmüller publiziert bislang unveröffentlichtes Material aus dem Nachlaß Bertha Pappenheims. Dieser Text wurde in den ›Gesammelten Werken‹ Bd. 5 fälschlicherweise auf 1905 datiert, im Nachtragsband erscheint das korrekte Jahr der Erstauflage 1890, vgl. GW Nachtr., 95f. Dieses Mißverhältnis zeigt Freud auch in seiner kritischen Würdigung Charcots auf, vgl. GW 1, 30–35.

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rungen« (GW 8, 391)276 für sie nicht taugen. Daß es sich hierbei gleichsam um einen Aufstand der Nervösen gegen die wissenschaftliche Medizin handelt bzw. dies als ein solcher empfunden wurde, darauf verweist Freuds dezente Bemerkung über die ›großen Anforderungen an den Arzt‹. Vielfach ist die Rhetorik jedoch deutlicher: Täuschung, Lüge und Simulation sind die Begriffe, die fallen. Nietzsche erklärt apodiktisch: »Der Hysteriker ist falsch: er lügt aus Lust an der Lüge, er ist bewunderungswürdig in jeder Kunst der Verstellung« (KSA 13, 517). Ein zeitweiliger Kollege Charcots an der Salpêtrière urteilt vernichtend: »Diese Patientinnen sind wahrhafte Schauspielerinnen; sie kennen kein größeres Vergnügen als den Betrug […]. In einem Wort, das Leben der Hysterischen ist nichts als eine ununterbrochene Falschheit; sie geben sich den Anschein der Frömmigkeit und lassen sich gar als Heilige betrachten, während sie sich zugleich heimlich den schamlosesten Handlungen widmen; und zuhause, vor Kindern und Ehemann, spielen sie die heftigsten Szenen, wobei sie sich in Flüchen und obszönen Ausdrücken ergehen und sich in der haltlosesten Weise aufführen.«277 Der belgische Arzt Dr. Crocq warnt seine Zuhörer auf dem zweiten internationalen Hypnotismus-Kongreß 1900 nachdrücklich: »Wenn Sie hereingelegt werden wollen, experimentieren Sie mit hysterischen Patienten.«278 Und Freud resümiert: »Eine Hysterische war in unseren Jahrzehnten fast ebenso sicher, als Simulantin behandelt zu werden, wie sie in früheren Jahrhunderten als Hexe oder als Besessene beurteilt und verurteilt wurde.« (GW Nachtr., 40) In seiner ersten, an der Clark University in den USA gehaltenen Vorlesung ›Über Psychoanalyse‹ (1909) schildert Freud diese Demütigung der physiologisch und pathologisch geschulten Spezialisten durch die Hysterie am Ausgang des 19. Jahrhunderts noch einmal eindringlich: »[Der Arzt] kann die Hysterie nicht verstehen, er steht ihr selbst wie ein Laie gegenüber. Und das ist nun niemandem recht, der sonst auf sein Wissen so große Stücke hält. Die Hysterischen gehen also seiner Sympathie verlustig; er betrachtet sie wie Personen, welche die Gesetze seiner Wissenschaft übertreten, wie die Rechtgläubigen die Ketzer ansehen; er traut ihnen alles mögliche Böse zu, beschuldigt sie der Übertreibung und der absichtlichen Täuschung, Simulation; und er bestraft sie durch die Entziehung seines Interesses.« (GW 8, 6) Josef Breuer und Sigmund Freud sind zwar die ersten, die einen neuen, anderen Umgang mit den Hysterischen pflegen, sie ernst nehmen, ihnen zu hören, jedoch bleiben auch ihnen

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»Das Moment des Psychischen und der Subjektivität trat infolgedessen erst in dem Augenblick ins Spiel, als eine rein mechanistische oder physiologische Erklärung unmöglich geworden war.« J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 48. Zit. nach M. Schneider, Nachwort, S. 151. Crocq: Discussion d’une communication de Félix Régneault. In: IIe Congrès International de L’Hypnotisme (Paris 1900). Paris 1902, S. 96, zit. nach H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 253; vgl. auch GW 1, 42; SH, 262; E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 125–128.

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Demütigungen, persönliche und wissenschaftliche Grenzerfahrungen, in der Konfrontation mit der Hysterie nicht erspart. Die Rhetorik des Machtkampfes, die Freud in dieser Vorlesung anstimmt, gehört nicht allein zur Schelte an den ausschließlich somatisch orientierten Kollegen, sondern verbirgt unter dieser Oberfläche auch eigene therapeutische Erfahrungen und Mißerfolge. So erweisen sich die zumeist weiblichen Hysterikerinnen auch für Freud in Anbetracht der frühkindlichen Mißbrauchsszenarien als Simulantinnen. Die anfänglich propagierte ›Verführungstheorie‹, die realen Mißbrauch als Ursache der Hysterie annahm, wird in eine Theorie der allgemeinen Simulation, den Ödipuskomplex überführt. Das Vokabular der Täuschung verschwindet mit der Psychoanalyse also nicht aus dem Hysterie-Diskurs, sondern es wird universalisiert. In Form frühkindlicher sexueller Phantasien gehört die Täuschung nun zu einem Merkmal des allgemeinen, normalen Seelenlebens. Im deutschen Sprachraum dominierten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts institutionell die Psychiker die medizinischen Wissenschaften (Kap. IV), Freud spricht diesbezüglich von der »ziemlich unfruchtbaren Zeit der Abhängigkeit von der sogenannten Naturphilosophie« (GW 5, 290). In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bietet sich hingegen ein ganz anderes Bild. Die naturwissenschaftlichen Entdeckungen – Robert Mayers Gesetz von der Krafterhaltung, Virchows Zellentheorie, Darwins Evolutionstheorie, Mendels Vererbungslehre, Weismanns Keimplasma-Theorie –279 bringen entscheidende Fortschritte. Es sind jedoch allesamt Entdeckungen, die das »Leibliche des Menschen« betreffen, so daß »die Ärzte ihr Interesse auf das Körperliche einschränkten und die Beschäftigung mit dem Seelischen den von ihnen mißachteten Philosophen gerne überließen.« (GW 5, 290) Auf dem Gebiet der Psychiatrie gehen die Jahre zwischen 1860 und 1900 als Zeitalter der ›Gehirnmythologien‹ in die Geschichte ein.280 Freud erinnert sich in seiner ›Selbstdarstellung‹ (1925) beschämt daran, daß er selbst als Neuropathologe seinen Hörern einen Neurotiker als einen Fall chronischer Meningitis vorgestellt habe, fügt jedoch entschuldigend hinzu, daß zu dieser Zeit »auch größere Autoritäten in Wien die Neurasthenie als Hirntumor zu diagnostizieren pflegten.« (GW 14, 36f.) Er sieht sich angesichts dieses neuen Patienten-Typus und der eigenen therapeutischen Mißerfolge dazu genötigt, das Verhältnis von Körper und Seele jenseits eines biologischen Determinismus – »das Seelische als bestimmt durch das Körperliche« (GW 5, 290) – neu

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Unter den Zeitgenossen besteht ein deutlicher Konsens über die entscheidenden wissenschaftlichen Neuerungen, vgl. E. Haeckel, Die Weltanschauung der monistischen Wissenschaft, S. 92; L. Büchner, Ein Besuch bei Darwin, S. 381. Vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 210; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 392f., 656ff., 743f., 751; A. Hirschmüller, Freuds Begegnung mit der Psychiatrie, S. 18.

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zu überdenken. Die psychosomatische Fragestellung drängt sich ihm also durch das ›nervöse Zeitalter‹ auf.281 Und auch die psychoanalytische Form der Beantwortung dieser Frage läßt sich auf die Zeitumstände, die Dominanz der physiologisch orientierten Medizin und deren spezifische Defizite zurückführen. »Das Verhältnis zwischen Leiblichem und Seelischem (beim Tier wie beim Menschen) ist eines der Wechselwirkung, aber die andere Seite dieses Verhältnisses, die Wirkung des Seelischen auf den Körper, fand in früheren Zeiten wenig Gnade vor den Augen der Ärzte. Sie schienen es zu scheuen, dem Seelenleben eine gewisse Selbständigkeit einzuräumen, als ob sie damit den Boden der Wissenschaftlichkeit verlassen würden.« Die Psychoanalyse versucht diese »einseitige Richtung der Medizin auf das Körperliche« (GW 5, 291) durch »Annahmen rein psychologischer Natur« zu korrigieren. »So hat die Psychoanalyse einerseits die physiologische Denkweise eingeschränkt und andererseits ein großes Stück der Pathologie für die Psychologie erobert.« (GW 8, 391f.) Sie fragt, wie Josef Breuer in den ›Studien über Hysterie‹ formuliert, »nach der Entstehung somatischer Phänomene durch Vorstellungen.« (SH, 233) Sigmund Freud nimmt solche psychologischen Korrekturen in der Gründungsphase der Psychoanalyse relativ konsequent und auf breiter Front vor. Mit den ›Studien über Hysterie‹ wendet er sich gegen die von der CharcotSchule und deren Vorläufern vertretenen somatischen Hysterieansätze, gegen deren gehirnphysiologische Lokalisierung, gegen die Verursachung durch ein somatisches Trauma – die mit der Eisenbahn aufkommende Unfalltheorie – und gegen eine ererbte konstitutionelle Disposition zur Hysterie.282 Ihm wird es in der Folge darum gehen, den »Anschein einer erblichen Übertragung [...] in die Wirkung mächtiger infantiler Eindrücke« (GW 7, 165) aufzulösen und das durch eine körperliche Verletzung hervorgerufene somatische durch das psychische Trauma zu ersetzen. In der ›Traumdeutung‹ argumentiert er gegen die Leibreiztheorie und weist den äußeren Sinnesreizen allenfalls eine untergeordnete Bedeutung im Zuge der Traumproduktion zu.283 Auch hier galt es, 281

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Ein solches historisches Bedingungsverhältnis wiederholt sich noch einmal in den ausgehenden 40er und beginnenden 50er Jahren des 20. Jahrhunderts, wenn sich die psychosomatische Medizin als Fachdisziplin etablieren wird und zwar angesichts der Kriegsneurosen des 2. Weltkrieges, vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 267–273. Gehörten die Kriegsneurosen des 1. Weltkrieges noch dem Paradigma der Konversionshysterien und ihren motorischen Symptomen an, so ist nun ein deutlicher Wechsel der Symptome hin zu den inneren Organen feststellbar: »by the time of the 1940 conflict cardiac and gastrointestinal forms of somatization had become popular. [...] By world War II anxiety had fled to the internal organs«, E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 271. Vgl. GW 1, 33ff., 49f., 426; GW 17, 10f.; GW Nachtr., 184f.; E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 114–117; 166–200; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 145f., 213, 467, 512, 596–598, 672f., 748; S. Mentzos, Einleitung. In: Breuer, Freud, Studien über Hysterie, S. 7–24, S. 11. Vgl. GW 2/3, 22–32, 44f. Auch Wilhelm Dilthey zeigt sich in ›Die Einbildungskraft des Dich-

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der medizinischen Forschung den Traum als psychischen Akt abzutrotzen: »Die medizinische Forschung erklärt den Traum für ein rein somatisches Phänomen ohne Sinn und Bedeutung [...]. Die Psychoanalyse erhebt den Traum zu einem psychischen Akt, der Sinn, Absicht und eine Stelle im Seelenleben des Individuums hat« (GW 8, 395). Schließlich mußte der Begriff des Unbewußten aus dem Vorstellungskreis des psychophysischen Parallelismus herausgelöst werden, der das Unbewußte mit dem Somatischen, das Bewußtsein mit dem Psychischen identifizierte,284 damit das Unbewußte als eigenständiges psychisches Phänomen wahrgenommen und dem Geltungsbereich der Psychoanalyse zugeschlagen werden konnte. In dieser Argumentation wendet sich Freud sowohl gegen den Behaviorismus als auch, seinem Verständnis nach, gegen die Philosophie des Unbewußten, die ebenfalls das »Bewußte mit dem Seelischen« (GW 10, 266) gleichsetze. Und eine letzte psychologische Korrektur glaubt Freud nun nicht mehr gegenüber einer physiologisch orientierten Psychiatrie, sondern innerhalb der psychoanalytischen Bewegung gegenüber Alfred Adlers Theorie der Organminderwertigkeit anbringen zu müssen. Derzufolge fordere eine organische Minderwertigkeit eine Kompensation heraus, die sowohl für neurotische Erkrankungen als auch für kulturelle Leistungen verantwortlich zeichnen könne.285 Mit einem Vergleich zur Leibreiztheorie verweist Freud diesen Ansatz Adlers kurzerhand in die zweite Reihe der Ätiologie.286 Für die gesamte Zunft der Psychoanalytiker wird er schließlich in dem berühmten Brief an Viktor von Weizsäcker 1932 die Beschränkung auf »psychologische Denkweisen« fordern und das Ablassen von »zu gefährlichen Versuchungen« wie »Innervationen, Gefäßerweiterung, Nervenbahnen«.287 Die Rede von einer »rein psychologischen Theorie« (GW 5, 151)288 findet sich des öfteren. Was aber nach dieser kurzen Bilanz nicht vergessen werden darf, ist der Sachverhalt, daß Freud seine auf einem naturwissenschaftlichen Mangel aufgebaute psychologische Theorie unter einem zeitlichen Vorbehalt formuliert. Die biologische Anschlußfähigkeit sollte stets gewahrt bleiben. In Freuds Schriften ist der naturwissenschaftliche Fortschrittsglaube unüberhörbar, daß die zu

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ters‹ (1887) mit Verweis auf die zeitgenössische Gehirnphysiologie als Anhänger dieser Theorie, indem er die Traumbilder auf »Organgefühle« (VI, 171) zurückführt; vgl. A. Orsucci, »Ein ineinandergreifendes Zusammenarbeiten, wie es in den Naturwissenschaften besteht …«, S. 108f. Freud referiert diese Position in folgenden Worten: »Die sogenannten unbewussten psychischen Vorgänge seien eben die längst zugestandenen organischen Parallelvorgänge des Seelischen«, GW 17, 146; vgl. auch 79f.; GW 10, 266f. Gödde erwähnt bezüglich dieser rein psychologischen Konzeption des Unbewußten den möglichen Einfluß Theodor Lipps, vgl. G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 197f. Vgl. A. Adler, Die Theorie der Organminderwertigkeit. Zur Auseinandersetzung zwischen Freud und Adler siehe R. Gasser, Nietzsche und Freud, S. 62–67. Vgl. GW 10, 166. Zit. nach V. von Weizsäcker, Körpergeschehen und Neurose, S. 6. Vgl. GW 8, 14, 391; GW 10, 150.

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seiner Zeit noch nicht entdeckten organischen Faktoren psychischer Prozesse, physikalische Kräfte oder chemische Stoffe, in der Zukunft ergänzt würden. Es sei daran zu erinnern, »daß all unsere psychologischen Vorläufigkeiten einmal auf den Boden organischer Träger gestellt werden sollen.«289 Intendiert war eine Theorie echter Wechselwirkung zwischen Leib und Seele mit der Eigenständigkeit beider Partner. So rechtfertigt er etwa seine Skizze rein psychologischer, libidinöser Typen mit dem Hinweis darauf, daß eine eigentlich wünschenswerte psychosomatische Typologie, die »ein regelmäßiges Beisammensein von körperlichen und seelischen Merkmalen« verzeichnet, heute noch nicht möglich sei, jedoch »später einmal auf einer noch unbekannten Basis gewiß gelingen« (GW 14, 509) werde. Und an anderer Stelle wendet er sich gegen mögliche physiologisch orientierte Kritiker: »Nur die therapeutische Technik ist rein psychologisch; die Theorie versäumt es keineswegs, auf die organische Grundlage der Neurose hinzuweisen, wenngleich sie dieselbe nicht in einer pathologisch-anatomischen Veränderung sucht und die zu erwartende chemische Veränderung als derzeit noch unfaßbar durch die Vorläufigkeit der organischen Funktion ersetzt. Der Sexualfunktion, in welcher ich die Begründung der Hysterie wie der Psychoneurosen überhaupt sehe, wird den Charakter eines organischen Faktors wohl niemand absprechen wollen.« (GW 5, 276f.)290 Unter anderem hat die Sexualität in Freuds Theorie die wichtige Funktion, als organischer Platzhalter zu fungieren und die Psychoanalyse für ihre biologische Ergänzung offenzuhalten.291 Durch diese gleichermaßen psychologische wie auch physiologische theoretische Ausrichtung gilt Freud zu Recht als »Initiator der Psychosomatik«.292 Obwohl der Begriff der Psychosomatik im 20. Jahrhundert insbesondere durch die Psychoanalyse seine Verbreitung fand, tritt die bei Freud noch zu findende theoretische Gleichbehandlung der somatischen Aspekte in der weiteren Entwicklung dieser Wissenschaft in den Hintergrund. Der Körper wird allenfalls als Aufschreibefläche der Seele zur Kenntnis genommen; eine Eigenlogik des Leibes, wie sie etwa bei Nietzsche zu finden ist, existiert nicht. Zur prekären Lage des Körpers in der Psychoanalyse hat Felix 289 290

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GW 10, 144; vgl. GW Nachtr., 414; GW 2/3, 44f.; GW 13, 65. Zur Vorläufigkeit der Psychoanalyse aufgrund mangelnder naturwissenschaftlicher Kenntnisse siehe auch: »Ich bin [...] gar nicht geneigt, das Psychologische ohne organische Grundlage schwebend zu erhalten. Ich weiß nur von der Überzeugung aus nicht weiter, weder theoretisch noch therapeutisch, und muß also mich so benehmen, als läge mir nur das Psychologische vor«, S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, S. 357; GW 8, 101f., 406. Daß die »Sexualfunktion« das »biologische Interesse« sichere, betont Freud auch im weiteren. Nichtsdestoweniger ließe sich auch auf dem Felde der Sexualität von einer psychologischen Korrektur in Abgrenzung zur Sexualwissenschaft seiner Zeit sprechen, schließlich prägt Freud den Neologismus »Psychosexualität«, GW 8, 408, 298. Vgl. GW 14, 50. »Dieser Wahrscheinlichkeit tragen wir Rechnung, indem wir die besonderen chemischen Stoffe durch besondere psychische Kräfte substituieren.« GW 10, 144. F. G. Plaum und S. Stephanos, Die klassischen psychoanalytischen Konzepte der Psychosomatik, S. 203.

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Deutsch bereits 1926 angemerkt: »Der Körper resp. die Körperwelt erregte nur insoweit ihr Interesse, als sich an ihm Niederschläge des Psychischen nachweisen lassen, oder soweit manifeste organische Symptombildungen als Ersatz von aus der Verdrängung auftauchenden psychischen Elementen sich ins Bewußtsein vorschieben.«293 Für die heutige Psychoanalyse gilt es als ausgemacht, daß sie sich allein für die »Erlebnisseite des Patienten«294 interessiert, sich ganz auf das Seelenleben konzentriert und sich jeglicher körperlichen Untersuchung oder medizinischer Ratschläge enthält. Einen Beitrag zu diesem Vergessen des Körpers in der Psychoanalyse mag Freuds spannungsvolle Konzeption dieser Wissenschaft als Brückenwissenschaft zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften geleistet haben.295 Spannungsvoll ist diese Konzeption vor allem darum, weil Freud einerseits, wie oben bereits vermerkt, eine Psychologisierung der Psychiatrie betreibt, andererseits sein Wissenschaftsbegriff zu großen Teilen naturwissenschaftlich geprägt ist. Auf diese Ambivalenz der Psychoanalyse zwischen Natur- und verstehender Geisteswissenschaft macht Jean Starobinski aufmerksam: »Freuds Lehre schert sich nicht mehr um die Forderung nach Lokalisierung, verzichtet auf anatomische Beschreibung, auf die physisch-chemische Verifizierung und behauptet dem deterministischen Prinzip treu zu bleiben: sie kommt zu diesem Ergebnis, indem sie die Subjektivität wie ein Objekt der Naturgeschichte behandelt, aber sie betont dabei deren spezifische Eigenständigkeit und die Unmöglichkeit, sie mit Abzählmethoden in den Griff zu bekommen.«296 Quantifizierung und Experiment sind zwar immer wieder genannte Losungsworte, praktische Anwendung finden sie hingegen nicht mehr. Den Begriff der ›Analyse‹, sprich Zerlegung der zusammengesetzten Natur seelischer Vorgänge, führt er auf die Arbeit des Chemikers zurück (GW 12, 184–186). Ein weiterer, schon früh gezogener Vergleich ist jener zwischen der chirurgischen und der psychoanalytischen Tätigkeit: »Ich habe bei mir häufig die kathartische Psychotherapie

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F. Deutsch, Der gesunde und der kranke Körper in psychoanalytischer Betrachtung, S. 19. Dieser Kritik schließen sich an: G. Ammon, Die Rolle des Körpers in der Psychoanalyse, S. 416, 418; B. Dieckmann, Der psychoanalytische und der organlose Körper. J. Grunert, Einführung des Herausgebers, S. 7. »Wenn man, was heute noch phantastisch klingen mag, eine psychoanalytische Hochschule zu gründen hätte, so müßte an dieser vieles gelehrt werden, was auch die medizinische Fakultät lehrt: neben der Tiefenpsychologie […] eine Einführung in die Biologie, in möglichst großem Umfang die Kunde vom Sexualleben, eine Bekanntheit mit den Krankheitsbildern der Psychiatrie. Anderseits würde der analytische Unterricht auch Fächer umfassen, die dem Arzt ferne liegen und mit denen er in seiner Tätigkeit nicht zusammenkommt: Kulturgeschichte, Mythologie, Religionspsychologie und Literaturwissenschaft. Ohne eine gute Orientierung auf diesen Gebieten steht der Analytiker einem großen Teil seines Materials verständnislos gegenüber.« GW 14, 281. J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 51. Zum prekären wissenschaftlichen Status der Psychoanalyse siehe auch P. Ricœur, Die Interpretation, S. 79ff.; A. Schöpf, Sigmund Freud, S. 101–118.

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mit chirurgischen Eingriffen verglichen, meine Kuren als psychotherapeutische Operationen bezeichnet« (SH, 322; GW 13, 225). Die hysterische Konversion wird in Begriffen von Spannungssteigerung und Erregungsabfuhr beschrieben. Starobinski merkt zu solchen Formulierungen polemisch an: »Die Sprache der Psychoanalyse konstituiert sich zu einem großen Teil aus solcherart pseudophysikalischen Metaphern«.297 Freud selbst hat gegenüber diesbezüglicher Kritik auf die Notwendigkeit einer »eigenen Bildersprache der Psychologie« (GW 13, 65) zur Bezeichnung noch unbekannter Vorgänge hingewiesen. Die physiologischen und chemischen Termini hätten den Vorteil, daß sie zwar auch nur einer Bildersprache angehörten, jedoch einer bereits gut eingeführten. Die Techniken der Psychoanalyse, die Konzentration auf das Persönliche und Subjektive, die Lebensgeschichte des Patienten sowie die Gesprächstherapie, rücken diese Wissenschaft allerdings eher, auch dem Empfinden ihres Erfinders nach, in die Nähe zu Literatur und Philosophie: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektroprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.« (SH, 180)298 Den Übergang von den harten Naturwissenschaften zu einer literaturnahen Wissenschaft hat Sigmund Freud die Hypnose geebnet. In Frankreich konnte er bei Charcot und bei Bernheim Zeuge ›naturwissenschaftlicher Experimente‹ werden, die den Einfluß der Seele auf den Körper bewiesen, gemeint ist eben die Hypnose. Als Analysetechnik und Therapie spielt die Hypnose in der Psychoanalyse nur in ihren Anfängen eine Rolle. Sie wird von Freud aufgrund der Schwierigkeiten mit nicht hypnotisierbaren Patienten einerseits, mit der geringen Haltbarkeit post-hypnotischer Suggestionen andererseits bald verabschiedet.299 Zeit seines Lebens wird er jedoch den wissenschaftlichen Wert der Hypnose hoch halten. »Der wissenschaftliche Gewinn, den die Bekanntschaft mit den hypnotischen Tatsachen Ärzten und Seelenforschern gebracht hat, kann nicht leicht überschätzt werden.« (GW 5, 309) Das Hypnose-Szenarium erscheint ihm als erstes den naturwissenschaftlichen Kriterien genügendes psychosomatisches Experiment, hier wird das Leib-Seele-Verhältnis in einem standardisierten, wiederholbaren Verfahren operationalisiert. Als genialer Erfinder 297 298

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J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 56. Siehe auch: »Ihr weiterer Weg lenkte sie [die Psychoanalyse] von dem Studium der körperlichen Bedingungen des nervösen Krankseins in einem für den Arzt befremdenden Maße ab. Dafür bekam sie es mit allem seelischen Inhalt zu tun [...]. Sie mußte sich um Affekte und Leidenschaften kümmern, vor allen um jene, welche die Dichter darzustellen und zu verherrlichen nicht müde werden«, GW 12, 325. In seiner Rezension von Auguste Forels ›Der Hypnotismus‹ hebt Freud 1889 vor allem dessen Heilerfolge hervor, vgl. GW Nachtr., 127f. Später distanziert er sich zunehmend von der Hypnose als Therapieform, vgl. SH, 127.

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dieser wissenschaftlichen Nutzung der bis dato mit dem Geruch der Scharlatanerie behafteten Hypnose gilt ihm Charcot, der auf den Einfall kam, hysterische Lähmungen in der Hypnose »künstlich zu reproduzieren«, um so »nachzuweisen, daß diese Lähmungen Erfolge von Vorstellungen seien«. Der Mechanismus hysterischer Symptome konnte durch dieses »unvergleichlich schöne Stück klinischer Forschung« (GW 1, 33f.) aufgeklärt werden. Die ›Studien über Hysterie‹ würdigen Charcots »experimentelle Nachahmung hysterotraumatischer Lähmungen« (SH, 41). Im 1890 veröffentlichten Handbuch-Artikel ›Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)‹ spricht Freud euphorisch davon, daß auf diesem Wege die »Macht des Seelischen über das Körperliche«, der »körperliche Einfluss einer Idee« wissenschaftlich dokumentierbar sei, da »der Einfluß des Seelenlebens auf das Körperliche beim Hypnotisierten außerordentlich erhöht ist.« (GW 5, 308, 306) Die Hypnose stellt das Tor zur Psychoanalyse dar, da sie Freud sowohl die Forschungsrichtung vorgibt, eine Theorie zu entwickeln, die solchen interaktiven Verhältnissen zwischen Seele und Körper Rechnung trägt, als auch durch ihren experimentellen Charakter dafür bürgt, daß eine solche Theorie auf naturwissenschaftlich exaktem Wege zu erarbeiten war. Seine persönlichen Erfahrungen in Frankreich bei Charcot und Bernheim beschreibt Freud demgemäß in der Rhetorik einer Wendepunktdramatik, als Zeuge solcher Versuche habe man »einen unvergesslichen Eindruck empfangen und eine unerschütterliche Überzeugung gewonnen.« (GW 17, 145)300 Als Wendepunkt wird Freuds Frankreich-Aufenthalt allerdings auch von seinen Wiener Fachkollegen aufgefaßt. So muß er sich von seinem Lehrer Theodor Meynert anhören, er habe als »physiologisch exakt geschulter Arzt Wien« verlassen, zurückgekommen sei er jedoch als ein Anhänger der »Suggestionstherapie«.301 Der zeitgenössische psychophysische Parallelismus versprach eine solche experimentelle und quantifizierende Theorie zu sein, die beide Bestrebungen Freuds, naturwissenschaftliche Exaktheit und die Eigenständigkeit psychischer Akte, miteinander verbinden konnte. In seiner Monographie über Aphasien (1891) diskutiert Freud im Anschluß an Hughlings Jackson den psychophysischen Parallelismus dementsprechend zustimmend. Bei den physischen und psychischen Ereignissen handele es sich um Parallelvorgänge, denen jeweils unabhängige, nicht ineinander übersetzbare Beschreibungssprachen zukämen.302 Für 300

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Hier wird der experimentelle Charakter der Hypnose vor allem für den Nachweis unbewußter seelischer Akte in Anspruch genommen: »Man kann an hypnotisierten Personen experimentell nachweisen, dass es unbewusste psychische Akte gibt und dass die Bewusstheit keine unentbehrliche Bedingung der Aktivität ist.« GW 17, 145; vgl. GW 5, 308. Zit. in GW Nachtr., 130. »Die Kette der physiologischen Vorgänge im Nervensystem steht ja wahrscheinlich nicht im Verhältnis der Kausalität zu den psychischen Vorgängen. Die physiologischen Vorgänge hören nicht auf, sobald die psychischen begonnen haben, vielmehr geht die physiologische Kette weiter, nur daß jedem Glied derselben (oder einzelnen Gliedern) von einem gewissen Moment an ein psychisches Phänomen entspricht. Das Psychische ist somit ein Parallelvorgang des

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Theodor Fechners Psychophysik hatte er sich bereits während seines Studiums interessiert, und einige von Fechners Theorieelementen werden auch in der Psychoanalyse wiederkehren.303 Dieser Parallelismus unterscheidet sich von dem alten Leibnizschen durch seinen Monismus. Es gibt nur noch eine Form von Prozessen, nämlich psychophysische, erhalten geblieben ist jedoch die Ablehnung der Kausalität, anstatt dieser wird zwischen dem Physischen und dem Psychischen eine gesetzmäßige, funktionelle Abhängigkeit angenommen.304 Von psychischen Akten wird dann gesprochen, wenn die Intensität eines psychophysischen Vorgangs eine Bewußtseinsschwelle übersteigt. Fechners Gesetz der Bewußtseinsschwelle wurde schon im Kontext von Wilhelm Dilthey vorgestellt. Es basiert auf den Vorarbeiten zum Tastsinn von Ernst Heinrich Weber und reicht damit entstehungsgeschichtlich in jene Phase der nervenphysiologischen Grundlagenforschung zurück, die Georg Büchner im ›Woyzeck‹ dramatisierte. In Fechners Schwellentheorie wird die Seele mit Bewußtsein und der Körper mit dem Unbewußten identifiziert. Eine Psychologie des Unbewußten konnte diese Prämisse nicht teilen, und darum spricht Freud in den späteren Jahren nur noch kritisch von den »unlösbaren Schwierigkeiten des psychophysischen Parallelismus« (GW 10, 266), demzufolge die »sogenannten unbewussten psychischen Vorgänge« eben nur »die längst zugestandenen organischen Parallelvorgänge des Seelischen« (GW 17, 146) seien. In seiner Psychologie wird das Kriterium ›Bewußtheit‹ hingegen zu einem untergeordneten Merkmal psychischer Prozesse, denn »das Unbewusste sei das eigentlich Psychische.« (GW 17, 147) In einem Brief an Georg Groddeck vom 5. Juni 1917 bezeichnet Freud das Unbewußte sogar als das »lang ersehnte ›missing link‹«, das »die richtige Vermittlung zwischen dem Körperlichen und dem Seelischen«305 bewerkstelligen könne.

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Physiologischen«, STA 3, 166. Vgl. auch die Formulierung im ›Entwurf‹, GW Nachtr., 403f. Zum psychophysischen Parallelismus und dessen monistischer Variante vgl. M. Pauen, Grundprobleme der Philosophie des Geistes, S. 47f., 79, 113f. Hughlings Jackson war ein Schüler des in dieser Studie schon erwähnten Thomas Laycock, der gemeinsam mit Johannes Müller den Reflexbogen auf den Begriff brachte (Kap. IV.3.1.2). Hughlings Jacksons Monismus steht in der Tradition romantischer Naturphilosophie, vgl. E. Clarke and L. S. Jacyna, NineteenthCentury Origins of Neuroscientific Concepts, S. 146f. Sulloway hingegen ordnet Jackson noch dem dualistischen Paradigma zu und spricht im Anschluß daran auch von Freuds dualistischer Position vgl. F. J. Sulloway, Freud, S. 86f., 90, 114, 160, 193, 461. Vgl. GW 14, 86; F. J. Sulloway, Freud, S. 111f.; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 86f., 182–187; A. Schöpf, Sigmund Freud, S. 32; R. Burkholz, Reflexe der DarwinismusDebatte in der Theorie Freuds, S. 130–133; M. Pauen, Grundprobleme der Philosophie des Geistes, S. 79f.; H.-P. Brauns, Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik I/II (1860); W. Witte, Psychophysik. Die ›Psychophysik‹ und weitere Werke Fechners befanden sich in Freuds Bibliothek, vgl. H. Trosman and R. D. Simmons, The Freud Library, S. 655f. Vgl. G. T. Fechner, Elemente der Psychophysik. Erster Theil, S. 8. S. Freud und G. Groddeck, Briefe über das Es, S. 15; G. Gödde, Traditionslinien des ›Unbewußten‹, S. 306.

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Sigmund Freuds in Briefen an Wilhelm Fließ formulierter ›Entwurf einer Psychologie für den Neurologen‹ aus dem Jahr 1895 trägt die Spannung zwischen reduktivem Materialismus und Ansätzen zu einem hermeneutischen Verständnis der Einheit von Körper-Seele-Umwelt als eines komplexen Ausdrucksgeschehens noch ungemildert aus.306 Daß Freud diesen Entwurf niemals publiziert noch daran weitergearbeitet hat, dürfte in dieser von Paul Ricœur diagnostizierten ›Doppelsprache‹ gründen.307 Reduktiv argumentiert der ›Entwurf einer Psychologie‹ dort, wo das Ich auf seine »materiellen Teilchen«, eine »stetig besetzte Neuronenmasse« zurückgeführt wird: »Das Ich ist also zu definieren als die Gesamtheit der jeweiligen ψ Besetzungen, in denen sich ein bleibender von einem wechselnden Bestandteil sondert.« Auch im Vorhaben, »eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, d.h. psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände« und in einer mechanistischen Apparatevorstellung bekundet sich dieses Interesse. Das Ich erscheint als eine mit ›Kontaktschranken‹ versehene Maschine, die quantitativ meßbare ›Erregungssummen‹ verarbeitet, indem sie sie entweder direkt durch die »Muskelmaschinen«308 abreagiert oder sie hemmt und speichert. Doch bereits in diesen Formulierungen scheint eine für den ›Entwurf‹, die frühe Hysteriekonzeption Breuers und Freuds und nicht zuletzt für Freuds Theoriebildung insgesamt grundlegende biologische Vorstellung durch, die jenseits eines einfachen Mechanismus ein interaktives Körper-Seele-Umwelt-Verständnis impliziert. Es ist der Reflexbogen und mithin die Erlebniskette Reiz-Reaktion-Aktion, deren theoretisches Potential uns schon bei Friedrich Nietzsche und Wilhelm Dilthey begegnet war. In der Psychoanalyse zeitigt es jedoch die weitreichendsten Konsequenzen. Die Anatomie des Reflexbogens wurde, wie im vorangehenden in einzelnen Etappen skizziert, auf empirischer Basis in einer Gemeinschaftsarbeit zwischen 1750 und 1830 beschrieben.309 Die physischen Phänomene, die unter Zuhilfenahme der Reflexe in diesen Jahrzehnten erklärt wurden, sind jene, von Herder besungenen Bewegungen kopfloser Tiere oder abgetrennter Körperteile. Später kommen im Kontext der Französischen Revolution die Zuckungen und Grimassen Guillotinierter hinzu.310 Den theoretischen Ausgangspunkt bildet Albrecht von Hallers Reiz- und Erregungslehre, die unwillkürliche Bewegungen auf die Irritabilität der Muskelfasern zurückführt. Robert Whytt konnte in den 1750er Jahren anhand von Tierexperimenten veranschaulichen, daß das Rückenmark

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Vgl. A. Schöpf, Sigmund Freud, S. 111f. Ricœur spricht von »Energetik und Hermeneutik« bzw. von einer »Sprache des Sinns« und einer »quasi-physikalischen Sprache«, Die Interpretation, S. 19, 126. GW Nachtr., 387, 451, 416, 389. Bei dieser Darstellung beziehe ich mich auf E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 101–156; E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 22f. Friedreich verzeichnet und bespricht die entsprechende Literatur, vgl. Versuch einer Literärgeschichte der Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, S. 190–193.

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das nervliche Kommunikationszentrum im Körper darstellt. Whytts Einsichten wurden in Johann August Unzers Studie ›Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper‹ (1771) popularisiert und präzisiert, die auch die Begriffe ›afferent‹ und ›efferent‹ einführt. Der Wiener Arzt Georg Prochaska wies 1784 auf der Basis von Frosch-Experimenten nach, daß sensorische Nerven die eingehenden Reize zum Rückenmark leiten und daß motorische Nerven diese vom Rückenmark direkt wieder nach außen leiten. Charles Bell ergänzte 1811 die Einsicht, daß die vordere Wurzel des Spinalnervs motorische, und François Magendie elf Jahre später jene, daß die hintere sensorische Funktionen hat. In den 1830er Jahren prägten dann Johannes Müller und Marshall Hall die Begriffe ›Reflex‹ und ›Reflexbogen‹ (reflex arc) in ihrem präzisen biologischen Sinn. Während der englische Physiologe in der Nachfolge Descartes’ ein rein mechanistisches Verständnis des Reflexes vertrat und psychische Komponenten ebenso wie Schaltzentren jenseits des Rückenmarks ausschloß, entwickelten die deutschen Physiologen in der Tradition romantischer Naturphilosophie stehend eine für die Zukunft richtungweisende monistische Variante der Reflextheorie, die eine evolutionäre Kontinuität von physischen und psychischen Reflexen annahm und so auch die sensomotorischen, unbewußten Aktivitäten des Gehirns in den Blick rückte. Mit der Integration des Gehirns war das komplexe zerebrospinale System des Reflexbogens vollständig erfaßt und konnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum zentralen theoretischen Modell für neue Menschen- und Krankheitsbilder avancieren. Das alte medizinische Konzept der Sympathie, das noch ohne anatomische Beglaubigung eine Fernwirkung zwischen auseinander liegenden Organen vorsah, wurde so auf eine physiologische Basis gestellt.311 Wissenschaftlicher wurde diese »pseudoneurophysiology«, wie Shorter sie nennt, darum nur bedingt. ›Spinal Irritation‹ und ›Reflex-Neurose‹ heißen Diagnosen des 19. Jahrhunderts, die unter Zuhilfenahme des Reflexbogens neuartige Symptomeinheiten zwischen entfernten Organen konstruieren: »reflex neurosis, the view that not just an irritated spine caused disease at far-distant spots, but that any irritated organ could cause irritation in any other organ in the body, including the brain.«312 Die Konsequenzen des Reflexparadigmas waren vor allem für die Patientinnen insofern verheerend, als eine Verbindung zwischen der Gebärmutter bzw. den Eierstöcken als Ursache der reflexiven Irritation über das Rückenmark zum Gehirn oder jedem beliebigen anderen Organ hergestellt wurde, so daß die operative Entfernung dieser Irritationsherde eine Zeitlang als Erfolg versprechend-

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Vgl. Art. Sympathie, Simpathie, Sympathia. In: J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges UniversalLexikon, Bd. 41 [1744], Sp. 744–750; E. Clarke and L. S. Jacyna, Nineteenth-Century Origins of Neuroscientific Concepts, S. 102ff., 151, 155; E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 20, 40–44. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 38f.

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ste Therapie galt.313 Die Hysterie, die die antike Medizin bekanntlich auf die im Körper umherwandernde Gebärmutter zurückführte,314 wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so zur Reflex-Neurose par excellence. It is really because of hysteria, or psychosomatic symptoms, that this triumph of reflex theory is germane to our story, for patients would present to doctors the kinds of symptoms called for by the reflex model. When one remembers that reflex theory predicted motor symptoms, and that in the reflex arc an inbound sensory signal produced an outbound muscular response, in the form of twitches or paralysis, it seems likely that a theory calling for motor hysteria might have contributed to some new forms of this kind of hysteria.315

Die vom Arzt erwarteten und von den Patientinnen vorgebrachten Symptome konzentrieren sich dem zweiseitigen Reflexbogen gemäß auf »Störungen der Sensibilität«, Anästhesien, einerseits und »Motilitätsstörungen« (GW Nachtr., 75, 77) andererseits, wie sich Freuds Handbuch-Artikel ›Hysterie‹ aus dem Jahre 1888 entnehmen läßt. Das ganze Register solcher sensomotorischen Störungen, alle großen Gesten: Zuckungen, Konvulsionen, Schwindel, Ohnmacht, Lähmungen, hat Charcot in den vier Phasen seiner ›grande hystérie‹ versammelt. Er hat im weiteren den Körper anhand von Reflexpunkten, sogenannten ›hysterogenen Zonen‹316 neu vermessen. So gehören auch in seiner Konzeption die Eierstöcke zu jenen Irritationspunkten, durch die, wenn Druck auf sie ausgeübt wird, ein hysterischer Anfall ausgelöst werden kann. Durch die Annahme eines solchen reflexiven Automatismus, einer Hysterie auf Knopfdruck sozusagen, konnte sie in Allianz mit der Hypnose auch in den Augen Freuds, wie oben bereits vernommen, zu einem wissenschaftlichen psychosomatischen Experiment avancieren. Bei den theatralischen Inszenierungen der Hysterie in der Salpêtrière dürfte es sich jedoch weniger um reflexive Automatismen gehandelt haben, als um ein zum Teil unbewußtes, zum Teil eingeübtes hochkomplexes Zusammenspiel von auf dem Hintergrund zeitgenössischer medizinischer Erkenntnisse und eines kulturellen Archivs weiblicher Ikonographie entwickelten Erwartungen des Arztes und deren antizipierender Erfüllung durch die Patientinnen. Die Charcot-Kritiker haben schon zu seinen Lebzeiten darauf aufmerksam gemacht, daß die ›grande hystérie‹ außerhalb Frankreichs, ja außerhalb von Paris nicht zu finden sei, und Charcots Nachfolger an der Salpêtrière, ein

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Vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 40–44, 48–64, 69–94. Die Theorie »reflektorischer Fernwirkungen« vertreten auch noch Sigmund Freud und Josef Breuer, letzterer formuliert in den ›Studien über Hysterie‹: »Ja, ich wage die höchst unmoderne Ketzerei, es könnte doch einmal auch die Bewegungsschwäche eines Beines nicht psychisch, sondern direkt reflektorisch durch eine Genitalkrankheit bedingt sein.« SH, 261. Vgl. I. Veith, Hysteria, S. 22–25. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 45. Vgl. GW Nachtr., 74ff., 190.

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Ungläubiger in Sachen Reflex-Hysterie, hatte dessen ehemaligen Patientinnen ihre sensomotorischen Symptome binnen kürzester Zeit ausgetrieben.317 Im Paradigma der Reflex-Neurose bewegen sich noch Freuds frühe, unter dem Eindruck seines Frankreich-Aufenthaltes geschriebenen Texte zu Hysterie und Hypnose. Die Aufmerksamkeit gilt den Reflexanomalien in der Hysterie oder der Charcot zugeschriebenen »somatischen« Erklärung der Hypnose nach dem »Schema der spinalen Reflexe«.318 Charcots Traumatheorie liest sich in Freuds Anmerkungen zu seiner Übersetzung von Charcots ›Leçons du mardi‹ folgendermaßen: »Ein Trauma wäre zu definieren als ein Erregungszuwachs im Nervensystem, dessen sich letzteres durch motorische Reaktion nicht hinreichend zu entledigen vermag. Der hysterische Anfall ist vielleicht aufzufassen als ein Versuch, die Reaktion auf das Trauma zu vollenden.« (GW Nachtr., 159) Die Erweiterung dieser rein somatischen von Josef Breuer in den ›Studien über Hysterie‹ sogenannten »alten ›Reflextheorie‹« (SH, 260, 269) zu einer psychosomatischen in der Psychoanalyse vollzieht sich in den 90er Jahren schrittweise. Gesprächspartner Freuds in diesem Prozeß, in dem Vorstellungen eine zunehmend größere Rolle spielen, sind Josef Breuer und Wilhelm Fließ. Der Berliner Hals-Nasen-Ohren-Spezialist Wilhelm Fließ ist einer der prominentesten Vertreter des letzten Kapitels der alten Reflextheorie, der NasenReflextheorie, die im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Verbindung zwischen nasalen Reflexen und dem Wohlbefinden im Allgemeinen, den Sexualorganen im Besonderen konstruiert. 1897 veröffentlicht Fließ die Studie ›Die Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen‹. In den 90er glaubte auch Freud an diese Verbindung, etwa im eigenen Fall an die »Abhängigkeit des Herzzustandes vom Nasenzustand«,319 und ließ sich dementsprechend behandeln, also seine Nasenmuscheln kauterisieren. Zur Distanzierung von Fließ und seiner Theorie kam es nach dem Vorfall mit Emma Eckstein, einer gemeinsamen Patientin, die sich auf Anraten Freuds zur Behebung ihrer hysterischen Abdominalsymptome einer Nasenoperation bei Fließ unterzog. Dieser vergaß in der Wunde jedoch einen sich entzündenden Fremdkörper, ein Stück Jodoformgaze, bei dessen Entfernung in Freuds Praxis, dem die Nachbehandlung überlassen war, die Patientin fast verblutet wäre. Sowohl in bezug auf die eigene Person als auch im

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Vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 196–200; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 159f. Zu diesen Vorwürfen hat Charcot selbst Stellung bezogen: »Es hat den Anschein, als gäbe es die Hystero-Epilepsie nur in Frankreich, und ich könnte sogar sagen, wie man es bisweilen auch getan hat, allein in der Salpêtrière, als ob ich über die Fähigkeit verfügte, sie nach meinem Willen zu prägen. […] Aber in Wirklichkeit stehe ich nur da wie ein Photograph; was ich sehe, schreibe ich auf.« Zit. nach M. Schneider, Nachwort, S. 145. GW Nachtr., 133, vgl. 60, 63, 76–78. Am 4. 3. 1895, S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ, S. 116. Zur nasalen Reflextheorie und zur Verbindung Fließ und Freud vgl.: E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 64–68; E. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 443–461.

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Blick auf Emma Eckstein mußte sich Freud schließlich eingestehen, daß sich die nasale Therapie, neben den Diät-, Wasser- und Elektrizitätskuren, als eine weitere somatische Heilungsform erwies, die angesichts der Hysterie fruchtlos blieb. Als weitaus erfolgreicher zeigt sich das Reflexparadigma für Freud jedoch jenseits direkter somatischer Anwendung in der wissenschaftlichen Theoriebildung. Ein um die Psyche erweiterter Reflexbogen wird zu dem zentralen Modell der Psychoanalyse. In der ›Traumdeutung‹ heißt es dementsprechend: »der psychische Apparat müsse gebaut sein wie ein Reflexapparat. Der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistung.« (GW 2/3, 543) Von einem ›psychischen Reflexbogen‹ spricht Freud erstmals in dem 1893 gehaltenen Vortrag ›Psychischer Mechanismus hysterischer Phänomene‹. Hier wird das ›Konstanzprinzip‹ eingeführt,320 demzufolge Gesundheit die Erhaltung einer konstanten Erregungssumme des Nervensystems bedeutet, während Krankheit durch deren Steigerung und unzureichende Abfuhr hervorgerufen wird. In der weiteren Geschichte der Psychoanalyse wird dieses Prinzip Grundlage der quantitativen, ökonomischen Theorie bleiben. Im ›Entwurf‹ erscheint es als Trägheitsprinzip und wird qualitativ mit dem Lustprinzip verbunden. Ein niedriges Erregungsniveau bedeutet hier Empfindung der Lust, eine Steigerung desselben Unlust (GW Nachtr., 404; GW 10, 214). Die Einführung eines solchen Prinzips in die Psychologie bedeutet zum einen eine Übertragung des physikalischen Energieerhaltungssatzes, demzufolge die Summe der Energien in einem geschlossenen System trotz Umwandlung konstant bleibt, und impliziert also die Annahme einer psychischen Energie (GW Nachtr., 388, 390). Das Interesse an Quantifizierung und insofern an einem naturwissenschaftlichen Zuschnitt der Psychoanalyse bekundet sich in dieser Übertragung. Das Vokabular der Quantifizierung, das Freud in den 90er Jahren, etwa mit dem »Erste[n] Hauptsatz« des ›Entwurfs‹: »Die quantitative Auffassung« (GW Nachtr., 388), anstimmt, bleibt bis in die späten Texte erhalten. Zum anderen läßt sich das Konstanzprinzip auch in Verbindung zum zweiten thermodynamischen Hauptsatz bringen, demzufolge Ausgleichsprozesse

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»Die wichtigste dieser Voraussetzungen [...] ist biologischer Natur, arbeitet mit dem Begriff der Tendenz (eventuell der Zweckmäßigkeit) und lautet: Das Nervensystem ist ein Apparat, dem die Funktion erteilt ist, die anlangenden Reize wieder zu beseitigen, auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen, oder der, wenn es nur möglich wäre, sich überhaupt reizlos erhalten wollte. […] geben wir dem Nervensystem die Aufgabe […] der Reizbewältigung. Wir sehen dann, wie sehr die Einführung der Triebe das einfache physiologische Reflexschema kompliziert.« GW 10, 213; vgl. GW Nachtr., 207f., 210f., 388–390; GW 13, 5; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 260–268. Freud hat später sein Konstanzprinzip in Analogie zu Fechners evolutionstheoretischem Stabilitätsprinzip gesetzt, vgl. GW 13, 5, 371f., das besagt, daß sich jedes System materieller Teilchen bei gleichbleibenden Außenbedingungen von einem instabileren zu einem stabileren Zustand entwickelt, d.h. also auch vom Organischen zum Anorganischen, vgl. G. T. Fechner, Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen, S. 30, 36; R. Burkholz, Reflexe der Darwinismus-Debatte in der Theorie Freuds, S. 121–129.

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in geschlossenen Systemen gerichtet verlaufen und eine Rückkehr zur Ausgangslage eines Systems nur durch Veränderungen in der Umwelt möglich ist. Die mit dem Reflexbogen indizierte Gerichtetheit der Energieabfuhr321 ebenso wie die im ›Entwurf‹ angesprochene Notwendigkeit zur Interaktion eines Organismus mit seiner Umwelt, um einen energetischen Ausgleich zu schaffen, weisen auf diese zweite dynamischere Bedeutungsvariante der Freudschen Trägheit bzw. Konstanz. Aus einem reflexhaft reaktiven wird ein aktiver Organismus. Das ist phylo- wie ontogenetisch entwicklungsgeschichtlich gedacht. In dem Vortrag von 1893 ist diese Dimension bereits vorhanden. Hier wird die somatische Erlebniskette von Reiz-Reaktion-Aktion um eine seelische von psychischem Eindruck, Affekt und assoziativer oder sprachlicher Abreaktion ergänzt, wobei letztere ein zivilisationsgeschichtlicher Ersatz für die eigentlich »adäquate« motorische Reaktion, die Tat ist: »so ist das Wort der Ersatz für die Tat und unter Umständen der einzige Ersatz (Beichte).« Somatische und psychische Vorgänge begleiten oder ersetzen einander also. Wenn ein Mensch einen psychischen Eindruck erfährt, so wird etwas in seinem Nervensysteme gesteigert, was wir momentan die Erregungssumme nennen wollen. Nun besteht in jedem Individuum, um seine Gesundheit zu erhalten, das Bestreben, diese Erregungssumme wieder zu verkleinern. Die Steigerung der Erregungssumme geschieht auf sensiblen Bahnen, die Verkleinerung auf motorischen Bahnen. (GW Nachtr., 192)

Im pathologischen Fall der Hysterie erfolgt auf den durch das psychische Trauma hervorgerufenen Affekt keine adäquate motorische, sprachliche oder assoziative »Erledigung« desselben, etwa bei einer Beleidigung durch »kontrastierende Vorstellungen« (GW Nachtr., 193) der eigenen Größe, sondern es wird entweder gar nicht oder auf falschen motorischen Bahnen reagiert. In diesem Vortrag behandelt Freud vor allem die unterlassene Reaktion: Der Affekt bleibt gleichsam »eingeklemmt« und soll auf dem Wege der Katharsis erledigt werden. Die Therapie versetzt den Patienten in die einmalige Lage, die Situation noch einmal zu erleben, die zuvor ausgebliebene Reaktion nachzuholen und erfüllt damit einen »der heißesten Wünsche der Menschheit [...], nämlich dem Wunsche, etwas zweimal tun zu dürfen.« Es hat jemand ein psychisches Trauma erfahren, ohne darauf genügend zu reagieren; man läßt ihn dasselbe ein zweites Mal erleben, aber in der Hypnose, und nötigt ihn jetzt, die Reaktion zu vervollständigen. Er entledigt sich nun des Affekts der Vorstellung, der früher sozusagen eingeklemmt war, und damit ist die Wirkung dieser Vorstellung aufgehoben. Also wir heilen nicht die Hysterie, aber einzelne 321

Das Konstanz- bzw. Trägheitsprinzip wird im ›Entwurf‹ als »Motiv« des Reflexbogens ausgewiesen, als anatomische Bahnung der Tendenz zur Energieabfuhr: »Das Prinzip der Trägheit erklärt zunächst die Bauzweispältigkeit [der Nerven] in motorisch und sensibel als Einrichtung, um die Qη-Aufnahme durch -Abgabe aufzuheben. Die Reflexbewegung ist als feste Form dieser Abgabe jetzt verständlich.« GW Nachtr., 388; vgl. GW 2/3, 542.

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Symptome derselben dadurch, daß wir die unerledigte Reaktion vollziehen lassen. (GW Nachtr., 195)

Den anderen Fall, in dem sehr wohl eine Reaktion, jedoch eine anomale stattfindet, führt Josef Breuer in den ›Studien über Hysterie‹ aus. In seinen den ›Studien über Hysterie‹ angefügten theoretischen Überlegungen offenbart sich Breuer als Anhänger der alten, rein somatischen Reflextheorie (SH, 260f.), die um Konstanz und Konversion erweiterte Version dieser Theorie trägt er im Namen des Freundes vor.322 Konversion ist hier zum einen allgemein auf die Interaktion von psychischem und physischem Reflexbogen bezogen und meint die Umwandlung der »psychischen Reizgröße« einer Vorstellung in »somatische« (SH, 242). Solche Umwandlungen vollziehen sich nämlich auch beim normalen ›Ausdruck der Gemütsbewegungen‹,323 wenn eine psychische Erregung einer motorischen Abfuhr zugeführt wird, z.B. das »Jauchzen und Springen der Freude, der gesteigerte Muskeltonus des Zornes« (SH, 219). Es gibt nach Breuer individual- wie auch entwicklungsgeschichtlich vorgeprägte Reaktionsmuster zur Erregungsabfuhr motorischer oder psychischer Natur, die einander gleichberechtigt ersetzen können. Denn unter dem energetisch-funktionalen Gesichtspunkt sind die Alternativen von Tat oder sprachlicher bzw. assoziativer Erledigung eines Affektes äquivalent.324 Einen besonderen Nachdruck erhält diese Ansicht durch die Rede von »präformierten, psychischen Reflexen« (SH, 223),325 die den körperlichen, etwa dem »Nießreflex«,326 an die

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In der Formulierung Breuers lautet das Konstanzprinzip: »so schließen wir, daß diese Wegschaffung des Erregungsüberschusses ein Bedürfnis des Organismus sei, und treffen hier zum ersten Male auf die Tatsache, daß im Organismus die ›Tendenz zur Konstanterhaltung der intrazerebralen Erregung‹ (Freud) besteht.« SH, 215. Ist die in den frühen 90er Jahren entstandene erweiterte Reflextheorie Breuers und Freuds auch eine Gemeinschaftsarbeit, so bestehen doch Unterschiede im Detail, die sich vereinfacht mit Breuers stärkerem biologischen, Freuds ausgeprägterem psychologischen Akzent zusammenfassen lassen, vgl. GW Nachtr., 209–216; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 264f. Die unterschiedlichen Auffassungen des Konstanzprinzips hat Hirschmüller ausführlicher herausgearbeitet, vgl. Physiologie und Psychoanalyse, S. 212–218. Zur Physiologie der Reflexe hat Breuer selbst experimentell gearbeitet, z.B. im Hinblick auf den Atmungsapparat, was zur Entdeckung des noch heute so bezeichneten ›Hering-Breuer-Reflexes‹ führte, vgl. A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse, S. 75–80. Das Interesse am Ausdruck der Gemütsbewegungen ist von Darwins ›The Expression of the Emotions in Man and Animals‹ (1882) inspiriert, vgl. SH, 110. Breuers Differenzierung zwischen »›aktiven‹, ›sthenischen‹ Affekten« einerseits und passiven »›asthenischen‹ Affekten« (SH, 219) andererseits benutzt noch das Vokabular der alten Brownschen Erregungslehre. Psychische Reflexe hatte Griesinger bereits 1843 eingeführt und folgendermaßen definiert: »Unter der Bezeichnung ›Reflexaction‹ begreift man das Uebergehen sensitiver Eindrücke in motorische im Rückenmarke; unter dem Namen ›psychische Reflexaction‹ wollten wir eine Action des Gehirns, die Uebergänge von Vorstellungen in Strebungen, theils insofern sie bewußt, theils unbewusst sind, näher betrachten«, Ueber psychische Reflexactionen, S. 112. Er führte damit das »physiologische Konzept von den Reflexen in die Theorie der Geisteskrankheiten« ein, H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 343. Vgl. hierzu Freud an Fließ: »Breuer hat in seinem Aufsatz über Theorie der Hysterie (für unser

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Seite gestellt werden. Vor allem sind dies sprachliche Reaktionen, die von Beleidigung und Scheltrede bis zur dichterischen Tätigkeit reichen können: »Goethe wird mit einem Erlebnisse nicht fertig, bis er es in dichterischer Tätigkeit erledigt hat. Bei ihm ist dies der präformierte Reflex eines Affektes, und solange dieser sich nicht vollzogen hat, besteht die peinliche gesteigerte Erregung.« (SH, 225) Zum anderen wird die Konversion spezifischer als ein pathologisches Phänomen gefaßt, nämlich die Ausbildung »abnormer Reflexe«, d.h. »die von der affektiven Vorstellung ausgehende Erregung wird in ein körperliches Phänomen ›konvertiert‹. (Freud.)« (SH, 224)327 Breuer spricht auch von »anomalen Reaktionen« oder »abnormen ›Bahnungen‹« (SH, 220f.). Bei der Hysterie handelt es sich in einem zweifachen Sinne um eine gestörte Reiz-Reaktion-Aktionskette. Denn einerseits verläuft die Reizbewältigung über ›anomale‹ motorische Bahnen, die hysterischen Symptome, und andererseits wird in diesem Zuge die Natur des auslösenden Reizes, die ideogene, psychische Herkunft der körperlichen Symptomatik verschleiert (SH, 225). Auf die Frage nach der Determinierung der Krankheit, also die Frage nach dem Warum diese oder jene Körperteile betroffen sind, geben Breuer und Freud relativ einhellige Antworten. Auch hier wird eine Trägheit des Organismus ins Spiel gebracht, die dazu führt, daß für die Energieabfuhr bereits bestehende ›Bahnungen‹ verwendet werden. So erscheinen die hysterischen Symptome vielfach als einfache Überzeichnungen des normalen motorischen Ausdrucks der Gemütsbewegungen oder als Wiederholung vergangener Reaktionsmuster. Freud bewegt sich auf den Spuren von Darwins ›The Expressions of Emotions in Man and Animals‹ (1882), denn die motorischen Symptome der Hysterie erinnerten ihm zufolge »lebhaft an eines der Darwinschen Prinzipien zur Erklärung der Ausdrucksbewegung, an das Prinzip der ›Ableitung der Erregung‹, durch welches er z.B. das Schweifwedeln der Hunde erklärt.« (SH, 110) Eine »Präkordialempfindung« bezeichnet er als wohl ursprünglichen, zweckmäßigen Begleiter einer Kränkung (›Stich ins Herz‹). Die Sprache bewahrt hier gleichsam eine Erinnerung an ein ganzheitliches psychosomatisches Ausdrucksgeschehen, das erst wieder durch die überzeichnende Performanz der Hyste-

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Buch) als Beispiel von Fernwirkung den Nasenkopfschmerz und die Aufhebung von Interkostalschmerzen von der Nase her! Ich gratuliere Dir«, S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ, S. 114. Freuds erste Definition der Konversionshysterie von 1894 lautet: »Bei der Hysterie erfolgt die Unschädlichmachung der unverträglichen Vorstellung dadurch, daß deren Erregungssumme ins Körperliche umgesetzt wird, wofür ich den Namen der Konversion vorschlagen möchte.« GW 1, 63; vgl. SH, 176. Später formuliert er ausführlicher: »Diese sagt aus, das hysterische Symptom entstehe, wenn der Affekt eines stark affektiv besetzen seelischen Vorgangs von der normalen bewußten Verarbeitung abgedrängt und somit auf eine falsche Bahn gewiesen werde. Er gehe dann im Falle der Hysterie in ungewöhnliche Körperinnervationen über (Konversion), könne aber durch Auffrischung des Erlebnisses in der Hypnose anders gelenkt und erledigt werden (Abreagieren). Die Autoren nannten ihr Verfahren Katharsis (Reinigung, Befreiung vom eingeklemmten Affekt)«, GW 13, 409; vgl. GW 7, 382; GW 14, 300.

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rikerin ins Bewußtsein gerückt wird. Sie »belebt nur die Empfindungen von neuem, denen der sprachliche Ausdruck seine Berechtigung verdankt.« Freuds Hysterikerinnen erweisen sich in dieser Hinsicht als Körpervirtuosinnen und Sprachgeschichtlerinnen in einem, indem sie eine vermeintlich metaphorische Sprache, was »uns als bildliche Übertragung« erscheint, als eine metonymische entlarven. Nach Freud »war das alles einmal wörtlich gemeint, und die Hysterie tut recht daran, wenn sie für ihre stärkeren Innervationen den ursprünglichen Wortsinn wieder herstellt.« (SH, 201f.) Bei seinen Patientinnen verkörpert sich eine Unselbständigkeit so in Symptomen der Abasie-Astasie; die Empfindung eines ›Schlages ins Gesicht‹ äußert sich in einer Trigeminusneuralgie; die Beunruhigung über ein ›rechtes Auftreten in der Gesellschaft‹ wird wörtlich genommen und als Fußschmerz ausagiert (SH, 196, 198f.). Freuds Hysterikerinnen bieten damit eine Möglichkeit der Aufforderung in Büchners ›Danton’s Tod‹ nachzukommen: »Geht einmal euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden.« (I, 62) Freud spricht in diesen Fällen von einem Mechanismus der »Symbolisierung« (SH, 201), womit ein wechselweises Deutungsund Produktionsverhältnis zwischen affektiver Vorstellung und Körperzeichen gemeint ist.328 Dieser Begriff ist insofern treffend, als das somatische Symptom tatsächlich eine sinnliche Anschauung der Vorstellung darstellt. Und auch die antike Wortbedeutung des symbolon als Erkennungszeichen, etwa die Hälfte eines durchbrochenen Ringes, macht in diesem Kontext Sinn, insofern Gemütsbewegung, sprachlicher und körperlicher Ausdruck als Teile eines zusammengehörigen Ganzen erscheinen. Das körperliche Symptom verwendet jedoch nicht nur phylogenetisch vorgeprägte Bahnen des Ausdrucks, sondern auch individualgeschichtliche. ›Somatisches Entgegenkommen‹ ist die Formel,329 die neben der Symbolisierung den zweiten wichtigen Mechanismus hysterischer Konversion benennt. Hier liegt kein semantischer Zusammenhang zwischen Affekt und Körperzeichen vor, sondern es werden bereits bestehende Krankheiten als Ausdrucksmöglichkeit gewählt. Die Hysterie greift auf einen Symptompool der »gemeinsten, verbreitetsten Schmerzen der Menschheit« zurück: »vor allem die periostalen und neuralgischen Schmerzen bei Erkrankung der Zähne, die aus so verschiedenen Quellen stammenden Kopfschmerzen und nicht minder die so häufig verkann-

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»Es war eine ganze Reihe von parallellaufenden Sensationen und Vorstellungen, in welcher bald die Sensation die Vorstellung als Deutung erweckt, bald die Vorstellung durch Symbolisierung die Sensation geschaffen hatte«, SH, 201; vgl. SH, 29. Breuer definiert einschränkender: »Manchmal aber (freilich nur bei höheren Graden von Hysterie) liegen zwischen dem Affekte und seinem Reflexe wirkliche Reihen von assoziierten Vorstellungen; das ist die Determinierung durch Symbolik.« SH, 226f. Im ›Entwurf‹ und an anderen Stellen der ›Studien‹ verwendet Freud den Begriff Symbolisierung unspezifischer, etwa auch im Hinblick auf eine durch Gleichzeitigkeit bedingte Konversion, vgl. GW Nachtr., 440f.; vgl. SH, 90, 134, 138, 163. Vgl. GW 5, 200f., 213, 277; GW 8, 101f.; GW 1, 124f.

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ten rheumatischen Schmerzen der Muskeln.« Solche körperlichen Schmerzen werden dann, insofern sie zeitgleich mit »schmerzlichen psychischen Erregungen« auftreten, zu »Erinnerungssymbolen« (SH, 194f.) für diese umgearbeitet. Schließlich kann der Transfer zwischen psychischem und physischem Reflexbogen auch einfach nur auf Gleichzeitigkeit beruhen, wie im Falle bestimmter Tics, so daß sinnliche Wahrnehmungen oder körperliche Gesten, die in der traumatischen Situation vollzogen wurden, fortan als verschobenes Abreagieren des psychischen Reizes dienen. Der Brandgeruch, den Miß Lucy R. als Zeichen der Kränkung beständig in der Nase hat (SH, 125f., 133–137), oder das zwanghafte Zungenschnalzen Emmy von N.’s, das an die Krankenpflege ihres Kindes erinnert (SH, 67, 72, 110f.), sind Beispiele hierfür. In späteren Schriften erscheinen die »somatischen Symptome« der Hysterie im Zuge der Konzentration auf die Libido aus dem »Kreise der Sexualempfindungen und motorischen Innervationen entnommen« (GW 7, 194). Der Geschlechtsakt ist dann zentrales Vorbild der Symptombildung (GW 11, 406). Was im Hinblick auf die hysterische Konversion im Kontext einer erweiterten Reflextheorie insgesamt in die Augen fällt, ist die Zweckmäßigkeit der Krankheit. Die ›anomalen Reflexe‹ sind verzerrte, überzeichnete oder veraltete Reaktionsmuster, in denen das angestrebte normale Verhalten noch deutlich erkennbar ist und eine Energieabfuhr tatsächlich geleistet wird, wenn auch in falschen Kanälen. Eine der zentralen Grundeinsichten der Freudschen Psychoanalyse: die Produktivität der Krankheit – festgehalten etwa in der Rede von der Krankheit als ›Heilungsprozeß‹ oder vom ›Krankheitsgewinn‹ – zeichnet sich in diesem frühen energetischen Modell mit besonderer Prägnanz ab. Und im weiteren zeigen die Überlegungen der 90er Jahre bereits die theoretische Relevanz der Pathologie. Das Kranke in seiner überzeichneten Form verhilft dazu, das Gesunde zu erkennen.330 Und so führt Freuds Weg von den ›Studien über Hysterie‹ zu den Fehlleistungen in ›Psychopathologie des Alltagslebens‹ (1901), zur ›Traumdeutung‹ (1902) und zu ›Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten‹ (1905). Erst die hysterische Konversion schärft den Blick für die Verschiebungen, Ersetzungen und Verdichtungen, denen auch das normale Seelenleben unterliegt. Zweifellos besteht Freuds wichtigste Neuerung in der psychischen Erweiterung des Reflexbogens. Dies bedeutet jedoch nicht nur, daß nun neben den

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»Ein gewisser Anteil unserer seelischen Erregung wird ohnedies normalerweise auf die Wege der körperlichen Innervation geleitet und ergibt das, was wir als ›Ausdruck der Gemütsbewegungen‹ kennen. Die hysterische Konversion übertreibt nun diesen Anteil des Ablaufes eines mit Affekt besetzten seelischen Vorganges; sie entspricht einem weit intensiveren, auf neue Bahnen geleiteten Ausdruck der Gemütsbewegung.« GW 8, 14. Vgl. Lou Andreas-Salomés Aussage über die Psychoanalyse in ihrem ›Lebensrückblick‹, die »aus den Zuständen des Kranken auf die Struktur des Gesunden« schließt, »indem hier, wie unter der Lupe, entziffert werden konnte, was unserem Blick innerhalb des Normalen sonst fast unlesbar bleibt.« S. 152.

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physischen auch psychische Reize und Reflexe eine Rolle spielen, sondern daß die Außenorientierung des Reflexparadigmas insgesamt durch einen Ausbau des Inneren, des psychischen Apparates ausbalanciert wird. Ein wichtiges Element in diesem Innenausbau stellen die »Triebe« dar, die Freud im ›Entwurf‹ als »endogene Reize« bzw. auch als »psychische Reize« einführt.331 Genannt werden die »großen Bedürfnisse, Hunger, Atem, Sexualität.« Sie entstammen Freud zufolge den »Körperzellen« (GW Nachtr., 410, 408, 389). Auch in späteren Formulierungen bleibt der Trieb ein psychosomatischer Grundbegriff der Psychoanalyse. In ›Trieb und Triebschicksale‹ (1915) erläutert Freud den »›Trieb‹ als einen Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinnern stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhanges mit dem Körperlichen auferlegt ist.« Hier wird »das Reflexschema« des ›Entwurfs‹ noch einmal aufgerufen, und der Trieb wird als ein aus dem Körperinneren stammender, im Unterschied zu einmaligen Außenreizen konstanter psychischer Reiz gefaßt, der darum auch andere Verarbeitungsweisen hervorruft. Während auf Außenreize mit Vermeidung, d.h. Flucht reagiert werden kann, erzwingen die inneren, konstanten Reize nachhaltigere Reaktionen. Nämlich zum einen eine Veränderung der Außenwelt, damit diese die inneren Bedürfnisse befriedigen kann, zum anderen eine Modifikation der Triebe (GW 10, 211–214). Während sich die spätere Psychoanalyse vor allem mit dem zweiten Aspekt, den Triebschicksalen von Verkehrung, Verdrängung und Sublimierung beschäftigt, liegt der Hauptakzent im ›Entwurf‹ noch auf dem ersten Aspekt, der Veränderung der Außenwelt und der Unterscheidung von äußeren und inneren Reizen. Im Gegensatz zum Außenreiz bleibt der Versuch einer Triebbefriedigung auf einfachen motorischen Bahnen durch »innere Veränderung (Ausdruck der Gemütsbewegungen, Schreien, Gefäßinnervation)« ergebnislos, denn durch diese Abfuhrbewegung wird nur ein kurzfristiger Spannungsabbau erzielt, nicht aber der innere Reiz dauerhaft befriedigt. Zur Triebbefriedigung ist eine »Veränderung in der Außenwelt (Nahrungszufuhr, Nähe des Sexualobjektes)« notwendig, »welche als spezifische Aktion nur auf bestimmten Wegen erfolgen kann.« Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der Genese des menschlichen Organismus, daß dieser zunächst auf die Hilfe anderer angewiesen ist,

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Breuer vertritt eine andere Triebtheorie. Für ihn entstehen die Triebe wiederum aus dem Umweltbezug. Es handelt sich bei einem »Trieb« um die »Erregung eines nicht ausgelösten Reflexes« (SH, 223), also um einen Energiestau aufgrund einer unterlassenen Reaktion. So kann ihm zufolge aus einer Beleidigung, auf die nicht geantwortet wurde, ein Rachetrieb resultieren. Einen solchen Vorgang der Verinnerlichung von Außenreizen hält Freud später für einen möglichen Mechanismus der Triebevolution: »Natürlich steht nichts der Annahme im Wege, daß die Triebe selbst, wenigstens zum Teil, Niederschläge äußerer Reizwirkungen sind, welche im Laufe der Phylogenese auf die lebende Substanz verändernd einwirkten.« GW 10, 214.

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um seine inneren Bedürfnisse zu befriedigen. Der Ausdruck der Gemütsbewegungen erhält darum, neben seiner ersten einfachen Funktion einer momentanen Abfuhr, eine »höchst wichtige Sekundärfunktion der Verständigung, und die anfängliche Hilflosigkeit des Menschen ist die Urquelle aller moralischen Motive.« (GW Nachtr., 410f., vgl. 456) Das über die Verständigung mit einem anderen Individuum erzielte Befriedigungserlebnis erbringt Freud zufolge eine dreifache Leistung: Erstens wird eine dauerhafte Abfuhr des inneren Reizes erzielt, und es entstehen Bahnungen, die zweitens den Hilfeleistenden sowie drittens den Zusammenhang von spezifischer Aktion und Befriedigung speichern. Vergleichbare Speicherprozesse laufen im Falle des Schmerzerlebnisses ab. Als Reste beider Erlebnisse bleiben Spannungserhöhungen, die »Affekte und Wunschzustände« zurück, die in einem Fall positiv als Anziehung, im anderen Fall negativ als »primäre Abwehr oder Verdrängung« (GW Nachtr., 414f.) einer Person oder einer bestimmten Handlung die weitere Erlebnisstruktur des Individuums prägen. Einer der späteren zentralen Bausteine der Psychoanalyse, die Verdrängung, wird hier evolutionsgeschichtlich begründet und dem Fluchtmechanismus als dem anderen, nach außen gewendeten primären menschlichen Reaktionsschema an die Seite gestellt.332 Was Freud im ›Entwurf‹ noch in der physiologischen Sprache beschreibt, das ist die Genese des Ich aus der Abhängigkeit der Eltern-Kind-Beziehung und den allmählichen Aufbau eines Ich als »ein Netz besetzter, gegeneinander gut gebahnter Neuronen« (GW Nachtr., 417) durch Speicherung von Erfahrungen, also Gedächtnisleistungen.333 Das Grundszenarium der Psychoanalyse ist also aufgeschlagen, wobei die besondere menschliche Situation dadurch gekennzeichnet ist, daß Subsistenz und Hermeneutik miteinander verbunden sind. Der schon bei Wilhelm Dilthey zu beobachtende evolutionäre Zusammenhang von Reflexbogen und hermeneutischem Zirkel prägt auch Freuds erste theoretische Schritte auf dem Weg zur Psychoanalyse. Durch die im ›Entwurf‹ eingeführte neue Reizquelle, die Triebe, erscheint der Mensch nicht mehr allein als ein auf seine Umwelt reagierendes, sondern als ein im Zuge der Verarbeitung innerer Reize aktiv seine Umwelt umgestaltendes Wesen. Freud resümiert später: »Das Ich-Subjekt sei passiv gegen die äußeren Reize, aktiv durch seine eigenen Triebe.« (GW 10, 227) Die im ›Entwurf‹ geborene Triebpsychologie konterkariert den Determinismus des physischen Reflexbogens. Der Mensch ist in der Befriedigung seiner inneren Bedürfnisse gerade kein nur Getriebener,

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Rückblickend formuliert Freud: »Diesen Vorgang nannte ich Verdrängung; er war eine Neuheit, nichts ihm Ähnliches war je im Seelenleben erkannt worden. Er war offenbar ein primärer Abwehrmechanismus, einem Fluchtversuch vergleichbar, erst ein Vorläufer der späteren normalen Urteilserledigung.« GW 14, 55. »Eine Haupteigenschaft des Nervengewebes ist das Gedächtnis, d.h. ganz allgemein die Fähigkeit, durch einmalige Vorgänge dauernd verändert zu werden«, GW Nachtr., 391; vgl. auch die an den ›Entwurf‹ anknüpfenden Überlegungen der ›Traumdeutung‹, GW 2/3, 543.

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sondern ein kommunizierendes, seine Umwelt aktiv beeinflussendes Wesen. »Wir dürfen also wohl schließen«, erläutert Freud in ›Triebe und Triebschicksale‹ rückblickend die zentrale Einsicht seines ›Entwurfs‹, »daß sie, die Triebe, und nicht die äußeren Reize, die eigentlichen Motoren der Fortschritte sind, welche das so unendlich leistungsfähige Nervensystem auf seine gegenwärtige Entwicklungshöhe gebracht haben.« (GW 10, 213f.) Warum Freud die Genese der Triebe als Emanzipations- und Fortschrittsgeschichte erzählt, wird im Rückblick auf seinen Vortrag von 1893 und Breuers theoretische Überlegungen in ›Studien über Hysterie‹ deutlich. Dort wurden äußere und innere Reize und Reflexe unter dem energetischen Aspekt noch gleich behandelt, jetzt zeichnen sich deutliche Eigengesetzlichkeiten des inneren Triebgeschehens ab, die zwar noch in Analogie zum Reflexmechanismus beschrieben, jedoch nicht mehr mit diesem identifiziert werden können. Genau an diesem Punkt hat die ›Psychologie für den Neurologen‹ ihre Grenze erreicht, und Freud zieht diese Konsequenz, indem der ›Entwurf‹ unausgearbeitet und unpubliziert bleibt. Seit dieser Zeit dient der Reflexbogen nur noch als Modell der psychoanalytischen Theoriebildung; was im ›Entwurf‹ beanspruchte Metonymie zu sein, weiß sich nun als Metapher. Die ›Traumdeutung‹ reflektiert dementsprechend souverän die theoretische Relevanz der Gleichnisrede, die die Funktionen eines Systems veranschaulichen kann. »Diese Gleichnisse sollen uns nur bei einem Versuch unterstützen, der es unternimmt, uns die Komplikation der psychischen Leistung verständlich zu machen, indem wir diese Leistungen zerlegen, und die Einzelleistung den einzelnen Bestandteilen des Apparats zuweisen.« Für die Analyse der Seele werden verschiedene Apparatevorstellungen wie Mikroskop, Fernrohr, Fotoapparat sowie Telefon- und elektrische Schaltanlagen metaphorisch zu Rate gezogen, die privilegierte »Hilfsvorstellung zur ersten Annäherung an etwas Unbekanntes« bleibt jedoch der biologische »Reflexapparat«.334 Vergleicht man den ›Entwurf‹ von 1895, das VII. Kapitel der ›Traumdeutung‹ und die späteren Modelle des Seelenapparates in den metapsychologischen Schriften, so fällt auf, daß Freud in seinen theoretischen Überlegungen Fechners erstem »Formalprinzip der inneren Psychophysik« treu geblieben ist. Das besagt, daß »Funktionalität« der »Ontologie als Untersuchungsobjekt vorangehen«335 soll. Denn Verhältnisbestimmungen behalten auch dann ihre Gültigkeit, wenn sich die in ihnen genannten Wesenheiten verändern. So bleiben viele der im ›Entwurf‹ skizzierten Grundstrukturen und Mechanismen in der weiteren Geschichte der Psychoanalyse erhalten, nur die Akteure werden ausgetauscht und vor allem wird die physiologische durch eine psychologische Sprache ersetzt. Der für die Psychoanalyse charakteristische Ausbau der Seele 334 335

GW 2/3, 541, 543, vgl. SH, 21ff., 216, 220f., 225. H.-P. Brauns, Gustav Theodor Fechner: Elemente der Psychophysik I/II (1860), S. 41.

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liegt hier im Rohentwurf vor, darüber hinaus wird nichts grundlegend Neues mehr hinzukommen. Die Unterscheidung von Primär- und Sekundärvorgang wird bereits eingeführt, als einerseits freies Abströmen psychischer Energie, das später topisch mit dem System Unbewußt assoziiert wird, und andererseits als Hemmung und Bindung psychischer Energie durch eine als Besetzung von Neuronen verstandene Ichtätigkeit, die dann dem System Vorbewußt-Bewußt zugeordnet wird.336 Die Dreigliedrigkeit der Topiken ist in der Unterscheidung dreier Neuronensysteme vorgezeichnet: Das System durchlässiger, jenes undurchlässiger Neuronen und das System von Wahrnehmungsneuronen (GW Nachtr., 405) wird in der ›Traumdeutung‹ durch die Systeme Unbewußt, Vorbewußt, Bewußt abgelöst und schließlich mit deutlicherer Umstrukturierung in die Triadik von Es, Ich und Über-Ich überführt. Wobei die durch die biologische Vorstellung vom Reflexbogen indizierte Gerichtetheit psychischer Prozesse im ›Entwurf‹ überhaupt erst eine Topik, d.h. eine fiktive räumliche Anordnung der verschiedenen psychischen Systeme, ins Leben gerufen hat. Der Versuch, psychische Funktionen in Neuronensystemen zu lokalisieren, wird mit dem ›Entwurf‹ zwar abgebrochen, als Heuristik in der Fiktion »psychischer Lokalitäten« (GW 2/3, 541) wird er jedoch weitergeführt. Und schließlich tritt Freuds Konflikttheorie 1895 im Gewand eines Reizdualismus auf die Bühne, nachfolgend wird diese Auseinandersetzung in verschiedenen Formen des Triebdualismus gänzlich ins Innere verlegt werden. Im ›Entwurf‹ geht es zunächst um zwei Reiztypen, äußere und innere Reize, deren Ansprüchen das Ich genügen muß. Für die jeweilige Reizverarbeitung ist es unterschiedlich gut ausgerüstet. Gegen Außenreize ist der Organismus durch physische Schutzmechanismen, eine »Schwellenwirkung der Nervenendapparate«, und den Fluchtreflex als Vermeidungsstrategie gut gewappnet. Im Hinblick auf die inneren Bedürfnisse müssen vergleichbare Verarbeitungsstrukturen durch Besetzung und Hemmung von Energien erst aufgebaut werden. Der Mensch zeichnet sich zunächst durch seine Wehrlosigkeit gegenüber »psychischen Reizen« (GW Nachtr., 408f.) aus. Und die Triebe erweisen sich als eine nachhaltigere sowie schwieriger zu befriedigende Arbeitsanforderung an den Organismus. Das Ich ist dem ›Entwurf‹ zufolge als Schutzmechanismus gegen Körperreize konzipiert bzw. gegen deren psychische Repräsentanten, die Triebe. Im Vergleich zu den physischen Schutzmechanismen ist das Ich eine komplexere, evolutionär später entstandene Struktur zur Verarbeitung innerer Reize. Um dieser Anforderung gerecht zu werden, ist es, wie oben bereits vermerkt, auf die Mithilfe seiner Umwelt, auf Verständigung angewiesen. Nach diesem Modell ist das Ich in einen Konflikt zwischen innen und außen, Umwelt und Triebe gestellt. Der ›Entwurf‹ rückt damit in die Nähe von den durch Darwins 336

Vgl. GW Nachtr., 390, 422, 431, 481, und J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 396–399.

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Evolutionslehre inspirierten Milieu-Theorien,337 die gerade auch, wie der Fall Dilthey zeigte, mit der Vorstellung vom Reflexbogen als Schema der Wechselwirkung zwischen Milieu und Organismus arbeiten. In der weiteren Entwicklung der Psychoanalyse wird dieser Konflikt jedoch in den Hintergrund treten, abgelöst von einem inneren Triebdualismus. Freud »hat das Umweltverhältnis unter den Primat der Triebökonomie gestellt.«338 Warum es zu dieser Entwicklung kommt, das mag an den Unterschieden im Theorieansatz zwischen dem ›Entwurf‹ und den nachfolgenden psychoanalytischen Modellen liegen. Der ›Entwurf‹ ist der groß angelegte Versuch, die psychophysische Genese des Ich nachzuzeichnen, gleichsam als Seitenstück zu Darwins ›The Descent of Man‹. Struktur und Mechanismen des aus dem Körper sich entwickelnden und durch das Umweltverhältnis geprägten normalen Seelenlebens sollen beschrieben werden. Zentrale Problematik des Ansatzes bleibt, daß, obwohl sich der Autor auf Ergebnisse der »neueren Histologie des Nervensystems« (GW Nachtr., 397) berufen kann, der mit den Trieben angezeigte Übergang von Körper- zu psychischen Reizen der physiologischen Basis entbehrt. In der ›Traumdeutung‹ muß Freud gestehen, die »Mechanik dieser Vorgänge ist mir ganz unbekannt; wer mit diesen Vorstellungen Ernst machen wollte, müßte die physikalischen Analogien heraussuchen und sich einen Weg zur Veranschaulichung des Bewegungsvorgangs bei der Neuronerregung bahnen.« (GW 2/3, 605) Auch im weiteren bleiben die mit den Trieben postulierten psychophysischen Zusammenhänge ohne empirischen Beweis.339 Die Möglichkeit, aus dem Bekannten das Unbekannte, einen psychischen Reflexbogen, sich entwickeln zu sehen, ist also nicht gegeben. Für ein allgemeines System normaler psychophysischer Prozesse fehlen die Beobachtungen. Einen Ausweg bietet jenes klinische Material, das im ›Entwurf‹ als Abweichung von der Normalität noch an den Rand des Geschehens gedrängt ist, die hysterische Konversion. Lassen sich die somato-psychischen Wege des Triebgeschehens empirisch nicht veranschaulichen, so bieten in Umkehrung die psychosomatischen Konversionen einen Beweis für die Existenz solcher Bahnungen. Die Hysterie läßt sich mit einer Wendung Diltheys so betrachten, als habe die »Natur Versuche für uns angestellt« (VI, 99). Für diesen Kunstgriff der Freudschen Psychoanalyse, ihre Theorie nicht anhand der normalen Funktionen,

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Laut Herman Nunberg war Freud »der einzige«, der »Darwins Lehren auf Psychiatrie und Psychologie anwandte.« Einleitung, S. XXII. A. Schöpf, Sigmund Freud, S. 137. Diese Problematik des Triebbegriffs skizziert Andreas-Salomé treffend: »Anläßlich des Triebbegriffs bediente sich Freud der üblichen Definition, daß er ›dem Organischen aufsitze‹. Solange die Trieblehre dasjenige bleibt, was Physiologen und Psychologen einander gegenseitig zuwerfen oder gelegentlich gar vorwerfen, läßt sich von ihr aus nichts erklären, auch von Freud aus nicht. Sie bleibt ein Verlegenheitsausdruck, eine unfreiwillige Inkonsequenz der Natur- und Geisteskunde.« In der Schule bei Freud, S. 12.

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sondern anhand der Abweichungen zu entwickeln, hat Lou Andreas-Salomé die treffenden Worte gefunden: An den seelischen Erkrankungen hat er, wie an einem Rockzipfel, das Leben da erwischt, wo es, gleichsam hilflos verklemmt in eine Türspalte zu unserer Seite hin, nicht ins Organische allein entweichen konnte (wohin alles entweicht – d.h. für uns ›physisch‹ wird –, was wir nicht psychisch verstehend begleiten können, meine ich), und hat es Rede und Antwort stehen lassen. In der Tat kann man Freuds große Entdeckung nicht besser bezeichnen, als wenn man sagt, daß er aus der Not des Seelenlebens eine Tugend für die Wissenschaft machte: grade da, wo das psychische Bild, weil durch Krankheit über seine normalen Umrisse hinaus verzerrt, aus dem Rahmen der Betrachtungsmöglichkeit zu fallen droht, ist es Freud dadurch gelungen, ihm nach beiden Seiten beizukommen: sowohl nach derjenigen der unfaßbaren Lebendigkeit, die sich in normaler Verfassung der Wissenschaft nicht stellte, als nach derjenigen der Zergliederung in seine Einzelbestandteile, die man bisher nur als physische Zerfallserscheinung kannte. Es ist darum durchaus nicht zufällig, daß es ein Arzt sein mußte, der dies Ei des Kolumbus auf den Kopf stellte: indem er fand, daß es auf der zerbrochenen Spitze feststehe.340

Freud selbst hat sich knapper gefasst: »Erst wenn man das Krankhafte studiert, lernt man das Normale verstehen«; wir werden »das anscheinend Einfache des Normalen aus den Verzerrungen und Vergröberungen des Pathologischen erraten müssen.« (GW 5, 293f.; GW 10, 148) Mit der Verlagerung des wissenschaftlichen Standpunktes auf die Pathologie erklärt sich allerdings auch das Zurücktreten des Umweltverhältnisses zugunsten eines inneren Triebkonflikts. Denn die Gemeinsamkeit aller im ›Entwurf‹ genannten Abweichungen vom normalen Seelenleben, Traum und Hysterie, liegen in einer fehlgeleiteten Differenzierung von außen und innen begründet. Innere Reize werden als äußere wahrgenommen, das mit dem Sekundärvorgang assoziierte Moment der Realitätsprüfung, hier als richtige Verwendung von »Realitätszeichen« (GW Nachtr., 422) apostrophiert, bleibt aus. Angesichts der Hysterie entwickelt Freud eine Konflikttheorie, die mit psychischen Reizen oder, wie es in den Anfangsjahren noch des öfteren heißt, kontrastierenden Vorstellungen arbeitet. Sie entwickelt sich aus der mit dem Reflexbogen angezeigten Interaktion von Umwelt und Organismus, die dann als intrapersonelles Geschehen verfolgt wird. Die Metaphorik, die Freud zur Beschreibung hysterischer Konversion bemüht, verdeutlicht diesen Vorgang als Introjektion der Außenwelt. Das hysterische Symptom benimmt sich im Inneren gleichsam als ein »Fremdkörper, der unaufhörlich Reiz- und Reaktionserscheinungen in dem Gewebe unterhält, in das er sich eingebettet hat.« Im Ich entsteht ein »inneres Ausland« (GW 14, 125; GW 15, 62). Die Hysterie erscheint also als ein Akt der Kolonialisierung des Inneren durch die Außenwelt. Der Reflexbogen wird somit tatsächlich nach innen umgebogen, und der für ihn charakteristische Innen/Außen-Gegensatz taucht 340

L. Andreas-Salomé, In der Schule bei Freud, S. 12f.

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nun als Bedrohung im Ich auf. Und ebenso wie die Beziehung zur Umwelt nach Darwin durch »Anpassung« (GW 14, 126) geprägt ist, findet auch im Ich eine Anpassung an das hysterische Symptom als innerer Außenwelt statt. Theoretisch nimmt das hysterische Symptom in diesem Szenario eine Mittelstellung zwischen Außenreiz und Trieb ein, womit auch der wissenschaftliche Wert der Hysterie für Milieu-Theorien zum einen, psychologische Theorien zum anderen und für die Psychoanalyse insbesondere als vermittelndes Glied zwischen beiden bezeichnet wäre. Die sich im ›Entwurf‹ abzeichnende Konflikttheorie wird nachher als dynamische Dimension der Psychoanalyse bekannt werden. In dynamischer Hinsicht führt die Psychoanalyse, so Freud später, »alle psychischen Vorgänge – von der Aufnahme äußerer Reize abgesehen – auf das Spiel von Kräften zurück, die einander fördern oder hemmen, sich miteinander verbinden, zu Kompromissen zusammentreten usw. Diese Kräfte sind ursprünglich alle von der Natur der Triebe, also organischer Herkunft« und »finden in affektiv besetzten Vorstellungen ihre psychische Vertretung.« (GW 14, 301) In den 90er Jahren sind diese Konflikte noch nicht streng dualistisch gezeichnet. Vorsätze und Vorstellungen über das eigene Ungenügen, Moral, Religion und ›peinliche Kontrastvorstellungen‹ sowie sexuelle Vorstellungen können in Widerstreit treten, der dann durch Körperzeichen ausgetragen wird (GW 1, 8f., 14, 447f.). Der Zusammenhang zwischen dem Konflikt und dem Symptom wird auf Assoziation durch Gleichzeitigkeit, somatisches Entgegenkommen oder Symbolisierung zurückgeführt. In jedem Fall bedeutet die Symptombildung eine Rückkehr zu individual- oder gattungsgeschichtlich überholten Ausdrucksformen. Die hysterische Konversion ist eine regressive Strategie der Konfliktlösung. In dieser ersten Phase bemüht sich die analytische Hermeneutik noch um eine tatsächlich biographische Erkenntnis, insofern es sich darum handelt, eine individuelle, auf die Lebensgeschichte des einzelnen sich beziehende Symbolik zu entschlüsseln. Die Sexualität spielt schon eine wichtige, jedoch noch nicht die bestimmende Rolle. Erst mit der ausgearbeiteten Libidotheorie der ›Drei Abhandlungen über Sexualtheorie‹ profiliert sich der Konflikt als Triebdualismus zwischen Sexual- und Ichtrieben. »Der Urkonflikt«, heißt es dann, »aus welchem die Neurosen hervorgehen, ist der zwischen den das Ich erhaltenden und den sexuellen Trieben.« (GW 8, 410) Das Symptom stellt nun eine »Kompromißbildung zwischen den verdrängten Sexualtrieben und den verdrängenden Ichtrieben«, »eine unvollkommene Wunscherfüllung für beide Partner des Konflikts« dar. Bei der hysterischen Konversion handelt es sich jetzt also um eine »sexuelle Ersatzbefriedigung« (GW 13, 222; vgl. GW 5, 278). Die biographische Symbolik ist zu einer sexuellen verkürzt worden. Mit der Narzißmustheorie droht Freuds Dualismus vorübergehend eine monistische Auflösung, indem auch die Ichtriebe als libidinöse erkannt werden und nur mehr zwischen den Triebgegenständen, zwischen »Objektlibido und Ichlibido« (GW 13, 231) unterschieden wird. 468

Die letzte Ausgestaltung der Trieblehre führt jedoch wieder einen Gegenpart zum Eros ein, nämlich Thanatos, die »Todestriebe«, die »nach außen gewendet, als Destruktions- oder Aggressionstendenzen« (GW 13, 232f.) auftreten. In gewissem Sinne schließt sich mit der Einführung des Todestriebes der theoretische Kreis der Psychoanalyse, denn dieser Trieb wird explizit mit dem im ›Entwurf‹ vorgestellten Trägheitsprinzip assoziiert, das dort bereits bei einfachen Organismen einen Spannungszustand »= 0« (GW Nachtr., 390) anstrebte. Diesen letzten Dualismus bringt Freud, wie vor ihm bereits Herder in ›Liebe und Selbstheit‹, mit Empedokles’ Grundkräften von Liebe / Anziehung und Streit / Abstoßung in Zusammenhang (GW 17, 71; GW 16, 90–93). Die »hysterischen Symptome« erscheinen im Kontext dieser letzten Trieblehre und Topik etwa als »Kompromiß zwischen Befriedigungs- und Strafbedürfnis«. Sie resultieren aus den widerstreitenden Forderungen des Es und Über-Ich, »sie sind sozusagen Grenzstationen mit gemischter Besetzung.« (GW 14, 126) Im Gegenspiel von Todestrieb und Eros erfährt die Freudsche Konflikttheorie insofern eine Verschärfung, als die Konflikte nicht mehr nur im Kompromiß der Neurose, sondern letal enden. Der innere Widerstreit wird letztlich für den Tod des einzelnen verantwortlich gemacht: »So kann man allgemein vermuten, das Individuum stirbt an seinen inneren Konflikten, die Art hingegen an ihrem erfolglosen Kampf gegen die Aussenwelt, wenn diese sich in einer Weise geändert hat, für die die von der Art erworbenen Anpassungen nicht zureichen.« (GW 17, 72) Auch diese evolutionstheoretische Überlegung im ›Abriss der Psychoanalyse‹ weist auf die entwicklungsgeschichtlichen theoretischen Anfänge Freuds im ›Entwurf‹ zurück. Es wird wieder verstärkt der biologische Anschluß für die psychischen Konflikte gesucht. August Weismanns Lehre vom Keimplasma steht in diesem Fall für den Dualismus von Todes- und Sexualtrieben Pate. Weismann unterscheidet das sterbliche Soma, d.h. den Körper abzüglich der Fortpflanzungsorgane, vom Keimplasma als dem potentiell unsterblichen Teil des Organismus (GW 13, 48–53). Darüber hinaus wären weitere biologische Anschlußmöglichkeiten denkbar, denn die in der obigen Formulierung nahegelegte Verlegung des Kampfes ums Dasein ins Innere erinnert an den von Nietzsche geschätzten Darwin-Adepten Wilhelm Roux und seine Studie ›Der Kampf der Theile im Organismus‹ (1881). Sie bietet komplementär zur Psychoanalyse eine physiologische Konflikttheorie. Neben der quantitativen, d.h. ökonomischen Auffassung von Gesundheit und Krankheit als entweder Konstanz eines bestimmten Energieniveaus oder dessen Steigerung kennt die Psychoanalyse im Zuge der Konflikttheorie eine weitere, dynamische Krankheitsvorstellung. Die Krankheit ist eine Kompromißbildung innerhalb eines psychischen Konfliktes, sie ist ein aktives Verhalten. Damit ist ein zentraler Eckstein der Psychosomatik benannt. Der Kranke erscheint in diesem Szenario als handelndes Subjekt, nicht als passives Objekt, das eine Krankheit erleidet. Diese Auffassung von Krankheit wird nicht erst mit 469

der Psychoanalyse geboren, sondern gehört, wie in den vorangehenden Kapiteln beobachtet, konstitutiv zum Diskurs der Psychosomatik, wenn auch die Freudsche Konflikttheorie entscheidend dazu beigetragen hat, daß diese Auffassung nun zu den Grundlagen der medizinischen Fachdisziplin gehört. Die Ambivalenz, die sich mit der Vorstellung von Krankheit als einem Verhalten verbindet, wurde im vorangehenden an der moralischen Beurteilung und Verurteilung der Krankheit, etwa als Sünde bei Heinroth, augenscheinlich. Der Kranke erscheint »nicht als echter Patient«, wie Starobinski sich ausdrückt, sondern als »derjenige, der sein Leiden ausübt«, für sein Leiden verantwortlich zeichnet. Auch Freud hatte mit dieser Ansicht in bezug auf die zeitgenössische Wahrnehmung der Hysterikerinnen als Simulantinnen und Betrügerinnen noch zu tun. Und selbst die Psychoanalyse ist nicht frei von dieser Doppeldeutigkeit, einerseits den Kranken als handelndes Subjekt zu emanzipieren und ihn andererseits auf seine Anomalie festzuschreiben sowie partiell zu entmündigen. Denn die Krankheit wird zum hermeneutischen Schlüssel der Biographie und läßt hinter dem Ich einen anderen Akteur, das Unbewußte, erkennen. Für die im 18. Jahrhundert entstandene Tradition des ›moral management‹, in der auch die Psychoanalyse noch steht, gilt, daß die Krankheit »eng mit der Person und der Geschichte des Kranken verbunden [ist], sie wurzelt in seinem Willen (seinem bösen Willen), seinem Bewußtsein, seinem Unbewußten.«341 Der moralisch-pädagogische Jargon, demzufolge der Analytiker ›Vorbild‹ und ›Lehrer‹ ist und die Psychoanalyse einen Akt der ›Nacherziehung des Erwachsenen‹ bedeutet,342 verdankt sich noch dieser Tradition. Jedenfalls hat sich die Psychoanalyse mit Begriffen wie Krankheit als ›Kompromiß‹, als ›Schutz‹ und ›Heilungsprozeß‹, ›Flucht in die Krankheit‹ und ›Krankheitsgewinn‹ die Krankheit als Verhalten ins Stammbuch geschrieben.343 Seit den frühsten Formulierungen der Konflikttheorie erscheint das körperliche Symptom als eine Form der Konfliktlösung, die in gewissem Sinne sogar als situationsgerecht und funktional gedeutet werden kann. So werde, wie Freud 1894 in ›Die Abwehr-Neuropsychosen‹ ausführt, die Aufgabe der Abwehr einer »unverträglichen Vorstellung« in der Konversionshysterie einer »ungefähren Lösung« zugeführt, indem eine stark affektiv besetzte Vorstellung von ihrer Erregungssumme getrennt und diese »ins Körperliche umgesetzt« (GW 1, 63) werde. Die Funktionalität solcher Konversion erläutert Freud Jahre später ausführlicher in einem Zusatz zum Fall Dora. Zum einen wird durch das

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J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 48, 43. Vgl. GW 16, 94; GW 5, 15f., 25; GW 8, 51, 385; GW 10, 365f.; GW 14, 305. »Die Psychoanalyse hatte frühzeitig erkannt, daß jedes neurotische Symptom seine Existenzmöglichkeit einem Kompromiß verdankt. Es muß darum auch den Anforderungen des die Verdrängung handhabenden Ichs irgendwie gerecht werden, einen Vorteil bieten, eine nützliche Verwendung zulassen [...]. Der Terminus des ›Krankheitsgewinnes‹ hat diesem Sachverhalt Rechnung getragen«, GW 10, 97; vgl. GW 10, 152; GW 14, 126, 253; GW 5, 202; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 274ff.

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körperliche Symptom ökonomisch eine Spannungsminderung erzielt, wie etwa auch im Fall des normalen motorischen Ausdrucks von Gemütsbewegungen. Zum anderen verändert die Krankheit die zwischenmenschlichen Beziehungen dynamisch, so daß nach dem Beispiel Freuds die vernachlässigte Ehefrau ihren Mann durch die Krankheit sowohl bestrafen als auch mehr Aufmerksamkeit einfordern kann. Die Symptome bringen materielle und libidinöse Vorteile und Befriedigungen. Und schließlich sind sie eine Form der Kommunikation und richten sich an jemanden: »Die Krankheitszustände sind in der Regel für eine gewisse Person bestimmt« (GW 5, 204). Was die körperlichen Symptome von anderen, ›normalen‹ Lösungsstrategien unterscheidet, das ist ihr anachronistischer, in der Sprache der Psychoanalyse regressiver Charakter. Bei der Körper- und Gebärdensprache der Hysterie handelt es sich um eine phylo- wie ontogenetisch veraltete Kommunikationsform, mit dem körperlichen Symptom regrediert das Ausdrucksvermögen auf eine Stufe frühkindlicher, vorsprachlicher Konfliktlösung. Der psychische Konflikt wird so nicht dauerhaft abgeschafft, sondern durch diese halbe Lösung perpetuiert. Insgesamt zeigen jedoch beide Krankheitskonzepte der Psychoanalyse, das ökonomische der Spannungssteigerung ebenso wie das dynamische der Kompromißbildung, daß Gesundheit und Krankheit in dieser Wissenschaft nicht streng voneinander geschieden sind: »Wir glauben nicht mehr, daß Gesundheit und Krankheit, Normale und Nervöse, scharf voneinander zu sondern sind« (GW 8, 203; vgl. GW 5, 8). Krankheit ist eine Frage der quantitativen Verhältnisse und der Anzahl sowie der Intensität von Kompromißbildungen, sie hängt ebenso von der jeweiligen Konstitution des einzelnen wie von seinem Schicksal ab. In ›Über neurotische Erkrankungstypen‹ entwickelt Freud eine Typologie der Krankheitsursachen, die vier Faktoren benennt: die Außenwelt, die Eigenart des Individuums, seine Geschichte der Libidofixierungen sowie auf biologische Prozesse zurückführbare Libidosteigerungen. Freud wendet sich hier dezidiert gegen monokausale Erklärungen und spricht sich für eine situative Deutung der Krankheit aus: Die Psychoanalyse hat uns gemahnt, den unfruchtbaren Gegensatz von äußeren und inneren Momenten, von Schicksal und Konstitution, aufzugeben, und hat uns gelehrt, die Verursachung der neurotischen Erkrankung regelmäßig in einer bestimmten psychischen Situation zu finden, welche auf verschiedenen Wegen hergestellt werden kann. (GW 8, 330)

Was sich in Freuds Überlegungen zu Gesundheit und Krankheit ausspricht, ist eine funktionelle Betrachtungsweise. Krankheit wird nicht, wie dies in der wissenschaftlichen Medizin bis dato üblich war, als Beschädigung oder Ausfall eines anatomischen Substrats verstanden, sondern als eine funktionelle Störung innerhalb eines Systems.344 Obwohl uns Elemente dieser Ansicht bereits in

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Vgl. T. v. Uexküll und W. Wesiack, Das Leib-Seele-Problem in psychosomatischer Sicht,

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früheren Kapiteln dieser Studie begegnet sind, wird sie in aller Ausführlichkeit erst von Freud ausbuchstabiert, demzufolge eine psychosomatische Krankheit eine funktionelle Störung innerhalb des Systems Körper-Seele-Umwelt ist. Es konnte im vorangehenden gezeigt werden, daß es vor allem die biologische Vorstellung des Reflexbogens war, die eine solche funktionelle Betrachtungsweise hervorgebracht hat. Sowohl in einigen Wendungen bei Nietzsche wie auch wesentlich deutlicher bei Dilthey zeichnete sich dies ab. Tatsächlich wissenschaftsprägend ist der Reflexbogen in der Psychoanalyse Sigmund Freuds geworden. Er entwickelt aus dem Reflexbogen die drei Dimensionen der Psychoanalyse als Tiefenpsychologie: Die ökonomische Betrachtungsweise beschäftigt sich mit der Aufnahme, Verarbeitung und Abfuhr von Erregungssummen, die dynamische mit den Konflikten zwischen Reizen bzw. Trieben, die topische schließlich entwickelt eine räumliche Struktur des psychischen Apparates, die analog zu den Reflexen der Gerichtetheit psychischer Prozesse Rechnung trägt. Das Paradigma des Reflexbogens transportiert,345 systematisch oder metaphorisch, ein Menschenbild, das diesen im Einklang mit der zeitgenössischen Evolutionstheorie als ein in Reaktion auf seine Umwelt sich entwickelndes Wesen zeigt. Das Körper-Seele-Double wird so zur Trias Körper-Seele-Umwelt erweitert. Damit sind die ersten wichtigen Schritte auf dem Weg zur modernen psychosomatischen Medizin unternommen, die den Menschen als »somatopsycho-soziales Phänomen«346 auffaßt bzw. diesen im Rahmen eines »bio-psycho-sozialen Modells«347 wahrnimmt. Die für die Psychosomatik charakteristische Konzeption der Krankheit als Verhalten profiliert sich durch die vom Reflex geprägte Anthropologie des 19. Jahrhunderts maßgeblich. Im weiteren lenkt der Reflexbogen den Blick von den seit Franz Gall anatomisch konkreter werdenden Versuchen der Lokalisierung der Seele im Gehirn ab, schließlich umfaßt der Reflexbogen das gesamte komplexe neuromotorische Nervensystem, von den Rezeptoren der Haut über das Schaltzentrum der grauen Substanz im Rückenmark bis zum Gehirn, und damit deutlicher den ›ganzen Menschen‹.348 Und mit dem Paradigma der Reflexe läßt sich auch das Interesse an Prozessen von Reiz-Reaktion-Aktion verbinden, die ohne bewusste Beteiligung

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S. 63f. Zum System-Begriff siehe STA 3, 276. Von einer »funktionellen Auffassung« (STA 10, 274) spricht Freud 1928 im Hinblick auf die Hysteroepilepsie Dostojewskis. Shorter datiert das Paradigma der Reflextheorie auf 1850 bis 1900 und nennt die »nineteenthcentury ›reflex‹ theory a major moment in the history of psychosomatic illness«, der jedoch katastrophale Folgen insbesondere für die Patientinnen hatte, E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 14, vgl. 40–68. T. v. Uexküll und W. Wesiack, Psychosomatische Medizin und das Problem einer Theorie der Heilkunde, S. 9. A.-E. Meyer und U. Lamparter, Vorwort, S. 3. Diese Konsequenz zog etwa Johannes Müller, vgl. E. Clarke and L. S. Jacyna, NineteenthCentury Origins of Neuroscientific Concepts, S. 131. Zu den Lokalisierungsversuchen im Zuge Galls vgl. H. Schott, Schädel, Hirn und Seele.

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des Gehirns ablaufen, und mithin jenes Interesse am Unbewußten oder an einer Kritik des Bewußtseins bzw. der Willensfreiheit.349 Die Maschine Mensch erscheint nun nicht mehr mechanisch, sondern reflexhaft fremdgesteuert. In den Evolutions- und Milieutheorien treten die Umwelt, bei Nietzsche der Körper, bei Dilthey der erworbene Zusammenhang des Seelischen, bei Freud das Unbewußte in der Rolle einer Steuerungsinstanz des Ich auf. Die Metaphorik des Ich als ›Oberfläche‹ bei Freud und Nietzsche, als Haut, die Innen- und Außenwelt voneinander trennt, verdankt sich wohl ebenfalls diesem Vorstellungskreis. Freud entwickelt diesbezüglich ein Modell mehrfacher Schachtelungen. So ruht das »Psychische« insgesamt auf dem »Biologischen«, das »wirklich die Rolle des unterliegenden gewachsenen Felsens« (GW 16, 99) spielt; und ersteres gliedert sich wiederum in ein »psychisches Es« und »Ich«, welches diesem »oberflächlich auf[sitzt]«: das »Ich umhüllt das Es« (GW 13, 251).350 Diese räumliche Vorstellung der Psyche als Oberfläche des Körpers erhält durch die im ›Entwurf‹ skizzierte und in der weiteren Psychoanalyse ausgeführte Evolutionstheorie der Seele eine historische Dimension. Die Seele wächst in der Entwicklungsgeschichte aus dem Körper hervor, der Weg führt graduell von einfachen physischen zu komplexen psychischen Reflexen.351 Freuds Naturgeschichte der Seele hat ein Pendant in Wilhelm Diltheys ›Ethik‹, mit dem wichtigen Unterschied, daß Freud der Regression, der Wiederkehr alter Verhaltensmuster,352 phylo- wie ontogenetisch einen entscheidenden Stellenwert beimißt. Während in Diltheys ›Ethik‹ die Naturgeschichte der Seele von einer Kulturgeschichte abgelöst wird, bleiben Natur und Kultur in Sigmund Freuds Psychoanalyse fortwährend in tragischer Konfrontation aufeinander bezogen. Bei Freud kehrt in Variation eine Argumentationsfigur wieder, die um 1800 mit dem Mangelwesen Mensch benannt wurde.353 Auch die Psychoanalyse nimmt die Umwertung eines Mangels in Produktivität vor, indem sie die Ausbildung des psychischen Apparates und der zwischenmenschlichen Verständigung an die biologische Hilfsbedürftigkeit des Menschen koppelt. Solche »Sekundärfunktionen« sind, wie es im ›Entwurf‹ heißt, »durch Not des Lebens aufgedrungen« 349

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»This was reflex theory: the view that nervous connections running via the spine regulated all bodily organs, including the brain, quite independently of human will.« E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 40. Hier handelt es sich übrigens um jene Textstelle, an der Freud Groddecks Begriff des Es als vermeintliche Nietzsche-Adaptation ausweist, s.o. Freud steht hier in der Tradition von Hughlings Jackson, der die Entstehung der verschiedenen Zentren des menschlichen Nervensystems in unterschiedlichen Evolutionsphasen berücksichtigte; vgl. H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 402. In diesem Kontext zeigt sich die Nähe von Freuds ›Regression‹ zu Charles Darwins Begriff von ›reversion‹, »by which a long lost structure is called back into existence«. Später wendet Darwin den Begriff selbst auf Geisteskrankheiten an im Rahmen der Erwähnung der Arbeiten seines Cousins Francis Galton, The Descent of Man, S. 37, vgl. S. 142. Auch H. Lang stellt Freud in die von Herder bis Gehlen reichende Tradition der Auffassung vom Menschen als Mangelwesen, vgl. Ethik und psychoanalytische Hermeneutik, S. 146.

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(GW Nachtr., 390). Später spricht Freud von Eros und Ananke, der Liebe und der äußeren Not als Eltern der menschlichen Kultur (GW 14, 460). Neben seiner Evolutionstheorie der Seele erweitert Freud die Überlegungen zum Leib-Seele-Problem auch um eine funktionelle Betrachtungsweise, die von einem Ineinandergreifen verschiedener Systeme und von System-Umweltverhältnissen ausgeht. Damit sind wichtige Eckdaten des heutigen holistischen Ansatzes der Psychosomatik vorgezeichnet, der sich als anwendungsorientierte Alternative gegenüber dem philosophiegeschichtlichen Disput zwischen Dualismus und Monismus versteht. Daß die Psychosomatik dennoch diese Traditionen beerbt, zeigt sich in Freuds Vokabular. Wenn er von der »Kausalverkettung, die sich zwischen Leiblichem und Seelischem erstreckt«, von »mechanischen Verhältnissen« (GW 2/3, 44, 605), vom psychischen Apparat und seiner Eigenständigkeit spricht,354 dann argumentiert er in der Sprache des Dualismus. Wenn von psychophysischen »Parallelvorgängen« (GW 17, 146), von der Reduktion oder auch Substitution »chemische[r] Stoffe« durch »psychische Kräfte« (GW 10, 144) und von der leibseelischen Einheit die Rede ist, dann bewegt sich Freud in der Begriffswelt des zeitgenössischen Monismus. Stilistisch schwankt die Rede von Körper und Seele zwischen Metapher und Metonymie. Einerseits ist der im 19. Jahrhundert anatomisch erfaßte, in Zellen zergliederte und von Reflexen bewegte Körper heuristisches Modell und »Vorbild« der noch unbekannten, erst zu analysierenden und auf ihre Bewegungsmechanismen zu befragenden Seele: »Der Reflexvorgang bleibt das Vorbild auch aller psychischen Leistung.« (GW 2/3, 541) Der Körper ist Metapher der Seele. Und mit der Körpermaschine gelten auch die naturwissenschaftlichen und industriellen Neuerungen des Zeitalters, die Dampfmaschine, Telegraph und Fotoapparat, elektrische Anlagen und hydraulische Modelle als Metaphern der Seele. Andererseits entwickeln sich die psychischen aus den physischen Vorgängen, sie werden als ein Parallelgeschehen gefaßt oder körperliche Prozesse erscheinen als Grundlage bzw. Träger seelischer Prozesse. Körper und Seele sind so metonymisch miteinander verbunden. Dies findet seinen Ausdruck in verschiedenen Organismusvorstellungen, dem Versuch, psychische Energie auf elektrische, chemische oder physikalische Prozesse zurückzuführen, oder in der alten medizinischen Reflextheorie, die von einer direkten Schädigung der Reflexzentren und damit auch des Bewußtseins durch die moderne Umwelt ausgeht. Die physiologischen Trauma-Theorien, etwa Charcots Hysteriekonzeption oder die Diagnose eines »railway spine«, »the development of apparently psychogenic paralysis by patients who had been in derailments and other such accidents«,355 veranschaulichen diese Ansicht.

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Die ›Traumdeutung‹ schließt mit der Einsicht, »daß die psychische Realität eine besondere Existenzform ist, welche mit der materiellen Realität nicht verwechselt werden soll«, GW 2/3, 625. Vgl. E. Shorter, From Paralysis to Fatigue, S. 114; M. R. Trimble, Post-Traumatic Neurosis: From Railway Spine to the Whiplash.

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Mit seiner metaphorisch-metonymischen Doppelrede von Leib und Seele verbleibt Freud weitgehend im Jargon seiner Zeit, wegweisend werden jedoch zwei seiner Krankheitsbilder – die Aktualneurosen zum einen, die Konversionshysterien zum anderen –, da sie als konkrete Beobachtungs- und Anwendungsfelder psychophysischer Prozesse fungieren konnten. So entwickelte sich die medizinische Fachdisziplin der Psychosomatik als ein Seitenzweig der Psychoanalyse. Die Konversionshysterien bezeichnen einen psycho-somatischen, die Aktualneurosen einen somato-psychischen Vorgang. Denn bei einer Aktualneurose liegt laut Freud »die Erregungsquelle, der Anlaß der Störung, auf somatischem Gebiete […], anstatt bei der Hysterie und Zwangsneurose auf psychischem.« (GW 1, 341) Er geht bei den Aktualneurosen von »direkten toxischen Schädigungen« (GW 11, 404) des Nervensystems veranlasst durch Störungen im Sexualleben aus.356 Dieser Neurosentyp findet in seinen Schriften jedoch nur wenig Beachtung.357 Hingegen begründet er im Blick auf die Konversionshysterie sowohl die Psychoanalyse als Wissenschaft als auch ein hermeneutisches Verständnis psychosomatischer Vorgänge. Neben der evolutionstheoretischen und der funktionellen Betrachtungsweise ist dies die dritte, entscheidende Erweiterung der Leib-Seele-Problematik durch Freud. Das Verhältnis von Körper und Seele wird in der Psychoanalyse als ein Ausdrucks- und Repräsentationsgeschehen gefaßt. Alfred Schöpf schreibt, »Soma und Psyche verhalten sich wie Ausdruck und Bedeutung« und die Hermeneutik der Psychoanalyse sei als ein »Verstehen von Sprachhandlungen«358 zu begreifen. V.3.4. Psychoanalyse und Kunst Der Begriff ›Psychoanalyse‹ legt nicht nur die Assoziation zur chemischen Zergliederung nahe, die Freud selbst seiner Wortschöpfung beigegeben hat, sondern ebenso zu anderen, geisteswissenschaftlichen Formen der Analysis. So sprechen etwa auch Wilhelm Dilthey und Wilhelm Wundt, die Psychologie als Geisteswissenschaft betreiben wollen, von ihrer analytischen Methode. In seinen ›Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie‹ (1894) bestimmt Dilthey die »Analysis« zur adäquaten Erkenntnisweise des Seelischen und d.h. für ihn, das Ausgehen vom entwickelten, erlebten Strukturzusammenhang des Seelischen und eben nicht dessen Ableitung »aus elementaren Vorgängen« (V, 152, 168f.). Wilhelm Wundt bekennt sich in seinem 1896 publizier-

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Vgl. GW 13, 219; F. G. Plaum und S. Stephanos, Die klassischen psychoanalytischen Konzepte der Psychosomatik, S. 203; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 327. Die heutige Psychosomatik setzt verstärkt bei diesem Freudschen Konzept an, die Hysterien haben hingegen einen deutlichen Bedeutungsverlust erfahren, vgl. A.-E. Meyer und U. Lamparter, Vorwort, S. 4f. A. Schöpf, Sigmund Freud, S. 111.

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ten ›Grundriß der Psychologie‹ ebenfalls zur »psychologischen Analyse«.359 Es finden sich jedoch keinerlei Hinweise darauf, daß Freud Dilthey jemals zur Kenntnis genommen hat;360 und auch eine Verbindung von Wundts ›psychologischer Analyse‹ zu Freud läßt sich nicht nachweisen. Jedenfalls ist die Analyse für die Psychologien um 1900 verschiedentlich die privilegierte Methode und es ist fast ironisch, daß sich ausgerechnet Freuds Begriffsprägung durchgesetzt hat, der im Vergleich zu den anderen begriffs-, philosophie- und wissenschaftsgeschichtlich den wenigsten argumentativen Aufwand betreibt. Im Hinblick auf die geisteswissenschaftlichen Kontexte von Freuds Analysis wird man weniger in den Wissenschaften um 1900 denn in der Literatur dieser und sehr viel früherer Zeiten fündig. Eine bleibende Wirkung auf die Psychoanalyse hat die seit der Antike geläufige ›tragische Analysis‹ ausgeübt und die analytische Dramenform, die ihren Ausgang vom Ende der Geschichte nimmt und die Vorgeschichte allmählich in der tragischen Handlung einholt. Als Prototyp dieser Dramenform gilt seit Aristoteles’ ›Poetik‹ der ›Ödipus‹. »Der Oedipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt«, schreibt Schiller am 2. 10. 1797 an Goethe.361 Mit Kleists ›Zerbrochenem Krug‹, Ibsens Dramen und der sich am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnden Detektivgeschichte bestimmt die tragische oder erzählerische Analysis die zeitgenössische Kunst ebenso wie Freuds Krankengeschichten.362 Daß auch hier der ›Ödipus‹ Pate gestanden hat, muß ob seiner Namensgeberschaft für den zentralen von der Psychoanalyse diagnostizierten Eltern-KindKonflikt nicht eigens herausgestellt werden. Aber es ist nicht nur der Inhalt der Tragödie, sondern durchaus auch die analytische Form, die für die Psychoanalyse prägend wird. Es komme darauf an, »den Kranken [...] auf die psychische Vorgeschichte des Leidens zurückzuführ[en]« (GW Nachtr., 89), schreibt Freud. Die Zeitstruktur des Dramas und diejenige der therapeutischen Entdekkung des zugrundeliegenden psychischen Konflikts gleichen einander: »Die 359

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W. Wundt, Grundriss der Psychologie, S. 11. In ›Erlebtes und Erkanntes‹ spricht Wundt rückblickend auf den ›Grundriss‹ von 1896 von der »psychischen Analyse«, S. 196. Im vorangehenden Kapitel hatte Wundt von der Psychologie als Geisteswissenschaft gesprochen, vgl. S. 191. H. Johach, Dilthey, Freud und die Humanistische Psychologie. F. Schiller, Briefwechsel, Schillers Briefe 1.11.1796–31.10.1798, S. 141. Zu den Bezügen von Freuds Krankengeschichten zu zeitgenössischen Gattungsschemata, etwa dem Detektivroman oder insgesamt realistischen Erzählmodellen siehe H. Thomé, Freud als Erzähler, und D. Cohn, Freud’s Case Histories and the Question of Fictionality, die allerdings nachdrücklich davor warnt, Narrativität und Fiktionalität miteinander zu verwechseln und Freuds Krankengeschichten als fiktive wissenschaftlich zu diskreditieren. Ihrer Meinung nach muß das Verhältnis von Erzählmodell und Referenz im Falle Freuds folgendermaßen beschrieben werden: »he produced biographical texts that look like novels that mimic (and therefore look like) biographical texts of the type he produced.« S. 34. Zur Rückwirkung der Psychoanalyse auf die literarische Moderne siehe: M. Worbs, Nervenkunst; T. Anz, Psychoanalyse in der literarischen Moderne; Psychoanalyse in der modernen Literatur. Hrsg. von T. Anz in Zusammenarbeit mit C. Kanz; T. Anz, Die Seele als Kriegsschauplatz; Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Hrsg. von T. Anz und O. Pfohlmann.

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Handlung des Stückes besteht nun in nichts anderem als in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Enthüllung – der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar –, daß Ödipus selbst der Mörder des Laïos, aber auch der Sohn des Ermordeten und der Jokaste ist.« (GW 2/3, 268) In Abwandlung von Schillers Brief ließe sich auch über die Gegenstände der Psychoanalyse, allen voran über das hysterische Symptom sagen: ›Alles ist schon da‹ und muß in den Sitzungen in seinem Bedeutungsgehalt nur noch ›herausgewickelt‹ werden. In Richtung Drama und Dramentheorie dürfte wiederum Charcot seinen zeitweiligen Schüler gewiesen haben, denn im Hinblick auf seine Neuinszenierung der Hysterie bedient er sich einer ausgefeilten Theatermetaphorik. Die Hysterikerinnen erscheinen in seiner Theorie als Schauspielerinnen, die ›auftreten‹ und mit ihrer Ausdruckskraft noch den professionellen Vertretern ihres Metiers Konkurrenz machen: »In ihren religiösen Halluzinationen nehmen sie dann bisweilen einen Ausdruck solcher Wahrhaftigkeit und Eindringlichkeit an, den selbst der erfahrenste Schauspieler nicht treffender wiedergeben könnte«. Darüber hinaus ist der große hysterische Anfall selbst ein »Drama«, dessen »Stationen« durch die vier Phasen der großen Hysterie vorgegebenen sind. Und die Hysterika erlangt, zumindest in der dritten Phase der leidenschaftlichen Gebärden, die Funktion des Autors, indem sie für die Gattung des Stücks, »Lust- wie Trauerspiele«, für die »Kulissen« und die szenische Gestaltung, »Liebesszenen« oder »mannigfaltige Brände, Kriege, Revolutionen, Mordtaten« verantwortlich zeichnet. Allerdings ist diese Autorschaft zweifach gebrochen. Zum einen handelt es sich Charcot zufolge um Imitationen aus dem Leben bzw. der Kunst und zum anderen ist es eine halluzinatorische, unbewußte Produktion. Durch diese Theatermetaphorik und die weitere enge Verbindung von Kunst und Hysterie – darstellende Kunst und Fotografie wurden Charcot zur visuellen Beglaubigung seiner wissenschaftlichen Theorie, sie verbürgten die »dauernde Gültigkeit und Unbestechlichkeit eines wissenschaftlichen Gesetzes«363 – ist es angemessen wie Manfred Schneider von Charcots »Poetik der Hysterie«364 zu sprechen. Sie stellte einen ausgezeichneten Nährboden für Sigmund Freuds systematische Funktionalisierung von Drama und Dramentheorie für seine Wissenschaft dar: angefangen von den Hysterikerinnen als ersten Manifestationen der Schaffenskraft des Unbewußten über das dramatische setting und die Handlungsstruktur einer psychoanalytischen Sitzung bis zur intendierten kathartischen Wirkung dieses Procedere. Die Psychoanalyse hat, zum Teil deutlich ausgesprochen, zum Teil unausgesprochen einiges gemeinsam mit den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statthabenden Reflexionen des Tragischen. So sind etwa Freuds ideelle Vorbilder für die im vorangehenden skizzierte, auf einen Triebdualismus sich 363 364

J. M. Charcot und P. Richer, Die Besessenen in der Kunst, S. 134, 124f., 135; vgl. auch 11f., 119. M. Schneider, Nachwort, S. 139.

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zuspitzende Konflikttheorie in der nachhegelschen Bestimmung des Dramatischen zu finden, das Wesen der Tragödie gründe im Konflikt. Gustav Freytag formuliert in ›Die Technik des Dramas‹ (1863): »Das Wesen des Dramas ist Kampf und Spannung«, und die moderne Dramatik integriert auch »das bürgerliche Leben, die Conflikte unserer Gesellschaft«.365 Dieser Konfliktstruktur gemäß habe sich der Aufbau des Dramas als eine Folge von Spiel und Gegenspiel zu ergeben. Bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert erfährt das lat. confligere, ›miteinander kämpfen, streiten‹, eine Psychologisierung, die sich in den Konflikttheorien des Dramatischen im folgenden Jahrhundert weiter ausprägt. Was vormals als »Conflictus Corporum« sowohl mathematisch-physikalische Anwendung in Form von Berechnungen über den Zusammenstoß von Körpern wie auch als »Confligere actione, seine Sache mit Recht ausführen«,366 juristische Anwendung fand, wird mit der Differenzierung von äußeren und inneren Konflikten auf das Drama übertragen. Schillers Formulierung in ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen‹ (1801) zeigt die Übertragung vom physikalischen Zusammenstoß der Kräfte auf das Innenleben des Menschen noch im Status nascendi: die »physische Schöpfung«, »der Elementenstreit« wird zum expliziten Vorbild des »ethischen Menschen« und seinem »Konflikt blinder Triebe«.367 Wenige Jahre später spricht Goethe in ›Shakespeare und kein Ende‹ (1813–16) schon umstandslos in psychologischer Diktion, wenn die Modernität der von Shakespeare gezeichneten »innere[n] Konflikte« – »Niemand hat vielleicht herrlicher als er die erste große Verknüpfung des Wollens und Sollens im individuellen Charakter dargestellt« (HA 12, 293f.) – von äußeren Konflikten zwischen Sollen, dem Orakel, und Wollen des antiken Dramas abgehoben wird. In ganz ähnlicher Weise grenzt auch Hegel in seiner ›Ästhetik‹ antike und moderne Tragödie voneinander ab368 und sieht das Wesen des Dramas insgesamt in seiner Konfliktstruktur, die durch eine Wertekollision zum einen, zum anderen durch das jeder Tat notwendig anhängende Moment der Besonderung gegenüber dem Allgemeinen hervorgetrieben wird.369 In Freytags

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G. Freytag, Die Technik des Dramas, S. 94f., 98. J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 6 [1733], Sp. 958, 962. Dort ist zu lesen: »Conflictus Corporum, heißet ein Zustand zweyer oder mehrerer in Bewegung gesetzter Coerper, wenn sie an einander stossen und einander eine Bewegung mittheilen.« Sp. 958. F. Schiller, Über das Schöne und die Kunst, S. 157. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 321ff., 341, 345f., 350f. Dilthey wird diese Abgrenzung des antiken Dramas als Auseinandersetzung mit dem »Fatum« – »das maßlose Herabdrücken des Individuums den sittlichen Mächten gegenüber, mit denen es sich in einen doch nicht zufälligen, sondern notwendigen Kampf verstrickt sieht« – vom modernen mit Shakespeare beginnenden Drama wiederholen, dem nun »der tragische Konflikt in die Person selbst fällt«, V, 285, 288. Handlung im eigentlichen Sinn entsteht nach Hegel erst dort, »wo die Bestimmtheit sich als wesentliche Differenz hervortut und als im Gegensatz gegen anderes eine Kollision begründet«, und ist dem Drama vorbehalten: »Indem nun die Kollision überhaupt einer Auflösung bedarf, welche dem Kampfe von Gegensätzen folgt, so ist die kollisionsvolle Situation vornehmlich der

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Bestimmung von dramatischem Spiel und Gegenspiel sind diese Traditionen, die Psychologisierung und die Hegelsche Antithetik, deutlich erkennbar: Das Drama stellt in einer Handlung durch Charaktere, vermittelst Wort, Stimme, Geberde diejenigen Seelenprozesse dar, welche der Mensch vom Aufleuchten eines Eindrucks bis zu leidenschaftlichem Begehren und zur That durchmacht, sowie die Seelenprozesse, welche durch eigene und fremde That aufgeregt werden. Der Bau des Dramas soll diese beiden Gegensätze des Dramatischen zu einer Einheit verbunden zeigen, Ausströmen und Einströmen der Willenskraft, das Werden der That und ihre Reflexe auf die Seele, Satz und Gegensatz, Kampf und Gegenkampf, Steigen und Sinken, Binden und Lösen.370

Jenseits der Bezüge zur idealistischen Ästhetik wird Freytags ›Technik des Dramas‹ in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts jedoch auch in einem Umfeld gelesen, das durch Charles Darwins in ›Origins of Species‹ (1859) vorgestelltem Evolutionsprinzip des Kampfs ums Dasein mit ganz anderen dramatischen Auseinandersetzungen bekannt gemacht wurde. Kehren wir zu unserem Diskussionsgegenstand zurück, nämlich Sigmund Freuds Psychoanalyse und ihren dramatischen sowie dramentheoretischen Anleihen, so bliebe festzuhalten, daß ihre im vorangehenden Kapitel skizzierte Konflikttheorie mit dem Triebdualismus einerseits das idealistische Erbe einer Psychologisierung des ›Konfliktes der Triebe‹ (Schiller) fortsetzt – schon Hegel beschreibt den Konflikt des Ödipus als einen zwischen bewußtem Wollen und unbewußtem Getriebensein.371 Auch die antithetische Zeichnung der psychoanalytischen Konflikttheorie kommt Hegels und Freytags Bestimmungen des Tragischen nahe. Wie ein Nachhall der Dramentheorien des 19. Jahrhunderts klingen darum Freuds Ausführungen zur dramatischen Handlung in dem vermutlich 1905/06 entstandenen Text ›Psychopathische Personen auf der Bühne‹: »Es ist nun leicht, die Bedingungen dieser Handlung erschöpfend darzustellen, es muß eine Handlung von Konflikt sein« (GW Nachtr., 658). Andererseits verweist Freuds psychoanalytische, als Introjektion eines Reizdualismus gefasste Konflikttheorie jedoch auch, wie bereits erläutert, auf die Evolutionstheorie und die Vorstellung vom Reflexbogen. Am ›Konflikt‹ erweist sich die

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Gegenstand der dramatischen Kunst«. Wobei die »wahrhaft interessanten Gegensätze« jene sind, in denen »der Konflikt eine geistige Verletzung geistiger Mächte durch die Tat des Menschen« ist, G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I/II, S. 295ff., 308; vgl. auch Ästhetik III, S. 329. Diese Bestimmungen des Tragischen sind bereits in Hegels ›Antigone‹-Deutung in der ›Phänomenologie des Geistes‹ vorgezeichnet, vgl. hierzu M. Schmaus, »Die Wunden des Geistes heilen«. G. Freytag, Die Technik des Dramas, S. 91. Fast gleich lautend wurde zuvor die Frage ›Was ist dramatisch?‹ beantwortet, vgl. ebd., S. 16f. Eduard von Hartmann sieht ebenfalls im Konflikt das zentrale Element des Dramas: »Der Conflikt ist das unentbehrliche Fundament jedes ächten Dichtwerks, welches Handlung vorführt.« Auch für ihn gilt dies insbesondere für den inneren Konflikt, den »Kampf der Grundsätze, Gefühle, Begehrungen, Affekte und Leidenschaften untereinander«, E. von Hartmann, Aphorismen über das Drama [1870], S. 36. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, S. 330f.

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Psychoanalyse als tatsächliche Brückenwissenschaft zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften,372 indem es in ihrer Terminologie zu Bedeutungsüberlagerungen zwischen den Wissenschaftstypen kommt. Freuds ›Konflikt‹ erinnert mit seiner Nachbarschaft zum ›struggle for life‹ und dem Gegensatz von ›natural‹ und ›sexual selection‹ noch einmal an die Herkunft des Wortes aus dem Zusammenstoß physischer Kräfte im 18. Jahrhundert und ebenso an seine weitere psychologische und ästhetische Geschichte. Ein solcher lebhafter und zumeist ungeregelter Grenzverkehr zwischen den Disziplinen konnte in dieser Studie etwa auch an Begriffen wie ›Typus‹, ›System‹, ›Funktion‹, ›Struktur‹, ›Sympathie‹, ›Semiotik‹ und ›Bildung‹ skizziert werden, von denen wir uns ebenfalls angewöhnt haben, sie allein auf psychologische oder kulturelle Sachverhalte zu beziehen. Über die Notwendigkeit eines solchen wissenschaftlichen ›metaphorein‹ zur Bezeichnung noch ungenannter Dinge war sich Freud im klaren; seine Überlegungen zur Funktion der psychoanalytischen Bildersprache wurden ja bereits erwähnt. Angesichts der psychosomatischen hysterischen Zeichen verdeutlicht sich die Relevanz solcher Bedeutungsüberlagerungen noch einmal, und es läßt sich auch zeigen, daß sie gewollt sind. Ein für die Entstehung der Psychoanalyse wichtiger Begriff, die Katharsis, ist nun eine ganz offensichtliche Anleihe bei der Dramentheorie. Bevor Freud seine Therapieform 1898 als Psychoanalyse bezeichnet,373 sprechen Breuer und Freud von ihrem aus Hypnose, Suggestion und Gespräch bestehenden Heilverfahren zunächst als ›kathartischer Methode‹. Für einen Artikel in der ›Encyclopaedia Britannica‹ hat Freud die »Theorie der Katharsis« als Vorgeschichte der Psychoanalyse in folgende Worte gefaßt: Es wurde angenommen, das hysterische Symptom entstehe dadurch, daß die Energie eines seelischen Vorgangs von der bewußten Verarbeitung abgehalten und in die Körperinnervation gelenkt werde (Konversion). Das hysterische Symptom sei also ein Ersatz für einen unterbliebenen seelischen Akt und eine Reminiszenz an dessen Anlaß. Die Heilung erfolge durch die Befreiung des irregeleiteten Affekts und die Abfuhr desselben auf normalem Wege (Abreagieren). (GW 14, 300)

Der gedankliche Weg von diesen Worten zur Katharsis der Dramentheorie scheint weit zu sein, insbesondere dann, wenn etwa Lessings Deutung dieser von Aristoteles in der ›Poetik‹ der Tragödie vorbehaltenen Wirkung als »Reini372

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Im Lexikon-Artikel ›Psycho-Analysis‹ (1926) erwähnt Freud die »Anwendungen der auf ärztlichem Boden entstandenen Psychoanalyse auf Geisteswissenschaften wie Kultur- und Literaturgeschichte, Religionswissenschaft und Pädagogik«: »Es genüge die Bemerkung, daß die Psychoanalyse – als Psychologie der tiefen, unbewußten Seelenakte – das Bindeglied zwischen der Psychiatrie und all diesen Geisteswissenschaften zu werden verspricht.« GW 14, 305. In ›Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen‹ (1898) schreibt Freud: »Auf der von J. Breuer angegebenen ›kathartischen‹ Methode fußend, habe ich in den letzten Jahren ein therapeutisches Verfahren nahezu ausgearbeitet, welches ich das ›psychoanalytische‹ heißen will, und dem ich zahlreiche Erfolge verdanke, während ich hoffen darf, seine Wirksamkeit noch erheblich zu steigern.« GW 1, 512; vgl. GW 5, 16; GW 7, 117; GW 10, 45f.; GW 14, 43–49.

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gung«, d.h. »Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten«374 zugrunde gelegt wird. Ganz anders sieht die Sache aus, wenn Breuers und Freuds kathartische Methode vor dem Hintergrund der von Jacob Bernays ausgelösten KatharsisDebatte des 19. Jahrhunderts wahrgenommen wird.375 Der Altphilologe Bernays – es handelt sich um den Onkel von Freuds späterer Frau Martha Bernays – arbeitet in seiner 1858 publizierten Schrift ›Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie‹ dezidiert gegen das Lessingsche Mißverständnis der Katharsis als »moralische Veranstaltung« deren »medicinische Bedeutung«376 heraus. In seiner Studie geht er davon aus, daß im zweiten, verlorenen Teil der ›Poetik‹ des Aristoteles, der von der Komödie handelte, wichtige Ausführungen zur Katharsis zu finden waren und darüber hinaus die überlieferte Katharsis-Stelle im 6. Kapitel korrumpiert sei. In Bernays Übersetzung lautet diese: »die Tragödie bewirkt durch [Erregung von] Mitleid und Furcht die erleichternde Entladung solcher [mitleidigen und furchtsamen] Gemüthsaffectionen«.377 Rekonstruieren ließe sich der verlorene Textbestand durch die Hinweise zur Katharsis im 8. Buch der ›Politik‹ und durch Aristoteles-Schelten der Neuplatoniker, denen offensichtlich noch die vollständige ›Poetik‹ vorgelegen haben müsse. Es handelt sich also um eine klassische Anwendung der hermeneutischen Parallelstellenmethode. An der besagten Stelle der ›Politik‹ handelt Aristoteles von der Musik und ihren ethischen, praktischen und enthusiastischen Funktionen im Gemeinwesen. Die Rede von Mitleid und Furcht verrät jedoch, daß hier durchaus auch an die Tragödie gedacht wird. Der Autor verweist den Leser für nähere Ausführungen zur Katharsis darum auf die ›Poetik‹. Nämlich, der Affect, welcher in einigen Gemüthern heftig auftritt, ist in allen vorhanden, der Unterschied besteht nur in dem mehr oder Minder, z.B. Mitleid und Furcht (treten in den Mitleidigen und Furchtsamen heftig auf, in geringerem Maasse sind sie aber in allen Menschen vorhanden). Ebenso Verzückung. (In geringerem Maasse sind alle Menschen derselben unterworfen), es giebt aber Leute, die häufigen Anfällen dieser Gemüthsbewegung ausgesetzt sind. Nun sehen wir an den

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G. E. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, S. 394. Erstmals hat der Literat und Literaturwissenschaftler A. von Berger auf diese Zusammenhänge aufmerksam gemacht in: Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles, S. 81–86. Siehe auch J. Dalma, La Catarsis en Aristoteles, Bernays y Freud; kurze Erwähnung findet Bernays auch in: J. Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 297; H. F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewußten, S. 664f.; J. J. Spector, Freud und die Ästhetik, S. 113. Zur kathartischen Methode siehe ferner: J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 247ff. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 136, 143, 191. Die Seitenzahlen richten sich nach der im Reprint wiedergegebenen Erstausgabe von 1857 in: Abhandlungen der Historisch-Philosophischen-Gesellschaft in Breslau, Bd. 1. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 148.

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heiligen Liedern, dass wenn dergleichen Verzückte Lieder, die eben das Gemüth berauschen, auf sich wirken lassen, sie sich beruhigen, gleichsam als hätten sie ärztlich Cur und Katharsis erfahren [...]. Dasselbe muss nun folgerecht auch bei den Mitleidigen und Furchtsamen und überhaupt bei Allen stattfinden, die zu einem bestimmten Affect disponiert sind [...]; für Alle muss es irgend eine Katharsis geben und sie unter Lustgefühl erleichtert werden können.378

Ausgehend von diesen Äußerungen arbeitet Bernays konsequent den »pathologischen Gesichtspunkt« der Katharsis heraus, im Gegensatz zu dem seit der Aufklärung dominanten »moralischen« oder dem in seinem Jahrhundert durch Eduard Müller einseitig beleuchteten »hedonischen«379 Standpunkt, demzufolge es sich bei der tragischen Wirkung um eine Umwandlung von Unlust in Lust handle.380 Von den beiden, in der Antike gebräuchlichen Bedeutungskomponenten von ›Katharsis‹, der religiösen im Sinne von Sühnung einer Schuld, also Lustration, oder der medizinischen im Sinne »einer durch ärztliche erleichternde Mittel bewirkten Hebung oder Linderung der Krankheit«,381 profiliere Aristoteles allein die letztere. Die Katharsis erscheint nun als eine besondere Art der allgemeinen Iatria, der ärztlichen Kur. Diese medizinische Bedeutung wird im Verlauf der Abhandlung durch wieder entdeckte Synonyme, etwa ›Aperasis‹ als ›Ableitung‹ von Lebenssäften oder Affektionen, und Übersetzungen wie ›Erleichterung‹, ›Entladung‹ oder ›medicinisches Fortschaffen‹382 dem Lesenden nachhaltig ins Gedächtnis eingeprägt. Zu einem Kennzeichen der Breitenwirkung von Bernays medizinischer Katharsis-Übertragung wird die in ›Poetik‹Übersetzungen und Dramentheorien nach 1857 häufig zu findende Rede von ›Entladung‹, anstatt von ›Reinigung‹ – dem von Lessing geprägten Terminus.383

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Zit. nach J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 139f. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 141. Vgl. E. Müller, Geschichte der Theorie der Kunst bei den Alten [1837], Bd. 2, S. 62, 377–388, und J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 137f., 162. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 142. Vgl. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 168, 143, 149, 170. Nietzsche spricht in ›Die Geburt der Tragödie‹ von jener »pathologischen Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei«. Während Nietzsche hier noch die medizinische als »ausseraesthetische« (KSA 1, 142f.) Deutung ablehnt, konnte am Spätwerk gezeigt werden, daß er dort die ganzheitliche, auch medizinische Wirkung der Kunst profiliert. Zu Nietzsche und Bernays s.u. Adolf Stahrs Aristoteles-Übertragung von 1860 (2. Aufl. 1865) ist dezidiert gegen Bernays formuliert, wie seine Einleitung (S. 29, 31f.) zu ›Aristoteles Poetik‹ verrät; zu Stahrs Gegnerschaft gegen Bernays vgl. K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, S. 359, 367, 371. Theodor Gomperz übersetzt 1897 hingegen: »Das Trauerspiel ist [...] eine Darstellung, welche durch Erregung von Mitleid und Furcht die Entladung dieser Affecte herbeiführt«

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Oder das Plädoyer für Bernays drückt sich im Genitivus seperativus ›Reinigung von Leidenschaften‹ aus gegenüber dem moralischen Genitivus subjectivus ›Reinigung der Leidenschaften‹ im Sinn von deren Verwandlung in tugendhafte Fertigkeiten.384 Immerhin verzeichnet eine Bibliographie zu Aristoteles’ ›Poetik‹ für die Jahre 1860 bis 1927 nahezu 150 Titel, die laut Karlfried Gründer mit Bernays Schrift in Zusammenhang stehen.385 Dieser selbst begründet die Zweitauflage seiner ›Grundzüge‹ 1880 damit, daß sich bis dato etwa 70 Beiträge auf seine Abhandlung bezögen und darum der vergriffene Text wieder aufgelegt werden müsse.386 Die ›Grundzüge‹ beschränken sich jedoch nicht allein auf den Nachweis der medizinischen Bedeutung von Katharsis – dieser wird u.a. auch im Hinblick auf Aristoteles’ Vita geführt: als Sohn eines königlichen Leibarztes und selbst praktizierender Arzt läge dies ohnehin nahe. Sondern Bernays erläutert auch die spezifische Therapieform der kathartischen Musik und Tragödie als homöopathische Heilung von ›Ähnlichem durch Ähnliches‹. Aristoteles erscheint hier als früher Vorläufer von Samuel Hahnemann, indem gemäß dem Heilgesetz der Homöopathie »similia similibus curentur«387 Enthusiasmus mit Enthusias-

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(Aristoteles’ Poetik, S. 11), und legt damit implizit ein Bernays-Plädoyer ab. Über diesen Sachverhalt klärt die der Ausgabe beigegebene Abhandlung von Alfred von Berger ›Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles‹ den Leser auf, S. 71f. Explizit legt Gomperz dieses Plädoyer im Aristoteles-Kapitel seiner ›Griechischen Denker‹ (1909) ab, vgl. S. 317f. Siehe im weiteren J. Volkelt, Die tragische Entladung der Affekte (1898). Volkelt bezieht sich sowohl kritisch auf Berger (S. 157–161, 169) als auch auf Bernays (S. 159, 169); vgl. auch J. Volkelt, Ästhetik des Tragischen (1897), S. 365f. Im 20. Jahrhundert erweitern Wolfgang Schadewaldt und Helmut Flashar im Geiste Bernays die medizinische Dekonstruktion von Aristoteles’ Tragödiendefinition, indem sie nun auch eleos und phobos in ihrer medizinisch-pathologischen Bedeutung herausstellen und mithin die von Bernays noch unangetastete moralisch-christliche Diktion von ›Mitleid‹ und ›Furcht‹ durch ›Jammer‹ und ›Schauder‹ ersetzen. Vgl. W. Schadewaldt, Furcht und Mitleid?; H. Flashar, Die medizinischen Grundlagen der Lehre von der Wirkung der Dichtung. Mit Verweis auf die »meisterhafte Abhandlung von Bernays« gibt Gustav Freytag die entsprechende Aristoteles-Stelle mit folgenden Worten wieder: die Tragödie »bewirkt durch Erregung von Mitleid und Furcht die Katharsis solcher Gemüthsaffektionen.« Die Technik des Dramas [1863], S. 76. Bei Eduard von Hartmann ist zu lesen: »[D]ie Auffassung von Jacob Bernays (der sich Ueberweg und andere bereits angeschlossen haben) [erscheint] als die einzig mögliche [...], nämlich die daß [Katharsis ton Pathematon] nicht Reinigung oder Läuterung der Leidenschaften, sondern Reinigung oder Befreiung (der Seele) von den Leidenschaften heißt.« E. von Hartmann, Aphorismen über das Drama, S. 45. Vgl. K. Gründer, Einleitung, S. VII; K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, S. 365. Die ›Grundzüge‹ von 1857 erscheinen mit zwei weiteren älteren Texten von Bernays mit kleinen Änderungen in: J. Bernays, Zwei Abhandlungen über die Aristotelische Theorie des Dramas, S. 1–118. Zur Rezeption der ›Grundzüge‹ siehe die Einleitung, S. I. S. Hahnemann, Organon der Heilkunst. 3. Aufl., S. 1. Bernays spricht vom »homöopathischen Gleichniss«, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 192. Inspiriert von Bernays bezeichnet auch der Arzt in Hermann Bahrs ›Dialog vom Tragischen‹ (1904) die Tragödie als eine »Art Homöopathie«, S. 13, vgl. S. 19; K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, S. 370.

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mus, Furchtsamkeit mit Furcht geheilt werden soll. Die »Beruhigung der Verzückten« vollzieht sich, so ist es in der ›Politik‹ zu lesen, »mittelst rauschender Lieder«: Dann ist [Katharsis] nur eine besondere Art der allgemeinen und deshalb auch an erster Stelle genannten [Iatria]; die Verzückten kommen durch orgiastische Lieder zur Ruhe wie Kranke durch ärztliche Behandlung, und zwar nicht durch jede beliebige, sondern durch eine solche Behandlung, welche kathartische, den Krankheitsstoff ausstossende, Mittel anwendet.388

Bernays ist, wie er selbst zugesteht, nicht der erste, der auf Aristoteles’ spezifische Medikamentierungshinweise in der ›Politik‹ aufmerksam macht. Obwohl in der Neuzeit die moralische Lesart der Katharsis durch Neuplatonismus und Christentum in den Vordergrund gerückt ist, gab es durchaus einen Unterstrom, der das therapeutische Potential von Musik und Tragödie tradierte und punktuell an die Oberfläche kam. Auf die Musiktherapien im 18. Jahrhundert sowie auf Goethes und Reils Konzeptionen einer tragischen Katharsis wurde in dieser Studie ja bereits eingegangen. Bernays nennt als Gewährsleute seiner medizinischen Relektüre des Aristoteles Milton und Herder.389 Bernays lobt zwar Herders »pharmakopöetischen Tone«390 in ›Adrastea‹, befindet hingegen insgesamt, seine Überlegungen ließen die nötige Trennschärfe zwischen moralischer und medizinischer Katharsis vermissen. Mag Herder auch in seiner Aristoteles-Deutung nicht entschieden genug gegen seine Zeit argumentiert haben, so konnte allerdings doch anhand seiner ›Plastik‹ im vorangehenden die enge Verbindung von Heilung und Kunst in seiner Ästhetik vor Augen geführt werden. Für Bernays bestätigen diese Autoritäten seine Lesart der Katharsis als homöopathisch abgestimmte Melancholikerkur. Seine Definition lautet demgemäß: »Katharsis sei: eine von Körperlichem auf Gemüthliches übertragene Bezeichnung für solche Behandlung eines Beklommenen, welche das ihn beklemmende Element nicht zu verwandeln oder zurückzudrängen sucht, son388 389

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J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 143. Der englische Dramatiker stellt auf dem Titelblatt seines ›Samson Agonistes‹ (1671) die Aristotelische Definition der Tragödie dem Text voran und erläutert diese in einem Vorwort: »therefore said by Aristotle to be of power by raising pity and fear, or terror, to purge the mind of those and such like passions, that is to temper and reduce them to just measure with a kind of delight, stirr’d up by reading or seeing those passions well imitated. Nor is Nature wanting in her own effects to make good his assertion: for so in Physic things of melancholic hue and quality are us’d against melancholy, sowr against sowr, salt to remove salt humours.« J. Milton, Samson Agonistes, o. S. Vgl. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 192. Herders bereits angeführtes ›Politik‹-Zitat (Kap. III.1) befindet sich in: J. G. Herder, Adrastea (Auswahl). Werke in zehn Bänden. Bd. 10. Hrsg. von Günter Arnold, S. 326. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 189.

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dern es aufregen, hervortreiben und dadurch Erleichterung des Beklommenen bewirken will.«391 Neben dem Nachweis ihrer allgemeinen medizinischen Bedeutung, der homöopathischen Medikamentierung und der Profilierung ihrer Adressaten als ›Beklommene‹ kommt als viertes wirkungsmächtiges Element von Bernays Schrift seine Rückführung der tragischen Katharsis in den orgiastisch-kultischen Raum hinzu. Genauer gesagt, legen einige Textstellen der Neuplatoniker eine enge Verbindung von Tragödie und »Phalluscult« nahe. Nach Bernays handelt es sich bei dem folgenden Passus aus Jamblich um ein Fragment des verlorenen Teils von Aristoteles’ ›Poetik‹: Die Kräfte der in uns vorhandenen allgemein menschlichen Affectionen werden, wenn man sie gänzlich zurückdrängen will, nur um so heftiger. Lockt man sie dagegen zu kurzer Aeusserung in richtigem Maasse hervor, so wird ihnen eine maashaltende Freude, sie sind gestillt und entladen und beruhigen sich dann auf gutwilligem Wege ohne Gewalt. Deshalb pflegen wir bei der Komödie sowohl wie Tragödie die durch Anschauen fremder Affecte unsre eignen Affectionen zu stillen, mässiger zu machen und zu entladen; und ebenso befreien wir uns auch in den Tempeln durch Sehen und Hören gewisser schmutziger Dinge von dem Schaden, den die wirkliche Ausübung derselben mit sich bringen würde.392

Mehr unwillentlich führt der Altphilologe mit solchen Textstellen die Tragödie nicht nur in die Niederungen der Medizin, sondern auch der sinnlichen Begierde hinab. Das weist sowohl auf die Psychoanalyse voraus, die in die tragische Wirkung eine »sexuelle Miterregung« (GW Nachtr., 656) einrechnet, als auch zunächst auf Friedrich Nietzsches Tragödientheorie. In Anbetracht der von Bernays vorgenommenen Engführung von Phalluskult, Musik und Tragödie wird die Begeisterung des Studenten Nietzsche nicht weiter verwundern, der in Bernays den »glänzendsten Vertreter einer Philologie der Zukunft« sieht und erwägt, bei diesem in Breslau zu studieren.393 Hört man Bernays von den Dionysien reden, so vermeint man fast Nietzsches Dialektik von Dionysischem und Apollinischem zu vernehmen:

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J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 144. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 159f. Heute wird diese Passage einem anderen, gänzlich verlorenen Dialog zugeschrieben, vgl. K. Gründer, Einleitung, S. VI. KSB 2, 208, vgl. KSB 2, 26, 28, 212. Für Karlfried Gründer ist es unstrittig, daß »Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ [...] in den weiteren Zusammenhang der Katharsis-Schrift von Bernays und des Streits um sie gehört.« Einleitung, S. IX; vgl. K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, S. 376ff. Während der Zeit der Abfassung der ›Geburt der Tragödie‹ entleiht Nietzsche Bernays Schrift noch einmal aus der Basler Universitätsbibliothek, vgl. KSA 14, 533, und erwägt für eine Abhandlung mit dem Titel ›Socrates und die griechische Tragoedie‹ folgendes Anfangskapitel: »I. Das antike Drama und das neuere. [...] Vielleicht von der aristotelischen Definition auszugehn. (Bernays.)«, KSA 7, 71, vgl. 504.

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Wie kathartische Mittel dem Körper dadurch Gesundheit schaffen, dass sie den krankhaften Stoff zur Aeusserung hervordrängen, so wirken die rauschenden Olymposweisen sollicitirend auf das ekstatische Element, welches wider die Fessel des Bewusstseins anschäumt, ohne sie aus eigner Kraft sprengen zu können; in unablässigem Wühlen würde es die Grundvesten des Gemüths untergraben, fände es nicht einen Beistand an der Gewalt des Gesanges, von dessen Zuge hingerissen es nun hervorrast, sich der Lust hingiebt, aller Fugen und Bande des Selbst ledig zu sein, um dann jedoch, nachdem diese Lust gebüsst worden, wieder in die Ruhe und Fassung des geregelten Gemüthszustandes sich einzuordnen.394

Später allerdings, als ihm Cosima Wagner kolportiert, der Altphilologe finde in ›Die Geburt der Tragödie‹ (1872) »seine Anschauungen« wieder, »nur stark übertrieben«, hält Nietzsche diese Ansicht für anmaßend und »göttlich frech von diesem gebildeten und klugen Juden«.395 Beeindruckt zeigt sich auch Graf Paul York von Wartenburg, Diltheys späterer Briefpartner, von Bernays Schrift.396 Die zeitgenössischen Dramentheoretiker Gustav Freytag, Eduard von Hartmann und Alfred von Berger begrüßen Bernays Katharsis-Deutung ebenfalls einhellig.397 Allerdings zeitigt diese Zustimmung in der Dramentheorie kein wirkungsästhetisches Umdenken, sondern schmälert eher die Bedeutung der Katharsis insgesamt. Als zweckästhetische Zumutung wird die medizinische Katharsis allenfalls als verzichtbare Randerscheinung in einem Tragödiendiskurs wahrgenommen, der weiterhin der Autonomieästhetik verpflichtet ist. Entweder wird die antike ›pathologische‹ deutlich von der modernen ›fröhlich-nachschaffenden‹ Katharsis abgegrenzt oder diese wird in der Nachfolge Goethes vornehmlich werkästhetisch auf den Helden bezogen, der auf der Bühne zur ›Resignation‹ komme.398

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J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 176. KSB 4, 97. In ›Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des Sophokles‹ (1866) referiert Yorck Bernays weitgehend zustimmend: Die Tragödie habe sich aus den Dionysien entwickelt. Die Funktion dieses Kultus dürfe allerdings nicht allein psychologisch als zeitweilige Befreiung von latenten Affekten, sondern müsse auch geschichtsphilosophisch als Befreiung vom Schmerz eines gottverlassenen Bewußtseins verstanden werden. Nietzsche hat sich in der Zeit der Abfassung von ›Die Geburt der Tragödie‹ neben Bernays auch diese Schrift ausgeliehen, vgl. K. Gründer, Einleitung, S. IXff.; K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, S. 378f. In der Erstausgabe der ›Technik des Dramas‹ 1863 mahnt Freytag eine Neuauflage von Bernays Schrift mit den Worten an: »Hundert Jahre sind vergangen von Lessings Versuch, die Katharsis zu erklären, bis zu der meisterhaften Abhandlung von Bernays. Die Hülfe, welcher dieser scharfsinnige Gelehrte dem Verständniß des Aristoteles gebracht hat, dadurch und durch die Entdeckung verlorener Stellen der Poetik, gibt den Deutschen das Recht, von ihm eine neue Recension des Textes zu erbitten«, S. 76. Diese Fußnote fehlt in der vierten verbesserten Auflage der ›Technik‹ (1881), nachdem Bernays im Jahr zuvor seine Abhandlung wieder zugänglich gemacht hatte. Siehe auch E. von Hartmann, Aphorismen über das Drama, S. 45; A. von Berger, Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles, S. 71f. Die erste Variante bietet Freytag, vgl. Die Technik des Dramas, S. 81f., die zweite Hartmann,

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Im gewissen Sinn erscheint daher Josef Breuers und Sigmund Freuds therapeutisches Verfahren als konsequenteste Umsetzung von Bernays ›pathologischem Standpunkt‹ in der Katharsis-Debatte. In den Jahren 1880–1882, zu der Zeit also als die zweite Auflage der ›Grundzüge‹ gerade erschienen war, entwickelt Josef Breuer gemeinsam mit seiner Patientin Anna O. die später als kathartische Methode bezeichnete ›talking cure‹. Das ›Absprechen von Symptomen‹ wird von der Patientin bereits zu dieser Zeit mit einer Reinigungsmetapher, dem ›chimney-sweeping‹, bedacht.399 Man kann mit Karlfried Gründer davon ausgehen, daß »der mit Bernays verknüpfte Streit um den aristotelischen Begriff der Katharsis den gebildeten Ärzten selbstverständlich vertraut war«. 400 Die Bestimmungen, die Breuer und Freud ihrer Therapie geben, erinnern bis in die Diktion hinein an Aristoteles’ tragische Kur der ›Beklommenen‹ in der Lesart von Bernays. Die Rede vom ›eingeklemmten Affekt‹, 401 das energetische Modell, das eine Energieabfuhr durch das hysterische Symptom annimmt, die Auffassung von Hysterie als Ersatzhandlung, 402 all diese Aspekte verbinden die antike Dramentheorie mit der modernen Wissenschaft. Jedenfalls haben die Zeitgenossen die ›Studien über Hysterie‹ in diesem Kontext wahrgenommen. Dies dokumentieren die Ausgabe der Aristotelischen ›Poetik‹ von 1897 in der Übersetzung von Theodor Gomperz mit einer Abhandlung von Alfred von Berger über Katharsis im Anhang – diese Ausgabe befindet sich in Freuds Bibliothek –403 sowie Hermann Bahrs ›Dialog

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vgl. Aphorismen über das Drama, S. 46, und Berger, vgl. Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles, S. 95–98. Vgl. SH, 50. Es handelt sich wohl um eine Anspielung auf Tom the chimney-sweep aus Charles Kingsleys ›Waterbabies‹, vgl. K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, S. 373. Freud spricht in den ›Studien‹ von der kathartischen Methode auch als einer »Reinigung in der Hypnose«, S. 89. K. Gründer, Einleitung, S. VIII. »Sie [kathartische Methode] hebt die Wirksamkeit der ursprünglich nicht abreagierten Vorstellung dadurch auf, daß sie dem eingeklemmten Affekte derselben den Ablauf durch die Rede gestattet, und bringt sie zur assoziativen Korrektur, indem sie dieselbe ins normale Bewußtsein zieht (in leichterer Hypnose) oder durch ärztliche Suggestion aufhebt, wie es im Somnambulismus mit Amnesie geschieht.« SH, 40f.; vgl. GW 1, 97; GW Nachtr., 195; GW 5, 4, 151; GW 8, 13; GW 14, 46f. Bernays hatte die Katharsis als »Behandlung eines Beklommenen« definiert, »welche das ihn beklemmende Element«, hervortreiben will, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 144. Zum hysterischen Symptom und der dramatischen Handlung als Ersatzhandlung vgl. GW 14, 300; J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 160. Vgl. H. Trosman and R. D. Simmons, The Freud Library, S. 679. Es wird hier noch eine weitere, nicht zu verifizierende Ausgabe genannt: »Aristotle. Poetik. Translation Georg Brandes«. Gomperz und seine Familie gehörten zu den Patienten Breuers und Freuds, A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse, S. 208. Wohl als Reaktion auf die Zusendung des Aristoteles hat Breuer Gomperz einen Brief mit Überlegungen zur Aristotelischen Katharsis zugesandt, der leider nicht erhalten, aber aus Gomperz’ Entwurf eines Antwortschreibens rekonstruierbar ist. »Mit Goethe«, den er offenbar nur vom Hörensagen kennt, »aber gegen Bernays, Gomperz und Berger meint er, Aristoteles ›habe nicht an Dispositionen gedacht [...], die der Zuschauer

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vom Tragischen‹ (1904). 404 Sowohl von Berger als auch Bahr kommentieren die Aristotelische Katharsis und Breuers und Freuds ›Studien über Hysterie‹ wechselseitig, wobei sich beide dezidiert auf Bernays berufen, der gezeigt habe, daß »der Ausdruck Katharsis der Medicin entnommen ist, in welcher er die Austreibung eines Krankheitsstoffes aus dem Körper bedeutet.« Von Berger widmet den Analogien zwischen Aristoteles und den beiden modernen Ärzten sogar ein eigenes Kapitel und auch in Hermann Bahrs ›Dialog‹ wird diese Verbindung ausführlich besprochen. 405 Der Literarhistoriker von Berger hatte schon ein Jahr zuvor in einer Rezension die ›Studien über Hysterie‹ als ein »Stück uralter Dichterpsychologie« begrüßt: »Wir wissen nicht, wie die Wissenschaft die Theorien Breuers und Freuds beurteilt. Die Dichter hat sie für sich, und das will nicht wenig besagen. Denn bis jetzt waren die Dichter diejenigen, die von den Geheimnissen der Menschenseele das Meiste und Beste gewußt und ausgesagt haben«.406 Die von Bernays und den ›Studien über Hysterie‹ wieder ins Gedächtnis gerufene Verbindung von Psychopathologie und Drama ist dann bald zu einer feststehenden Wendung geworden, so daß Ernst von Wildenbruch 1906 das Theater seiner Zeit umstandslos als ›hysterische Dramatik‹ denunzieren kann: »man lispelt und flüstert von ›intimen‹ Wirkungen, von ›esoterischen‹, und fühlt nicht, daß man die männliche Kunst der Dramatik durch dieses hysterische Gebaren zu einer weiblichen machte.«407 Es ist bislang ungeklärt, von wem der Begriff Katharsis in die neue psychologische Disziplin eingeführt wurde, ob von Breuer oder Freud.408 Freud selbst nennt Breuer als Begründer und Namensgeber des kathartischen Verfahrens (GW 5, 16). Allerdings sind diese späteren Äußerungen deutlich von

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ins Theater mitbringt, sondern bloß an die durch die Aufführung selbst erregten und zuletzt beschwichtigten Affecte.‹« A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse, S. 210. Es spricht einiges dafür, daß auch dieser Text Freud bekannt war, denn in seiner aus dem Nachlaß publizierten Schrift ›Psychopathische Personen auf der Bühne‹ (1905/6) redet er, wie Bahr auch, vom ›Austoben der Triebe‹ – eine saloppe Wendung, die sich sonst bei Freud nicht findet –, teilt dessen radikale Ausdeutung von Bernays pathologischem Gesichtspunkt, das Drama sei nur für ein krankes Publikum da, und veranschaulicht seine Ausführungen mit einem Verweis auf Hermann Bahrs 1905 uraufgeführtes Drama ›Die Andere‹. Vgl. H. Bahr, Dialog vom Tragischen, S. 16, 14, 20f., und GW Nachtr., 656, 659, 661. A. von Berger, Wahrheit und Irrtum in der Katharsis-Theorie des Aristoteles, S. 72, zu den ›Studien über Hysterie‹ vgl. S. 81–86. Siehe auch die expliziten Ausführungen zu den ›Studien über Hysterie‹ in Bahrs ›Dialog vom Tragischen‹ (S. 17f., 23f.), der in seinem ersten Teil insgesamt von der Breuer/Freudschen Argumentation geprägt ist. Der zweite Teil hingegen zitiert im Hinblick auf eine zeitgenössische ›untragische Kunst‹ Nietzsche, so daß der Text zutreffend als »Mixtur aus Freud und Nietzsche« zu bezeichnen ist, M. Schuller, Hysterie als Artefaktum, S. 92. Zu Berger und Bahr siehe auch K. Gründer, Jacob Bernays und der Streit um die Katharsis, S. 374f. A. von Berger, Die Dichter hat sie für sich, S. 288f. E. von Wildenbruch, Das deutsche Drama, S. 1038. Den Herausgeberinnen des Nachtragsbandes erscheint es »möglich, daß [Breuer] auch für die Termini ›Katharsis‹ und ›Abreaktion‹ verantwortlich ist.« GW Nachtr., 209f.

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dem Bestreben gekennzeichnet, auch terminologisch eine Trennung zwischen der frühen Gemeinschaftsarbeit mit Breuer und der alleinigen ›psychoanalytischen‹ Arbeit zu markieren. Obwohl Freud auch davon spricht, die kathartische Methode bilde den bleibenden Kern der Psychoanalyse.409 1914 unterstreicht er die Erfolge der von Ernst Simmel zur Behandlung von Kriegsneurosen praktizierten kathartischen Methode als eine den Umständen angepaßte abgekürzte Psychoanalyse (GW 14, 46f.). Sicher ist, daß die aus Hypnose, Suggestion und Gespräch bestehende und um die Entstehungsgeschichte des psychischen Konflikts bemühte Therapieform öffentlich erstmals 1893 als »kathartische Methode« bezeichnet wird, und zwar in der von Breuer und Freud gemeinsam verfassten ›Vorläufigen Mitteilung‹, die dann auch die ›Studien über Hysterie‹ eröffnet.410 Im weiteren taucht ›Katharsis‹ 1894 in Freuds Text ›Die AbwehrNeuropsychosen‹ und 1895 in den von Freud verfassten Teilen der ›Studien‹ auf.411 Damit bleibt festzuhalten, daß trotz anders lautender Zuweisung die diskursive Vervielfältigung der kathartischen Methode auf die (Ko-)Autorschaft Freuds zurückgeht. Als Therapiemethode wird sie schon früher beschrieben und etwa, wie in einem Brief an Wilhelm Fließ vom 28. Juni 1892, als »Theorie vom Abreagieren«412 bezeichnet. Bereits seit 1889, der Behandlung der Emmy von N., praktiziert Freud die kathartische Methode (GW Nachtr., 199f.). Und eben zu dieser Zeit wird Freud auch die Genese der psychischen Behandlung aus dem Drama skizzieren. In seinem Handbuch-Artikel ›Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)‹ (1890) erinnert er an die alten Heilmethoden »seelischer oder körperlicher Störungen« mit Mitteln, »welche zunächst und unmittelbar auf das Seelische des Menschen einwirken. Ein solches Mittel ist vor allem das Wort, und Worte sind auch das wesentliche Handwerkszeug der Seelenbehandlung.« (GW 5, 289) An welche Wortkunst im genaueren gedacht wird, das verrät die Formulierung. Moderne Seelenärzte müßten sich leider eine »ganze Reihe sehr wirksamer seelischer Mittel« entgehen lassen wie etwa die »Hervorrufung starker Affekte«, etwa »Furcht und Schrecken zu Heilzwecken zu erzeugen« (GW 5, 303). Die Signalworte eleos und phobos verweisen darauf, daß es sich hier um eine Definition der tragischen Katharsis im Sinne der Aristotelischen ›Poetik‹ handelt – natürlich informiert von Bernays medizinischer Deutung. Aber nicht nur die Behandlung seelischer Krankheiten wird in Beziehung zum Tragischen gebracht, sondern auch die Genese dieser Krankheiten und deren Träger. Nach dem homöopathischen Prinzip ›Gleiches mit Gleichem 409

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»Die kathartische Methode ist der unmittelbare Vorläufer der Psychoanalyse und trotz aller Erweiterungen der Erfahrung und aller Modifikationen der Theorie immer noch als Kern in ihr enthalten.« GW 13, 409. Vgl. SH, 32; GW 1, 77f., 87, 476, und GW Nachtr., 193. Vgl. GW 1, 64, 149, 158, 165, 260, 262, 265f., 311. S. Freud, Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 59; vgl. GW Nachtr., 201.

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heilen‹ reagiert die kathartische Methode in den ›Studien über Hysterie‹ auf das aufgeführte »Privattheater« (SH, 42) der Patientinnen. Diese leiden wie bekannt an ›Reminiszenzen‹, in der Form, daß sie sich eben an traumatische Erlebnisse nicht erinnern, sondern diese körperlich ausagieren. Die Hysterikerinnen sind hoffnungslose Schauspielerinnen, denen die Trennung zwischen Bühnenraum und Realität abhanden gekommen ist. Wie in der Entwurfsstufe von ›Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene‹ 1892 festgehalten, gehören neben der »Hysterie der Nonnen, der enthaltsamen Frauen, der wohlerzogenen Knaben« auch »Personen, welche Hang zur Kunst, zum Theater in sich verspüren« (GW 17, 12), zum gefährdeten Personenkreis. Rückblickend profiliert Freud die Hysterieauffassung der Psychoanalyse gegenüber Charcot und Janet gerade in dieser Einsicht in den theatralischen Charakter der Krankheit: »die Psychoanalyse hat dargetan, daß sie [hysterische Anfälle] mimische Darstellungen von erlebten und gedichteten Szenen sind, welche die Phantasie der Kranken beschäftigen, ohne ihnen bewußt zu werden.« Es handelt sich um »Pantomimen« bzw. um »mimische oder halluzinatorische Darstellungen von Phantasien« (GW 8, 399). »Der Hysteriker ist« darum »ein unzweifelhafter Dichter, wenngleich er seine Phantasien im wesentlichen mimisch und ohne Rücksicht auf das Verständnis der anderen darstellt« (GW 12, 327). Die Hysterie stellt also auch eine neue Form der Theatromanie dar, jener Zeitkrankheit des 18. Jahrhunderts deren Therapierung sich Moritz und Goethe verschrieben hatten. Um 1900 findet sich die Verbindung von Hysterie und Schauspiel nicht allein bei Freud, sondern die junge Wissenschaft ist Resonanzraum einer umfassenderen kulturellen Formation. Charcots Vorlesungen, die öffentlichen Spektakeln – Hysterie-Aufführungen – gleichkamen, dürften während seines Parisaufenthaltes eindrücklich auf den jungen Psychiater gewirkt haben. Einer von Charcots Schülern schrieb diesbezüglich: »Die Hysterika ist eine Schauspielerin auf der Bühne, eine Komödiantin; aber man darf sie niemals tadeln, denn sie weiß nicht, was sie spielt; sie glaubt ganz aufrichtig an die Wirklichkeit der jeweiligen Situation«.413 Bereits Nietzsche hatte mit Blick nach Paris in seinem Essay ›Der Fall Wagner‹ die Hysterie mit der Schauspielkunst assoziiert,414 und Hermann Bahr wird ihm in seinem ›Dialog vom Tragischen‹ darin folgen. Die Psychoanalyse bleibt jedoch nicht bei dieser Analogie stehen, sondern setzt sie in der kathartischen Methode therapeutisch um und vertieft sie wissenschaftlich, indem sie die Ausdrucksformen von Körper und Seele in ihrer wechselwirksamen Sprachförmigkeit untersucht. Sandor Ferenczi hat die psychoanalytische Auffassung der Hysterie als Körperkunst in treffende Worte gefaßt

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Zit. nach E. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 343. Vgl. M. Schuller, ›Weibliche Neurose‹ und Identität, S. 186f.; E. Bronfen, Das verknotete Subjekt, S. 341ff.; G. Moore, Hysteria and Histrionics.

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und sie mit dem von Herder geläufigen Begriff der Plastizität in Verbindung gebracht: »Für die beschriebene Art der hysterischen Symptombildung, aber auch für dieses psychophysische Phänomen überhaupt, ist also ein besonderer Name erforderlich. Man kann es ein Materialisationsphänomen nennen, da sein Wesen darin besteht, daß sich in ihm ein Wunsch, gleichsam magisch, aus der im Körper verfügbaren Materie realisiert und – wenn auch in primitiver Weise – plastisch dargestellt wird, ähnlich wie ein Künstler die Malerei seiner Vorstellung nachformt.«415 Ausführlich hat Freud die Verbindung von Psychoanalyse und Katharsis in dem kleinen, vermutlich 1905/06 entstandenen dramentheoretischen Text ›Psychopathische Personen auf der Bühne‹ offengelegt. Dort lautet der erste Satz: »Wenn der Zweck des Schauspiels dahin geht, ›Furcht und Mitleid‹ zu erwekken, eine ›Reinigung der Affekte‹ herbeizuführen, wie seit Aristoteles angenommen wird, so kann man dieselbe Absicht etwas ausführlicher beschreiben, indem man sagt, es handle sich um die Eröffnung von Lust- oder Genußquellen aus unserem Affektleben«. Im weiteren wird die tragische Wirkung als »Erleichterung durch ausgiebige Abfuhr«, als »Höherspannung« des »psychischen Niveaus« des Zuschauers beschrieben und auch dessen »sexuelle Miterregung« wird bedacht. Ein Aspekt, den keinen seiner Zeitgenossen noch schokkiert haben dürfte, hatten doch bereits Bernays und Nietzsche die Tragödie in die Niederungen der Sinnlichkeit hinabgeführt. Ferner zieht Freud vorausweisend auf ›Der Dichter und das Phantasieren‹ die Analogie zwischen Schauund Kinderspiel (GW Nachtr., 656). In ›Psychopathische Personen auf der Bühne‹ zeigt sich Freud gut informiert in dramentheoretischen Belangen. So schränkt er, wie vor ihm Hegel,416 das Drama auf die Darstellung »seelische[n] Leidens« ein, denn die körperliche Krankheit hemme das Phantasiespiel und darum auch den Genuß an der Tragödie. Allenfalls »besondere psychische Seiten des Krankseins« dürften auf der Bühne zur Schau gestellt werden, und auch das diesbezügliche dramentheoretische Paradebeispiel ›Philoktet‹ fehlt in seinen Ausführungen nicht.417 Schließlich privilegiert Freud, für den Begründer der Psychoanalyse wenig verwunderlich, das »psychologische Drama« mit seiner Konzentration auf den »inneren Konflikt« vor dem antiken »religiöse[n]« und dem modernen »Charakter- und soziale[n] Drama« (GW Nachtr., 658f.). Gerade diese Begrifflichkeit erweist die souveräne Zusammenschau der Dramentheorien des 19. Jahrhunderts. Die Unterscheidung von (antiker religiöser) »Schicksalstragödie und Charaktertragödie«418 war bereits in Goethes Bestimmung des Tragischen angelegt und hat sich um 1900 typologisch verfestigt. In 415 416 417 418

S. Ferenczi, Hysterische Materialisationsphänomene, S. 16. Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I/II, S. 297ff. Vgl. GW Nachtr., 658; G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I/II, S. 298. T. Lipps, Der Streit über die Tragödie [1891], S. 63; vgl. auch E. von Hartmann, Die deutsche Ästhetik seit Kant [1886], S. 435, 445; P. Ernst, Das Drama und die moderne Weltanschauung

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Bezug auf ›König Ödipus‹ verwendet Freud den Begriff ›Schicksalstragödie‹ auch an anderer Stelle.419 Der Begriff ›soziales Drama‹ hat sich seit Gerhart Hauptmanns 1887 uraufgeführtem Stück ›Vor Sonnenaufgang‹ etabliert, das diesen im Untertitel führte. Originell scheint Freud allerdings in der Zusammenführung der dramenanalytischen Diktion seiner Zeit in einer vier- bzw. fünfgliedrigen Typologie, die vor allem die Rede vom ›inneren Konflikt‹ ausdifferenziert. Um 1900 waren diesbezügliche Überlegungen um das sogenannte Charakterdrama zentriert. Freud bringt zwei weitere Begriffe, das psychologische und das psychopathologische Drama ins Spiel. Die fünf Dramentypen unterscheiden sich nach ihrem »Kampfplatz« bzw. dem jeweiligen tragischen Gegenspieler. Die religiöse oder Schicksalstragödie bringt den Kampf gegen die göttliche Ordnung auf die Bühne; das soziale Drama beerbt das religiöse, indem nun die »Genußquelle der Auflehnung« gegen die menschliche soziale Ordnung in Anschlag gebracht wird. Im Charakterdrama wird ein interpersoneller Konflikt zur Darstellung gebracht; im psychologischen Drama hingegen wird die Auseinandersetzung ins Innere verlegt und spielt sich zwischen verschiedenen seelischen Regungen ab. Diese Auseinandersetzung hat ein unblutiges, im Sinne Goethes und Hegels modernes Ende, indem die tragische Lösung nicht den Tod des tragischen Helden, sondern den »Verzicht« auf eine dieser Regungen, also Entsagung bedeutet.420 Der »psychopathologische« Dramentypus liegt nach Freud schließlich dann vor, »wenn nicht mehr der Konflikt zweier annähernd gleich bewußten Regungen« Gegenstand des Stücks ist, »sondern der zwischen einer bewußten und einer verdrängten Quelle des Leidens«. Die Unterscheidung bewußt / unbewußt wird hier zum Movens der dramatischen Handlung. In der Nachfolge von Bernays’ medizinischer Aristoteles-Deutung und der Heilung von ›Ähnlichem durch Ähnliches‹ heißt es lapidar zu diesem Typus: »Bedingung des Genusses ist hier, daß der Zuschauer auch ein Neurotiker sei.« Die »neurotische Labilität des Publikums« wird so in Freuds Überlegungen zu einer Größe, die der Dramatiker richtig zu bemessen hat, um eine adäquate tragische Wirkung zu erzielen. Dieser letzte Typus kann getrost als psychoanalytisches Drama bezeichnet werden, denn Freud macht im weiteren deutlich genug auf die Parallelen zwischen einer solchen dramatischen und seiner eigenen Arbeit aufmerksam. Die indirekte Ausdrucksweise des Dramas, durch die die verdrängte Regung zwar »kenntlich«, jedoch nicht »mit deutlichem Namen

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[1898], S. 231; U. Gauwerky, Art. Charakterdrama. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1, S. 207f. »›König Ödipus‹ ist eine sogenannte Schicksalstragödie; ihre tragische Wirkung soll auf dem Gegensatz zwischen dem übermächtigen Willen der Götter und dem vergeblichen Sträuben der vom Unheil bedrohten Menschen beruhen«, GW 2/3, 268. Diese Definition steht in der Tradition von Goethe bis Lipps. Zu Hegels und Goethes Entsagungsdiskurs vgl. M. Schmaus, Entsagung als ›Forderung des Tages‹. Von der ›Resignation‹ auf der Bühne sprechen auch Hartmanns ›Aphorismen über das Drama‹, S. 46.

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genannt« werde, ermögliche ebenso wie die Kunstfertigkeit des Analytikers eine Umgehung des Widerstands, so daß die »Abkömmlinge des Verdrängten« in dieser maskierten Form zu »Bewußtsein kommen« (GW Nachtr., 659ff.) können. Später, in seinem Essay ›Dostojewski und die Vatertötung‹ (1928) wird er die indirekte Mitteilungsform des Dramas und die therapeutische Arbeit noch einmal miteinander vergleichen. Nun jedoch weisen die Formulierungen deutlicher auf jene 1930 in ›Das Unbehagen in der Kultur‹ eingeschlagene Argumentationslinie voraus, die die Kunst im Dienst der Flucht vor dem Realitätsprinzip sieht und ihre »milde Narkose« (GW 14, 439) registriert. In der Literaturgeschichte ist das »säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben der Menschheit« (GW 2/3, 271) im Vergleich zwischen der antiken Darstellung der Vatertötung und ihren modernen Varianten in Shakespeares ›Hamlet‹ und Dostojewskis ›Brüder Karamasoff‹ erkennbar. Demgegenüber vermittelt das künstliche Szenario der Psychoanalyse schonungslosere Einsichten. Am aufrichtigsten ist gewiß die Darstellung im Drama, das sich der griechischen Sage anschließt. Hier hat der Held noch selbst die Tat vollbracht. Aber ohne Milderung und Verhüllung ist die poetische Bearbeitung nicht möglich. Das nackte Geständnis der Absicht zur Vatertötung, wie wir es in der Analyse erzielen, scheint ohne analytische Vorbereitung unerträglich. Im griechischen Drama wird die unerläßliche Abschwächung in meisterhafter Weise bei Erhaltung des Tatbestandes dadurch herbeigeführt, daß das unbewußte Motiv des Helden als ein ihm fremder Schicksalszwang ins Reale projiziert wird. (GW 14, 412)

In ›Psychopathische Personen auf der Bühne‹ erscheint als weitere Verwandtschaft zwischen Tragödie und Analyse, daß in beiden Fällen der Moment der Erkenntnis, die Einsicht in den eigenen inneren Konflikt die Heilung bedeutet. Der »kranke Neurotiker« hört »bei Kenntnis desselben [Konflikts]« auf, »selbst krank zu sein.« (GW Nachtr., 661) Diese Formel von Verstehen gleich Heilung oder Erkenntnis gleich Heilung findet sich in mehrfachen Formulierungen in Freuds Texten. In ihr drückt sich die Ethik der psychoanalytischen Hermeneutik aus. Wie sich an ›Psychopathische Personen auf der Bühne‹ und anderen Schriften zeigt, speist sich diese Ethik u.a. aus den Verstehensformen der Kunst. An der Gleichung von Verstehen und Heilung zeigt sich jedoch auch, daß Freud Bernays’ medizinisch-energetische Katharsis-Deutung überschreitet. Hier geht es nicht mehr allein um die lustvoll erlebte Abfuhr von Affekten, sondern um die Einsicht in einen psychischen Konflikt und seine Lösung im Verzicht. Damit kommt bei Freud eine Vorstellung tragischer Katharsis erneut zum Tragen, die mit dem Namen Goethe in Verbindung steht. Bekanntlich hatte dieser in ›Nachlese zu Aristoteles’ Poetik‹ (1826) aufgrund einer höchst eigenwilligen, um nicht zu sagen falschen Übersetzung die Katharsis auf den tragischen Helden bezogen. Katharsis wird mit »aussöhnender Abrundung«421 übertragen, 421

J. W. Goethe, Nachlese zu Aristoteles’ Poetik, HA 12, 355. Zu Goethes Übersetzung unter dem

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die nicht nur von der Tragödie, sondern von jedem poetischen Werk zu erwarten sei. In ›Psychopathische Personen auf der Bühne‹ wird in der Nachfolge Goethes die moderne tragische Lösung im Ausgleich zwischen bewußten und unbewußten Regungen gesehen bzw. deutlicher in der Diktion des Goethes der ›Wanderjahre‹ formuliert im Verzicht auf konfligierende Regungen. Stärker als der Weimarer verlegt Freud jedoch im Blick auf die ›Erkenntnisdramen‹ ›Ödipus‹ und ›Hamlet‹ das Wesen der tragischen Analysis in den Erkenntnisprozeß. Der Wissensorientierung hatte Aristoteles in seiner ›Poetik‹ mit den Begriffen dianoia, der Erkenntnisfähigkeit des Helden, hamartia, seinem intellektuellen Fehlverhalten, das ihn zum Schuldlos-Schuldigen werden läßt, und anagnorisis, der tragische Moment der Wiedererkennung, Rechnung getragen.422 Sowohl beim tragischen Helden, dem Zuschauer wie auch beim Neurotiker kommt es letztlich auf das Verstehen und die dadurch ermöglichte Schlichtung des innerpsychischen Konfliktes an. So »nötigt« der Dramatiker »uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern« (GW 2/3, 269) ebenso wie der Analytiker. Anagnorisis – der »Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis«423 – bildet auch einen zentralen Moment in der Psychoanalyse, für die das »Zusammenfallen von Aufklärung und Heilung« (GW 7, 118) kennzeichnend ist. Die Auseinandersetzung mit Drama und Dramentheorie ermöglicht Freud also zweierlei: Zum einen bietet die von Bernays angestoßene Katharsis-Debatte im 19. Jahrhundert eine Möglichkeit für ihn, in den 80er und 90er Jahren sein energetisches Modell des psychischen Apparates, seine Konflikttheorie und ein diesbezügliches Therapiekonzept zu entwickeln. Die medizinisch-dramatische Katharsis stellt neben und ergänzend zum Reflexbogen das zweite zentrale Theoriemodell dar, das an der Wiege der Psychoanalyse Pate gestanden hat. Für beide Modelle gilt, daß sie für die an der hysterischen Konversion sich entwickelnden Wissenschaft schon psychosomatische Implikationen bereithalten, jeweils in unterschiedlicher Gewichtung: Das antike Modell der Katharsis – im Begriff schon Schnittstelle von religiös-sittlicher Läuterung und medizinischer Reinigung –424 verzeichnet insbesondere in seiner neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte einen deutlichen Vorrang der Psyche vor dem Soma, so daß erst Bernays wieder Aristoteles’ »Achtung für das Körperliche«425 ins kulturelle Gedächtnis rufen mußte. Als ›psychische Kurmethode‹ war das Drama allerdings seit dem Ende des 18. Jahrhunderts weitläufig im Gespräch. Das haben

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philologischen Gesichtspunkt siehe J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 137f. Vgl. Aristoteles, Poetik, S. 19, 21, 23, 33, 35, 37, 39, 41, 45. Aristoteles, Poetik, S. 35. Zum Drama als Analyse des Zuschauers vgl. P. von Matt, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, S. 22. Vgl. M. Fuhrmann, Nachwort, S. 164f. J. Bernays, Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie, S. 144.

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Karl-Philipp Moritz’ Reflexionen zur Einübung einer erkenntnistheoretischen Doppelperspektive von tragischem Held (Mitleid) und Zuschauer (distanzierter Beobachter) ebenso gezeigt wie Reils und Goethes therapeutische Bemühungen. Über den Reflexbogen hingegen versucht sich das 19. Jahrhundert einen Weg von den Nervensträngen zu den Gedanken zu bahnen. Und noch Freuds Unternehmungen im ›Entwurf‹, die Affektabfuhr durch ›Sprachinnervationen‹ auf neuronaler Basis, zeugt von diesem Versuch.426 Zum anderen führt Freud die Auseinandersetzung mit Drama und Dramentheorie auch einige Schritte über die energetische Analogie von Reflexbogen und Katharsis hinaus, indem nun die Sprach- und Erkenntnisarbeit und mit dieser auch die zeichentheoretische sowie hermeneutische Problematik in Anbetracht eines unverständlichen hysterischen Zeichens zunehmend in den Blick rückt. Aus der kathartischen Methode als einer punktuellen Symptombehandlung entwickelt sich die Psychoanalyse als eine Form der umfassenden biographischen Erkenntnis, die dauerhafte Heilung dadurch verspricht, daß sie die Krankheit im Sinnhorizont des Lebensganzen wahrnimmt. Dies bedeutet eine Abkehr vom Modell wissenschaftlicher Medizin, in dem der Kranke bloß passives Objekt ist und das Freud mit seiner Allegorie vom hysterischen Symptom als chirurgisch zu entfernendem Fremdkörper noch bedient. Eine solche »sich eng an die mechanistischen und psychisch-chemischen Voraussetzungen« haltende wissenschaftliche Medizin handelt, »um zur Heilung zu gelangen,« wie Jean Starobinski formuliert, »ohne die Mitarbeit des Patienten, man beeinflußt die Krankheit durch eine Aktion, die von der Persönlichkeit des Kranken und von dem subjektiven Aspekt des Leidens nicht beeinträchtigt wird. Direktwirkung auf die Krankheit, die indessen nur indirekt sich mit der Person des Kranken verbindet. Er bleibt in dieser Situation vollständig passiv.« Es besteht eine »unpersönliche Beziehung der wissenschaftlichen Medizin zur Krankheit, d.h. die Beziehung, die ein objektivierendes Wissen mit einem objektivierten Naturvorgang vereint.«427 Konnte die Psychoanalyse in ihren Anfängen durch die Hypnose noch den Anschein einer ›Chirurgie der Seele‹ erwecken, so verkehrt sie sich mit der Aufgabe dieser Technik zum Gegenmodell der skizzierten wissenschaftlichen Medizin. Sie wird zu einer Sprachtherapie, die auf die Mitarbeit des Patienten angewiesen ist und die die Krankheit sowohl als Ausdruck der Persönlichkeit des Patienten wie auch als aktives Verhalten auslegt. Anstatt das hysterische Symptom zu entfernen, kommt es nun darauf an, es zum Sprechen zu bringen. Das Symptom soll als sinnhaftes Verhalten in das Lebensganze des Patienten integriert werden. Aus Chirurgie wird Hermeneutik, sprich aus einer medizinisch-energetischen wird eine hermeneutische Sprachtherapie.

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Vgl.: »Die Sprachinnervation ist ursprünglich eine ventilartig wirkende Abfuhrbahn für ψ, um Qη-Schwankungen zu regeln«, GW Nachtr., 456. J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 49.

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In den ›Studien über Hysterie‹ geht es zum großen Teil noch um das erstere therapeutische Verfahren. Es handelt sich um ein ›Wegsprechen von Symptomen‹, womit vor allem der energetische Zweck von »Sprachabfuhrzeichen«428 benannt ist. Sprachabfuhrzeichen funktionieren dabei auf der gleichen Ebene wie motorische Reaktionen. So handle es sich, laut Freud, bei der kathartischen Methode um eine »Zurückleitung der Erregung aus dem Körperlichen ins Psychische« und »die Abfuhr der Erregung durch Sprechen« (GW 1, 64). Habe eine Patientin »in der Hypnose« das psychische Trauma »halluzinatorisch wieder erinnert und den damals unterdrückten seelischen Akt nachträglich unter freier Affektentfaltung zu Ende« geführt, so »war das Symptom weggewischt und trat nicht wieder auf.« (GW 14, 45) Einzelne Symptome konnten so abgesprochen werden, dafür tauchten an ihrer Stelle neue auf und ein dauerhafter Heilungserfolg stellte sich nicht ein. Zum einen war eine ursächliche Behandlung von Nöten, die die Symptome und Partialtraumen auf ihre Ursprünge zurückverfolgte,429 und zum anderen eine ›mündigere‹ Mitarbeit des Analysanden in der Sprachtherapie. Daß sich auch diese Abkehr von der kathartischen Methode noch in einem dramatischen Denkraum vollzieht, läßt sich mit Blick auf den ›Ödipus‹ veranschaulichen. Was Breuers und Freuds Patientinnen noch fehlte, war der Moment der anagnorisis, der Wiedererkennung ihrer selbst in der tragischen Triebkonstellation. Im Handlungsraum von Sophokles’ Stück gesprochen: die Identifikation des Ich mit dem Mörder des Vaters und dem Gatten der Mutter war noch nicht geleistet. In der Hypnose vollziehen sich die Erinnerung traumatischer Erlebnisse und das Absprechen von Symptomen ›halluzinatorisch‹, jenseits des Bewußtseins der Hypnotisierten. Hier ist eine WortMagie am Werke, indem der Hypnotiseur einem Puppenspieler vergleichbar an den Fäden seiner Worte die Patienten bewegt. So schildert Freud in ›Psychische Behandlung‹ die Machtverhältnisse in der Hypnose folgendermaßen: »Die Vorstellung, die der Hypnotiseur dem Hypnotisierten durch das Wort gegeben hat, hat genau jenes seelisch-körperliche Verhalten bei ihm hervorgerufen, das ihrem Inhalt entspricht.« (GW 5, 306) Die Abkehr von der kathartischen Methode bedeutet darum zunächst eine Abkehr von Hypnose sowie Suggestion und damit vor allem eine Entzauberung der Rolle des Hypnotiseurs / Arztes.430 Denn die »Hypnose schenkt dem Arzt eine Autorität, wie sie wahrscheinlich niemals ein Priester oder Wundermann besessen hat, indem sie alles seelische Interesse des Hypnotisierten auf die Person des Arztes vereinigt; sie schafft die Eigenmächtigkeit des Seelenlebens beim Kranken ab« (GW 5, 309).

428 429 430

So die Diktion im ›Entwurf‹ vgl. GW Nachtr., 456 u.a. Freud selbst charakterisiert die kathartische Methode als »symptomatische« im Gegensatz zu einer »kausalen«, SH, 278. Siehe auch A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse, S. 147. Als einen Vorgang der Entmystifizierung beschreibt ihn Freud in der ›Selbstdarstellung‹, vgl. GW 14, 52.

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Es gilt eine Sprachform zwischen der unbewußten Rede in der Hypnose zu finden, die von der Macht des Arztes und der Ohnmacht des Patienten zeugt und diesem keinen verstehenden Zugang zum Symptom ermöglicht, und der bewußten Rede, in der das Trauma aufgrund des Widerstandes des Patienten gar nicht zur Sprache kommen kann. Am Leitfaden des Dramas bzw. der Kunst wird die Psychoanalyse Gesprächstechniken entwickeln, durch die etwas ›kenntlich‹ gemacht werden kann, ohne es ›beim Namen zu nennen‹. Der Psychoanalyse und der Kunst geht es also um indirekte Mitteilungs- und Kommunikationsformen, die sich jenseits der Opposition von bewußt/unbewußt und Wissen/Unwissen befinden. Als Ersatz für die Hypnose führt Freud zunächst das »Handauflegen« (GW 14, 53), eine Druck- bzw. Konzentrationstechnik ein. Die Patientin soll ihm den ersten Einfall nennen, der ihr beim Druck seiner Hand auf ihrer Stirn durch den Kopf geht. Hierbei handelt es sich immer noch um eine moderate Form der Suggestion bzw. Nötigung,431 und es zeigt sich noch einmal, inwieweit sich die Psychoanalyse christlicher Rituale bedient. Der entscheidende Schritt zur letztlichen Technik der freien Assoziation ist jedoch gemacht, die sich u.a. dadurch auszeichnen wird, daß jegliche körperliche Interaktion zwischen Patientin und Arzt unterbleibt – sie »vermeidet jede Berührung sowie jede andere Prozedur, die an Hypnose mahnen könnte« (GW 5, 5). Zu dieser gehörte nämlich nicht allein die psychische, sondern auch die physische Manipulation, etwa das von Charcot praktizierte Drücken hysterogener Zonen.432 Dementsprechend empfahl auch Freud noch 1891 in seinem Artikel ›Hypnose‹ in Bums ›Therapeutischem Lexikon‹: »Streichen und Drükken des kranken Körperteils während der Hypnose ist überhaupt eine treffliche Unterstützung der gesprochenen Suggestion« (GW Nachtr., 148), und praktizierte dies im Falle der Emmy von N. (SH, 73). Die gänzliche Abwendung von somatischen Therapien in der Psychoanalyse mag mit ihren Grund in diesem hypnotischen Einsatz des Körpers haben, von dem es sich abzugrenzen galt. Denn in ihren Anfängen handelte es sich bei Freuds Hysterie-Therapien durchaus noch um eine psychosomatische Behandlungsmethode. Die Redekur wurde mit Bädern, Massagen, Elektrotherapie und mit Weir Mitchells Ruhe431

432

In den ›Studien über Hysterie‹ schildert Freud die Genese dieser Technik ausführlicher: »Ich beschloß, von der Voraussetzung auszugehen, daß meine Patienten alles, was irgend von pathogener Bedeutung war, auch wußten und daß es sich nur darum handle, sie zum Mitteilen zu nötigen. […] Ich legte der Kranken die Hand auf die Stirne oder nahm ihren Kopf zwischen meine beiden Hände und sagte: ›Es wird Ihnen jetzt einfallen unter dem Drucke meiner Hand. Im Augenblicke, da ich mit dem Drucke aufhöre, werden Sie etwas vor sich sehen oder wird Ihnen etwas als Einfall durch den Kopf gehen, und das greifen Sie auf. Es ist das, was wir suchen.‹« SH, 129. Zur Entwicklung von Freuds Analysetechniken vgl. auch die ›Editorische Einleitung‹ in GW Nachtr., 98ff. Das Handauflegen war auch aus der therapeutischen Praxis Anton Mesmers bekannt und ersetzte bald die Anwendung eines Magneten, vgl. den Beitrag: Heilung der Kranken durch Auflegung der Hände. In: Archiv für den Thierischen Magnetismus 1 (1817), H. 3, S. 154; J. Starobinski, Psychoanalyse und Literatur, S. 29. Vgl. GW Nachtr., 74.

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und-Diät-Kur kombiniert.433 Nach dem gleichermaßen dramen- wie reflextheoretisch inspirierten Energie-Modell der kathartischen Methode war es nur konsequent, Ausgleich bzw. Abfuhr von Spannungen sowohl körperlich als auch seelisch in Angriff zu nehmen. Später äußerte Freud jedoch eine deutliche Skepsis gegenüber den zeitgenössischen somatischen Kuren, »den Wasser-, Diät- und elektrischen Kuren bei Nervösen«, die ihre Heilungserfolge allein der »Suggestion« (GW 8, 111) verdankten. Im Übergang von einer symptomatischen zu einer ursächlichen Therapie wandelt sich jedoch der Charakter der Sprachtherapie nachhaltig, der energetische Zweck tritt zugunsten von pädagogischen und hermeneutischen Absichten zurück, ohne gänzlich aufgegeben zu werden. Die Kommunikationssituation zwischen Arzt und Patient ändert sich. Es kann von einer Demokratisierung des Gesprächs gesprochen werden, insofern nun die ›wache Rede‹ des Patienten, seine ›freien Assoziationen‹ ins Zentrum rücken und zum Ausgangspunkt der Analyse werden. Wie Emmy von N. dokumentiert, beansprucht jetzt die Patientin die Gesprächslenkung: »Nun sagte sie recht mürrisch, ich solle nicht immer fragen, woher das und jenes komme, sondern sie erzählen lassen, was sie mir zu sagen habe.« (SH, 81) Und Freud hat sich als gelehriger Schüler erwiesen. Jahre später, beim Fall Dora, ist die Gesprächsführung der Patientin bereits selbstverständlich und als tragendes Element in das Theoriegebäude der Analyse eingefügt. Freud formuliert abgrenzend im Rückblick auf die ›Studien über Hysterie‹: »Ich lasse nun den Kranken selbst das Thema der täglichen Arbeit bestimmen und gehe also von der jeweiligen Oberfläche aus, welche das Unbewußte in ihm seiner Aufmerksamkeit entgegenbringt.« (GW 5, 169) Aus einem an den Fäden des Hypnotiseurs gleichsam willenlos agierenden Körper wird so eine mündige Patientin. Aus einem Wort-Magier wird ein Zuhörer. Als Bilder dieser veränderten therapeutischen Situation bemüht Freud zum einen negativ, in Abgrenzung zur Hypnose das »Gespräch zwischen zwei gleich wachen Personen« (GW 5, 5), zum andern positiv, im Hinblick auf den zentralen Akteur der Psychoanalyse, die Kommunikation zwischen zwei Unbewußten. Der Analytiker solle idealiter »das Unbewußte des Patienten mit seinem eigenen Unbewußten auffangen«, wofür eine bestimmte Technik des Zuhörens notwendig ist: »Die Erfahrung zeigte bald, daß der analysierende Arzt sich dabei am zweckmäßigsten verhalte, wenn er sich selbst bei gleichschwebender Aufmerksamkeit seiner eigenen unbewußten Geistestätigkeit überlasse, Nachdenken und Bildung bewußter Erwartungen möglichst vermeide, nichts von dem Gehörten sich besonders im Gedächtnis fixieren wolle« (GW 13, 215). Schriftliche Aufzeichnungen während der Sitzung seien zu vermeiden. Freuds Empfehlung, solche Notizen erst am Ende des Tages anzufertigen, soll dem Unbewußten, soll dem Gedächtnis des Analytikers Zeit für die Auswahl des 433

Vgl. SH, 69, 74, 87, 100, 137, 156, 283.

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relevanten, zu archivierenden Materials lassen.434 Das Unbewußte avanciert so in der Psychoanalyse zu dem Medium der Wahrheit, indem es auf der Seite des Patienten zum zentralen Ausdrucksvermögen wird, das das manifeste Material der Analyse liefert, und indem es auf der Seite des Arztes zum privilegierten Deutungsvermögen wird, das aus den Assoziationen des Patienten den latenten Sinn herausliest. Freie Assoziation und ›freies Zuhören‹ sollen die beiderseitigen Zensurmechanismen des psychischen Apparates außer Kraft setzen. Insoweit bedeutet die Erweiterung der kathartischen Methode zur Psychoanalyse eine Gleichberechtigung der Gesprächsteilnehmer. Diesem Befund stehen jedoch neue Formen der Hierarchisierung entgegen, die in die Analysesituation eingetragen werden. Denn natürlich ist die psychoanalytische Mündigkeit der Kranken um den Preis einer erneuten, anderen Form der Entmündigung erkauft. Ihr Bewußtsein wird zugunsten ihres Unbewußten entmachtet. Dies wird allerdings in gewissem Maße durch die gleichzeitige Ermächtigung des Unbewußten des Analytikers ausgeglichen. Dann wäre das Szenario der naturwissenschaftlichen Beobachtung zu nennen, das festgeschriebene Rollen und Blickrichtungen zwischen dem beobachteten Objekt und dem beobachtenden, selbst jedoch unsichtbaren Subjekt kennt. An diesem Szenario orientiert sich das räumliche setting der Analyse: »Ich gab also die Hypnose auf und behielt von ihr nur die Lagerung des Patienten auf einem Ruhebett bei, hinter dem ich saß, so daß ich ihn sah, aber nicht selbst gesehen wurde.« (GW 14, 53; vgl. GW 5, 4f.) Die weiteren für das Arzt-Patienten-Rollenspiel herangezogenen Bilder: Richter-Verbrecher, Priester-Beichtender, Lehrer-Schüler, Eltern-Kind, unterstreichen das Ungleichgewicht in der Analyse.435 Abhängigkeit, Unwissenheit und Schuld implizieren diese Vergleiche. Wobei das letztgenannte Rollenmuster insofern theoretisch vertieft wird, als die Psychoanalyse tatsächlich mit dem Anspruch auftritt, ›Nacherziehung‹ des Erwachsenen zu sein, der das kindliche psychische Konfliktszenario nun noch einmal mit dem Analytiker als idealem Vater wiederholen und zu einem anderen, besseren Ausgang führen kann. Schließlich erscheint die Analyse auch als ein objektivierter, nach außen gesetzter Kampf innerhalb der psychischen Hierarchie. Dem »Kampf zwischen Arzt und Patient« korrespondiert jener »zwischen Intellekt und Triebleben, zwischen Erkennen und Agierenwollen« (GW 8, 374). Für die angezeigte hermeneutische Erweiterung der Sprachtherapie von besonderem Interesse ist die Hierarchie zweier Erzählertypen und Erzählsituationen in der Psychoanalyse. Freud selbst hat die Nähe seiner Fallgeschichten zur Literatur herausgestellt: »es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind«. Es handelt

434 435

Vgl. GW 5, 166. Ausführlich führt Freud dies in ›Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung‹ (1912) aus, vgl. GW 8, 377ff. Vgl. GW 7, 8f.; SH, 299; GW 16, 94; GW 5, 307.

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sich um »eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist« (SH, 180). Sinnigerweise assoziiert er seine Fallgeschichten mit der Novelle und damit mit einem literarischen Genre, das seit Goethe um eine ›unerhörte Begebenheit‹ zentriert ist und sich durch eine Wendepunktdramatik auszeichnet. Beide Momente erfüllen die Hysterie-Studien in ausgezeichnetem Maße. Charakteristisch für die Fallgeschichten Freuds ist das Ineinander von Kranken- und Behandlungsgeschichte, wobei die Krankengeschichte die in Analepsen vorgetragene, zum Teil in direkter Rede wiedergegebene Binnen-,436 die Behandlungsgeschichte die mit Vor- und Rückverweisen arbeitende Rahmenerzählung darstellt.437 Für das Material der Krankengeschichte ist der Patient verantwortlich – ein höchst vergeßlicher, von Verdrängung und Widerstand geprägter Erzähler, wie Freud verschiedentlich bemerkt. Freuds Patienten sind Prototypen des um 1900 auch in der schönen Literatur verstärkt auftretenden ›unreliable narrator‹.438 Sie haben eben nur Einfälle, erzählen fragmentarisch oder chronologisch falsch, ihnen fehlt mit einem Wort der übergreifende Zusammenhang: »Schon bei der Erzählung der Krankengeschichte stellen sich bei den Kranken Lücken der Erinnerung heraus, sei es, daß tatsächliche Vorgänge vergessen worden, sei es, daß zeitliche Beziehungen verwirrt oder Kausalzusammenhänge zerrissen worden sind, so daß sich unbegreifliche Effekte ergeben. Ohne Amnesie irgend einer Art gibt es keine neurotische Krankengeschichte.« (GW 5, 6)439 Diese »Unfähigkeit der Kranken zur geordneten Darstellung ihrer Lebensgeschichte« ist symptomatisch für eine auf Scham begründete »bewußte« und für eine durch die Zensurmechanismen des psychischen Apparates begründete »unbewußte Unaufrichtigkeit« (GW 5, 174). Das schuldlos Schuldigwerden des Helden in der Tragödie verwandelt sich demgemäß im Szenario der Psychoanalyse zu einer unbewußt-bewußten intellektuellen Fehlleistung. Die Kranke, die intra-autodiegetische Erzählstimme440 bedarf also, um zu einer kohärenten Erzählung ihres Leidens und Lebens zu

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Für Freuds Fallgeschichten ist der durchaus an literarischen Wirkungsintentionen ausgerichtete Wechsel von indirekter und direkter Redewiedergabe kennzeichnend, vgl. etwa den Fall Dora, GW 5, 225ff., 256f. u.a. Zur Literarizität von Freuds Fallgeschichten vgl. S. Marcus, Freud and Dora; D. Cohn, Freud’s Case Histories and the Question of Fictionality; H. Thomé, Freud als Erzähler; R. Böschenstein, Analyse als Kunst, S. 82f.; I. Grubrich-Simitis, Urbuch der Psychoanalyse, S. 9, 18f., 29. Die Frage nach der Verläßlichkeit des Erzählens hat W. C. Booth in die Erzähltextanalyse eingeführt, vgl. The Rhetoric of Fiction, S. 158f., und F. K. Stanzel, Theorie des Erzählens, S. 201f., 265; M. Martinez und M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 100ff. Siehe auch SH, 310. Daß diese Unzuverlässigkeit nicht nur Freuds Patienten, sondern auch professionelle Erzähler betrifft, beweist der Fall Dostojewski. Zu dessen autobiographischen Äußerungen merkt der Analytiker an: »Leider hat man Grund, den autobiographischen Mitteilungen der Neurotiker zu mißtrauen. Die Erfahrung zeigt, daß ihre Erinnerung Verfälschungen unternimmt, die dazu bestimmt sind, einen unliebsamen Kausalzusammenhang zu zerreißen.« STA 10, 275. Siehe zur Begrifflichkeit M. Martinez, M. Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, S. 67–89.

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kommen, einer zweiten, überlegenen Erzählstimme, die als extra-heterodiegetische ihre Mängel kompensieren kann. In der Forschung ist verschiedentlich die These vertreten worden, Freud habe sich zu diesem Zwecke als seinen Stellvertreter im Text einen auktorialen, allwissenden Erzähler geschaffen.441 Passagen in den Fallgeschichten, die für eine solche Lesart sprechen, sind jene, in denen das Innenleben dritter Personen geschildert wird, wie es eben nur ein auktorialer Erzähler tun kann, dem interne und externe Fokalisierung gleichermaßen zur Verfügung stehen. Im weiteren finden sich deutliche Indizien für die »Konstruktion eines wahrnehmungsmächtigen Ich«, für das »eine privilegierte, die üblichen Wahrnehmungsfähigkeiten übersteigende Beobachterposition suggeriert wird.«442 Der Unzuverlässigkeit der Patienten stellt sich so in der Selbstpräsentation ein ›reliable narrator‹ gegenüber: Als ich mir die Aufgabe stellte, das, was die Menschen verstecken, nicht durch den Zwang der Hypnose, sondern aus dem, was sie sagen und zeigen, ans Licht zu bringen, hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Und darum ist die Aufgabe, das verborgenste Seelische bewußt zu machen, sehr wohl lösbar. (GW 5, 240)

Im Detail schreibt sich dieser Ich-Erzähler in seinen Kommentaren die souveräne Handhabung der Zeit zu, die raffende Konzentration auf das Ergebnis und nicht den Gang der Analyse und die Umstellung der Chronologie (GW 5, 170, 167). Erzähltheoretisch bei dieser »Aufblähung des Ich-Erzählers zur auktorialen Omnipotenz«443 stehen zu bleiben, hieße jedoch den punktuellen rhetorischen Strategien dieses Erzählers allzu sehr aufzusitzen. Denn diesem auktorialen Gestus lassen sich ebenso viele Momente entgegenhalten, in denen sich die Erzählstimme selbst dekonstruiert. Der wichtigste Punkt, an dem die Fiktion eines allwissenden, unbeteiligten Beobachters zerbricht, ist mit dem Begriff der Übertragung benannt.444 Damit ist jener Sachverhalt gemeint, daß die Patientin – denn im Entdeckungsszenario der Übertragung ist die Geschlechterverteilung kein unwichtiger Faktor der dramatischen Verwicklungen in der Analyse – ihren Analytiker in das Skript ihrer Lebens- und Leidensgeschichte einschreibt. Der psychosexuellen Herkunft der Hysterie gemäß muß sich der Arzt im Prozeß

441

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Vgl. M. Schuller, Literatur und Psychoanalyse, S. 72; H. Thomé, Freud als Erzähler, S. 478– 483. Thomé stellt den Freudschen Erzähler in Erzähltraditionen des 18. Jahrhunderts, etwa von Wielands ›Agathon‹. H. Thomé, Freud als Erzähler, S. 478. H. Thomé, Freud als Erzähler, S. 482. Dieser wird bereits in den ›Studien über Hysterie‹ eingeführt, vgl. SH, 319, 282. Ausführlich widmet Freud sich diesem Phänomen 1912 in ›Zur Dynamik der Übertragung‹. Siehe auch J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 550–559.

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der Heilung die Rolle des Liebesobjekts gefallen lassen, so die Deutung Freuds. Der vermeintlich unbeteiligte, distanzierte naturwissenschaftliche Beobachter, der jegliche Berührung vermeidet und sich außerhalb des Gesichtsfeldes seiner Patientinnen plaziert, wird so unversehens wieder ins Geschehen gezogen. Und es kann zu allerlei erotischen Verwicklungen und Mißverständnissen auf beiden Seiten kommen, wie man sie eigentlich aus der Komödie kennt. So interpretiert Freud Breuers Abbruch der Behandlung von Anna O. als Erschrecken vor der unerkannten Übertragung und führt darauf auch dessen weiteres Unbehagen gegenüber der Therapie von Hysterien zurück (GW 10, 49f., 45). Er selbst sieht sich mehrfach mit den erotischen Wünschen seiner Patientinnen konfrontiert. Eine ersehnt sich nach der gemeinsamen Sitzung, er »möchte doch herzhaft zugreifen und ihr einen Kuß aufdrängen« (SH, 320); andere schlingen ihm die Arme um den Hals (GW 11, 468; GW 14, 52). Der Therapeut ist zu dieser Zeit jedoch bereits klug genug, diese Zärtlichkeit nicht seiner eigenen Attraktivität, sondern dem besagten Übertragungsphänomen zuzuschreiben. In den ›Studien über Hysterie‹ wird die Therapie als ein regelrechter Liebeshandel beschrieben. Die Überwindung des Widerstandes müsse der Patientin »durch irgendwelches Surrogat von Liebe vergolten werden […]. Die Mühewaltung und geduldige Freundlichkeit des Arztes haben als solches Surrogat zu genügen.« (SH, 319)445 In der zugestandenen »affektiven Beziehung« (GW 14, 52) zwischen Patientin und Analytiker spielen allerdings nicht allein die positiven, sondern auch die negativen Affekte eine Rolle. Der Arzt hat es generell mit der »Widerspenstigkeit« (SH, 172) seines Gegenübers zu tun, das Abwehrmechanismen gegen die Analyse mobilisiert, so daß Freud ebenso das Bild eines gleichsam physischen »Kräftespiels« (GW 14, 54) verwendet. Sein anfänglich noch durch die Drucktechnik gestisch veranschaulichtes »Drängen« gegen den Widerstand der Patientin »kostete« ihn »Anstrengung« und legte ihm die »Deutung« nahe, »ich hätte einen Widerstand zu überwinden, so setzte sich mir der Sachverhalt ohne weiteres in die Theorie um, daß ich durch meine psychische Arbeit eine psychische Kraft bei dem Patienten zu überwinden habe, die sich dem Bewußtwerden (Erinnern) der pathogenen Vorstellungen widersetze.« (SH, 284; vgl. 318) Neben diesem in jeder Analyse zu gegenwärtigendem Machtkampf kommen auf dem Wege der Übertragung noch andere, spezifisch an die Rollen gebundene Empfindungen ins Spiel, die der Analytiker in diesem Behandlungsdrama zu geben hat. Im Falle Doras etwa wird Freud nacheinander in den Rollen des Vaters und des älteren Liebhabers Herr K. besetzt (GW 5, 282), und dementsprechend 445

Im Falle Doras erwägt der Analytiker, ob ein überzeugenderes Rollenspiel des Liebespartners die Patientin von dem Abbruch der Analyse abgehalten hätte: »Ob ich das Mädchen bei der Behandlung erhalten hätte, wenn ich mich selbst in eine Rolle gefunden, den Wert ihres Verbleibens für mich übertrieben und ihr ein warmes Interesse bezeigt hätte, das bei aller Milderung durch meine Stellung als Arzt doch wie ein Ersatz für die von ihr ersehnte Zärtlichkeit ausgefallen wäre? Ich weiß es nicht.« GW 5, 272.

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wird er Zielscheibe der »Regungen der Grausamkeit und Motive der Rache«, was schließlich zur ultimativen Demütigung des Arztes / Erzählers führt. Denn Dora bricht die Analyse ohne abgeschlossene Heilung ab und stellt darin in »ihrer Person« aus, »wie ohnmächtig und unfähig der Arzt ist« (GW 5, 284). Und zugleich entzieht sich im Abbruch der Analyse auch die literarische Figur dem Gesichtsfeld ihres Erzählers, so daß der Fall Dora, wie es der Titel eingesteht, zu einem ›Bruchstück einer Hysterieanalyse‹ wird. Darin stellt sich das vermeintlich überlegene, ›auktoriale‹ Erzählen des Analytiker-Ichs selbst bloß und tritt nun bescheiden dem fragmentarischen der Patientin an die Seite. Mit dem Begriff der Übertragung – und seinem theoretisch unterbeleuchteten Pendant, der Gegenübertragung –446 hat Freud in die Analysesituation eine hermeneutische Dynamik und auch Abgründigkeit eingetragen, die die zuvor skizzierte erzähltechnische Hierarchie zwischen der Patientin als einer unzuverlässigen Erzählerin und dem Analytiker als auktorialer Autorität zu Fall bringt. Die Übertragung bezeichnet in den Fallgeschichten den Moment der Metalepse, des narrativen Kurzschlusses von Binnen- und Rahmengeschichte, von Kranken- und Behandlungsgeschichte. Und noch genauer gesagt, handelt es sich um die Struktur des mise en abyme, in der Kranken- und Behandlungsgeschichte einander wechselseitig enthalten. Produziert wird dieser Sturz in den Abgrund der Hermeneutik vom Unbewußten des Patienten. Und im Vergleich zu dessen anderen Artikulationsformen: Symptomen, Assoziationen, Träumen und Fehlleistungen, stellt diese die unverständlichste, am schwierigsten zu entziffernde ›Rede‹ dar,447 denn sie tritt nicht als Material an die Oberfläche des Diskurses, sondern ändert dessen Rahmenbedingungen. Die Übertragung bedeutet einen Wechsel der Kommunikations-, der Erzählsituation. Die Zeitverhältnisse werden unklar, indem die Trennung zwischen den verschiedenen erzählten Vergangenheiten in der Analyse und der Erzählgegenwart durchlässig wird; die Identität der Personen ist aufgehoben, indem sich etwa der Analytiker Mehrfachbesetzungen gefallen lassen muß und zudem über seine Rollenwechsel nicht informiert wird. Es ist nun die Patientin, ihr Unbewußtes, das gleichsam die Autorschaft beansprucht und das vermeintlich extradiegetische Erzähler-Ich des Analytikers ins Geschehen hineinzieht. Das psychische Drama der Krankengeschichte verlängert sich durch die Übertragung in die Behandlungsgeschichte. Das frühkindliche, ödipale Drama wiederholt sich mit anderer Besetzung im Zimmer des Analytikers und unter Regie des Kranken. Die Übertragung ist die letzte, höchste Kunstform des Unbewußten – sie ist die »letzte Schöpfung

446 447

Vgl. GW 8, 108; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 164f. »Nun ist dieses Stück der Arbeit das bei weitem schwierigste. Das Deuten der Träume, das Extrahieren der unbewußten Gedanken und Erinnerungen aus den Einfällen des Kranken und ähnliche Übersetzungskünste sind leicht zu erlernen […]. Die Übertragung allein muß man fast selbstständig erraten«, GW 5, 280.

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der Krankheit« (GW 5, 280). Darum auch schildert Freud sie vornehmlich in Text-Metaphern: Was sind Übertragungen? Es sind Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes. Um es anders zu sagen: eine ganze Reihe früherer psychischer Erlebnisse wird nicht als vergangen, sondern als aktuelle Beziehung zur Person des Arztes wieder lebendig.

Je nach Begabung der jeweiligen Autoren / Patienten handelt es sich um exakte Wiederholungen, »einfache Neudrucke, unveränderte Neuauflagen«, oder um von »Sublimierungen« zeugende »Neubearbeitungen« (GW 5, 279f.) des Ursprungstextes. Die künstlerischen Begabungen seiner Patientinnen, sei es Doras »schönen, poesiegerechten Konflikt« (GW 5, 220) oder sei es Cäcilies »hochentwickelter Sinn für Form«, der sich sowohl in »vollendet schönen Gedichten« als auch in den Symbolisierungen ihrer körperlichen Symptome kundgab, war Freud stets bereit anzuerkennen. Die Körper-Sprach-Künstlerin Cäcilie M. bezeichnet Freud in einem Brief an Wilhelm Fließ dann auch als seine psychoanalytische »Lehrmeisterin«,448 und in den ›Studien über Hysterie‹ wird sie als »nächster Anlaß zur Veröffentlichung« (SH, 201, 198) der theoretischen Überlegungen zur Hysterie in der ›Vorläufigen Mitteilung‹ genannt. Halten wir unsere Befunde zum Erzähler-Ich von Freuds Fallgeschichten kurz fest: Um einen außenstehenden, unbeteiligten Beobachter oder gar um einen allwissenden Erzähler handelt es sich jedenfalls nicht, wenn auch diese Pose kurzfristig in den Texten eingenommen wird. Es präsentiert sich vielmehr ein teilnehmender Zuhörer, der durch die Dynamik der Analysesituation vom Rand des Geschehens plötzlich als Gegenspieler der tragischen Heldin ins Zentrum der Handlung versetzt wird und sich in seinem Erkenntnisdrama an der »Übertragung, die das größte Hindernis für die Psychoanalyse zu werden bestimmt ist«, zu bewähren hat. Was von ihm gefordert wird, das ist aristotelisch gesprochen die anagnorisis, der Moment der Wiedererkennung seiner selbst im präsentierten Material der Patientin. Gelingt ihm dies, dann läßt auch die peripetie in der Analyse, der Glückswechsel, also die Heilung nicht lange auf sich warten und die Übertragung wird »zum mächtigsten Hilfsmittel derselben« (GW 5, 281). Nach diesen dramatischen Verwicklungen, in denen das Scheitern immer greifbar, oft auch als Zwischenbilanz festgehalten ist, gefällt sich das Erzähler-Ich insbesondere der frühen Fallgeschichten abschließend in der Rollenvielfalt des Zurückgelassenen, die selbst wieder zu teilnehmender Lektüre auffordert. In literarischen Szenen, die man in ganz ähnlicher Form vermeint in Romanen und Novellen der Jahrhundertwende gelesen zu haben,

448

S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ, S. 243.

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präsentiert sich hier halb melancholisch, halb ironisch die Gefühlsambivalenz des verlassenen Vaters, des vergessenen Liebhabers, des zurückgebliebenen väterlichen Freundes und des in seiner Berufsehre verletzten Arztes. So schließt die Fallgeschichte der Elisabeth von R. in den ›Studien über Hysterie‹ zunächst mit einem Bericht über die »böse Zeit« (SH, 176), die die Patientin ihrem Analytiker bereitet, indem sie mit Abwehr auf seine Diagnose reagiert, sie habe sich selbst für ihre zärtliche Neigung zu ihrem Schwager mit körperlichen Schmerzen bestraft. Diese böse Zeit setzt sich fort, nachdem Freud sie als geheilt entlassen hat, jedoch erneute Symptome auftreten und die Mutter der Patientin dem Arzt brieflich mitteilt: »die Kur sei gründlich mißlungen. Was nun zu tun wäre? Von mir wolle sie nichts wissen.« Über einen Kollegen erhält Freud zwar noch »Botschaften« von dieser Patientin, die jeweils angekündigten Besuche bleiben jedoch aus. So nimmt der verschmähte Analytiker eines Tages die Sache selbst in die Hand. Im Frühjahre 1894 hörte ich, daß sie einen Hausball besuchen werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich ließ mir die Gelegenheit nicht entgehen, meine einstige Kranke im raschen Tanze dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet. (SH, 179f.)

Der Fall Dora endet mit einem ähnlichen Epilog. Auch hier liefert eine erneute Begegnung mit der Patientin die späte Genugtuung für den Arzt. Er kann ihr »nachweisen«, daß ihre jetzige Erkrankung eine Form der »Selbstbestrafung« für ihre damalige Rache an ihm sei, verspricht ihr jedoch, »ihr zu verzeihen, daß sie mich um die Befriedigung gebracht, sie weit gründlicher von ihrem Leiden zu befreien.« (GW 5, 286) So werden die Fallgeschichten vor allem für den Analytiker zu einem Happy-End gebracht. Das Erzähler-Ich scheint auf diese späte Bestätigung und die Anerkennung von seiten seiner Patientinnen angewiesen. In diesen erzählerischen Gesten gewinnt die Gegenübertragung, obwohl sie tatsächlich zu den großen Leerstellen psychoanalytischer Theoriebildung gehört, literarische Präsenz. Solche Rückkopplungseffekte in der Beziehung zwischen Arzt und Patient hatte Freud schon früh, in den ›Studien über Hysterie‹ benannt: »Jeder Beobachter steht überwiegend unter dem Einflusse seiner Beobachtungsobjekte« (SH, 250). Und so zeigt sich der Erzähler der Fallgeschichten fasziniert von seinen schönen, zumeist als hochbegabt charakterisierten Patientinnen, auf deren Mitarbeit und Anerkennung er in seiner Erzähl- und Deutungsarbeit angewiesen scheint. Er gleicht damit jenen beteiligten peripheren Ich-Erzählern, die die Literatur um 1900 als ein Kennzeichen des modernen perspektivischen Erzählens hervorbringt. Freuds Fallgeschichten gehören also deutlicher in den Kontext eines avancierten Realismus bzw. Naturalismus denn in ›triviale‹, auktoriale Erzähltraditionen des 18. Jahrhunderts.449

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Thomé rückt Freud zwar auch in den Kontext realistischer Erzählmodelle, kommt jedoch

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Sie stellen die Unzuverlässigkeit des Erzählens und Verstehens sowie die unvermeidliche Beteiligung des Erzählers und Zeichendeuters am Geschehen wahrheitsgetreu aus. So läßt es sich etwa das Erzähler-Ich im Fall Dora nicht nehmen – im Dienste der Wahrheit und der Wissenschaft – in einem späten Zusatz zum ›Bruchstück einer Hysterie-Analyse‹, diesem bereits insgesamt von Scheitern und Rechtfertigung geprägten Dokument, einen weiteren »technische[n] Fehler« einzugestehen. Mit der Konsequenz, daß die bis dato vorgetragenen Deutungen von Doras psychischem Konflikt, als da wären Vaterkomplex und Masturbation, durchgestrichen und durch eine neue Hypothese, Homosexualität, ersetzt werden. Dadurch mündet nun der Fall Dora nicht mehr in den triumphalen Schlußakkord des Nachworts mit einer geständigen, anerkennenden Patientin, sondern in das Eingeständnis der vormaligen »völligen Verwirrung« (GW 5, 284) des Analytikers. Und es sollte wohl noch vermerkt werden, daß es sich bei diesen erzähltheoretischen Befunden nicht um eine tiefenhermeneutische Diagnose handelt, sondern daß diese an der Oberfläche der Texte zu finden sind. Sie können zitierend oder kommentierend in den Blick gerückt werden. Die ›Verläßlichkeit‹ und das ›Unbeteiligtsein‹ werden im erkenntnistheoretischen Universum der Psychoanalyse also deutlich in Mitleidenschaft gezogen. Das liegt in der Konsequenz einer Wissenschaft, die das ödipale Drama universalisiert und der im Generalverdacht »das ganze Menschengeschlecht zum Patienten« (GW 14, 109) wird. Verläßlichkeit und Distanznahme vom allgemein-menschlichen psychischen Drama werden dadurch zu Fähigkeiten, die erst wissenschaftlich eingeübt werden müssen. Die Psychoanalyse kann nicht per se von einer Hierarchie in der Gesprächssituation ausgehen, in der Art, daß der Analytiker das »Vorbild«, ein »vollkommener Mensch« (GW 16, 94) sei, sondern die hermeneutische Überlegenheit des letzteren ist erst eine auf dem Wege einer Lehranalyse und einer lebenslangen Selbstanalyse zu erzielende, wie Freud in ›Die endliche und die unendliche Analyse‹ (1937) ausführt. V.3.5. Psychoanalytische Hermeneutik Im Übergang von der kathartischen Methode zur Psychoanalyse verschieben sich vor allem die Akzente im Hinblick auf das Verhältnis von Kranken- und Behandlungsgeschichte. Während im kathartischen Verfahren, bedingt durch die Hypnose, erstere fast gänzlich im Vordergrund stand und die Behandlung sich auf ein vermeintlich einfaches Zuhören beschränkte, wurden erst durch

abschließend zum Urteil: »Freud adaptiert die literarischen Schemata in einer älteren oder trivialeren Fassung, die von der Wissensgewißheit geprägt sind«, Freud als Erzähler, S. 489. Dagegen rückt auch Marcus Freuds Fallgeschichte in den Kontext der »modern experimental novel« und des »unreliable narrator«, Freud and Dora, S. 64, 66. Auf das deutlich ausgestellte hermeneutische Scheitern im ›Bruchstück einer Hysterie-Analyse‹ macht ebenfalls Bronfen aufmerksam, vgl. Das verknotete Subjekt, S. 585ff.

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den Wegfall der Hypnose die Mechanismen von Widerstand und Übertragung erkennbar und damit die dramatische Dimension der Behandlung. Bei der Abkehr von der Katharsis handelt es sich also keineswegs um eine Verabschiedung der dramatischen bzw. dramentheoretischen Konnotationen des therapeutischen Verfahrens, sondern um deren Erweiterung und hermeneutische Vertiefung. Kranken- und Behandlungsgeschichte erweisen sich nun als zwei ineinandergeschobene dramatische Szenarien. Eleos und phobos spielen sich im Behandlungszimmer des Arztes ab, mit der »Furcht« der Kranken, »sie gewöhne sich zu sehr an die Person des Arztes, verliere ihre Selbständigkeit ihm gegenüber, könne gar in sexuelle Abhängigkeit von ihm geraten« und dessen »persönlicher Teilnahme für den Kranken« (SH, 319, 281). Die energetische Theorie vom Abreagieren, die sich nahtlos in die von Bernays angeregte Katharsis-Debatte einfügte, wandelt sich zu einer Theorie vom Verstehen komplexer Zeichen. Ging es vormals um das Absprechen von Symptomen, um das gleichsam chirurgische Entfernen eines Fremdkörpers, so geht es nun um die Integration solcher Fremdkörper in die Psyche, in die Lebensgeschichte des einzelnen. Von einer tatsächlich biographischen Erkenntnis kann eigentlich erst jetzt, mit der Psychoanalyse die Rede sein, der es um das Erzählen und Verstehen der Lebensgeschichte des Patienten zu tun ist. Es ist nur konsequent, daß Freud die Psychoanalyse zunehmend mehr als eine Sinn verstehende Wissenschaft konzipiert. Damit legt er neben Friedrich Nietzsches existentieller Hermeneutik und Wilhelm Diltheys verstehender Psychologie den dritten großen, vielleicht wirkungsmächtigsten hermeneutischen Entwurf für das 20. Jahrhundert vor. Von der Psychoanalyse als »Deutungskunst« bzw. »Deutungs- oder Übersetzungstechnik«450 spricht Freud des öfteren. An die Hermeneutik als Kunstlehre vom Verstehen und genauer gesagt vom Textverstehen verweist ihr Erfinder die Psychoanalyse durch die prononcierte Einführung der Kategorie des Sinns. »Das Seelenleben wird durch den Sinn definiert, und dieser Sinn ist dynamisch und historisch.«451 Jetzt läßt Freud sogar seine Wissenschaft mit der Frage nach dem Sinn entstehen: »Eines Tages machte man die Entdeckung, daß die Leidenssymptome gewisser Nervöser einen Sinn haben. Daraufhin wurde das psychoanalytische Heilverfahren begründet.« (GW 11, 79)452 Und zwar haben die »hysterischen Symptome Sinn und Bedeutung« darin, daß sie ein »Ersatz sind für normale seelische Akte«, und sie sind sogar ein »sinnvoller Ersatz für andere unterbliebene seelische Akte« (GW 13, 212, 215).

450 451 452

GW 13, 215; GW 5, 7; vgl. GW 13, 411; GW 14, 66. Zit. nach P. Ricœur, Die Interpretation, S. 388. Zur Sinnsuche der Psychoanalyse siehe im weiteren: GW 1, 33f., 55f.; GW 8, 395; GW 13, 215f.

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Momente dieser Sinnhaftigkeit der körperlichen Symptomatik wurden bereits skizziert, als da wären die Minderung des Spannungsniveaus, der Ausdruck von Gemütsbewegungen, die Symbolisierung, der Krankheitsgewinn und ihr Mitsprechen während der Behandlung. Mit dieser Wissenschaft eröffnen sich dem Verstehen neue Horizonte, denn nun werden körperliche Symptome, Träume und Fehlleistungen des Alltags so interpretiert, als seien sie sinnhaft sowie sprachlich strukturiert und unterlägen darüber hinaus einer entschlüsselbaren Grammatik. So bezeichnet Freud die Psychoanalyse auch als eine Deutungskunst, in der »immer der Kranke selbst den Text [liefert]« (GW 5, 280). Anstrengungen, die bislang nur schwer verständlichen, situationsbezogen auszulegenden oder mehrdeutigen Texten galten wie der Bibel, dem Gesetzestext, dem Buch der Natur oder der Literatur, finden ihre Anwendung jetzt im Hinblick auf die Lebensgeschichte des einzelnen. Sein Schmerz, sein Tic, sein Traum und seine Versprecher hören auf, zufällige Ereignisse zu sein und erhalten einen psychologischen Sinn. Diese Wissenschaft widmet sich der hermeneutischen Einschränkung des Zufalls – die »Anzahl der Ereignisse, die wir ›zufällige‹ geheißen haben, erfährt eine erhebliche Einschränkung«. Dies gilt sowohl für die alltäglichen, unbedeutend scheinenden Fehlleistungen als auch für »schwere Unglücksfälle«, bei denen die »Analyse den Anteil des eigenen, wenn auch nicht klar eingestandenen Willens enthüllen« (GW 8, 394f.) kann. Das bedeutet zum einen, daß unsere Welt wieder verstärkt als sinnhaft strukturierte erfahren werden kann – insofern beerbt die Psychoanalyse auch in dieser Weise die Trostfunktion der Religion –, zum anderen bedeutet es jedoch auch eine höchst ambivalente Geste der Zuschreibung von Verantwortung und Entmündigung in einem. Denn der Akteur dieser sinnvollen Handlungen ist der unbewußte Wille, nicht das Ich. Zur Eigentümlichkeit des psychoanalytischen Sinnes gehört es, daß er dem Patienten nicht bekannt ist (GW 13, 216) und erst in der gemeinsamen Verstehensarbeit von Analysand und Analytiker zu Tage gefördert werden muß. Der Sinn hört auf ein einheitlicher zu sein und teilt sich in einen unbewußten, verborgenen und einen bewußten, an der Oberfläche liegenden Sinn auf oder spezifischer, wie es in der ›Traumdeutung‹ heißt, in den latenten und manifesten Sinn von Ausdrucksformen (GW 2/3, 283, 530). Freuds Zerteilung des Sinns hat wirkungsmächtig in die Hermeneutik des 20. Jahrhunderts Einzug gehalten, die Dekonstruktion, die neuere Gedächtnisforschung,453 wären ohne ihn nicht denkbar. Hans-Georg Gadamer skizziert diesen Wandel mit folgenden Worten: »Interpretation wird ein Ausdruck für das Zurückgehen hinter die offenkundigen Phänomene und Gegebenheiten.«454 Freud selbst hat seine Unterscheidung in die Tradition der Kantischen Erkenntniskritik gestellt:

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Vgl. R. Lachmann, Gedächtnis und Literatur, S. 76–87; J. Assmann, Moses der Ägypter, S. 277ff.; J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung, S. 124–134. H.-G. Gadamer, Hermeneutik als praktische Philosophie, S. 43.

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Es handle sich um eine »Korrektur der inneren Wahrnehmung« (GW 10, 270), die nun für das Psychische Wirklichkeit und Erscheinung auseinanderhalte, wie es Kant im Hinblick auf die Naturerkenntnis getan habe. Der Gegensatz von unbewußt / bewußt bzw. latent / manifest verbindet sich in der Psychoanalyse Freuds mit jenem von direkten und indirekten Ausdrucksformen.455 Die Analyse mit ihrer Unterscheidung zweier Sinnebenen beginnt ihre Arbeit dort, wo sie sich indirekten Ausdrucksformen gegenüber sieht wie im Falle der Körpersprache hysterischer Konversion, der Traumsprache oder den Fehlleistungen. Denn in einem »psychischen Konflikt« werden bestimmte Vorstellungen »vom direkten Ausdruck abgedrängt und auf indirekte Wege gewiesen« (GW 8, 392). Die Psychoanalyse bestimmt sich also als Lehre vom Verstehen indirekter Ausdrucksformen. Sie könnte auch als Lehre vom Verstehen metaphorischen Sprechens bezeichnet werden, legt man die ursprüngliche Bedeutung von metaphora als uneigentlicher Rede zugrunde. Freuds Überlegungen zur Psychoanalyse als Deutungs- und Übersetzungstechnik schöpfen in mehrfacher Hinsicht die alte rhetorische Wortbedeutung der Metapher aus.456 Systematisch bringt Freud diesbezüglich zwar den Symbolbegriff ins Spiel, wie oben bereits im Hinblick auf die hysterische Konversion skizziert wurde, etymologisch genauer sind es jedoch die Bedeutungsschichten der griechischen metaphora, der lateinischen translatio und der ihr impliziten Ersetzungs-, Assoziations- und Übersetzungslogik, die die Rede von der Psychoanalyse als Deutungskunst prägen. Das griechische ›metaphorein‹ meint das ›anders wohin tragen‹ von Bedeutungen, die Übertragung, die Verquickung oder auch den Sprung zwischen Bedeutungsbereichen. Die Psychoanalyse verfolgt die Konversion psychischer Konflikte in körperliche Symptome oder in die Verdichtung von Traumbildern. Im metaphorischen Sprechen wird aufgrund einer Ähnlichkeit (similitudo) anstatt eines verbum proprium ein anderes gesetzt (immutatio, translatorum). Zentrales im ›Entwurf‹ genanntes »Assoziationsgesetz« der hysterischen Konversion oder der Traumbildung ist neben der Gleichzeitigkeit die »Ähnlichkeit« (GW Nachtr., 453, s. 433, 440f.). Und der alten rhetorischen Substitutionslehre der Metapher entsprechend, die von einem einfachen Ersetzungsverhältnis zwischen verbum proprium und improprium ausgeht, glaubt auch die Psychoanalyse an die prinzipielle Rückübersetzbarkeit des uneigentlichen Ausdrucks in den eigentlichen. Eines ist ›Ersatz‹ für das andere (GW 13, 212 u.a.). Der Symbolbegriff wird später im Kontext der Traumdeutung geradezu als eine solche eins zu eins Übersetzung definiert, die darüber hinaus 455

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Siehe hierzu vor allem die 7. Vorlesung ›Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken‹ der ›Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse‹, wo Freud die Begriffspaare unbewußtbewußt, eigentlich-uneigentlich, latent-manifest miteinander verbindet, GW 11, 111f., 118. Vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, S. 285; Metzler Literatur Lexikon. Hrsg. von G. und I. Schweikle, S. 301; Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Hrsg. von R. Schnell, S. 305.

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eine konstante sei.457 Der lateinische Ausdruck translatio für Metapher kommt hier insbesondere ins Spiel. Es handelt sich darum, »unbewusste Vorgänge in bewußte«, die »Sprache des Traumes in die ohne weitere Nachhilfe verständliche Ausdrucksweise unserer Denksprache [zu] übersetzen«, um »Übersetzungen aus einer uns fremden Ausdrucksweise in die unserem Denken vertraute« und um eine »Übersetzung des pathogenen Materials in normales« (GW 17, 147; GW 8, 403; GW 5, 172, 279). Bei Körper- und auch Traumsprache handelt es sich um Übersetzungen von »in hohem Grade archaischen Ausdruckssystemen« (GW 8, 403). So erinnert Freud anläßlich der Entzifferung körperlicher Symptome an das Entdeckungsszenarium der Hieroglyphenschrift. Jean-Francois Champollion war es 1824 gelungen, den Code dieser Bilderschrift zu entschlüsseln, angeleitet durch den Stein von Rosette, eine Basaltstele auf der ein Text in drei Schriften, in Hieroglyphen, in demotischen Schriftzeichen und in Griechisch, zu lesen war. »Wir hatten oft die hysterische Symptomatologie mit einer Bilderschrift verglichen, die wir nach Entdeckung einiger bilinguer Fälle zu lesen verstünden. In diesem Alphabet bedeutet Erbrechen Ekel.« (SH, 147; vgl. GW 11, 236f.) Dieser rhetorischen Substitutionslogik verdankt sich auch Freuds hermeneutischer Optimismus, der sich in Wendungen bekundet, wie der unbewußte »Sinn« indirekter Ausdrucksformen werde »durch analytische Bemühungen leicht gefunden« und die psychoanalytischen »Übersetzungskünste« seien »leicht zu erlernen« (GW 13, 216; GW 5, 280). Die moderne erkenntnis- und sprachkritische Einsicht, die Metapher könne Ausdruck für etwas sein, was sich anders nicht sagen lasse, scheint in solchen Formulierungen keinerlei Widerhall zu finden. Daß es sich in der Praxis mit der psychoanalytischen Lehre vom Verstehen nicht ganz so einfach verhält, das zeigen u.a. Freuds ›Studien über Hysterie‹ eindrücklich. Zum einen handelt es sich beim psychoanalytischen Verstehen nicht um eine Übersetzung von Einzelelementen der Wortsprache, sondern um die Rekonstruktion eines Bedeutungstransfers zwischen verschiedenen Sprachformen mit eigener Grammatik. Diese verschiedenen Sprachformen stehen zudem nicht in einem einfachen Ersetzungsverhältnis, sondern überlagern einander, so daß die hysterische Konversion als ein ›Mitsprechen‹ (SH, 313) des Körpers zu bezeichnen ist. Felix Deutsch hat diesen Sachverhalt in der Formulierung festgehalten, die Psychoanalyse gehe von einer »körperlichen und einer lautlichen« »Doppelsprache« des Patienten aus. In ihrer Hermeneutik erhalte auch »jeder körperliche Vorgang Sinn und Bedeutung.«458 Mit diesem letzten Punkt ist das entscheidend Neue der psychoanalytischen Lehre vom Verstehen bezeich-

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»Eine solche konstante Beziehung zwischen einem Traumelement und seiner Übersetzung heißen wir eine symbolische, das Traumelement selbst ein Symbol des unbewußten Traumgedankens.« GW 11, 152. F. Deutsch, Der gesunde und der kranke Körper in psychoanalytischer Betrachtung, S. 22.

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net: Sie nimmt die Körpersprache analog zur Wortsprache nicht als natürliche, sondern als ›künstliche‹, ›bedeutungstragende‹ wahr. Hierin entfernt sie sich nachdrücklich von der alten Substitutionslogik. In den ›Studien über Hysterie‹ ist das körperliche Symptom ähnlich dem Wort ein arbiträres Zeichen, sein Sinn beruht auf willkürlicher (aber unbewußter) Bedeutungszuschreibung. Das Symptom hört in der hysterischen Konversion auf, natürliches Zeichen für eine organische Krankheit zu sein, vielmehr repräsentiert es jetzt einen psychischen Konflikt. Der Körper wird in das Zeichenspiel der Verweisungen eingeführt und das körperliche Symptom gilt nun, wie das aus der Sprachwissenschaft bekannt ist, als ein mehrdeutiges Zeichen. Neurotische Symptome, Träume und dichterische Schöpfungen sind gleichermaßen einer »Überdeutung« (GW 2/3, 272) fähig; in der Sprache der Psychoanalyse ist meist von einer ›Überdeterminierung‹ des Symptoms die Rede.459 Es kann nicht nur ein Trauma, sondern »Reihen von Partialtraumen und Verkettungen von pathogenen Gedankengängen« (SH, 304) repräsentieren. Freuds Konflikttheorie gemäß ist das körperliche Zeichen jedenfalls immer Ausdruck von mindestens zwei widerstreitenden Bedeutungen, denn es ist eben Repräsentant eines psychischen Konfliktes.460 Und darüber hinaus ist ein einmal etabliertes Zeichen einem vielfachen Bedeutungswandel zugänglich. Dieses Phänomen wurde im vorangehenden Kapitel bereits unter dem Gesichtspunkt der physiologischen Trägheitslehre angesprochen, jetzt zeigt es auch seine zeichentheoretische Relevanz. Ein »Symptom [entspricht] ganz regelmäßig mehreren Bedeutungen gleichzeitig« und es kann »auch mehreren Bedeutungen nacheinander Ausdruck geben […]. Das Symptom kann eine seiner Bedeutungen oder seine Hauptbedeutung im Laufe der Jahre ändern« (GW 5, 213). Analog zu der von Ferdinand de Saussure im frühen 20. Jahrhundert festgehaltenen Spaltung des Zeichens in Signifikant und Signifikat, in Zeichenkörper und Bedeutung, unterscheidet Freud einen »somatischen Anteil des hysterischen Symptoms als das beständigere, schwerer ersetzbare«, und einen »psychischen als das veränderliche, leichter zu vertretende Element« (GW 5, 214). Ebenso wie im Falle des sprachlichen Zeichens besteht auch beim hysterischen Symptom eine ›beliebige‹, ›assoziative‹ Verbindung zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem.461

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Vgl. SH, 230f., 278f., 306f.; J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, S. 544ff. Die Vieldeutigkeit psychischer Phänomene in der Psychoanalyse ist auch Gegenstand von Schnitzlers Kritik, vgl. A. Schnitzler, Über Psychoanalyse; H. Thomé, Freud als Erzähler, S. 476. »Das Symptom ist nicht bloß der Ausdruck eines realisierten unbewußten Wunsches; es muß noch ein Wunsch aus dem Vorbewußten dazukommen, der sich durch das nämliche Symptom erfüllt, so daß das Symptom mindestens zweifach determiniert wird, je einmal von einem der im Konflikt befindlichen Systeme her.« GW 2/3, 575. Vgl. Saussures Formulierung: »Das Band, welches das Bezeichnete mit der Bezeichnung verknüpft, ist beliebig; und da wir unter Zeichen das durch die assoziative Verbindung einer Bezeichnung mit einem Bezeichneten erzeugte Ganze verstehen, so können wir dafür auch

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Es ist allerdings nicht nur von seiten der Psychoanalyse eine Annäherung an die Semiologie zu konstatieren, sondern diese selbst unterhält eine psychosomatische Metaphorik. Saussure wendet sich kritisch gegen jene Tradition, die »mit doppeltem Antlitz ausgestattete Einheit« des Zeichens »mit der Einheit des Menschen, die aus Körper und Seele zusammengesetzt ist«, zu vergleichen, während sich die Zeichentheorie Edmund Husserls einer solchen Gleichnisrede affirmativ bedient.462 Jacques Derrida und Julia Kristeva verhandeln diese Metaphorik in ihrem Gespräch über ›Semiologie und Grammatologie‹ als metaphysisches Erbe der Zeichentheorie,463 historisch genauer wäre wohl auf deren medizinische Herkunft aufmerksam zu machen. Im 18. Jahrhundert, in einer Zeit, in der es noch kaum Möglichkeiten zur Messung von Körpervorgängen wie der Temperatur oder zur chemischen Analyse von Blut und Urin gab, gehörte jene ›Semiotik‹, ›Semiologie‹ oder auch einfach ›Zeichenlehre‹ genannte Disziplin zu den medizinischen Hauptfächern. Als eine Lehre von den Krankheitszeichen vermittelte sie Kenntnisse über den Zusammenhang von Veränderungen des Pulses, des Blutes, des Stuhlgangs etc. und Krankheitsbildern, und war so zentraler Bestandteil von Diagnose und Prognose.464 In seinem ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ führte Moritz analog zum Körper eine eigenständige Rubrik für ›Seelenzeichenkunde‹ ein, die sich mit Physiognomik, Mimik und Gestik befaßte. Mit der Überdeterminierung hysterischer Symptome führt nun Freud in diese alte medizinische Zeichenlehre eine Mehrdeutigkeit ein, die jener in der sprachlichen Zeichentheorie nahezu zeitgleich durch die Arbitrarität des Zeichens benannten korrespondiert. Aus einigen Formulierungen Freuds insbesondere im Zusammenhang mit der Überdeterminierung von Traumsymbolen ließe sich fast Derridas Radikalisierung von Saussures Zeichentheorie als

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einfacher sagen: das sprachliche Zeichen ist beliebig.« F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], S. 79. F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft [1916], S. 123. Husserl bestimmt das Zeichen als »Einheit« von »physischer Worterscheinung mit dem beseelenden Moment der Bedeutung«, E. Husserl, Logische Untersuchungen II/2, S. 28. Siehe auch die spätere Formulierung; »Wir knüpfen an die bekannte Unterscheidung zwischen der sinnlichen, sozusagen leiblichen Seite des Ausdrucks und seiner unsinnlichen, ›geistigen‹ Seite an.« E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Erstes Buch, S. 303. Vgl. J. Derrida, Semiologie und Grammatologie, S. 141, 155. Zu Derridas Kritik an Husserls ›leib-seelischem‹ Schichten-Modell des Zeichens siehe M. Frank, Was ist Neostrukturalismus? S. 288–295. Vgl. K. Pfeiffer, Medizin der Goethezeit, S. 36. Im Zedler ist zu lesen: »SEMIOTICA, Semiotick, Semiotic, oder besser zu reden, die Semiologie, Lat. Semeiotica, ist ein Theil der Medicin, welcher von den Zeichen der Kranckheit und Gesundheit handelt, und die Kranckheiten nicht nur wohl zu erkennen und zu unterscheiden, sondern auch dererselben Ausgang vernünftig zu beurtheilen lehret.« Ihre »Particular-Historie« handelt »z.E. vom Pulse, dem Urin [...], ferner von dem Stuhlgange, dem Blute, dem Schweisse, Speichel, der Zunge, dem Gesichte, den Nägeln«, J. H. Zedler, Grosses vollstaendiges Universal-Lexikon, Bd. 36 [1743], Sp. 1758–1762.

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unendlicher Aufschub des Sinns heraushören. So kann »man eigentlich niemals sicher« sein, »einen Traum vollständig gedeutet zu haben«, »bleibt es doch immer möglich, daß sich noch ein anderer Sinn durch denselben Traum kundgibt«. Und es heißt im weiteren: »Die Traumgedanken, auf die man bei der Deutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzartige Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen.« (GW 2/3, 285, 530) In therapeutisch-pragmatischer Hinsicht ist die psychoanalytische Hermeneutik allerdings an einer Festschreibung des Sinns und an einer Bändigung der Vieldeutigkeit von Körperzeichen interessiert. Sie tut dies durch die Annahme von chronologischen und logischen Bedeutungsketten, die der Deuter abzuschreiten hat, um von den vieldeutigen »oberflächlichen« Schichten hysterischer Gebärden- und Körpersprache »in tiefe Schichten«, um »von der Peripherie her zum zentralen Kerne« des psychischen Konflikts zu gelangen. Den Nachvollzug psychosomatischer Bedeutungslogik habe man sich ähnlich dem »Zickzack der Lösung einer Rösselsprungaufgabe« (SH, 306) vorzustellen. Deutlich vereinfacht wird das psychoanalytische Verstehen hingegen durch die chronologische Bedeutungsverkettung. Hier geht, so die Annahme, eine einfache Zeitlinie von der Gegenwart des hysterischen Symptoms über verschiedene Zeitstufen mit möglichen Partialtraumen und -bedeutungen zurück bis zur Kindheit, wo der zentrale psychische Konflikt und mithin auch das Ende der Deutungsanstrengungen zu finden ist. So ist Freud im Falle Elisabeth von R.’s selbst überrascht, wie »unfehlbar chronologisch geordnet die einzelnen Szenen, die zu einem Thema gehörten, sich einstellten. Es war, als läse sie in einem langen Bilderbuche, dessen Seiten vor ihren Augen vorübergezogen würden.« (SH, 172) Auch bei Cäcilie M. erstaunt Freud die »Reihenfolge« der Szenen: »Es war wie eine Reihe von Bildern mit erläuterndem Texte.« (SH, 197) Zeitlich handelt es sich beim psychoanalytischen Verstehen also um einen wohlgeordneten Prozeß des Zurücklesens der Krankengeschichte. Später wird sich Freud die Vieldeutigkeit hysterischer Symptome zudem noch auf deren sexuelle Natur verkürzen.465 Im Falle Dostojewskis kann dadurch der »komplizierte Bedeutungswandel hysterischer Symptome« unfehlbar auf den ödipalen »ursprünglichen Sinn«, die »Absicht des Vatermordes« (STA 10, 280) reduziert werden. So originell Freud mit der Zerteilung des Sinns in einen manifesten und einen latenten auch ist, so innovativ die Einspeisung des Körpers in das Spiel arbiträrer Zeichen erscheint, bewegen sich seine Überlegungen zum psychoanalyti465

»Wenn man [...] den psychischen Traumen, von denen sich die hysterischen Symptome ableiteten, immer weiter nachspürte, gelangte man endlich zu Erlebnissen, welche der Kindheit des Kranken angehörten und sein Sexualleben betrafen, und zwar auch in solchen Fällen, in denen eine banale Emotion nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit veranlaßt hatte.« GW 5, 151f.

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schen Verstehen doch im Horizont der Hermeneutiken des 19. Jahrhunderts. Einer der ersten Begriffe dieser Kunstlehren ist nach Ast und Schleiermacher der des Fremden, das gegeben sein muß, damit die Arbeit des Verstehens überhaupt erst in Gang gesetzt wird. Läge ein sofortiges, intuitives Verständnis vor, wäre eine besondere Technik des Hörens oder Lesens gar nicht notwendig. Das »Geschäft der Hermeneutik« beginnt nach Schleiermacher also erst dort, »wo es im Ausdruck der Gedanken durch die Rede für einen Vernehmenden etwas Fremdes gibt, da sei eine Aufgabe, die er nur mit Hilfe unserer Theorie lösen könne«.466 Mit seiner Rhetorik vom Fremdkörper und vom ›inneren Ausland‹ knüpft Sigmund Freud an diese Einsicht an und benennt für seine Wissenschaft die Hysterie als jene fremde Rede, die eine eigene Technik des Verstehens provoziert habe. Denn der »hysterische Zwang ist«, wie es im ›Entwurf‹ heißt, »1. unverständlich, 2. durch Denkarbeit unlöslich, 3. in seinem Gefüge inkongruent« (GW Nachtr., 439). Korrespondierend zum Fremden als Auslöser bedarf es für die Arbeit des Verstehens jedoch auch hinreichender Gemeinsamkeiten, damit überhaupt Anknüpfungspunkte für den Prozeß der Umwandlung von Fremdem in Bekanntes vorhanden sind. Das Gebiet der Hermeneutik ist seit Schleiermacher damit durch diese zwei Pole bestimmt, daß es »etwas Fremdes«, aber »auch schon etwas Gemeinsames gibt.«467 Nur dann ist Verstehen möglich. Das geforderte Gemeinsame kann sich zum einen auf die Gesprächspartner beziehen, die aufgrund ihrer gleichartigen anthropologischen Verfassung einander verstehen können. Von dieser Form der Homologie spricht Freud zwar nicht allzu häufig – die psychopathischen Personen auf der Bühne, die nur auf ein hinreichend neurotisches Publikum wirken können, wurden bereits erwähnt –, jedoch an theoretisch relevanter Stelle, indem die Kommunikation zwischen Arzt und Patient als Gespräch zwischen dem Unbewußten des einen und dem Unbewußten des anderen stilisiert wird. Zum Teil finden sich Anklänge an eine ›Einfühlungshermeneutik‹, derzufolge das Verständnis eines anderen aufgrund eines Projektionsvorganges von eigenen Erfahrungen auf diejenigen anderer vonstatten geht. Im ›Entwurf‹ bestimmt Freud das zwischenmenschliche Verstehen als komplexesten Erkenntnisvorgang, da uns der »Nebenmensch« in einer Funktionsvielfalt von »Befriedigungsobjekt«, »feindlichem Objekt« und »helfender Macht« entgegentritt: »Am Nebenmenschen lernt darum der Mensch erkennen.« (GW Nachtr., 426) Als »Verstehen« wird hier die Zergliederung eines Wahrnehmungskomplexes in einen »unassimilierbaren [Teil]« und »einen dem Ich aus eigener Erfahrung bekannten (Eigenschaft, Tätigkeit)« (GW Nachtr., 457) definiert. Die Körpergesten eines anderen, z.B. seine »Handbewegungen« 466

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F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 135. Schleiermacher bezieht sich hier radikalisierend auf Überlegungen Asts, der »Grundsätze« des Verstehens vor allem dann für dringlich hält, »wenn wir aus unserer geistigen und physischen Welt in eine fremde übergehen«, F. Ast, Hermeneutik, S. 111. F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 135f.

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werden also »im Subjekt über die Er[innerung] eigener, ganz ähnlicher visueller Eindrücke vom eigenen Körper fallen, mit denen die Er[innerungen] von selbst erlebten Bewegungen in Assoziation stehen.« Verstehen bedeutet damit die erinnernde Zurückführung von Wahrnehmungselementen »auf eine Nachricht vom eigenen Körper« (GW Nachtr., 426f.). Auch die fremde Rede hysterischer Körperzeichen läßt sich so aufgrund eigener oder, abstrakter formuliert, allgemein menschlicher Erfahrungen mit Körpergesten als Ausdruck des Seelenlebens deuten: »Wenn ich einen Menschen in einem Zustande finde, der alle Zeichen eines schmerzhaften Affekts an sich trägt, im Weinen, Schreien, Toben, so liegt mir der Schluß nahe, einen seelischen Vorgang in diesem Menschen zu vermuten, dessen berechtigte Äußerung jene körperlichen Phänomene sind.« (GW 1, 30)468 Ungeachtet der Schwierigkeiten, die eine Einfühlungshermeneutik gerade am Wechselspiel von Körpergestik und Seele bekommt, da dieser Zusammenhang ja gerade nicht ins eigene Gesichtsfeld fällt, finden sich bei Freud jedoch auch skeptischere Töne im Hinblick auf das zwischenmenschliche Verstehen. In einem Brief an Lytton Strachey benennt Freud anläßlich von dessen biographischem Werk ›Elizabeth and Essex‹ (1928) die Grenzen des historischen und auch des psychoanalytischen Verstehens: Sie bekennen, worüber der Historiker sich sonst so leicht hinwegsetzt, daß es unmöglich ist, die Vergangenheit sicher zu verstehen, weil wir die Menschen, ihre Motive, ihr seelisches Wesen nicht erraten und darum ihre Handlungen nicht deuten können. Unsere psychologische Analyse reicht selbst bei Nahestehenden oder Mitlebenden nicht aus, außer, wenn wir sie zu Objekten mehrjähriger, eindringlicher Untersuchungen nehmen konnten, und bricht sich selbst dann an der Unvollkommenheit unserer Erkenntnis, an der Ungeschicklichkeit unserer Synthese.

Allerdings darf auch die optimistische, hermeneutische Volte nicht verschwiegen werden, die diesen skeptischen Präliminarien folgt. Denn ohne jede Überleitung versichert der Briefschreiber dem »vom Geist der Psychoanalyse« durchtränkten Autor Strachey, daß dieser durch die Rückführung des von ihm dargestellten Charakters auf »Kindheitseindrücke« möglicherweise den »wirklichen Hergang richtig« (GW Nachtr., 665f.) rekonstruiert habe. Das Gemeinsame als Anknüpfungspunkt für das Verstehen kann sich zum anderen jedoch auch auf die Rede selbst und nicht nur auf die beteiligten Verstehenspartner beziehen. Von dieser Form, Fremdes in Bekanntes zu verwandeln, macht Freud weitläufig Gebrauch. Zunächst wird der fremde Ausdruck der Hysterie im ›Entwurf‹ in Analogie gesetzt zu den normalen Ausdrucksmechanismen des psychophysischen Apparates. Dieses Vorgehen, vom Normalen auf die Abweichung, vom Gesunden auf das Pathologische zu schließen, erweist

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»Fast alle seelischen Zustände eines Menschen äußern sich in den Spannungen und Erschlaffung seiner Gesichtsmuskeln, in der Einstellung seiner Augen, der Blutfüllung seiner Haut«, GW 5, 293f.

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sich jedoch angesichts der Fiktivität des hier anvisierten Apparates als nicht gangbar. Ertragreicher zeigt sich das ebenfalls im ›Entwurf‹ praktizierte Verfahren, die Hysterie mit anderen abweichenden Sprachformen, etwa mit den »teils widersinnigen, teils schwachsinnigen, oder auch sinnlosen« »Traumverknüpfungen« (GW Nachtr., 433) in Verbindung zu bringen. Auf dem Wege einer analogischen Argumentation sollen sich in der Folge die Hysterie, der Traum, der Witz, die Kunst, die Fehlhandlungen, die Versprecher und die Sprache des Alltags wechselseitig kommentieren. Zwischen den Polen des gänzlich Fremden und des vollständig Bekannten zeichnet sich auf diesem Weg in Freuds Texten ein fein abgestimmtes Kaleidoskop der Abweichungen ab. Und im Spiegelbild des Neurotikers soll das Seelenleben des Gesunden sichtbar werden. Denn die eigentümliche Dialektik von Freuds analoger Argumentation verkehrt Fremdes und Bekanntes in der Form, daß die vorgängig in Befremdung wahrgenommenen Ausdrucksweisen der Neurose im Laufe der Jahre zur überzeichneten, d.h. aber auch scharf gezeichneten und damit einzig erkennbaren Oberfläche eines Seelenlebens werden, das ansonsten in seiner Tiefenstruktur gänzlich fremd und unerkannt bliebe.469 Das »Normal-Ich« erscheint zunehmend mehr als »Idealfiktion«, während sich das »abnorme« (GW 16, 80) als die eigentliche Normalität zeigt. Schließlich sind Freuds Reflexionen über das Verstehen zutiefst von jener eigentümlichen Beziehung zwischen Teil und Ganzem geprägt, die im hermeneutischen Zirkel zum Ausdruck kommt.470 Dieser erhält nun in der Psychoanalyse eine medizinische Bedeutung, indem das zu Verstehende, das Kranke als Teil, Fragment oder Bruchstück angesehen wird, während das Ganze, der Zusammenhang das Gesunde darstellt. Nach Hegels Diktum: »Das Wahre ist das Ganze«,471 führt die Psychoanalyse Freuds die Variante: das Gesunde ist das Ganze, in die Kulturgeschichte ein. Und damit kennt die Psychoanalyse auch einen dritten, hermeneutischen Begriff der Krankheit, der zu den zuvor skizzierten ökonomischen und dynamischen Krankheitsbegriffen – Krankheit als erhöhter Spannungszustand und als defizitäre Konfliktlösung –, hinzutritt. Die Therapie, die Heilung vollzieht sich in diesem Szenario über die Integration des Teils ins Ganze, über die Interpretation. Als Gestalten des Fragmentarischen, Bruchstückhaften treten in der Psychoanalyse das hysterische Symptom, das Trauma, die isolierte psychische Gruppe, die Zwangsvorstellung etc. auf. Während das Ganze als Kausalität, Kohärenz, Kongruenz, Synthese, Zusammen-

469

470 471

Damit hat Freud Nietzsches vermutlich gegenüber Dilthey formulierte Kritik an den Geisteswissenschaften als methodisches Programm umgesetzt: »Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu ›erkennen‹, das heißt als Problem zu sehen, das heißt als fremd, als fern, als ›außer uns‹ zu sehn«, KSA 3, 594. Zur Psychoanalyse als Vollzug des hermeneutischen Zirkels vgl. H. Lang, Ethik und psychoanalytische Hermeneutik, S. 141f., 147. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 24.

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hang oder als lückenfreie, vollständige Erzählung der Lebensgeschichte eines einzelnen bezeichnet wird. Bei der Therapie geht es also darum, Kausalität herzustellen oder, wie es in den Texten heißt, die »Kette der Verursachungen« zu vervollständigen bzw. eine »Störung« »auf ihren Ursprung« zurückzuführen (SH, 158; GW 7, 118). In der Analyse soll das Bruchstück mit seinem Text und Kontext versöhnt werden: So sei etwa »die Vereinigung der abgespaltenen psychischen Gruppe mit dem Ichbewußtsein« durchzusetzen, und »Fragmente« manifester Traumelemente seien in der »Deutungsarbeit« »zum Ganzen zu vervollständigen« (SH, 143; GW 11, 119). Die von einer, mit der politischen Zeitungszensur verglichenen psychischen Zensurinstanz hervorgerufenen »leeren Stellen« und »Auslassungen« (GW 11, 139f.) im psychischen Material sollen rekonstruiert werden. Vor allen Dingen handelt es sich aber um eine narrative Aufgabe: Denn es gilt, die »innige Beziehung zwischen Leidensgeschichte und Krankheitssymptomen« (SH, 180) zu erzählen. Aus den »seichten«, mit »Lücken und Rätseln« behafteten »Auskünften« des Patienten soll eine erst gegen »Ende der Behandlung« erzählbare, »in sich konsequente, verständliche und lückenlose Krankengeschichte« (GW 5, 174f.) werden. Damit tritt der Zusammenhang als Merkmal des gesunden Lebens in Freuds Psychoanalyse ähnlich prominent hervor wie in Wilhelm Diltheys verstehender Psychologie, wo dieser »als das Leben selbst« (V, 152) erschien. Gesundheit, also eine lückenlose und verständliche Lebensgeschichte entsteht in Ko-Autorschaft von Patient und Analytiker, indem der Patient den fragmentarischen Text liefert und der Analytiker ihn interpretierend ergänzt. Die dazu notwendigen analytischen Operationen lassen sich mit den grundlegenden, seit Schleiermacher geläufigen Typen des Verstehens fassen. Die divinatorische Methode oder das psychologische Verstehen besteht darin,472 daß »der Ausleger sich in die ganze Verfassung des Schriftstellers möglichst hineinversetzt« und die »individuelle Kombinationsweise eines Autors«473 errät. Auch der Analytiker ist am Patienten als einem individuellen Autor mit einer eigenen Kunstsprache der Körpergesten, der Traumbilder, der Verschiebungen oder Entstellungen interessiert. Die Psychoanalyse ist sogar jene Lehre vom Verstehen, die die divinatorische Nachbildung »schöpferischer Akte« »aus dem Zustand der Gedankenerzeugung, in welchem der Autor begriffen war«, aus dem »Bedürfnis des Moments«474 heraus wissenschaftlich perfektioniert hat. Schließlich geht es ihr darum, die Entstehungszusammenhänge von Symbolisierungen in einzelnen biographischen Szenen systematisch zu erschließen, zurückgehend bis auf jenen Zustand, der auch für Schleiermacher und seine

472 473 474

Vgl. F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 144f.; Dilthey, V, 330f. F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 139. F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 146.

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Zeit der künstlerisch produktivste gewesen ist, nämlich die Kindheit.475 Die komparative Methode oder das grammatische Verstehen476 nimmt den Text im Kontext von »Sprache und Geschichte«, der historisch-kulturellen »Gesamtheit seiner Verhältnisse« wahr.477 Und auch Freud liest die Ausdrucksformen seiner Patienten auf der Folie von allgemeinen Sprachcodes und zeitgenössischen Körper- und Sexualpraktiken sowie auf dem Hintergrund damaliger familiärer Umgangsformen und geschlechtlicher Rollenerwartungen. Da es sich bei den ihm vorliegenden Mitteilungsformen jedoch um indirekte handelt, müssen die entsprechenden allgemeinen Sprachcodes, die vergleichend hinzuzuziehen wären, zum Teil erst noch ermittelt werden. So lassen sich für das Verständnis der Körpersprache der Hysterie sowohl Charles Darwins ›The Expressions of the Emotions in Man and Animals‹ heranziehen, wie auch das Drama und die bildende Kunst, mit den in ihr archivierten Bildern religiöser Ekstase.478 Ein Lexikon der Traumsymbole hat die Psychoanalyse selbst hervorgebracht. Am eindrücklichsten hat sich die psychoanalytische Hermeneutik vielleicht jenen Grundsatz der Kunstlehren des Verstehens zu eigen gemacht, der besagt, »die höchste Vollkommenheit der Auslegung sei die, einen Autor besser zu verstehen, als er selbst von sich Rechenschaft geben könne«.479 Dieser Grundsatz, der in Novalis’ Formulierung lautet, der »wahre Leser« soll ein »erweiterter Autor« (HKA II, 470) sein, bedeutet gegenüber den Genieästhetiken eine deutliche Demokratisierung des Verhältnisses von Autor und Leser, Text und Interpretation. Mit der psychoanalytischen Adaption dieses Grundsatzes verändert sich die Waagschale noch einmal ganz deutlich zugunsten des Lesers bzw. der Interpretation. Denn diese Wissenschaft nimmt eine strukturelle Überlegenheit des Interpreten gegenüber dem Autor an. Die Analyse setzt »die Situation eines Überlegenen und eines Untergeordneten voraus.« (GW 10, 93) Schon die Beschwerden, mit denen der Patient zum Arzt kommt, sein hysterisches Symptom oder seine Zwangsvorstellung, sind ein sprechender Beweis dafür, daß diese Person nicht adäquat ›von sich Rechenschaft‹ geben kann und mit ihren Versuchen einer Selbstverständigung an ihre Grenzen geraten ist. Dieser unverständige Autor und der fragmentarische, unverständliche Text seiner Krankheit bedürfen der hermeneutischen Kompetenz des Analytikers.480 Die ›lückenlose, vollständige, in sich konsequente Krankengeschichte‹, die als Ideal den analytischen Anstrengungen vorschwebt, ist darum eine tatsächliche Gemeinschafts-

475 476 477 478 479 480

Vgl. M. S. Baader, Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Vgl. F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 144f.; Dilthey, V, 330f. F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 140, 145. Vgl. J.-M. Charcot, P. Richer, Die Besessenen in der Kunst. F. Schleiermacher, Über den Begriff der Hermeneutik, S. 145. Siehe auch die gleich lautende Formulierung bei Dilthey, V, 331. Gadamer nennt die psychoanalytische Situation darum eine »hermeneutische Grenzsituation«, H.-G. Gadamer, Hermeneutik als praktische Philosophie, S. 50.

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arbeit von Autor und Leser, und das Endprodukt ist ein Gewebe, in dem Text und Interpretation eine ununterscheidbare Verbindung eingegangen sind. »Der Analytiker bringt ein Stück Konstruktion fertig, teilt es dem Analysierten mit, damit es auf ihn wirke; dann konstruiert er ein weiteres Stück aus dem neu zuströmenden Material, verfährt damit auf dieselbe Weise, und in solcher Abwechslung weiter bis zum Ende.« (GW 16, 47) Darin drückt sich eine weitere Variante des obigen Grundsatzes aus, nicht nur soll der Leser den Autor besser verstehen als dieser sich selbst, sondern auch der Text geht diesem Grundsatz gemäß eine eigentümliche Verbindung mit seinen Interpretationen ein. Die Interpretation bleibt dem Text nicht äußerlich, sondern sie gehört diesem als einer offenen hermeneutischen Struktur an, die der jeweiligen Aktualisierung bedarf.481 Paradox formuliert ist der Text ein Ergebnis der Interpretation und liegt dieser nicht voraus. Die Psychoanalyse Freuds schreibt mit ihrer Wahrnehmung der Krankheit als Text und gerichteter Rede an diesem offenen hermeneutischen Textverständnis weiter. So geht auch sie nicht von der Annahme aus, daß hinter dem fragmentarischen Text des Patienten ein ursprünglicher, vollständiger läge, der einfach zu rekonstruieren wäre, sondern sie bezeichnet ihre Endprodukte mit Bedacht als ›Konstruktionen in der Analyse‹ (1937). Denn es geht darum, »das Vergessene aus den Anzeichen, die es hinterlassen, zu erraten oder, richtiger ausgedrückt, zu konstruieren.« (GW 16, 45) Freud vergleicht in dieser Hinsicht sogar die psychoanalytische Interpretation mit einer Wahnvorstellung, die als Selbstheilungsmechanismus ebenfalls die Funktion hat, einen fragmentarischen psychischen Zusammenhang zu ergänzen. Nur tut sie dies mit therapeutisch unzureichenden Mitteln. Womit, nebenbei gesagt, auch noch einmal auf den hermeneutischen Grundsatz einer Homologie zwischen Auslegung und Auszulegendem hingewiesen wäre. Die Wahnbildungen der Kranken erscheinen mir als Äquivalente der Konstruktionen, die wir in den analytischen Behandlungen aufbauen, Versuche zur Erklärung und Wiederherstellung, die unter den Bedingungen der Psychose allerdings nur dazu führen können, das Stück Realität, das man in der Gegenwart verleugnet, durch ein anderes Stück zu ersetzen, das man in früher Vorzeit gleichfalls verleugnet hatte. (GW 16, 55)

Die Geschichte, die durch die Erzählung des Patienten und die Interpretation des Analytikers entsteht, muß nicht die historische Wahrheit treffen, sondern eine beim Patienten erzielte »sichere Überzeugung von der Wahrheit der Konstruktion« leistet »therapeutisch dasselbe« (GW 16, 53) wie diese selbst. Für den Heilungserfolg ist also die Zustimmung des Patienten zur Interpretation des Analytikers notwendig. In der Psychoanalyse liegt damit die einmalige hermeneutische Situation vor, daß die ›Wahrheit‹ einer Interpretation wiederum vom 481

So beschreibt Gadamer das »wirkliche Verstehen« eines Textes mit folgenden Worten: »Man muß sein Sprechen erneuern«, H.-G. Gadamer, Hermeneutik als praktische Philosophie, S. 41.

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Autor beglaubigt werden soll, womit diese hermeneutisch eigentlich entmachtete Instanz unversehens doch noch einmal ins Spiel kommt. Die psychoanalytische Hermeneutik mündet in einen Streit der Interpretationen. Zwar kennt auch diese Kunstlehre vom Verstehen jene Rechtfertigung gegen kritische Einwände, daß die Willkür des Interpreten durch den Zusammenhang des Textes und durch den Zusammenhang von Text und Kontexten eingeschränkt,482 mithin die Integrationsleistung einer Interpretation zum Maßstab ihrer Überzeugungskraft werde. Wer sich »vom Zusammenhange leiten läßt« und die nötige »Übung und Erfahrung« (GW 11, 238) aufweist, geht beim Interpretieren nicht fehl, darin kommen traditionelle und psychoanalytische Hermeneutik überein. Jedoch wendet sich eine psychoanalytische Interpretation zunächst ausschließlich an das Publikum des Patienten, der seine Zustimmung geben oder diese verweigern kann, und erst in einem zweiten Schritt, wie Freuds publizierte Fallgeschichten, an eine breitere Leserschaft. Und mit der Zustimmung des Patienten hat es in der analytischen Situation ein eigenes Bewenden. Denn natürlich kann eine Wissenschaft, die eine derartige Skepsis gegenüber der direkten Mitteilung pflegt, nicht an einem einfachen Ja oder Nein zur Beglaubigung einer Interpretation gelegen sein. Es scheint vielmehr so, als besitze die Psychoanalyse eine einzigartige Immunisierungsstrategie gegen Einwände, indem Ablehnung und Zustimmung gleichermaßen als Bestätigung ihrer Auslegung gedeutet werden. So setzt sich Freud mit einem Kritiker auseinander: »Er sagte, wenn wir einem Patienten unsere Deutungen vortragen, verfahren wir gegen ihn nach dem berüchtigten Prinzip: Heads I win, Tails you lose. Das heißt, wenn er uns zustimmt, dann ist es eben recht; wenn er aber widerspricht, dann ist es nur ein Zeichen seines Widerstandes, gibt uns also auch recht.« (GW 16, 43) Der Analytiker reagiert auf diesen Vorwurf, indem er noch einmal an die zentralen Akteure und Sprachcodes der psychoanalytischen Kommunikationssituation erinnert, an das Unbewußte und seine Formen der indirekten Mitteilung. Die direkte, bewußte Zustimmung oder Ablehnung ist im analytischen setting eine unzuverlässige kommunikative Formel, da sie entweder »bedeutungslos« oder zu »vieldeutig« (GW 16, 49) sein kann. Zuverlässiger sind die Ausdrucksformen des Unbewußten wie etwa das ›Mitsprechen‹ des Körpers, die hier wiederum bedeutungstragend werden. Es handelt sich um einen einfachen binären Code: Die Konstruktion des Analytikers hat den Patienten dann überzeugt, wenn eine Reaktion erfolgt, bleibt diese aus, dann ist die richtige Deutung eben noch nicht gefunden und die Therapie noch nicht an ihr Ende gelangt. Die Interpretationen werden in 482

»Was sonst, z.B. bei der Deutung der Symbole, als Willkür imponiert, das wird dadurch beseitigt, daß in der Regel der Zusammenhang der Traumgedanken untereinander, der des Traumes mit dem Leben des Träumers und die ganze psychische Situation, in welche der Traum fällt, von den gegebenen Deutungsmöglichkeiten die eine auswählt, die anderen als unbrauchbar zurückweist.« GW 11, 235.

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der Analyse auf dem Wege der Falsifikation der Wahrheit angenähert.483 Als »indirekte Arten der Bestätigung« einer Interpretation fungieren: das Auftauchen neuer Erinnerungen und Assoziationen, die zum Inhalt der Konstruktion passen; ein Ausdruck von Erstaunen – ›Das hätte ich nie gedacht‹ –, der Freud zufolge mit: »Ja, Sie haben das Unbewußte in diesem Falle richtig getroffen«, übersetzt werden kann; Fehlleistungen und die Zu- oder Abnahme von Symptomen (GW 16, 50ff.). Im Unterschied zu den kathartischen Anfängen der Psychoanalyse weiß die hermeneutisch vertiefte Wissenschaft nun auch darum, daß es keinen einfachen Automatismus von Deutung gleich Heilung gibt. Die Richtigkeit einer Konstruktion kann nicht mehr am sichtbaren Heilungserfolg abgelesen werden, verstanden als Verschwinden der Symptome, sondern aufgrund der Übertragung ist eine zeitliche Verzögerung einzurechnen. Erst einige Zeit nach Beendigung der Therapie, wenn das enge Verhältnis zum Analytiker gelöst sei, würden die Symptome verschwinden. Und mit einer »Überzeugungsempfindung für die Richtigkeit der konstruierten Zusammenhänge beim Kranken« und mit einer »vom Kranken und seinen Angehörigen zugestandenen Besserung« sei »erst nach Lösung der Übertragung« (GW 5, 279f.) zu rechnen. Die Wertigkeit psychoanalytischer Interpretationen zeigt sich also erst in ihren Langzeitwirkungen; die Wahrheit der Interpretation bemißt sich an der Wahrhaftigkeit, mit der ein Patient an diese glaubt, und an der Funktionalität, die diese in seiner Lebensgeschichte erhält. Die Entwicklung der psychoanalytischen Methodik von der Katharsis zur freien Assoziation läßt sich mithin in zweifachem Sinn als geisteswissenschaftliche Vertiefung skizzieren. Zum einen wird aus einer mechanistisch-energetischen Theorie vom Abreagieren durch die Ausweitung der dramentheoretischen Implikationen des therapeutischen Verfahrens ein ödipales Erkenntnisdrama. Damit sind nicht nur die Inhalte der frühkindlichen psychischen Konflikte bezeichnet, sondern vor allem auch das komplexe an die analytische Dramenform angelehnte ›tragische Geschehen‹ zwischen Arzt und Patient in der Analyse, das von beiden Protagonisten Momente der anagnorisis erfordert und mit Widerstand, Übertragung und Gegenübertragung durchaus Züge von Spiel und Gegenspiel trägt. Das für Freuds Fallgeschichten charakteristische Gewebe aus Kranken- und Behandlungsgeschichte läßt zwei ineinander geschobene dramatische Szenarien erkennen, deren Handlungen sich wechselwirksam entwikkeln und keine klare Abgrenzung mehr voneinander erlauben. Zum anderen kann von einer geisteswissenschaftlichen Vertiefung des therapeutischen Verfahrens insofern gesprochen werden, als die erkenntnis- und zeichentheoretischen Implikationen der Sprachtherapie verstärkt reflektiert werden. Mit den 483

»Wir geben die einzelne Konstruktion für nichts anderes aus als für eine Vermutung, die auf Prüfung, Bestätigung oder Verwerfung wartet.« GW 16, 52.

521

Momenten des arbiträren hysterischen Zeichens, des zweifachen Sinns, der indirekten Kommunikationsformen in der Analyse und des interaktiven Entstehungs- und Beglaubigungszusammenhangs von Text und Interpretation entwickelt sich eine eigenständige psychoanalytische Hermeneutik, die jedoch an die Grundlagen der Kunstlehren vom Verstehen des 19. Jahrhunderts anknüpft. So scheinen Schleiermachers Typen des Verstehens, das psychologische und das grammatische, in der psychoanalytischen Deutungskunst durch. Der hermeneutische Zirkel erweist sich für diese Wissenschaft als ebenso fruchtbar wie für die verstehende Psychologie Wilhelm Diltheys. Auch hier zeigt diese Gedankenfigur ihre Modernität in der Anschlußfähigkeit an die zeitgenössischen Naturwissenschaften, insbesondere an das evolutions- und systemtheoretisch relevante Konzept des Reflexbogens. Und auch Freuds Zerteilung des Sinns in einen manifesten und einen latenten bleibt an die Einheitlichkeit des Sinns der älteren Hermeneutik gebunden, denn die Vereinheitlichung des Sinns, also die Übersetzung des manifesten Sinns in den latenten Sinn ist das Therapieziel. Der vollständige, lückenlose und in sich konsequente Zusammenhang ist das Erkenntnisideal dieser Wissenschaft. Die biographische Erkenntnis vollzieht sich in der möglichst umfassenden Erzählung und Deutung einer Lebensgeschichte. Diese hermeneutische Metapsychologie scheint auch dazu geeignet, den Abgrund des Verstehens, der sich im Kurzschluß von Kranken- und Behandlungsgeschichte öffnete, zu überbrücken, indem sie Arzt und Patient besondere Sprach- und Erkenntnisleistungen abfordert und therapeutisch ein Zwischenreich zwischen Realität und Kunst etabliert, das von beiden Sphären nur das Beste bewahrt. Im Unterschied zur frühen talking cure, in der die Worte hauptsächlich als »Sprachabfuhrzeichen« wahrgenommen wurden, profilieren die späteren Überlegungen den Mehrwert intellektueller Denk- und Spracharbeit. Ansätze hierfür finden sich bereits im ›Entwurf‹, wenn dort den Worten ein eigener Realitätsstatus zuerkannt wird: »Die Sprachabfuhrzeichen sind in gewissem Sinne auch Realitätszeichen, der Denkrealität, aber nicht der externen« (GW Nachtr., 463). Die in der analytischen Behandlung ermöglichte Verbalisierung von Verdrängtem und Vergessenem, die Erinnerung also erhält damit den Charakter einer nachholenden Realisierung von Lebensmöglichkeiten. Der realen Vergangenheit wird so eine fiktive, vergangene Denkrealität zur Seite gestellt, die erstere sogar ersetzen kann. Anders formuliert, es handelt sich um die Erfindung einer alternativen Vergangenheit, die in der Analyse jedoch Wirklichkeit erhält und für die Gegenwart Heilung bedeutet. Der hauptsächliche Mehrwert dieser erinnerten gegenüber der realen Vergangenheit besteht darin, daß die psychischen Konflikte der Kindheit nun von einem erwachsenen Ich, in einem »Zustande von psychischer Gereiftheit« (GW 16, 44) bearbeitet und zu einem anderen Ausgang geführt werden können. Dies bedeutet, daß das, was ehemals verdrängt wurde, nun zugelassen und assoziativ verarbeitet, verbalisiert, sublimiert oder auch – nun aber bewußt – verworfen werden 522

kann. Durch die Auffassung der Sprach- als Realitätszeichen handelt es sich bei der psychoanalytischen Therapie im wörtlichen Sinn um Akte der Entsagung, indem die Versprachlichung zum zentralen Moment der Realisierung einer verdrängten Vergangenheit und deren anschließender Verarbeitung wird. Die in der Analyse hergestellte zweite Vergangenheit ist allerdings nicht allein eine sprachlich evozierte, erinnerte, sondern auch eine emotional erlebte, d.h. tatsächlich wiederholte Vergangenheit. Der Patient agiert den frühkindlichen Konflikt in der Übertragung gegenüber dem Arzt noch einmal aus und vergißt zwischenzeitlich die zeitliche Differenz zwischen dem Gestern und dem Heute. Aber auch diese, in den Anfängen der Psychoanalyse allein unter dem negativen Effekt ›Widerstand‹ verbuchten Wiederholungen haben ihren therapeutischen Sinn, indem sie ein wirkliches zweites Erleben ermöglichen. Sie erweisen den »unschätzbaren Dienst«, »die verborgenen und vergessenen Liebesregungen der Kranken aktuell und manifest zu machen, denn schließlich kann niemand in absentia oder in effigie erschlagen werden.« (GW 8, 374) Aufgabe des Analytikers ist es dann, dieses Erleben im dramatischen Modus wieder in jenen des narrativen Modus der Erinnerung zu überführen, indem die Übertragung aufgedeckt wird. Denn die narrative Konstruktion von Vergangenheit kennt, anders als deren dramatische Realisierung, den Unterschied zwischen erzählter Zeit und Erzählgegenwart und jenen zwischen Figur und Erzähler, sprich die Differenz zwischen erlebendem und erzählendem Ich. Die analytische Umerziehung eines Agierenden zu einem Erinnernden soll den Patienten wieder auf die »[t]echnische Grundregel« der analytischen Situation verpflichten, »sich in die Lage eines aufmerksamen und leidenschaftslosen Selbstbeobachters zu versetzen« (GW 13, 214). Damit sind in der Psychoanalyse jene Techniken der Selbstbeobachtung zum Bestandteil der Behandlung geworden, die im ausgehenden 18. Jahrhundert noch weitgehend auf die Probebühne der Kunst verbannt waren. Die von Karl Philipp Moritz vorgeführten Formen einer methodischen Selbstdistanzierung: die Selbstbeobachtung im Auge Gottes, die Personalunion von tragischer Figur und Zuschauer oder die Aufspaltung in Protagonist / Patient und Erzähler / Arzt, werden nun in den analytischen Sitzungen eingeübt. Die von Goethes Singspiel ›Lila‹ praktizierte psychische Kurmethode des Spiels im Spiel bildet das therapeutische Vorbild für das analytische setting. ›Von den psychischen Kurmethoden des 18. Jahrhunderts zur Psychoanalyse‹ – bei dieser hier vorgetragenen Geschichte handelt es sich also um die Geschichte einer Professionalisierung. Das gilt auch für den in der Psychoanalyse etablierten Handlungsraum, der, dieser Traditionen scheinbar eingedenk, eine auffällige Nähe zur Kunst pflegt. Wie diese wird das analytische »Zwischenreich zwischen der Krankheit und dem Leben« als ›Naturschutzpark‹ eingeführt,484 der »reale[s] 484

In den ›Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse‹ findet sich der Vergleich des »seelischen Reiches der Phantasie« mit einem »Naturschutzpark«, GW 11, 387.

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Erleben« ermöglicht, »aber durch besonders günstige Bedingungen […] und von der Natur eines Provisoriums.« Denn in diesem dritten, »artefiziellen« (GW 10, 135), zwischen die externe (Leben) und interne Wirklichkeit (Krankheit) eingeschobenen Raum erscheint die Außenwelt in Gestalt des Arztes nicht als versagender, sondern ein dem Gegenüber affektiv zugewandter, korrigierender Widerpart und die ansonsten unzugängliche, unbewußte Innenwelt des Patienten öffnet sich unter diesen Bedingungen einer Beeinflussung von außen. Auch das als einziges Überbleibsel der Hypnose beibehaltene »Zeremoniell der Situation« (GW 8, 467) trägt zur Konstituierung dieses künstlichen Handlungsraumes bei, in dem den Akteuren feste Positionen zugewiesen und durch die ›technischen Grundregeln‹ bestimmte Rollenvorgaben gemacht werden. Für den Psychoanalytiker bedeutet der Übergang von der kathartischen zur analytischen Methode den Verlust sowohl von hypnotischer Machtfülle als auch eines naturwissenschaftlich gesicherten Beobachterstandpunktes. Er wird – die obige Bemerkung, niemand könne in effigie erschlagen werden, verweist darauf – deutlich in Mitleidenschaft gezogen. Anstatt teilnahmslos zu beobachten oder den Spielleiter zu geben, muß er sich in der Übertragung auch in die Rolle des Antagonisten finden und sich des eigenen Agierens, der Gegenübertragung erwehren. Das psychoanalytische Ethos fordert mit Lehrund fortgesetzter Selbstanalyse gar eine lebenslange Denk- und Spracharbeit von seiner Seite. Jacques Lacan hat in seiner ›Ethik der Psychoanalyse‹ diesen gemeinhin vernachlässigten Part des Analytikers hervorgehoben: »Ich sage da irgendwo, daß der Analytiker etwas zahlen muß, um seine Funktion aufrecht zu halten. Er zahlt mit Wörtern – seine Deutungen. Er zahlt mit seiner Person, insofern er durch die Übertragung buchstäblich um ihren Besitz gebracht wird. Die gegenwärtige Entwicklung der Analyse ist insgesamt eine Verkennung dieser Tatsache.«485 Nicht die Grundpfeiler der Psychotherapie, die Freud 1914 noch einmal mit ›Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten‹ benennt, haben sich seit ihren Anfängen verändert, sondern das Rollenspiel in der analytischen Behandlung und die Formen sowie die Wertigkeiten von Erinnerung und Wiederholung. Nicht mehr das »Abreagieren« von Affekten steht jetzt im Vordergrund, sondern die »Urteilsleistungen« (GW 14, 55f.). Was sich aus den Tagen, in denen es um das ›Wegsprechen von Schmerzen‹ (SH, 167) gegangen war, allerdings unverändert erhalten hat, das ist der ethische Anspruch dieser Sprachtherapie. Die von der Psychoanalyse vorgeführte Einheit von Theorie und Praxis, ihr »Zusammenfallen von Aufklärung und Heilung« (GW 7, 118),486 von »Erforschung und der Beseitigung des Leidens« (GW 13, 409) ist wis-

485 486

J. Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, S. 347. Siehe auch die ähnlich lautende frühere Formulierung: »Nun ergeben unsere Analysen, daß der hysterische Zwang sofort gelöst ist, wenn er aufgeklärt (verständlich gemacht) ist.« GW Nachtr., 440.

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senschaftsgeschichtlich nahezu einzigartig. Welche andere Wissenschaft kann schon von sich behaupten, daß das Wissen, das sie produziert, zugleich die Heilung bedeutet. Und die Psychoanalyse ist im 20. Jahrhundert darum auch der profilierteste Entwurf einer ›Hermeneutik als Ethik‹,487 da bei ihr, wie Freud in Anbetracht der »Sinn und Bedeutung« tragenden »hysterischen Symptome« formuliert, die »Aufdeckung dieses unbekannten Sinnes mit der Aufhebung der Symptome zusammenfällt, daß also hiebei wissenschaftliche Forschung und therapeutische Bemühung sich decken.« (GW 13, 212)

487

Vgl. Hermeneutik als Ethik. Hrsg. von Hans-Martin Schönherr-Mann, und darin insbesondere den Beitrag von H. Lang, Ethik und psychoanalytische Hermeneutik. Siehe im weiteren: Ethik und Psychoanalyse. Hrsg. von H.-D. Gondek und P. Widmer; J. Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse.

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Nachwort: Vom Wissen der Literatur

Die Literatur hat sich uns im vorangehenden in einer Rollenvielfalt gezeigt: Im 18. Jahrhundert erschien sie in Lesesucht, Empfindsamkeit und Theatromania als Krankheitsursache und Symptom. Sie wurde als Übel des Zeitalters deklariert. Doch auch in dieser Gestalt gelingt es ihr – auch in den Augen ihrer Kritiker –, aus dem Leiden Gewinn zu ziehen. Bestimmte Aussageweisen werden insbesondere damit betraut, das Individuum sagen zu lassen, was es leidet. Um 1800 ist es vor allem die Lyrik mit ihrer Nähe zur Musik, die zum ganzheitlichen Ausdruck des Schmerzes wird. In dieser Gestalt begegnete sie uns etwa bei Goethe, in Lilas Gesängen und in Mignons Sehnsuchtslied. Aus Pathologie wird so Pathographie. Mit dem Roman und seiner Konzentration auf die innere Geschichte des Menschen bildet sich in diesem Jahrhundert in seiner Spezifikation als psychologischer Roman (Karl Philipp Moritz) oder Bildungsroman, wie das vierte Kapitel zeigte, ein eigenständiges pathographisches Genre heraus. Dies beschränkt sich allerdings nicht auf die Krankheitsdarstellung, sondern stellt im weiteren Diagnosen und entwirft Therapien. Damit sind zwei weitere zentrale Funktionen der Literatur benannt, in ihnen zeigt sie sich gleichsam in ihrer ärztlichen Rolle. Von Herders Verdikt zur ›Tast-Blindheit‹ bzw. zum umfassenden Verfall des modernen Gelehrtenkörpers über Moritz’ ›Aufklärungssucht‹ und Novalis’ Hybris der instrumentellen Vernunft bis zu Nietzsches Dekadenztheorem übt sich die Literatur in der Diagnose von Zeitkrankheiten und damit in einer genuin psychosomatischen Domäne. Schließlich bleibt sie bei Pathographie und Diagnose nicht stehen, sondern sucht aus ihrem eigenen Bestand nach Heilungsmöglichkeiten. Sie entwickelt Sprach- und Gesprächstherapien, die in dieser Studie von Goethes Singspiel ›Lila‹ bis zu Freuds Psychoanalyse mit ihren literarischen Anleihen beobachtet werden konnten. Novalis versteht seinen Roman als erregende Medikation gegen die durch zuviel Abstraktion hervorgerufene ›Paralyse‹ seiner Zeit. In Frühromantik, Weimarer Klassik und Idealismus werden Formen der Schriftheilung entworfen: die Romantik vertraut der Wirkung eines universalen Liebestexts, Goethe und Hegel der eines an der Idee des Gesellschaftsvertrags angelehnten Gesetzestexts. Mit ›Entsagung‹ wird eine Gesprächs- und Schriftkultur apostrophiert, die nicht mehr empfindsamer Affektabfuhr dient, sondern der Affektkontrolle und -vermeidung. Vor diesem Hintergrund wurde die Literatur um 1800 insgesamt als Epoche der Heil-Kunst dargestellt, die in Goethes ›Wanderjahren‹ in der Engführung von ärztlicher und schriftstellerischer Tätig527

keit, in der Inszenierung von Autorschaft als wundärztlichem Handwerk und mäeutischem Akt ihren späten Höhepunkt und zugleich ihren Abschluß findet. Zwischen dem psychosomatischen Diskurs und der Literatur zeichnete sich zwischen 1778 und 1936 so ein produktives Wechselverhältnis ab: Literatur als Psychosomatik und Psychosomatik als Literatur. Die literarische Aussageweise wurde als ein besonders komplexes psychosomatisches Ausdrucksgeschehen lesbar: als Symptom, Zeitkrankheit, Therapie und virtueller ›Kurort‹. Der psychosomatische Diskurs wurde in seiner Literarizität durchsichtig: in den Facetten von Krankheit als symbolisierender Tätigkeit, der kulturellen Vermitteltheit von Krankheitsbildern und Therapien, von dramatisch-novellistischen Psychotherapien sowie in seiner Repräsentationsweise. Im Austausch von Literatur und diesem spezifischen wissenschaftlichen Netzwerk wurde Kultur auf ihre natürliche Basis zurückgeführt und Naturprozesse in ihrer diskursiven Strukturiertheit lesbar. So kann von einem Wissen der Literatur gesprochen werden, das es in der vorliegenden Studie erlaubte, sie in Augenhöhe und in Konkurrenz zu den Wissenschaften wahrzunehmen. Spezifische Erkenntnis- und Darstellungsmethoden konnten als literarischer Beitrag zum psychosomatischen Diskurs herausgearbeitet werden. Zwei zentrale Aspekte, die Selbstreflexivität und die erkenntniskritische Selbstbescheidung, seien hier noch einmal hervorgehoben. Erstere entwickelt sich aus der historischen Zwangslage der Literatur im 18. Jahrhundert, durch die Pathologisierung von Einbildungskraft und Literatur in der Aufklärung. Sie wird genötigt, sich als Patient und Arzt in einem wahrzunehmen, und diese Einsicht erweist sich als erkenntnistheoretisch ertragreich und erster Schritt auf dem Weg zur Genesung. Karl Philipp Moritz bearbeitet sie in seinen Beiträgen zum ›Magazin zur Erfahrungsseelenkunde‹ und in seinem psychologischen Roman durch einen Vorgang der Selbstdistanzierung und der Differenzierung verschiedener Beobachtungsebenen, die eine Selbst- als Fremdbeobachtung ermöglicht. Die strukturelle Multiperspektivik und Stimmenvielfalt der Literatur wird so wissenschaftlich fruchtbar gemacht. Mit Friedrich Nietzsches Autobiographie ›Ecce homo‹ wird diese Denkbewegung durch die Demontage des bewußten Ich und die Einzeichnung der Perspektive des Leibes ins Extrem getrieben. Der zweite Aspekt, die erkenntniskritische Selbstbescheidung, ist exemplarisch in Herders Formulierung festgehalten, die Menschengestalt sei »gleichsam nie ganz zu ertaste[n]«, wir »taste[n] gewissermaßen immer unendlich.«1 Sie verweist auf die strukturelle Relativität der literarischen Aussageweise und gibt dieser zugleich eine progressive Auslegung. Im Hinblick auf die psychosomatische Fragestellung heißt dies, die Literatur bewahrt das Wissen um die Unab1

J. G. Herder, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787. Werke in zehn Bänden. Bd. 4. Hrsg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, S. 314, 316.

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schließbarkeit der begrifflichen Bemühungen um den ganzen Menschen und bildet so einen starken Kontrapunkt zum Fortschrittsoptimismus der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert ebenso wie jenem der derzeitigen Hirnforschung oder Gentechnologie. Gegenüber dem Alleinvertretungsanspruch einzelner Erfahrungswissenschaften wird im Hinblick auf den ganzen Menschen ein ästhetisch-ethischer Vorbehalt formuliert. Bei Herder, Goethe und Büchner führte dies im besonderen zu einer Kritik experimenteller Forschung, der die Individualität der bio-psycho-sozialen Einheit Mensch notwendig entgeht und deren potentiell letale Konsequenzen vor allem Büchners ›Woyzeck‹ in aller Radikalität zur Schau stellt. Die in dieser Untersuchung vorgestellten literarischen Beiträge zum psychosomatischen Diskurs verblieben allerdings in ihren alternativen Versuchsanordnungen nicht allein in kritischer Distanz zu den Wissenschaften, sondern formulierten utopische Entwürfe. Bei Herder wird Kunst und Literatur als Experimentier- und virtueller Erfahrungsraum von Verlorenem und historisch Unabgegoltenem vorgestellt. Die schöne, gesunde menschliche Gestalt und der ganze Mensch wurden so als Utopie dem psychosomatischen Diskurs eingeschrieben. Dieses literarische Begehren konnte im weiteren in verschiedenen Szenarien beobachtet werden und wurde abschließend mit Wilhelm Diltheys Projekt einer ›Poetik als Erfahrungswissenschaft‹ noch einmal akzentuiert, indem Literatur dort als Erfahrungs- und Schulungsraum für umfassendes Erleben galt. Darüber hinaus hat Dilthey der Literatur ein Befreiungspotential zugesprochen. Ist das Individuum im realen Erleben vielfach bestimmt durch äußere Reize, das Milieu, die Zeit, seine Physis etc., veranschaulichen die technischen Verfahrungsweisen der dichterischen Einbildungskraft, inwiefern mit diesen Bestimmungen freiheitlich und schöpferisch umgegangen werden kann. Literatur ist so Horizonterweiterung und Übung des Möglichkeitssinns des Menschen. Die Kunst zeigt die relativen Freiheitsspielräume des Menschen im Umgang mit seiner Umwelt auf und darum ist sie ethisch qualifiziert. Selbst Büchners Drama, das in der Forschung vielfach als Extremfall deterministischen Denkens wahrgenommen wurde, kennt diese Ermöglichungsfunktion der Kunst. ›Woyzeck‹ betreibt Interdiskursivitätsanalytik, indem die psychiatrischen, forensischen, theologischen, moralischen Diskurse zum Fall zitierend und kommentierend in den Blick geraten und in Form einer Metareflexion auf ihre kommunikativen und bio-psycho-sozialen Grundlagen befragt werden. Die Perspektive, aus der diese kritische Arbeit allerdings betrieben wird, ist eine utopisch-politische, die mit den Stichworten Ermächtigung der WoyzeckStimme und Demokratisierung des Diskurses beschrieben wurde. Büchners literarischer Umgang mit dem Wissen seiner Zeit kann so zum Vorbild für eine Literaturwissenschaft werden, die sich beiden Aspekten verpflichtet fühlt: Interdiskursivitätsanalyse und d.h. die Literatur in ihren disziplinären Verstrickungen wahrzunehmen, in denen sie als Aufnehmende, Gebende 529

und Kritikerin erscheint, sowie eine ethische Ausrichtung der Wissenschaft, die die Literatur in ihrer Ermöglichungsfunktion wahrnimmt. So war dieser Studie im Verständnis von Literaturwissenschaft als historischer Kulturwissenschaft, mit Dilthey als Form ästhetisch-ethischer Kulturgeschichtsschreibung, auch daran gelegen, die Literatur nicht nur als eine kulturelle Objektivation unter anderen, sondern in ihrem Eigen- und Mehrwert zu bestimmen.

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Personenregister

Abels, Norbert 282, 294 Ackerknecht, Erwin H. 3, 13–14, 24, 75, 101, 115, 169 Adler, Alfred 408, 415, 419–421, 423, 430, 435, 446 Adorno, Theodor W. 121 Alexander, Franz 24–25 Amelung, Franz 82, 164, 172, 174–180, 208, 224, 229–232, 234, 241, 284 Anaxagoras 314, 325 Andreas-Salomé, Lou 21, 309–310, 319, 323, 326, 328, 339, 407–413, 417–420, 423, 427–428, 431, 461, 466–467 Anna O. (Bertha Pappenheim) 49, 417, 442, 487, 502 Anz, Thomas 22, 476 Aristoteles 2, 15, 80, 92–93, 95–96, 178, 290, 295–297, 299, 345, 476, 480–489, 491– 492, 494, 504 Arnold, Friedrich 237–238 Assmann, Jan 508 Ast, Friedrich 514 Avicenna 74, 114 Bahr, Ehrhard 148, 152–153, 158 Bahr, Hermann 441, 483, 487–488, 490 Bain, Alexander 346, 372 Baßler, Moritz 6, 162–163 Bayle, Antoine-Laurent-Jessé 172, 224 Beck, Hans-Joachim 112, 127, 136 Bell, Charles 152, 227–228, 230–231, 237–238, 244, 249, 259–260, 453 Bennholdt-Thomson, Anke 22, 46, 55, 58, 62, 329 Berger, Alfred von 481, 483, 486–488 Bernays, Jacob 80, 92, 178, 481–488, 491– 494, 507 Bernays, Martha 481 Bernheim, Hippolyte 449–450 Binswanger, Ludwig 415, 419 Blanckenburg, Christian Friedrich von 20, 213 Böhme, Hartmut 153, 161 Booth, Wayne C. 500 Braungart, Georg 23, 28 Brauns, Horst-Peter 451, 464

Brecht, Bertolt 294 Breuer, Josef 15, 100, 228, 408, 411, 417, 424– 425, 442–443, 445, 452, 454–455, 458– 460, 462, 464, 480, 487–489, 502 Bronfen, Elisabeth 108, 163, 425, 441, 455, 490, 506 Brown, John 123, 125, 133–135, 165–166, 458 Brummack, Jürgen 28, 33 Büchner, Ernst 215, 282 Büchner, Georg 8, 11, 16–17, 21, 117, 167, 169, 173–174, 197, 207, 212–310, 394, 400, 451, 460, 529 Büchner, Ludwig 344, 433, 444 Burkholz, Roland 418–419, 432–433, 451, 456 Burton, Robert 38, 52, 75, 86, 92 Campe, Rüdiger 195, 217, 220–221, 298 Carlyle, Thomas 338–339 Carus, Carl Gustav 242, 249, 253–254, 341, 346, 416 Champollion, Jean-François 510 Charcot, Jean-Martin 4, 17, 326, 348, 367, 416–417, 425–426, 441–443, 445, 449– 450, 454–455, 474, 477, 490, 497, 518 Clarke, Edwin 11, 227, 238, 242, 247–248, 451–453, 472 Clarus, Johann Christian August 174–175, 189–191, 193–209, 211, 213–218, 220, 222, 224, 226–227, 233, 259–260, 263, 270– 271, 273–275, 277, 281–284, 287–290, 292, 294–295, 298–299, 301 Cohn, Dorrit 476, 500 Comte, Auguste 356, 431 Condillac, Étienne Bonnot de 28, 370 Crusius, Christian August 57 Cuvier, Georges 152, 249, 253, 256, 345 Darwin, Charles 189, 340–341, 344–346, 385, 416, 432, 444, 458–459, 465–466, 468– 469, 473, 479, 518 Dedner, Burghard 173–176, 190–191, 208, 216, 218, 222–224, 226, 229, 235, 238– 241, 252, 259, 263, 275, 278, 282–283, 288, 293, 297, 298–299 Derrida, Jacques 327–328, 407, 410, 512 Descartes, René 9–10, 251, 270, 300, 372, 453

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Dessoir, Max 46, 71 Deutsch, Felix 25, 440, 447–448, 510 Deutsch, Helene 25 Dewitz, Hans-Georg 153, 162 Diderot, Denis 29–30 Diener, Gottfried 73–77, 83–84 Dilthey, Wilhelm 6–8, 12, 14, 20–23, 27, 71, 107, 175, 182, 219, 238, 309, 333–402, 413, 445, 451–452, 463, 466, 472–473, 475– 476, 478, 486, 507, 516–518, 522, 529–530 Döhner, Otto 231, 249, 254, 302 Dörner, Klaus 11, 76–77, 93, 97, 106, 172– 173, 182, 186–187, 207, 212, 218 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 434, 472, 500, 513 Du Bois-Reymond, Emil 359, 440 Dunbar, Helen Flander 24–25 Ebbinghaus, Hermann 23, 343, 355, 357–358, 362–363, 374 Eckstein, Emma 455–456 Egger, Irmgard 23, 78, 107, 114, 116–117, 120, 160–161, 163 Ellenberger, Henri F. 11, 24, 77, 101, 173, 182, 186, 408, 414–415, 417, 421, 425, 441–445, 455, 458, 473, 481 Engel, Manfred 128 Engelhardt, Dietrich von 23, 101, 111, 124, 138, 172, 177, 401 Engelhardt, Wolf von 252 Erhart, Walter 23 Eristratos 74, 114–115 Eschenmayer, Carl August von 124, 172 Fawcett, Benjamin 52–54 Fechner, Gustav Theodor 9–10, 24, 27–28, 238, 338, 342, 349, 357–358, 360, 374, 378, 416, 451, 456, 464 Federn, Ernst 415, 422–423, 430 Fellmann, Ferdinand 344, 355, 372, 387–388, 390, 392 Fenelon, François 58 Fenichel, Otto 25 Ferenczi, Sandor 433, 490–491 Fichte, Johann Gottlieb 122, 375, 395 Fick, Monika 22 Figl, Johann 336, 401 Fischer, Ernst Gottfried 48–49 Flashar, Helmut 13, 483 Fleischbein, Johann Friedrich von 60 Fleischer, Johann Benjamin 53–54 Fließ, Wilhelm 247, 419, 421, 426, 437, 439, 452, 455, 458, 489, 504 Forestus 74, 114 Foucault, Michel 5, 121, 179, 188, 214–215, 220, 263, 294, 307

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Frank, Manfred 122, 512 Freud, Sigmund 3–4, 6–7, 12, 15–17, 20–22, 24–25, 27, 45, 48, 51, 71, 100, 108, 140, 175, 186, 219, 228, 247, 309, 336, 338, 344, 348, 357, 363, 367–368, 370, 385– 386, 391, 393, 399, 407–409, 411–525 Frey, Philipp 415, 423 Freylinghausen, Johann Anastasius 55 Freytag, Gustav 295, 385, 478, 479, 483, 486 Friedreich, Johannes Baptist 16, 20, 49, 53, 75, 82, 92, 97, 108, 110, 115, 164, 172, 174, 175, 177, 191–192, 194, 205, 224, 228, 263, 285–289, 292, 452 Fuhrmann, Manfred 494 Gadamer, Hans-Georg 508, 518–519 Galen 2, 14, 74, 114, 164, 241 Gall, Franz 172, 180, 192, 472 Galton, Francis 368, 473 Gasser, Reinhard 415–422, 427, 429, 431–433, 437, 446 Gerhardt, Volker 333–334 Giesz, Ludwig 401, 407 Glück, Alfons 199, 216, 219–220, 223, 226 Gödde, Günter 311, 415–417, 419–420, 422, 432, 437, 446, 451 Goethe, Johann Wolfgang von 2–3, 15, 17, 19, 21–22, 65, 73–102, 105, 108, 110–123, 126–129, 132–133, 135–137, 143, 145, 148– 167, 184, 219, 228, 248–249, 251–257, 259, 262, 266, 286, 293–295, 297–298, 302– 306, 309, 317, 323, 330, 345, 378, 380, 391, 393–395, 459, 476, 478, 484, 486– 487, 490, 492–495, 500, 523, 527, 529 Gomperz, Theodor 482–483, 487 Grätzel, Stephan 135, 314, 404 Griesinger, Wilhelm 10–11, 17, 19, 21, 24, 247–248, 261, 286, 301, 458 Grimm, Jacob und Wilhelm 32, 263 Groddeck, Georg 416, 420, 440, 451, 473 Grohmann, Johann Christian August 172, 205–206, 210, 246, 284, 288 Groos, Friedrich 172, 174 Großenbach, Karoline 178–180 Gründer, Karlfried 482–483, 485–488 Gruner, Johann Ernst 50, 57 Guyon, Jeanne Marie von 57–58, 60 Guzzoni, Alfredo 22, 46, 55, 58, 62 Haeckel, Ernst 11, 343, 416, 432–433, 444 Hagner, Michael 101, 103 Hahn, Peter 26, 123, 169–170, 213 Hahnemann, Samuel 91, 166, 483 Hall, Marshall 4, 246–247, 453 Haller, Albrecht von 7, 14–15, 17, 27, 32–35,

40–41, 53, 79, 106, 123–124, 162, 236– 237, 247, 249, 354, 371, 380, 452 Hartmann, Eduard von 416, 479, 483, 486, 491–492 Hartmann, Tina 74, 82 Häutler, Alfred 418–419, 422, 435 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17, 112, 123, 137–148, 150, 155–158, 164, 173, 182–188, 190, 208, 213, 270, 334, 343, 355–356, 478–479, 491–492, 516, 527 Heinroth, Johann Christian August 1, 13, 24, 48, 52–53, 82, 92, 108, 110, 140, 160–161, 169, 171–173, 175–178, 182–188, 193–194, 200–201, 206–211, 214, 217–218, 220, 241, 245–246, 250, 259, 263, 270, 282– 283, 288–289, 298, 425, 470 Heinz, Jutta 23 Helmholtz, Hermann von 342, 349, 370, 378 Henke, Adolph 191, 194, 204, 216, 286 Henkel, Arthur 148, 151, 159 Henkelmann, Thomas 2, 193 Henle, Jakob 242, 396 Henrich, Dieter 381 Heraklit 325, 359 Herbart, Johann Friedrich 342, 349–350 Herder, Johann Gottfried 8, 15, 19, 22, 27–43, 46, 71, 74, 78–79, 88, 92–93, 102, 105–106, 119, 123, 135, 162–163, 165, 244, 304, 354, 370–373, 393–394, 452, 469, 473, 484, 491, 527–529 Herwig, Henriette 153–155 Herz, Henriette 50 Herz, Marcus 50–51, 60, 70 Hippokrates 2, 13–14, 118–119 Hirsch, Emanuel 143–144 Hirschmüller, Albrecht 416, 442, 444, 458, 487–488, 496 Hitschmann, Eduard 419, 421–422 Hobbes, Thomas 149 Hoffbauer, Johann Christoph 74, 101, 110, 172 Hoffmann, E. T. A. 257, 262, 286 Hofmann, Johann Nepomuk 401, 407 Hölderlin, Friedrich 138, 143–144, 337, 340 Holtbernd, Benedikt 74, 89, 91 Holz, Arno 419 Horkheimer, Max 121 Huber, Martin 74, 80, 84, 86–87 Hufeland, Christoph Wilhelm 50–51, 166 Humboldt, Wilhelm von 354 Hume, David 352 Husserl, Edmund 343, 512 Ibsen, Henrik 476 Ideler, Karl Wilhelm 45, 52–54, 140, 172–173, 176, 184, 186–188, 212–214, 221, 292, 307, 425

Irmscher, Hans Dietrich 28 Jackson, John Hughlings 450–451, 473 Jacobi, Friedrich Heinrich 143, 270, 377 Jacobi, Maximilian 53, 166, 172, 174, 176, 181 Jacyna, Leon S. 11, 227, 238, 242, 247–248, 451–453, 472 Jaeschke, Walter 138–140 James, William 344 Janet, Pierre 273, 425, 490 Janz, Curt Paul 319, 335, 412, 427–428 Jaspers, Karl 15, 23, 25, 108, 111, 138, 309, 311, 322, 333, 338, 401–407, 409–410 Jean Paul 258, 305 Johach, Helmut 336, 343–344, 476 Jones, Ernest 418, 420, 440 Jung, C. G. 408, 419–420 Jung, Matthias 327, 339, 344, 350, 363, 382, 396, 401 Jünger, Christoph 215–216, 282 Jung-Stilling, Johann Heinrich 46, 57, 60 Kaftan, Julius 427–428 Kamerbeek, J. 333, 335, 337 Kant, Immanuel 18, 40, 64, 71, 85–86, 118, 122, 141, 212, 266, 268, 340–342, 349, 351–352, 354, 357, 362, 372, 378, 508–509 Käser, Rudolf 23, 115–116, 163, 314 Kaufmann, Doris 52, 55, 57, 192 Kaufmann, Walter 323, 326, 406 Kemper, Hans-Georg 52, 61, 64, 92 Kempis, Thomas von 58 Kittler, Friedrich 317, 319 Kittsteiner, Heinz-Dieter 221, 270, 289 Kitzbichler, Martina 199, 216 Klages, Ludwig 414 Kleist, Heinrich von 476 Klibansky, Raymond 14, 22, 45, 57, 83, 92, 129, 266, 269, 270, 278, 279 Knapp, Gerhard P. 219, 226, 228, 232, 249, 256, 264, 280, 302 Koch, Robert 3, 441 Komfort-Hein, Susanne 81–82, 265 König, Dominik von 84 Kopernikus 432 Koschorke, Albrecht 15, 23, 82 Köselitz, Heinrich 317, 417, 427 Krafft-Ebing, Richard von 40, 412, 425, 441 Krämer, Hans 85, 89, 91, 116, 277, 280–281 Krausser, Peter 343–344, 396–397 Kreuter, Alma 25, 101, 170, 186 Kristeva, Julia 512 Krüger-Fürhoff, Irmela 23, 28, 160, 163–164 Kubik, Sabine 199, 216, 221, 233, 235, 238, 258, 290, 294

557

Kuhn, Dorothea 252 Kurz, Gerhard 122 Lacan, Jacques 481, 524–525 Lachmann, Renate 508 Lamarck, Jean-Baptiste de 345, 416, 433 Lamparter, Ulrich 3, 20, 24, 409, 472, 475 Landfester, Ute 87 Lang, Hermann 473, 516, 525 Langbehn, Julius 427–428 Lange, Friedrich Albert 171, 340–341 Laplanche, Jean 412, 424, 430, 438, 456, 458, 465, 470, 475, 481, 501, 503, 511 Lausberg, Heinrich 509 Lavater, Johann Caspar 46, 79, 302 Laycock, Thomas 248, 451 Leibbrand, Werner 76, 188 Leibniz, Gottfried Wilhelm 9, 345, 451 Lenz, Jakob Michael Reinhold 82, 265, 277, 297, 298, 306 Leonardo da Vinci 430 Leopardi, Giacomo 337, 340 Lepenies, Wolf 22, 45, 263, 268 Lessing, Gotthold Ephraim 84, 189, 480– 482, 486 Lessing, Hans-Ulrich 343–344, 358, 362–363, 373 Lethen, Helmut 221, 270, 289 Lichtenberg, Georg Christoph 416 Liebig, Justus 223, 239, 259 Link, Jürgen 5 Lipiner, Siegfried 408, 417, 419, 437 Lipowski, Zbigniew Jerzy 1–3, 11, 20, 24 Lipps, Theodor 446, 491, 492 Locke, John 352 Lotze, Hermann 350, 379 Ludwig, Peter 160, 190, 194, 199, 217–218, 220, 222, 237, 240, 255, 257–259 Luhmann, Niklas 7 Luther, Martin 276–277, 279–282 Magendie, François 224, 453 Mähl, Hans-Joachim 112, 127 Maimon, Salomon 118 Makkreel, Rudolf A. 343–344, 388, 391, 394, 396 Mann, Thomas 418–419 Marc, Carl Moritz 193–194, 200, 203–209, 217–218, 220, 234, 263, 284 Marcus, Steven 500, 506 Margetts, Edward L. 2, 14, 32, 75, 115, 124, 169–170, 247, 343, 402 Martens, Wolfgang 65, 221–222, 257, 264, 283, 286 Martinez, Matias 500 Marx, Karl 140

558

Matt, Peter von 494 Mattenklott, Gert 22 Mauchart, Immanuel David 65–66 Mayer, Hans 190, 254 Mayer, Robert 340, 416, 444 Mendel, Gregor 444 Mendelssohn, Moses 48–51, 372 Mesmer, Franz Anton 77–78, 497 Mettrie, Julien Offray de La 11, 251 Meyer, Adolf-Ernst 3, 20, 24, 409, 441, 472, 475 Meynert, Theodor 342, 370, 450 Milton, John 484 Minder, Robert 55, 58 Misch, Georg 71, 335 Molnár, Gesa von 122 Montaigne, Michel de 253, 338 Montrose, Louis A. 6 Moore, Gregory 425–426, 490 Moritz, Karl Philipp 8, 19, 45–71, 74, 76, 102, 110, 128, 132, 193, 213, 228, 265, 304, 309, 351, 354, 490, 495, 512, 523, 527–528 Mühlleitner, Elke 25, 408 Mülder-Bach, Inka 28, 30 Müller Niebala, Daniel 254, 260 Müller, Johannes 4, 24, 34, 164, 178, 223– 225, 227–228, 230, 237–238, 242–249, 251, 254, 259, 342, 349, 371, 374, 378, 453, 472 Müller, Klaus-Detlef 20, 45, 62–63, 65, 149– 150, 154 Müller, Lothar 51–52, 55, 64, 82 Müller-Seidel, Walter 107, 120, 153, 159 Müller-Sievers, Helmut 217, 226, 248–249, 294 Musil, Robert 391, 441 Nager, Frank 74, 107, 153 Nasse, Friedrich 1, 169–175, 178–182, 197, 200, 205, 241, 245 Nehamas, Alexander 319, 323, 329–330 Neubauer, John 94, 112, 124, 134 Neuhaus, Volker 154 Neumann, Gerhard 153, 162, 172 Niekerk, Carl 114 Nietzsche, Friedrich 5–8, 12, 18, 20–23, 40, 71, 175, 309–340, 342, 344–348, 353, 355– 356, 367–368, 370, 372, 375, 377, 380, 385, 397–399, 401–413, 414–439, 443, 447, 452, 469, 472–473, 482, 485–486, 488, 490–491, 507, 516, 527–528 Niggl, Günter 63 Nitzschke, Bernd 415–416, 420 Nordau, Max 40 Novalis 19, 93, 104, 108–113, 119, 121–137,

140, 142–144, 148, 150, 153–154, 166, 257, 266, 299, 354, 395, 400, 518, 527 Nunberg, Herman 422, 466 Oesterle, Günter 251, 258, 266, 268–269, 297, 305 Oesterle, Ingrid 298 Øhrgaard, Per 107 Oken, Lorenz 248–249 Opitz, Martin 295–296 Osinski, Jutta 22 Ovid 35 Paneth, Joseph 419–420 Panofsky, Erwin 14, 22, 45, 57, 83, 92, 129, 266, 269–270, 278–279 Paracelsus 98, 132, 161, 166 Parmenides 314, 320–321 Pasley, Malcom 314 Pauen, Michael 8, 451 Pautler, Stefan 277–278 Pfeffel, Gottlieb Conrad 279 Pfeiffer, Klaus 77, 164–166, 179, 222, 512 Pfister, Manfred 216, 292 Pfotenhauer, Helmut 333, 335 Pieper, Annemarie 277, 281 Pindar 326 Pinel, Philippe 138–140, 147, 188, 191–192, 224 Platner, Ernst 192–193 Platon 88, 314, 409 Plaum, Franz G. 414, 438, 447, 475 Pockels, Carl Friedrich 49, 56, 64–65 Pontalis, J.-B. 412, 424, 430, 438, 456, 458, 465, 470, 475, 481, 501, 503, 511 Poschmann, Henri 191, 215–216, 218–219, 224, 235–236, 238, 240, 249, 251, 255–256, 263, 293, 302 Poschmann, Rosemarie 191, 215–216, 218– 219, 224, 235–236, 238, 240, 249, 251, 255–256, 263, 293, 302 Prochaska, Georg 453 Purkinje, Johann Evangelist 378 Querl, Ferdinand Moritz 185, 207 Ramler, Karl Wilhelm 58 Rank, Otto 412, 419, 422–423 Rée, Paul 315, 409–411, 413, 420 Reik, Theodor 434 Reil, Johann Christian 1, 3, 13, 73–75, 83, 97–108, 110, 113, 124–126, 129, 134–135, 138–139, 147, 177, 192, 202, 224, 228, 242, 251, 257, 263, 273, 274, 484, 495 Reinhold, Carl Leonhard 351–352 Reiser, Anton 65

Reiske, Ernestine Christiane 49 Reuchlein, Georg 74, 191–192, 194, 214, 217, 220, 290 Richer, Paul 417, 425–426, 477 Richter, Simon 22, 28, 33 Ricœur, Paul 433, 438–439, 448, 452, 507 Rie, Oscar 423 Riedel, Manfred 344 Riehl, Alois 358, 362 Riemer, Friedrich Wilhelm 254–255 Rivière, Pierre 216, 218 Rodi, Frithjof 343, 391 Röschlaub, Andreas 124 Rössler, Dietrich 2, 8 Roth, Udo 216, 223–224, 227, 238–240, 242, 244, 248–255, 259 Rotschuh, Karl E. 11, 13–14, 76, 172 Rousseau, Jean-Jacques 36, 46, 93, 102, 138, 140, 149, 155, 337, 354, 380 Roux, Wilhelm 416, 469 Rüegg, J. Caspar 103 Sachs-Hombach, Klaus 46 Sadger, Isidor 411, 423, 430 Saint-Hilaire, Geoffroy de 152, 249, 253 Sand, George 395 Sauder, Gerhard 64, 81 Saurer, Edith 52, 57 Saussure, Ferdinand de 511–512 Saxl, Fritz 14, 22, 45, 57, 83, 92, 129, 266, 269–270, 278–279 Schadewaldt, Wolfgang 483 Schär, Markus 52, 57 Schauenburg, Hermann 119, 159–161, 163– 165, 222 Scheffel, Michael 500 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 124, 393 Schilder, Paul 25 Schiller, Friedrich 19, 68, 97, 117–118, 165, 295, 298, 393, 476–479 Schings, Hans-Jürgen 22, 45, 54–55, 58, 64, 107, 116, 154, 314 Schipperges, Heinrich 314 Schlaffer, Hannelore 154 Schlegel, Friedrich 119, 143 Schleiermacher, Friedrich 334, 341, 343, 348, 353, 355–356, 381, 395–396, 401, 514, 517– 518 Schmaus, Marion 5, 70, 111, 117, 120, 122, 133, 135, 137, 184, 310, 479, 492 Schmolling, Daniel 216, 218 Schnädelbach, Herbert 147 Schneider, Georg Heinrich 344–348, 398 Schneider, Manfred 425, 441, 443, 455, 477 Schnitzler, Arthur 511 Schopenhauer, Arthur 312, 315, 319, 321, 325–

559

327, 329–331, 337–338, 340, 355, 372, 410, 412, 416, 438 Schöpf, Alfred 448, 451–452, 466, 475 Schott, Heinz 32, 472 Schreber, Daniel Paul 430–431 Schrimpf, Hans Joachim 46 Schuller, Marianne 441, 488, 490, 501 Schulte-Sasse, Jochen 41 Schulz, Gerhard 112, 127, 136, 153–154 Schüßler, Wolfgang 25, 108, 401 Schutjer, Karin 155 Seckendorff, Karl Siegmund von 91 Seibert, Thomas 401, 406 Seidel, Friedrich Ludwig 73, 80 Seidmann, Peter 415, 418, 420, 421 Semler, Johann Salomo 46, 57, 59–60, 62, 64 Shakespeare, William 46, 257, 262–263, 297, 478, 493 Shelley, Mary 163 Shorter, Edward 3–5, 14, 45–46, 315, 408, 425, 441, 443–445, 452–455, 472, 474 Siep, Ludwig 138, 140–141, 156 Simmel, Ernst 489 Simmons, Roger Dennis 416, 451, 487 Sinclair, Isaac von 138 Soemmerring, Samuel Thomas 16, 242 Sokrates 320, 413 Sophokles 496 Spalding, Johann Joachim 48–50 Spinoza, Baruch de 10–11, 270, 302 Spranger, Eduard 133, 401 Stanzel, Franz K. 500 Starke, William 224, 239 Starobinski, Jean 17, 76, 93, 97, 110, 164, 177, 442–443, 448–449, 470, 495, 497 Stegmaier, Werner 333, 335–336 Stein, Charlotte von 75 Stein, Heinrich von 335 Stein, Ludwig 358, 373 Stekel, Wilhelm 408 Stemme, Fritz 63 Stephanos, Samir 414, 438, 447, 475 Stirner, Max 338 Stokvis, Berthold 24–25, 414 Stumpf, Carl 342–343 Sulloway, F. J. 416, 432–433, 451 Susini, Clemente 163 Tausk, Viktor 419 Tetens, Johann Nicolaus 372 Theresa von Avila 425 Thomé, Horst 22, 476, 500–501, 505–506, 511 Thümmel, Moritz August von 135 Thums, Barbara 23, 38, 61, 117, 314, 332

560

Tieck, Ludwig 298–299 Tissot, Samuel A. 54, 85 Tolstoi, Leo N. 338 Tramer, F. 415, 418 Trosman, Harry 416, 451, 487 Ueberweg, Friedrich 338, 483 Uerlings, Herbert 112, 124, 130, 136, 155 Uexküll, Thure von 11–12, 20, 26, 48, 214, 353, 471–472 Unzer, Johann August 48, 453 Utz, Peter 30 Valk, Thorsten 74, 107, 115–116 Vico, Giambattista 401 Virchow, Rudolf 3, 11, 340, 416, 441, 444 Visser, Gerard 333, 335 Voges, Michael 120 Vogl, Joseph 5 Volkelt, Johannes 483 Volkmann, Alfred Wilhelm 238, 242, 246– 247 Völkner, Daniel 55–56 Wagner, Cosima 486 Wagner, Richard 311, 315, 318–319, 327, 331, 338, 409, 412–413, 417, 422 Wagner-Egelhaaf, Martina 22, 46, 57, 62–63 Waibel, Violetta 123 Wallace, Alfred Russel 432 Walter, Ursula 190, 204, 207–208, 283 Wartenburg, Graf Paul Yorck von 337–338, 342, 398–399, 486 Weber, Ernst Heinrich 24, 27, 238, 244, 342, 349, 357, 371, 374–375, 378, 386, 451 Weber, Max 114 Wegmann, Nikolaus 82 Weininger, Otto 416 Weir Mitchell, Silas 416, 497 Weismann, August 444, 469 Weizsäcker, Viktor von 26, 111, 446 Wellbery, David E. 107, 115–116 Wesiack, Wolfgang 12, 20, 48, 214, 353, 471– 472 Whytt, Robert 452–453 Wieland, Christoph Martin 84–86, 110 Wienberg 233, 290 Wiesing, Urban 2, 101, 123–124 Wilbrand, Johann Bernhard 235, 241, 259 Wildenbruch, Ernst von 488 Windischmann, Karl Joseph Hieronymus 144, 172 Wöbkemeier, Rita 23, 124 Wolff, Christian 362

Woost, Johanna Christiane 191, 196, 202, 275, 290 Worbs, Michael 476 Woyzeck, Johann Christian 5, 17, 20, 23, 161, 163, 167, 169, 174–175, 179, 181, 185, 189– 223, 225, 229, 233–234, 260–261, 263, 270–271, 273, 275, 283–284, 287–290, 294, 298–299, 301, 304–307, 310 Wucherer-Huldenfeld, Augustinus K. 418– 419, 421, 437

Wundt, Wilhelm 338, 342, 357–358, 371, 373– 374, 378–379, 396, 475–476 Young, Edward 81 Zeuch, Ulrike 28 Ziegler, Louise von 81 Zilboorg, Gregory 18, 166, 169–170 Zimmermann, Johann Georg 116 Zweig, Arnold 419–420

561

Sachregister

Abreagieren 415, 459, 461, 480, 489, 507, 521, 524 Abwehr 239, 245, 260, 282, 300–301, 346– 347, 415, 425, 429, 434, 470, 502, 505 Acedia 14, 53, 270, 296, 314 Aderlaß 49, 124, 159–160, 164–166, 177–178, 197, 315 Affekt 14, 38, 49, 75–76, 86, 92, 150, 177, 229, 231, 237, 286, 364, 390, 411, 440, 449, 457–461, 463, 468, 470, 479, 480– 483, 485–486, 488, 489, 491, 502, 515, 524, 524, 527 Affektabfuhr 6, 95, 100, 117, 131, 150–151, 456–459, 462–463, 472, 480, 491, 493, 495–496, 498, 527 Alchemie 59, 92, 153, 161 Alkohol 49, 124, 174, 177, 189, 196–197, 199, 206–207, 211, 222, 261, 283–290, 292, 300–301, 305 Allegorie 127, 132, 134, 142, 254, 262, 269, 306 Anagnorisis 95–97, 494, 496, 504, 521 Analogie 7, 34–35, 42, 47, 117, 180, 197, 206, 211–212, 234, 239, 241, 248, 250–251, 254, 270, 287, 298, 300, 304, 347, 368, 383, 393, 399, 429, 438–439, 456, 466, 472, 488, 490–491, 495, 515–516 Analyse 42, 163, 353, 356–357, 361–362, 364– 365, 375–377, 382–384, 389, 420, 429, 431, 433, 438–439, 448–449, 475–476, 493–494, 499, 501, 503–506, 508, 517, 519, 521–524 – Selbst- 417, 438, 506, 510, 515, 524 Anatomie 16–17, 74, 117, 159, 162–165, 178– 179, 182, 227, 230, 235, 247–248, 253, 256, 297, 303–306, 360, 371, 374, 442, 447–448, 452–453, 457, 471–472, 474 Angst 48, 59, 75, 100, 131, 204, 230, 269, 291, 445 Anpassung 102, 108, 116, 398–399, 431–432, 468–469 Anthropologie 10, 31, 33, 54, 64, 91, 160–161, 169, 181, 183, 259, 262, 293, 298, 333–334, 341–343, 348–349, 351, 353–354, 356, 364– 367, 371, 375, 381–382, 386, 391, 393, 395, 400–401, 472, 514

562

Aphorismus 119, 162, 165–166, 316, 335, 337, 380 Apparat 370, 379, 390–391, 426, 452, 456, 458, 462, 464–465, 472–474, 494, 499– 500, 515–516 Arbeit 45, 49, 69, 76–77, 83, 91, 106, 117, 119, 140, 147, 157–160, 174, 189–190, 196–197, 203, 225, 265, 267, 270, 272, 283, 289, 292, 296, 306, 318, 380, 385, 442, 465, 489, 492–493, 495, 502–503, 509, 514, 517 Archiv 118, 154, 165, 309, 311, 330, 333, 349, 499, 518 Arznei 80, 94, 127–128, 132–135, 142, 166– 167, 175, 177–178, 484–485, 489, 527 Arzneikunde 47, 54, 108, 126, 148, 159, 191, 194, 206, 215, 222, 256–257 Arzt 3–5, 13–14, 18, 45, 47, 51, 57, 62–63, 66–70, 74, 76–77, 79, 84, 98, 100, 104,106, 108, 112, 116, 119, 126, 128, 132, 147, 150–151, 153, 161, 166, 172, 181, 186– 187, 193, 205, 207, 213, 215, 217, 232–233, 256, 258, 262, 269–270, 278, 280, 282, 291–292, 298–299, 304, 307, 313, 333, 341, 369, 427, 441–442, 444–445, 448–450, 453–454, 467, 480, 482, 484, 488–489, 496–499, 501–505, 507, 514, 518, 521–524, 527–528 – psychischer 77, 160, 169, 181, 187, 192, 203 – Wund- 77, 158–165, 256, 528 Askese 53, 59, 81, 114, 116–117, 146, 151, 332, 407, 422 Asthenie 124–125, 129–132, 135, 165, 458 Ästhetik 2, 6, 15, 19, 22, 27–29, 31–34, 38–40, 43, 68, 70–71, 74, 79–80, 88, 97, 107, 109, 113, 117, 122–123, 152, 154, 162, 165– 167, 190, 215, 219–220, 240, 253–254, 256, 258, 260, 271, 295–304, 306–307, 312, 331–332, 373, 388–390, 393–395, 399– 400, 405, 407, 479–480, 482, 484, 486, 518, 529–530 Ätiologie 65, 261, 272, 425, 446, 480 Aufklärung 2, 17, 19, 21, 29–31, 35–36, 47, 52, 54–55, 61, 64–66, 77, 84–88, 101, 109, 118, 120, 128, 132–133, 137, 140, 144, 173,

186, 209, 258, 270, 275, 277, 292, 297, 350, 355, 424, 428, 482, 494, 524, 528 Aufklärungssucht 19, 65, 128–129, 527 Aufmerksamkeit 48, 105, 198, 231, 240, 243, 298, 308, 380–381, 442, 455, 471, 498, 523 Ausdruck 120, 154, 219, 227, 230–231, 244, 250, 274, 289, 293, 301, 303, 307, 316, 319, 322–323, 325–326, 330–331, 333, 353, 381, 385, 388–389, 391, 393, 395, 397, 400, 405–407, 409, 411, 413, 443, 458, 460, 475, 477, 495, 499, 503, 510–511, 514, 516, 518 – ganzheitlicher 42, 104, 219, 242–245, 260, 262, 281, 300, 307, 367, 398, 399, 440–441, 452, 459, 490, 527–528 – indirekter 325, 405, 407, 433, 492–493, 497, 509–510, 518, 520–522 – körperlicher 51, 241, 244, 257, 260, 262, 272, 304, 320–321, 325–326, 353, 367, 392, 410, 425, 429–430, 459–463, 468, 471, 477, 479, 490, 501, 508, 512–515, 517, 520 Ausscheidung 76, 174, 176–179, 223, 229, 237, 240–244, 246, 259–260, 300, 305– 306, 314–315 Autobiographie 6, 20–21, 46, 57, 60, 62–63, 237, 309, 313–318, 323, 328–331, 334, 354, 371, 373, 380, 395, 398, 413, 430, 439, 500, 528 Autonomieästhetik 19, 33, 99–100, 120, 302, 486 Autor 47, 80, 84, 153–154, 165, 231, 280, 292, 298, 311, 315, 317–318, 321, 328, 330, 334, 343, 396, 398, 407, 411, 415, 477, 489, 503–504, 515, 517–520, 528 Bader 77, 159, 256 Barbier 159, 256–257 Behaviorismus 187, 249, 344, 379, 446 Beichte 146, 157, 428, 457, 499 Bekenntnis 145, 150, 156–157, 159, 212, 221, 311, 412–413, 439 Beobachtung 7, 10–12, 14, 16, 27, 30–31, 46, 49, 74, 78–79, 84, 119–120, 131, 178, 181, 188, 197–198, 214, 229, 236, 238, 244–245, 262, 267, 272, 288, 305, 330, 345, 351, 389, 395, 426, 438, 439–440, 475, 495, 499, 501–502, 504–505, 524, 527–529 – Fremd- 62–66, 71, 96, 170, 179, 309–310, 351, 358, 360, 402, 528 – Selbst- 55, 62–66, 71, 119, 132, 179, 236, 239, 309, 336, 338, 351, 354, 380–383, 437–438, 523, 528 Beobachtungswahn 429–431, 437 Beruf 68, 158–160, 171, 178, 181, 188, 192, 195, 221–222, 245, 257, 264–265, 277, 308 Bewußtsein 50, 123–124, 137, 139–141, 143,

146, 176, 182–187, 210, 258, 261, 272, 287, 309, 317–318, 320, 326, 328–329, 333, 335–340, 342, 344, 347–348, 351–353, 355– 356, 359–361, 363–364, 367, 370, 372, 377, 379–382, 384–386, 388, 390, 396– 398, 411, 416, 446, 448, 450–451, 458– 460, 465, 470, 473–474, 479–480, 486, 490, 492–494, 496–497, 499–502, 504, 509–510, 522, 528 Bildung 7, 104, 113–122, 125–128, 131, 133, 137, 140–142, 147–151, 153, 159–161, 164, 212, 253, 307, 313, 318, 321, 323, 325–326, 348, 369, 388, 391–392, 395, 480, 498 Bildungsroman 6, 21, 68, 73, 101, 107, 109– 112, 117, 122, 127, 132, 135–137, 140, 150, 213, 395, 527 Biographie 6, 57, 155, 197, 213–215, 221, 253, 275, 290, 307, 309, 311–313, 321, 330, 334, 349, 384, 404, 410, 412–414, 423–424, 437, 449, 468, 470, 476, 500–501, 507– 508, 515, 517, 521–522 Biographische Erkenntnis 8, 20, 179–180, 187–188, 192, 195, 210, 212–214, 307–310, 334, 338–339, 355, 396, 402, 414, 416, 468, 495, 507, 522 Biologie 2, 101, 103, 200, 246, 252, 311, 317, 322, 336, 343, 349, 369, 384, 395, 403, 432–433, 444, 446–448, 452–453, 456, 458, 464–465, 469, 471–473 Blinde 28–29, 31, 34–37, 39–43 Brief 82, 84, 150–151, 154–155, 157, 309, 328, 403, 409, 417, 420, 515 Chirurgie 77, 104, 159–161, 163, 165, 256, 426, 448–449, 495, 507 Christus 56, 61, 143, 277, 279–282, 423–424, 426–427, 434–435, 483–484, 497 Dekadenz 316, 412, 527 Diagnose 3, 8, 17, 19, 35–38, 41, 43, 45, 47, 60–61, 63, 67, 69–70, 79–80, 112, 137, 179–180, 190, 192, 198, 203, 206, 209, 214, 220, 230–234, 236, 248, 267–269, 271, 292, 307, 311, 320, 332, 336, 343, 403, 411–414, 417, 421, 423–425, 427, 449, 453, 474, 505, 512, 527 Diätetik 38, 47, 59–62, 76, 108, 117, 120, 129, 151, 177, 313–315, 321–322, 348–389, 402– 403, 456 Dichter 20, 34, 112, 161, 334, 339, 368, 369– 370, 389, 391, 394, 417, 422, 429, 449, 459, 488, 490, 500, 511, 529 – blinder 30, 42–43 Diskurs 5–7, 61, 70, 154–155, 189–190, 194, 205–206, 215, 217, 219–221, 233, 251–252, 261, 264, 269–270, 275–276, 282–283,

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290–291, 297–299, 301, 305–307, 310, 314, 324, 339, 353, 378, 382, 388, 400, 408, 416, 418, 425, 444, 486, 489, 503, 528, 529 Drama 6, 46, 79–80, 95, 136, 178, 189–190, 215, 219–222, 231, 233–234, 239, 243, 246, 248–250, 256, 260, 261–263, 265, 268, 271–272, 275–276, 281, 283, 285, 287– 293, 295–301, 303–309, 320, 322, 385, 476–480, 482, 485–486, 488–489, 491– 498, 501–504, 507, 518, 521, 523, 528 Dualismus 8–11, 251, 300, 342, 440, 451, 468–469, 474, 479 Ehe 58, 115, 148, 156, 213, 226, 268, 276–281, 290, 420, 443, 471, 505 Einbildungskraft 19, 30, 33, 41, 50–53, 66, 81, 85, 98, 106, 113, 116, 118, 120–123, 126, 128, 132–133, 136–137, 191–192, 368–370, 388–389, 391, 394, 528–529 Einfühlung 70, 336, 383, 514–515 Elektrizität 77–78, 134, 416, 441–442, 449, 456, 464, 474, 497–498 Eleos 92, 95, 178, 189, 295, 483, 489, 507 Empfindsamkeit 32, 33, 81, 84, 150, 527 – Empfindsamkeits-Krankheit 19, 81, 95, 102, 165 Empirismus 10–11, 29, 31, 101, 106, 182, 190, 201, 240, 249–250, 254, 256, 261–262, 349, 356, 362, 373, 390, 402, 440, 452, 466 Entfremdung 85, 131, 138, 140–142, 146–147, 363 Entsagung 115, 117, 133, 145–152, 154–160, 162, 165–166, 184, 492, 493, 523, 527 Epilepsie 4, 266, 411, 426, 455, 472 Erfahrung 10, 59, 64, 78–79, 127, 178–179, 181–182, 221, 246, 318, 322, 335, 338–340, 348, 350–353, 356, 372–373, 375–377, 380– 384, 390–391, 394–395, 399, 404, 428, 438, 440–441, 444, 450, 489, 498, 508, 514, 515, 520, 529 – innere 349, 356, 357, 363, 377, 379, 383, 385, 386, 392, 393, 395 – unmittelbare 10, 360, 361 Erfahrungsseelenkunde 46–47, 55, 60–64, 68, 119, 304 Erfahrungswissenschaft 1–2, 12–13, 15, 20, 22, 27–29, 31, 34–36, 43, 46, 71, 78–79, 123, 169, 180, 188, 189, 245, 307, 309, 348– 349, 351–357, 363, 366, 369–371, 399–400, 529 Erinnerung 47, 71, 90, 100, 203, 257, 325, 377, 380, 387, 388, 391, 424, 459, 461, 480, 490, 496, 500, 502–503, 515, 521–524 Erkennen 7, 21, 27, 33, 38, 78, 118, 120–122,

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127–129, 134, 141–142, 162, 164, 179, 236, 244–245, 303, 311, 314, 316, 318, 320–322, 324–325, 329, 334–336, 339, 341–343, 347– 357, 359, 363–369, 371–372, 375, 377–383, 386, 388–389, 391–395, 400–402, 404– 406, 408, 410–413, 418, 428–430, 434, 436–438, 461, 474, 493–495, 499, 504, 507–510, 512, 514–516, 521–522, 528 Erklären 10, 361–363, 365–366, 370, 373, 384, 389, 401–403, 440, 442–443 Erleben 7, 10, 21, 42, 316, 319–322, 326, 331, 333, 349, 350, 353, 356–363, 365–367, 372, 375–377, 379–395, 397, 399–400, 405, 411–413, 448, 452, 457, 459, 463, 474, 490, 493, 496, 504, 513, 515, 523–524, 529 Ernährung 175, 177, 197, 201, 214, 220, 223– 225, 228–229, 232, 239, 250–251, 258–261, 270, 274, 278, 281, 289, 300–301, 305– 306, 314–315, 321, 331, 346–348, 397, 462 Erziehung 39, 41, 56, 76, 84, 93, 105–106, 170, 187, 192, 195, 214, 225, 315, 321, 324– 326, 331 Es 415–416, 420, 465, 469, 473 Ethik 6, 10, 22, 37, 43, 47, 58, 78–79, 92, 97, 109, 115, 122, 147, 149, 152, 154, 156–158, 163, 165, 167, 239, 246, 250, 276–277, 279–281, 296, 299–300, 302, 304, 306, 341, 348, 353, 368–369, 372, 391, 398–401, 440, 478, 481, 493, 524–525, 529–530 Ethnologie 399, 438, 439 Evidenz 10, 42, 336, 373, 383 Evolution 7, 170, 184, 186–187, 189, 195, 208–209, 247–248, 250–253, 262, 299, 305–306, 339, 342, 344–347, 354–355, 371, 383–385, 397–399, 424, 428, 431, 444, 453, 456–458, 462–463, 465–466, 469, 472–475, 479, 522 Existenz 144, 151–152, 214, 268, 274, 307, 311, 315, 320–324, 326, 328–330, 332, 372, 383, 388, 394, 401–402, 404–407, 423, 439, 507 Existenzphilosophie 7, 326, 401–405, 407 Experiment 7, 10, 14, 16, 27–29, 31, 34–35, 43, 78–79, 131–132, 225, 229–230, 232– 236, 238–239, 241, 243, 245, 251, 258–259, 274, 278, 281, 284, 289, 342–343, 345, 349, 353, 357, 359–361, 369, 371–374, 396, 406, 421, 423, 433, 440, 443, 448–450, 454, 458, 506, 529 Fakten 12, 47, 63–64, 71, 303–304, 351 Fallgeschichte 5–6, 15, 18, 20, 29, 34–35, 46, 48–51, 63, 66, 68–70, 74–75, 118, 139, 190, 213, 215, 224, 308–311, 313, 320, 329, 331, 333, 336, 401, 407, 416–417, 421–423, 425, 428, 499–501, 503–506, 520–521, 529

Familie 85–86, 157, 195, 226, 276, 278, 283, 399, 424, 431, 443, 463, 476, 499, 502, 505–506, 518 Fieber 50–51, 53–54, 76, 81, 102, 267, 285 Fixe Idee 89, 100, 104–105, 125, 139, 176, 198–199, 202, 224–225, 232, 269, 273– 274, 425 Forensik 20, 181, 189, 193, 205–208, 210–213, 220–222, 225, 239, 241, 254, 256, 260– 261, 270, 283, 285–286, 298–299, 301, 305, 307, 309, 529 Forschung 79, 119, 167, 228, 234–238, 245– 246, 249–250, 254–256, 258–262, 267, 283–285, 289, 294, 296, 300–302, 341, 345, 349, 355, 374, 383, 398, 402, 417–418, 430, 446, 450–451, 501, 525, 529 Fortschritt 17, 22, 102, 106, 141–142, 152, 236, 247, 250, 255–256, 262, 267, 270, 293, 306, 308, 318, 355, 442, 444, 446, 464, 529 Französische Revolution 16–17, 97, 109–110, 133, 137, 148, 224, 452 Freiheit 122, 125, 132, 149, 184–185, 204, 206, 209–212, 224, 241, 246, 253, 268, 273– 274, 288–289, 301, 316, 321–322, 368, 391, 398–399, 402, 404, 413, 529 Freimaurerei 120, 202, 269, 271, 287 Frömmigkeit 22, 55–59, 63–65, 152, 154, 279, 427, 443 Funktion 7, 10–12, 85–86, 103, 170, 179, 186, 230, 242–245, 247–248, 252, 259–260, 292, 294, 300–301, 310, 318–320, 328, 332, 339, 345, 357–358, 364–365, 368, 370–371, 374, 376, 381, 383, 386, 388–390, 392, 394–400, 410, 427–428, 447, 451, 453, 456, 458, 463–466, 470–472, 474–475, 477, 480–481, 508, 514, 519, 521, 524, 527, 530 Furcht 92, 95, 97, 100, 177, 198, 228, 271– 272, 275, 385, 481–484, 489, 491, 507 Galvanismus 130–131, 134–135, 378 Gedächtnis 14, 50, 62, 111, 191, 198, 303, 347, 358, 463, 494, 498, 508 Gefühl 20, 28–31, 33, 36–41, 90, 94, 97–98, 105, 122, 126, 134, 157, 180, 183, 198, 210, 219, 237, 241, 248, 258, 284, 298, 303, 319, 321, 330, 336, 346–348, 352–354, 358, 364, 368, 370–372, 375–377, 379–381, 383, 385–390, 394, 397–400, 403, 408, 446, 479, 482, 488, 505, 523 Gehirn 1, 9–11, 17, 23, 40, 48, 50, 53–54, 103–104, 113, 125–126, 164, 172–173, 176, 178, 180, 204, 206–207, 224, 228–231, 237–238, 241–242, 246–248, 250, 259, 261, 263, 284, 286–289, 310, 314, 342,

360, 369–371, 373, 379, 403, 410–411, 413, 427, 444–446, 453, 458, 472–473, 529 Geist 9, 11, 17, 19, 27 33, 35, 38, 41–42, 48, 54, 59, 64, 68, 75, 77, 80, 85, 105, 110, 112, 120, 123, 125, 138–140, 142, 144–145, 147–148, 150, 152, 165, 184–187, 197, 204, 206, 212, 251, 295–296, 299, 307–308, 311–316, 323–324, 326, 328, 331–332, 337, 341, 343, 345, 350, 355–358, 360, 363–366, 371, 373, 385, 389, 403–404, 412, 479, 498, 514–515 Geisteskrankheit 1, 11, 13, 17, 49, 94, 139, 172, 176, 195, 198–199, 204, 224–225, 231–232, 261, 283–284, 427, 458, 473 Geisteswissenschaft 7, 182, 333–336, 343–345, 348–350, 353, 355–356, 361–369, 377, 379– 380, 383, 388–389, 393, 395, 400–403, 448, 466, 475–476, 480, 516, 521 Gelehrte 38, 45, 54–55, 57, 66, 85, 144 Genie 2, 153, 160, 257, 312–313, 337–338, 368– 370, 384, 389–391, 412–413, 417, 518 Gerichtspsychiatrie 171, 174, 181, 185, 189– 190, 193–195, 201, 204, 206, 208, 210, 213–214, 220–221, 227, 291 Gesang 81, 83, 88–92, 95, 106, 120, 130, 347 Geschichte 3–8, 10, 15, 20, 27, 45–46, 52, 80, 86, 98, 109, 111, 117–118, 120–121, 123, 127–129, 133, 136, 138–139, 141–142, 144, 146–147, 153, 186, 214–215, 221, 236, 240, 245–246, 253, 262, 265, 276, 297–299, 304, 307–308, 310, 312–314, 317, 319, 324, 333–334, 336–339, 341, 343, 349, 351–357, 359, 366–367, 383–384, 389, 395–396, 398–399, 402, 406, 424, 428, 438–439, 444–445, 456, 464, 470–471, 473, 480, 486, 507, 512, 515, 518–519, 523, 527–530 Geschlecht 81, 158, 162, 170, 268, 290, 294, 296, 410–413, 416–417, 441, 444, 453–455, 488, 501–506, 518 Gesellschaftsvertrag 140, 146–150, 155–156, 166, 527 Gesprächstherapie 3, 77, 90, 98, 178, 219, 417, 428, 442, 449, 480, 489, 497–498, 522, 527 Gestalt 28–29, 31, 36, 38–39, 41–43, 162–163, 252–255, 262, 305–306, 317, 353, 391, 393– 394, 404, 408, 528–529 Gesundheit 13–14, 28, 38, 43, 54, 75, 84, 111– 112, 117, 126, 135, 138–139, 160, 169, 179, 184–185, 200, 212–213, 246, 273, 280, 307, 309, 312–314, 316, 320–321, 329–330, 333, 348, 368, 370, 394–395, 403, 409, 442, 456–457, 461, 469, 471, 486, 512, 515–517, 529 Gewissen 53, 131–132, 145–146, 155–157, 183– 184, 199, 201, 267, 271, 275, 416, 431

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Goethezeit 2, 19, 21, 23, 84, 108, 159, 309, 394–395 Gott 9, 11, 53–54, 58–63, 70–71, 122, 133, 142, 147, 161, 165, 181, 184, 186, 189, 230, 235, 239, 271–272, 274–277, 280, 304, 306, 360, 408, 424, 427–428, 432, 486, 492, 523 Gutachten 6, 189, 190–193, 195–199, 201, 205–208, 213, 215, 217, 219–220, 227, 233, 271, 274–275, 283, 287–293, 298–299, 301, 307–308 Haut 15, 33, 169, 318–319, 337, 347, 371, 375– 376, 383, 387, 393, 472–473 Heil-Kunst 2, 19, 159, 164–167, 309, 325, 527, 529 Heilung 6, 43, 51, 54, 60, 70, 75–76, 79, 83–84, 86–88, 91, 98, 104, 107, 112, 119– 120, 126, 130, 132, 134, 137–139, 144, 147– 148, 150, 153, 160, 166, 174, 182, 186, 258, 316, 318, 367, 409, 427–428, 440, 449, 457, 461, 470, 480, 483–484, 489, 492– 496, 498, 502–505, 507, 516, 519, 521–522, 524–525, 527 Heimweh 3, 108–109, 111, 116, 131, 137, 140, 151, 161, 165 Hermeneutik 5, 7, 12, 23, 182, 309–311, 313, 319–324, 326, 328, 332–333, 336, 339, 344, 351, 357, 384, 388–390, 396–398, 401, 407, 411, 413, 436, 440, 452, 463, 468, 470, 475, 481, 493, 495, 498–499, 503, 506–510, 513–516, 518–522, 525 Herz 20, 32–33, 66, 89–90, 94–95, 130–131, 135–136, 142, 145, 234, 395 Herz-Kreislauf-Erkrankung 4, 163, 174, 176, 178, 196–197, 199–201, 203–204, 206, 209, 229, 233, 271–272, 275, 284, 290– 291, 445, 459, 512 Holismus 3, 8, 11, 28, 161, 367, 440, 474 Homöopathie 91–92, 99, 120, 144, 483–485, 489 Homosexualität 422, 430, 434, 506 Humoralpathologie 1, 13–15, 48–49, 53, 78, 85–86, 93, 108, 110, 164, 177–178, 184, 196, 315, 317 Hypnose 368, 441, 443, 449–450, 454–455, 457, 459, 480, 489, 495–499, 501, 506– 507, 524 Hypochondrie 58, 61, 75, 114, 116–117, 144, 185, 201, 203, 208, 267 Hypothese 47, 61, 79, 176, 181, 242, 248, 358, 361–362, 365, 433, 506, 521 Hysterie 4, 17, 25, 71, 90, 108, 185, 273, 367, 408, 411, 416–417, 421, 423–426, 429– 430, 433, 439, 441–445, 450, 452, 454– 457, 459–461, 467–472, 474–475, 477,

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480, 488, 490, 491, 495, 497, 500–502, 504, 507, 510, 512–516, 518, 522, 524 Konversions- 445, 449, 459–461, 466– 468, 470, 475, 480, 494, 509–511

Idealismus 24, 124, 129, 182–183, 186, 210, 212, 235, 302, 311, 349, 362, 364, 372–373, 375, 416, 479, 527 Illusion 100, 421, 428–429, 432, 436, 439 Individuum 4, 6, 20, 47, 113–115, 117, 120– 123, 125, 130–131, 134, 136–138, 142–143, 145–147, 149–151, 154–155, 158, 173, 183, 185, 187, 204, 211, 215, 219, 221, 226, 239, 241, 260, 268, 293, 302–303, 305–312, 329, 333–334, 339, 344, 352, 364, 375, 380–381, 384, 388–389, 391, 395, 397, 399–400, 404–405, 414, 426, 428, 430– 431, 433, 439, 446, 457, 463, 469, 471, 478, 517, 527, 529 Induktion 47, 338, 365, 369 Instinkt 203, 237, 248, 318–319, 346 Interdiskurs 5, 217, 299, 307, 529 Interpretation 33, 47, 51, 57, 92, 97–98, 128, 133, 137–138, 146, 153, 157, 177, 220, 233, 249, 291, 295, 310, 314, 323–324, 330, 340, 377, 379, 381, 392, 403–404, 407, 411, 413, 421–422, 426–428, 435–436, 439, 460, 470–471, 479–480, 482, 486, 492, 499, 502–503, 505, 507–509, 511, 513, 515– 522, 524 Intertextualität 15, 59–60, 92, 119, 145, 154– 155, 165, 217, 220, 243, 246, 256, 277, 293–294, 297–299, 307, 317, 330, 334, 400, 529 Introspektion 21, 334, 336–337, 380, 423, 429, 434, 436–437 Irre 16, 21, 101, 106, 139, 150, 170–171, 214, 224, 264, 266, 308, 427 Irrenanstalt 48, 53–54, 57, 64, 83, 98, 100, 102, 105, 186, 188, 195, 214, 223, 225, 257 Justiz 85, 171, 189, 190–192, 194–195, 205, 210, 213–215, 219–221, 239, 268, 301, 304, 499 Katharsis 15, 20, 60, 80, 92–93, 95, 97, 100, 119, 135, 178, 189, 457, 459, 477, 480– 486, 488–489, 491, 493–495, 507 Kathartische Methode 100, 448, 480–481, 488–490, 495–496, 498–499, 506, 521, 524 Kind 36, 39, 41, 182, 251, 257, 276–277, 279– 280, 290–291, 325, 370, 383, 391, 397, 399, 424, 428, 433, 438–439, 443–445, 461, 463, 471, 476, 491, 499, 503, 513, 515, 518, 521–523

Klassik 43, 84, 99–100, 112, 151, 165, 295, 302, 527 Klima 108–109, 197, 266, 315, 322, 331 Kommunikation 90, 137, 148, 152–155, 157, 243, 263, 270, 274, 292–293, 305, 307, 309, 325, 328–332, 353, 379, 405, 407, 409, 453, 463, 465, 471, 473, 493, 497, 498, 503, 514, 518, 520, 522, 529 Komödie 67–68, 96, 117, 296, 477, 481, 485, 490, 502 Konflikt 4, 7, 385, 429, 465–467, 469–472, 478–480, 489, 491–494, 499, 504, 506, 509, 511, 513, 516, 521–523 Königssohn, kranker 15, 74–75, 112, 114–116, 118, 120, 148, 162 Konstitution 76, 102, 111, 125, 130, 180, 200, 230–231, 267, 270, 364, 439, 445, 471 Konversion 51, 426–427, 458, 466, 509 Kopfschmerz 4, 48, 442, 460 Körper 1, 6, 10–16, 28, 33, 36–39, 41–43, 47–48, 51, 70, 75–76, 85, 91, 93–94, 101– 103, 105, 110, 117, 123, 125–126, 133–135, 137, 139–140, 152, 162–163, 169–175, 180– 181, 183–184, 192, 195, 197, 219, 226–228, 231–233, 236, 239, 241–242, 244, 260– 261, 270, 273–274, 281–282, 285, 288– 289, 296, 299–301, 303, 307, 309–311, 313–314, 316–322, 326, 328–329, 331, 333, 336, 339, 344, 348–349, 352–353, 357–360, 367–369, 371, 374–375, 381, 385–388, 391– 393, 397–399, 401, 403–404, 407, 409, 414, 416, 426, 430, 433, 435, 439, 440– 442, 444–462, 465–475, 478, 480, 484, 486, 488–491, 494, 496–498, 502, 504– 505, 508–515, 518, 520, 527–529 Körperbild 27, 370, 375, 384, 386–388, 390, 392 Krankengeschichte 6, 8, 20, 50–51, 60, 66, 131, 179, 190, 234, 307, 309, 413, 449, 476, 499, 500–501, 503, 506–507, 513, 517–518, 521–522 Krankheit 8, 13, 37–38, 47, 54, 67, 69–70, 76, 78, 81, 84, 86–88, 95–96, 98, 104, 107, 111–113, 117, 119, 123–127, 129–130, 132–133, 135, 137–138, 140–141, 146, 148, 151, 160, 166, 170, 174, 179–180, 184–188, 190–193, 195–197, 199, 205, 208, 212, 214, 221, 228–230, 233–234, 242, 262, 264– 267, 271, 276, 283–285, 290–291, 296, 301, 307–309, 313–316, 318, 322, 333, 337, 367–370, 380, 403–404, 408–409, 416– 417, 421, 425–426, 428–429, 431, 448– 449, 453–454, 456, 459–461, 467, 469– 472, 475–476, 482, 484, 486, 488, 490, 492–493, 495, 497–499, 507, 512–513, 516, 518–519, 521, 523–524, 528



physische 13, 16, 49, 53, 176, 196, 200, 203–204, 206, 209, 211–212, 228, 270, 288, 368, 408, 427, 434–435, 491, 511 – psychische 11, 16, 53–54, 55–57, 85, 93, 101, 103–104, 131, 139, 172, 178, 180–182, 185–186, 188, 192, 194, 201, 203, 206–212, 224, 232, 270, 285–286, 307, 368, 467, 489, 491, 502–505, 508, 510–511 – psychosomatische 3–4, 45–48, 51–52, 69, 82, 85, 108, 129, 131, 148, 182, 198–201, 219, 285, 308, 427, 439, 442, 472 Krankheitsgewinn 415, 430, 461, 470, 508 Krankheitsursache 11, 13–14, 17, 54, 81, 83, 85, 102, 120, 171–175, 177, 188, 197–198, 206–207, 209, 220, 223–224, 228, 232, 261, 266, 271, 284, 289, 291–292, 368, 444–445, 453, 471, 517, 527 Kultur 4, 6, 14, 19, 37–39, 74, 76, 80–84, 86–87, 102, 152, 166–167, 299–300, 306– 307, 309, 336–337, 339, 354–357, 364, 367, 396, 398–401, 414, 421–422, 424, 428–429, 439, 441, 446, 454, 473–474, 480, 490, 494, 518, 527–528 – -diagnose 29, 36, 102, 394, 414, 421, 423, 433 – -geschichte 3, 5–6, 37, 98, 141, 304, 398– 400, 431–432, 436–438, 448, 473, 516, 530 – -kritik 36–38, 41, 432 Kulturwissenschaft 6–7, 28, 359, 371, 401, 530 Kunst 34–37, 39–40, 42–43, 68, 70, 74, 80, 83, 93, 99, 103–105, 110, 112–114, 118–121, 126–127, 134–137, 148, 150, 152, 159, 163– 164, 186, 220, 256–257, 295, 298–299, 302–305, 308, 311, 313, 316, 318, 321, 323, 331–334, 339, 356, 365, 369, 389, 390–395, 398, 413–414, 422–423, 425, 429, 443, 475, 477, 482, 484, 488–491, 493, 497, 503–504, 509, 516–518, 523 – und Medizin 2, 74, 93, 99 Kunstreligion 22, 132–133, 153–154 Kur 2, 51, 68–70, 73–74, 77, 186, 328, 332, 482, 484, 505, 528 – prosaische 2, 70, 73, 144, 150, 167 – theatralische 2, 70, 73, 144, 150, 167 Kurmethode, psychische 1, 3, 8, 15, 51, 68, 73–74, 76, 79–80, 83, 86, 88–91, 94, 96–98, 100–107, 116–117, 125, 139, 140, 142–143, 147, 158, 161–162, 177–178, 367– 368, 400, 442, 494, 523 Labor 32, 34–35, 162, 239, 255 Lähmung 129, 152, 176, 228, 230–232, 261, 403, 423, 427, 434–435, 450, 454, 474, 527 Laie 66, 74, 80, 99, 208, 228, 231, 233, 267, 336, 338, 443

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Leben 6, 9–10, 12, 16, 20–22, 28–29, 32–36, 38–39, 41–43, 45–46, 49, 55–60, 63, 65, 67–69, 71, 74, 76–77, 80–81, 83–85, 102– 103, 108–111, 113–119, 121, 124, 126–127, 129–135, 137, 139–140, 143–144, 151–156, 163–166, 169–171, 173–174, 176, 181, 183– 188, 190, 192, 196–197, 199, 203, 206, 209–214, 222, 225–226, 229, 234, 237, 239, 241, 246, 249, 251–253, 255, 258, 260, 291, 300–301, 303–306, 310–313, 315–318, 320, 322–325, 327–328, 331–334, 338–340, 351, 353, 355–356, 358–361, 363– 365, 368–369, 373, 376, 379, 382, 384–385, 387–390, 394, 396–401, 404–406, 409– 413, 421–422, 434–435, 442, 467, 477– 478, 495, 500, 520, 523–524 – animales 231, 241–243, 259, 300 – vegetatives 12, 231, 241–243, 259, 300 Leib-Seele-Zusammenhang 2–4, 6–11, 15–16, 24–25, 47, 49–52, 54, 68, 85, 93, 103–104, 106, 109, 111, 125, 127, 135, 151–152, 170– 171, 173, 179–183, 188, 192, 197, 200, 228, 231, 238, 247, 260, 271, 273–274, 285, 299–300, 304–305, 307, 309–310, 320, 329, 332–334, 344, 348–349, 352, 356–361, 363, 367–370, 372, 376–377, 379, 381, 384, 388–389, 392–393, 395–397, 403, 440, 444–445, 447, 449, 451–452, 466, 474–475, 491, 496, 515 Leiche 17, 163, 270, 295 Leichenöffnung 16, 162–164, 179, 182, 200, 204, 232, 234 Leidenschaften 14, 16, 20, 49–50, 58, 75, 80–81, 93–94, 96–98, 100, 117, 130–131, 185, 187, 198, 201, 203–205, 212–213, 227– 228, 307, 395, 449, 477, 479, 481, 483–484 Lesen 47, 59, 84–85, 106, 150, 189, 203, 207, 244, 292, 298–299, 315, 326–329, 331–332, 345–346, 379, 392, 395, 407, 412, 418, 436, 442, 461, 484, 504, 513–514, 518–520, 523, 528 Lesesucht 19, 53, 65, 67, 84, 527 Liebe 33, 35, 40–42, 70, 75, 96, 115, 120, 128, 131, 134, 151, 156–157, 161–162, 165, 170, 174, 184, 199, 226, 273, 277, 288, 290– 291, 293, 300, 321, 346, 402, 469, 474, 477, 502, 523, 527 Literatur 155, 295, 448, 480, 508, 527–530 – als Darstellungstechnik 21, 213, 246, 253, 254, 256, 258, 261–262, 298–308, 388–395, 405–407, 448–450, 477, 480, 493, 499– 506, 516–519, 527–528 – als Krankheitsursache 19, 83–85, 150 – und Heilung 74–75, 150–151, 332, 389, 394–395, 400, 480–487, 493–506, 516– 519, 522–525, 527–528

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und Medizin 18, 74, 256, 261–262, 369, 370 – und Methodologie 21, 261–262, 302–308, 388–395, 400, 476–477, 480, 493, 521– 525, 528 – und Pathologie 19, 176, 261–262, 272, 300–308, 315, 369, 370, 400, 488, 490, 493, 527 – und Philosophie 18, 23, 323–325, 327– 328, 332, 340, 385, 388–395, 405–407 – und Psychiatrie 23, 271, 272, 300–308 – und Wissenschaft 5, 20–22, 240, 246, 249–250, 253–254, 256, 261–262, 271, 298–308, 385, 388–395, 400, 448–449, 476–477, 480, 493, 527–530 Lust 80, 92, 142, 183, 295, 317, 372, 385, 430– 431, 443, 456, 482, 486, 491, 493 – Un- 85, 372, 381, 456, 482 Lyrik 13–14, 56, 89–92, 108, 120, 136, 150, 356, 395, 410, 482, 484, 486, 504, 527 Magie 77, 86, 132, 147, 257, 404, 491, 496, 498 Magnetismus 77–78, 130, 134–135, 187 Manie 13, 191–192, 198, 201–202, 261, 284– 286, 300 Medizin 36, 38, 47–48, 53–54, 74, 76, 78–79, 85–86, 93, 97, 111, 116, 118–120, 123, 126– 127, 132–133, 159–161, 165–167, 171, 174– 175, 178, 182, 184–185, 188–190, 192, 199– 200, 205, 207, 215, 219, 226–229, 231–234, 245, 249, 256–258, 269, 273, 280–281, 298, 304, 307–308, 353, 369– 370, 400–401, 403, 437–439, 446, 448, 453–454, 474, 481–486, 488–489, 492– 495, 512, 516 – antike 13, 15, 75, 97, 114, 166, 266 – -geschichte 3, 5, 13, 18, 23, 75, 148, 161, 172, 266 – psychosomatische 2, 8, 11, 15, 23–25, 101, 132, 445, 470, 472, 475 – somatische 4, 13–15, 114, 173, 441–445, 471 Melancholie 13–14, 19, 52, 57–58, 70, 74, 76, 81–86, 89, 91–92, 105, 107–108, 110, 116, 124, 127, 129–130, 135, 164, 175, 185, 195– 196, 264–267, 273, 276, 278–279, 284, 314, 367, 484, 505 – Liebes- 73–75, 94, 107, 109, 114, 130–131, 148, 157, 162, 211, 265–270 – religiöse 4, 8, 17, 19, 45–47, 52–66, 71, 74–75, 102, 107, 109, 132, 144, 186, 265, 267, 270, 273, 275–276, 282, 424–428 Mensch 219–220, 229, 239–241, 247–248, 250–251, 256, 259, 262, 265, 267, 279, 281, 284, 296, 299, 300–307, 311–313,

323–324, 326, 328–331, 334, 336–339, 343– 345, 347, 349, 354, 356, 360, 362–365, 368, 370–371, 374, 382, 384, 386–387, 393, 395–399, 402–403, 405, 407, 424, 428, 431–434, 439, 441, 445, 453, 457, 460, 462–463, 465, 473, 478–479, 481, 485, 488–489, 492–493, 501, 512, 514–515, 527– 528 – als Mangelwesen 111–113, 121, 128, 136, 154, 156, 473 – als Maschinenwesen 18–19, 364, 473, 474 – als psycho-bio-soziales Phänomen 20, 175, 214, 217, 259, 272, 276, 300, 353, 357, 472, 529 – ganzer 1–2, 4, 6–8, 12, 15, 17–18, 22–23, 27–28, 33, 37–39, 43, 103–104, 123, 136, 160, 169, 171–174, 182–183, 214, 309, 311, 313, 316, 321, 336, 344, 348–349, 352–354, 357, 364, 367, 371, 385, 392–396, 398– 400, 406, 472, 529 – Nerven- 1, 13–14, 103–104, 106, 126 Metamorphose 248, 252–255, 325, 391 Metapher 34, 53–54, 59, 103, 111, 126, 133, 170, 242–243, 245, 249, 255, 262, 280, 282, 287, 292, 314, 318, 322, 325, 346, 393, 405, 438, 449, 460, 464, 467, 472–475, 477, 480, 504, 509–510, 512 Metaphysik 11, 109, 181–182, 269, 302, 312, 340–341, 343, 348, 350–351, 354–355, 358– 359, 362, 365, 374, 392, 399, 401, 412, 437, 512 Metapsychologie 420–421, 437–438, 464, 522 Methode 21, 171, 178, 182, 239, 246, 302, 305, 307–308, 312–313, 333–340, 345, 349, 352, 354, 357, 362, 365–368, 382–384, 389, 394–395, 399–406, 408, 438, 440, 442, 476, 516, 523, 524 – genetische 6, 20, 212–213, 221, 235, 246, 248, 252–254, 256, 258, 262, 264, 280, 297, 302–304, 307 Metonymie 249, 282, 393, 460, 464, 474, 475 Milieu 20, 63, 83, 87, 109, 195, 219, 305, 310, 334, 366, 389–391, 395, 399, 466, 468, 473, 529 Militär 196, 199, 215, 219–220, 223, 225–226, 229, 231, 234, 239, 245, 251, 264, 267, 269, 272, 277–278, 281–283, 287, 294, 297, 300, 304, 308 Mitleid 70, 87, 92, 96–97, 189, 290, 296, 481–484, 491, 495 Moderne 36–37, 39, 42–43, 46, 71, 100, 102– 104, 117, 120, 125, 132–134, 136–137, 146– 147, 154–155, 169, 173, 179, 234–235, 237, 239–240, 244, 246–247, 259–260, 267, 269–270, 276, 295, 297, 300, 303, 306,

308, 311, 348–350, 361, 366, 368, 370, 373, 388–399, 408, 414, 425, 428–429, 434, 436, 441, 472, 474, 476, 478, 486, 488– 489, 491–494, 505–506, 522, 527 Monismus 8–11, 247, 343, 358, 440, 451, 453, 468, 474 Moral 55, 64, 68, 71, 74, 77, 92–93, 102, 104, 117, 128, 131, 139, 145–147, 152, 156, 172, 176–178, 182, 189, 197–198, 203, 206– 207, 212, 219–220, 225, 233, 235, 239– 240, 258, 261, 264–265, 267–270, 273, 276–283, 288–290, 292, 295–297, 299– 301, 307–308, 311, 314, 316, 325–327, 345, 347, 351, 399, 405, 416, 424, 429–430, 442, 463, 468, 470, 481–484, 529 Moral management 68, 76, 97–98, 116, 160, 186, 233, 292, 470 Mord 17, 24, 53, 55, 57, 192, 196, 202–203, 205, 220–221, 224, 231, 239, 263, 269, 272–275, 281, 290–291, 295, 299, 302, 310, 477 – Kinds- 55–56, 277, 295 – Selbst- 46, 53, 56–57, 116, 193, 199, 212, 228 – Vater- 57, 295, 423–424, 434, 493, 496, 513 Morphologie 21, 250, 252, 303, 305–306, 391, 394 Museum 29, 35–36, 39–42, 162 Musik 80, 83, 86, 89–94, 99, 103, 126, 150, 202, 273, 275, 481, 483–485, 527 – -theater 74, 86, 92, 94–95, 100 – -therapie 1, 89, 92, 105, 126, 134, 151, 484 Mystik 52, 57, 60, 62, 322, 412, 425 Mythos 299, 370, 389, 392–393, 424, 429, 431, 438, 444, 448 Narr 100, 102, 105, 185, 212, 225, 251, 257, 262–264, 273, 276, 293, 385 Narzißmus 421–423, 430–432, 434–435, 468 Natur 68, 70, 87, 97, 99, 104, 128–130, 134– 136, 152, 156, 161, 165–166, 174, 201, 211, 235, 240, 241–245, 250, 252–254, 275, 279–280, 299–300, 302–304, 306–307, 309, 315, 317, 321, 324, 326, 329–330, 332, 334, 337, 340, 343, 349, 351–352, 354, 356, 359–361, 363–365, 367, 369, 378–380, 392–395, 398–399, 401, 404, 424, 427, 432, 448, 453, 466, 473, 480, 495, 508– 509, 511, 513, 528 – -philosophie 11, 24, 101, 124, 173, 189, 232, 235, 240–241, 244–245, 247–249, 251, 255, 256, 261–262, 299, 302, 362, 444, 451, 453 – -wissenschaft 7, 15, 20, 22, 27, 29, 34–35, 54, 71, 117, 126, 129, 133, 135, 151, 163,

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170, 182, 190, 215, 221, 223, 227, 229, 231, 237–239, 242, 246, 249–252, 254–256, 259–260, 262, 267, 270, 295, 297–305, 307–308, 333–335, 340–345, 348–350, 353, 355, 361–363, 365–367, 369, 377, 379, 383, 394–395, 400–403, 415, 421, 438–440, 444, 446–450, 452, 456, 466, 474, 480, 499, 502, 522, 524, 529 Nerven 49, 53–54, 56, 75, 85, 93, 101, 103– 104, 106–108, 110, 124, 126, 129, 134, 152, 169, 172–173, 176, 180, 190, 204, 206– 207, 227–231, 237–238, 241–250, 254, 259–260, 284, 288–289, 300–302, 304, 318, 342, 344, 346, 358, 364, 371, 373–374, 376, 396–397, 427, 440–441, 446, 450– 451, 453–454, 456–457, 464–466, 472– 473, 475, 495 Nervosität 317, 441–445, 449, 471, 498, 507 Neurologie 348, 370, 416, 440–441, 444, 449, 452, 463–466, 495 Neurose / Neurotiker 4, 187, 416–417, 421, 423–424, 428–429, 433, 435, 439, 441– 442, 444–447, 453–455, 468–471, 475, 489, 493–494, 500, 511, 514, 516 – Zwangs- 25, 71, 422–424, 426, 428–429, 475 Novelle 6, 20, 150, 154, 309, 449, 476, 499– 500, 504, 528 Ödipuskomplex 423, 424, 430, 431, 434, 438, 444, 476, 503, 513, 521 Ohnmacht 4, 76, 81–82, 229, 293–294, 454 Ontogenese 183, 252, 353, 355, 371, 396, 398, 421, 430, 431–434, 438, 457, 460, 471, 473 Pädagogik 55, 64, 76–77, 84–85, 93, 101, 105, 120, 470, 480, 498–499, 523 Parallelismus 10, 170, 361, 403 – psychophysischer 9, 358, 440, 446, 450– 451 Pathographie 19, 109, 127, 143–144, 269, 314, 395, 400, 408, 417, 430, 527 Pathologie 16, 37, 80, 95–97, 112–113, 116, 118, 121, 127–128, 131–132, 137–138, 142, 145–147, 150, 197, 222, 245, 262–264, 269, 272, 275, 281–282, 301, 304, 308, 336–338, 367–368, 370, 410, 412, 421, 424, 428, 431, 433, 438, 442–443, 445, 447, 457, 459, 461, 467, 482–483, 486, 488, 497, 515, 527–528 Patient 3, 5, 14, 20, 45, 50–51, 62, 68–70, 76–80, 86, 98–100, 105, 115–116, 128, 130, 147, 166, 171, 187–188, 232–234, 258, 262, 270, 303, 313, 333, 411, 414, 417, 428, 431, 434, 441–442, 444, 448–449, 453–455,

570

457, 460, 470, 474, 490, 495–508, 510, 514, 517–524, 528 Perspektivismus 21, 375, 406, 505, 528 Phantasie 12, 66–69, 81–83, 86–87, 90, 94–95, 97–100, 106, 125, 128, 131, 152, 176, 198, 286, 347, 368, 429, 438–439, 444, 490–491, 504, 523 Philosophie 5, 8–12, 18–19, 21, 23, 33–34, 37, 40, 71, 85, 93, 101, 108–109, 121–123, 132, 134–135, 148, 161, 169–170, 180–182, 187, 190, 212, 217, 235, 239, 244–245, 254, 257, 280–281, 289, 298, 300, 309–316, 319–326, 331, 333–335, 337–340, 343, 345, 348, 351–352, 356, 359, 362, 368–369, 372, 385, 393, 401–402, 404, 406–417, 419–423, 428–430, 435–440, 444, 446, 449 – -geschichte 8, 251, 270, 320, 324, 338– 339, 341, 355, 474, 476 – Lebens- 338–340, 345 – Popular- 64–65, 71, 137–138, 143–144 Phobos 92, 95, 97, 100, 178, 189, 295, 483, 489, 507 Phylogenese 183, 353, 355, 363, 370–371, 396, 398, 421, 423–424, 429, 431–434, 438, 457, 460, 462, 471, 473 Physik 78, 130, 132, 440, 447, 449, 452, 456, 466, 474, 478 Physiognomie 79, 113, 132, 141, 180, 197, 209, 262, 265, 408, 411, 512 Physiologie 19, 27–28, 32–33, 37, 74, 78, 124, 152, 163, 169, 174, 178, 180–182, 206, 211, 219, 227–229, 236–239, 241–242, 244– 251, 256, 259–261, 284–301, 303, 305, 307, 311–314, 316, 320, 323, 326, 332–333, 342– 344, 349, 359–361, 366–367, 369–371, 373–376, 378–379, 384, 396–397, 403, 408, 416, 443, 445–447, 449–451, 453, 456, 458, 463, 464, 466, 474 Pietismus 52–53, 55, 57–65, 107, 132, 265, 275 Plastik 31, 37–38, 40, 42 Plastizität 103–104, 126, 316, 346, 491 Poesie 31, 40, 42–43, 65, 128, 136–137, 166, 341, 388, 393–395, 493–494, 504 Poetik 354, 369, 380, 388–389, 391, 393, 400, 477, 529 Positivismus 351, 356, 409–410, 412, 427, 437 Prosa 99–101, 136, 219–220, 237, 275, 290, 338 Proteus 251–256, 262 Psychiatrie 8, 10–11, 17–18, 20, 23–25, 54, 68, 73–74, 100–101, 106, 112, 125, 134–135, 138–140, 170–173, 175, 178–179, 183, 186– 192, 203, 206–208, 210–211, 214–215, 219–220, 224, 229, 234, 245–246, 251, 254, 256–257, 260–263, 269, 273–274,

283, 285, 298, 300–301, 305, 307, 309, 401–403, 408, 416, 423, 426, 444, 446, 448, 466, 480, 490, 529 Psychiker 1–2, 7–8, 11, 17, 53, 125, 138, 160– 161, 164, 169, 171–172, 174, 176–177, 179– 182, 186, 188, 190–191, 193, 200–201, 206, 212–213, 217, 225, 240–241, 245, 250, 260–262, 282–283, 288, 290, 292, 298, 301, 307, 425, 444 Psychoanalyse 3, 6–7, 12, 16, 20, 22, 24–27, 49, 51, 71, 90, 100, 116, 140, 186–187, 189, 219, 309, 333, 357, 367, 386, 390–391, 407–408, 411–525 Psychogenese 3–4, 8, 52, 73–74, 148, 213, 228, 367, 435, 459, 474 Psychologie 7, 10, 12, 14–16, 20–23, 27, 33, 47, 49, 54, 57, 59, 64, 68, 71, 73, 76, 78, 87, 137–138, 169–171, 173, 180–181, 191, 199, 202, 206–208, 210, 212–213, 215, 221, 273, 286, 287–288, 292, 298, 300, 309, 311–315, 320, 323, 332, 333, 335–339, 341– 347, 349–352, 354–358, 361, 366, 368–370, 373–376, 378–379, 382–383, 387, 389– 400, 402–403, 407–408, 410, 412–416, 421–423, 427–429, 432–435, 437–438, 442, 445–448, 451–452, 458, 463–464, 466, 468, 472, 476, 478–480, 486, 488, 491, 507–508 – Entlarvungs- 12, 311, 402, 414–415 – erklärende 182, 342–343, 362, 365, 369, 389, 404 – verstehende 12, 20–22, 27, 182, 188–189, 309, 339–340, 343, 348, 361–367, 369, 373, 379, 383, 388–389, 394, 400–401, 411, 413, 517, 522 Psychophysik 9–10, 12, 24, 27, 170, 238, 357– 362, 371, 374, 451, 464 Psychosomatik 1–3, 5–10, 16–17, 20, 22, 24–28, 38, 48, 52, 54, 75, 106, 111, 114, 123, 125–126, 129, 139, 157, 160, 169–171, 180–182, 189–190, 198, 209, 213, 219, 221, 225, 227, 229, 231–233, 247, 269–270, 288, 300, 305, 307, 313, 332–333, 343, 353, 367–369, 371, 397, 400, 408–409, 414– 415, 417, 427, 435, 439, 441–442, 445, 447, 449, 454–455, 462, 469, 472, 474–475, 480, 494, 497, 512–513, 527–528 – psychisch-somatisch 1, 24, 48, 52, 125, 169, 171, 173, 176, 188, 209, 228, 232, 261, 316, 320, 333, 421, 466, 475 – somatisch-psychisch 1, 125, 169, 171, 173, 176, 188, 194, 204, 209, 224–225, 228, 232, 261, 283–284, 286, 289, 313–314, 316, 320, 333, 421, 435, 466, 475 Psychosomatischer Diskurs 8, 15–16, 23–24,

27, 111, 170, 186, 196–197, 200, 219, 300, 309, 367, 402, 470, 528–529 Psychotherapie 2, 101, 439, 448, 449, 524, 528 Puls 76, 115, 164, 176, 179, 197, 224–226, 228–229, 236–237 Pygmalion 27, 33, 35, 40, 42, 164 Quantifizierung 124, 358, 384, 390, 448, 450, 452, 456, 469, 471 Raserei 82, 94, 177, 191–192, 210, 285, 288 Realismus 295, 303–304, 306–307, 395, 476, 505 Realitätsverlust 83, 85–86, 106, 113, 271, 274, 368, 490, 519 Recht 17, 23, 85, 96, 120, 139, 145–150, 163, 192–193, 207, 210, 214–215, 258, 276–277, 284–285, 298, 300, 305, 325, 356, 365, 392 Reflex 10, 17–19, 164, 172, 178, 229, 237–238, 245–248, 259, 286, 301, 305, 386, 392, 396–398, 400, 452–457, 459, 461–462, 464–465, 472–474, 479, 498 – -bogen 4–5, 7, 24, 27, 224, 227, 246– 247, 259, 285, 333, 344, 395–396, 451–454, 456–458, 461, 463–467, 472, 479, 494– 495, 522 – -neurose 4, 8, 27, 249 – physischer 10, 247–248, 260, 453, 458, 460, 473 – psychischer 10, 17, 247–248, 260, 453, 458, 473 Reisen 109–111, 120, 131, 140, 151, 157, 315, 321 Reiz 10, 32–35, 42–43, 79, 98, 102, 105, 125– 126, 132, 134–135, 198, 200, 204, 237–238, 245–247, 263, 272, 280, 287, 326, 331, 333, 337, 347, 358, 366, 378–379, 390–391, 396, 398, 445, 453, 456, 459, 462–465, 468, 472, 479, 529 – psychischer 228, 237, 249, 261, 458, 461– 462, 465–467 – -Reaktionskette 84, 124, 130, 227, 272, 333, 346, 396–398, 452, 457, 459, 467, 472 – und Erregungslehre 7, 27, 53, 106, 123– 124, 247, 371, 452 Relativität 21, 35, 341, 378–380, 382, 395, 402 Religion 17, 49, 53–54, 56–58, 65–66, 71, 79, 127–128, 132–134, 140–141, 143, 146, 148, 151–153, 156–158, 161, 174, 181, 187, 198, 220, 270, 273, 275–276, 279–282, 300, 304, 322, 338, 340–341, 356, 365, 367, 407–408, 412, 416, 422, 424, 426–429, 431–432, 434, 436–437, 439–440, 448, 468, 477, 480, 491–492, 494, 508, 518 Revolution 255, 262, 297, 378, 477

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Roman 15, 20, 46, 56–57, 62–63, 70, 84–85, 136, 142, 149–150, 154, 159, 213, 309, 340, 347, 354, 476, 504, 506, 527–528 Romantik 2, 22, 43, 84, 109, 112, 121, 125, 129, 131, 134, 137, 140, 143, 147, 151, 153– 154, 161, 165, 247–248, 250, 299, 381, 388, 390, 451, 453, 527 Säkularisierung 17, 55, 59–60, 63–64, 71, 117, 122, 147, 429, 493 Satire 61, 232, 238, 241, 250, 258–259, 267, 270, 295–297, 306, 308 Schlafstörung 4, 46–49, 52, 76, 169, 177, 442 Schmerz 13, 32–33, 35, 79, 90, 92–93, 111, 115, 130–132, 177, 184, 237, 290, 300, 313–315, 317–318, 377, 385, 413, 434, 460–461, 463, 486, 505, 508, 515, 524, 527 Schock 226, 228, 231, 261 – -therapie 51, 92, 97, 106, 139, 177 Schönheit 29, 33, 37–40, 42–43, 68, 110, 185, 221, 254, 257, 295, 297, 299, 301–303, 306, 348, 354, 394–395, 504–505, 529 Schreck 17, 51, 81–82, 92, 97–98, 100, 174, 177–178, 189, 227–232, 261, 489 Schrift 84, 105, 135, 147, 150–151, 153–156, 165–166, 243, 245, 301, 309, 311, 313, 317, 319, 322, 327–330, 332, 410, 413–414, 418, 436, 498, 527 Schuld 145–147, 156–157, 160, 173, 206, 208– 212, 276, 284–285, 288–290, 301, 482, 494, 499–500 Schwärmer 46, 52–53, 55–56, 64, 84, 86, 193, 230, 264–265, 267 Schwermut 69, 76, 78, 81, 86, 94, 108, 230, 265, 267 Schwindel 46–47, 50–52, 70, 77, 82, 199, 224, 230, 270, 274, 454 Schwindsucht 76, 142–144, 280 Seele 1, 6, 10–16, 19, 22, 24, 28, 33–34, 38–39, 42–43, 47–48, 51, 53, 58, 69, 85, 93–94, 102–104, 107, 117, 123, 125–126, 134–135, 169–170, 172–176, 179, 183, 191, 193, 200, 204–206, 219, 226–228, 230, 232, 239, 241, 245–246, 251, 261, 263, 270, 274, 287–289, 301–302, 309, 311, 313, 316, 326, 331, 333–334, 337, 339–340, 344–351, 353– 354, 357–370, 372–373, 375–377, 379, 381–384, 386–393, 395–400, 404, 409– 410, 412–414, 426, 429, 432–436, 439– 453, 456–457, 459, 461–468, 471–476, 479–480, 483, 488–489, 491–494, 496– 501, 503–504, 506–507, 509, 512–513, 515– 517, 519–523 Selbstbewußtsein 98, 103, 122, 135, 141, 183, 185, 244, 329, 354, 369–370, 380–381, 384–385

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Selbsterkenntnis 47, 244, 318, 323–328, 331, 336, 339 Semiotik 7, 47, 86, 179, 300, 480, 512 Sexualität 33, 40, 102, 134–135, 174, 189, 196, 211, 277, 279–280, 289, 292–293, 300– 301, 347–348, 415, 422–423, 425, 430, 435, 439, 444, 447–448, 455, 461–462, 468, 475, 480, 485, 491, 501, 507, 513, 518 Simulation 45, 287, 443, 444, 470 Singspiel 6, 73–101 Sinn 155, 186, 238, 309, 324, 330, 339, 396, 400, 404, 410, 446, 452, 495, 499, 507– 508, 510–511, 513, 516, 523, 525 – latente 499, 508–509, 513, 522 – manifeste 499, 508–509, 513, 522 Sinne 29–31, 33–37, 41–43, 86, 88, 91, 94, 97–98, 103, 105–106, 126, 135, 182, 236, 238–239, 243–244, 246, 263, 274, 298, 300, 314, 342, 358, 364, 371, 373–375, 377–379, 381, 385–387, 390, 399, 445 Sinnestäuschung 4, 49, 81, 131–132, 176, 199– 203, 206, 224, 233, 269, 271–272, 274–275, 282, 285, 287, 368–369, 477, 490, 496 Somatiker 1–2, 7–8, 11, 53, 125, 164, 166, 169, 171–174, 176–178, 190–191, 193, 200, 203, 205–206, 217, 224–225, 231, 234, 240– 241, 245–246, 260–262, 284, 287–288, 290, 292, 301, 425 Spiel im Spiel 79, 84, 86, 95–96, 99, 112, 240, 298, 523 Sprache 4–5, 14, 19, 21, 30–31, 34, 37–38, 90, 95, 105, 121, 123, 136, 140–141, 146–147, 150, 198, 219, 227, 230–233, 235, 243–246, 250, 260, 262, 265, 273–274, 276, 281, 288, 293–294, 300, 313, 352–353, 362, 367, 379, 381–382, 388–389, 392–393, 405, 449– 450, 452, 457–460, 463, 471, 474–475, 479, 489–490, 495–497, 504, 508–511, 513, 516–518, 520, 522–524 Sprachtherapie 1, 90, 219, 495–496, 498–499, 521, 524, 527 Sprachstörung 4, 46, 48–52, 90, 450 Staat 85–86, 93, 138, 141, 146, 148–149, 181, 273, 277, 367 Statistik 193, 280, 368–369 Statue 33, 35, 39–43, 162, 370 Struktur 5–7, 12, 21, 42–43, 66, 79, 89, 103, 109, 111, 113, 122, 128, 136–137, 140, 142, 146, 154–157, 187, 197, 216, 219–221, 226, 240, 246, 269, 275, 281, 290–292, 295, 300, 304–306, 309, 312, 326, 339–340, 344, 347, 349, 351, 353–355, 357, 359, 364, 368, 369–370, 375, 377, 379, 382, 384– 393, 397, 399–400, 411–412, 466, 472, 474, 480, 503, 508, 516, 518–519, 528 Sublimierung 415, 462, 504, 522

Suggestion 51, 99–100, 326, 449–450, 480, 489, 496–498, 501 Sünde 17, 53, 172–173, 184, 212, 289, 470 Symbol 136, 166, 254, 379, 393, 403, 413, 430, 468, 509, 512, 520 Symbolisierung 51, 367, 391–393, 408, 460– 461, 468, 504, 508, 517, 528 Sympathie 7, 32, 229, 246, 247, 326, 436, 443, 453, 480 Symptom 3–5, 49, 52–53, 58–59, 65, 67, 100, 111, 115, 120, 132, 171, 176–177, 188, 192– 193, 198, 201–202, 206, 219, 221, 224, 226, 228–229, 232–233, 266, 271, 275, 290–291, 314, 316, 319, 322, 406, 409, 411, 413, 417, 426, 430, 441, 445, 448, 450, 454–455, 458–461, 467–471, 477, 480, 491, 495–498, 500, 503–505, 507– 513, 516–518, 521, 525, 527–528 Symptompool 4–5, 46, 49, 52, 460 System 7, 11–12, 81, 85, 103–104, 119, 123, 129, 148, 282, 285, 312, 319, 323–324, 334, 338, 340–341, 344, 347, 350, 352, 355–356, 365, 370, 382–383, 397–400, 410, 414, 420, 422, 429, 437–438, 456–457, 464– 466, 471–472, 474, 480, 509–511 Systemtheorie 7, 12, 365, 400, 522 Tastsinn 8, 27, 29–31, 33, 35–39, 41–42, 88, 105, 123, 135, 238, 244, 300, 342, 352, 354, 369–376, 380, 383–385, 388, 451 Tatsachen 71, 170, 179, 335, 337, 351, 353, 356, 361, 363, 365, 367, 370, 372, 379, 380, 382, 384–386, 389, 438 Täuschung 41, 51, 99–100, 319, 327, 329, 330, 377, 380, 443, 444 Temperament 14, 53, 76, 83, 175, 198, 201, 307, 317 Theater 67, 79, 85, 92, 95, 105, 190, 311–312, 443, 454, 477, 488, 490, 491 – -therapie 1, 2, 70, 80, 87, 88, 95, 96, 98, 100, 102, 105, 134, 144, 151, 484 Theatromanie 3, 19, 45, 52, 65–71, 76, 84, 102, 490, 527 Theologie 8, 17–18, 23, 54, 61, 67, 71, 74, 137, 143, 160, 173, 181, 184–185, 187, 190, 227, 239, 242, 275, 279, 298, 301, 424– 425, 427, 429–430, 434–437, 529 Therapie 1, 6, 19, 54, 60–61, 63, 65, 67, 70, 77–78, 84, 86, 99, 105, 107, 111–114, 116– 118, 121, 123, 126–127, 131, 133, 136–137, 144, 147–148, 150–151, 156, 166, 169, 171, 173, 177–178, 188, 190, 228, 232, 313–315, 368, 414, 417, 428, 434, 442, 444, 447, 449–450, 454, 456, 480, 483–484, 489– 490, 493–496, 498, 502, 507, 513, 516– 517, 519–523, 525, 527–528



ganzheitliche 68, 87, 91, 104, 106, 110, 120, 134–135, 497 – Gesellschafts- 83, 148, 150, 156 – somatische 416, 441, 456, 497, 498 Tod 3, 16–17, 50–51, 56, 58, 81–82, 84, 89–92, 100, 108, 116–117, 133, 135, 138, 147, 159, 162–163, 165, 171, 186, 189–191, 218, 229, 231–232, 234, 249, 253, 255–256, 258, 267–268, 273–275, 282, 295, 301, 303, 310–311, 323, 327–328, 408, 421, 424, 427, 433, 442, 469, 492 Todesstrafe 17, 163, 189–191, 295 Todesurteil 5, 163, 189–191, 220, 232, 282, 295 Topik 370, 465, 469, 472 Tragödie 70, 92, 95–98, 117, 128, 220, 260, 266, 276, 290, 294–298, 312, 385–386, 473, 476–486, 488–489, 491–496, 500, 504, 521, 523 Trauer 53, 69, 75, 82, 94, 99, 176, 201, 223, 286, 300 Traum 41–42, 96, 152, 185, 202, 233, 288, 368, 370, 384, 391, 393, 433, 438, 445– 467, 503, 508–513, 516–518, 520 Trauma 82–83, 228, 426, 445, 450, 454, 457, 461, 474, 490, 496–497, 511, 513, 516 Trieb 185, 206, 210, 219, 280, 303, 311, 318– 319, 326, 345–347, 352, 358, 367, 387–388, 398–400, 402, 409–410, 412, 415, 421, 431, 433, 456, 462–469, 472, 479, 488, 496, 499 Tugend 38, 143, 264–265, 279–281, 297, 314, 325, 343, 347, 481, 483 Typus / Typologie 7, 14, 21, 107, 175, 214, 240, 243, 252–254, 259, 262, 266, 269– 270, 287, 293, 297, 299, 304–305, 308, 311–313, 316, 320, 322, 325, 333, 336, 342, 345, 353, 355–356, 362–363, 365, 367, 369, 380, 393–396, 402, 408, 412, 416–417, 423, 444, 447, 471, 475–476, 480, 491– 492, 499–500, 517 Über-Ich 412, 415, 421, 431, 465, 469 Übersetzung 503, 507, 509–510, 521 Übertragung 71, 415, 434, 439, 456, 460, 501–504, 507, 509, 521, 523–524 – Gegen- 71, 503, 505, 521, 523–524 Umwelt 12, 14, 111, 125–126, 129, 131, 134, 214, 219, 259–260, 264, 271, 275, 305, 331, 344, 364, 391, 396–397, 440, 452, 457, 462–468, 472–474, 529 Umwertung 210, 229, 250, 317, 319–320, 323, 327, 347, 403–404, 421, 432 Unbewußte 3, 49, 180, 247, 259, 309, 312, 328, 333, 339, 361, 363, 367, 370, 378, 382–383, 389, 391, 411, 413, 415, 425, 429,

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432–433, 446, 450–451, 453–454, 458, 465, 470, 473, 477, 479–480, 492–494, 497–500, 503, 508–511, 514, 520–521, 524 Unterleib 11, 102, 169, 172, 180, 224, 229, 241, 259, 314, 453–455 Urteil 179, 191, 198, 200, 203, 205, 207, 210, 212, 215, 219–221, 233, 268, 270, 273, 291–292, 299, 301–302, 307–308, 310, 324, 353, 358, 364, 376–377, 382, 400, 402, 429, 436, 443, 463, 470, 524 Utopie 2, 8, 22, 27–28, 43, 109–110, 153–154, 164, 394, 399, 529 Verantwortung 84, 165, 197, 214–215, 262, 269, 276, 326, 470, 500, 508 Verbrechen 145, 189, 191–192, 208, 213–215, 220, 284–285, 289, 307 Verdauung 49, 129, 174, 176, 179, 224–225, 231, 241–244, 314, 417, 442, 512 Verdrängung 415, 418, 448, 462–463, 492– 493, 500, 522–523 Vererbung 49, 317, 346, 395, 432–433, 438– 439, 444–445 Vernunft 19, 31, 33, 36–37, 47, 52, 86, 99, 101, 105, 118, 120–121, 125, 128–129, 132, 137–138, 141–142, 144, 158, 161, 172, 176, 183–187, 201, 205, 209, 241, 251, 257, 262, 282, 293, 314, 319, 324, 331–332, 351–353, 357, 403, 413, 512 – des Leibes 71, 135, 309, 328, 331, 397, 401, 403 Verstand 14, 18, 61, 67, 75, 81, 94, 98, 105, 118, 120–121, 125, 128–129, 133, 158, 183, 185, 191–192, 199, 202, 224, 273, 405 Verstehen 27, 260, 305, 318–319, 324, 326, 328–329, 331, 333–334, 351, 362–363, 365– 367, 370, 376, 380, 383–384, 389, 391– 393, 395–397, 400–404, 406, 413, 423, 426, 440, 443, 448, 467, 475, 493–494, 497, 506–510, 513–518, 520, 522 – grammatische 396, 518, 522 – psychologische 396, 517–518, 522 Versuch 30, 34–37, 41–43, 79, 219, 222, 225, 230, 232, 236, 239, 245, 261–262, 301, 306, 308, 369–370, 398, 406, 450, 466, 474, 518–519, 529 – Menschen- 16, 79, 220, 223, 227, 236– 237, 239, 262 – Tier- 16, 32–33, 79, 223, 227, 233, 235– 237, 239–240, 243–244, 249–250, 262, 452–453 – Selbst- 29, 35–36, 39–40, 42, 224, 236– 239, 244–247, 325, 403, 406 Vivisektion 78, 237, 249, 302, 323 Volkskrankheit 4, 8, 17, 45, 57

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Wahnsinn 19, 46, 48, 53–54, 64–65, 73, 75–76, 82, 88, 91–92, 99–100, 105–106, 116, 124, 131, 141–143, 150, 175–177, 185, 191–192, 194, 199–202, 207, 210–211, 215, 224, 233, 250, 261–263, 266, 272, 275– 276, 282, 284, 286–287, 310, 319, 368– 370, 384, 393, 429, 519 – partieller 191, 193, 198–199, 207, 220, 232, 241, 251, 260–261, 264, 273, 285 Wahrheit 39, 41, 79, 82, 88, 163, 181, 184, 189, 205, 221, 233–234, 252, 291, 295, 297, 299, 301–302, 324–325, 327, 341, 351, 356, 362, 382, 405–406, 411, 420, 440, 477, 499, 506, 516, 519, 521 Wandern 68–69, 119–120, 151, 153–154, 156– 158, 160–161 – Aus- 110–111, 116, 120, 151, 154, 157 Wert 115, 277, 311, 321, 323, 330, 333, 338– 340, 359, 372, 377–378, 390, 396–397, 399, 403, 405, 408, 468, 478, 521, 524 Werther-Fieber 19, 84, 148, 150 Wilde 36, 39, 102, 383, 433 Wille 14, 38, 105, 138, 145–147, 149, 156, 180, 185–187, 211, 231, 242, 259, 277, 318, 321– 322, 326, 330–331, 336, 345, 347–348, 350, 352–355, 364, 371–373, 375–377, 379–381, 385–387, 390, 397, 400, 411, 455, 470, 473, 478–479, 492, 508 – zur Macht 323, 339, 377, 403, 405, 411, 413, 420–421 Willensfreiheit 189, 192, 194, 202, 214, 240, 245, 248, 261, 300–301, 307, 321, 325, 473 Wissenschaft 10, 19–20, 163, 167, 169, 178, 180–181, 188, 212–213, 217, 219–220, 222– 223, 232, 235–237, 239–240, 245–247, 249–252, 254, 256–260, 262, 267–269, 271–272, 275, 281, 294–295, 298–301, 303–304, 308–309, 332, 334–341, 343–345, 351–353, 355–358, 360–369, 378, 380–383, 394, 396, 400, 402, 414, 416, 425–426, 428–429, 431–432, 434–445, 448–450, 454, 456–468, 471–472, 475–476, 480, 488, 490, 494–495, 497, 506–508, 514, 517–518, 520–522, 525, 528, 530 Wissenschaftsgeschichte 7, 24–26, 34, 240, 253, 259, 268, 355, 363, 365, 432, 476, 524–525 Wunscherfüllung 422, 428, 457, 468, 491, 511 Zeichen 42, 135–136, 179, 219, 243–244, 299– 301, 307, 313, 316, 326, 329, 331, 379, 390, 393, 397, 405, 407, 442, 460–461, 467– 468, 495, 506–507, 510–513, 515, 521, 522

Zeitkrankheit 4–5, 8, 17, 19, 45–71, 100, 102, 104, 124–125, 127, 129, 132, 134, 136–137, 161, 270, 276, 316, 337–338, 417, 441, 490, 527–528 Zerstreuung 75, 77, 85, 94, 106, 110, 139 Zirkel 405, 407, 409, 412



hermeneutischer 12, 71, 366–367, 383, 395–396, 400, 463, 516, 522 Zurechnungsfähigkeit 18, 138, 185, 189–196, 198, 200–201, 203, 205–209, 214, 221, 225, 241, 261–262, 268, 284–285, 288– 289, 291, 301

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