Psychologie vom empirischen Standpunkt / Psychologie vom empirischen Standpunkt. Dritter Band: Vom sinnlichen und noetischen Bewusstsein. Äußere und ... Begriffe 3787300171, 9783787300174

Im Zentrum der 1874 erschienenen bewusstseinspsychologischen Abhandlungen Brentanos (1838-1917) steht die Beschreibung u

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Psychologie vom empirischen Standpunkt / Psychologie vom empirischen Standpunkt. Dritter Band: Vom sinnlichen und noetischen Bewusstsein. Äußere und ... Begriffe
 3787300171, 9783787300174

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung

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FRANZ BRENTANO

Psychologie vom empirischen Standpunkt DRITTER BAND

Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein Außere und innere Wahrnehmung, Begriffe Mit Anmerkungen herausgegeben von OSKAR KRAUS Neu eingeleitet und revidiert von FRANZISKA MAYER-HILLEBRAND

VERLAG VON FELIX MEINER HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 207 Zweite Auflage 1968 Unveränderter Nachdruck 1974 Die erste Auflage erschien 1928 unter dem Titel >>Vom Sinnlichen und noetischen Bewußtsein>on demand abruf bar. ISBN 978-3-7873-0017-4 ISBN eBook: 978-3-7873-2662-4

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1968. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht§§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstel­ lung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

www.meiner.de

Inhaltsverzeichnis Äußere und innere Wahrnehmung, Begriffe XVII

Einleitung von Franziska Mayer-Hillebrand E r st e r Absdin itt

Primäres und sekundäres Bewußtsein (Innere und äußere Wahrnehmung)

Perzeption und Apperzeption Erstes Kapite l V o n d e r i n n e r e n W a h r n e h m u n g (i m e n g s t e n S i n n e d e s s e k u n d ä r e n B e w u ß t s e i n s)

§ 1. Von der Sicherheit der unmittelbaren Wahrneh­

mung; ein blinder Drang kann sie nicht gewähr­ leisten. Unmöglichkeit des Konventionalismus 2. Volle Sicherheit bietet nur die Evidenz, mit der ein Glauben als vollberechtigt offenbar wird. Nur der V e r g l e i c h kann zeigen, wodurch sich Erkenntnis (evidentes Urteil) vom blinden Glauben unterscheidet . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. In jedem psychischen Akt ist das evidente Bewußt­ seins seiner selbst eingeschlossen (sog. sekundäres Bewußtsein). Neben einer konf:1sen (indistinkten) Wahrnehmung kann eine deutlichere Erkenntnis unserer Zustände gegeben sein . . . . . . . . 4. Keine Tatsachenerkenntnis geht über uns als gegenwärtig psychisch Tätige hinaus . . . . . . . . 5. Manche behaupten,wir erkennten Farben, Töneusw. als phänomenal seiend, und die äußere Wahr­ nehniung sei daher evident. Andere behaupten eine Vermutungsevidenz des Gedächtnisses . . •

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Inhaltsverzeichnis

§ 6. Die Erkenntnis der phänomenalen Existenz von

Farben usw� ist jedoch nur die Erkenntnis unserer selbst als Farben-Sehende usw. Der Irrtum Kants § 7. Unmöglichkeit der Vermutungsevid�nz, Wesen der Wahrscheinlichkeitserkenntnis . . . . . . . . . § 8. Die These des § 4 ist darum unabweislich, weil nur bei der Selbsterkenntnis die relative Unmöglichkeit gesichert ist, daß der psychisch Tät�ge so wie er ist sei 11nd das Objekt seiner Tätigkeit nicht sei . § 9. Zur unmittelbaren Erkenntnis als tatsächlich d. i. zur affirmativ-assertorischen Erkenntnis ist jedoch außer der. Identität des Erkennenden und Erkann­ ten erforderlich, da·ß diese Identität auch mit erkannt werde . . . . . . . . . . . . . . § 10. Es genügt auch nicht, um die positive Erkenntnis eines mit dem Erkennenden nicht identischen Dinges zu ermöglichen, daß dieses die Erkenntnis ver­ ursache. Es müßte vielmehr der Kausalzusammen­ hang miterkannt werden . . . . . . . . . . . § 11. Die innere Selbstwahrnehmung im Sinne des se­ kundärenBewußtsein ist stets in derTätigkeit( =Zustand), die wahrgenommen wird, mitbeschlossen. Verkenn ung dieser Lehre § 12. Der Reichtum des innerlich Wahrgenommenen. Vervielfältigung der auf unser Bewußtsein sich beziehenden Urteile und inneren positiven Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 13. Zu diesen verdeutlichenden p ositiven Erkenntnissen treten negative axiomatische . . . . . . . . . § 14. Zu dem verdeutlichenden und axiomatischen Er­ kennen kommt noch das Schließen. (Mittelbares Erkennen) . . . . . . . . . . . . . . . . . § 15. Der Unterschied von Schlüssen, die etwas als sicher, und solchen, die etwas als wahrscheinlich erschließen § 16. Alles Glauben, das von anderer Art ist als das eben erwähnte, ist logisch i1nberechtigt, kann aber vielleicht verifiziert werden . . . . . . . . . . .

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Zweites Kapitel Von der inneren Wahrnehmung im engeren und w e i t e r e n S i n n e u n d v o n d e n T ä u s c h u n g s m ö g l i c h­ k e iten

§ 1. Weder bei uns noch bei anderen denkenden Wesen kann sich demnach jemals eine evidente Wahr­ nehmung auf Außendinge beziehen . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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§ 2. Die evidente Wahrnehmung kann sich nicht weiter § 3.

§ 4.

§ 5.

§ 6. § 7.

erstrecken als auf uns als gegenwärtig psychisch. Tätige ( = Bewußtseinszustände Habende) . . . Wir können zwar psychisch Tätiges erinnerungs­ mäßig vorstellen und auch daran glauben, aber in diesen Fällen ist es zum p r i m ä r e n Objekte ge­ macht und niemals ist ein so1cher Glauben evident, vielmehr können wir uns hier leicht täuschen. Aber dieser Glauben ist nicht die innere Wahrnehmung (d. h. nicht das untrügliche sekundäre Bewußtsein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ebensowenig beweisen die Sinnestäuschungen bei den Z ö l l n e r schen Figuren etwas gegen die Rich­ tigkeit der inneren Wahrnehmung i. e. S. (d. i. des sekundären Bewußtseins) . . . . . . . . . . . Alle dieseTäuschungen und Konfusionen weisen dar­ aufhin,daß die innere Wahrnehmung i. e. S. nicht mit den Tätigkeiten des Bemerkens und Unterscheidens und Vergleichens verwechselt werden darf. Gewiß werden z. B. Lust und Schmerz in ihrer emotionellen Affektbeschaffenheit richtig wahrgenommen und doch gibt es Psychologen, die diesen Charakter verkennen, sie für Sinnesqualitäten halten und sie demzufolge lokalisieren. Auch wird die Ton­ empfindung mit der Lust an der Tonempfindung konfurtdiert . . . . . . . . . . . . . . . . . Auch unzählige andere psychologische Irrtümer be­ ruhen auf jener Konfusion, die trotz der Evidenz der inneren Wahrnehmung besteht . . . . . . . . Zusammenfassung betreffend die unmittelbaren positiven Urteile . . . . . . . . . . . . . . .

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Drittes Kapitel G en a u e res ü b e r W a h r n e h m u n g , B e m e r k e n , V e r· gle i c h e n , U n t e r s c h e i d e n (Ex k u r s ü b e r d a s c a r t e­ s i a n i s c h e „ c l ar e ä c d i s t i n c t e p e r c i p e r e " )

§ 1. Die Sätze von Descartes ,,quod clare ac distincte

§ 2.

percipio verum est'' und ,, was im Begriffe einer Sache klar und distinkt enthalten ist, kann man mit Sicherheit von ihr aussagen'' . . . . . . . . . Das ,,clare percipere'' scheint ein ,,Bemerl{en'' (Apperzipieren) zu bezeichnen, das ,,distincte'' ein Unterscheiden. Oft fehlt beides.. So mag ich eine Schmerzempfindung ihrem Objekte nach irgendwie

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VI

§ 3.

§ 4.

§ 5.

Inhaltsverzeichnis lokalisiert· perzipieren, diese phänomenale Lokali­ sation mit einer gewohnheitsmäßig assoziierten sog. , , transzendenten'' verwechseln und endlich die asso­ ziierte Lokalisation des yrimären 0 bjektes dem unräumlich perzipierten Empfindungsakt selbst zuschreiben (z. B. den Schmerz in das Bein oder den Zahn verlegen). Das sekundäre Bewußtsein (die innere Wahrnehmung im engsten Sinne des Wortes) hat hierbei nicht geirrt, sondern mein Urteil über sie und ihr Objekt ist irrig . . . . . . . Ob das B e m e r k e n , V e r g l e i c h e n und U n t e r­ s c h e i d e n des Verglichenen ein W a h r n e h me n ge­ nannt werden kann, und ob ihm E v i d e n z zu­ kommen kann 1 Der Empfindende als solcher ist noch kein Bemerkender. Der Bemerkende ist ein explizite, d. h. gesondert sich Beziehender. Beim Vergleichen greift mitunter das Gedächtnis ein, das niemals evident ist und daher täuschen kann und sich mit bloßen Wahrscheinlichkeiten (Hy­ pothesen) begnügen muß . . . . . . . . . . . Dennoch kann gewissen unterscheidenden und ver­ gleichenden prädikativen Urteilen Evidenz zukom­ men. Allerdings ist es nicht die unmittelbare Evi­ denz der inneren Wahrnehmung in jenem engsten Sinne, in dem sie mit dem sekundären Bewußtsein zusammenfällt . . . . . . . . . . . . . . . . Jene evidenten unterscheidenden und vergleichen­ den Urteile sind niemals apodiktische Erkenntnisse, es mögen aber apodiktische Erkenntnisse mit­ unterlaufen, da begriffliches Vorstellen mitbeteiligt ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Viertes Kapitel Zusammenfassendes und Ergänzendes über W a h r ne h m e n u n d B e mer k e n (P e r z e p t i o n u n d A p p e r z e p t i o n)

§ 1-3. Zusammenfassung und Wiederholung. Keine § 4.

. . primäre Perzeption ohne sekundäre . Das Apperzipieren oder Bemerken wird durch das Perzipieren motiviert (bewirkt), der Apperzeptions­ akt trägt den Charakter der Motiviertheit und ist dadurch evident . . . . . . . . . . Ü ber das Verhältnis der inneren Wahrnehmung im engeren Sinne zu der inneren Wahrnehmung im .

§ 5.

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Inhaltsverzeichnis weiteren Sinne. Es können zwei oder mehrere Wahrnehmwigen von einer, sie alle einheitlich um­ fassenden, evidentenWahrnehmung umspannt wer­ den. Diese kann deutlich oder kon fus sein, sie kann . . entfallen u.:-1d jene können zurückbleiben § 6. Auch evidente Unterscheidungen (selbst gewisse Vergleiche) kann man zu den evidenten Wahrneh­ . . . mungen im weiteren Sinne rechnen . . •

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Fünftes Kapitel Über W a h rne h m u n g m o d o r e c t o , m o d o o b l i q u o und die Zeitwahrnehmung § 1. Wir haben beim Empfinden ein doppeltes Objekt festgestellt: ein äußeres (primäres) und ein inneres . (das sekundäre) § 2. Der Empfindende ,,empfindet'' sicl1 modo recto und etwas anderes,. das äußere Objekt, als von ihm emp­ funden in obliquo. Ob es möglich ist, anzunehmen, daß der Empfindende nichts anderes als sich selbst ,,modo recto'' vorstellt bzw. ,,empfindet'' 1 § 3. Bei der ,,Zeitanschauung'' jedenfalls erfaßt sich der Empfindende modo recto als gegenwärtig und gleich­ zeitig bzw. später seiend als gewisse äußere Objekte , die in modo obliquo und mit kontinuierlich wech­ selnden Modis wahrgenommen werden . . . . . § 4. Dies zeigt sich z.B. bei Ruhe und Bewegung . § 5. Auch bei Hören einer Melodie . . . . . . . . § 6. Zweifacher Sinn der Erneuerung eines Erlebnisses § 7. Die temporalen Urteile als vergangen oder zukünftig sind nicht etwa ein dritter Urteilsmodus neben Be­ jahung und Verneinung (Marty) . . . . . . . § 8. Stets ist hierbei eine Vorstellwig und Bejahung von uns selbst in modo recto mit einer Vorstellung und Anerkennung in obliquo verbunden . . . . . . § 9. Das Denken in modo obliquo ist ein Denken von Relativem (umkehrbare und nicht umkehrbare Relationen) . . . . . . . . . . . . . . § 10. Begriffliche Erweiterung der engbegrenzten Zeit­ anschauung. Zeitschätzungen . . . . . . . . . § 11. Da die sog. Empfindung unserer selbst als ,,Empfin­ dender'' eine evidente W a h r n e h m u n g ist und diese uns als ein äußeres Objekt modo recto empfin· dend wahrnimmt, so folgt, daß wir das äußere (primäre) Objekt direl{t e m p f i n d e n; innerlich .

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VIII

Inhaltsverzeichnis

w a h r n e h m e n d sind wir modo recto auf unser Empfinden des äußeren Objektes gerichtet, und so n e h m e n wir das äußere Objekt nur modo obliquo (als phänomenal) w ah r. Absurdität des Phäno­ menalismus, der uns alles nur modo obliquo w a h r ­ n e h m e n läßt . . . . . . . . . . . . . . . . 44 § 12. Genauere Erörterung der Frage, was uns beim Emp­ finden gegeben ist, um uns Vorstellungen von Differenzen als gewesen, gegenwärtig und zu­ künftig gewinnen zu lassen. Die Lehre von der Proterästhese. (AnIJ?.erkung: Veranschaulichung der Proterästhese.) Ähnlichkeit und Verschieden. . . . . . . . . . . 45 heit der Lehre K an t s .

Z w eiter Abschnitt

Phänomenognosie des sinnlichen und noetischen Bewußtseins Erstes Kapitel Üb e r b l i c k ü b e r d i e s o g en a n n t e n s i n n l i c h e n und noetischen Gegenstände der inneren Wahr­ nehmung . § l. Reichtum des innerlich Wahrgenommenen § 2. Der Denktätige bezieht sich immer auf Mehreres; mindestens (nach dem obigen) auf ein primäres und ein sekundäres Objekt . . . . . . . . . . § 3. Der Denkende ( cogitans im cartesian1::;chen Sinn) bezieht sich auf dasselbe Objekt in mehrfacher Weise z. B. vorstellend und urteilend oder vorstel­ lend und interessenehmend. Urteile und Vorstel­ lungen zwei verschiedene Beziehungsweisen . § 4. Von den drei fundamental verschiedenenBeziehungs­ weisen setzen Urteile und Gemütsbeziehung ( =Lie­ ben, Hassen, Vorziehen) das Vorstellen voraus, in­ dem sie es implizieren. Spezifikation des Urteils, Spezifikation der Gemütsbeziehung. Das Vorstellen hat keine gegensätzlichen Beziehungsweisen, wie Anerkennen und Negieren, Lieben und Hassen, wohl aber den Unterschied von modus rectus und modus obliquus und den der Temporalmodi; Bei­ spiele hierfür . . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Die temporalen Vorstellungsmodi differenzieren auch Urteil und Gemütsbeziehung; letztere werden .



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Inhaltsverzeichnis

§ 6.

auch durch Urteile modifiziert (Furcht, Hoffnung, Freude und Leid). Das Gebiet unserer Urteils­ gegenstände wird durch die Kenntnis von Ge­ mütsbezieh11ngen erweitert; Werturteile. Obgleich keine Vorstellung ohne sekundäres Bewußtsein (innere Wahrnehmung i. e. S.) möglich ist, be­ steht das sekundäre Bewußtsein doch mitunter ohne Gemütsbeziehung (affektlos) . . . . . , . Die innere Wahrnehmung zeigt uns seelische Tätig­ keiten entweder mit sinnlichem (seelischem) oder . mit unsinnlichem (noetischem) Objekte Das noetische (begriffliche, unsinnliche) Vorstellen Die sinnlichen Anschauungen. Die Klassifikationsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . Homogenität und Heterogenität der Qualitäten als Einteilungsprinzip. Schwierigkeit der Ent­ scheidung ob homogen oder heterogen . . . . . Ein Kennzeichen der Heterogenität ist das Vor­ handensein von Helligkeit und Dunkelheit in bloß analogem Sinne. Auf Grund dieses Anhaltspunktes sind drei Klassen sinnlicher Erscheinungen pri­ märer Objekte festzustellen: farbige, tönende und Spürqualitäten. Nur die dritte Klasse enthält sinn­ liche Affekte (von manchen als Gefühlsempfindungen bezeichnet) . . . . . . . . . . . . . . . Die primären Objekte der sinnlichen Anschauungen sind qualitativ (generisch und spezifisch) bestimmt, ausgedehnt, gestaltet und irgendwie örtlich be­ stimmt. 'Es kommt ihnen auch Intensität zu . Ursprung der Raumanschauung. Empiri�mus und Nativismus. Die nativistische Lehre Brentanos. Jede Sinnesanschauung hat ursprünglich schon . irgendwie an lokalen Bestimmungen teil . . Ob die lokalen Bestimmungen der Anschauung re­ lativ oder absolut sind (Näheres weiter unten) Die Intensität als Dichtigkeit der Erscheinung im Sinnesfeitle . . . . . . . . . . . . . Alle Unterschiede der sinnlichen Anschauung gehen auf qualitative und lokale zurück . . . . . . . Das Verhältnis von Helligkeit und Qualität. Die spezifische Helligkeit der Qualitäten . . . Die Frage nach dem Wesen des Helligkeits- (Dun­ kelheits-· ) Momentes . . . . . . . . . . . . . Die Anschauung von Ruhe und Bewegung beruht auf der Zeitanschauung; diese auf der innern Wahr· •

§ 7. § 8.

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§ 9. § 10.

§ 11.

§ 12.



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§ 13.



§ 14.

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§ 15. § 16.

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§ 17. § 1 8.

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§ 19.

§ 20. § 21. § 22.

§ 23.

§ 24.

§ 25.

§ 26.

Inhaltsverzeichnis nehmung eines temporalen Moduskontinuums der Empfindung. (Vgl. Kants innern Sinn und oben I, 5, § 12) . . . . . . . . . . . . . . . Näheres über die Raumanschauung. Der Na. tivismus ist nicht nur darin im Recht, daß die An· schauung jeden Sinnes uns ursprünglich schon Ausgedehntes (Flächenhaftes) zeigt, sondern auch darin, daß die Zugehörigkeit zu etwas Dreidimen. sionalen niemals völlig fehlt . . . . . . . . . Die sogenannte gute und schlechte Lokalisation . Schauen wir qualitätsfreie Sinnesfelder an 1 Die Frage ist zu verneinen . . . . . . . . . . . . Das Empfinden von örtlichen Differenzen ist ein be­ ziehendes, unterscheidendes Empfinden; auch Mengenunterschiede können - ohne Abzählen einen merklich verschiedenen Eindruck hervorrufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Es wird noch einmal darauf hingewiesen, daß der Unt.erschied von konfusen und deutlichen An­ schauungen kein gegenständliches Moment be. trifft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die einfachen Qualitäten des Gesichtssinnes; ge. sättigte und ungesättigte Elemente. Analoga beim Gehörsinn. Frage der systematischen Ord­ nung des Spürsinnes noch ungeklärt . . . . . Psychisches wird nicht nur Objekt des sekundären Bewußtseins, es kann auch zum primären Objekt werden. Auch Empfindungen können wir primär zum Objekte haben. Erinnerung an früher Er­ lebtes ist nicht abgeschwächte Wiederholung des früheren Aktes. Es gibt, wie schon erwähnt, aucl1 ein s i n n l i c h e s unterscheidendes Beziehen. Auch dieses kann zum primären Objekte werden . . Zu der Untersuchung der nichtpsychischen sensi· tiven Objekte (des Qualitativ.Räumlichen) kommt nun noch die Betrachtung der psychischen sen­ sitiven Objekte, d. i . der S i n n e s e m p f i n d u n g e n , a l s O b j e k t e der i n neren W a h r n e h m u n g. Es ergibt sich, daß dem Empfindungsgebiet der Unter. schied von Vorstellen, Urteilen, Gemütstätigkeiten nicht fremd ist. Auch der von ,,evident'' und ,,blind'' (bloße Abschätzungen dürften nie evident sein ), von modus rectus und obliquus, der Unter­ schied der Temporalmodi (insbesondere bei Ruhe und Bewegung aber auch beim Hören). Es gibt

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XI

Inhaltsverzeichnis

§ 27. § 28.

§ 29.

§ 30.

nicht i1ur ein sinnliches Affirmieren, sondern auch ein sinnliches Negieren (Tiere) . . . . . . . . Komplikation der Modi obliqui . . . . . . . . Sinnliche Lust und sinnlicher Schmerz sind sinn­ liche Gern ü ts b e w e g u n g e n (Affekte), aber durchaus nicht bloße sinnliche Qualitäten; vielmehr ist uns hierbei ein Empfinden gewisser Qualitäten (und zwar ausnahmslos solcher des Spürsinnes) an­ genehm oder unangenehm . . . . . . . . . . Wenn wir solche Empfindungen, die Affekte sind, wahrnehmen, nehmen wir modo recto nichts Räum­ liches wahr, denn die Örtlichkeit des Empfundenen wird, wie dargetan, nur in obliquo wahrgenommen vgl. oben § 1 1 ) . Obgleich wir die Empfindungs­ akte nicht örtlich bestimmt wahrnehmen und nicht als kontinuierlich V i e l e s , so doch als kontinuierlich V i e l f a c h e s. Im Sehenden bestehen nicht viele Sehende, aber ein vielfach Sehendes. Wir nehmen uns ferner selbst als ein Ding mit vielfachen Eigen­ schaften wahr, wenn wir uns als. Sehende und Hörende usw. bemerken (vgl. oben Kap. 4) . . . Wir erkennen uns aber innerlich wahrnehmend nur ganz im allgemeinen, nicht als I n d i v i d u a (vgl. . . . . II. Bd, S. 204 u. f. und 'veiter unten) Auch die äußere Wahrnehmung zeigt keine letzten, individuellen Spezies (vgl. II. Bd, S. 199 u. f. und weiter unten) . . . . . . . . . . . . . . . . Das Psychische zeigt sich dem innerlich Wahr­ nehmenden auch insofern als kontinuierlich Viel­ faches, als wir sinnliche, primäre Objekte mit kon­ tinuierlich variierenden Temporalmodis vorstellen (simultan gegenwärtig haben). Als solches ist das Kontinuum der Temporalmodi eindimensional. In­ sofern das Empfinden auf ö r t l i c h Kontinuier­ liches gerichtet ist, erscheint es selbst als mehr­ dimensional kontinuierlich mannigfaltig . . . . . Das sel{undäre Bewußtsein (die innere Wahrneh­ mung i. e. S.) jedoch nimmt den psychisch Tätigen (das sekundäre Objekt) mit einem e i n z i g e n Tem­ poralmodus wahr (mit einem Modus praesens). Der Charakter der Grenze eines Eindimensionalen fehlt j ecloch diesem Modus ebensowenig, wie der an­ geschauten zweidimensionalen Fläche der Charakter eines Dreidimensionalen mangelt. Ein solches .

§ 31. § 32.

§ 33.

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XII

Inhaltsverzeichnis Vorstellen ist nicht völlig bestimmt, d. h. es ist universell . . . Blick auf die Lehre Martys, der den Gegenwarts­ modus der inneren Wahrnehmung leugnet. (Vgl. Bd. II, S. 202.) Würde unsere äußere Zeitanschauung uns ein Kontinuum von irgendwelchen a b s o ­ l u t e n Z e i t s p e z i e s als Objekt bieten, so wäre es unendlich unwahrscheinlich, daß die uns jetzt p h ä n o m e n al als Objekt gegebene Zeitspezies mit der augenblicklich w i r k l i c h e n übereinstimmte. Die innere Anschauung aber, weil untrüglich, könnte uns dann überhaupt nichts als gegenwärtig zeigen. Beseitigung aller dieser Schwierigkeiten durch die Lehre, daß es sich bei der Zeitanschauung überhaupt nicht um O bj e k t s d i f f e re n z e n , son­ dern um M o d u sd i f f e re n z e n des Vorstellens . . . . . . . . . . handelt. . . . Die begriffliche Verwendung und Erweiterung der zu Gebote stehenden Temporalmodi bei Psychi­ schem, das wir primär vorstellen . . . . . . . Grundsätzliches über intellegible (intellektive, nicht sinnliche) Gegenstände, d. h. über die Gegen­ stände sogenannter abstrakter Begriffe von ge­ ringerer und größerer Allgemeinheit . . . . . . Abweisung des Nominalismus . . . . . . . . . Ob bei dem begrifflichen Denken die Erneuerung der Anschauung jedesmal erfolgen müsse 1 Auch begriffliches Denken kann zum primären Objekte gemacht werden . . . . . . . . . . . Korn bination (Synthesen) sinnlicher und unsinn­ licher 0bjekte . . . . . . . . . . . . . . . . Die Frage ob ein höchster allgemeiner Begriff ge. daaht wird 1 . .

§ 34.

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§ 35. § 36.

§ 37. § 38.

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§ 39. § 40. § 41.





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Zweites Kapitel Näheres ü be r d e n A b s t r a k t i o n s p r o z e ß u n d d i e A l l g e m e i n h e i t a ller Wahrn e h m u n g e n u n d E m p ­ findungen § 1 . Streitfrage, ob wir Allgemeines denken und wie ? und ob ihm etwas entspreche und was 1 § 2. Es ist längst erwiesen, daß wir A l l g e m e i n e s d e n k e n , daß aber nur in letzter Spezies Bestimm· tes exi s t i e ren könne. Aristoteles lehrt, daß wir •

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XITI

Inhaltsve1·zeichnis

alle Begriffe auch bei der Erneuerung in den Phantasmen denken. Er folgt hierbei Platon Aristoteles lehrt die Allgemeinheit auch unserer s i n n l i c h e n Anschauungen . . . . . . . . . . Bestätigung dieser Lehre: Die individualisierende Bestimmung des Denkenden ist diesem verborgen. Es gibt demnach Allgemeinvorstellungen, die nicht durch Abstraktion gewonnen sind . . . . . . . Auch die äußere Anschauung ist insofern allgemein, . Zeitbestimmungen, die uns anschaulich ge­ als die geben sind, der letzten Spezifierung entbehren . U n s ere A n s c h a u u n g e n h a b e n a l s o n u r A l l ­ g e m e i n e s z u m O b j e k t , wobei allerdings Grad­ unterschiede gegeben sind. Man spricht hier vom Abstraktionsprozeß. Die wahre Rolle der Ver­ anschaulichung du.rch Zeichnungen, ,,geometrische Konstrukt.ion'' usw. für das universelle Denken Der sogenannte Abstraktionsprozeß bei Gewin­ nung der Begriffe qualitativer Spezies wie z. B. rot, blau, gelb, dann der Kontinuitätsbegriffe, ins­ besondere der Begriffe von Flächen, Linien und Punkten. Der Prozeß ist ein verwickelter . . Relatives (vergleichendes) Denken ist eine V o r ­ b e d i n g u n g für die Gewinnung höherer allgemeiner Begriffe, aber diese selbst brauchen darum nicht selbst relativ zu sein . . . . . . . . . . . . Bei der Erneuerung der begrifflichen Vorstellungen ist die Erneuerung des Vergl e i c h s p r o z e s s e s nicht gefordert . . . . . . . . . . . . . . . Erörterung der Frage, ob bei Erneuerung eines abstrahierten Universale die Erneuerung der An­ schauung gefordert ist . . . . . . . . . . . . Sind nun alle unsere Anschauungen und ursprüng­ lichen Vorstellungen allgemein, woher wissen wir, daß es nur Individuelles geben könne, und daß wir in der innern Wahrnehmung nur ein einziges Ding erfassen 1 Beantwortung dieser Frage . . . . . Abermals das Zeitproblem und die Frage nach dem Ursprung des Zeitbegriffes. Auch hier fehlt jede spezielle Bestimmtheit . . . . . . . . . Die relativistische Auffassung . . . . . . . . . Die Unmöglichkeit Relatives vorzustellen, ohne i r g e n d w i e absolute Fundamente vorzustellen . .

§ 3. § 4.

§ 5. § 6.

§ 7.

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§ 8.

§ 9. § 10. § 11.

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§ 13. § 14.

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Inhaltsverzeiclmis

§ 15. Die Unterschiede von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft 11nd von Früher und Später als re­ lative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Drittes Kapitel Von d e r E r k e n n t n i s d e s Z e i tl ic h - A b s o l u t e n und seiner Spezies

§

1-9.

Obgleich uns die spezifischen Differenzen des Zeitlichen verborgen bleiben, ist doch der Schluß auf ihre Existenz unabweislich. Wir erfassen 11ns in der inneren Wahrnehmung als einem zeitlichen Kontinuum grenzhaft zugehörig. Das Gegen­ wärtige wird hierbei modo recto das Vergangene modo obliquo gedacht . . . . . . . . . . . . 107

Viertes Kapitel Fortfüh r u n g d e r U n t e r s u c h u n g ü b e r d i e Un i v e r ­ s a l i t ä t a l l e r A n s c h a u u n g e n, i n s b e s o n de re d e r R au m - u n d Z e i t a n s c h a u u ng, u n d ü b e r d a s Z e itl i c h - A b s o l u te § 1 -4. Historisches . . . . . . . . . . . . . . . § 5. Nochmals die Allgemeinheit der innern Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 6. Individualvorstellungen sind daher nicht unerläß­ liche Voraussetzung für die Gewinnung allgemeiner Begriffe und s p e z i f i s c h bestimmte r e l a t i ve Vor­ stellungen sind nicht unbedingte Voraussetzung für die Gewinnung allgemeiner r e l a t iver Begrüfe . § 7. Tatsächlich sind uns spezifisch örtliche Differen­ zierungen nicht anschaulich gegeben. Blick auf die Lehre von Leibniz und Newton . . . . . . . . § 8. So zeigt uns die ä u ß e re Anschauung ebensowenig individuell Bestimmtes wie die i n n ere Wahr­ nehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 9. .Analoges gilt von der Zeitanschauung . . . . . § 10. So erklärt es sich auch, daß der absolute Charakter der Farben und Töne und der Qualitäten überhaupt nur selten bestritten wird, um so mehr aber die Absolutheit der in der Anschauung gegebenen Raum- und Zeitbestimmung . . . . . . . . . § 1 1 . In der W i r k l i c h k e i t freilich können bloße Raum- und Zeit v e r h ä l tn i s s e ohne absolute letzte Raum- und Zeit s p e z i e s nicht existieren . . .

111 1 12

1 13 113 1 14 1 15

116 117

XV

lnhaltsverzeichnis

§ 12. Der Begriff des Zeitlichen ist identisch mit dem des

Dinges, das als Grenze eines einrumensionalen pri­ mären Kontinuum besteht, welches keiner anderen seiner Grenzen nach i s t , und doch demselben Kon­ tinuum zugehört. Der Begriff des Räumlichen . § 13. Blick auf Guyot . . . . . . . . . . . . . . § 14-16. Nähere Bestimmungen über den Begriff des Zeitlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17. Folgerungen über den zeitlichen Wechsel im ersten Prinzip aller Dinge . . . . . . . . . .

Namen- und Sachregi ster .

.

.

















1 18 1 19 119 123

. . . 192

Einleitung 0. Kraus vereinigte als dritten Band der ,,Psychologie

vom empirischen Standpunkt'' unter dem Titel

Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein

(Phil. Bibl. Bd. 207, 1928) eine Anzahl von Abhandlungen, die in den Anmerkungen angegeben sind. Der Band ist in zwei Abschnitte gegliedert, deren erster sich mit der inneren und äußeren Wahrnehmung sowie mit dem Unterschied von Perzeption und Apperzeption be­ schäftigt, deren zweiter als Phänomenognosie des sinn­ lichen und noetischen Bewußtseins bezeichnet wird. Für Kraus war es ein sehr wichtiges Anliegen, in der vor­ angestellten Einleitung auf die ,, Krise in der Psychologie'' zu sprechen zu kommen. Er verstand darunter hauptsäch­ lich das Aufkommen jener Richtungen, die sich die Aus­ bildung der Lehre vom Nichtrealen zur Aufgabe machten, vor allem Husserls ,,P hänomenologie'' und Meinongs ,, Gegenstandstheorie ''. Wegen der weiten Verbreitung, die beide Theorien fanden, hielt er eine Auseinandersetzung mit ihnen für notwendig. Beide waren von Brentanos ur­ sprünglicher, an Aristoteles� Lehre vom ,, Seienden im Sinne des Wahren'' sich anschließenden Auffassung aus­ gegangen, hatten sich aber im Gegensatz zu seiner späte­ ren Ontologie entwickelt. Diese Auseinandersetzung erscheint aber heute nicht mehr so wichtig, weil inzwischen Brentanos endgültige Lehre, daß und warum ein Reich des Irrealen (immanentes Objekt, Urteils- und Interesseinhalte, Universalien) nicht

XVII I

Einleitung

angenommen werden kö nne, mit aller Klarheit dargelegt worden ist (,, Die Abkehr vom Nichtrealen'', Francke Ver­ lag, Bern 1966). Übrigens beschäftigen sich die von 0. Kraus im I I I . Band der ,,Psychologie'' vereinigten Abhandlungen - wenigstens direkt - nicht mit Husserl und Meinong. Es dürfte daher im Sinne Brentanos sein, die Einleitung von Kraus durch eine neue zu ersetzen, die vor allem den 1 nhal t des sehr interessanten Bandes kurz zu charakteri­ sieren versucht. Er ist durchaus nicht, wie schon Kraus be­ tont, ,,a ls die Ausführung des ursprünglichen Planes'' an­ zusehen. Den 18 7 4 in Leipzig bei Duncker und H umblot erschie­ nenen zwei Büchern der ,,Psychologie vom empirischen Standpunkt'' sollten, wie Brentano in seinem , Vorwort' ausführte, vier weitere Bücher folgen, eines, ,, welches die Eigentüml ichkeiten und Gesetze der Vorstellungen, ein an­ deres, welches die der Urteile und wieder eines, welches die der Gemütstätigkeiten und des Willens im besonderen untersucht. Das letzte Buch endlich soll von der Verb in­ dung unseres psychischen und unseres physischen Organis­ mus handeln, und darauf werden wir uns auch mit der Frage beschäftigen, ob ein Fortbestand des psychischen Le­ bens nach dem Zerfall des Leibes denkbar sei". Doch kamen die geplanten Fortsetzungen nicht zur Aus­ führung, obwohl sich Brentano, wie schon Kraus hervor­ hebt, mit allen im Vorwort inbegriffenen Themen in zahl­ reichen Abhandlungen eingehend beschäftigt hat. Kraus meint, die Fortsetzung sei vor allem deshalb unterblieben, weil die Scheidung in sinnliches und unsinn­ liches (noetisches) Bewußtsein und die in deskriptive und genetische Psychologie in diesem Plan nicht berücksichtigt worden wa r und sich mit Brentanos Klassifikation in drei Grundklassen psychischer Beziehungen bis zu einem gewis­ sen Grade kreuze. Doch erscheint es mir nicht ganz über­ zeugend, daß die eben erwähnten, nicht oder nicht hin-

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XIX

reichend berücksichtigten Unterscheidungen der Haupt­ grund für das Unterbleiben der geplanten Fortführung der ,, Psychologie'' gewesen seien. Kraus hat ja Brentanos Klas­ sifikation der Bewußtseinsbeziehungen in Vorstellen, Ur­ teilen und emotionelle Akte doch auch beibehalten und war trotzdem imstande, die Verschiedenheit von sinnlichem und noetischem Bewußtsein auf deskriptiver Grundlage durch Zusammenstellung verschiedener Abhandlungen Brentanos herauszuarbeiten. Ich glaube vielmehr, daß die zu behandelnden Teil­ gebiete - vor allem die Lehre von der Urteilsevidenz und von ihrem Analogon auf emotionellem Gebiet - über den ursprünglichen Rahmen hinauswuchsen. Obwohl sie ge­ naue Beobachtung und Beschreibung des psychischen Ver­ hal tens voraussetzen, hatten sie doch Selbständigkeit er­ langt und sich so ausgebildet, daß sie mehr dem Gebiet der Erkenntnistheorie als der Psychologie zuzurechnen gewe­ sen wären. Es kam hinzu, daß Brentanos Theorien sich jahrzehntelang in ständiger Entwicklung befanden, und als sie um die Jahrhundertwende zum Abschluß gelangt waren, die zunehmende Behinderung durch ein Augen­ leiden ihn von der Abfassung eines so umfangreichen Wer­ kes, das auch entsprechende Korrekturen der ersten beiden Bücher verlangt hätte, abhielt. Nicht also die Fortsetzung des ursprünglichen Planes, sondern die Darlegung, wie Brentano sich den Unter­ schied von sinnlichem und unsinnlichem Bewußtsein dachte, ist das Ziel des vorliegenden Bandes, was schon in dem von Kraus gewählten Titel zum Ausd1�uck kommt. Es ist Kraus jedenfalls gelungen, durch diesen 1 1 1 . Band der ,, Psychologie'' eine Lücke in den bis dahin publ izierten Schriften auszufüllen und zum Verständnis von Brenta­ nos Philosophie in entscheidenden Punkten beizutragen. Brentano hatte, wie Kraus in seiner Einleitung S. XX f. schreibt, ,, d· i e Einteilung der Bewußtseinszustände nach der Verschiedenheit dessen, was er die ,intentionale Beziehung

XX

Einleitung

zum Objekt' genannt hat, als jene Klassifikation erklärt,

die gegenwärtig jeder anderen vorzuziehen sei, und wie er ihr folgend, Vorstellungen, Urteile und Gemütszustände unterschied, hätten auch die drei folgenden Bücher dieser Drei teil ung entsprechen sollen. So wahr es nun aber auch ist, daß die Verschiedenheit dessen, was Brentano die ,intentionale Beziehung' genannt hat, den fitndamentalsten Einteilungsgrund abgibt, so sicher hätte sich die unabweisbare Forderung geltend ge­ macht, jene platonisch-aristotelische Einteilung, von der er (im 5. Kap. des II. Buches Kap. 1 des II. Bandes unserer Ausgabe) sagt, daß sie sich mit jener kreuze, zu berücksich­ tigen, nämlich die Scheidung in sensitive und intellektive Bewußtseinszustände. =

Ich habe bereits in meiner Einleitung zu Band II, pag. XX, auf die Notwendigkeit hingewiesen, nach der Cha­ rakteristik des Bewußtseins als seelischer Beschäftigung mit etwas und nach der allgemeinen Klassifikation in Vor­ stellen, Urteilen und Gemütszustände (Fühlen und Wol­ len) auf die Scheidung in sinnliche und unsinnliche Akte einzugehen, um hierauf erst bei den sinnlichen und sodann bei den noetischen Akten die Strukturen bloßzulegen und endlich zu zeigen, wie sich die Akte der Aisthesis mit jenen der N nesis verknüpfen.'' Wir wollen uns klarzumachen suchen, um was es eigent­ lich geht. - Im ersten Abschnitt werden unsere Wahrneh­ mungen behandelt, und zwar wird die von Brentano ein­ geführte Unterscheidung von äußerer und innerer Wahr­ nehmung eingehend begründet. Jedes Wahrnehmen ist ein Wahrnehmen von etwas. Brentano aber zeigt, daß in diesem anscheinend einfachen psychischen Vorgang ein Doppeltes enthalten ist. Wir sehen Farben, hören Töne, empfinden Wärme oder Kälte usw. und fühlen uns ge­ drängt, die von uns wahrgenommenen ,,Gegenstände'' für wahr, d. h. für existierend, zu halten. Aber keine Tat-

von Franziska Mayer-Hillebrand

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sachenerkenntnis geht über uns selbst als gegenwärtig in bestimmter Weise psychisch Tätige hinaus. Nur dieses sog. sekundäre Bewußtsein (die innere Wahr­ nehmung) ist eine evidente Erkenntnis, während dem pri­ mären Bewußtsein (der äußeren Wahrnehmung) nur der Charakter eines blinden Glaubens zugesprochen werden kann. Kraus widmet der von vielen Brentanoschülern behaup­ teten ,,phänomenalen Existenz der Wahrnehmungsgegen­ stände'' eine ausführliche und scharfe Polemik. Und zwar widerlegt er sie mit Brentanos Argumenten, denen er, wie er selbst berichtet, jahrelangen Widerstand entgegen­ gesetzt habe, vor allem weil ihm die Objektivität der Wahrheit nur durch das Erfassen einer Adäquation des Urteils mit einem irrealen ,Sachverhalt' gesichert erschien. Erst nach und nach habe er den fiktiven Charakter der sog. irrealen Gegenstände erkannt. Auf seine Auseinander­ setzung mit den Vertretern irrealer Gegebenheiten soll aber hier nicht eingegangen werden. Die Bewußtseinsbeziehung, in der man sich selbst als einen in bestimmter Weise psychisch Tätigen unmittelbar erkennt, ist ein affirmativ-assertorisches Urteil, d. h. eine Tatsachenerkenntnis. Sie ist nur möglich auf Grund der Identität des Erkennenden und Erkannten, wobei diese Identität miterkannt wird. Ein bloßer Kausalzusammen­ hang würde nicht genügen, es sei denn, daß der Kausal­ zusammenhang miterkannt wird. Wenn wir uns selbst als psychisch Tätige erinnerungs­ mäßig vorstellen, so wird diese Bewußtseinsbeziehung pri­ märes Objekt und es kommt ihrer Anerkennung keine Evidenz zu. Doch können unter gewissen Umständen pri­ märes und sekundäres Objekt verwechselt werden, indem die blinde Anerkennung eines primären Objekts irrtüm­ lich für ein evidentes Urteil der inneren Wahrnehmung gehalten wird. Verschiedene Beispiele werden für solche Verwechslungen von Brentano gebracht.

XXII

Einleitung

Auch darf die innere Wahrnehmung im eigentlichen Sinne nicht mit den Tätigkeiten des Bemerkens (Apperzi­ pierens), Unterscheidens und Vergleichens verwechselt werden. Brentano selbst faßt seine Lehre über innere und äußere Wahrnehmung in folgender Weise zusammen: ,, l. Von unseren unmittelbar tatsächlichen Anerken­

nungen sind die einen evident, andere Folgen eines blin­ den Dranges. Wir mögen sie instinktiv nennen. Dieser blinde Drang ist bald mehr, bald minder stark, hinsicht­ lich der Evidenz aber gibt es keine Gradunterschiede. 2. Alle inneren Wahrnehmungen sind evident. Man muß sich aber wohl davor hüten, etwas für innere Wahr­ nehmung zu halten, was es nicht ist . . . 3. Keine sog. äußere Wahrnehmung ist unmittelbar evident; aber auch hier muß man sich hüten, solches, was Sache der inneren Wahrnehmung ist, mit solchem, was wahrhaft Sache der äußeren Wahrnehmung ist, zu ver­ wechseln. Dies würde der tun, welcher meinte, die sog. ,phänomenale Existenz' von Farben und Tönen sei Sache der äußeren Wahrnehmung. Tatsächlich besagt diese sog. phänomenale Existenz nichts als die Existenz des die Er­ scheinung Habenden als solchen, und das ist etwas, was zur inneren Wahrnehmung gehört'' (Psychologie III. S. 19-21). Mit der Ausführung dieser Sätze beschäftigen sich das 1. und 2 . Kapitel des ersten Abschnittes. Das 3. Kapitel setzt sich mit Descartes berühmtem Satz ,, quod clare ac distincte percipio, verum est'' auseinander und weiter mit dem Unterschied von Bemerken, Vergleichen und Unter­ scheiden. Das 4. wiederholende Kapitel betont mit Ent­ schiedenheit, daß keine primäre Perzeption ohne sekundäre vorkommt. Das 5. Kapitel behandelt Brentanos später ausgebaute, höchst wichtige Lehre von den verschiedenen Vorstellungsmodis: modus rectus, modi obliqui und Tem-

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poralmodi. In das Gebiet des Vorstellens war damit eine reiche Untergliederung einge-führt worden. Der ,Empfindende' nimmt sich selbst modo recto und das äußere Objekt modo obliquo wahr (wobei der modus obliquus aber wieder ein verschiedener sein kann). Bei der Zeitanschauung erfaßt sich der Empfindende modo recto als gegenwärtig und gleichzeitig oder später seiend als gewisse äußere Objekte, die mit kontinuierlich wechseln­ den Modis wahrgenommen werden. Ähnliches zeigt sich 'b ei Ruhe und Bewegung. Unsere Zeitanschauung ist eng begrenzt, doch lassen sich Vorstellungen von längeren Zeiträumen begrifflich gewinnen, worauf im zweiten Ab­ schnitt des vorliegenden Bandes eingegangen wird. Natürlich beschäftigt sich Brentano auch mit den von seiner Theorie abweichenden Auffassungen, so besonders mit der Lehre Martys. Der zweite Abschnitt ist der , Phänomenognosie'' , d. h. der genauen Beschreibung unseres sinnlichen und noeti­ schen Bewußtseins, gewidmet. Der Ausdruck Phänomeno­ gnosie, welchen Kraus für die deskriptive Psychologie, die nach Brentano der genetischen oder erklärenden voraus­ zugehen hat, einführte, wurde von Brentano nicht ge­ braucht. Dieser hätte eher im Anschluß an die von ihm verwendeten Termini ,, Phänomen'' und ,,phänomenal" von Phänf!menologie gesprochen. Doch war von Husserl diese Bezeichnung inzwischen in ganz anderem Sinne, nämlich für die von ihm eingeführte Lehre von den ,,Wesenheiten'' (einer modernen Form der platonischen Ideen) verwendet worden. Daher ist es von Vorteil, daß Kraus einen neuen Terminus prägte. Im 1. Kapitel des zweiten Abschnittes wird die im ersten Kapitel des ersten Abschn ittes (bis § 1 6.) abgedruckte Ab­ handlung über die sinnlichen und noetischen Gegenstände der inneren Wahrnehmung fortgesetzt. Und zwar erhal­ ten wir zunächst einen überblick über diese Gegenstände: ,, Wenden wir uns nun zu den Unterschieden, welche die

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Einleitung

psychischen Tätigkeiten, die wir innerlich wahrnehmen, hinsichtlich ihrer Gegenstände zeigen. Man teilt sie in sinnliche und intelligible (noetische). Wer etwas sieht, hört oder sonst empfindet, hat als primäres Objekt einen sinnlichen Gegenstand, und auch sein sekundäres Objekt wird zu den sinnlichen gerechnet. Wer ein Farbiges, ein Warmes, ein Räumliches im allgemeinen denkt, hat da­ gegen ein noetisches Objekt, und auch sein sekundäres Objekt wird zu den noetischen gezählt. Man hat die Vor­ stellungen, welche sinnliche Objekte haben, auch Anschau­ ungen, diejenigen, welche noetische Objekte haben, ein begriffliches Denken, ein Denken von Begriffen, genannt; dabei blieb man sich aber nicht immer ganz getreu, indem man die innere Wahrnehmung der noetischen Tätigkeit manchmal auch zu dem rechnete, dessen Gegenstand eine Anschauung ist'' (S. 58 f.). Um kein Mißverständnis über diese Stelle aufkommen zu lassen, erklärt Kraus in Anm. 23 (zum 1. Kap. des I I . Abschn.), daß das Wort ,Objekt' oder Gegenstand in den Wendungen ,etwas zum Objekte haben' nurmitbedeu­ tend (synsemantisch) fungiert. - " Ganz dasselbe gilt natürlich von den Ausdrücken ,noetisches und sensitives Objekt'. Brentano bedient sich dieser Ausdrücke, wie man sich auch sonst der sprachlichen Abstrakta und Abbrevia­ turen bedient, und darf sich um so unbekümmerter ihrer bedienen, als er selbst klarer als irgendeiner ihren bloß mitbedeutenden Charakter aufgedeckt hat. ,Ich habe etwas Noetisches oder Sensitives zum Objekt', oder ,ich habe ein noetisches Objekt' heißt nichts anderes als: ,ich bin ein sensitiv (sinnlich) oder noetisch (intelligi­ bel, intellektiv) Vorstellender' '' (S. 1 59). Im 1. Kapitel des zweiten Abschnitts wird weiter das bereits im ersten Abschnitt Gesagte näher untersucht und ausgeführt. Erwähnung verdient die Einführung des Kri­ teriums von Helligkeit und Dunkelheit als Kennzeichen für die Homogenität bzw . Heterogenität der Sinnesquali-

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täten. Schwarz wird im allgemeinen als dunkel, weiß als hell bezeichnet; aber auch tiefe Töne könne man dunkel, hohe Töne hell nennen, allerdings nicht im selben Sinne, sondern nur in einem analogen. ,, In der Tat zeigte sich, daß nicht bloß hohe und tiefe Töne eine Analogie zu hel­ len und dunklen F arben zeigen, sondern daß ein solches Analogon von Hell und Dunkel sich auf allen Sinnesgebie­ ten findet'' (S. 62). Auf Grund dieses Anhaltspunktes unterscheidet Bren­ tano drei Klassen von sinnlichen Erscheinungen primärer Objekte: farbige, tönende und eine dritte Gattung, welche die sog. Spürqualitäten vermittelt. Es kann hier nicht darauf eingegangen werden, ob diese Charakterisierung und die Aufstellung von nur drei Gattungen von Sinnes­ qualitäten den Ergebnissen der modernen experimentel­ len Psychologie entspricht, was eine Untersuchung des Verhältnisses Brentanos zu dieser verlangen würde. Jedenfalls ist diese auch von G. Revesz vertretene Lehre von Helligkeit und Dunkelheit im selben Sinne als Kenn­ zeichen homogener Sinnesqualitäten, und ebenso die An­ nahme spezifischer Helligkeiten in mancher H insicht auf­ schlußreich und interessant. (Vgl. Brentano , , Untersuchun­ gen zur Sinnespsychologie'' S. 54 u. 80 f.) In Hinsicht auf die Raumanschauung bekennt sich Bren­ tano zum Nativismus. Jede Sinnesanschauung hat nach ihm an ursprünglichen lokalen Bestimmungen teil. Eine sehr w ichtige Neuerung Brentanos besteht in der Feststellung, daß wir niemals individuell Bestimmtes an­ schauen. Dies gilt sowohl für die äußere wie für die innere Wahrnehmung. In der inneren Wahrnehmung erkennen wir uns selbst, wie schon gesagt, mit Evidenz als gegen­ wärtig in bestimmter Weise psychisch Tätige, aber nie­ mand vermag anzugeben, was ihn als Betrachtenden indi­ vidualisiere. Auch die äußere Wahrnehmung ist allge­ mein, weil sie uns nur Relatives (Abstände) zeigt und weil die Zeitbestimmungen, die uns anschaulich gegeben sind,

XXVI

Einleitung

der letzten Spezifizierung entbehren. Dies steht im Gegen­ satz zur meist vertretenen Auffassung, daß unsere An­ schauungen uns individuell · . . Bestimmtes zeigen . Durch diese Lehre Brentanos werden manche Schwierigkeiten behoben, die bei Annahme individueller Bestimmtheit unserer Anschauungen entstanden sind. Brentanos Lehre über den Abstraktionsprozeß und die Allgemeinheit t1nserer Wahrnehmungen und Empfindun­ gen wird im zweiten Kapitel fortgesetzt. Unsere Begriffe sind meist durch Abstraktion aus Anschauungen gewon­ nen. Für die Bildung höherer Begriffe ist jedoch verglei­ chendes Denken eine Vorbedingung. Oft ist ein kompli­ zierter Denkprozeß notwendig, bei welchem in recto und in obliquo gedachte Dinge zueinander in Beziehung ge­ setzt werden. Dabei wird häufig, z. B . bei der Bildung mathematischer lind logischer Begriffe, Gebrauch gemacht von Urteilen negativ-apodiktischen Charakters. Die Un­ möglichkeit der Richtigkeit zweier evidenter kontradikto­ rischer Urteile leuchtet unmittelbar ein. Sehr oft sind solche in positiver Form ausgesprochene Urteile aber für Aus­ sagen über Gegenstände angesehen worden und auf Grund dessen wurden viele namhafte Philosophen zur Annahme von Irrealem, von idealen Gegebenheiten, geführt. Ver­ kennt man also, daß alle apodiktischen Einsichten negativ­ apodiktischer Natur sind, hält man sie für positive Einsich­ ten, so wird man besonders leicht dazu gedrängt, ,ideale Wesenheiten' zu erfinden und demjenigen, der sie nicht zu schauen vermag, den begnadeten Seherblick abzuspre­ chen '' (Einleitung von Kraus S. XXV I). Die sog. � Objektivität der Wahrheit'' bleibt aber - auch -ohne irreale Gegenstände - vollständig gewahrt, wenn wir apodiktisch einsehen, daß niemand richtig urteilen kann, der einer apodiktisch evidenten Erkenntn is zuwider urteilt. Das ist wohl auch zu verstehen, wenn Kraus als Krite­ rium des unsinnlichen Bewußtseins aufstellt, daß es die Klasse der Vorstellungen (die cartesianischen ideae) in „



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Reinkultur'' zeige. Durch negativ-a·podiktische Urteile werden keine ,, Gegenstände '' anerkannt. Doch könnten infolge der Formulierung von Kraus un­ richtige Schlüsse in Hinsicht auf Brentanos Lehre gezogen, d. h. gemeint werden, es sei zu verstehen, daß nach Bren­ tanos Lehre unsere Begriffe ohne Urteile -zustande kom­ men. Was Kraus zum Ausdruck bringen wollte, ist nur, daß im begrifflichen Denken über Sein oder Sosein von Gegenständen überhaupt nichts ausgesagt wird, während im sinnlichen Bewußtsein Objekte evident oder blind an­ erkannt werden. I m 3. und 4 . Kap itel des zweiten Abschnittes werden die Untersuchungen über die Universalität aller Anschau­ ungen, insbesonders der Raum- und Zeitanschauung, fort­ gesetzt. In Wirklichkeit können allerdings bloße Raum­ und Zeitverhältnisse ohne absolute letzte Raum- und Zeit­ spezies nicht existieren. ,, Der Begriff des Zeitlichen fällt mit dem des Dinges, insofern es substantiell determiniert ist, d. h. eine Substanz einschließt, zusammen'' (S. 1 1 8).

Brentano fährt damit fort, "daß jede Substanz als Grenze eines eindimensionalen primären Kontinuums bestehe, welches keiner anderen seiner Grenzen nach ist, und doch demselben Kontinuum wahrhaft zugehört und von jeder anderen seiner Grenzen als später oder früher absteht" . Mit anderen Worten seiend ist nur Gegenwärtiges, dieses aber ist im Zeitkontinuum eingeschlossen und von diesem nur gedanklich trennbar. Wie sich aus der bisherigen kurzen Übersicht ergibt, werden in dem von Kraus zusammengestellten Band I I I der „Psychologie" die mannigfachsten Probleme behandelt und einer häufig ganz neuen und überraschenden Lösung zugeführt. Kraus selbst schreibt über die Entstehung des Bandes: ,,Was nun die Zusammensetzung dieses Bandes anlangt: Ich habe eine Reihe von Abhandlungen, deren umfang­ reichste die über die sinnlichen und noetischen Gegen-

XXVIII

Einleitung

stände der inneren Wahrnehmung:''") ist, zusammengestellt und so eine äußere Einheit geschaffen, der, wie ich hoffe, die innere Einheitlichkeit nicht ganz abgeht. Denn ich habe mir zur Richtschnur genommen, die Lehren Brentanos in ihrer definitiven Gestalt zu vereinigen. Da aber Brentano bis zu seinem letzten Atemzug geforscht und seinen eigenen Aufstellungen gegenüber mit schärfster Kritik vorgegan­ gen ist, finden sich mitunter selbst in zwei zeitlich nahe­ stehenden Aufsätzen I nkongruenzen. - Ich habe an eini­ gen wenigen und immer kenntlich gemachten Stellen durch Textänderungen die Übereinstimmung der verlassenen mit der definitiven Lehre hergestellt. Wo ich der Überzeugung bin, daß die definitive Fassung nicht die bessere ist, habe ich dies anmerkungsweise be­ gründet. Aus den Anmerkungen sind auch die ursprüng­ lichen Überschriften und, soweit ich es feststellen konnte, die Daten der Abfassung zu entnehmen. Das 4. Kapitel des ersten Abschnittes besteht aus einer Aneinanderreihung von Aufstellungen, die ich mehreren Diktaten und stenographischen Aufzeichnungen nach mündlichen Darlegungen entnommen habe. Auch hier ist für jeden einzelnen Paragraphen die Quelle angegeben. In diesem Kapitel haben wir also ein Mosaik von Aus­ sprüchen über dasselbe Thema aus verschiedenen Jahren vor uns. Daß es sich zu einem abgeschlossenen Kapitel run­ det, ist ein Zeugnis mehr, daß ich hiermit die wahre Mei­ nung Brentanos getroffen habe" (Einleitung, S. XL f.). Es ist ein großes Verdienst von Kraus, viele Abhand­ lungen Brentanos, die sonst wahrscheinlich lange oder überhaupt ungedruckt geblieben wären, 1928 publiziert zu haben. Bescheiden bemerkt er, er hoffe, daß der äußeren, *) In der von mir 195 1 zusammengestellten Hauptliste ist die von Kraus gebrachte Abhandlung über die sinnlichen und noeti­ schen Gegenstände der inneren Wahrnehmung unter dem Titel „Zur Lehre von der inneren Wahrnehmung" [Abt. Psychologie, Nr. 59] angeführt. Sie stammt vom 1 . IV. 1915.

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von ihm geschaffenen Einheit ,,die innere Einheitlichkeit nicht ganz abgehe'' . - Nicht nur geht sie ihr nicht ganz ab, sondern es ist Kraus in bewundernswerter Weise gelun­ gen, zahlreiche aus verschiedenen Zeiten stammende Ab­ handlungen zu einem Ganzen zu verbinden. Kraus hat, wie er selbst angibt, an einigen wenigen, in den Anmerkungen immer kenntlich gemachten Stellen durch kleine Textänderungen eine Übereinstimmung zwi­ schen Brentanos früherer und späterer ( 1904 vollendeter) Lehre hergestell.t. Hierzu hielt er sich durch das schon mehrfach (in den Einleitungen zu verschiedenen Bänden, in Kastils Buch "Die Philosophie Franz Brentanos'' , Francke Verlag, Bern 195 1, und in ,,Die Abkehr vom Nichtrealen '' , S. 288 f ., Francke Verlag, Bern 1966) zitierte Schreiben Brentanos an ihn vom 13. 1. 1916 für autorisiert. ,,Sie deuten an, welche Aufgabe Sie einst in bezug auf von mir hinterlassene Manuskripte sich gestellt haben. Ich weiß nicht, inwiefern ich solche Publikationen überhaupt für wünschenswert halten kann. Besser wäre es jedenfalls, wenn etwas geschähe, dem ähnlich, was Etienne Dumont gegenüber Benthams Manuskripten getan. Marty hat mich in meiner Enthaltung von Veröffentlichungen und endgül­ tiger Redaktion gar manchmal mit Bentham verglichen. Aber was nach dem Tode Benthams herausgegeben worden ist, wollte J. St. Mill Dumonts Schrift nicht gleichwertig halten. Die Vorsehung, die immer weise ist, hat vieles anders gefügt, als wir es für ratsam erachtet hätten. Aristo­ teles' Metaphysik ist nicht zur Ausführung gekommen und keine der uns überlieferten Schriften zu endgültiger Re­ daktion. Bei mir scheinen äußere Ereignisse neben vielem anderen, was meine Arbeiten erschwert, es dahin kommen zu lassen, daß gar manches, was ich meinen Mitbrüdern Gutes hätte geben können, verlorengeht. Es wäre eine törichte Selbstüberschätzung zu glauben, daß dies einen unersetzlichen Verlust bedeute. ''

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Einleitung

A . Kastil und 0. Kraus, denen die Herausgabe des Nach:.. lasses zuerst anvertraut wurde, sowie ich selbst als Nach­ folgerin Kastils, haben in schwierigen Situationen von der Erlaubnis Brentanos (die Kraus und Kastil auch noch mündlich anläßlich ihres letzten Besuches bei Brentano im Herbst 1 9 1 6 erteilt worden war) Gebrauch gemacht, kleine Änderungen im Sinne der späteren Entwidclung seiner Lehre in den Schriften vorzunehmen. Natürlich wurden solche Änderungen jeweils vermerkt. Wie Kraus und Kastil habe auch ich mich stets aufrichtig bemüht, die Bände so herauszubringen, wie es den Wünschen Bren­ tanos entsprochen hätte. Ich glaube auch jetzt in diesem Sinne zu handeln, wenn ich die vor 39 Jahren verfaßte Einleitung von Kraus, die in einer ,,Zeit des Sturms und Drangs" geschrieben wurde, durch eine neue ersetze. Damals galt es, die zum Teil revo­ lutionären Lehren Brentanos, die von verschiedenen Seiten angegriffen, von anderen totgeschwiegen wurden, zu ver­ teidigen, und eine scharfe Polemik war sicher am Platz. Heute hat sich die Philosophie Brentanos, wenn auch immer noch angefeindet, so doch - zum mindesten - so weit durch­ gesetzt, daß sie nicht übergangen und in ihrer Bedeutung verkannt werden kann. Wie V. Kraft in seiner Rede an­ läßlich der Enthüllung von Franz Brentanos Denkmal in den Arkaden der Wiener Universität ( 1 952) zum Ausdruck brachte: ,, Wie man sich auch zur Philosophie Brentanos stellen mag, ob zustimmend oder ablehnend, sie hat jeden­ falls einen Einfluß gehabt, den man sich aus der deutschen Philosophie der Gegenwart nicht wegdenken kann." Dankbar möchte ich noch hervorheben, daß ich bei der Abfassung dieser neuen Einleitung von der ausführlichen und ausgezeichneten, von Kraus verfaßten Inhaltsüber­ sicht Gebrauch gemacht, ja zuweilen seine Formulierungen übernommen habe. So bin ich ziemlich sicher, daß er meinen Ausführungen zustimmen würde. Mein Bestreben war vor allem darauf gerichtet, den Leser auf den Inhalt des Bandes durch eine kurze Angabe

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der behandelten Probleme hinzuweisen und ihn dadurch für den Reichtum des Gebotenen vorzubereiten. Dem Band wurde ein Namen- und Sachregister, das ihm fehlte, hinzugefügt. Sinnstörende Druckfehler wurden kor­ rigiert. Die Neuauflage wird als dritter Band der ,,Psycho­ logie vom empirischen Standpunkt'' (nicht I I I . 1 . Teil) bezeichnet, weil dem Band Selbständigkeit zukommt und die Verbindung mit einem Neudruck von Brentanos ,, Untersuchungen zur Sinnespsychologie'' , die Kraus als 2. Teil plante, doch nur eine recht lose bliebe. In den ,,An­ merkungen des Herausgebers'' wurden die Hinweise auf die Einleitung von Kraus und auf Manuskripte, die in­ zwischen publiziert oder als nicht mehr aktuell zurück­ gestellt wurden, ausgelassen bzw. entsprechend g�ändert. Dieser I 1 1 . Band bringt wertvolle Ergänzungen zu den zwei vorangegangenen Bänden und neue interessante Lösungen schwieriger psychologischer Probleme. Innsbruck, im Jänner 1 967 Franziska Mayer-Hillebrand

FRANZ BRENTANO V O M S I N NLI C H E N U N D N O E T I S C H E N B EW U S S T S E I N

Erster Abschnitt.

Primäres und sekundäres Bewußtsein (äußere und innere Wahrnehmung).

Perzeption und Apperzeption. Erstes Kapitef.

Von der inneren Wahrnehmung

(im engsten Sinne des sekundären Bewußtseins) 1).

§ 1 . Wenn man unter einem Skeptiker einen solchen versteht, der leugnet, daß wir irgendwelche Wahrheit erkennen und zu erkennen vermögen, so darf man wohl sagen, daß ein solcher sich selbst widerspreche. Denn er erklärt es für ausgemacht, daß nichts ausgemacht sei. Daraufhin mag nun der Skeptiker erwidern, er gebe nicht zu, daß das, was sich widerspreche, falsch sein müsse ; oder auch, er erkläre auch das nicht für ausgemacht, daß nichts ausgemacht sei ; er behaupte gar nichts und leugne gar nichts. Wenn er nun gar nichts behauptet und gar nichts leugnet, so hat man auch nicht mehr die Aufgabe, ihn zu widerlegen. Man mag ihn, wie schon A r i s t o t e l e s sagte, stehen lassen wie einen Klotz und sich nicht um ihn kümmern. Da­ gegen wird es doch gut sein, zu untersuchen, wie man dazu gekommen ist, sich extrem skeptisch auszusprechen. Man nimmt gewöhnlich etwas nur dann als sicher an, wenn man einen Beweis dafür zu haben glaubt ; der Beweis aber stützt sich auf Voraussetzungen ; sind diese selbst wieder erwiesen, so doch nur durch andere Vor­ aussetzungen 2). Und dabei kann es nicht ins Unendliche

2

I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

gehen ; irgend einmal muß man Unerwiesenes unmittel­ bar annehmen. Durch Beweis sind diese ersten An­ nahmen nicht gesichert, somit müßten sie ohne Beweis sicher sein, sonst werden alle darauf gegründeten Be­ weise wegen der Unsicherheit der ersten Prinzipien hin­ fällig. Aber was gibt uns das Recht, sie für unmittelbar sicher zu erklären 1 Etwa ein natürlicher Drang zu un­ mittelbarem Glauben 1 Aber wer sagt uns, daß man sich nicht auch gedrängt fühlen könne, Unwahres für wahr zu halten 1 Scheinen wir nicht bei Narren einen solchen Fall zu finden, wo wir dann sagen, sie hätten eine fixe Idee ; und scheint nicht auch mancher, den man nicht geradezu zu den Narren rechnet, etwas, was er von Kindheit auf gehört, sich so in den Kopf gesetzt zu haben, daß er einem unwiderstehlichen Drang, es zu glauben, unterliegt 1 Wo scheint der Drang zu unmittel­ barem Glauben mächtiger als im Falle eines frischen Gedächtnisses ; oder im Falle einer Sinneswahrnehmung, die uns Rot und Blau, Warm und Kalt als in Wirklich­ keit gegeben darstellt 1 Und doch führt der Glaube an die wirkliche Existenz des Warmen und Kalten zu Kon­ flikten, wenn man dasselbe Wasser mit der erwärmten Hand als kalt und mit der abgekühlten zugleich als warm fühlt3). Und schon mancher glaubte auf etwas, was ihm da.s Gedächtnis mit aller Klarheit zu bezeugen schien, schwören zu können, und kam dann dazu, es als unrichtig zuzugeben. Also auch der stärkste Drang zu unmittelbarer Annahme bietet keine Sicherheit, und so scheint sie denn gar nichts bieten zu können ; denn wenn manche die Übereinstimmung vieler und aller Menschen als Kriterium zu Hilfe nehmen wollten, so verfielen sie in einen lächerlichen Zirkelschluß 4), denn wer sagte ihnen, daß andere s e i e n und mit ihnen über­ einstimmten � Doch nicht wieder diese anderen, deren Existenz und Urteil ja erst festgestellt werden soll 1 § 2. In dem, was hier gesagt wird, liegt nun wohl eine unleugbare Wahrheit eingeschlossen, nämlich daß der

1. Kapitel : Von der inneren Wahrnehmung

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bloße Drang, etwas als unmittelbar zu glauben, wenn er auch noch so mächtig ist, keine sichere Bürgschaft für die Wahrheit gibt. Es muß etwas anderes sein, was die unmittelbar sicheren Urteile auszeichnet. Und wir nennen dieses die , ,E v i d e n z''. Worin diese bestehe, läßt sich nur durch Vorführung von Beispielen, ";orin sie gegeben ist, und durch Vergleich derselben mit an­ deren, worin sie fehlt, klarmachen. Ist dies doch der einzige Weg, den wir auch anderwärts betreten müssen, um uns einfache Merkmale zur Klarheit zu bringen. D e s c a r t e s führte als einen solchen Fall die Erkenntnis vor, die wir, wenn wir uns bewußt sind, etwas zu denken, zu sehen, zu hören, zu wollen, zu fühl3n, in diesem Be­ wußtsein besitzen. Wenn ich mit meinem Zweifel nocl1 so weit gehe, sagte er, so kann ich doch nicht zweifeln, daß ich zweifle. Und er wollte damit nicht sagen, daß ich einen schlechthin unüberwindlichen Drang habe, an mein Denken zu glauben, sondern daß ich mit voller Sicherheit mein Denken a l s T a t s a c h e w a h r n e h m e5). Was hier das Auszeichnende gegenüber einem Fall des Glaubens mit blindem Drange ist, zeigt uns der V e r g l e i c h mit einem tief eingewurzelten Vorurteil ; so mächtig hier der Drang sein mag, fehlt doch etwas, was dort sich findet, und das ist es eben, was wir als Evidenz bezeichnen. Je schärfer man den Fall blinden Dranges ins Auge faßt, um so mehr erscheint der Glaube ungerechtfertigt, während er im Falle der Evidenz sich als vollberechtigt offenbart6). § 3. So wenig fehlt es an unmittelbar sicheren Erkennt­ nissen, daß sogar kein einziger Mensch, ja kein einziges Tier, welches irgendwie psychisch tätig ist, der evidenten Erkenntnis ganz entbehrt. Denn immer ist in der psychischen Tätigkeit das evidente Bewußtsein von ihr eingeschlossen. Dagegen geschieht es in Fällen, wo die Tätigkeit kompliziert ist, nicht immer, daß wir die sich komplizierenden Momente im besonderen deutlich unter­ scheiden ; ·und so haben wir es bald mit einer k o n -

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nicht zu, zu sein, sonst könnte es einem einfallen, auch von etwas, wozu ich in andere psychische Beziehung trete, wie z.- B. etwas Unmöglichem, was ich als unmög� lieh verwerfe, zu sagen, es sei, weil es in mir als geleugnet sich finde. Nichts ist in mir im eigentlichen Sinne des Worts, als meine Leugnung jenes Unmöglichen 10). So ist denn, was , ,als Gegenstand'' erkannt wird, nicht wahrhaft anerkannt, sondern nur der psychisch Tätige 11 ), der sich darauf, als seinen Gegenstand, bezieht. Der uneigentliche Gebrauch des Wörtchens ,,sein'', welcher ee zur Unterscheidung eines doppelten Seins, des realen1 2) und des phänomenalen Seins, kommen ließ, hat in der Philosophie große Verwirrung angerichtet, ist doch K a n t so weit gegangen, zu leugnen, daß wir ein reales Wissen haben könnten, während uns ein phänomenales nach ihm zukommen soll. Wer auf das von uns eben Gesagte zuriickblickt, erkennt sofort die Absurdität dieser Behauptung, da ja die sog. phänomenale Existenz von etwas auf nichts anderes hinausläuft, als daß ein es vorFtellendes, es schauendes und so sich psychisch darauf beziehendes Reales existiert. Mit dem Entfall der E r ke n n t n i s von etwas als real Existierendem entfällt also notwendig die jener sog. phänomenalen Existenz 13). § 7 . Auch die Lehre von jener, dem Gedächtnis zu­ kommenden unmittelbaren Vermutungsevidenz ist aber sofort als etwas Undenkbares zu verwerfen. Es soll nach ihr etwas unmittelbar als wahrscheinlich erkannt werden, allein eine unmittelbare Erkenntnis als wahr­ scheinlich ist darum schlechterdings ausgeschlossen, weil jede Wahrscheinlichkeitserkenntnis sich aus mehreren Erkenntnissen zusammensetzt, denn sie ergibt sich dar­ aus, daß wir erkennen, einerseits, von mehreren An­ nahmen sei eine notwendig wahr, und anderseits, wir hätten nicht den geringsten Anhalt, der einen vor der anderen den Vorzug zu geben1'). § 8. Es ist sicher, daß weder wir noch irgendein anderes Wesen, welches etwas unmittelbar mit Evidenz als Tat-

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I. Abschnitt : Primäres rmd sekundäres Bewußtsein

f u s e r e n , bald mit einer d e u t l i c h e r e n E r k e n n t n i s von uns, als psychisch Tätigen, zu tun. Daß sie aber evident sei, gilt von der konfusen und deutlichen gleich­ mäßig7). § 4. Ü b e r u n s s e l b s t als p s y c h i s c h T ä t i g e h i n a u s haben wir aber keine u nmittelbar evidente Er­ k e n n t n i s e i n e r T a t s a c he. Ja, auch über unsere eigene psychische Tätigkeit in der Vergangenheit wie in der Zukunft erkennen wir nichts mit unmittelbarer Evidenz. Einen instinktiven blinden Drang, dem Ge­ dächtnis und auch der sog. äußeren Wahrnehmung zu vertrauen, haben wir. Aber wir haben schon gesagt, daß in diesem der Charakter der Evidenz nicht gegeben sei8). § 5. Manche sagen : dies sei nicht richtig, vielmehr er­ kennten wir mit unmittelbarer Evidenz auch die Far­ ben, Töne usw. als Phänomene, wir erkennten sie ,,als phänomenal seiend'', wenn auch nicht als real existie­ rend. Auch eine , ,phänomenal seiende Farbe'' seien nicht wir selbst, und somit sei die Erkenntnis einer phänomenalen Farbe als solcher keine innere, sondern eine äußere Wahrnehmrmg, die evident sei. Was aber das Gedächtnis betrifft, so wollten sie auch für dieses nicht zugeben, daß ihm die Evidenz ganz fehle ; doch nahmen sie in merkwürdiger Art ein gewisses Mehr und Minder bei der Evidenz des Gedächtnisses an. Sie nannten dieselbe eine ,,Vermutungsevidenz''9), welche unmittelbare Wahrscheinlichkeit bald in höherem, bald in niederem Grade verleihe, und sich dabei manchmal bis ins Unendliche der vollen Sicherheit nähere . § 6. Alles dieses ist leicht als irrig nachzuweisen. Unter­ sucht man, was es heißt, wenn man sagt, die Farbe werde nicht als wirklich existierend, wohl aber als phänomenal seiend erkannt, so zeigt sich, daß es auf nichts anderes hinausläuft, als daß ich nicht erkenne, daß die Farbe sei, wohl aber, daß ich die Farbe vorstelle, schaue . Insofern ich dies tue, kommt es der Farbe gar

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I. Abschnitt: Primäres und sekundäres Bewußtsein

sache erfaßt, dabei etwas anderes als sich selbst zum Objekt der Erkenntnis haben kann. Denn wie immer die Erkenntnis eine bloß tatsä.chliche und keine Er­ kenntnis als notwendig sein mag, so muß doch die rela­ tive Unmöglichkeit g e s i c h ert s e i n , daß der psychisch Tätige, so wie er ist, sei und das Objekt der Tätigkeit nicht sei. Und so ist es bei der Selbsterkenntnis, nicht aber bei der Erkenntnis eines anderen, als einfach Tat­ sächlichen 15). Auch zwischen der Tatsache, daß einer etwas früher erlebt zu haben glaubt und daß er es nicht erlebt habe, besteht kein Widerspruch, und darum ist auch eine unmittelbare Evidenz 16) des Gedächtnisses nicht bloß bei uns Menschen, sondern auch bei jedem anderen nicht unmittelbar notwendigen Wesen und Denken schlechterdings ausgeschlossen . § 9. Dieser Punkt ist von großer Wichtigkeit, und es wird darum gut sein, ihn noch etwas zu verdeutlichen und gegen Einwände zu sichern. Zur Verdeutlichung sage ich, daß es zur unmittelbar tatsächlichen Erkenntnis nicht genügt, daß das Objekt des Erkennenden mit dem Erkenne11den identisch ist, sondern daß erforderlich ist, daß die I d e n t i t ä t des Erkennenden und Erkannten m i te r k a n n t w e r d e. Wenn einer urteilt, daß es ein Urteilendes gebe, so bestände allerdings ein Wider­ spruch, wenn sein Urteil falsch wäre. Allein, wenn der Urteilende von dem Verhältnis des Urteilenden zu dem, worüber er urteilt, nichts wüßte, so wäre für ihn dieser Widerspruch so gut wie nicht vorhanden. Man sieht daraus, von welcher Bedeutung eine Verschlimmbesserung ist, die L i c h te n b e rg an dem Satze des D e s c a r t e s : ,,cogito, ergo sum'' vornehmen wollte, indem er meinte, man müsse, statt zu sagen , ,ich denke'', sich darauf be­ schränken zu sagen ,,es denkt' '. Diese läuft ja auf nichts anderes hinaus, als darauf, daß bei dem Urteil das Verhält­ nis der Identität zwischen dem, der das Urteil fällt und dem Objekte des Urteils unbekannt bleibt. Wäre dies der Fall, so entfiele die Möglichkeit einer unmittelbaren Evidenz17).

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§ 10. Man hat versucht, die von uns hier behauptete Beschränkung zu bestreiten , indem man sagte, es be­ stehe nicht bloß ein Widerspruch, wenn man sage, daß etwas zugleich sei und nicht sei, sondern auch, daß e i n e r e t w a s m i t E v i de n z a l s s e i e n d u r t e i l e u n d d a ß e s n i c ht s e i . Angenommen also, es urteile jemand mit unmittelbarer Evidenz, daß A tatsächlich sei, so bestände, wie immer er dieses A nicht selbst sein möge, ein Widerspruch, wenn zt1gleich mit ihm, als das A evident Erkennendem, das A nicht wäre. So wagt man · zu sagen, wir hätten uns einer einfachen petitio principii schuldig gemacht. Doch dem ist nicht so. Veranschau· liehen wir uns den Fall an einem Beispiel. Wenn einer an11ehmen wollte, es erkenne jemand einen von ihm fernen, in gar keinem Zusammenhang mit ihm stehenden Gegenstand, z. B. einen auf einer Straße in Peking liegenden Stein, mit unmittelbarer Evidenz und es würde darum ein Widerspruch sein und auch als wider­ sprechend bemerkt werden, wenn trotzdem behauptet werde, daß der Stein nicht existiert, was würde von dem Falle gelten, wo dieser Stein weggeräumt würde 1 Auf mich würde der ihn Wegräumende nicht einwirken, und so bestände denn mein psychisches Verhalten un• verändert fort. Ich urteilte also auch noch, wie zuvor, jener Stein läge auf der Straße. Ja, mein Urteil hätte gar keine Modifikation erlitten un.d wäre somit noch immer evident. Sagte man, das sei nicht richtig, so müßte man sich zu dem Glauben bekennen, daß das wirkliche Befinden des Steins auf der Straße in Peking mein evidentes Urteil, daß er dort liege, bedingt habe, oder umgekehrt, von meinem evidenten Urteil bedingt worden sei. Wenn aber dies, so würde es zur Evidenz meines Urteils auch gehören, daß ich von diesem Ver• hältnis des Bedingtseins Kenntnis hätte. Und auch dann stände zwar der Behauptung der Evidenz nichts mehr im Wege, aber sie könnte nicht wohl mehr als eine t1nmittelbare bezeichnet werden 18). So sagte denn

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

auch D e s c a r t e s , als er die Evidenz der sog. äußeren Wahrnehmung bestritt, sie könne nur etwa in der Art gedacht werden, daß der Gegenstand der äußeren 'Vahr· nehmung, indem er in Wirklichkeit bestehe, sein treues Bild in uns erzeuge und nichts anderes dasselbe erzeugen k ö n n e , was doch schon mit Rücksicht auf die Annahme eines allmächtigen Gottes nicht von vornherein be­ hauptet werden könne. § 1 1 . Noch ein anderer psychologischer Irrtum, der heute erneut worden ist und einigen Anhang gewonnen hat, muß hier mit Entschiedenheit zurückgewiesen wer­ den. Man hat das wahre Verhalten bei der inneren Selbstwahrnehmung in der Art verkannt, daß man meinte, sie wäre nicht in der Tätigkeit, die wahrgenom­ men werde, mitbeschlossen und wie A r i s t o t e l e s sagte, lv naeieyq> mitgegeben19). Sie fehle manchmal ganz, und wenn sie vorhanden sei, sei sie nicht eigentlich gleich­ zeitig, sondern folge, wie auch sonst die Wirkung der Ursache, in nächstem Zusammenhang nach. Auch könne sie dann selbst wieder zu einer Wahrnehmung von ihr, als einer zweiten Wirkung usw. führen. Mit einer solchen Lehre hebt man das Eigentümliche auf, was die un­ mittelbare Evidenz der Selbstwahrnehmung möglich macht. Es fehlt nach ihr die Identität des Wahr­ nehmenden und Wahrgenommenen als solchen. Übrigens war schon im Mittelalter kein geringerer als T h o m a s von A q u i n o 20) in diesen Irrtum verfallen, indem er, gewiß unbewußt, hier von der Lehre seines Meisters Aristoteles abfiel. § 1 2. Damit, daß die unmittelbar evidente tatsächliche Erkenntnis sich auf den Erkennenden selbst beschränkt, ja, auf ihn, wie er gegenwärtig ist, ausschließlich sich richtet, ist aber keineswegs gesagt, daß sie keine Viel­ heit von Erkenntnissen enthalte 21). Descartes begriff unter seinem ,,cogito'' sehr vielerlei. Ich sehe, ich höre, ich zweifle, ich bin überzeugt, ich fühle Lust, ich fühle Schmerz, ich begehre, ich verabscheue, ich will, ich

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Kapitel : Von der inneren Wahrnehmung

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zürne usw. usw. sollten alle Beispiele von einem cogito sein. Und das alles kann gleichzeitig demselben un­ mittelbar sich Erkennenden zukommen und darum auch mit unmittelbarer Evidenz von ihm erfaßt werden . Wir bemerl{ten schon, daß dies bald deutlicher, bald minder deutlich geschehen kann ; es wird nun nötig sein, be­ stimmter zu sagen, worin diese größere und geringere Deutlichkeit bestehe. In den Fällen größerer D e u t 1 i c h k e i t h a t m an es mit einer M e l1 r h e i t v o n E r ­ k e n n t n i s s e n zu tun. Man erfaßt etwas nach einer Mehrheit von Bestimmungen, die ihm zukommen und erkennt auch ihre Beziehung zueinander. Insbesondere u n t e r s c h e i d e t man sie, und · da1�i11 liegt, daß man von jeder erkennt, daß sie i s t und daß sie n i c h t die a ndere ist. So tritt hier eine Vervielfältigung von p o si t i v e n Urteilen und mit jedem positiven zugleich ein n e g a ­ tives U r t e i l e n auf, welches freilich kein rein negatives Urteilen für sich, sondern eine Art A b s p r e c h e n ist, bei welchem das, dem etwas abgesprochen wird, anerkannt wird. Von dem mehrfachen Erkennen, welches hier ge­ geben ist, erscheint ein Teil durch den anderen bedingt 22). § 1 3 . Wie im Fall größerer Deutlichkeit eine Mehrheit von Erkenntnissen gegeben ist, von denen manche von den anderen bedingt erscheinen, so finden wir die Er­ ke11ntnisse abermals vermehrt, und durch solche ver­ mehrt, welche von anderen bedingt erscheinen, wenn mit der Erkenntnis von T a t s ä c h l i c h e m auch die von A xi o m e n verbunden ist. Es sind das Urteile, welche negativ sind und etwas als unmöglich verwerfen. Er­ kenne ich, daß eine Bestimmung in einer anderen ent­ halten ist, s o e r k e n n e i c h a u c h , d a ß e s u n m ö g l i c h i s t , d a ß , w e m d i e s e B e s t i m m u n g z u k o m m t , die erstere mangelt23). Ganz offenbar ist diese Erkenntnis von der Erkenntnis, daß von den beiden Bestimmungen die eine in der anderen enthalten sei, bedingt. § 14. So. haben wir es denn, wenn ein deutlicheres Er­ kennen des Tatsächlichen und ein axiomatisches Er-

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Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

kennen (von etwas als unmöglich) gegeben ist, mit einem erweiterten Erkennen zu tun. Die Erweiterung besteht im Hinzukommen von bedingtem Erkennen ; eine solche findet aber auch noch in anderer Weise statt, welche wir als , , S c h l i e ß en'' bezeichnen. Man spricht von ihm dann, wenn wir auf Grund einer Mehrheit von Über­ zeugungen zu einer neuen gelangen, deren Leugnung zwar nicht mit einer von ihnen für sich allein, wohl aber mit ihnen vereinigt, im Widerspruch stehen würde. Da das erschlossene Urteil in keiner der Prämissen ein­ geschlossen war, so ist klar, daß diejenigen unrecht haben, welche meinen, daß es nicht wahrhaft als eine neue Erkenntnis und somit als eine Erweiterung unseres Erkennens zu betrachten sei 24). Das Erschlossene be­ zeichnet man gemeiniglich allein als ein mittelbar Er­ kanntes. § 15. Man unterscheidet dann auch noch zwischen Schlüssen, die etwas als sicher, und solchen, die etwas als w a h r s c h e i n l i c h erschließen. Aus der Gestalt eines regelmäßigen Würfels sagt man z. B., daß man mit Wahrscheinlichkeit erschließen könne, daß ich unter hundert Würfen mehr als einmal das ,,Eins'' werfen \Verde. Sieht man recht zu, so ist das Schlußverfahren hier ganz dasselbe. Ist es doch geradezu ein mathe­ matisches ; die Besonderheit ist nur, daß der Schluß­ satz, zu dem ich gelange, etwas ausspricht, was sich auf einen in mir nicht behobenen Zweifel bezieht. Man nennt diesen Zustand des Zweifels ein Vermuten und spricht von Graden der vernünftigen Vermutung 26 ). § 16. Von dieser Art also ist alles, was wir wirklich er­ kennen . Viele gehen aber in ihi·em Urteilen weit über die Schranke dessen, was sie erkennen, hinaus. Und sie tun dies schon hinsichtlich dessen, was sie unmittelbar als tatsächlich anerkennen, wie wenn sie unmittelbar von früher Erlebtem überzeugt sind und an eine räum­ liche Außenwelt glauben, was sie dann noch weiter zum Glauben an. andere persö11liche Wesen, wie sie selbst

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Kapitel : Von der inneren Wahrnehmung

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eines sind, führt. All dieses Glauben erscheint logisch unberechtigt, und wenn es trotzdem ganz oder teilweise vielleicht wahr sein könnte, so erhebt sich doch die Frage, ob wir mit den Mitteln der Erkenntnis, die uns gegeben sind, je dazu gelangen, es vernünftig zu verifi­ zieren. Man hat dies verneint und behauptet, wir könn­ ten in keiner Weise dartun, daß etwas anderes bestehe als wir selbst. Cfüwöhnlich ist man dabei nicht so weit gegangen, auch unsere früheren Erlebnisse für einen bloßen Schein zu erklären, und meinte nur, daß die -ganze Geschichte i n u n s sich abgespielt habe. Allein konsequent könnte man noch weiter gehen, und da nur das gegenwärtige ,,Ich' ' unmittelbar evident ist, auch den Glauben an eine eigene Vergangenheit und länger fortgesetzte Entwicklung als unberechtigt bestreiten 26) . Ja, es könnte einer dafür halten, daß diese Meinung sich vor allen anderen empfehle. Man bezeichnet diese Theo­ rien als S o l i p s i s m u s ; die eine als ganz extremen, die andere als weniger konsequent durchgeführten . Ehe wir dazu kommen können, ein Urteil über ihn auszl1sprechen, wird es nötig sein, d a s g a n z e B e r e i c h d e s T a t s ä c h ­ l i c h e n , w a s u n s u n m i t t e l b ar v o r l i e g t , zu über­ blicken 27) und auch einige der wichtigsten axiomatischen Erkenntnisse uns zum Bewußtsein zu bringen, um dann zu sehen, was für Schlüsse sich darauf aufbauen lassen.

Zweites Kapitel.

Von der inneren Wahrnehmung im engeren und im weiteren Sinne und von den Täuschungs.cr möglichkeiten 1) „

§ 1 . Wir haben gezeigt, nicht bloß, daß faktisch keine unserer Wahrnehmungen, welche evident ist, sich auf Außendinge bezieht, sondern auch, daß eine solche gar nicht möglich ist, weder bei uns noch bei einem anderen denkenden Wesen. Sie müßte sich denn etwa auf ein Objekt beziehen, welches als unmittelbar notwendiges Reales erkannt wird. Zur Evidenz gehört es nämlich nach dem Ausgeführten, daß, solange das evidente Ur­ teil besteht, keine außerhalb seiner vollzogene Änderung zur Folge haben kann, daß es aus einem wahren ein falsches wird, wie es bei bloß tatsächlichen wahren Ur­ teilen ganz leicht geschieht ; wie z. B . wenn ich fort­ fahre zu glauben, ein Haus zu besitzen, während es durch eine Feuersbrunst zerstört worden ist. So muß ich denn bei der evidenten Anerkennung eines Objektes ein Bewußtsein davon haben, daß dasselbe, wenn nicht geradezu absolut notwendig, wenigstens durch relative Notwendigkeit mit mir als Anerkennendem in Verbin­ dung stehe. So würde es aber nur etwa dann der Fall sein, wenn ich sicher \Väre, daß meine äußere Wahr­ nehmung das Wahrgenommene bewirke oder von ihm bewirkt werde. Aber nicht bloß das erstere, sondern auch das letztere ist nicht der Fall, und D e s c a r t e s machte nicht ohne guten Grund darauf aufmerksam, daß, wenn wirklich ein der Wahrnehmung genau ent­ sprechendes wirkliches Ding 2) sie in mir hervorgebracht

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Kapitel : Von den Täuschungsmöglichkeiten

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hätte, die göttliche Allmacht gewiß dasselbe habe leisten können. Somit wäre ich hier nicht bloß ohne jenes Bewußtsein relativ notwendiger Verbindung, sondern könnte geradezu nachweisen, daß· eine solche hier nicht besteht. Es ist wahr, daß es gewisse Fälle gibt, in welchen etwas, was von etwas bewirkt wird, den Charakter eines da­ durch Bewirkten an sich trägt, so daß hier trotz ihrer Allmacht selbst eine göttliche Ursache nicht als un­ mittelbar bestimmend substituiert werden kann . So ist es z. B., wenn wir einen Schluß ziehen und bemerken, daß das Denken des Schlußsatzes durch das Denken der Prämissen motiviert wird, oder wenn wir uns bewußt sind, um eines gewissen Zweckes willen uns für die Wahl eines Mittels zu entscheiden. Allein es scheint dies nie­ mals vorkommen zu können, wo wir nicht auch durch evidente Wahrnehmung in modo recto das, was uns bei der evidenten Erfassung der Wirkung in modo obliquo erscheint, gleichzeitig erfassen3). Und so finden wir denn, daß beim Schließen auch das Denken der Prä­ missen, beim Wählen des Mittels auch das Begehren des Zweckes und die Erkenntnis des· kausalen Zusammen­ hanges von Mittel und Zwecl{ in unsere innere Wahr­ nehmung fallen. Gewiß gilt es von allem unseren Denken, daß es seiner Natur nach ein Leiden4) ist, und vielleicht kann man sogar sagen, daß dieser Charakter ihm allge­ mein anhaftet. Und da nun darunter auch solches sich finde, was, wie z . B. Sehen und Hören, nicht von etwas Psychischem hervorgebracht scheint, so könnte man sagen, daß hier, indem eine Ursache, ein Außending als Ursache gesichert erscheint. Allein diese Ursache wird in solcher Unbestimmtheit vorgestellt, daß man nur eben sagen kann, daß es ein Reales, nicht aber, daß es dieses oder jene Reale, und darum auch nicht, daß es ein Außending sei, und nicht vielleicht in uns selbst die Ursache liege. Wäre dies der Fall, so wäre darum auch hier das Dasein eines Außendings nicht gegeben, und

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

somit zeigt sich, daß auch hier die Existenz eines Außen­ dings nicht durch unmittelbare Wahrnehmung gesichert genannt werden kann. Das aber kann vielleicht gesagt werden, daß das Bewußtsein, daß unser Empfinden fort und fort von etwas bewirkt wird, mit dazu beiträgt, daß man so allgemein die Neigung hat, die Empfindung als von dem empfundenen Objekt bewirkt zu betrachten und darum auch eine sichere Erkenntnis von dessen Existenz zu besitzen, obwohl eine einigermaßen vor­ sichtige Erwägung die Unrichtigkeit dieser Meinung beweist5 ). § 2. Verwandt mit dem eben beha1·1delten Einwand ist ein anderer, welcher in Rücksicht auf die einer Grenze wegen ihrer Zugehörigkeit zu einem Kontinuum eigen­ tümlichen Unselbständigkeit erhoben werden könnte. Indem wir uns selbst mit Evidenz wahrnehmen, nehmen wir uns nur als gegenwärtig wahr ; allein, es kann etwas nicht als gegenwärtig bestehen, ohne daß etwas ihm Gleiches oder infinitesimal von ihm sich Unterscheiden­ des mit einer Kontinuität von Zeitmodis bestanden hat oder bestehen wird, von welcher der Modus der Gegen­ wart eine Grenze bildet6). Und so scheint denn über die Wahrnehmung unseres gegenwärtigen Selbst hinaus die Evidenz sich auch noch auf Früheres oder Späteres er­ strecken zu müssen. Hier könnte einer nun vor allem darauf hinweisen, daß das, was miterkannt wird, sich immer nur auf unser Selbst bezieht. Dann aber muß man beachten, daß, wenn eine Grenze die Zugehörigkeit zu einem Kontinuum verlangt, doch kein b e s t i m m t e s Kontinuum, das zu ihrem Bestand erfordert wäre, namhaft gemacht werden kann ; denn jedes bestimmte Kontinuum hat eine be­ stimmte Größe. Allein zum Bestand der G r e n z e ist kein Kontinuum von b e s t i m m ter Größe erlorderlich. So klein man dasselbe denken möge, es wäre immer noch die Hälfte davon, ja, die Hälfte dieser Hälfte usf. ins Unendliche, genügend. So wäre denn auch außer dem

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Kapitel : Von den Täuschungsmöglichkeiten

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Grenzpunkt, um den es sich ha11delt, nicht ein einziger anzugeben, der infolge seiner sicheren Erkenntnis mit­ gesichert erschiene, wie nah auch imn1er man ihn denken möge. § 3. Der Nachweis, daß die innere Wahrnehmung sich nur auf das Gegenwärtige beschränkt und nicht auf den kleinsten rreil der Vergangenheit oder Zukunft mit­ bezieht, während wir doch vieles erlebt zu haben glau­ ben und anderes zu erleben erwarten, stellt es sofort ins hellste Licht, daß Psychisches nicht bloß s e k u n d ä r , sondern auch ähnlich dem Physischen, also p r i m ä r vor­ gestellt und beurteilt werden kann7). Ganz falsch wäre die Meinung, daß wir, wenn wir an früher Erlebtes zurückdächten, es in der Art in uns erneuerten, daß wir es, wenn auch, wie manche sagen, in geminderter Stärke neu erlebten. Wer eines früheren Irrtums sich erinnert, fällt dadurch nicht in den Irrtum zurück, und wer reuig bei einem früheren moralischen Fehltritt verweilt, ist weit davon entfernt, ihn dadurch nochmals zu begehen. Auch daß ich mir nicht bloß eigene, sondern auch fremde psychische Erlebnisse vorstellig machen kann , beweist die eben behauptete Möglichkeit, Psychisches auch pri­ mär zum Objekte zu haben. Natürlich ist aber dann der etwa damit verbundene Glauben nichts, was mit der innere:i1 Wahrnehmung die unmittelbare Evidenz gemein hätte7a). Es scheint, daß dieser Umstand, indem er nicht genug beachtet wurde, zu der Meinung beigetragen hat, daß die innere Wahrnehmung nicht durchwegs evident sei8). § 4 . Dazu trug aber auch noch etwas anderes bei. Man fand nämlich, daß man, wie es bei gewissen Sinnes­ täuschungen, z . B. optischen, in auffallendster Weise geschieht, Größe und Richtung gegeneinander ganz falsch bestimmt. Man meint bei den Zöllnerschen Fi­ guren nach der Durchkreuzung der Parallelen, sie seien in der A:r:tschauung beträchtlich verschoben. Hier sagt man nun, irre man sich nicht bloß hinsichtlich der .

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

Außenwelt, in der man eine Veränderung der Lage der Parallelen vollzogen glaube, sondern auch hinsichtlich des Psychischen, denn man glaube, die Anschauung von anders gerichteten Linien zu haben9). Auch das kommt vor, daß man affirmative Urteile für negative und um­ gekehrt erklärt. Und es hat dies zu schweren Verstößen in der Aufstellung der Regel der elementaren Logik ge­ führt10). So könnte noch gar vieles angeführt werden, was zu zeigen scheint, daß man sich über das in un­ mittelbarer innerer Wahrnehmung Gegebene in den mannigfachsten Beziehungen nicht selten in schwerer Täuschung befinde. 5. Doch man beachte wohl, daß es etwas anderes ist, sich ü b e r das in innerer Wahrnehmung Gegebene in einer Täuschung zu befinden, und etwas anderes, es nicht richtig wahrzunehmen. Kann es doch sogar vor­ kommen, daß einer in dem Irrtum befangen ist, er nehme etwas mit äußerer Wahr11ehmung wahr, was er mit innerer Wahrnehmung wahrnimmt, wie es z. B. noch heute nicht wenige tun, welche meinen, daß sinn­ liche Lust und sinnlicher Schmerz ähnlich den Farben und Tönen und der Wärme und Kälte als sinnliche Qualitäten zu betrachten seien. Dann würden sie aber als durch äußere Wahrnehmung gegeben gar nicht mit Evidenz als bestehend erkannt werden11). Auch kon­ fundiert man eine wahre sinnliche Qualität mit dem Schmerz, wenn man meint, der Schmerz erscheine loka­ lisiert, z. B. beim Zahnweh im Kiefer und bei der Migräne an der einen oder anderen Schläfe1 2) . Die Täuschungen beim aristotelischen Fingerexperi­ ment bei Berührung einer Kugel, und die über die Mo­ mente, welche u:µs für die . Beurteilung der Perspektive als Anhaltspunkte dienen, gehören, als besonders auf­ fallend, in dieses Bereich. Man sagt, daß man, weil das Interesse ganz auf die wirklichen Dinge gerichtet sei, welche durch ihre Einwirkung unsere Anschauung her­ vorriefen, ganz unfähig geworden sei, die Aufmerksam-

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Kapitel : Von den Täuschl1ngsmöglichkeiten

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keit dieser selbst genugsam zuzuwenden, um sie sich in ihren einzelnen Zügen zu verdeutlichen. Und so bilde man sich gewohnheitsmäßig ein Urteil über die Außen­ dinge, ohne sich darüber klar zu werden, was einem bei dem Urteil als Anhaltspunkt diene. Es ist etwas anderes, etwas w a h r n e h m e n und etwas b e m e rk e n , es mit anderem zu v e r g l e i c h e n und darauf­ hin allgemeinen Begriffen zu subsumieren. Manchmal fehlen solche Vergleichungen und Subsumptionen ganz ; .manchmal werden sie gemacht, aber ohne daß wir uns verdeutlichen, wie dies geschehe. Eine Mannigfaltigkeit von Umständen kann dabei von Einfluß sei11, die nur ganz konfus und ohne jede verdeutlichende Analyse in innerer Wahrnehmung vorliegt. Und bei solcher Igno­ ranz können auch die mannigfachsten irrigen Meinungen in uns entstehen . Das in einer inneren Wahrnehmung Wahrgenommene hat oft eine große Mannigfaltigkeit, von welcher nicht jegliches im einzelnen explizite ge­ dacht und unterschieden wird. Wenn wir die Anschau­ ung eines Kontinuums haben, so haben wir sie von etwas, was ins Unendliche teilhat' ist, aber über eine gewisse Grenze hinaus vermögen wir kleinere Teile nicht mehr zu bemerken . Auch ist nicht jeder gleiche Zuwachs gleich merklich. Die vorher gegebene Größe ist dabei wesentlich maßgebend ; nahe liegt es aber, gleich merk­ liche Zuwüchse für gleich zu halten, und das führt zur Täuschung der Zöllnerschen Figuren 13) und anderen, die nicht minder auffällig sind. Bei Vergleichen spielt das G e d ä c h t n i s eine Rolle, das, wie sehr auch ein natürliches Vertrauen dazu be­ stehen mag, der unmittelbaren Evidenz ermangelt, und schon das muß beweisen, daß für die durch V e r g l e i c h e n gewonnenen Ergebnisse nicht die gleiche Unfehlbarkeit wie für die i n n e re W a h r n e h m u n g in Anspruch ge­ nommen werden kann. Bezüglich der berührten Irrttngen über Lust und Schmerz, die manche als sinnliche Qualitäten betrach-

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

ten, in bestimmter Weise lokalisiert glauben und darauf­ hin der äußeren Wahrnehmung zuweisen , ist zu sagen, daß sie im Unterschied von anderen Empfindungen, wie z. B. denen der Töne und Farben, A f f e k t e sind, d. h. daß bei ihnen das Empfinden nicht bloß sekundär vor­ gestellt und anerkannt, sondern auch zum Gegenstand einer Gemütsbeziehung gemacht wird. Sie ist Liebe oder Haß der E r s c h e i n u n g gewisser Qualitäten, nicht aber der Qualitäten selbst14). Allein beides wird kon­ fundiert, und man hat Not, den Nachweis zu erbringen, daß überhaupt hier eine Erscheinung von Qualitäte11 und nicht bloß eine solche von dem Affekt, der auf ihre Erscheinung gerichtet ist, gegeben ist. Welche Verwirrung der Meinungen hier möglich ist, zeigt sich auch darin, daß manche die mit Tonerschei­ nungen verbundene Lust und den Widerwillen, von dem andere begleitet sind, in dem Empfinden der Töne selbst gegeben glauben, so daß diese selbst zum Affekt würde, während immer begleitend eine Qualität von anderer Gattung auftritt, auf welche der Affekt sich eigentlich bezieht 15). Diese und ihre Lokalisation werden so wenig beachtet als, wie vorerwähnt, die Anhaltspunkte bei der Beurteilung der Perspektive. Die Lust an einem Drei­ klang kann unmöglich, einheitlich wie sie ist, in den drei Empfindungen selbst gegeben sein ; sie verlangt also eine besondere Empfindung, die mit auftritt. Auch empfindet man den g l e i c h e n Ton beim Auftreten in eine1„ ver­ schiedenen Ton f o l g e , aber dabei kann das eine Mal Gefallen, das andere Mal Mißfallen daran sich knüpfen. Der Unmusikalische hat dasselbe Hören, aber nicht das­ selbe Gefallen und Mißfallen 16). § 6. Mit der so vielfachen Konfusion, welche trotz der Evidenz der inneren Wahrnehmung auf psychischem Gebiet bestehen kann, hängt es zusammen, daß die Meinungen der Psychologen in der deskriptiven Psycho­ logie in auffallendster Weise auseinandergehen. So wenn es sich um die Frage handelt, ob wir nur Einzelvorstel-

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Kapitel : Von den Tät1schungsmöglichkeiten

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lungen oder auch allgemeine besitzen. Und wieder in der Frage, von wievielfacher Gattung die Empfindungen seien. Und wieder, ob alle psychische Tätigkeit sich auf einen Gegenstand beziehe 1 7), und wieder, ob die Be­ ziehungsweise eine mannigfache und wie mannigfach sie sei. Und wieder, um was für einen Unterschied es sich eigentlich handele, wenn man von etwas als Gegen­ wärtigem, Vergangenem oder Zukünftigem spricht, und wieder, was man unter der Intensität einer Sinnes­ erscheinung zu denken habe und ob keine psychische Betätigung ohne eine gewisse Intensität denkbar sei. Auch ob die Intensitäten bei verschiedener Gattung von Empfindungen in demselben oder im analogen Sinne Intensität seien. Ja, auch ob man bei jedem Empfinden die Qualität lokalisiere und ob das in der Empfindung räumlich Erscheinende bei verschiedenen Gattungen der Empfindungen im selben oder im analogen Sinne räum­ lich erscheine. Auch ob es in zwei oder in drei Dimen­ sionen ausgedehnt erscheine, ja, ob überhaupt von Kon­ tinuität hier gesprochen werden könne ; wiederum, ob man in irgendeiner Anschauung die Vorstellung einer Substanz eingeschlossen finde, und ebenso die eines Wirkenden oder Gewirktwerdenden, was, wenn man es verneinte, zu der Meinung führte, daß der Begriff durch Komposition aus vielen Merkmalen entstanden sei, die im einzelnen aufgewiesen werden müßten18). Das alles zeigt, wie richtig wir gesagt haben, daß uns vielfach die Aufgabe zufallen muß, gewisse Begriffe im Hinblick auf gewisse Tatsachen, aus welchen sie zu schöpfen sind, zu klären 19). § 7. Sonach dürften folgende Bestimmungen hinsicht­ lich der unmittelbaren tatsächlichen Urteile, welche etwas anerkennen, die richtigen sein20) : 1 . Von unseren unmittelbar tatsächlichen Anerken­ nungen sind die einen evident, andere Folgen eines blinden Dranges 21). Wir mögen sie instinktiv nennen. Dieser blinde Drang ist bald mehr, bald minder stark,

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I. Abschnitt: Primäres und sekundäres Bewußtsein

hinsichtlich der Evidenz aber gibt es keine Gradunter­ schiede. 2. Alle inneren Wahr11ehmungen sind evident. Man muß sich aber wohl davor hüten, etwas für innere Wahr­ nehmung zu halten, was es nicht ist. Wenn einer, der sich durch die Zöllnerschen Figuren zu falschen Urteilen verleiten läßt, seine visuellen Phänomene als Phänomene in einer Weise verändert glaubt, wie sie es nicht sind, so täuscht er sich im Urteil über das, was er innerlich wahr­ nimmt, aber die innere Wahrnehmung ist nicht das, was irrt. Er hat M e s s u n g en 22) vollzogen, welche ihn zu falschen Urteilen über die relativen Winl\:elgrößen führ­ ten. Von all dem hat er sich aber nichts deutlich ge­ macht, und so kommt er dazu, sein U rt e il über die Richtung der Linie, das er als solches ganz richtig er­ kennt, fälschlich für etwas, was in der Wahrnehmung des Phänomens selbst beschlossen sei, zu halten 2 3). Auch die häufig vorkommenden Perspekti�eurteile sind nicht Sache des Sehens oder der Wahrnehmung des Sehen.s. Wir fühlen uns oft dabei unsicher und wagen nur sehr ungenaue, verschwommene Bestimmungen. Ebenso würde derjenige irren, der Dispositionen unmittelbar innerlich wahrnehmen zu können glaubte 24). Auch braucht kaum erwähnt zu werden, daß nicht alles, was wir von uns denken, von uns innerlich wahrgenommen wird. Wo einer sich zu beobachten sucht, benutzt er25) die An­ schauung eines frischen Gedächtnisses. 3. Keine sog. ä u ß e r e Wahrnehmung ist unmittelbar evident ; aber auch hier muß man sich hüten, solches, was Sache der inneren Wah1-i1ehmung ist, mit solchem, was wahrhaft Sache der äußeren Wahi·nehmung ist, zu verwechseln. Dies würde der tun, welcher meinte, die sog. ,,phänomenale Existenz'' von Farben lind Tönen sei Sache der äußeren Wahrnehmung. Tatsächlich be­ sagt diese sog. phänomenale Existenz nichts als die Existenz des die Erscheinung Habenden als solchen, und das ist etwas, was zur inneren Wahrnehmung ge-

2.

Kapitel : Von den Täuschungsmöglichkeiten

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hört. Neulich haben manche Lust und Schmerz zu den sinnlichen Qualitäten zählen wollen. Da wir nun die wirkliche Existenz von Lust und Schmerz mit unmittel­ barer Sicherheit erfassen, so würde hier ein Fall von unmittelbar evidenter äußerer Wahrnehmung vorliegen 26). Allein dem ist nicht so, und wenn die Leute sagen, sie nähmen den Schmerz oder das angenehme Gefühl in einem Gliede wahr, so hat schon D e s c a1· t e s treffend die Konfusion, die hier begangen wird, charakterisiert. Eine sinnliche Qualität tritt allerdings hier in die Er­ scheinung, aber das Lust- und Unlustgefühl ist nicht die sinnliche Erscheinung, sondern etwas, was sich auf das Erscheinen de1·selben, d. h. auf das darauf gerichtete Empfinden , welches ein passioniertes ist, bezieht. Das Empfinden ist selbst Objekt.

Drittes Kapite1.

Genaueres über Wahrnehmen, Bemerken, Vergleichen, Unterscheiden. (Exkurs über das Cartesianische ,,cfare ac distincte percipere''.)1)

§ 1 . Wir haben von D e s c a r t e s zwei Sätze, welche als allgemeine Regeln der Erkenntnis dienen sollen, den Satz : ,, Quod valde clare et distincte percipio, verum est'' , und den Satz : ,,Was in dem Begriffe einer Sache klar und distinkt enthalten ist, kann mit Sicherheit von ihr ausgesagt werden." Beide Sätze lassen an Verständ­ lichkeit zu wünschen übrig. Den letzteren hat D e s ­ c a r t e s selbst mißdeutet und ist so zu seinem onto­ logischen Beweis gekommen2). Es handelt sich um apo­ diktische negative Aussagen, und so ist der Satz klar dem Typus des Kontradiktionsgesetzes entsprechend. Bei dem ersteren Satz liegt ein von D e s c a r t e s ge­ gebenes Beispiel zur Erläuteru11g vor ; es ist dies sein ,,cogito, ergo sum'', wobei er später bemerkte, daß er hier nicht von einem Schlusse habe sprechen wollen, da er vielmehr das , ,cogito'' dem , ,sum'' gleichbedeutend setze. Sonst hätte man annehmen können, er habe in dem Begriff , ,cogitans'' eine ,,res'' klar und deutlich enthalten gefunden und habe so nach dem anderen von uns zitierten Satze sich imstande geglaubt, daß , ,sum res'' mit Sicherheit von sich als ,,cogitans'' auszusagen. Irrigerweise galt. ihm das Denken als Substanz des Denkenden. Der Satz , ,cogito'' ist affirmativ. So scheint das , ,percipere'' ein affirmatives Urteil zu bedeuten, was aber bedeuten , ,clare et distincte'' 1 In der Schrift

3. Kapitel : Genaueres über Wahrnehmen, Bemerken

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, ,De principiis'' erläutert D e s c a r t e s diese Ausdrücke an dem Beispiel eines heftigen Schmerzes, der sehr klar, aber darum doch nicht immer distinkt sei, insofern er oft von dem, der den Schmerz fühlt, mit seinem du11ke]n Urteil über die Natur des Schmerzes konfundiert werde, indem man gemeiniglich glaube, es finde sich in dem leidenden Teile etwas der Empfindung des Schmerzes Ähnliches, die man allein klar spezifiziere. Man darf hier wohl sagen, D e s c a r t e s habe an die Tatsache gerührt, daß die Leute die Empfindung des Schmerzes mit einem in einem Glied lokalisierten Phänomen, welches uns, als Phänomen zu haben, unangenehm ist, verwechseln3). Er l1ätte aber dann sich besser ausgedrückt, wenn er von einer Verwechslung der Schmerzempfindung mit einer der Farbe, dem Tone u. a. analogen Sinnesqualität und so eines psychischen und physischen Phänomens als von einer Verwechslung eines obskuren ,,Urteils' ' mit einem Empfinden, die ja doch beide psychische Phänomene sind und von denen keines in einem Körperteil lokalisiert erscheint, gesprochen hätte*). ,,Klar'' ist nach D e s ­ c a rte s , was sich vollkommen merklich macht ; ,,distinkt'', wa,s sich so merklich macht, daß es jede Verwechslung mit etwas von ihm Verschiedenen ausschließt. D e s c a r t e s sagt : Die distinkte Perzeption sei die­ jenige, welche gar nichts anderes, als was klar ist, in sich begreife. Darnach würde er bei der Vorführu11g des Beispiels der Meinung sein, die Leute pflegten bei der Perzeption des Schmerzes ihr obskures Urteil über die Natur des Schmerzes in der. Perzeption des Schmerzes mit einzubegreifen, und in Rücksicht auf diesen ein­ begriffenen dunklen Teil der Perzeption sei dieselbe nicht distinkt zu nennen. Eine klare, aber nicht distinkte Perzeption wäre also eine solche, welche nur einem Teil nach klar ist. In dem Teil, nach welchem sie klar ist, *) ,,Urteil'' muß hier im Sinne von dem, was man ur­

teilend annimmt, verstanden werden.

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

wäre kein Teil unklar ; aber über den Teil hinaus um­ faßte die Perzeption in unklarer Weise noch anderes. Von der Art, wie L e i b n i z später die Ausdrücke defi„ nierte, ist die des D e s c a r t e s sichtlich verschieden. Auch der Ausdruck ,,percipio'' zeigt sich aber nach dem Beispiel, das D e s c artes gibt, so gebraucht, daß auch Fälle von negativem Urteil davon berührt werden. Er spricht von Perzeption , ,ewiger Wahrheiten'', zu d.enen auch die gehört, daß unmöglich etwas zugleich ist und nicht ist, und daß aus nichts nichts wird, Sie sind nur im Verstande4). Vielleicht geht die Perzeption hier insofern doch in positiver vVeise vor sich, daß wir perzipieren, daß wir diese Wahrheiten als ewige er­ kennen. Allein, es handelt sich da doch um ein doppeltes Erkennen ; erstens um das der ewigen Wahrheit und zweitens um das, daß ich die Erkenntnis von ihr habe, was etwas rein Tatsächliches und Zeitweiliges ist und . mit der Perzeption von ,,rebus'' und ,,modisc', denen die der ewigen Wahrheiten gegenübergestellt wird, zusammen­ gehören würde. Es bestehen da Ungenauigkeiten und Unklarheiten, welche so weit gehen, daß es dann und wann scheinen will, als habe D e s c artes bei seiner klaren und distinkten Perzeption an eine auszeichnende Eigentümlichkeit gewisser V o r s t e 1 1 u n g e n , welche das Recht zum Urteil gebe, nicht aber an eine auszeichnende Eigentümlichkeit des Urteils selbst gedacht. An unserer Stelle indes hörten wir ihn von einem ,,obscurum judi­ cium'' sprechen. Die Anwendung des Ausdruckes ,,l{lar'' und ,,distinkt'' auf unser Denken von äußerlich wahr­ genommenen Körpern und von geometrischen Sätzen macht das Verständnis nicht leichter. Interessant ist, daß er von den sinnlichen Wahr­ nehmungen sagt, sie schienen ,,von außen gekommen'' (ideae adventitiae), die Fiktionen von uns selbst erzeugt. Es scheine11 nach ihm die Wahrnehmungen wie die Fiktionen den Charaltter von passiven Affektionen zu tragen.

3. Ke.pitel : Genaueres über Wahrnehmen , Bemerken

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Das ,,distinkt'' bei D e s c a rtes scheint darauf zu. zielen, daß jedes Verwechseln mit anderem und Ein­ mischen von nicht Zugehörigem, was ja auch eine Ver­ wechslung von einem Teil mit einem weitergreifenden Ganzen besagen würde, ausgeschlossen ist. Bei L e i b n i z wäre dies, scl1eint mir, schon in dem , ,clare' ' ausge­ sprochen, Fragt man, ol) die beiden Sätze nach D e s c artes Axiome wären, so stößt man auf seine wunderliche Mei­ nung, daß Gott auch über die Wahrheit der Axiome Macht habe, die eigentlich ihren ganzen Charakter zer­ stört5). In Wahrheit haben wir schon gesagt, daß von den beiden Regeln die eine, recht verstanden , sich als ein Kontradiktionsfall erweist6), die andere7) aber tut dies ebenso, wenn man sie so faßt, daß man sagt : ,,Ein Urteil, das evident ist, ist wahr. ''8) Diese vielleicht etwas freie Auslegung scheint aber kaum vermeidlich, wenn man den Satz in dem ganzen Umfang, in welchem D e s c ar t e s von ihm Gebrauch machen will, zt1r An­ wendung bringen soll. Sein , ,distinkt'' hat dann wohl den Wert eines Hinweises darauf, daß man manchmal, auch wo man ein evidentes Urteil hat, sich noch durch ""ver­ wechslungen mit anderen Urteilen in der Art beirren läßt, daß man perplex dasteht, zu Zweifel, ja geradezu zu einem in absurder Weise widersprechenden Urteil ver­ führt wird. H e g e l kam zur Leugnung des Satzes des Widerspruchs und E p i k u r widersprach den Grund­ sätzen der Logik und den Lehrsätzen der Mathematik auf Grund der armseligsten Gegenargumente. § 2. Es scheint offenbar, daß der Ausdruck ,,clare'' Bezug hat zu einem B e m e rken. Es spricht von etwas, das so unter unsere Aufmerksamkeit9) fällt, daß es be­ merkt wird. Dagegen scheint der Ausdruck ,,distincte' ' zu einem U n te r s c h e i d e n Bezug zu haben. · Es spricht von dem J?all, wo wir infolge der darauf gerichteten Aufmerksamkeit es nicht bloß bemerken, sondern unsere Aufmerksamkeit auch auf anderes, was wir zugleich mit

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

ihm denken, in der Art erstrecken, daß wir das eine mit dem anderen vergleichen und von ihm unterscheiden. Tun wir dies nicht, so zeigt die Erfahrung, daß wir sehr oft dazu kommen, zu glauben, daß von mehrerem, was wir z ug l e i c h denken und vielleicht auch bemerken, das eine zum anderen in einer Weise sich verhält, die gar nicht der Wahrheit entspricht. So z. B. verwechseln wir die phänomenale L o k a l i s a t i on mit einer, die wir ge­ wohnheitsmäßig einem Außendinge zuschreiben, welches wir als Ursache unserer Sinneswahrnehmung vorhanden glauben. In dem von D e s c a r t e s erbrachten Beispiel ist der, welcher den lebhaften Schmerz, den er fühlt, in dem leidenden Glied gegeben glaubt, nicht dazu gelangt, eine gewisse Sinnesqualität, die ihm als primäres Objekt mit einer gewissen Lokalisation erscheint, mit dem darauf gerichteten emotionellen Empfinden in der Art zu ver­ gleichen, daß er jenes primäre Objekt von diesen sekun­ dären distinguiert, und so kommt er dazu, dem emotio­ nellen Empfinden selbst die Lokalisation des primären Objektes zuzuschreiben. Ja, der Irrtum geht noch weiter, denn mit der phänomenalen Lokalisation des primären Objekts wird ein Ort, den er gewohnheitsmäßig dem Dinge, welches er als Ursache der Empfindung in Wirklichkeit bestehen glaubt, zuschreibt., verwechselt, und dieser dann auch dem emotionellen Empfinden selbst zugeschrieben ; denn ein sog. Fußweh meint man anders lokalisiert wahrzunehmen, wenn man den Fuß ausstreckt oder mit gebogenem Knie an sich zieht, obwohl dabei die phänomenale Lokalisation des primären Objekts ganz unverändert geblieben ist10). So kommt man denn hier in betreff eines Objekts innerer Wahrnehmung zu schwerer Täuschung, während freilich die innere Wahr­ nehmung selbst , soweit sie reicht, keine Täuschung enthält11). Aber man mag dann auch zu dem trüglichen Urteil kommen, daß die innere Wahn1ehmung einem etwas gesagt habe, was sie faktisch nicht sagte, und erkennt man dies dann als Täuschung, so kann dies dazu führen,

3. Kapitel : Genaueres über \'Ta.hr11el1me11, Bemerken

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an der untrüglichen Evidenz der inneren Wahrnehmung in sich selbst irre zu we1·den. § 3. Es entsteht hier die Frage, ob das B e rn e r k e n , und ferner die, ob das D i s t i n g u i e r e n des einen Ver­ glichenen von dem andern e i n W a h r n e h m e n sei und ob dem Bemerken und Distinguieren irgendwelche Evi­ denz zukomme. Bezüglich des Distinguierens wäre dann weiter zu fragen, ob es Grade der Vollkommenheit habe und ob man z. B. Grundton und Terz beim Vergleichen besse1· distinguiere als Grundton und einen Ton, der in der Skala weit weniger als die kleine Sekund von ihm entfernt ist ; oder auch, ob man Grundton und kleine Sekund in mittlerer Tonlage nicht ungleich besser unter­ scheide als im tiefsten Baß. Sagt man ja, so fragt sich weiter, was das bedeute. Bedeutet es nur die Erforde­ rung einer angestrengteren Aufmerksamkeit12}, um den Unterschied zu erkennen, oder bedeutet es eine größere Leichtigkeit, sich über den erkannten Unterschied zu täuschen, sich an der Erkenntnis irre machen zu lassen, oder bedeutet es einen geringeren Grad der Erkenntnis, wie denn auch gar vielfach von den ausgezeichnetsten Denkern von Graden der Evidenz gesprochen worden ist, so z. B. von P a s c a l in seiner Abhandlung über die Methode der Geometer 1 Doch was sollte, wenn von Graden der Evidenz 1 3) gesprochen wird, vernünftiger­ weise anderes gemeint werden können als eine Erkennt­ nis, daß etwas mehr oder minder wahrscheinlich ist 1 Und bei unmittelbarer Erke11ntn.is kann es sich um Wahrscl1einlichkeit nicht handeln. Um diese Fragen zu beantworten, muß man den ganzen Prozeß, der z u m U n t e r s c h e i d e 11 führt, sich deutlich zu rr1achen suchen . Wer u n t e r s c h e i d e t , der vergleicht, und wer v e r g l e i c h t14), der bemerkt das eine und andere, das er vergleicht. E r m u ß s i c h a u f d a s e i n e u n d an d e r e i m b e s o n d e r e n d e n k e n d b e z i e he n : Ich meine hiermit dies : Ein Empfinden umfaßt oft in seinem Objekt eine große Mannigfaltig-

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

keit. Es bezieht sich auf ein Ganzes in seiner Totalität, auf dessen Teile natürlich auch, aber nur insofern sie i m p l i c i t e mit dem Objekt gegeben sind, nicht aber explicite durch eine besondere Beziehung auf jeden im einzelnen. Dies ist so wenig immer der Fall, daß gewisse Teile des Ganzen, wie z. B. die, welche ein gewisses Maß der Größe nicht erreichen, schlechterdings niemals ein Objekt werden können, auf welches sich ein Emp­ finden im besonderen, und wie man sagt, e x p l i c i t e be­ zieht. Ist das unmöglich, so ist auch ein Vergleichen und folglich auch ein richtiges Unterscheiden außer aller Möglichkeit. So erlrennt man de1111 bereits, daß von einer leichteren oder schwereren Unterscheidbarkeit gesprochen werden kann, wenn es in gewissen Fällen leichter, in anderen schwerer ist, bei dem, was als totales Objekt einen Teil in sich faßt, sich im besonderen auf diesen Teil zu beziel1en und ihn für sich zu bemerken . Es kommt nun die zweite Aufgabe : Bemerktes mit Be­ merktem zu v e r g l e i c h e n*). Wie wird diese zu lösen sein 1 Es ist bekannt, daß man, wenn man zwei Dinge unter einem gewissen Gesichtspunkt vergleichen will, Sorge t1·ägt, diesen Gesichtspunkt möglichst für sich ins Auge zu fassen. Kommt es auf den Vergleich der Länge zweier gerader Linien an, so bringt man sie, wenn *) Man hat die Frage aufgeworfen, wie wir dazu kommen

konnten, zeitliche Längen ähnlich gut wie räumliche im Verhältnis zueinander zu bestimmen. Räumliche Längen könnten wir zur Deckung bringen und auf Grund solcher direkter Messungen auch zu indirekten gelangen. Aber Zeit­ längen ließen sich nicht aufeinanderlegen und so fehle clie Möglichkeit direkter Messung. M a c h ist so weit gegangen, daß er in bezug auf einander folgende Zeiten von Gleichheit oder Größer- und Kleinersein gar nicht gesprochen haben wollte, sondern nur von gleicher, größerer oder kleinerer Dauer gleichzeitig verlaufenden Geschehens. Dies mochte damit zusan1menhängen, daß er nicht erkannte, wie alles, was irgend einmal gegenwärtig ist, wenn es gegenwärtig ist, temporal ganz unterscl1iedlos gleich erscheint. Im Gedächtnis a b e r e r s c h e i n e n d i e E re i g n i s s e m i t d e n s e l b e n T e m -

3. Kapitel : Genaueres über Wahrnehmen, Bemerken

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ma:p. es vermag, zur Deckung ; man beseitigt so die Diffe­ renz, die auch bei der Länge nach gleichen Linien durch den Unterschied des ,,Wo � ' ' gegeben sei11 ka.nn. Ver­ mag man dies nicht und ist doch auf das bloße Augen­ maß angewiesen, so blicl{t man vielleicht mit ganzer Aufmerksaml{eit auf das eine und auf das andere, indem man es auf dieselbe Zone unseres Gesichtsfeldes aus gleicher Entfern·l.1ng wi1·ken läßt ; man hat dann den einen Eindruclr noch frisch im Ged·ächtnis und bringt . ihn, indem man zugleich den anderen in der neuen Empfindung hat, gewissermaßen mit diesem zur Deckung. Denn der Umstand, daß eine doppelte gleichzeitige Er­ füllung des Gesichtsfeldes an derselben Stelle in der Empfindung unmöglich ist, schließt nicht aus, daß wir uns einer andersartigen Erfüllung in früherer Empfin­ dung e1·innern, wie ja auch nicht, daß wir wahrnehmen, wie wir eine solche Erfüllung in einer gleichzeitig ge­ bildeten Phantasievorstellung denken. So würde dies unseren Vergleichen dieselbe Hilfe leisten wie die Me­ thode, \\'eiche zwei Linien in der Empfindung zur Deckung bringt, wenn nicht das Gedächtnis, das ja mehr und mehr an Treue verliert, schon von Anfang an im Nachteil gegen die Empfindung wäre. So können wir zwei Takte nicht bloß, wenn sie lange nacheinander gehört werden, sondern auch schon, wenn sie unmittelp o 1·al m o d i s d e r G e g e n w a r t u n d ·j ü n g s t e n 'Terga n g e n ­ h e i t i n o b l i q u o , i n d e m dann e i n f r ü h e r e s darau f g e r i c h t e t e s \V a h r n e h m e n , a l s p r i m ä r e s O b j e k t , d e m s i c h E r i n n e r n d e n v o r s c h w e b t 16). So sind denn zwei Zeiten, die ich miteinander vergleiche, mir mit den gleichen Temporalmodis. in meinem Denken gegeben. Ich denke sie wie gleichzeitige, d. h. also analog aufeinander­ gelegten Linien, da wie diese mit denselben Ortsbestim­ mungen jene mit denselben Temporalmodis sich darstellen, und so kann denn nur etwa eine Untreue des Gedächtnisses, nicht aber ein auch bei treuester Wiederholung (ja bei dieser am allerentschiedensten) hervortretender Unterschied zeit­ licher Lokalisation es sein, welcher die Leichtigkeit und Sicherheit des Vergleichens beeinträchtigt16 ).

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

bar aufeinander folgen, nicht ganz so sicher in ihrem Längenverhältnis schätzen als die Länge eines Gesanges und seiner gleichzeitigen Begleitung. Hier haben wir nun ganz deutlich ein Mehr und Minder der Sicherheit des Ergebnisses, zu dem wir bei einem Vergleichen gelangen. Auch sehen wir, daß, wenn zwei Empfindungen sehr wenig voneinander verschieden sind, zu fürchten ist, daß der Mangel an voller Treue des Ge­ dächtnisses schon ausreicht, uns in bezug auf die Frage, ob die Gegenstände überhaupt einen Unterschied zeigen, unsicher zu machen. Wiederum begreifen wir, daß dieses Mißtrauen, wenn es auch mit wachsender Differenz ab­ nimmt, sich doch zunächst noch einigermaßen erhält und uns zu größerer Vorsicht und angestrengterer Auf­ merksamkeit mahnt, während, wenn einmal eine gewisse Größe des Abstandes gegeben ist, von einer noch wei­ teren Abnahme der Schwierigkeit nicht gesprochen wer­ den kann ; wir glauben eine jede vollständig behoben. So glauben wir ebenso sicher reines Gelb und reines Rot als reines Weiß und reines Schwarz voneinander zu unte1„scheiden. Ähnlich trifft es sich auch in vielen a11deren Fällen , wie wenn wjr einen Ton und eine Farbe und wenn wir die Aussage, die etwas leugnet, mit der, die dasselbe anerkennt, namentlich wenn auch noch die­ selben sprachlichen Ausdrücke 17) angewandt sind, ver­ gleichen. Hier unterscheiden wir mit einer Sicherheit, die uns nichts zu wünschen übrig zu lassen scheint. Ist da.s Bemerken sehr schwierig, so ist die größte Konzentration geboten, und schon die Verteilung auf zwei Objekte macht das Gelingen mißlich ; daher ge­ schieht es, daß wir, da beim Vergleichen z w e i Objekte in Betracht kommen, die Aufmerksamkeit zunächst ganz dem einen, dann ganz dem anderen zuwenden. So sieht man auch, daß gerade diese äußerste Sorgfalt einen gewissen Nachteil, wie wir ihn eben in Rücksicht auf das Gedächtnis aufgewiesen haben, unvermeidlich mit sich bringt. Und so ist denn in gewissen Fällen un-

3. Kapitel : Genaueres i.iber Wahrnehmen, Bemerken

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.

vermeidlich, daß man nur zu \V a h r s c h e i n l i c h k e i t , wenn auch seh1· hoher Wahrscheinlichkeit, nicht aber zu dem, was man volle Evidenz nennen könnte, ge­ langen kann. So hoffen wir denn, durch die gefüp.rten Erörterungen das, was Wahres und Bedeutendes in dem Cartesiani­ schen ,,quod clare et distincte percipio'' liegt, und selbst nach dem von ihm vorgeführten Beispiel nicht voll­ kommen verständlich gemacht schien, genugsam ver­ deutlicht. zu haben. § 4. Auch glaube ich sagen zu dürfen, d a ß e s w i r k ­ l i c h F ä l l e g i b t , i n w e l c h e n m a n e i n e m Urteil , d a s z w i s c h e n z w e i 0 b j e k t e n unterscheidet o d e r , fügen wir zugleich hinzu , g e w i s s e a n d e r e k o m p a r a t i v e B e ­ ziehungen zwischen ihnen feststell t , Evidenz z u e r k e n n e n kann. Doch darf man auch dann nicht sagen, daß man den zwischen ihnen festgestellten Unter­ schied oder ein anderes zwischen ihnen festgestelltes }{omparatives Verhältnis mit evidenter i n n e re r W a h r ­ n e h m u n g u n m i t t e l b a r erkannt habe. Nicht daß itlcht eine solche auch Relatives zeige. Dies kann ja schon darum nicht geleugnet werden, weil alle Objel{te, die in recto unter die innere Wahrnehmu11g fallen, eine intentionale Beziehung sowohl zu einem primären Ob­ jekt als zu sich selbst als sekundärem Objekt haben, dann aber auch darum, weil ich, wenn ich mich wahr­ nehme als einen, der etwas erschließt oder aus irgend­ einem Motiv vorzieht, erkenne, daß ich zu dem Glauben an den Schlußsatz durch meinen Glauben an die Prä­ missen und zu meinem motivierten Vorziehen durch diese oder jene Vorstellung oder auch schon bestehende Absichten und Urteile bewegt werde, so daß hier auch eine Relation der Kausalität ins Bereich der inneren Wahrnehmung eingeht. Was wir also von dem Aus­ schluß der relativen Bestimmung vom Objekte der inneren Wahrnehmung sagten, bezog sich einzig a u f k o m p a r at i v e r e l a t i v e B e s t i m m u n g e n 18). (Auch Ver-

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I. Abschnitt: Primäres und sekundäres Bewußtsein

hältnisse kontinuierlicher Relationen sind insofern nicht vollkommen ausgeschlossen, als Kontinuierliches der inneren Wahrnehmung in mehr als einer Weise vorliegt. Man braucht hier nur an die parallele Multiplizität des Sehens zum Gesehenen in Rücksicht auf dessen Aus­ dehnung im Raum und auf die Temporalmodi, mit denen es erscheint, zu denken19) . ) § 5. Es bleibt uns die Frage zu beantworten, ob das Unterscheiden und andere komparative Urteile allge­ mein oder wenigstens dann, w e n n s i e m i t v o l l e r E v i d e n z g e f ä l l t werde n , apodiktische oder bloß assertorische Urteile seien. Und hier scheint es mir außer Zweifel, daß sie niemals einen apodiktischen Charakter tragen. Jeder wird mir hier beipflichten, der erwägt, daß, wer A von B unterscheidet, d. h. es als etwas anderes erkennt, A anerkennt, aber nur als tat­ sächlich gegeben, nicht als notwendig existierend. So ist es denn auch nicl1t notwendig von B verschieden, wenn man auch daraufhin das ex terminis evidente Ur­ teil fällen mag, es sei unmöglich, daß etwas A sei, ohne sich von dem, was ich unter B denke, zu unterscheiden. Man kann dagegen nicht einwe11den, daß es ja doch im Falle der Evidenz unmöglich sei, daß sie falsch seien ; bei der Linie A B C, in welcher ich A B als Teil von A C erkenne, wäre es unmöglich, daß A B nicht Teil von A C und l{leiner als dieses wäre. Denn Ahnliches ist ja bei allen evidenten Urteilen der Fall ; wie immer sie bloß assertorisch sein mögen, ist doch der Satz, daß, wenn sie richtig sind, das ihnen widersprechende Urteil falsch ist20), eine apodiktische apriorische Einsicht vom Charakter des Kontradiktionsgesetzes. ••

Vieries Kapitef.

Zusammenfassendes und Ergänzendes über Wahrnehmen und Bemerken (Perzeption und .Apperzeption) 1).

§ 1 . Die unmittelbar tatsächlichen Erkenntnisse sind dem Gesagten zufolge teils k o n f u s e Wahrnehmungen, teils U n t e r s c h e i d u n g e n logischer2) und akzidentell verbundener T e i l e ein und desselben denkenden Dinges, teils mit solchen Unterscheidungen verbundene Wahr­ nehmungen des Ganzen. Es gehören dazu Erkenntnisse von Verhältnissen der Übereinstimmung und des Unter­ schiedes zwischen gleichzeitigen Denktätigl{eiten in A11·sehung ihrer Objekte und Modi, im Verhalten zu den Objekten, zusprechende und absprecl1ende Einzelurteile 3). § 2. In einer doppelten Weise sagt man somit, daß etwas in das Bewußtsein, das einer habe, falle : 1 . explizit und distinkt, und 2. implizit und indistinkt. Wer einen Mehrklang hört und jeden darin enthaltenen Ton unter­ scheidet, hat ein Bewußtsein davon, daß er ihn hört. Wer aber die darin enthaltenen Töne nicht unterscheidet, hat von ihnen nur ein indistinktes Bewußtsein, denn er hört sie zwar miteinander zusammen und ist des Ganzen dieses Hörens, zu dem das Hören jedes einzelnen Tones gehört, sich bewußt, nicht aber so, daß er jeden Teil des Ganzen, d. h. jedes Hören eines einzelnen Tones, welcher darin enthalten ist, unterscheidet4) *). *) In gewisser Weise geht jede Beobachtung auf uns selbst. Wer einen Mehrklang analysiert, a p p e r z i p i e r t eigentlich Bestandteile seiner selbst als Hörenden. Er findet, indem er ein Mehrklang Hörender, ein diesen und jenen Ton zugleich Hörender ist. Der Klang ist gar nicht, und was nicht ist,

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

§ 3. Mit der Perzeption eines primären Objektes ist stets die Perzeption des betreffenden sekundären Ob­ jektes verbunden. D a s D e n k e n e i n e s p r i m ä r e n u n d s e k u n d ä r e n O b j e k t e s ist in e i n e m u n d d e m s e l b e n l e t z t e i n h e i t l i c h e n Akte g e g e b e n und das eine von dem anderen (d. i. das primäre Bewußtsein von dem sel{undären Bewußtsein) gänzlich inseparabel6). § 4. Hiervon zu unterscheiden ist der andere Fall : Ich bemerke, apperzipiere das Hören und bemerke (ev·i­ dent) das Hören als sich selbst erfassendes Hören. Wenn ich mein Empfinden a p p e rz i p i e r e , so ist diese Apper­ zeption ein motiviertes Urteil, aber nicht ein durch bloße begriffliche Vorstellungen motiviertes Erkennen wie das apriorische, sondern ein durch das Empfinden selbst motiviertes : Ich sehe etwas Grünes und apperzipiere mein Grünsehen ; dabei nehme ich mit Evidenz wahr, daß das Sehen die Apperzeption in mir bewirkt. Diese Apperzeption ist aber durch den B e s t a n d des Sehens inotiviert, nicht durch den B e griff des Sehens. (Auch \venn ich motiviert ein Mittel liebe um eines Zweckes willen, ist diese Liebe nicht durch einen Begriff moti­ viert, sondern durch ein Urteil) . Denn damit der apperzipierende Akt evident sein könne, muß er entweder a) zu einem und demselben Akte gehören mit dem apperzipierten6a), oder b) ein Kor­ relat sein, oder c ) muß der apperzipierende Akt durch den apperzipierten Akt motiviert sein. Das letzte ist der Fall z. B. bei der Apperzeption von Empfindungen oder sonstiger Bewußtseinsakte. Denn wenn man sich fragt : Wie kann eine Tatsache evident erkannt werden von einem Erkennen, das nicht selbst diese Tatsache ist ? so lautet die Antwort : Wenn der Erkenntnisakt nicht bloß durch jene Tatsache gewirlrt ist, sondern auch durch kann auch nicht beobachtet werden. Dagegen bin ich als Hörender in mannigfacher Beziehung und so auch nach jener besonderen Differenz, die den den einen und anderen Ton Hörenden unterscheidet, zu beobachten 5).

4.

Kapitel : Zusammenfassendes über Wal1r11elrmen

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gar nichts anderes gewi1·kt sein lrann . Es muß dem Er­ kenntnisakt hierbei der Charal\:ter des durch jene Tat· sache Gewirktseins anhaften. Der Apperzeptionsakt ist also gewirkt du1·ch den Pe1·­ zeptionsakt und hat zugleich den Charal{ter des Moti­ viertseins durch den Perzeptionsakt. Eben durch diese Motiviertheit ist der Apperzeptionsakt evident7). § 5. Wenn eine Substanz [ein Subjekt8)] eine evidente Wahrnehmung hat, so ist es immer eine sog. innere Wahrnehmung, in welcher die wahrnehmende Substanz im allgemeinen mit zu dem vVahrgenommenen gehört, aber nicht immer explizite darin enthalten ist. Sie kann zugleich eine zweite evidente vVahrnehmung haben, die dann ebenfalls das Subjekt implizite enthalten muß, und sie kann zugleich noch eine dritte Wahrnehmung haben, welche die beiden schon erwähnten Wahrnehmungen um­ faßt und auch evident ist. �,ällt die eine der beiden zuerst genannten Wahrnehmungen weg, so fällt natür­ lich auch die beide umfassende weg ; die andere aber kann individuell erhalten bleiben. Hier sprach ich von der beide Wahrnehmungen um­ fassenden als einer d e u t l i c h e n . Konfus kann sie auch noch bestehen, wenn jene beiden nicht mehr als unter­ schiedene gegeben sind9). Nichts hindert uns anzunehmen, daß wir von uns als Hörenden ein Bewußtsein haben , in welches wir nicht als Sehende fallen, und auch nicht als uns als Sehende und Hörende Vergleichende, und daß wir jenes zugleich mit diesen beiden haben, solange wir auch diese haben ; daß wir es aber allein zurückbehalten, 'venn clas Sehende entfällt, und manchmal auch mit dem Bewußtsein von uns als Sehenden, aber ohne das Bewußtsein von uns als Vergleichenden haben, wenn wir fortfahren zu hören und zu sehen, aber aufhören, uns als Hörende und Sehende zu vergleichen 1°) . § 6. Unter einem Wah1·nehmungsakt verstehen wir somit eine unmittelbare evidente Erkenntnis, daß etwas

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres BeWt1ßtsein

tatsächlich sei. Eine solche ist z. B. gegeben, wenn ein etwas Sehendes sich als solches erkennt. Ferner aber auch, wenn ein etwas Sehendes und etwas Hörendes sich als ein solches etwas Sehende und als ein solches etwas Hörende u n t e r s c h e i d e t ; ja auch wenn es, wo es etwas zum zweiten Male sieht, sich als Sehendes mit dem Ob­ jekte der Erinnerung ver g l e i c h t , welches ihm jetzt primär gegeben ist, und qas eine dem anderen gleich­ setzt, in welcher Gleichsetzung die Existenz dessen, worauf als primäres Objekt die Erinnerung geht, nicht eingeschlossen ist 1 1) .

Fünftes Kapite1.

Über Wahrnehmung modo recto, modo obfiquo und die Zeitwahrnehmung1). § 1 . Es ist ]{eine Frage, daß wir beim Empfinden ein doppeltes Objekt haben, von denen man das eine äußeres, das andere inneres Objekt nennt. A r i s t o t e l e s hat von dem letzteren gesagt, daß man es naeeeycp empfinde, und daraufhin hat man das äußere Objekt als das p r i ­ m ä r e , das innere als das s e k u n d äre bezeichnet. Ein zeitliches Vorangehen sollte damit nicht behauptet wer­ den. Doch wenn später L o c k e das innere Objekt als durch Reflexion erfaßt bezeichnete, so hat es den An­ schein, als betrachte er das äußere Sinnesobjekt und das innere, als seien sie nicht in ein und demselben Akt, son­ dern in zwei verschiedenen und sukzessiven gegeben. Kein Zweifel, daß dies ein großer Irrtum wäre, der aber durch einen anderen noch überboten wird, indem manche glauben, die Empfindung des äußeren Objekts sei und bleibe oft ganz isoliert von der des inneren gegeben2) . § 2. Es ließe sich aber der Vorgang beim Empfinden auch noch in ganz anderer Weise fassen. Es gibt ver­ schiedene Modi des Vorstellens, und insbesondere be­ steht ein Unterschied insofern von dem, was wir vor­ stellen, das eine i n r e c t o , das andere i n o b l i q u o vor­ gestellt wird. Stelle ich mir z. B . einen Liebenden vor, so stelle ich mir nicht bloß den Liebenden, sondern auch etwas anderes als von ihm geliebt vor, und dieses letztere in obliquo 3). Beim Empfinden zeigt sich, insofern wir uns selbst �ls Empfindendes empfinden 4), dasselbe ; denn insofern wir dies tun, empfinden wir uns in recto, und

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1. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

etwas anderes als von uns empfunden also in obliquo. Man könnte nun versuchen, die Sache so zu fassen, als ob wir als Empfindende das einzige seien, was hier in recto, jenes andere aber, w a s w i r a u ß e r u n s z u m O b j ekt haben, einzig u n d allein i n obliquo emp­ f u n d e n w e r d e5). Angenommen, diese Auffassung wäre möglich, so erkennt man alsbald, daß ihr der Vorzug unvergleichlich größerer Einfachheit zukommen würde. Dem äußeren Gegenstand kommt bei der Anerkennung des inneren keine andere als eine Anerkennung als phäno­ menal 6) zu, wie immer dieselbe spii„terhin zu einer An­ erkennung des äußeren Objel{te8 1) als wirklich existierend führen mag. Es scheint nicht abzusel1en, warum der Anerkennung, ja vielleicht auch der Vorstellung in obliquo immer eine Anerkennung und Vorstellung8) in recto vorausgegangen sein müßte, und ebensowenig, 'varum der Umstand, daß eine äußere Ursache auf u11s einwirkend, uns zum Empfinden führt, zur Folge haben müßte, daß das erste Objekt, das wir in modo recto vorstellen, etwas uns Äußeres sein müßte. § 3. Verfolgen wir diese Auffassung noch etwas weiter, so werden wir finden, daß, wie dem äußeren Objekt des Empfindens ein anderer l\iodus des Vor­ stellens als der modus rectus zul{omme , auch noch andere Besonderheiten der Vorstellungsweise sich bei ihm bemerklich machen können, wie dies denn unleug­ bar der Fall ist, wenn wir, wie es ja immer geschieht, ein ät1ßeres Objekt als ruhend oder bewegt vorstellen. In beiden Fällen hand.)lt es sich um t e m p o ra l e Unter­ schiede ; denn beim Ruhenden erscheint etwas vor und nach g 1 e i c h , beim Bewegten vor und nach verschieden l o k a l i s i e r t . Worin besteht die Eigentümlichkeit dieser temporalen Differenzen 1 Ganz offenbar wird hier nicht den Gegenständen ein gewisser absoluter Platz in der Geschichte angewiesen, vielmehr handelt sich alles um relative Bestimmungen zu mir als Existierendem und als existierend Gegenwärtigem. In dieser Beziehung

5.

Kapitel : Über Wahrnehmung und Zeitwahrnehmung 39

wird beim Empfinden ein äußeres Objekt als mir gleich­ zeitig, ein anderes als früher, ein drittes als noch friiher vorgestellt, wenn ich ein Ruhendes oder Bewegtes vor­ stelle. Bleibe ich dem Gedanken treu, daß beim Emp­ finden ich selbst das einzige in recto vorgestellte Objekt bin, so werde ich nunmehr hinzufügen, daß ich mich selbst in modo recto mit dem modus praesens vorstelle, aber als etwas, was außerdem etwas anderes i n m o d o obliquo u n d von diesem d a s eine zwar ebenfalls

mi t dem Modus

p raes en s ,

anderes aber kontinuierlich

sich unterscheidend mit einer Reihe von modis praeteritis vorstellt. Alles zusammengefaßt werde ich sagen, ich erfasse mich in modo recto als gegenwärtig und gleich­ zeitig bzw. später und in verschiedenem Maße später seiend als gewisse äußere Objelrte, die mir in modo obliquo und in verschiedenen modis praeteritis gegeben sind9). § 4. Wie die Vorstellung von Ruhe und Bewegung, so kann die von eine1' Sukzession von Tönen dem Ge­ sagten als Erläuterung dienen. Der Unterschied zwischen Akkord u11d melodischer Folge wird nunmehr aufs leich­ teste begreiflich. },olgen örtliche Erscheinungen , wie beim Umdrehen eine1� geschwu11genen glühenden Kohle, rasch aufeinander, so geschieht es wohl, daß uns statt einer Bewegung ein glühender Kreis erscheint. Allei11 man würde ir1·en, wenn man glaubte, daß wir es hier nicht mit einer l(ontinuität von Temporalmodis zu tun hätten. Statt eines glühenden Punktes erscheint jetzt ein glühender Kreis, weil ein größerer Teil der Netzhaut in gereiztem Zustand sich befindet. Aber dies hinde1·t nicht, daß uns wie früher der glühende Punkt b e w e g t , jetzt der glühende Kreis r u h e n d erscheint, wo da11n die Ruhe ganz ebenso wie vorher die Bewegung eine Sukzession von Temporalmodis involviert. § 5. Man würde aber irren, wenn man glaubte, daß die Reihe der Temporalmodi, mit welchen uns hier etwas erscheint, · eine sehr ausgedehnte sei, und z. B. über das Ganze eines gehörten Tonstückes oder einer gehörten

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

Rede sich erstrecke. Freilich ist das früher Vernommene sämtlich für das, was ich jetzt vernehme, von Bedeutung, allein nur infolge u n b e w u ß t e r D i s p o s i t i o n e n , welche teils auf die die Tonerscheinungen begleitenden Affekte einen Einfluß haben, teils das vorher Gehörte oder beim Hören Gedachte im Gedächtnis mit Leichtigkeit zurüclr­ kehren lassen. Dies dient in vielen Beziehungen ganz so, als wenn es noch anschaulich in fernerer und fernerer Vergangenheit dem Bewußtsein vorschwebte10). § 6. Die Erneuerung kann aber eine zweifache sein. Einmal so, daß die frühere Erscheinung selbst, nur viel­ leicht etwas geschwäcl1t, wiederkehrt ; dann so, daß ich mich e r i n n e r e , sie gehabt zu haben, in welch letzterem Fall ich selbst als Empfindender die Stelle des äußeren (primären) Objekts einnehme, während ich mich als mich gegenwärtig Erinnernder in modo recto mit der Evidenz der inneren Wahrnehmung erfasse. § 7 . Man hat sich viel darüber den Kopf zerbrochen, wie sich doch eine Tatsache der Geschichte oder eine, die ich vielleicht infolge einer Weissagung oder einer wissenschaftlichen Vorberechnung als zukünftig be­ trachte, von dem, was nicht bloß nicht ist, sondern auch nicht war und nicht sein wird, unterscheiden . Das der Vergangenheit Angehörige sei doch so wenig als das, was nie gewesen sei und nie sein werde. Die seltsamsten Hypothesen wurden aufgestellt, und manche wollten geradezu außer dem Urteilsmodus der Bejahung und dem der Verneinung einen dritten Urteilsmodus unter­ scheiden, vermöge dessen "�ir etwas, was wir leugneten, doch gewissermaßen dem Bejahten ähnlich behandelten11 ). In dieser Beziehung sollte dann für nah und fern Ver­ gangenes oder auch Zukünftiges kein weiterer Unter­ schied des Urteilsmodus mehr bestehen. Die Inkon­ venienzen, welche dieser Theorie anhaften, brauchen kaum im einzelnen hervorgehoben zu werden. Auf Grund der vorangegangenen Betrachtungen vermögen wir sie aufs leichteste zu vermeiden.

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l{apitel : Über Wahrnehmung und Zeitwahrnehmung

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§ 8. Ich erinnere daran, daß es Modi des Vorstellens gibt, welche, da das Vorstellen dem Urteilen zugrunde liegt, auch die darauf gegründeten Urteile modifizieren. Solche Unterschiede der Vorst.ellungsmodi zeigten sich, wo etwas in modo recto und in modo obliquo vorgestellt wurde. Wer einen an den Teufel Glaubenden vorstellt, stellt, indem er dies tut, den Teufel in modo obliquo vor, und wenn er überzeugt ist, daß jemand an den Teufel glaubt, so erkennt er den Gläubigen in modo recto, den Teufel aber nur als von diesem geglaubt und so in modo obliquo an. Wir sahen nun, daß es sich bei unserem Empfinden, was das äußere Objekt anlangt, auch um ein in modo obliquo Vorgestelltes handelt. Und wir sahen ferner, daß dieser modus obliquus hier ein mannigfaltiger ist, insofern etwas als mit uns zugleich etwas anderes als mehr minder früher als wir gedacht wird. Wir mögen es nun a l s z u g l e i c h oder als früher Gedachtes an­ erkennen oder dazu geführt werden, es nicht bloß als als früher Gedachtes, sondern als wirklich Früheres an­ zuerkennen, so haben wir es beide Male nur m i t e i n e r Anerkennung in modo obliquo zu tun, die mit e i n e r A n e rk e n n u n g v o n u n s s e l b s t i n m o d o r e c t o v e r b u n d e n i s t. Nie erkenne ich etwas als gestern Be­ standenes an, ohne mich selbst als heute Bestehendes anzuerkennen, und dies letztere geschieht in modo recto, das erstere aber in modo obliquo. Und wie wenn ich einen Denkenden als solchen in modo recto anerkenne, das Gedachte nicht im eigentlichen Sinn, sondern in modifiziertem Sinn, nämlich als gedacht anerkenne, in welcher Weise sogar Widersprechendes ohne Absurdität anerkannt werden kann, so erkenne ich, wenn ich die Geburt Christi als vor mehr als 1 900 Jahren geschehen anerkenne, mich selbst als um mehr als 1 900 Jahren später als dies Ereignis lebend in modo recto, die Ge­ burt Christi aber nur in modo obliquo an, und es ver­ schlägt dagegen nicht das geringste, daß sie so wenig

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I.

Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

ist als die Geburt ei11es Zentauren. In modo i„ecto ist sie zu leugnen, in modo obliquo aber ohne jeden Wider­ spruch mit solcher Leugnung anzuerkennen. Man sieht auch, wie der Umstand, das was in näherer oder fernerer Vergangenheit oder auch in näherer oder fernerer Zu­ kunft liegt, sämtlich nur in modo obliquo anzuerl{ennen ist, nicht zur Folge hat, daß sie alle mit demselben 1\Iodus beurteilt werden, da ja auch, wenn ich etwas als von jemandem anerkannt oder von jemandem geleugnet denke, beidemal zwar nur etwas in modo obliquo, abe1� darum durchaus nicht in demselben modus obliquus gedacht wird. § 9. So oft wir etwas in modo obliquo denken , haben wir es mit eine1� Beziehung zu tun. Dabei zeigt sich aber eine beachtenswerte Differenz . In manchen Fällen, wie da, wo es sich um Gleichheit und Verschiedenl1eit han­ delt, kann die Relation in der Art un1gekehrt werden, daß ich den Terminus zum Fundament n1ache und das Fundament zum Terminus. So sind denn beide Objekte sowohl in modo recto als in obliquo anzuerl{ennen. In anderen Fällen, wie z. B. bei der Beziehung des De11ken­ den zum Gedachten, ist das nicht möglicl1. Wird das Denkende Objekt im eigentliche11 Sinn, so das Gedachte nur im uneigentlichen Sinn anzuerkennen sein. Wenn wir auf die Beziehung des Nebeneinander im Raum achten, so haben wir einen Fall der ersten Art vor uns, wenn wir aber auf die Beziehung achten, die sich in dem , ,früher'' und ,,später'' und insbesondere in dem Gewesen­ und Zukünftig-sein ausspricht, so haben wir es mit einem Fall der zweiten Art zu tun. Ich bin im eigentlichen Si11n später als die Geburt Christi. Die Geburt Christi i s t aber nicht früher als ich, sondern sie ist nur früher g e w e s e n als ich. · Leicht erkennt man, was von Fällen zu sagen ist, wie dem, wenn wir sagen , Platon ist früher gewesen, als Cicero gewesen ist. Hier haben wir ein doppeltes in obliquo : das eine betrifft Cicero und knüpft an meine Existenz in recto an, das andere betrüft Platon

5.

Kapitel : Über Wahrnehmung und Zeitwahrnehmung 43

und bringt eine ähnliche Komplikation mit sich, wie wenn wir sagen, wir dächten einen, der an ein Ereignis denke. Nur in dem Fall, in welchem ich etwas als mit mir zugleich anerkenne, ist eine Umkehr der Relation , die den Terminus zum Fundament, das Fundament zum Terminus macht, möglich. § 10. Wir sagten, daß wir beim Empfinden nur mit einer eng beschränkten Reihe von Temporalmodis des Vorstellens vorstellten. Trotz ihrer Kleinheit genügt sie, um uns die Versetzung in beliebig entfernte Zeiten der Vergangenheit möglich zu machen. Die kleinste endliche Größe beliebig oft zu sich selbst addiert, wird ja schließ­ lich jede gegebene endliche überschreiten. Was die Zu­ kunft anlangt, so liegt vielleicht in der nächsten Er­ wartung ebenfalls ein kleiner Ansatz zur Vorstellung von Zukünftigem, der dann durch Vervielfältigung seiner Größe ins Unendliche wächst. Doch könnte einer al1ch ve1'Suchen, durch Benützung des Abstandes von Spä­ terem und Früherem, den die Anschauung der Ver­ gangenheit enthält, eine Fortsetzung und Erweiterung wie nach der Vergangenheit hin, auch über die Gegen­ wart hinaus zu gewinnen 12) . Tritt ein früheres Erlebnis in der Erinnerung auf, so erscheint es, wie gesagt, ähnlich den äußeren Objekten, und was die Temporalmodi anlangt, auch nur mit dem Modus der Gegenwart oder solchen, die ihm sehr nahe liegen. Das ist zunächst ein Falsum, welches aber unter Benutzung mannigfacher Anhaltspunl{te sofort als solches erkannt und berichtigt zu werden pflegt13). Manchmal geschieht dies mit genal1erer, manchmal mit weniger ge­ nauerer Angabe des Zeitabstandes von der Gegenwart, und es pflegen dabei die Umläufe der Erde um ihre Achse, des Mondes um die Erde und der Erde um die Sonne wegen ihrer annäl1ernden Regelmäßigkeit, andere Male wohl aber auch die Pendelschläge einer Uhr oder das Ablaufen des Sandes oder Wassers aus ähnlichem Grunde als Maßeinheiten benutzt zu werden. Auf die Frage,

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I. Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

wie wir uns von der annähernden Regelmäßigkeit dieser Verläufe mit physischer Sicherheit überzeugen, wollen wir, da sie sich jedem aufs leichteste löst, nicht im be­ sonderen eingehen. § 1 1 . Doch ein Umstand darf bei dieser Betrachtung nicht übersehen werden, nämlich, daß das Empfinden unserer selbst als Empfindende e i n e e v i d e n te W a h r ­ n e h m u n g ist, und wenn diese uns als ein äußeres Ob­ jekt empfindend zeigt, wir wirklich ein äußeres Objekt empfinden müssen. Der ein Objekt Empfindende hat es aber in modo recto zum Objekt. Somit haben wir zweifel­ los a u c h ein äußeres Objekt in modo recto zum Objekt, welches, wenn wir uns zt1gleich als es empfindend emp­ finden, auch noch in modo obliquo gegeben ist. Das einzige, was in Frage kommen kann, ist, ob das äußere Objekt, insofern es modo recto Objekt ist, nur vorgestellt oder auch anerkannt wird, und insbesondere, ob das letztere ausnahmslos geschieht, sogar noch dann, wenn es von der Wissenschaft als nicht existierend erwiesen worden ist. Eine evidente Anerkennung kommt ihnen ohnehin sicherlich nicht zu. Und so erscheint denn die alte aristotelische Auffassung 15) als die allein haltbare. Jene, die wir hier abgewiesen haben, ist aber gegenwärtig sehr verbreitet. Sie kleidet sich in die Worte, daß die äußeren Dinge nur als phänomenal seiend empfunden würden, was genau besehen nichts anderes sagt, als daß sie nur in obliquo empfunden würden, was ihnen doch nur zul{ommt, insofern wir uns selbst als Empfindende in recto empfinden . Und da dies mit Evidenz geschieht, so ist man sogar dazu gekommen, auch der äußeren Wahrnehmung Evidenz zuzuschreiben16). Und um die Verwirrung nqch größer zu machen, hat man, ohne sich klarzumachen, was man sagte, auch von uns als Emp­ findenden behauptet, daß wir in der inneren Wahr­ nehmung nur als phänomenal seiend erlaßt würden, wo dann ga1� nichts in modo recto, alles in modo obliquo vorgestellt wäre, was absurd ist. [So auch Kant17).] Es

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Kapitel : Ü ber Wahrnehmung und Zeitwahrnehmung

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ist schlechterdings geboten, in diesem Punkte auf Aristo­ . 18 teles zurückzugehen ) § 12.19) Untersuchen wir also nochmals, was uns beim Empfinden gegeben ißt, um uns eine Vorstellung von Differenzen wie gewesen, gegenwärtig, zukünftig ge­ winnen zu lassen. Denn nur darum handelt es sich zu­ nächst, nicht aber um die Weise, wie wir dazu gelangen , etwas in der Vergangenheit durch Erinnerung oder Schluß, oder in der Zukunft durch Erwartung eine Stelle, und insbesondere die richtige Stelle anzuweisen. Bei der letzteren Leistung hat gewiß eine allmählich erworbene Disposition wesentlichen Anteil, ähnlich wie für die Raumanschauung ein Augenmaß sich ausbildet. Aber wie hier durch die Empfindung selbst ursprünglich gegebene Raumdifferenzen die unentbehrliche Voraus­ setzung waren, so muß entschieden dasselbe hinsichtlich der Zeitdifferenzierungen gesagt werden. Wenn wir einen sprechen oder singen hören, so er­ scheinen uns g l e i c h z e i t i g mehrere Laute, die er n a c h ­ e i n a n d e r singt. Wie aber erscheinen sie uns 1 Manche sagten, sie erschienen uns gleichzeitig, \veil von den früher gesprochenen oder gesungenen N a c h b i 1 d e r sich erhielten. Dies ist unmöglich die richtige Erklärung. Das Nachbild erscheint ebenso als gegenwärtig wie der unmittelbar von außen stammende Eindruck. Wo es gegeben ist, verbindet es sich mit nachfolgenden Ein­ drücken wie Gleichzeitiges mit Gleichzeitigem. Wir müssen also vielmehr sagen, daß die zunächst in uns erweckte Empfindung eine andere Empfindung zur Folge hat, welche uns eben das , was uns die erstere als gegenwärtig, als jüngst vergangen zeigt, und diese dann ebenso. Wir wollen diese nachfolgenden Empfindungen P r o t e r ä s t h e s e n nennen. Auch wo eine Empfindung unverändert fortdauert, treten solche Proterästhesen bereits von ihr veranlaßt ein. Dann haben wir · die Empfindung von einem früheren und späteren. gleichmäßigen Bestand, also den Eindruck des

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I. Abschnitt: Primäres und sekundäres Bewußtsein

Beharrens, wie z. B. bei einem im Gesang lang angehaltenen Tone. Es scheint, daß die phänomenale Zeitstrecke, die sich uns so bietet, immer von ganz gleicher Länge ist, ähn­ lich wie das Gesichtsfeld der Augen räumlich immer in denselben Grenzen sich hält. Was ist dies nun aber für eine Veränderung, die sich vollzieht, wenn eine zunächst als gegenwärtig gegebene Erscheinung als vergangen und länger vergangen empfunden wird 1 Eine naheliegende Vermutung könnte dahin gehen, daß es eine ähnliche Veränderung des Objektes sei, wie wenn an die Stelle eines in dem Raumpunkt a lokali­ sierten Rot ein in einem andern Punkt der Linie a b lokalisiertes Rot in allmählicher Verschiebung versetzt wird. Wie das lokalisierte Rot ein Konkretum aus zwei l\1erkmalen, einem örtlichen und qualitativen, so wäre jedes empfundene Objekt ein Konkretum, in welchem außer anderen auch noch eine !eale Bestimmung und bald die als gegenwärtig, bald die als mehr minder ver­ gangen sich fände. Wie dort räumliche, würden hier zeitliche Abstände von G e g e n w ä r t i g e m und V o r ­ g e g e n w ä r t i g e m gegeben sein. Doch ein solcher Gedanke erweist sich sofort als un­ haltbar. Ein Gegenstand, der seine räumliche Lokali­ sation wechselt, i s t, von dieser lokalen Differenz ab­ gesehen, noch wahrhaft und fällt unter dieselben allge­ meinen Begriffe. Der verschobene rote Punkt ist noch rot. Aber wenn etwas, was gegenwärtig war, nur noch der Vergangenheit angehört, so ist es nicht mehr, und man kann den vergangenen roten Punkt nicht mehr dem Begriff Rot subsumieren19a) . Ein gewesener König als solcher ist darum nicht mehr König, als ein Bettler es ist, denn er ·ist vielleicht selbst zum Bettler herab­ gesunken. Die Zufügung des Wortes ,,gewesen'' wirkt nicht bereichernd , sondern modifizierend , sie hebt, ähnlich wie der Zusatz ,,gedachter'', ,,gemalter'', .,vermeinter'', zu König den Begriff in seinem ihm ·

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Kapitel : Über Wahrnehmung und Zeitwahrnehmung

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vorher eigenen Sinn auf und ersetzt ihn durch etwas anderes. Diese Erwägung könnte darum zu de1· Meinung führen, daß die Proterästhese eine ganz andere Gattung von Objekt zeige als die unmittelbar von außen geweckte Empfindung, ja daß ihr Objekt gar nicht - mehr als Reales , sondern als aller Realität entfremdet bezeichnet werden müsse. Wenn die ganze reale Welt vernichtet würde, würde sie ja darum nicht weniger als gew·esene Welt fortbestehen, ähnlich wie dann der Mangel jeder realen Welt bestehen würde. Doch auch dieser Gedanke erscheint schlechterdings unhaltbar. Vor allem zeigt uns die Proterästhese eine kontinuier­ liche Reihe, die zum Endpunkt die Ä sthese des Gegen­ wärtigen hat. Kontinuierlich müßte daher auch das Objekt der Ästhese sich in die Objekte der näheren und ferneren Proterästhesen verwandeln, aber Kontinuität verträgt sich nicht mit Heterogenität. Da nun die letzte zwischen dem Objekt der Ästhese und dem Objekt jede1· zugehörigen Proterästhese gegeben wäre, so bestände die verlangte Kontinuität des Übergangs von Objekt zu Objekt nicht20). Außerdem scheint überhaupt nichts anderes als Reales Objekt einer Vorstellung sein zu können. Wir sagten wohl, wir stellten einen gedachten König vor und er­ kennten, daß er etwas anderes sei als ein wirklicher, allein in Wahrheit stellen wir nur einen einen König Denkenden vor. Ihn anerkennend, haben wir den ge­ dachten König anerkannt usw. und ein einen König Denkender ist als solcher etwas Reales. Wir sagen, wir stellten uns vor ein Nicht-Rundes. Aber wir leugnen urteilend, ein gewisses Ding sei rund, und stellen uns vor irgend etwas als mit diesem Ding identisch . Nehmen wir an, es werde tatsächlich nicht bloß Reales, sondern auch Nichtreales vorgestellt : so doch wohl nur solches, was eine Art Korrelat zu Realem abgäbe, wie

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Abschnitt : Primäres und sekundäres Bewußtsein

z. B. ,,gedachter König' ' zu ,,einen König Denkendes''. So könnte es nie vorgestellt werden, ohne daß zugleich ein Reales vorgestellt würde, nicht sein, ohne daß zu­ gleich ein Reales wäre. So aber scheint es nicht im Falle von ,,vergangener 'l,on''. Er ist ja gar nicht , ,vergangener geclachter Ton'' . Er erscheint absolut eben­ sogut als der, den ich als gegenwärtig empfinde21). Wenn wir nun in der Proterästhese ebensogut ein reales Objekt haben als in der Ästhese, und eines, das in der Gattung mit dem, das wir in der Ä sthese haben, zusammenstimmt, so ist es nicht schwer zu erkennen, daß es auch in jeder spezifischen Bestimmung mit ihm übereinstimmt. Ein Ton z. B. zum Objekt der Proter­ ästhese geworden erscheint nicht bloß r1och als Ton, sondern als Ton von derselben Höhe, und ich wage dazu­ zusetzen, als Ton von derselben Stärke. Sonst würde nicht jede Ästhese eine Proterästhese zur Folge haben, denn die schwächere Intensität wäre Folge des teil­ weisen Entfalls des in der Ästhese gegebenen Objekts. So ist uns auch ein Decrescendo ebensogut wie ein Cre­ scendo merklich. Was also kann allein den so wesentlichen Unterschied in dem Inhalt der Proterästhese im Vergleich zu dem der Asthese ausmachen ? Der Weg zur einzig möglichen Antwort ist uns deutlich angezeigt. Das Empfinden ist eine psychische Beziehung zu einem Objekte 22). Eine solche kann erstens durch den Unterschied der Objekte, zweitens durch einen Unterschied in der �eise der Beziehung zum selben Objekt verschieden sein. So ist ein Urteil inhaltlich ein anderes, nicht bloß wenn es ein anderes Objekt hat, sondern auch w�nn es bei gleichem Objekt sich ver­ schieden darauf bezieht, z. B . es leugnet, während ein anderes es anerkennt. So werden wir denn sagen : Die P r o t e r ä s t h e s e habe zwar ganz dasselbe Objekt wie die Ästhese, beziehe sich aber auf dasselbe in anderer Weise, und diese Weise =

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Kapit_el : Über Wahrnehmung und Zeitwahrnehmung

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variiere kontinuierlich von der Ästhese bis zum fernsten Moment der Proterästhese. Innerhalb welcher der drei Klassen sollen wir aber nun diese temporalen Differenzen suchen 1 Innerhalb der Klasse des Vorstellens, Urteilens oder der Gemütstätigkeit 1 Nicht beim Namen, von dem man oft sagt, daß er das sprachliche Zeichen für etwas sei, was wir vorstellen , wohl aber beim Zeitwort (Verbum), welches insbesondere dazu dient, die Namen zu Aussagen zu ergänzen, also .Urteile auszudrücl{en, kennt die Grammatik Temporal­ modi. Dies legt nahe, die Unterschiede als Unterschiede von Urteilsweisen zu fassen. In der Tat spricht M i l l in seiner Logil{ von Ten1poralmodis der Kopula, je nach­ dem etwas als gewesen , seiend oder zul{ünftig prädiziert \vird . Es ist. auch kein Zweifel, daß, wenn einer sagt , ,A ist'', , ,A ist gewesen'' usw., er Urteile von ganz an­ derem Inhalt fällt, daß er A zwar in allen dreien irge11d­ wie anerkennt, aber in wesentlich anderer und anderer Weise. Allein ist es nicht offenbar, daß wir, ebenso wie wir A als gegenwärtig, vergangen und zukünftig a n ­ e r k e n n e n oder v e r n e i n e n , wir es auch als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig zu w ü n s c h e n vermögen ? H i er a u s s c h e i n t z lt f o 1 g e n , d a ß , d a e s s i c h in diesem Fall u m kein Urteilen handelt , der Un ter­ s c h i e d t i e f e r , d a ß er i n e i n e m U n t e r s c h i e d d e s Vorstellens gründen muß , das beiden Klassen , s o w o h l d e s U r t e i l s als d e r G e m ü t s t ä t i g lre i t , s u b ­ s t i t u i ert. Und in der Tat können wir uns ja etwas, wie wir es für künftig wünschen und als künftig be­ urteilen können, es als solches vorstellen. So werden wir denn auch die Empfindungsdifferenzen, welche uns die ersten Beispiele von Zeitdifferenzen zei­ gen, vor allem als Vorstellungsdifferenzen fassen müssen. Je mehr man in die Untersuchung eingeht, um so meh1� überzeugt i:nan sich von dieser Wahrl-1eit. K a n t hatte, da er Raum und Zeit für reine An­ schauungen und für Formen unserer Sinnlichkeit e1�-

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I. Abschnitt: Primäres und sek11ndäres Bew11ßtsein

klärte, seiner Vorliebe für willkürlich angenommene Symmetrie entsprechend, nachdem er äußeren und inneren Sinn unterschieden, je einem eine der beiden Formen zugeteilt. Der äußeren Wahrnehmung allein konnte die Form des Raumes, so sollte denn die Form der Zeit vornehmlich dem inneren Sinne zukommen. Bestände wirklich eine solche Präferenz, so wäre zweifel­ los jede Empfindung, die zeitlich differenziert wäre, nicht bloß vorstellend, sondern auch anerkennend auf ihr Objekt gerichtet. Die innere Empfindung ist ja evidente Wahrnehmung. Und dies sagt, daß eine Urteils­ beziehung zum Objekt vorliegt. So könnte man denn meinen, nur mit ihr etwa sei etwas von zeitlicher Be­ stimmtheit in der inneren Empfindung möglich. Anders aber muß man urteilen, wenn man findet, daß die Bevor­ zugung, die hinsichtlich der Zeit K a n t dem inneren Sinn gibt, vollkommen der Tatsache widerspricht. So wahr uns in der Melodie Töne, so wahr uns in dem Tanz, dem ich als Zuschauer beiwohne, Farben erscheinen, so wahr erscheinen sie mir auch in zeitlichem Wechsel, in einer s u k z e s s i v e n Ordnung. Gerade für die ä u ß e �e Empfindung besteht un- ys y1 y2 G zweifelhaft nicht bloß Ästhese, sondern auch Pro­ terästhese. Die evidente innere Wahrnehmung sagt mir nur , daß ich g e g e n w ä r t i g einen Ton als gegenwärtig, einen ande­ ren als vergangen, einen dritten als länger vergangen empfinde, sie sagt mir aber nicht, daß ich den, welchen ich jetzt als vergangen empfinde*), früher und *) Folgende Figur macht die Proterästhese23) anscl1aulich. Das untere J mit den Ausstrahlungen gibt J das i n n e rl i c h Erscheinende mit dem Temporalmodus des Jetzt. A l l e s S e h e n , a u c h d a s a l s v e r g a n g e n S e h e n e r s c h e i n t g e g e n wä r t i g , sonst inne1·lich nichts.

5. Kapitel :

Über Wahrnehmung nnd Zeitwahrnehmwig

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in z e i t l i c h n ä c h s t e r N ä h e als gegenwärtig emp­ funden habe. Dies braucht ja auch keineswegs der Fall zu sein , wie es denn durch gewisse Erfahrungen des sog. doppelten Bewußtseins betätigt wird , wo eine Person mitten in einem Satz, den sie spricht, von einem apoplektischen Anfall betroffen, erst nach einem lange Zeit später erfolgten zweiten Anfall dazu kommt, ihn fortzusetzen, wobei ihr die vor Monaten oder länger gesprochenen ersten Teile des Satzes in der Proterästhese wie sonst eben gesprochen erscheinen. 'Die E v i d e n z d e r i n n e r e n W a h r n e h m u n g i s t a l s o g a n z a u f d i e G e g e n w a r t b e s c h r ä nl{ t . Ja, dies gilt von der inneren Empfindung überhaupt. S i e s a g t m i r n i c ht s , a l s d a ß i c h j e t z t d i e s e Ä s t h e s e s a m t e i n e r kontinuierlichen Proterästhese von physischen P h ä n o m e n e n habe. Würde sie selbst auch von einer inneren Proterästhese begleitet sein, so is·b leicht nach­ weisbar, daß dies zu einer unendlichen Komplikation führen würde. Hätte doch auch ihr Objekt eine Proter­ ästhese und diese ebenso eine involviert und sofort ins Unendliche, so daß es geradezu zu einer Art Kontinuum von unendlich vielen Dimensionen käme. So sehen wir denn in g e w i s s e r Weise gerade das Gegenteil von dem verwirklicht, was K a n t bezüglich Das Geschehene aber in der Linie oben V3 G dargestellt in verschiedenen Vergangenheitsmodis und dem Modus der Gegenwart. Würde auch noch ein Gesehenhaben erscheinen, so wäre dies wieder mit einem bestimmten Temporalmodus aus­ gestattet und ginge auf Primäres in verschiedenen Ver­ gangenheitsmodis. Auch würde, wie ein Gesehenhaben, auch ein sich an das Gesehenhaben sich Erinnerthaben er­ scheinen usw. ins Unendliche. Man }{äme zu unendlich vielen Dimensionen. Davon zeigt die Erfahrung nicht das mindeste. Wir bemerken also innerlich nur den gegenwärtigen Zeit­ punkt. Dieser aber scheint unter Umständen, ja gewöhnlich zugleich als _End- und Anfangspunkt zu erscheinen. Auf den ersten Augenblick lauter paradox chokante Dinge und doch, näher untersucht, möglich, wie andererseits notwendig.

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I. Abschnitt: Primäres und sekundäres Bewußtsein

der Zeit behauptet hat. Gerade bezüglich der Empfin­ dung der ä u ß e r e n Sinnesobjekte sind uns am meisten Zeitdifferenzen, ja, hier allein eine Mehrheit von ihnen und eine Kontinuität von ihnen gegeben. In einer an ­ d e r e n Weise, freilich nur in einer solchen, die K a n t sich nicht zur Klarheit bringen konnte, ist es wahr, daß, was wir von zeitlichen Differenzen sinnlich empfinden, alles vom inneren Sinn und allein von ihm wahr· genommen wird. Sind doch die Differenzen, die wir wahrnehmen, nicht Differenzen der Objekte, sondern der Empfindungsweise der äußeren Empfindung, welche ohne Vorhandensein einer inneren Wahrnehmung nicht erfaßt würden 24).

Zweiter Abschnitt. •

Phänomenognosie des sinnlichen und noetisdien Bewußtseins. Erstes Kapitel. H

Ubersidit über die sogenannten sinnlichen und noetischen Gegenstände der inneren Wahrnehmung1). § 1 . Trotz aller Beschränkung, die sich aus der voran„ gegangenen Betrachtung ergibt, begreift das Bereich des mit unmittelbarer Evidenz zu Erfassenden noch eine erstaunliche Fülle. Zur Übersicht . wird es nötig sein, einige allgemeine Einteilungen zu treffen, und da vieles von dem, was wir unterscheiden, sich selbst noch als kompliziert erweist, insbesondere auf die Elemente 2) der Zusammensetzung zu achten. § 2. Ganz allgemein gilt es, wie schön gesagt,. daß, was wir mit unmittelbarer Evidenz wahrnehmen, etwas psychisch Tätiges3) ist, was D e s c artes im weitesten Sinne als ,,Denkendes'' bezeichnet. Der Ausdruck ist natürlich nur im Hinblick auf die Beispiele zu erklärer1. Für das Denkende charakteristisch ist, daß es sich auf etwas als einen Gegenstand bezieht ; wer denkt, denJ:tt etwas, wer sieht, sieht etwas, wer glaubt, glaubt an etwas, wer liebt, liebt etwas ") usw. Dabei geschieht es, daß derjenige, der denkt, sich stets auf mehr als e i n e n Gegenstand denkend bezielit, wie z. B. einer der sieht, · ein Farbiges sieht und nebenher sich ·selber, als Sehenden,

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II.

Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

wahrnimmt5). Wir nennen hier die Beziehung zum Far­ bigen die Beziehung zum p r i m ä r e n Objekt, die Be­ ziehung zu sich selbst als Sehenden die Beziehung zum s e k u n d ä r e n Objekt, womit aber nicht gesagt sein soll, daß die letztere später als die erstere gegeben sei. Das sekundäre Objekt ist immer ein Denkendes als solches, das primäre aber kann, wie im vorliegenden Beispiel, etwas sein, was keine psychische Beziehung zeigt. Doch können wir denkend auch ein Denkendes zum primären Objekte haben, wie es der Fall ist, wenn ich an früher Erlebtes zurückdenke, oder mir vorstellig mache, was ein anderer denkt. Wenn nun so jeder, der denktätig ist, sich denkend auf m e h reres beziel1t, auf das eine als primäres, auf das andere als sekundäres Objekt, so können wir doch ihn, insofern er das eine und insofern er das andere tut, unterscheiden und ihn in der einen wie in der anderen Beziehung charakterisieren. § 3. Sahen wir eben durch die Beziehung zum primären und selrundären Objekt eine gewisse Ve1·vielfältigung der Beziehungen eintreten, so bemerken wir eine solche auch noch insofern, als wir uns auf dasselbe Objekt oft in mehrfacher Weise beziehen. So ist es der Fall, wenn einer einen Gegenstand nicht bloß vorstellt, sondern auch be­ gehrt ; und es ist nachgewiesen worden, daß eine solche Verdoppelung der Beziehung zum selben Gegenstande auch da gegeben ist, wo man ihn nicht bloß vorstellt, sondern auch an ihn glaubt oder ihn leugnet6). Es gab Ps)�chologen , welche meinten, der Glaube an einen Gegenstand, die Anerkennung desselben bestehe in einem zusammensetzenden Vorstellen. Im Urteil : , ,Ein Baum ist'' brächte ich mit einem Baum, den ich anerkenne, als Subjekt, die Vorstellung eines Existierenden als Prä­ dikat in Verbindung ; dem ist aber nicht so ; wer da sagt, ,,ein existierender Baum'', würde sonst, da er dieselbe Vorstellungsverbindung vollzieht, auch den Glauben an einen Baum ausgespro�hen haben, was nicht der Fall ist7).

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Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände

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§ 4. Es zeigt sich, daß alle Beziehungsweisen zu einem Objekt in drei Klassen zerfallen : V o r s t e l le n , U r t e i l e n und G e m ü t s b e z i e h u n g , von welchen die zweite und dritte die erste immer voraussetzen, und daß in jeder der beiden letzten ein Gegensatz sich findet, indem das Urteilen ein Glauben oder Leugnen, die Gemütsbeziehung ein Lieben oder Hassen ist. Auch noch des weiteren zeigen sie sich mehrfach spezifiziert ; so unterscheidet man ein a s s e r t o ri s c h e s und ein a p o d i k t i s c h e s Ur­ teil, welches letztere vorliegt, wenn etwas nicht einfach . verneint, sondern als unmöglich geleugnet wird8) ; und wieder ein b l i n d e s und e v i d e n t e s Urteil, wovon wir schon früher gesprochen haben ; und ebenso wird ei11 u n m ot i v i e r t e s und m o t i v i e r t e s Urteil unterschieden. Ich erinnere auch daran, daß es unter den z u s a m m e n ­ g e s e t z t e n Urteilen solche gibt, bei welchen sieh keine Auflösung in mehrere gegenseitig voneinander trennbare Urteile vollziehen läßt, weil das eine sich sozusagen auf dem anderen aufbaut, und daß dann das zweite Urteil, welches das erste als Teil enthält, oft mit einem posi­ tiven ein negatives Beziehen vereinigt9). . Ä hnlich zeigen auch die G e m ü t s b e z i e h u n g e n noch manche Unterschiede in der Weise der Beziehung. Wir finden einen analogen Unterschied wie zwischen blindem und evidentem Urteil, in dem blind instinktiven und als richtig charakterisierten Lieben und Hassen 1 0). Und so finden wir auch eine A n a l o g i e zu dem Unterschied zwischen dem as s e r t o r i s c h e n ltnd a p o d i k t i s c h e n Urteil, und das Beispiel eines Analogons zu dem letz­ teren liegt da vor, wo wir, indem wir z. B . dem Erkennen vor dem Irren den Vorzug geben, es in der Art tt1n, d a ß diese B e vorzugung nicht bloß als richt i g , s o n d e r n a l s n o tw e n d i g r i c h ti g c h a r a kt e r i s i c 1· t i s t 1 1). Auch ein Analogon zum unmotivierten und moti­ vierten Urteilen bietet das Lieben u11d Hassen ; vieles wird ja um eines anderen willen geliebt. Doch zeigt sich in dem Unterschied des Falles, wo etwas in sich selbst

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

oder nur als nützlich liebwert erscheint, etwas, was nicht äl1nlich schon auf dem Gebiet des Urteilens sich findet ; auch das als wahr E r s c hl o s s e n e erscheint als wahr in sich, und ebenso findet sich kein , ,wahrer'' und ,,minder \\1ahr'', während von einem ,,besser'' und ,,minder gut'' gesprochen wird, was mit der Eigentümlicl1keit gewisser Akte der Liebe als Akte des B e v o r z u g e n s zusammen­ hängt 1 2). Was die Beziehung des V o r s t e l l e n s betrifft, so zeigt sie keinen Gegensatz, der dem zwischen dem Lieben und Ha·ssen, Glauben und Leugnen ähnlich wäre ; wir können wohl vorstellen, daß einer etwas glaube oder leugne, aber dann haben wir es, wie wenn wir etwas Weißes oder Schwarzes vorstellen, nur mit Gegensätzen zu tun, welche die O b j e kte betreffen. Dagegen gibt es andere Unterschiede der Beziehungsweise beim Vorstellen, und als solche sind hervorzuheben der Unterschied zwischen dem V o r s t e l l e n i n m o d o r e c to und dem V o r s t e l l e n i n m o d o o b l i q u o ; und ebenso die Unterschiede des Vorstellens mit anderem und anderem Temporalmodus 1 3). Was den zuerst berührten Unterschied anlangt, so sei an das früher Gesagte erinnert : Wenn einer einen A Lel1gnenden vorstellt, so stellt er auch das A in gewisser Weise vor, aber nicht wie den A Leugnenden in recto, sondern in obliquo ; und ähnlich ist es in jedem Fall, wo es sich um etwas Relatives handelt. Wer ein Ver­ ursachendes vorstellt in recto, stellt, insofern er dies tut, notwendig auch ein Verursachtes in obliquo vor, und umgekehrt ; und wer ein Größeres in recto vorstellt, stellt ein Kleineres in obliquo vor, und umgekehrt. Die Unterschiede der T e m p o r a l m o d i des . Vorstellens zeigen sich bei der Vorstellung eines Ruhenden oder Bewegten ; stelle ich mir �twas als r u h e n d vor, so stelle ich mir einen und denselben Gegenstand mit kontinuierlich w e c h s e l n d e m T e m p o r a l m o d u s vor ; stelle ich etwas als bewegt vor, so stelle ich eine Kontinuität von sach­ lichen Unterschieden vor 1 4), aber nicht jeden dieser

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Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände

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Unterschiede mit der gleichen Weise des Vorstellens, vielmehr jeden mit anderem Temporalmodus, sonst würde mir das, was ich als in einem Kreis sich bewegend vor­ stelle, vielmehr als ein die ganze Bahn Teil für Teil gleichmäßig Erfüllendes erscheinen. Man hat nun aller­ dings vielfach gemeint, wie die lokalen Bestimmungen, so seien auch die zeitlichen als Unterschiede der Gegen­ stände zu fassen ; allein man hat sich dabei in unlösliche Absurditäten verwickelt. Cäsar i s t nicht mit der Eigen­ schaft ,,vor zweitausend Jahren gewesen'', sondern er i s t gar nicht, ist aber gewesen, d. h. mit einem gewissen Temporalmodus der Vergangenheit vorgestellt, ist er anzuerkennen. § 5. Wir sagten eben, die T e m p o r a l m o d i beträfen die Weise des Vorstellens, damit soll aber nicht aus­ geschlossen werden, daß sie auch die Weise des Urteilens und der Gemütsbeziehung differenzieren ; im Gegenteil ist dies allgemein und notwendig der Fall, weil die Be­ ziehung des Urteilens und die Gemütsbeziehung beide ein Vorstellen zur Voraussetzung haben. Das Verhältnis ist ähnlich wie in betreff der Gegenstände, wo ja auch dieselben Gegenstände, welche vorgestellt auch urteilend anerkannt oder verworlen und in einer Gemütsbeziehung geliebt oder gehaßt werden können ; so führen denn über­ haupt die die Vorstellungen betreffenden Unterschiede zu entsprechenden Unterschieden auf dem Gebiet der beiden anderen Grundklassen der Bewußtseinsbeziehung. Von diesen hat die Klasse des Urteilens auf die Klasse der Gemütsbeziehung ebenfalls noch h ä u f i g einen bestim­ menden Einfluß ; derselbe Gegenstand, der geliebt wird, wird manchmal mit dem Urteil geliebt, daß er sei, manchmal mit dem , daß er nicht sei, manchmal auch mit dem Bewußtsein des Zweifels, ob er sei oder nicht sei ; und die Unterschiede von Freude und Leid, Hoff­ nung und Furcht auf dem Gebiet des Gemüts hängen damit zu�ammen15). Auch sind die Gemütsbeziehungen, die wir erleben, für unser U rt e i l e n von Bedeutung ;

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bew11ßtseins

man weiß, daß man leicht glaubt, was man gern glaubt, und wenn wir eine als richtig charakterisierte Liebe hegen, so e r lte n n e n wir daraufhin, daß etwas m i t R e c h t geliebt wird und gut ist 16). Allein von einer Vervielfältigung der Beziehungsweisen des Urteils kann man daraufhin doch kaum sprechen ; vielmehr handelt es sich teils um Unterschiede der Objekte, teils um Unterschiede der Ursachen. Ebendarum hat es auch seinen guten Grund, wenn man von den drei Grund­ klassen psychischer Beziehung dem Urteil die zweite und der Gemütsbeziehung die dritte Stelle zuweist. Es stimmt dazu auch, daß bei der Beziehung zum sekun­ dären Objekt außer der Beziehung des Vorstellens immer auch eine Beziehung des Urteils, nämlich die eines evi­ denten Anerkennens 17) gegeben ist, während die Gemüts­ beziehung bald vorhanden ist, bald aber auch fehlt. Ist doch das sekundäre Bewußtsein nicht immer mit einer Lust oder einem Schmerz verbunden, die in der Tätig­ keit selbst gegeben wären18). So ist das Wohlgefallen, das ich beim Hören eines harmonischen Akkords fühle, nicht in dem Hören selbst beschlossen ; müßte es doch sonst aus so vielen Teilen bestehen als der Akkord ent­ hält. und das Hören des Akkords unterscheiden läßt 19). § 6. Wenden wir uns nun zu den Unterschieden, welche die psychischen Tätigkeiten, die wir innerlich wahrneh1nen, hinsieht.lieh ihrer Gegenstände zeigen. Man teilt sie ein in s i n n l i c h e und intelligible (no e t i s c h e ). Wer etwas sieht, hört oder sonst empfindet, hat als pri­ märes Objelrt einen sinnlichen Gegenstand, und auch sein sekundäres Objekt ''rird zu den sinnlichen gerechnet. Wer ein Farb i g e s , ein War m e s , ein R ä u m l i c h e s i m a l l g e m e i n e n denkt, hat dagegen ein noetisches Objel{t, und auch sein sekundäres Objekt wi1�d zu den noetischen gezählt. Man hat die Vorstellungen, 'velche s i n n l i c h e Objel{te haben, auch A n s c l1 a u u ng e n , diejenigen, welche noetische Objekte haben , ein b eg 1"if f l i c h e s D e n k e n , ein Denlten von Begriffe11 genannt ; dabei blieb man �icl1

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Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände

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aber nicht immer ganz getreu, indem man die innere Wahrnehmung der noetischen Tätigkeit manchmal auch zu dem rechnete, dessen Gegenstand eine Anschauung ist20). § 7 . Wir rühren hier an etwas, worüber keineswegs Einigkeit besteht. Es gab und gibt heute noch Philo­ sophen, welche die ganze Klasse der noetischen Gegen­ stände in Abrede stellen. Nach ihnen sind alle Gegen­ stände sinnlich und manche von ihnen gehen in der Restriktion der Gegenstände noch weiter, indem sie auch zwischen primärem und sekundärem sinnlichen Objekt nicht unterscheiden wollen, und so z. B . das Farbige, das einer sieht, mit seinem Sehen identifi­ zieren 21). Daß das letztere ein greifbarer Irrtum ist, erkennt man leicht, wenn man darauf achtet, daß in dem Farbigen keine psychische Beziehung gegeben ist ; auch mag der Gegensatz zwischen dem auf das Vorstellen gegründeten Glauben und Leugnen dazu dienen, den, welcher sich zur Identifikation von primärem und sekun­ därem Objekt versucht fühlt, von ihrer Unmöglichkeit zu überzeugen 2 2). Daß wir aber nicht bloß ein qualitativ und örtlich und der Gestalt und Größe nach determiniertes Dreieck, sondern auch ein Dreieck im allgemeinen, eine ge­ schlossene Figur im allgemeinen u. dgl. vorstellen, das ist für den unverkennbar, welcher beachtet, daß wir, wenn wir z. B. sagen : Alle Dreiecke haben zur Winkel­ summe zwei Rechte, nicht eine Unzahl möglicher Drei­ ecke denken und für jedes von ihnen im einzelnen den Beweis erbringen, sondern mit einem Schlag zu der Er­ kenntnis des allgemeinen Lehrsatzes gelangen. Daß es alsoVorstellungen von solchen noetischen Gegenständen 2 3) gebe, kann nicht bestritten werden, sondern nur etwa das mag man in Zweifel ziehen, ob beim Denken eines noetischen Gegenstandes nicht auch immer das An­ schauen eines sinnlichen gegeben sei, der sich dem noetischen Gegenstand untergeordnet zeige, wie wenn

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

ein Mathematiker, der etwas für das Dreieck im allge­ meinen feststellt, dabei ein qualitativ und quantitativ näher bestimmtes Dreieck sich anschaulich vorstellt24). § 8. Die Objekte der äußeren sinnlichen Anschauungen zerfallen in mehrere Klassen25), und man sagt von ihnen, daß sie verschiedenen Sinnen zugehörten. Wie viele solcher Sinne zu unterscheiden seien, darüber ist man nicht einig ; gemeiniglich unterscheidet man deren fünf, andere aber haben die Zahl vermehren wollen, wie schon A r i s t o t e l e s , da er den Sinn für Temperatur von dem für Trocken und Feucht unterschied. Manche haben einen besonderen Sinn für Vorgänge in den Muskeln, manche einen besonderen Gleichgewichtssinn, der sich auf Vorgänge in den Ohren bezieht, manche einen beson­ deren Raumsinn und Zeitsinn t1nterscheiden wollen ; dabei zeigte sich, daß man sich über das, um dessen Einteilung es sich handelte, nicht klar war, und wieder­ um, daß man versäumte, vor allem das entsprechende Einteilungsprinzip ausfindig zu machen . Von einem besondere11 Raumsinn kann man nicht sprechen ; in jeder ä11ßeren Anschauung i3t Räumliches aber kon­ ]{ret26) mit qualitativen Bestimmungen gegeben, und hebe ich es, indem ich von diesen absehe, heraus, so tue ich es nur durch ein noetisches Denken . \Ver aber von einem Gleichgewichtssinn spricht, der scheidet eine be­ sondere Gruppe von Anschauungen aus, nicht wegen einer Charakteristik, die ihnen als solchen zukommt, sondern wegen eines besonderen Anl1altspunktes zur Beurteilung von gewissen Verhältnissen, den sie ab­ geben . § 9. A r i s t o t e l e s , nachdem er festgestellt hatte, daß alle Gegenstände, welche eine sinnliche Anschauung uns zeigt, ausgedehnt und gestaltlich begrenzt27) und ruhend oder bewegt und als eines oder vieles erschienen und so an diesen Bestimmungen teilhaben könnten, daß sie aber, obwohl sie auch alle sinnlich qualifiziert, doch bei jedem Sinn heterogen qualifiziert seien , wollte die Be-

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sonderheit de1· Gattung der eigentümlichen Qualität zum Einteilungsgrunde machen und schied so den Sinn für das Farbige von dem für das Tönende usw. Der Gedanke war ein richtiger, allein es zeigte sich, daß man in Zweifel kam, o b gewisse sinnliche Qualitäten homo­ gen oder heterogen seien. Sind Wärme- und Druck­ qualität und Qualität bei der Empfindung eines Nadel­ stichs homogen oder heterogen 1 Manche glaubten ein Argument für die Homogenität für Drucl{en1pfindung und Wärmeempfindung da!'aus entnehmen zu können, daß bei der Annäherung eines brennenden Lichtes an den Rücken dasselbe eine Druckempfindung auslöst. Andere schlossen aus dem Umstande, daß manche Stellen der Haut mehr für Tastempfindungen, andere mehr für Temperaturempfindungen befähigt sind, daß man es mit Heterogenem zu tun habe. Beide Argu­ mentationen sind ganz hinfällig ; wenn das Licht, dem Rücken angenähert, Druckempfindung auslöst, während es anderwärts Wärmeempfindung weckt, so bringt auch dasselbe Licht, mein Auge erregend , I ichtempfindungen hervor, die wir doch deshalb mit D1·uck- oder Wärme­ empfindung homogen zu nennen uns nicht versucht fühlen ; und wenn wir auf der Zunge an der Spitze mehr für den Eindruck des Süßen und an dem Gaumen mehr für das Bittere empfindlich sind, so macht uns das nicht geneigt, die Homogenität von Bitter und Süß zu leugnen. Auch der Nachweis verschiedener äußerer Organe kann nicht für die Heterogenität entscheiden� sein. Wir wissen, daß, wenn die Augennerven mit Nerven eines anderen Sinnes, z. B. des Gehörsinnes, verheilt würden, eine Reizung des Auges eine Tonqualität zur Folge hätte, während jede Farbenerscheinung unter­ bliebe. Bemerkenswert ist es auch, daß wir oft etwas, was Sache des Geruchsinnes ist, für Sache des Ge­ schmacksinnes halten ; Leute, denen man die Nase zu­ hielt, konnten eine Zwiebel von einem Apfel dem Ge­ schmack nach nicht unterscheiden, und ich erlebte es, ...

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

daß Zuckerbonbons ganz nach Eau de Cologne schmeck­ ten, während beim Verschluß der Nase nichts als der gemeine Zuckergeschmack übrigblieb. § 1 0. Wir sehen, daß, wenn wir die H o m og e n i t ä t oder H e t e r o g e n i t ä t der Qualitäten zum Einteilungs­ prinzip und zum Kriterium der Zugehörigkeit der Gegen­ stände sinnlicher Anschauung zur gleichen oder zu ver­ schiedenen Klassen machen, wir wieder eines Kri­ teriums für die sichere Feststellung einer Homogenität bedürfen. Man hat als solches auf die Möglichkeit kontinuierlichen Übergangs hingewiesen ; von Ton zu Ton, von Farbe zu Farbe könne man kontinuierlich übergehen, nicht aber von Ton zu Farbe. Ob freilich das erste wirklich der Fall sei, ist nicht streng ge­ sichert. 27a) A r i s t o t e l e s hatte geltend gemacht, daß es in jeder der qualitativen Gattungen zwei Extren1e gebe, wie z. B. ein bei den Farben Schwarz und Weiß , bei den Tönen Extrem von Hoch und Tief. In der Tat zeigte sich, daß nicht bloß hohe und tiefe Töne eine Analogie zu hellen und dunklen Farben zeigen, sondern daß ein solches Analogon von Hell und Dunkel sich auf a l l e n Sinnes­ gebieten findet. Wenn man den Eindruck von Kalt und Warm vergleicht und fragt, welches von beiden, mit dem anderen verglichen, hell und dunkel zu nennen sei, so ist die einstimmige Antwort, das Kalte erscheine relativ hell und das Warme dunkel, und auch wenn man Süß und Bitter vergleicht, so wird das Süße hell und das Bittere relativ d1111l\:el genannt. Offenbar handelt es sich bei Farben, Tönen und Temperaturen um eine Hellig­ keit und Dunkelheit nicht im g l e i c h e n , sondern nur im a n a l o g e n Sinne, und man könnte danach sagen, jene Sinnesgebiete seien verschieden, bei welchen sich Helligkeit und Dunkelheit nicht in gleichem, sondern in analogem Sinn zeigt. So wird denn die Frage, ob die Temperaturempfindung und andere Berührungsempfindungen homogen oder

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heterogen seien, sich auf die Frage zu1�ückführen, ob Helligkeit und Dunkelheit bei ihnen in g l e i c h e m o d e r i n a n a l o g e m S i n n besteht. Und da ergibt denn die Untersuchung, daß sie ihnen in gleichem Sinn zukommt. Gewisse Täuschungen hinsichtlich der Stärke eines Druckes hängen damit zusammen ; wenn wir die Hand in einem Becken mit w a r m e m o d e r m i t k a l t e m W a s s e r bewegen, so scheint dasselbe in letzterem Fall viel größeren Widerstand zu leisten, wogegen dort die dunkle Empfindung des Warmen die helle Empfindung -des Druckes ve1�schleiert. Wir können nun aber noch weitergehen und konstatieren, daß auch die Helligkeit von süßen, sauren, salzigen Geschmäcken der Helligkeit bei Temperaturen noch homogen ist ; damit hängt es zusammen, daß Zuckerwasser, wenn man es erwärmt, für minder süß gehalten wird . Ähnliches gilt auch für die Gerüche, und häufig geschieht es, daß nicht bloß etwas, was Sache des Geruches ist, mit etwas, was Sache des Geschmackes ist, vermengt und verwechselt wird, sondern auch, daß man von scharfem und dumpfem Geruch spricht, wobei die affizierten Nerven nicht zu den Geruchsnerven, sondern zu den Tastnerven zählen. Eine Bestätigung für die Einheit des Sinnesgebietes für alle diese Erscheinungen liegt auch darin, daß die Tem­ peratur der Speisen und auch die Glätte oder Rauhig­ keit den Geschmack der Speisen zu alterieren scheinen, ja das Wohlschmeckende unter Umständen zum Übel­ schmeckenden machen und umgekehrt. Und noch mehr weist darauf hin die Möglichkeit der Schwächung eines Eindruckes bis zur vollen Verdrängung durch das Auf­ treten eines anderen, wie z . B. ein sehr heißer Löffel Suppe neben dem Eindruck des Heiß gar keinen Ein­ druck mehr empfinden läßt28). So gelangen wir denn zu dem Result-at, daß wir sinn­ liche Erscheinungen primärer Objekte nur von d r e i Klassen h�ben : f a r b i g e , t ö n e n d e und in de1� Weise einer dritten Gattu11g sinnlich qua1ifizierte29). .

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

Zu diesen gehören auch die primären Objekte von Empfindungen, die s i n n l i c h e A f f e k t e sind, d. h. bei welchen die B e z i e h u n g z u m s e k u n d ä r e n O b j e k t nicht eine bloß vorstellende u n d evident an­ erk e n n e n d e , s o n d e rn a u c h e i n e G e m ü t s b e z i e h u n g i s t. Die Empfindung des Gesichts und des Gehörs und auch noch ein Teil der Empfindungen der dritten Gattu11g sind keine Affekte, we1m ihnen auch Affekte gesellt sind 30). § 1 1 . Indem das noetische Denken die primären Ob­ jekte der sinnlichen Anschauungen analysiert, findet es, daß sie nicht bloß q u a l i f i z i e r t und der Qualität nach generisch und spezifisch determiniert, sondern auch a u s g e d e h n t und g e s t al t e t 31 ) und ö r t l i c h g e n e r i s c h und s p e z i f i s c h 32) bestimmt sind. Auch mehr oder minder i n t e n s i v nennt man sie und bringt diese Bestimmung ähnlich der von hell und dunkel mit der Bestimmung als qualifiziert in nächsten Zu­ sammenhang ; dabei ist aber vieles einer Aufklärung be­ dürftig 33). § 12. Bezüglich der ö r t l i c h e n B e s t i m m u n g haben viele geglaubt, daß sie nicht homogen bei allen Sinnen sich finde, ja, sie haben geleugnet, daß sie irgendeinem Sinn als solchem zukommen ; wenn aber irgendeinem, dann doch nicht dem Gehörsinn. Diejenigen, welche jede örtliche Bestimmung den sinnlichen Gegenständen als solchen absprachen, sprachen ihnen natürlich auch Aus­ dehnung und Gestalt ab, da diese ja mit örtlichen Ver­ hältnissen in Zusammenhang stehen, sozusagen aus ihnen resultieren. Diejenigen, welche dies allgemein taten, faßten die Verbindung solcher Bestimmungen mit den qualitativen als auf Erfahrung beruhende Assoziation. Frug man sie aber, woher die assoziierten Momente stammten, so · konnten sie davon ganz ungenügend Rechenschaft geben. Man nennt sie E m p i r i s t e n im Gegensatz zu den N a t i vi s t e n , welche entschieden im Rechte sind. Was von scheinbaren Argumenten gegen sie vorgebracht werden kann, läuft darauf hinaus, daß

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unsere sinnlichen Eindrücke benutzt werden, um über Verhältnisse in der A u ß e n w e l t Aufschlüsse zu ge· winne n, die wesentlich von den in ihnen selbst gegebenen Bestimmungen verschieden sind. Dazu gehören auch örtliche Verhältnisse. Da nun diese34) nicht in den Sinneseindrücken selbst gegeben sind, sondern auf Grund der Erfahrung daraus erschlossen werden, und da sie für uns das gemeiniglich allein Interessante sind, so be­ achten wir meist nur sie allein und übersehen ganz die den Sinnesanschauungen selbst innewohnenden Lokal­ bestimmungen. Auch das ist ein Irrtum, daß nicht allen Gattungen von Sinnesanschauungen lokale Bestimmungen innewohnen, sondern nur einem oder einigen Sinnen und insbesondere nicht dem Gehörsinn. Der Bestand von Loka.lisation kann durch den Vergleich der Eind1·ücke durch das rechte oder das linke Ohr sehr leicht fest­ gestellt werden. Wieder andere haben bezweifelt, daß verschiedenen Sinnen eine Lokalisation d e r s e 1 b e n G a t ­ t u n g zukomme35} ; sie meinten, es bestehe bei Lokali­ sation verschiedener Sinne nur Analogie ; dies ist völlig unrichtig. Für den, welcher Geschmack, Geruch und Tastsinn für verschiedene Sinne hält, wird dies durch die Fälle der Vermischung ihrer Erscheinungen beson­ ders deutlich. Doch ist dies nur ein Argumentum ad hominem und umfaßt nicht zugleich die Lokalisation auf dem Gebiet von Farben und Tönen ; hier aber ist darauf zu verweisen, daß, wenn wir nach Schließung der Augen und Ohren in diesen einen Ton erregen, wir das Dunkel der Augen zu dem Geräusch in dem Ohr in lokale Beziehung setzen, was ohne Homogenität örtlicher Bestimmungen nicht der Fall sein lcönnte. So ist ja auch der Umstand, daß uns das Süße nicht bloß heller als das Bittere, sondern auch als das Warme erscheint, ein recht deutliches Zeichen davon, daß es sich noch um Helligkeit in gleichem Sinne handelt. Wir wiederholen es also : Jede Sinnesanschauung hat an lokalen Bestim„ mungen teil, und in homogenem Sinne.

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

§ 13. Ein anderer Streit ist darüber entstanden, ob die lokalen Bestimmungen nur r e l a t i v e o d e r a u c h a b s o l u t e seien, und es ist höchst merkwürdig, zu sehen, daß gar viele sich für das erste aussprachen. Setzt doch jede relative Bestimmung auch absolute voraus, auf welchen die Relation beruht ; wenn keine Zahlen sind, so sind auch keine Zahlenverhältnisse, und wenn keine Helligkeiten sind, so sind auch keine Helligkeitsverhält­ nisse usw. Was wäre nun hier das, was den lokalen Beziehungen unterläge � Nur die Q u a l i t ät e n könnten es sein, aber wie sollte eine l o k a l e B e z i e h u n g in irgendwelchem qualitativen Unterschied, z. B. dem eines Roten und Blauen oder eines Tones c und g gefunden werden36) 1 So gewiß es also lokale Beziehungen gibt, gibt es auch absolute lokale Bestimmungen, wenn wir dieselben a11ch vielfach durch Beziehung auf als be­ kannt vorausgesetzte Positionen charakterisieren, ähnlich wie alle Längen durch Beziehung auf die bekannte Größe des Meters 37) . § 14. Auch hinsichtlich der I n t e n s i t ä t bestehen wesentlich verschiedene Auffassungen ; man spricht von größerer und geringerer Intensität. Aber man unter­ scl1eidet die intensive Größe wesentlich von der exten­ siven ; die letztere soll Teile unterscheiden lassen, die erstere nicht. Beim Vergleich zweier extensiver Größen soll die kleinere einem Teil der größeren gleich sein und diese noch einen anderen Teil unterscheiden lassen, welcher das Maß ihrer Überlegenheit abgibt. Von den intensiven Größen soll zwar auch die eine die andere übertreffen, aber ohne daß diese einem Teil von ihr gleich wäre, da sie ja keine Teile haben soll. Warum wird nun die eine Intensität k l e i n e r als die andere genannt und nicht etwa bloß v e r s c h i e d e n und von ihr abstehend, ähnlich wie Blau und Rot ? Offenbar darum, w e i l d i e V e r s c h i e d e n h e i t d e r I n te n s i t ä t e i n e n g r ö ß e r e n und kleineren Abstand von einer Art Nullpunkt b e z e i c h n e t. Aber was ist das für ein Nl1lJpunkt 1 Ist

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es ein Nullpunkt der Intensität und ihrer allein, oder meint man vielmehr, daß etwas anderes und insbesondere die Qualität dem Nullpunkt sich nähert, wie z. B. wenn ein zuerst lauter Ton immer leiser erklingt ? Dabei soll aber die Qualität doch dieselbe bleiben. Wie also sollen wir die Änderung, die sie erfährt l1nd sie dem Nullpunkt nähert, begreifen 1 Gibt es ein Mittleres zwischen Sein und Nichtsein und verschiedene Grade der Existenz des­ selben Dinges 1 Besteht ein Ding aus Teilen, so ist infolge des Entfalls von einem und mehreren derselben ein all­ .mähliches Zunichtewerden des Ganzen verständlich , und so mag denn auch ein ausgedehntes Rotes allmählich zunichte werden. Aber bei der Intensität sollen ja keine Die Lösung des Rätsels ergibt sich durch Teile sein. den Nachweis, daß, ähnlich wie wenn zwei Farben, z . B. Rot und Blau auf einer Fläche in unmerklich kleinen Teilchen miteinander wechseln, das Ganze als violett erscheint, also als ein Rötlich-Bläuliches, aber sowohl als Rot als auch als minder kräftiges Blau bei einem Wechsel von unmerklich kleinen qualitativen Füllungen und Lücken, die hier gegebene einzige Qualität minder kräftig erscheint. Man hat es also auch hier38) in letzter Instanz mit einer extensiven Größe und einem allmäh­ lichen Entfall von extensiven Teilen zu tun. Man be­ merke hier wohl, daß es sich um e1'füllte und leere Teile des S i n n e s f e l d e s , nicht um extensive Teile eines etwa in der wirklichen Außenwelt zu denkenden Raumes han­ delt. Wir haben also sozusagen eine größere und ge­ ringere D i c h t i g k e i t d e r E r s c h e i n u n g vor uns39). § 15. Aus dem Gesagten geht he1�vor, daß die Unter­ schiede der sinnlichen Anschauungen alle im letzten Grunde auf q u a l i t a t iv e und l o k a l e Unterschiede zurückgehen. § 1 6. Hinsichtlich der qualitativen sprachen wir von Unterschieden der Helligkeit, welche auf jedem der Sinnesgebiete heterogen und untereinander nicht syno­ nym, sondern nur analog sind. Auf demselben Sinnes-

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Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

gebiet sind sie homogen, und dabei kann es geschehen, daß zwei Erscheinungen, obwohl qualitativ spezifisch verschieden, doch gleich hell erscheinen. Drängt uns dies nicht dahin, noch zwei absolute Bestandteile zu unterscheiden, von denen die eine die H e l l i g k e i t , die andere die Q u a l i t ä t ist40) 1 Vielleicht könnte einer daraufhin noch geneigt sein, anzunehmen, daß in gewissen Fällen n tl r eine dem jeweiligen Sinnesgebiet entsprechende Dunkelheit oder Helligkeit vorhanden sei, in gewissen anderen aber jene Qualüikation hinzukommt. So könnte er meinen, daß auf dem �biete des Gesichts­ sinnes Schwarz, Weiß und das zwischen ihnen liegende Grau nur Helligkeitsunterschiede, die sog. gesättigten Farben aber auch qualitative Unterschiede zeigten. So könnte ein Rot oder Grün gleich hell sein, wie ein ge­ wisses Grau, aber zu der Helligkeitsstufe noch eine Qualifikation hinzubringen, die dem Grau gänzlich fehlt. Meines Erachtens wäre dies ein Irrtum. R e i n e s R o t hat e i n e b e s t i m m t e , d i e s e r q u a l i t a t i v e n S p e z i e s e i g e n e H e l l i g k e i t , und diese wäre die gleiche wie die von einem gewissen G ra u . Müßte da nicht das Rot geradezu am G r a u e n teilhaben, indem es an dessen H e l l i g k e i t teilhat, da ja das Grau in nichts anderem als in dieser Helligkeit bestände 41) � Es müßte einer sagen, es sei das Grau ihm eingemischt, d. h. es wechselten in ihm unmerklich kleine Teile, welche grau seien und die ganze Helligkeit ausmachten, mit anderen, welche rot seien und als solche gar nicht an dem Charakter von Hell oder Dunkel teilnehmen42). Der Helligkeit nach wäre es dem Grau gleich, aber minder intensiv, weil die Helligkeit in ihm minder dicht wäre. Und wenn ich Grau noch in das reine Rot ein­ mischte, so wü;rde nach dieser Theorie die eintretende Helligkeit die schon gegebene nur intensiver machen. Doch das scheint durchaus nicht mit den Erscheinungen zu stimmen. Nicht von einer größeren Intensität der Helligkeit kann in solchem Falle gesprochen werden,

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vielmehr ·nur von dem Auftreten einer Abweichung in der Qualifikation bei unveränderter Helligkeit·. § 1 7 . Was haben wir also unter H e l l i g k e i t und D u n k e l h e i t zu denken 1 Sollen wir vielleicht sagen, es handle sich dabei um Annäherungen und Entfernungen einer Qualität an und von Schwarz und Weiß 1 Es zeigt sich bei genauerer Überlegung, daß, da ein einem Grau g l e i c h h e l l e s Rot sowohl von Schwarz als von Weiß w e i t e r e n t f e r n t ist als das betreffende Grau, das im Unterschiede von Rot sozusagen in gerader Linie zwischen den Extremen liegt43}, die gleichzeitige Berücksichtigung der Abstände von Schwarz und Weiß zu einer Disharmonie der Bestimmungen führen würde 44). Man wird also gut tun, sich an eines derselben zu halten, und am meisten dürfte sich empfehlen, das Maß des Abstandes von Schwarz als Bestimmung für die Hellig­ keit einer Qualität zu nehmen. Hiernach erkennt man sofort, daß es nicht richtig wäre, Helligkeit und Qualifikation als zwei besondere Gattungen von absoluten Bestimmungen zu scheiden 45), da vielmehr mit der Qualität auch die ihr eigentümliche Helligkeit gegeben ist. Es bleibt also bei den zwei von uns angegebenen elementaren Differenzen nach O r t und Q u a l i tä t4s). § 1 8 . Doch es könnte einer meinen, ein d r i t t e s Ele­ ment sei noch einzufügen in Rücksicht auf die Ruhe und Bewegung, die nicht bloß Moderne, sondern auch schon A r i s t o t e l e s als Momente der sinnlichen An­ schauung und Differenzen ihrer Gegenstände bezeich­ neten. Demgegenüber verweisen wir aber auf das, was wir früher gesagt haben, wo wir von temporalen Modis des Vorstellens sprachen. Wenn die zeitlichen Diffe­ renzen Modi des Vorstellens betreffen, die daraufhin auch die auf den Vorstellungen ruhenden Urteile und Gemütsbewegungen modüizieren, so würden wir Un­ recht tun, diese zeitlichen Differenzen selbst und auch die Unterschiede von Ruhe und Bewegung unter den

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

Unterschieden der Gegenstände unserer äußeren An­ schauung begreifen zu wollen. Nt1r indem \vir Psychi­ sches schauen, werden wir bemerken , daß es sich in anderen und anderen Temporalmodis auf ei11 und dasselbe beziehend, es als R u h e und ebenso in anderen und anderen Temporalmodis auf eine kontinuierliche Vielheit von stetig sich unterscheidenden Gegenständen beziehend, bald mehr, bald weniger schnelle B e w e g u n g zum Bewußtsein bringt. K a n t scheint daran zu rühren, wo er die Zeit zunächst zu dem i n n e r e n S i n n in Be­ ziehung setzt47). § 1 9. Man hat in bezug auf die Lokalisation der An­ schauung auch noch die Frage aufgeworfen, ob dieselbe eine Bestimmtheit in bezug auf drei oder nur in bezug auf zwei Dimensionen, Länge und Breite, zeige. Vielfach wurde das Zweite behauptet, namentlich in bezug auf den Gesichtssinn ; daß die Gesichtserscheinung für Raum­ verhältnisse auch der Tiefe nach A n h a l t s p u n k t e ab­ gibt, widerspricht dem nicht, daß s i e s e i b s t keine Tiefendimension enthält. Man spricht ja auch von Farbenperspektiven, und beim Zusammenwirken beider Augen decken sich die Bilder nicht immer gleich genau. Es gibt verschwommene Konturen, ja vielleicht geradezu verdoppelte Zeichnungen, die aber auf eine einheitliche Linie hinweisen, und da uns diese vor allem interessiert, so, könnte man meinen, führe dies zu einem unüber­ windlichen übersehen der in der Anschauung vorhan­ denen Zwiefältigkeiten. Auch die Verschwommenheit der Konturen wurde von der älteren Malerei nicht be­ achtet. Andere dagegen, wie namentlich H e r ing , be­ haupten , daß die Gesichtsanschauung, wenigstens die, welche durch d�s Sehen mit z w e i Augen entsteht, auch eine Ausdehnung der Tiefe nach besitze. Er meint, daß, wenn er in eine dunkle Ecke schaue, sie ihm ganz mit Dunkel e1·füllt erscheine. Ähnlich scheint einem, wenn er die Ohren zuhält und ein Gebrumm erregt, der ganze Kopf zu brummen, und das Ohrenbrausen in einem Ohr .

1. Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände

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scheint einem auch in drei Dimensionen ausgedehnt. So auch ein Kopfwel1, ein Zahnweh, eine erwärmte Hand ; auch scheinen die lokalen Berührungseindrücke durch rechts und links, vorn und hinten und oben und unten sich zu unterscheiden. Hier ist nun vor allem darauf aufmerksam zu machen, daß es etwas anderes ist, ,,in bezug auf die drei Dimen­ sionen bestimmt'; und ,,indrei Dimensionen ausgedehnt' ' zu sein. Nehmen wir an, bei dem Gesichtssinn hätten diejenigen recht, welche die Möglichkeit eines Hintereinandersehens leugneten, so }{önnten wir ihnen noch immer nicht zu­ gestehen, daß eine 48) Bestimmtheit i n b e z u g a u f d i e d r i t t e D i m e n s i o n mangele . Die Fläche, auf welche sich die Gesichtsanschauung beschränkte, erschiene doch wie eine, die zwei Seiten hat, von denen die vordere uns zugekehrt sei 49). Eine Zeitstrecke mit einer Linie ver­ glichen, erscheint wie sie, als ausgedehnt in einer Dimen­ sion, aber bei der Linie zeigt sich als unterscheidend, daß sie ein Eindimensionales ist, das als lol{al eine Be­ stimmtheit in bezt1g auf drei Dimensionen hat, während etwas derartiges bei der Zeit ganz ausgeschlossen ist. Man möchte wohl von vornherein zweifeln, ob die Vor­ stellung eines dreidimensional Bestimmten, welches nicht in drei Dimensionen ausgedehnt vorgestellt werde, mög­ lich sei, und richtig ist es, daß ihm der Charakter der Zugehörigkeit zu Dreidimensionalem nicht fehlen kann, aber das besagt immer noch nicht eine Ausdehnung in jeder der Dimensionen von b e s t i m m t e r G r ö ß e. Es ist sehr wichtig, sich diesen Unterschied recht klarzumachen, indem eine ä.h nliche Frage in bezug auf das Zeitliche wiederkehren wird , denn die Zeit besteht nur einem Zeit­ punkte nach, das Verga.ngene hat bestanden, das Zu­ künftige wird bestehen, das Gegenwärtige allein besteht und als Grenze zwischen de1· nichtbestehenden Vergangen­ l1eit und der nichtbestehenden Zukunft50). Und '\\'enn wir uns selbst in der inneren Wahrnehmung mit Evidenz erkennen , so kann, wie wir schon dargetan haben, diese

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II. Abschnitt: Phä.nomenoghosie des Bewußtseins

Evidenz nicht über die Gegenwart hinaus auf gewisse Teile der Vergangenheit und Zukunft mitausgedehnt sein ; manche haben nun daraus erschließen wollen, daß die Vorstellung der inneren Wahrnehmung ohne jeden Temporalmodus sei6 1), was aber, wie schon gesagt, so unmöglich ist, wie es unmöglich wäre, daß es ein Urteil ohne Qualitätsmodus gebe. Um zu unserer Frage zurückzukehren, scheint die Ant­ wort die wahrscheinlichste, daß bei gewissen Gattungen von sinnlichen Anschauungen eine räumliche Ausdehnung in d re i Dimensionen bestehe, bei anderen aber, und ins­ besondere bei den Gesichtsanschauungen nur eine Aus­ dehnung in z w e i Dimensionen, aber eine lokale Deter­ miniertheit6 2) auch in bezug auf die dritte Dimension ; und hiernach bleibt die Wahrheit unserer früheren Be­ stimmung unangetastet, wonach die lokale Bestimmt­ heit für alle Sinne homogen ist. § 20. Man könnte fragen, wie sich die Homogenität des Orts bei allen Sinnesanschauungen mit der Tatsache vertrüge, daß man von dem einen Sinne sage, daß die Lokalisation bei ihm eine gute, von dem anderen, daß sie eine schlechte sei ; doch daß diese Verschiedenheit sich mit der Homogenität wohl vertrage, beweist der Umstand, daß auf demselben Sinnesgebiet, wie nament­ lich dem des Sehens, die Lokalisation für verschiedene Teile des Sinnesfeldes hinsichtlich der ,,Güte'' große Differenzen zeigt. Man darf die geringere Güte nicht, \vie manche wollten, darauf zurückführen, daß eine und dieselbe Reizung zugleich verschiedene Ortsbestimmt­ heite11 auftreten lasse, welche sich mit denen, die ein anderer Reiz errege, vermengten. In solchem Falle könnten im Ohr53) wenigstens subjektive Bilder, welche sich, ähnlich denen des Gesichtssinnes, nicht nur aus­ gedehnt, sondern auch gestaltet zeigen, entstehen. Der wahre Erklärungsgrund ist, d a ß G e s t a l t u n d A u s ­ d e h n u n g auf r e l a t i v e n Lagen d e r G r e n z p u n kt e b e r u h e 11 und daß diese nicht einfa.ch durch den Besitz •

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Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände .

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der Vorstellung der einen und anderen, sondern d u r c h V e r g l e i c h e n erkannt wird. Zum Vergleichen aber be­ darf es besonderer psychischer Tätigkeiten, und die Er­ fahrung zeigt, daß besondere physiologische Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie stattfinden. In krank­ haften Fällen ist es hinsichtlich der Ortsbestimmungen auch da nicht mehr möglich, wo es sonst mit Leichtig­ keit geschieht. Darin also besteht der Unterschied der Fälle von sog. guter und schlechter Lokalisation, nicht aber in Unterschieden eines Mehr und Minder von be­ stimmter Spezifikation [der absoluten]54) Ortsbestimmt­ heiten. § 2 1 . Auch noch eine andere Frage erscheint nahe­ liegend. Wir haben die Intensitätsunterschiede als Unter­ schiede der Dichtigkeit gefaßt ; wenn ein Violett so in­ tensiv ist wie ein reines Rot, so ist das in ihm enthaltene Rot minder intensiv als jenes reine Rot ; es sind für das Rot Lücken vorhanden, die aber durch das Blau aus­ gefüllt sind. Wie ist es nun aber in Fällen, wie laut und leise 1 Hier sind die Lücken nicht durch einen Ton von anderer Qualität ausgefüllt ; sollen wir nun sagen, die Lücke bestehe nur für die Qualität oder auch für die lokale Bestimmtheit, so daß zwischen den qualitativ erfüllten Orten gar nichts anschaulich gegeben sei, oder sollen wir sagen, hier seien anschaulich nur örtliche Be­ stimmtheiten gegeben, indem nichts anderes als die Qualität entfalle ? Man muß hier wohl sagen , es liege kein Beweis dafür vor, daß Anschauungen von unqualifizierten Örtlichkeiten noch vorhanden seien. Es scheint unwahrscheinlich, daß einer, der noch nie einen Geruch empfunden, das Geruchsfeld sozusagen schon empfinde und anschaulich vorstelle. Es scheint dies so wenig richtig, als daß wir die Anschauung von einem in jeder Dimension unendlichen Raum haben, der bis auf gewisse kleine Teile von aller Q11alität frei sei55) . [Ar i s t o t e 1 e s hat die Intensität der Qua.lität, nicht aber dem Ort oder der örtlichen Ausdehnung und Gestalt zugeschrieben,

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Abschnitt: Phänomenognosie des Bewußtseins

und gemeiniglich bringt man noch heute die Intensität mit der Qualität in nächste Verbindung ; daraufhin scheint zu sagen, daß man überwiegend der Annahme, daß die qualitätfreien Stellen noch als Ortsbestimmt­ heiten positiv gegeben seien, günstig56) denke.] § 22. Nach dem, was wir über den Unterschied guter und schlechter Lokalisation gesagt haben, zeichnet sich die gute dadurch aus, daß eine Vervielfältigung des Denkens von örtlichen Bestimmungen eintritt, indem örtliche Bestimmungen in Relation zu anderen gedacht werden. Bei diesem neu hinzukommenden Denken57) wird, wie bei allem r e l a t i v e n Denken, nicht bloß etwas in m o d o r e c t o , sondern auch etwas in modo o b l i q u o vorgestellt. Aber weder das, was in modo recto, noch das, was in modo obliquo vorgestellt wird, ist ein derart Neues, daß es nicht in der konfusen Vorstellung auch schon als Gegenstand gegeben gewesen wäre. Auch muß man nicht glauben, daß, wenn darin ein Teil des örtlich Ausgedehnten als abstehend von einem anderen Teil gedacht wird, dies Denken ein abstraktes sei58) ; es ist vielmehr konkret und keineswegs seinem Objekt nach frei von sinnlicher Qualifikation. Auch die Tiere haben an diesem beziehenden Denken teil, sonst würden sie verschieden gestaltete59) und verschieden große Gegen­ stände nicht auseinanderkennen ; allein damit ist nicht gesagt, daß sie jemals etwas in Abstraktion von der sinnlichen Qualität vorzustellen vermöchten. Auch jenes beziehende Denken, welches, inden1 es hinzukommt, die sonst schlechte und konfuse Lokalisation zur guten und deutlichen macht, ist ein E m p f i n d e n . Man erkennt hier aber, daß der Unterschied von modus rectus und modus obliquus des Vorstellens schon dem Gebiet des Empfindens angehört, wie demselben ja auch ganz ent­ schieden auch der Unterschied der Tempo1„almodi bereits zukommt. Fragt man, ob das Tie1„, wenn es mit seinem Emp­ finden verschieden gestaltete und verschieden große

1 . Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände

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Gegenstände unterscheidet, auch den Unterschied in Ansehung der Zahl irgendwie erfasse, so glaube ich, daß man dies zugestehen müsse und daß man ·es darum nicht ganz mißbilligen könne, wenn A r i s t o t e l e s in den Bü­ chern von der Seele Einheit und Zahl unter den gemein­ samen Sinnesobjekten aufführt. Man wird da.gegen geltend machen, daß ja doch erfahrungsgemäß kein Tier zählen kann. Es kann aber auch seinen Herrn, obwohl es ihn von allen anderen unterscheidet, nicht zeichnen und wäre, obwohl es gewiß Menschen und Tiere und Pferde und Katzen unterscheiden kann, doch nicht fähig, eine das eine Geschlecht vom anderen unter­ scheidende Definition zu geben. Zur A b z ä h l u n g gehört ein eigentümliches vernünftiges methodisches Verfahren, zu welchem die Fähigkeit mangeln ]{ann, während doch die B e s o n d e r h e i t d e s E i n d ru c ks , welchen ein Gegenstand, der einen anderen als Teil begreift, diesem gegenüber auch schon sinnlich hervorruft, infolge eines beziehenden Empfindens schon bemerkt werden kann60). § 23. Da wir hier nur von den Momenten handeln, welche die G e g e n s t ä n d e der äußeren Anschauung zeigen, so bemerken wir nocl1mals, daß wegen der Diffe­ renz der k o n f u s e n und d e u t l i c h e n Anschauungen nicht von besonderen g e g e n s t ä n d l i c h en Momenten, die in der einen oder anderen sich fänden, gesprochen werden kann. Oder ist es doch vielleicht richtiger, zu sagen, beim beziehenden Denken werde in dem, was in modo recto vorgestellt werde, etwas vorgestellt, was a l s s o l c h e s nicht Gegenstand einer Vorstellung von Abso­ lutem sei, wie z. B. die Vorstellung von etwas Größerem nicht gleich sei der Vorstellung von etwas Großem, ob­ Ich glaube nicht, daß wohl es dieselbe einschließe � man, so wahr dies sein möge, behaupten dürfe, daß, wenn et"'·as konfus und deutlich vorgestellt werde, der Gegenstand des konfusen Vorstellens nicht schon alles das enthalte, was der Gegenstand des deutlichen Vor­ stellens enthält. Denn alle Beziehungen, welche in

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II. Abschnitt : Phinomenognosie des Bewußtseins

diesem sich merklich machen, waren schon in der kon­

fusen Vorstellung gegeben, aber machten sich eben bei ihr nicht ebenso wie bei der deutlichen bemerkbar. Freilich w i r d , w e n n einer etwas deutlich an­ schaut, von ihm auch solches angeschaut, was von d e m u n d e u t l i c h A n s c h a u e n d e n n i c h t an ­ g e s c h a u t w i rd , allein dies gehört der i n n e r e n An­ schauung an, da ja beim deutlichen Vorstellen in der Tat der Anschauung Objekte vorliegen, welche beim konfusen Vorstellen gar nicht vorhanden sind6 1) ; wir sagten ja, es kämen z. B. bei der de1.1tlichen Lokalisation neue empfindende Tätigkeiten hinzu. § 24. Wir sind auf die Unterscheidung der Klassen von sinnlichen Anschauungsgegenständen eingegangen, indem wir sie nach den Gattungen der sinnlichen Quali­ täten unterschieden und dieselben als drei feststellten. Wir könnten nun auch noch weitergehen, indem wir untersuchten, in welcher Zahl die einfachen qualitativen Elemente bei jedem Sinne gegeben seien. Wir würden dann z. B. für den Gesichtssinn nach""·eisen können, daß sie sich auf f ü n f reduzieren : Schwarz und Weiß, Rot, Blau und GelbG2). Ferner, daß beim Gehör ein Analogon des Schwarz und ein Analogon des Weiß gegeben sind und außerdem noch eine nicht unbedeutende· Zahl von Elementen, welche sich als Analoga der gesättigten Farben dar­ stellen . In der Oktave kehren sie, mit Erscheinungen von Tonschwarz und Tonweiß gemischt, wieder und sind relativ rein in den mittleren Oktaven gegeben6 3). In betreff des dritten Sinnes weist zwar der Unter­ schied von Hell und Dunkel auch auf Analoga von Schwarz und Weiß hin, aber wir haben es mit einem r e i n e n Analogön von Schwarz noch weniger als bei einer von unseren Tonerscheinungen zu tun, und hin­ sichtlich der systematischen Ordnung der Qualitäten ist die Psychologie wegen besonderer Schwierigkeit noch zu keinem befriedigenden Ergebnisse gelangt.

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Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände

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Für unsere Zwecke erscheint es aber ohne Belang, mehr auf diese Frage einzt1gehen, wie wir denn ähnlich auch auf die Frage nach der besonderen örtlichen Be· stimmtheit und der Begrenzung unserer Sinnesfelder nicht einzugehen für angezeigt finden64). § 25. Wir haben, als wir die psychischen Tätigkeiten in sensitive sinnliche und intellektive (noetische, verstand­ liche) unterschieden, gesagt, daß auch die inneren Wahr­ nehmungen der sinnlichen Tätigkeiten selbst zu den sinn­ lichen Tätigkeiten gerechnet werden, und so haben wir denn auf sinnlichem Gebiet auch Psychisches zum Gegen­ stand. Ja, nicht bloß als sekundäre Gegenstände haben wir auf dem Empfiridungsgebiet Psychisches, sondern auch als primäre Gegenstände. Denn dasselbe, was als Gegenstand innerer Wahrnehmung erscheint, er­ scheint uns auch als Gegenstand einer Gedächtnistätig­ keit und wird, ebenso wie wenn wir es einem von uns verschieden gedachten psychisch Tätigen zuschreiben, nicht sekundär, sondern primär zum Objekt gemacht. Es ist dies von vielen Psychologen verkannt "1'orden und noch heute lehrt man vielfach Entgegengesetztes , indem man meint, daß, wenn man an früher Erlebtes zurückdenke, man nur die früher geübten Tätigkeiten in abgeschwächter Weise erneuert in sich erfahre. Man hat nicht bemerkt, was für lächerliche Folgerungen sich daraus ergeben. Würde sich doch einer, wenn er sich eines früher von ihm gehegten Irrtums erinnert und ihn als Irrtum verwirft, aufs neue in dem Irrtum befinden ; auch müßte man sich hüten, seine früheren Sünden zu bereuen, da man es nicht tun könnte, ohne sie, soweit das Wollen dabei beteiligt war, wieder zu begehen. Auch haben wir im unmittelbar Vorausgehenden, wo wir von dem Unterschied k o n f u s e r und d e u t l i c h e r L o k a l i s a t i o n handelten, gesehen, wie sich die psychi­ schen Tätigkeiten, die sich auf Örtliches und sinnlich Qualitatives beziehen, komplizieren, wenn zu dem Erfassen derselben ein Beziehen des einen auf das andere

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

sich gesellt. Und auch dieses Beziehen gehört noch zum sinnlichen Gebiet. Es kann sekundäres Objekt und kann daraufhin auch primäres Objekt werden. § 26. So haben wir denn, nachdem wir von den sinn­ lichen Gegenständen, soweit sie nicht psychisch sind, gehandelt haben, nun auch noch Erörterungen über die sinnlichen Gegenständ e , soweit sie psychisch s i n d , hinzuzufügen65). Die lVIannigfaltigkeit ist hier eine viel größere als da, wo es sich um nichtpsychische, sinnliche Gegenstände handelte ; und dies schon darum, weil jeder Differenz auf nichtpsychischem Gebiet eine Differenz auf psychischem entspricht (wenn Farbe etwas anderes ist als Ton, so ist auch das Sehen etwas anderes als das Hören I) und zu diesen Differenzen noch andere hinzukommen. D a ß w i r s c h o n a u f s i n n l i c h e m G e ­ biet dem Unterschied von Vorstellen , Urteilen und Gemütstätigkeit begegne n , haben wir schon b e m e rk t. Auch daß das Urteil hier manchmal e v i ­ d e n t sei, wurde bereits hervorgehoben66). Dem evi­ denten Urteil steht aber ein blindes gegenüber ; so beim Vertrauen auf das Gedächtnis, beim Glauben an die Außenwelt und, wie mir scheint, auch bei dem Ab­ schätzen von Differenzen. Jeder kann sich davon über­ zeugen, daß hier oft die größten Täuschungen unter­ laufen und anderemal die Abschätz11ng eine nicht genau bestimmte ist ; sieht man näher zu, so ist die volle Be­ stimmtheit und Genauigkeit gar nie erreichbar. Es handelt sich nur um ein Mehr und Minder, und das alles scheint mit der Evidenz nicht verträglich67). Daß sich auf dem sinnlichen Gebiet auch der Unterschied der Vorstellung in modo recto und in modo obliquo zeige, ist schon damit . gesagt, daß wir ihm67a) und einem Teil seiner Gegenstände den Charakter der Beziehung zu­ schrieben . Jeder psychische Gegenstand ist, als solcher, etwas sich auf ein Objekt68) Beziehendes, und wir haben auch noch bei der Verdeutlichung neue Beziehungen hinzutreten gesehen. Wie der Unterschied zwischen

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modus rectus und modus obliquus, so zeigt sich aber auch der U.nterschied in den T e m p o r a l m o d i s69) des Vorstellens, und nur indem dieser sich bemerklich macl1t, kommen wir zur Vorstellung von Ruhendem und über­ haupt Beharrendem und Bewegtem und sonstwie sich Veränderndem. Ein Körper erscheint uns ruhend, wenn wir sinnlich w a h rn e h m e n , daß wir ihn örtlich gleich mit einer Kontinuität von Temporalmodis empfinden. Es fragt sich, ob auf dem sinnlichen Gebiet, soweit es psychische Tätigkeiten zum l1at, sich auch Gegenstand . die q u a l i t at i v e n Modi der Urteile finden, näher ge­ sagt, ob sich 11ier nur die affi r m a t i v e Qualität oder auch die 11 e g a t i v e finde. Da sich auf dem sinnlichen Gebiet schon der Unterschied von dem e v i d e n t e n und b l i n d e n Urteilen findet und auch der von e i n ­ f a c h e n und b e z i e h e n d e n Urteilen, so könnte man daraufhin von vornherein geneigt sein, ihm auch den Unterschied von B e j ah e n und V e r n e i n e n zuzusprechen. Doch nicht alle Psychologen tun dies, und, um nur einen berühmten Namen zu nennen, so hat N i c o l a u s C u s a ­ n u s in seiner docta ignorantia, wo er Sinn, Verstand und eine dritte, von ihm hinzugefügte höhere intellek­ tive Kraft, die wir hier Vernu11ft nennen wollen, zu­ sammenstellt, den Sinn gegenüber dem Verstand gerade­ zt1 dadurch charakterisiert, daß der Sinn allezeit beiahe. . der Verstand sowohl bejahe als verneine ; und von seinem dritten höheren Vern1ögen lehrte er, daß es nur ver­ neinend tätig sei. Fragen wir die Erfahrung, so scheint dieselbe aber durchaus nicht mit dem, was N i c o l a u s C u s a n u s sagt, im Einklang ; vielmel1r scheinen die Tiere, so gewiß sie nicht nur an der Liebe, sondern auch am Haß teilhaben, auch nicht bloß an der Anerkennung, sondern auch an der Verneinung teilzuhaben. Wenn ein Tie1', das sich fürchtet, davonläuft, so geht es nicht sowohl darauf aus, positiv an einem bestimmten anderen Ort zu seiri, sondern nicht hier zu sein. Und wenn ein Hund durch alle Zimmer läuft, um seinen Herrn zu ..

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

suchen, und, nachdem er in eines hineingeblickt, es ver­ läßt, um nun anderwärts zu suchen, so täuschen wir uns gewiß nicht, wenn wir annehmen, er sei zu dem Urteil gelangt, daß sein Herr nicht darin sei70). Dem Tier aber schreibt man gemeiniglich nur ein s e n s i ti v e s Leben zu, so scheint denn auch die Besonderheit des negativen Urteils sich schon auf dem sinnlichen Gebiet zu finden. Und wenn die konfuse Vorstellung zur deut­ lichen erhoben wird, so wird dem negativen Urteilen bei der Unterscheidung der Teile, wo jeder als etwas anderes erka11nt wird, eine bedeutende Teilnahme zuzuschreiben sein 7 1) . § 27. Wir haben kaum nötig, mit einem Wort darauf hinzuweisen, daß, wie andere psychische Tätigkeiten, auch solche primäres Objekt werden können, welche selbst sich auf Psychisches als primäres Objekt beziehen. So kann man sich erinnern, sich e1·innert zu haben. Die größeren Komplikationen, welche in solchen Fällen ent­ stehen, bieten keine besonderen Schwie1·igkeiten. § 28. Die sinnlichen Gemütsbewegungen sind das, was man auch Affekte nennt ; es gehören dazu schon Lust und Schmerz72), die man oft, statt mit den Gemüts­ bewegungen, mit den sinnlichen Qualitäten zusammen­ gestellt hat, indem man n1einte, wie man Farben sehe und Töne höre, so fühle man auch Lust und Schmerz73). Sofort muß es einem klar werden, daß hier ganz Irriges gelehrt wird, wenn man erwägt, daß die Existenz von Lust und Schmerz nicht ebenso wie die von einem Roten und Blauen in Zweifel gezogen werden kan11 . Lust und Schmerz sind nicht bloß keine sinnlichen Qualitäten, sondern sie sind auch keine psychischen Beziehungen, welche sinnliche Qualitäten in modo recto zum Gegen­ stand hätten ; v.ielmehr gehen sie auf Psychisches als Objekt : d a s E m pf i n d e n v o n g e w i s s e n s i n n li c h e n Q u a l i t ät e n i s t a n g e n e h m o d e r u n a n g e n e h m. Dieses Empfinden ist selbst nicht bloß sinnliches Vor­ stellen und Anerkennen, sondern auch sinnliche Gemüts-

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beziehung und geht geradezu auf sich selbst als Objekt. Dieser Umstand hat viele in einen anderen Irrtum ge­ führt. Sie behaupteten, daß es gar kein Objekt habe ; so Sir W i l l i a m H a m i l t o n74) ; bei Lust und Schmerz sei, sagte er, alles subjektivisch subjektiv (subjectively subjectiv) ; er bemerkt nicht die Ungereimtheit, die da1·in liegt, von einem Subjekt zu sprechen und das Objekt zu leugnen, während das Subjekt ja nur wegen seiner Beziehung zum Objekt Subjekt ist. Lust und Schmerz sind also wirkliche Affekte, zu ihnen komn1en aber noch viele andere hinzu : Verlangen, Fliehen, Hoffen , Fürchten, Zorn u . dgl.75). § 29. Das sinnliche Vorstellen, insofern es sich at1f Psychisches bezieht, zeigt in modo recto keinerlei Ört­ lichkeit, wohl aber in modo obliquo76). Man ist dara11 irre geworden, indem man, wie wir zuvor sahen, Lust und Schmerz mit dem sinnlich Qualitativen, das lokali­ siert erscheint und worauf sie sich in modo obliquo be­ ziehen, verwechselte. Und so sagte man, man habe ein Kopfweh auf der linken Seite und einen Schmerz in1 Fuße77). Allein der Fuß kann abgenommen sein , und der Schmerz wird noch mit Evidenz wahrgenommen, aber gewiß nicht mit Evidenz im Fuße wahrgenommen, da. dieser ja �icht mehr ist. Ortlicne Kontinuität kommt also hier dem Objekt nicht zu ; allein damit ist nicht gesagt, daß ihm gar keine Kontinuität zukommt ; denn sowenig das Sehen örtliche Teile zeigt, so sicher entspricht doch jedem ande1'en Teil der gesehenen räumlichen Ausdehnung ein anderer Teil des Sehens. Aber wenn das Sehende als Sehendes kon­ tinuierlich genannt werden n1uß, so doch nicht im Sinne eines kontinuierlich V i e 1 e n , sondern nur eines k o n t i n u i e r l i c h V i e l f a c h e n ; lassen sich doch in dem Sehenden i1icht viele Sehende, sondern nur ein vielfach Sehender erkennen ; wären der Sehenden viele, von denen der eine nur den Kopf und der andere nur die Beine sähe, so würde keiner sein, welcher die ganze Gestalt sähe78). .

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Äh111ich müssen wir auch sagen, daß, wenn wir uns sinnlich als Sehende und Hörende und uns Erinnernde und von mannigfachen Affekten Bewegte innerlich wahr­ nehmen, wir nicht viele, sondern nur ein vielfaches Ding wahrnehmen. § 30. Wenn wir aber e r k enn e n , daß hier ein einziges Ding unser Objekt ist, so zeigt sich zugleich, daß wir dasselbe doch nur im allgemeinen wahrneh men ; denn ohne Widerspruch können wir uns vorstellen, daß ein anderer alle die Bestimmungen ganz ebenso habe wie der, den 'vir wahrnehmen. So könnte auch ein anderer die gleichen Gesichtsvorstellungen, Gehörvorstellungen, sinnlichen Urteile und sinnlichen Affekte haben. Alles das macht also die Individualität dessen, was wir inner­ lich wahrnehmen, nicht aus79). § 3 1 . Hinsichtlich der primären Objekte, die nicht psychisch sind, gilt, was das Räumliche anlangt, das gleiche80) . § 32. Auch noch in einer anderen Beziel1ung zeigt sich das P s y c h i s c h e , das wir sinnlich wahrnehmen, als ein K o n t i n u i e r l i c h e s ! Wir hörten, daß wir primäre Ob­ jekte, die nicht psychisch sind, mit verschiedenen Tem­ poralmodis vorstellen und daß uns so etwas als l'uhend oder bewegt erscheint. Eine ganze Kontinuität von Temporalmodis läßt hier das Vorstellen ltnterscl1eiden l1nd erscheint darum selbst als ein Kontinuierliches. Auch hier zeigt sich aber wieder, daß es nicht als eine kontinuierliche Vielheit, sondern als eine k o n t i n ll i er l i e h e V i e l f ä l t i g k e i t erscheint und als solche erscheint es eindimensional, während es in Rücksicht auf die ört­ liche Kontinuität des primären Objektes mehrdimensional erscheint, und zwar entweder durchwegs dreidimensional oder wenigstens" wenn sie irgendwo nur zweidimensional erscheinen sollte, wie nan1entlich bein1 Sehen, doch i11 der Art, daß das gesehene Zweidi1nensionale unverl{enn­ bar den Charakter eines zu einem Dreidimensionalen Zugehörigen trügesl ).

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§ 33. Da erhebt sich nun aber die Frage, ob das Psychische, das wir innerlich wahrnehmen und welches llns n i c h t als ö r t l i c h erscheint, sondern nur als etwas, was sich auf Örtliches bezieht, uns� auch n i c h t als z e i t 1 i c h erscheine, wenn auch als etwas, welches sich auf Zeitliches bezieht. Nach dem, was wir bereits über die Temporalmodi festgestellt haben82), läuft die Frage darauf hinaus, ob die Vorstellung, Anerkennung und evtl. die Gemüts­ beziehung, welche sekundär von uns erfaßt werden, mit modis temporalibus erfaßt werden. 'Vir sagten nun be­ reits, daß das Vorstellen so wenig ohne jeden modus temporalis sein könnte als das Urteil ohne qualitativen l\fodus , und somit erscheint die Frage als zu bejahen. Wenn man aber weiter fragt, ob wir uns in der inneren Wahrnehmung mit e i n e m oder m e h r e r e n Temporal­ modis vorstellen und wahrnehmen, so ist zu antworten, daß wir uns nur mit e i n e m wahrnehmen und daß dieser der m o d u s p r a e s e n s sei. Dabei geschieht es aber, daß da eine Gegenwart nur als Grenze eines zeit­ lichen Kontinuums möglich ist dieser Charakter der Zugel1örigkeit zu einem eindimensional Kontinuierlichen dem modus praesens in ähnlicher Art eigen ist, wie bei der von uns gesehenen, zweidimensionalen Ausdehnung der Charakter der Zugehörigkeit zu einem Dreidimensio­ nalen nicht mangelt83). Man könnte meinen, daß dies nicht wohl denkbar sei, indem, wenn man etwas als einem Dreidimensionalen zugehörig erfasse, aucl1 etwas Dreidimensionales vor­ gestellt sein müsse, und ebenso, wenn man ein Null­ dimensionales als zugehörig zu einem Eindimensionalen erfaßt, die Vorstellung eines Eindimensionalen unentbehr­ lich sei. Doch hier scheint zu erwidern , daß der Charakter der Zugehörigkeit zu einem l(ontinuum als Grenze des­ selben, n�cht die Vorstellung des Kontinuums in irgend­ welcher b e s t i m m t en Ausdehnung verlangt, z. B. wo es sich um Rät1mliches handelt, nicht die e i n e r Ausdehnung

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Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

von einem Meter oder Zentimeter oder Millimeter usf. ; so daß, genau besehen, nur die Vorstellung von etwas verlangt wird, was u n i v e r s e ll , ohne jede individuelle Determiniertheit, erscheint. Wir haben schon gesehen, daß ein solches universelles Vorstellen möglich ist, da wir sahen, daß wir selbst uns nicht mit unserer indivi­ duellen Differenz erscheinen. Dann aber scheint auch noch beizufügen, daß, wenn eine Grenze n1it dem Cha­ rakter der Z11gehörigkeit zu einem Kontinuum, dessen Grenze sie ist, vorgestellt wird, dieses Kontinuum nicht in recto, sondern nur in obliquo vorgestellt werden müsse84). § 34. Es ist neuerlich die Tatsache, daß man sich selbst innerlich als gegenwärtig wahrnehme, in Abrede gestellt worden , und, so befremdlich dies dem Unbefangenen er­ scheinen mag, so war es doch die notwendige Konsequenz davon, daß man die Zeitbestimmungen ähnlich wie die örtlichen Bestimmungen als Unterschiede der Gegen­ stände und nicht als Unterschiede der Modi, mit welchen sie vorgestellt werden, fassen wollte85). Bezeichnete ,,gegenwärtig'' ähnlich eine besondere Eigenschaft, wie jede Ortsbestimmung es tut, so müßte von dem Gegen­ wärtigen gesagt werden, daß es so gut wie sicher nicht existiere86). Allein die innere Wahrnehmung ist evident, und somit wäre es ausgeschlossen, daß sie uns etwas als gegenwärtig zeigt. Alle solche Schwierigkeit entfällt aber mit der Erkenntnis, daß es sich bei den temporalen Modis nicht um Unterschiede der Gegenstände, sondern um Unterschiede der Modi des Vorstellens handelt, und somit kann sie uns nicht beirren, sondern 11ur als Argu­ ment dafür dienen, daß unsere Lehre von den Temporal­ modis unabweislich ist. § 35. Was soll man aber von dem Psychischen sagen, wo es als primäres Objekt erscheint 1 Erscheint es auch da nur einzig mit dem Modus praesens oder auch mit anderen, ja mit einer ganzen Kontinuität von Temporal­ Wenn ich mich an etwas erinnere, modis vorgestellt 1

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so glaube ich an ein eigenes Erlebnis als vergangen, denke es in verschiedenen Entfernungen von der Gegen­ wart zurückliegend, der Abstand kann die Größe von vielen Jahren erreichen. Und wenn ich mir vornehme, etwas künftig zu unternehmen, so stelle ich mir etwas Psychisches vor, als einer fernen Zukunft zugewiesen. Das könnte einen veranlassen, zu glauben, daß hier das Psychische mit einer noch viel umfangreicheren }{on­ tinuierlichen Mannigfaltigl{eit87) von Temporalmodis vor­ gestellt werde, als wenn ich etwas ruhend oder bewegt sehe. Allein bei einiger Achtsamkeit erkennt man, daß wir hi11sichtlich der frül1eren Erlebnisse oft in Zweifel sind, welches früher und welches später stattgefunden habe ; das Näherliegende erscheint u11s also nicht mit dem Temporalmodus, welcher sich von dem, mit welchem das Fernliegende erscheint, den1 Verlauf der geschicht­ licl1en Tatsachen entsprechend unte1'schiede. Und weiter noch wird man sich davon überzeugen, daß, . · wer von früheren Erlebnissen erzählt, sie sich, wie sich at1ch die gemeine Sprache at1sdri.ickt, ,,vergegenwärtigt''. So wird man denn dazt1 geführt, zu erkennen, daß bei dem Sprechen von früheren Erlebnisse.n von keinen anderen Temporalmodis Gebrauch gemacht ':vird als von solchen, die wi1' auch bei dem Anschauen von Nichtpsychischen verwenden. Es assoziiert sich uns, und mit über"1·iegen­ der Leichtigkeit nach der Ordnung des Früheren und Späteren ein Erlebnis an das andere88). D·abei wird Un­ bedeutendes übersprungen, und jedes Neuauftretende scheint mit dem Modus der Gegen,vart aufzutreten, aber dann dürfte, ähnlich wie sonst, eine Mannigfaltigkeit von Zeitmodis das Neuerzählte mit dem unmittelbar zuvor Erzä.hlten in eine Art kontinuierlicher Zeitreihe bringen. § 36. Was wir bisher betrachteten, gehörte dem sensi­ tiven (sinnlichen) Gebiete an ; neben ihm hat man ein intellegibles (intellel{tives) unterschieden und hat auch hier primäre und sekundäre Gegenstände einander gegen­ übergestellt. Zu den primären gehörten vor allem

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

solche, die nicht psychisch sind. Ein solcher sollte ge­ geben sein, wenn man ein Weißes oder Rotes oder in anderer Weise spezifisch Gefärbtes in Abstraktion von einer bestimmten Ortlichkeit denke. Der Gegenstand war infolge dieser Abstraktion ein universeller. Die Ab­ straktion sollte auch noch weitergehen u11d, von den spezifischen Differenzen absehend, nur ein Farbiges im allgemeinen denken können. Auch noch in anderer Weise, sagte man, könne die Abstraktion sich vollziehen : Sie könne, von aller Qualifikation absehend, nur die örtliche Bestimmtheit festhalten, entweder in specie oder auch nur in genere. Und so könne man auch in abstrakter Weise gewisse Spezies von Ausdehnung und Gestalten denken. Auch hier glaubte man gemeiniglich, ma.n habe es mit allgemeinen Gegenständen zu tun, obwohl dies, wenn man an einer spezifischen Ortsbestimmung festhält, bezweifelt werden kann, wenn anders zwei Dinge sicl1 nicht örtlich durchdringen können89). Auch von Qualität und Ort glaubte n1an abstrahieren zu können und so zu dem Begriff eines Dinges im allgemeinen zu gelangen90). § 3 7 . Einig war man indes hier keineswegs ; vielmehr wurde von vielen die ganze Möglichkeit solcher begriff­ licher Abstraktionen geleugnet. Ja, man sagte, man könnte gar nicl1ts Allgemeines, sondern nur Einzel11es denl\:en9 1 ). Daß dies letztere falsch ist, ergibt sich be­ reits aus unse1„en früheren Erörte1"'ungen ; haben wir doch gesehen, wie wir u11s selbst in der inneren Wahrnehmung auch altf sinnlichem Gebiet nicht unserer individuellen Differenz nach erfasse11. Es kommt aber hinzu , daß die Ansicht, es gebe nur allgemeine Namen, aber }{eine allgemeinen Begriffe, sich selbst widerspricht, da ein Name nur dann allgemein genannt werden lran11, 'venn ihm ein allgemeiner Begriff entspricht. Wenn ma.n das nicht zugeben wollte und sagte, es genüge zur Allgemeinheit, daß ihm eine Viel­ heit von Einzelvorstellungen assoziiert sei , so verkennt ma11 den U11terschied zwische11 V i e l d e u t i g k e i t u11d ••

1.

Kapitel : Sinnliche und noetische Gegenstände

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A l l g e m e i n h e i t und sieht auch nicht, daß man, inderr1 man sagt, viele Einzelvorstellungen seien demselben Namen assoziiert, eben dadurch etwas Allgemeines von diesen Einzelvorstellungen aussagt . ...t\.uch müßte die Wahr­ heit eines allgemeinen Satzes nicht anders als durch eine Vielheit von Beweisen, von denen je einer je einem dar­ unter gehörigen Gegenstande zukäme, dargetan werden ; das wäre ganz undurchführbar, während infolge des Den­ kens allgemeiner Begriffe der Beweis einheitlich erfolgt. § 38. Eine andere Frage ist, ob wir die durch A b ­ s trakti o n gewonnenen Universalien zu denken ver­ mögen, ohne gleichzeitig eine sinnliche Anschauung zu haben, aus der sie nicht bloß geschöpft worden sind, sondern in denen sie fort und fort uns zur Anschauung gebracht werden. Daß es nicht nötig sei, könnte einer versucht sein, schon daraus zu folgern, daß wir u n s s e l b s t einem allgemeinen Begriffe nach vorstellen, ohne eine individuell determinierte Anschauung zu besitzen. Fen1er l{önnte man sich auf die Erfahrung beziehen, da, \venn wir den Begriff des Dreiecks im allgemeinen denken, keineswegs ein einzelnes Dreieck gleichzeitig gedacht werden muß, vielmehr niemand fähig ist, auch nur eine einzige gerade Linie sich anschaulich zu machen, wie er sie ja auch nicht zu zeichnen vermag, indem immer Unregelmäßigkeiten nicht fehlen werden. So ist es denn gewiß auch nicht wahr, daß, wer immer den Begriff eines Hauses im allgemeinen denkt, sich ein einzelnes Haus, und wäre es auch nur von einer Seite, mit genau bestimmten Größenverhältnissen der Teile anschaulich vorstelle. Demnach ist wohl das Gegenteil sicher, und die angeblichen entgegengesetzten Erfah­ rungen erledigen sich damit, daß wir, wenn wir ein Haus oder auch ein Dreieck im allgemeinen denken, es nicht anders a l s d u r c h e i n e K o m b i nat io n von A t t r i ­ b u t e n tun, von denen dann jedes einzelne aus einer Anschauung geschöpft ist92) . Es kommt dazu, daß wir in solchem Fall den komplizierten Begriff, der dem Namen

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

assoziiert ist, sehr gewöh.nlich sehr unvollständig denken ; es genügt, daß die nicht wirklich gedachten Momente alsbald sich in Gedanken zugesellen, wenn im Verlauf des Nachdenkens über die Sache ihr aktuelles Denken er­ forderlich ist. Recht deutlich wird man sich davon sofort überzeugen, wenn man beispielsweise sich fragt, ob man, wenn man von Staat oder Kirche spricht, die ganze Fülle von begrüflichen Momenten wirklich gegenwärtig habe, welche in ihren Begriffen umschlossen sind93). Dies sei hier nur vorübergehend bemerkt, da es besser ist, die ein­ gehendere Untersuchung in anderem Z11sammenhange zu führen�4) ; hier kam es uns nur darauf an, den Bestand der sog. intelligiblen Gegenstände überhaupt zu sichern95). § 39. Es bedarf keines ausführlichen Beweises, um zu erkennen, daß, wie zu den sensitiven Vorstellungen von nichtpsychischen Objekten, auc11 zu den intellektiven noch weitere hinzukommen, welche die intellektiven Tätigkeiten selbst zum Gegenstand haben. Sie sind als sekundäre Objekte und dann zuweilen96) auch als primäre Objekte gegeben. Alles verhält sich hier ganz analog. § 40. Wenn wir nun aber erwägen, daß es auch zu Kombinationen von sinnlichen Objekten und intelligiblen Objekten in unserem Denken }{ommt, und uns fragen, welchem Gebiet die kombinierende '11ätigkeit zuzuteilen sei, so kommen wir in Verlegenheit : sensitive und in­ tellektive Tätigkeit scheinen dabei vereinigt. Klar aber ist eben darum, daß, da die sensitiven Tätigkeiten Vor­ aussetzung der intellektiven sind, während diese zu jenen nicht erfordert werden, solche Fälle dem sensitiven Gebiet als solchem und allgemein betrachtet, nicht angehören. § 4 1 . Die Gegenstände, zu welchen wir durch Abstrak­ tion gelangen, s�nd teils mehr, teils minder allgemein. Da fragt es sich, ob wir zu allgemeinsten Begrüfen gelangen und ob sich ein und derselbe Begriff als der allerallge­ meinste ergebe, oder ob wir zu vielen allgemeinen Begriffen gelangen, die voneinander verschieden sind, von denen aber keiner einer weiteren Verallgemeinerung fähig ist ?97)

Zweites Kapitel.

Näheres über den Abstraktionsprozeß und .die Allgemeinheit a11er Wahrnehmungen und Empfindungen.1) § 1. Man streitet darüber, ob wir Allgemeines denken ; ferner darüber, wie wir es tun, selbständig oder im Hin­ blick auf Einzelnes, in dessen Anschauung wir es ent­ halten finden. Wiederum streitet man darüber, ob dem Allgemeinen, das wir denken, etwas, was ist, entspreche, und von denen, die dies bejahen, behaupten wieder die einen, daß nur Einzelnes es sei, was ihnen entspreche, während andere behaupten, daß außer dem Einzelnen auch ein aller individueller Bestimmtheit Entbehrendes bestehe. § 2. Jede der genannten sich widerstreitenden Mei­ nungen zählt heute noch Anhänger. Damit ist aber nicht gesagt, daß nicht schon mancher definitiv widerlegt sei. Daß nur Einzelnes sei und nicht neben ihm ein für sich bestehendes indeterminiertes Allgemeines, hat schon A r i s t o t e l e s dargetan, und ebenso sind diejenigen längst widerlegt, welche behaupten, wir könnten nichts Allge­ meines 2) denken, den sog. allgemeinen Namen sei nur eine Vielheit von Einzelvorstellungen assoziiert. Dies wiirde sie zu äquivoken Namen machen, und ein ein· heitlicher Beweis für eine in allgemeinen Namen aus­ gesprochene Wahrheit wäre unmöglich. Das Beispiel jedes mathematischen Lehrsatzes genügt zur Wider­ legung. B e r k e l e y , der sich selbst einen Nominalisten nannte, war es doch, genau besehen, in Wahrheit nicht, denn er leugnete nicht schlechtweg, daß wir Allgemeines

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

denken, sondern nur, daß wir es anders als im Hinblick auf Einzelnes tun. Das aber haben auch viele der Rea­ listen des Mittelalters gelehrt und sich dabei mit A r i s t o ­ t e l e s einig geglaubt. Wirklich lehrt dieser, daß wir, um einen von einer Anschauung abstrahierten Begriff zu denken, immer eine ihn enthaltende Anschauung gegen­ wärtig haben müßten, um il1n darin zu erfassen, und es war dies die Verallgemeinerung einer Lehre P 1 a t o n s , welcher uns die geometrischen Figuren im Allgemeinen nur im Hinblick auf die von uns vorgestellten einzelnen erfassen und der Berechnung unterziehen ließ. § 3. Allein A r i s t o t e l e s war der l\Ieinung, daß die Al{zidenzien durch die Substanz, deren Akzidenzien sie sind, individualisiert seien, natürlich durch die indivi­ duelle Bestimmtheit der Substanz. Und dies hat zur unabweislichen Folge, daß, wer die individuelle Be­ stimmtheit der Substanz nicht mit vorstellt, weder Sub­ stanz noch Akzidenz anders als universell denken kann. Da nun A r i s t o t e l e s weiterhin noch der Meinung war, daß wir keine Substanz anders als ihrem allerallgemeinsten Begriff nach erfaßten, so ergibt sich, daß nach ihm alle unsere Vorstellungen, auch die sinnlichen Anscha.u ­ ungen, eigentlich Universelles vorstellen3). § 4. Und wenn wir die Lehre dieses großen Philo­ sophen beiseite lassen, so scheint doch das eine gewiß , daß keiner anzugeben vermag, was ihn selbst als Denken­ den individualisiere. Was er sieht, hört, schmeckt, glaubt, leugnet, wünscht, will, woran er sich freut, worüber er sich betrübt usw. usw. könnten ohne Widerspruch be­ liebig viele andere ebenso zum Objekte haben. Und so ist denn nichts gewisser, als daß bei keinem die Selbst­ erkenntnis eine völlig bestimmte, die individualisierende Bestimmung einschließende ist. Hier also haben wir es mit einer al1gemeinen Vorstellung zu tun, die · ohne Hin­ blick auf individuelle Anschauliches gegeben ist 4). § 5. Untersuchen wir jetzt, wie es sich in anderen Fällen verhalte. Schauen wir bei der s i n n l i c h e n An-

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Kapitel : Vom Abstraktionsprozeß

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schauung, so wie A r i s t o t e l e s glat1bte, auch 11ur etwas Allgemeines als primäres Objekt 1 'Venn es sicher ist, daß nicht mehrere Körper zugleich lokalisiert sein lrönnen, sc:t möchte man daraus folgern , daß, was uns in der sinnlichen Anschauung lokalisiert erscheint, eben darum individt1ell erscheine. Allein, beachtet man das , ,Zugleich' ' , so möchte man daraus in entgegengesetztem Sinne argumentieren : Nacheinander kann an demselben Ort eine l\Iehrheit von Dingen sein. Und "\\1ird n1an nicht sagen müssen, daß die zeitlichen Bestimm.theiten selbst zu den realen Differenzen gehören 1 Wenn dies, so könnte, scheint's, nur dann gesagt werden, daß wir In­ dividuelles anschauen, wenn uns das Angeschaute in seiner zeitlichen Determination erschiene. Allein dies ist nicht der Fall. Die Unterschiede von gegenwärtig, vergangen, länger vergangen sagen nichts, was nicht von jedem Zeitmoment irgendeinmal gelten würde, und wir erkennen nicht die besondere Eigentümlichkeit des­ jenigen5) Zeitmomentes, der augenblicklich gegenwärtig oder in gewissem Maß vergangen oder zukünftig ist6). Eine gewisse Unbestimmtheit der Erscheinung kann also auch hier nicht geleugnet werden, welche ein gewisses Recht gibt, von Allgemeinheit zu sprechen7). § 6. Wir finden also, daß 'vir 'virklich, genau besehe11, n u r A l l g e m e i n e s z11 Denkobjekten haben, ganz im Gegensatz zu dem, was die Nominalisten behaupten. In der Allgemeinheit aber gibt es noch Gradunterschiede, l1nd was die äu13ere, sinnliche Wahrnehmu11g betrifft, der ( nl1r)8) die Zeitbestimmtheit zur vollen Determination mangelt, so ist sie gewiß vor allem der vollen Indivi­ dualisation nahestehend9). Weit mehr entfernt sich da­ von unser Denken, \venn es ein Dreieck, ei11en Kreis, eine ebene Figur, eine pla11imetrische Figur, eine Figur, eine Fläche, einen Körper, eine Linie, einen Punl{t, eir1e Grenze, eip Rotes, ein Farbiges, ein sensibles Qualitatives u. dgl. denkt. \'?'ir haben schon gesagt, daß es das tue, aber auch bemerkt1 daß die Frage, w i e wir es tun, noch

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

eine Untersuchung erheische. Man hat gesagt, daß die sinnliche Anschauung dafür eine Vorbedingung bilde. Vom sinnlich Angeschauten würden jene allgemeinen Begriffe abstrahiert. A b e r w a s h a b e n w i r u n s u n t e r d i e s e m A b s t r a k t i o n s p r o z e ß z u d e n k e n 1 Der sprachliche Ausdruck scheint darauf hinzudeuten, daß, was abstrahiert wird, in dem sinnlich Angeschauten mit enthalten sei, daß es implizite mitgeschaut werde. Sinn­ lich zu u n t e r s c h e i d e n vermögen wir aber Punkte, ge­ rade Linien, Kreise und Linien überhaupt oder eine Grenze im allgemeinen sicher nicht. So hat man denn gesagt, daß nicht der Sinn, sondern der Verstand ab­ strahiere. Damit war aber kaum etwas Positives ge­ sagt,. Und auch das scheint, genau besehen, nicht zu­ treffend, daß der Geometer in dem individuellen, in den Sand gezeichneten Dreieck das Dreieck im allgemeinen erfasse, denn das sog. in de11 Sand gezeichnete Dreieck ist gar nicht wahrhaft ein Dreieck. Keine einzige seiner Seiten ist wahr·haft eine gerade Linie. Kein einziger seiner sog. Winkel hat wahrhaft einen Scheitel, wie er zur Natur des Winkels gehört, und natürlich ist auch der sog. in den Sand gezeichnete Kreis kein wahrer Kreis. Es ist unzweifelhaft, daß seine Zeichnung dem Geometer Dienste leistet, sonst würde er sich nicht ihrer bedienen 10), aber den Dienst, daß sie individualisiert oder wenigstens der Individualität nahegebracht, an­ schaulich ein Beispiel für das begrifflich in höherer All­ gemeinheit zu Denkende biete, leistet sie nicht. Es liegt nahe, de11 von der gezeichneten Figur zu leistenden Dienst so aufzufassen, d a ß s i e A n h a l t s p u n k t e f ü r d i e A s s o z i a t i o n v o n D e n k b e s t i m m u n g e n11) biete, welche in dem · allgemeinen Gedanken enthalten sind, wenn er, was nicht immer der Fall ist, in seiner Voll­ ständigkeit alrtuell gedacht wird. Der Dienst erschiene dann jenem verwandt, welchen oft ein Name leistet. Wer den Namen Gottes spricht, denkt etwas, dem eine Mannigfaltigkeit von Att1�ibuten assoziiert ist, welche

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Kapitel : Vom Abstraktionsprozeß

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nicht alle immer aktuell aufgerufen werden, aber deren aktuelles Auftreten doch durch die Gewohnheit sehr begünstigt wird. Und wird etwas ausgesprochen, was irgendeinem der Attribute Gottes widerspricht, so tritt sofort das betreffende Attribut in unser aktuelles Denken und führt dazu, den widersprechende11 Gedanken abzu­ \Veisen. Daß aber in dem Namen selbst die Attribute Gottes implizite enthalten seien, wäre natürlich eine ab­ surde Behauptung. Auch das verdient Beachtung, daß neuere Geometer sich mit dem Beweis von Lehrsätzen, welche nicht Kör­ per oder Grenzen von Körpern, sondern vierdimensionale Topoide betreffen, beschäftigt haben, von denen es keine sinnlichen Anschauungen gibt, noch geben kann, wie immer manche solche zu besitzen sich eingebildet haben. Den Begriff eines vierdimensionalen Topoids haben sie also gedacht, ohne daß er ihnen in einer Anschauung vor­ lag, und das läßt mit Sicherheit schließen, daß auch der Begriff eines dreidimensionalen Körperlichen 12), einer Kugel, eines Kubus, eines Kreises usw., im allgen1einen gedacht werden kann, ohne in einer sinnlichen Anschau­ ung erfaßt zu werden. Dennoch dürften gewisse Ab­ straktionen von sinnlichen Anschauungen eine unentbehr­ liche Vorbedingung sein, nur in wesentlich anderer Weise13). § 7 . We1·fen wir einen Blick auch noch auf eine ge­ wisse andere Klasse von allgemeinen Begriffen. Ich meine die sinnlich qualitativen, wohin der Begriff des Roten, Blauen, Schwarzen, Weißen, des Farbigen im allgemeinen, des Tönenden und des Tönenden von be­ sonderer Höhe und Klangfarbe usw. usw. gehört. Der Begriff des Roten ist von höherer Allgemeinheit als die Anschat1ung eines roten Fleckes 1 4), den ich hier oder dort im Gesichtsfeld schaue, und er scheint im Hinblick darauf abstrahiert. Aber wie geschieht es ? Liegt uns jemals ein - ga11z roter Fleck deutlich unterschieden in der Anschauung vor 1 Oder geht, was wir unterscheiden

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

und deutlich bemerken können, bald ins Weiße, bald ins Sch wa1·ze, G1·aue, Gelbe, Blaue, wenn nicht noch anderes mehr 1 Wir erklären etwas für sch,varz, finden aber gleich darauf, daß es nicht in gleichem Maß wie ein anderes, was vollkommener schwarz sei, auf den Namen Anspruch habe. Wenn nun auf Grund solcher Erfahrunge11 einer bezweifelt, ob er je ein vol1kommenes Schwarz anschaulich unterschieden habe, woher hat er den Maßstab genommen und jenen Begriff des reinen Schwarz sich gebildet 1 Wenn ein Violett uns vorgelegt wird, so sagen wir, es sei rötlich und bläulich , und die Psyc·hologie wagt 15) noch weiter die Behauptung, daß, damit uns dies so erscheine, unmerklich kleine Stellen in unserer Anschauung rein rot und rein blau erscheinen müßten. Aber niemand vermag von einer bestimmten Stelle zu bemerken, daß sie gerade rein rot oder rein blau sei. Kann nichts rein Rotes in der Anschauung beme1·kt werden, so erscheint es paradox, daß der Be­ griff des rein Roten davon abstrahiert werden könne. Dasselbe Paradoxon besteht aber nach dem, was wir zuvor erörtert, genau besehen, bei allen Farbenanschau.­ ungen . Ganz Analoges ließe sich l1insichtlich der Töne sagen. Aber dennoch werden diese Paradoxa uns nicht Zweifel daran erregen können, daß unsere allgemeinen Qualitätsbegriffe aus Anschauungen von sinnlich Qualitativem ihren Urspru11g genommen haben. Es ist sicher, daß wir ni.cht alles, was wir in einer Anschauung vo1·stellen, b e m e r k e n , und auch , was wir irgendwie darin bemerken, nicht mit voller Präzision zu unterscheiden und zu charakterisieren "'·issen. Allein diese Unvollkommenheiten hindern uns doch nicht, irgendwelche Unterscheidungen zu machen und Ver­ gleiche anzustellen, durch welcl1e eines mit einem andern in irgendeinem Betracht als gleich oder ähnlich und mehr minder ähnlich als ein Drittes erkannt wird. Und dies führt zu dem Gedanken von etwas, woran sie gleich­ mäßig oder mehr minder teilhaben, und zu dem einer

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Kapitel : Vom Abstraktionsprozeß

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noch größeren Annäherung an einen denkbar höchsten Besitz dieser Eigentümlichkeit. Auf diese Art erklärt es sich recht wohl, wie wir, wenn auch alles Rote, was wir schaue11, mit Blau oder Gelb oder Schwarz oder Weiß oder auch mehreren von ihnen zugleich in der Art in kleinen Teilen vermengt ist, daß wir kein reines rotes Teilchen als solches zu u11t·erscheiden vermögen, doch zu einem Beg1·iff von reinem Rot gelangen können ; und noch viel leichter, wie wir, nachdem wir, wie auch immer konfus die Verschiedenheit farbiger Gegenstände erkannt haben, den Begriff des Farbigen im allgemeinen uns zt1 bilden vermögen. Ähnlich geschieht es, daß, wenn wir körperliche Kontinua schauen, das eine farbig, da.s andere durch irgendwelche warme oder kalte Tempe1·atur qualifiziert, zum Begriff eines l\.örperlichen Kon­ tinuums kommen, das von Farbe wie Temperatu1· ab­ strahiert. Und wenn wir in einem uns anschaulich vor­ liegende11 Kontinuum auch nicht jedes Partikelchen im einzelnen zu unte1·scheiden vermögen, ja nicht sicher sind, ob es nicht durch kleine Lücken an dieser oder jener Stelle unterbrochen ist, so 'verden wir doch in gröberer Weise Teile in ihm unterscl1eiden und in il1m den Charakter eines körperlichen Konti11t1ums in1 all­ gen1einen als gegeben erkennen. Eine genaue Grenz­ linie oder einen genauen Punkt werden wir noch weniger als Teile von unmerklich kleiner Größe in irgend"1elcher Dimension im einzelnen zt1 unterscheiden vermögen. Aber, daß, was wir sehen, ausgedehnt ist, erkennen wir genugsam. Und indem wir größere und kleinere Teile des Ausgedehnten unterscheiden, kommen wir dazu, die Größe in1mer mehr abnehmend zu denken, um die Hälfte und wieder um die Hälfte und so auch den letzten Grenz­ bezirk des l{örperlichen Kontinuums in seiner Ausdel1nung beliebig l{lein werden zu lassen, wobei noch immer der Körper hinsichtlich seines Endes unverändert erscheint. Und so kommen wir zum Begriff einer Oberfläche sowie auch zu Flächen als inneren Grenzen zwischen den

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II. Abschnitt: Phänomenognosie des Bewußtseins

Teilen, welche nach beiden Seiten Grenzen sind, und ähnlich wieder zu den Begriffen von Linien als äußeren oder inneren Grenzen einer Fläche und zu Punkten als Grenzen, äußeren oder inneren, einer Linie, einer Fläche und einem Körper zugehörig. Bezüglich des Punktes greift der Gedanke einer ins Unendliche gehenden Ver­ kleinerung in bezug auf jede Dimension ein, und wir sehen, daß der Punkt, selbst wenn an einem bestimmten Ort gedacht, noch immer eine gewisse Universalität hat, insofern er als Grenze eines Kontinuums von irgend­ welcher, aber nicht angegebener Ausdehnung gedacht wird16). Diese Art Allgemeinheit bleibt ihm auch noch, wenn angegeben wird, ob der Punkt nach allen Seiten oder, als äußerer Grenzpunkt, nur nach gewissen Seiten hin Grenze ist. Denn immer bleibt das Maß des Be­ grenzten beliebig klein zu denken. Es ist nur gesagt, daß es auch in der d r i t t e n Dimension irgendwelche Ausdehnung hat. Handelt es sich um Begriffe, wie den einer geraden Linie, so erkennt man aus dem Gesagten leicht, daß der Bildungsprozeß ei11 verwickelter ist. Man erfaßt nicht einfach den allgemeinen Begriff einer G e ­ r a d e n durch den Vergleich von mehreren einzelnen Geraden, die wir im Kontinuum unterschieden haben, sondern, nachdem wir den Begriff der L i n i e gewonnen und den vo11 mehr minder ungleichmäßigem Verlauf von Linien, kommen wir zu dem Extrem gleichmäßig ver­ laufender Linien, welche weder plötzlich noch allmählich, weder mehr noch minder, sondern gar nicht ihre Rich­ tung ändern, so daß jeder innere Punkt der Linie genau zwischen ihren zwei Endpunkten liegt. Das also ist das Verfahren, von welchem die, welche es Abstrahieren nannten, kaum eine genügend deutliche Vorstellung gehabt haben dürften. Es kommen dabei außer dem Unterscheiden und Vergleichen noch andere Prozesse in Betracht, wie die fortgesetzte Annäherung a n e i n E x t r e m und ein mehrfaches Schlußverfahren17). Das Resultat ist auch nicht ein B e g r i f f v o n a n s c h a u -

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Kapitel : Vom Abstraktionsprozeß

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l i e b e r E i n h e i t , sondern ein komplizierter Gedanke, ·\\reicher viele in recto und in obliquo gedachte Dinge zueinander in Beziehung setzt18). § 8. Aus dem, was wir im vorausgehenden über die Prozesse gesagt, welche uns zum Denken der Univer­ salien führen; ersieht man, daß wir zu ihnen nie ol1ne das Denken von Relativen1 gelangen. Schon in den ein­ fachsten Fällen bedarf es des V e rg l e i c h e n s , und man erkennt dabei Ü ·b e r e i n s t i m m u n g und V e r s c h i e d e n ­ h e i t. Auch ist ja kein Denken ohne denkende Be­ ziehung zu etwas, was wir denken, möglich. Denkt man etwas als mit einem anderen übereinstimmend, so wird das eine in recto, das andere in obliquo gedacht. Manche wollten aber so weit gehen, die Universalien selbst sämt­ licl1 für Relative zu erklären. Sie meinten, Rot bedeute soviel als durch Röte einem anderen spezifisch gleich, farbig soviel als durch Farbe einem anderen generisch gleich. Dies aber ist durchaus irrig. Dazu, daß etwas rot sei, ist nicht erfordert, daß auch noch etwas anderes rot sei. Und wenn noch ein anderes rot ist und rot zu sein aufhört, so hört darum, weil die Relation der Über­ einstimmung mit ihm entfällt, nicht auch das andere auf, rot zu sein. Auch würde ja, \\renn Rot eine Relation be­ deutete, ein und dasselbe sovielmal die Eigenschaft der Röte haben, als es Dinge gibt, die mit ihm der Röte nach übereinstimmen. Man muß also wohl unter­ scheiden zwischen der Behauptung, daß beim Abstrak­ tionsprozeß von Rot vielleicht eine Übereinstimmung im Rot oder eine Ahnlichkeit infolge beiderseitiger Annäherung an reines Rot erl{annt wird, und der Behauptung , daß der Gedanke des Roten selbst der Gedanke eines als rot einem anderen Gleiche11 sei. § 9. Und daraufhin wird auch noch weiterhin die Be­ hauptung als unbegründet und irrig zu verwerfen sein, daß , so wie bei der ersten Bildung des Gedankens Rot eine Mehrheit von solchem, was am Roten teilhat, ver­ glichen werden muß, dieser V e r g l e i c h s p r o z e ß bei jedem ••

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

späteren Denken von Rot wiederholt werden müsse. Es ist vielmehr eine Disposition zurückgeblieben, welche uns in jedem von uns begegneten Roten oder merklich Rötlichen ohne weiteres die Teilnahme am Rot erkennen läßt. Auch die anderen Prozesse, die in verwickelteren Fällen hinzukommen, erscheinen, wenn einmal der kom­ plizierte Begriff gebildet ist, erleichtert und gekürzt, so daß an den allgemeinen Namen der Begriff, wenn auch nicht immer mit allen seinen l\ferkmalen aktuell asso­ ziiert, doch in der von uns beschriebenen Weise in nächster Bereitschaft zu Gebote ist19). § 10. Eine andere Frage ist, ob bei dem erneuten Denken eines durch Abstraktion gewonnenen Universale uns nicht eine Anschauung vorliegen müsse ähnlich der­ jenigen, aus welcher es entnommen wurde ? Wir kom­ men auf sie zurück20 ) . § 1 1 . Noch eine andere Schwierigkeit bleibt zu er­ ledigen. Wir sagten, alle unsere Vorstellungen seien, genau betrachtet, mit einer gewissen Unbestimmtheit behaftet, welche ihnen einen gewissen Charakter von Allgemeinheit gebe. Wie kommt es nun, daß wir doch überzeugt sind, es immer mit Einzelnem zu tun zu ha-ben und vielfach auch nicht bloß nicht mit einem für sicl1 bestehenden Allgemeinen , sondern auch nicl1t mit einer Vielheit von Einzelnen, das unter denselben Begriff fällt � Sogleich bei der Selbsterkenntnis drängt sich die Frage auf. Wir wiesen nach, daß, was unsere Indivi­ dualität von der jedes anderen menschlichen Geistes scheidet, nicht in die Erscheinung tritt. Woher wissen wir, daß es nur eines und nicht viele einzelne Geister sind, die wir in der inneren Wahrnehmung erfassen � Die Antwort darauf ist die, daß nichts mit u n m i t t e l ­ b a r e r Evidenz als bloß tatsächlich wahrgenommen we1�­ den kann, als was mit dem Wahrnehn1enden identisch ist. Denn nur unter der Bedingung solcher Identität läge ein \\7iderspruch vor, wenn das von dem An­ erkennenden Anerkannte nicht wäre 21). Nun kann aber

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Kapitel : V01n „.\bstraktionsprozeß

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kein Einzelnes mit mehr als e i n e m Einzelnen identisch sein, und somit kann jeder Einzelne mit unmittelbarer Evidenz nicht mehr als ein Einzelnes wahrnehn1en , und dieses ist sein Selbst. Natürlich ist, wie ich auch früher gesagt habe, nicht ausgeschlossen, daß es noch beliebig viele andere Einzeldinge gibt, die, wie immer durch individualisierende Bestimmungen, von ihm verschieden, ihm doch darin gleichen, daß auch sie sich selbst wahr­ nehmen, daß sie dies in einer ebenso weitgehenden Un­ bestimmtheit tun und sich so ganz nach denselben Be­ stimmungen, keiner mehr und keiner weniger, erfassen , wie ich es tue. Sie erfassen dann jeder ein einziges anderes Einziges, welches unter dieselben universellen Best.immungen fällt, nach welchen ich mich erfasse 22). Wesentlich ähnlich verhält es sicl1 auch mit den sinn­ lichen Anschauungen von äl1ßeren Objekten. Wir sagten, daß zu ihrer vollen individuellen Determination etwas fehle, nämlich die Besonderheit der zeitlichen Bestimmt­ heit23), die ja für jedes frühere oder spätere in dem Weltverlauf auftretende Ereignis eine andere ist, \\·äh­ rend sie sich bei dem, was wir als gegenwärtig oder ver­ gangen anschaulich vorstellen, nicht offenbart. Alles Gegenwärtige erscheint, 'venn es gegenwärtig erscheint, völlig gleich. So sehr dies richtig ist, so ist es doch auch richtig, daß zwei in1 Weltverlauf zeitlich von­ einander abstehende Ereignisse nicht beide s e i n können. Würde also auch im Weltverlauf ein Ereignis, mit ein­ ziger Ausnahme der Zeitbestimmtheit, mehrmals als ganz gleichmäßig vorkommen, so wiirde doch unmöglich so­ wohl das eine als das andere s e i n . Und so kö11nte denn auch nicht mehr als e i ne s , unserer Anschauung ent­ spreche11d, existieren 24). § 1 2 . Dieses führt aber zu einer neuen wichtigen Frage und einer, die wohl als besonders schwierig be­ trachtet werden muß, da die Philosophen seit Jahr­ tausenden sie zu lösen sich bemüht haben und nie sich dariiber zu einigen vermochten. In seinen ,,Konfessionen' ' .

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II. Abschnitt: Phänomenognosie des Bewußtseins

hat St. A u g u s ti n sich mit ihr beschäftigt. ,,Was ist die Zeit 1 ' ' sagte er : ,,Wenn man mich nicl)t fragt, so ist es mir klar, wenn man fnich aber fragt, �eiß ich nicht zu antworten.'' Sicher ist, daß es sich, wie bei dem Räumlichen um ein kontinuierliches Nebenein­ ander, bei dem Zeitlichen um ein kontinuierliches Nach­ einander handelt. Aber während von dem, was neben­ einander das eine wie das andere ist, gilt von dem, was nacheinander, daß, wenn das Frühere ist, das Spätere nicht ist, und wenn das Spätere ist, das Frühere nicht ist. Das l{ontinuierlich zeitlich Verlaufende ist nur einer Grenze nach. Und noch ein anderes ·bietet Schwierig­ keiten. Wenn wir fragen, wie wir zu der Vorstellung eines R ä u m l i c h - Ausgedehnten l{ommen, so is·t zu ant­ worten, daß alles, was wir sehen oder mit einem anderen Sinn äußerlich wahrnehmen, nicht bloß sinnlich quali­ fiziert, sondern auch räumlich ausgedehnt erscheint, was zu einer Abstraktion des räumlich spezifisch Determi­ nierten 25) von der sinnlichen Qualifikation und des all­ gemeinen Begriffs des Räumlichen und in einem Nebe11einander Zusammenhängenden und voneinander Ab­ stehenden führt. Aber wie steht es mit dem Z e i t l i c h e n 1 Der nächst­ liegende Gedanke ist, daß es sich hie1· analog verhalte, daß uns die äußere und innere Wal1rnehmung oder die eine von beiden zeitliche Kontinua in spezifischer zeit­ licher Determination und verbunden mit noch weiteren Bestimmtheiten zeige, daß man vergleichend zunächst zur Abstraktion des zeitlich spezifisch Determinierten von allen heterogenen Bestimmungen gelange und dann zum allgemeinen Begriff des zeitlich Kontinuierlichen, des als früher oder später Zusammenhängenden und voneinander Ab�tehenden sich erhebe. Allein, genauer untersucht, stellt es sich heraus, daß diese Annahme mit den Tatsachen unvereinbar ist. Wenn uns eine spezielle Zeitstrecke in ihren besonderen spezifischen Bestimmt­ heiten in der Erscheinung vorläge, so würden es Be-

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Kapitel : Vom Abstraktionsprozeß

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stimmungen sein, von welchen nur e i n e r Existenz zu­ kommen l{önnte, alle anderen, wenn nicht alle überhaupt nicht bloß nicht wären, sondern auch nicht möglich wären, und da scheint es denn doch unglaublich, daß, wenn wir wirklich die Vorstellung von ihnen hätten, diese Unmöglichkeit sich nicht offenbarte26). Ferner müßten wir, in Analogie zum räumlichen Sinnesfeld, annehmen, daß die erscheinenden spezifischen zeitlichen Bestimmtheiten sich in der Erscheinung immer gleich blieben, und damit stimmt es denn auch, daß der Mo. ment, der uns als gegenwärtig erscheint, und an dessen Existenz wir glauben, uns zwar clurch andere Bestim­ mungen wie dt1rch die Eigentümlichkeiten des augen­ blicklichen Denkens, Fühlens usw. modifiziert erscheint, nicht aber in zeitlicher Beziehung. Jede Gegenwart als solche erscheint ganz gleich. Die wirklichen zeitlichen Bestimmungen müssen aber fortwährend wechseln, und somit wäre der Gegensatz zwischen Erscheinung und Wirklichkeit hier unleugbar. Allein im Unterschied von den räumlichen Bestimmtheiten, welche nur Körper­ lichem zukommen, kommen zeitliche Bestimmtheiten allen Dingen, körperlichen wie unkörperlichen, zu. Und darum wäre es nicht wohl anders denkbar, als daß, wenn in der ä u ß e r e n Anschauung, auch in der i n n e r e n Wahrnehmung eine s p e z i f i s c h e zeitliche Bestimmtheit zur Erscheinung käme. Die innere Wahrnehmung aber ist infallibel, und darum müßte in dieser wenigstens so gewiß als in der Wirklichl{eit die zeitliche Bestimmung in der Erscheinung stets eine andere sein. Das aber ist nicht der Fall, und damit erkennt man deutlich, daß eine spezifische zeitliche Bestimmtheit uns in der inneren Erscheinung nicht gegeben ist 27). Dagegen hat man nun geltend machen wollen, daß es doch nicht so inkonvenient erscheine, als man es hier darstelle, daß n u r die Erscheinungen der äußeren Wahr­ nehmung zeitliche Bestimmtheit aufwiesen. Nur hier erschiene ja auch eine kontinuierliche Reihe, die sich von

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II. Abschnitt: Phänomenognosie des Bewußtseins

etwas als Gegenwärtigen1 durch eine Strecke von Ver­ gangenem hinziehe. Im Falle z. B . , wo wir ein Wort hören, erschienen uns am Ende des ·vVortes die zu ihm gehörigen Laute als vergangen, wir selbst aber uns selbst zugleich den einen Laut als länger vergangen, den an­ deren als kürzer vergangen vorstellend. Allein Philo­ sophen von Namen schrieben die Erscheinung der Zeit als besonders charakteristisch gerade dem i n n e r e n Sinn zu, und wenn es wahr ist, daß der Schmerz und die Lust zu der Domäne des inneren Sinnes gehören, so scheint es im Hinblick auf diese recht off�nuar, daß uns auch Psychisches als andauernd und wechselnd und vor- und nacheinander erscheine. Dann aber wird, wenn wir das Vor und Nach nur auf Grund der Anschauung verschie­ dener s p e z i e l l e r Zeitbestimmtheiten erfa.ssen, auch das Gebiet des inneren Sinnes der Erscheinung solcher b e ­ s t i m m t er Zeitbestimmtheiten nicht ermangeln, und insbesondere wird dies auch für den Moment gelten, welcher ist t1nd mit der Evidenz der inneren Erfahrung erfaßt wird 28). Wir sahen, das Ergebnis unserer Erörterung recht­ fertigt uns, wenn ,,„ir auch schon früher gesagt haben, daß unsere Anschauungen, äußere wie innere, insofern eine gewisse Unbestimmtheit und Allgen1einheit haben, als sie '\""On jeder speziellen zeitlichen Bestimmtheit frei sind. § 13. Wie also konnten wir die auf das Zeitliche be­ züglichen Begriffe gewinnen � Es gibt Philosophen, welche lehren, daß wir in unserer Erkenntnis, ja auch in unserem Vorstellen gänzlich auf das Relative beschränkt seien. Wir empfinden nach ihnen eine Farbe nur im Ve1�hältnis zu anderen Farben , einen Ton nur im Verhältnis zu anderen Tönen, denken eine Länge nur im Verhältnis zu anderen Längen usw. Vom Standpunkt dieser Philosophen aus wäre wohl zu sagen, daß wir auch ein Zeitliches nur im Verhältnis zu anderem Zeitlichen, keines davon aber jemals in abso-

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J(apitel : Vom Abstraktionsprozeß

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luter Vorstellung erfassen, und dal1er lromme es, daß wi1� von einem Vor und Nach eine Vorstellung hätten, keines­ wegs aber von irgendwelcher absoll1ten zeitlichen Diffe­ renz. Wir nennten daraufhin etwas vergangen im Ver­ hältnis zum Gegenwärtigen, und ähnlich etwas anderes zukünftig im Verhältnis zu diesem, und weiter noch etwas näher und ferner vergangen oder in näherer oder fernerer Zukunft zu erwarten . Fiir diese Relative hätten wir unzweifelhaft in unseren Anschauungen von Orts­ wechsel ltnd Sukzession der Töne in einer Melodie die reichsten Beispiele. Wer aber mehr als Beispiele von solchen Relativen in bezug auf das Zeitliche verlange, wer z. B. die absolute Zeitdifferenz aufgewiesen habe11 wollte, die dem jetzigen Augenblick oder dem gestrigen. 'l,ag zul\:ommt, der ve1·Iange natürlicl1 etwas ganz Un­ mögliches, aber etwas, was auch in analoger Weise für Raum und Farbe und Ton, ja für alles, was wir sonst vorstellen und erkennen, zu leisten unmöglich sei. Es bedürfe also hier nur der Erkenntnis einer unserem Vor­ stellen allgemein gesetzten Schranlre, um die Meinung zu benehmen, als ob hie1� noch im · Besonderen etwas ver­ mißt werde und eine weitergehende Forschung nötig mache. Wir haben hier wie anderwärts nur relative Bestimmungen, und für diese liegen die Anschauungen, von denen sie abstra.hiert werden, l{lar und deutlich vor. § 1 4. Doch so verbreitet die hier dargelegte Rela­ tivitätslehre ist, so wenig ist sie der Wahrheit ent­ sprechend . Wir l1aben schon oben gesagt, daß wir den allgemeinen Begriff des Roten und den der Farbe zwar nicht ohne Vergleich und vergleichende Tätigkeit ge­ winnen, daß wir abe1�, wenn sie einmal gewonnen seien, sie ohne die vergleichende Tätigkeit aktuell erneuerten, was damit, daß sie nur Relationen seien, unverträglich ist29) . Ja, im Gegensatz zu dem, was hier mit so großer Zuversicht behauptet wird, läßt eine bessere Psychologie uns erkennen, daß wir, weit e11tfernt, nichts Absolutes, sondern nur Relatives vorstellen zu können, nie zu einer

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II. Abschnitt: Phänomenognosie des Bewußtseins

Vorstellung von Relativem gelangen würden, welche eines im Vergleich mit einem anderen bestimmte, wenn wir der absoluten Vorstellungen entoehrten. Eine Kon­ fusion von zwei ganz verschiedenen Fragen hat zu der eben besprochenen Irrlehre geführt. Etwas ganz anderes ist es ja, ob wir i m m e r die absoluten Zahlen und Längen zu erkennen brauchen, um Zahlenverhältnisse und Längen­ verhältnisse festzustellen, und o b w i r , g a r k e i n e a b ­ s o l u te n Zahlenbegriffe und Längenbegriffe besitzend und sie aus Anschauungen schöpfend, jene relativen Be­ griffe auch nur zu denken vermöchten 1 Wenn gesagt wird, man brauche nur den Begriff des Doppelten und Halben, aber nicht den von 1 und 2 zt1 haben, wenn man erkenne, daß eine Menge doppelt so groß als eine andere sei denn damit sei ja nicht gesagt, es sei auf der einen Seite 1 und auf der anderen 2 gegeben, so wird man die Behauptung ohne weiteres als töricht zurück­ weisen. Und wenn die Vertreter der Lehre sagen, man könne, um von einem Ton ein Bewußtsein zu haben, eine1· Mehrheit von Tonvorstellungen nicht entbehren, so hätte dieser ganz unrichtige Satz sogar den Makel der Absurdität an sich, wenn unter der Mehrheit der Töne nicht eine Mehrheit von absoluten Tönen zu ver­ stehen wäre 30 ). Nie ist es möglich, ein Vergleichsver­ hältnis in s p e c i e vorzustellen, ohne die absoluten Be­ stimmtheiten, um deren Vergleichsverhältnis es sich handelt, i n s p e c i e vorzustellen, und nie kann ein Ver­ gleichsverhältnis i n g e n e r e vorgestellt werden, ohne daß das, wozwischen es statthat, i n g e n e r e vorgestellt wird 31). Viel richtiger als diese Modemen hat A r i s t o t e l e s geurteilt, der für den Fall, daß uns von den Farben das einzige Weiß erschiene, nicht sagte, daß dann sei, als wenn uns gar keine Farbe erschiene, sondern nur, daß wir dann von dem Begriff des Weißen nicht zu dem allgemeinen Begriff des Farbigen aufzusteigen vermöch­ ten, so daß für uns dann Weiß und Farbig einfach zu-

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Kapitel : Vom Abstraktionsprozeß

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samn1enfallen würden. Auch von Farbenabständen, wie ein solcher zwischen Schwa.rz und Weiß, Rot und Blau besteht, hätten wir dann natürlich nicht die geringste Ahnung. Von zeitlichen Abständen aber s p r e c h e n wir, und so s c h e i n t denn die Vorstellung verschiedener Z e i t ­ s p e z i e s analog der von verschiedenen Farbenspezies uns unleugbar gegeben, und die Frage, woher sie von uns genommen werden, besteht zu Recht32). § 15. Um sie zu beantworten, wird es nötig sein, vor allem auf den wichtigen Unterschied aufmerksam zu machen, der bei dem Vergleich des zeitlichen Nachein­ ander sich zeigt. Wenn solches, was räumlich vonei11ander absteht, verglichen wird, so sind Fundament und Terminus, der eine so gut wie der andere. Wenn aber zeitlich Abstehendes in Vergleich kommt, so ist, wenn das Fundament ist, der Terminus nicht33). Dabei ist es aber doch nicht so wie im Fall, wo es sich um eine Denk­ beziehung zum Objekt handelt, wo, wenn einer etwas denkt, dem Gedachten oft ga1· keine Tatsächlichkeit zu­ kommt34). Wenn etwas in Wahrheit später oder früher i s t als ein anderes, so ist es zwar nicht später oder früher, als jenes i s t , aber doch als jenes w a r oder sein wird. Je mehr man die Sache untersucht, um so mehr findet man, daß, während für das Nebeneinander gilt, daß Fundament und Terminus mit dem gleicl1en Modus des Anerkennens anerkannt werden, beim Nacheinander vielmehr gesagt werden muß, daß der Modus des An­ erkennens für das eine und andere ein verschiedener sei. Diese Modi verhalten sich aber nicht so wie etwa der assertorische und apodiktische, von welchen der letztere den ersteren einschließt35). Und sieht man näher zu, so findet man, daß er ähnlich auch schon da besteht, wo es sich um bloße V o r s t e l l un g e n , z. B. von Bewegung und Ruhe oder einer Sukzession von Tönen handelt36). So hat man denn beim Zeitlichen, wie immer es auch bei ihm, ähnlich wie beim Räumlichen, um Unterschiede dem Objeltte nach sich handeln mag, jedenfalls noch eine

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

andere Art von Unterschied, die zum Inhalt der V o r ­ s t e l l t1 n g des Zeitlichen gehört 37), . und d i e s e r Unter­ schied, nicht j e·n e r , ist es, welcher das Gegenwärtige vom Vergangenen und Zukünftigen und mehr und minder Vergangenen usw. differenziert. Wenn nun, wie gesagt, auch bei dem Nacheinander zugleich ein Unterschied dem Objekte nach, ähnlich wie beim räumlichen Neben­ einander, bestehen sollte, so ist es doch nicht aus­ geschlossen, daß derselbe für uns sich in den Vorstellungen nicht aufgenommen finde, und also die z e i t l i c h e D i f f e ­ r e n z i e r u n g der Vorstellungen sich für uns ganz auf den Unterschied der Temporalmodi beschränkt38). Und ist dies, wie ich nicht z\\reifle und auch schon im vorher­ gehenden ausgesproche11 habe, \\rirklich der Fall, inden1 es jene Art von Allgemeinheit he1·beiführt, von welcher wir zuvor gesprochen haben, so ist natürlich auch nicht mehr die Aufgabe gegeben, den Ursprung von solchem, was gar nicht vorhanden ist, zu erklären 39). Genug, daß sich klarlegen läßt, wie wir, auf die Weisen unseres Vor­ stellens achtend, zu den Begriffen von etwas als gegen­ wärtig oder als vergangen und mehr minder 'Tergangen und als zukünftig Vorzustellenden und als früher und später Vorzustellenden gelangen. Und dies möge hier zum Abschluß unserer Erörterung über die Universalien genügen. Eingehender haben wir die Lehre von den Temporalmodis anderwärts besprochen und dort auch gezeigt, worin die uns transzendenten zeitlichen Objekts­ differenzen allein zu bestehen vermögen 40 ).

Drittes ·Kapitef.

Von der Erkenntnis des Zeit1ich=Absoluten und seiner Spezies1). § 1 . Wenn die innere Wahrnehmung evident ist, so gibt dies uns einen Anhalt, darüber zu entscheiden, worauf sie sich erstrecke 2). § 2. Und so können wir z. B. nachweisen, daß sie uns keinen Aufschluß darüber gibt, ob irgendein G e d an k e n ­ w e c h s e l in uns stattfindet oder nicht. § 3. Dies ist natürlich vollkommen damit verträglich, daß sie uns sagt, wir g l a u b t e n , es finde einer statt. Dieser Glaube wird eben dann selbst nicht die Evidenz der inneren Wahrnehmung sein. § 4. Denken wir uns, Gott erhielte (was er zweifellos kann) uns von einem Moment an, in welchem wir eine Melodie oder eine Rede hörten und die lebhaftesten Tanzbewegungen vor Augen hätten, in allen diesen sowie in allen anderen intentionalen Beziehungen eine Stunde lang unverändert, so würden wir diese ,· Stunde hindurch unserem Denken nach in voller Teleiose3) sein, während wir, wie wir in dem ersten Moment solcher Ruhe den Glauben an eine lebhafte psychische Veränderung hatten, denselben auch diese ganze Stunde hindurch wahren würden. Kein Psychologe kann das bestreiten*). *) Die psychologischen Realisten bel1aupten die W a h r ­

h e i t der äußeren Wahrnehmung. Es erscheint uns aber, wenn wir eine Sukzession von Tönen wahrnehmen, der eine als vergangen, während der andere uns als gegenwärtig er­ scheint, und unmöglich kann diese Erscheinung i m m e r wahr sein, w e n n d a s , w a s v er g a n g e n e r s c h e i n t , in einer b e s t i m m te n z e i t l i c h e n E nt f e r n u n g v o n d e r G e g e n w a r t e r s c h e i n t , vielmehr könnte höchstens ab-

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

§ 5. Indem die innere Wahrnehmung uns aber dann zeigte, wie wir sind, so würde sie uns scl1eint's doch als mit unserem Jetzt einem zeitlichen Kontinuum an­ gehörig zeigen müssen. Unser Sein ist auch im Fa11 der vollkommensten Ruhe ein Werden und Vergehen, indem das Vergehende sich nur, abgesehen von der Differen­ zierung, die in dem Fluß der Zeit selbst gegeben ist, gleichmäßig erneuert. Die s pe z i f i s c h e D i f f e r e n z der Zeiten, die aufeinander folgen, bleibt uns aber bei der Allgemeinheit, in �pelcher wir unsere Substanz erfassen, die zunächst davon betroffen wird, ganz und gar ver­ borgen . W i r k ö n n e n n u r s c h l i e ß e n , daß eine sein muß, wie wir überhaupt die Notwendigkeit spezifischer substantieller Differenzen in uns erschließen, ohne irgend­ eine 'vahrzunehmen. Was wir wahrnehmen, ist aber docl1 der Unterschied, ob uns etwas als gegenwärtig oder in irgendwelchem l\!Iaß vergangen oder zukünftig erscheint. Und so nehmen wir wahr, d a ß uns ein Ding (w e l c h e s n i c h t b l o ß h ö r t , s o n d e r n a u c h g e h ört z u haben glau bt, nicht bloß sieht, sondern auch g e s e h e n z u haben g l a u b t) i m Ü b e r g a n g v o n e i n e m v e r g a n g e n e n Zt1 s t a n d z u e i n e m g e g e n w ä r t i g e n e r s c h e i n t u n d d i e s e m ve r gan g e n e n m i t s e i n e m j e t z i g e n Z u s t a n d a l s E n d g r e n z e z u g e h ö rt. Es liegt darin, daß die Differenz des jetzigen Zustandes zum jüngst vergangenen in jeder Beziehung nur eine i n f i n i t e s i m a l e sein kann. Allein ob wirklich in anwechselnd der vergangen erscheinende Ton wieder als gegen­ wärtiger auftretend wieder zu der alten Entfernung von dem zum zweitenmal als gegenwärtig erscheinenden Ton zurück­ kehren. Dagegen wäre es offenbar ohne Widerspruch d e n k ­ b a r , daß der psychische Zustand sich fort erhielte, in welchem Fall mir der vergangen erscheinende Ton, ohne daß ich mir dessen bewußt würde, mir p e r m a n e n t i n d e r s e l b e n E n t ­ f e rn u n g v o n d e r G e g e n w a r t e r s c h i e n e. Dies wäre als ein neues und, wie ich glaube, sehr ein­ drucksvolles Argument gegen den psychologischen Realismus geltend zu machen').

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Kapitel : Erkenntnis des Zeitlich-Absoluten

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derer Beziehung als in Ansehung der Zeit eine solche infinitesimale Differenz übe1·haupt gegeben sei, kann uns die innere Wahrnehmung nicht lehren. Wenn wir an sie, wie in dem eben beschriebenen Fall, auch sonst gemeinig­ lich glauben, so ist dieser Glaube blind, wie der des Ge­ dächtnisses allgemein es ist5). § 6. Man möchte sich fragen, ob infolge der Allgemein­ heit, in welcher wir uns innerlich erfassen, wir überhaupt in der inneren Wahrnehmung ein Bewußtsein davon hätten, daß unser Sein ein Fortbestehen und als Grenze, die einem solchen zugehört, wirklich sei ? Und wären Dinge denkbar, die nicht in der Zeit wären, so wäre dies5a.) wegen der äußersten Allgemeinheit, in welcher wir uns erscheinen, als richtig anzunehmen. Nun ist dies aber nicht der Fall, vielmehr gehört die Zeitlichkeit zum all­ gemeinen Charakter aller Dinge, wie die Rä11mlichkeit zum allgemeinen Charakter aller Körpe1�. W i r m ü s s e n also u n s auch in der inneren Wahrnehmung als einem zeitlichen Kontinuum als Grenze an­ g e h ö ri g erfa s s e n , allein ohne von diesem Kontinuum mehr zu wissen, als was ihm schlechterdings zukommen muß, damit wir mit den Tätigkeiten, nach welchen wir uns in uns wahrnehmen, dafür Grenze sein können, was, wie wir eben sahen, in sehr mannigfacher Weise und ebensowohl in vollkommener als unvollkommener Tele­ iose möglich ist6). § 7. Über die Länge der Vergangenheit scheinen wir durch die innere Wahrnehmung auch keinen weiteren Aufschluß zu gewinnen als eben den allgemeinen, daß sie irgendwelche Länge gehabt haben müsse. § 8. Wie sollen wir nun aber diese so weitgehende Unbestimmtheit begreifen 1 Vielleicht ergibt sich die Erklärung, wenn wir erwägen, daß nie etwas als ver­ gangen gedacht werden kann, wenn nicht zugleich etwas als g e g e n w ä rt i g gedacht wird. Denken wir uns nun dieses Gegenwärtige in mo.do recto und das Vergangene in modo obliquo gedacht, so mag das letztere nicht bloß

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II.

Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

in anderen Beziehungen, sondern auch hinsichtlich der Entfernung von der Gegenwart und hinsichtlich seiner zeitlichen Ausdehnung unbestimmt in obliquo gedacht werden. Überhaupt könnte man sich fragen, ob nicht alle Temporalmodi der Vergangenheit und Zukunft den Modis obliquis des Vorstellens zuzurechnen seien, wäh::1 rend dann der Temporalmodus der Gegenwart einfach mit dem Modus rectus des Vorstellens zu identifizieren wäre7). § 9. Eine besondere Erwägung erheischte wohl die Frage, was denn in dem Fall gelte, wo ich von einem irgendeinmal Seienden spreche, wo das Irgendeinmal nicht bloß Vergangenheit und Zukunft, sondern auch die Gegenwart in sich begreift. Offenbar ist aber Gleich­ zeitigkeit ebenso unter die zeitlichen Relationen zu rechnen wie früher und später, und es läßt sich der Be­ grüf der zeitlichen Relation zu Gegenwärtigem so allge­ mein fassen, daß er auch das Gleichzeitige mit in sich begreift. Das irgendeinmal Seiende wäre also das, wozu das Gegenwärtige in irgendwelcher zeitlicher Relation steht, und so erschiene es auch als in einem Modus obliquus gedacht.

Viertes Kapitef.

Fortführung der Untersuchung über die Univer= sa1ität a11er Anschauungen , insbesondere der Raum= und Zeitanschauung und über das Zeitfich=A.bso1ute. U n i v e r s a l i e n 1) . § 1 . Fragt man, ob unser Denken sich jemals auf all­ gemeine Gegenstände richte 2), so ist die Frage zu bejahen. § 2. Es richtet sich aber auf den allgemeinen Gegen­ stand, nicht, weil es in Wirl\:lichkeit etwas gäbe, was der individuellen Bestimmtheit entbehrte, sondern weil wir individuell Bestimmtes derart unbestimmt denken, daß mehrere individuell bestimmte Dinge gleichmäßig unserem Denken entsprechen oder entsprechen können 3) . Eben dar­ um nennen wir den Gegenstand des Denkens allgemein. § 3. Gegen das eben Erwähnte verstoßen die U lt r a ­ R e a l i s t e n , von denen die einen, wie P l a t o , an selb­ ständig bestehende allgemeine Dinge glauben, die andern, wie W i l h e l m v o n C h a m p e a u x , das Allgemeine nicht für sich allein, sondern in den Einzeldingen bestehen lassen : L o g i s c h e T e i le , unterschiedlos in allen unter denselben allgemeinen Begriff fallenden Individuen. So wäre denn von keiner Vervielfältigung derselben mit de1· Zahl der Individuen die Rede. Zu ihrem Zustande­ kommen wäre ein einziges genügend, so daß sie gegen­ über jedem anderen einzelnen unabhängig erscheinen. Es ist leicht zu erkennen, daß diese Lehre mit Wider­ sprüchen behaftet ist 4). § 4. Gegen die frühere Bestimmung verstoßen aber die sog. N o m i n a l i s te n , indem sie leugnen, daß wir

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

jemals allgemeine Gedanken hätten. Nur allgemeiner Namen sollen wir uns bediene11, d . h. solcher, mit welchen wir viele Bedeutungen verbinden. Von den zufällig viel­ deutigen Namen sollen si·e sich nur dadurch unterscheiden, daß die vielen dem Namen assoziierten Dinge einander ähnlich sind. Auch diese Ansicht ist leicht zu widerlegen. Nach ihr gäbe es wie keine allgemeinen Begrüfe, auch keine allge­ meinen Urteile und aJlgemeinen syllogistischen Schlüsse . Mit einem Beweis, der für alle D1·eiecke gilt, kämen wir nie zu Ende, eine ins Unendliche gehende Induktion wäre erforderlich, und deren Er·gebnis noch immer kein einheitliches allgemeines Gesetz, sondern eine unendliche Vielheit verschiedener Erkenntnisse. § 5. Etwas ar1deres aber ist die Frage, ob wir zu all­ gemeinen Begriffen unabhängig von Einzelvorstellnngen gelangen kön11en. Tatsächlich kommen wir zum Begriff eines Farbigen im allgemeinen nur durch Abstraktion von Weiß, Rot, Blau oder anderem s p e z i f i s c h Gefärbten, und A r i s t o ­ t e l e s meinte, daß man nie ein Farbiges im allgen1einen denke, ohne zugleich ein bestimmtes Farbiges vorzu­ stellen, auch wenn man den schon früher durch Ab­ straktion gevt'onnenen Begriff erneuert. Ja, manche hielten dafür, es müsse wie bei der ersten Erwerbung auch bei der Erneuerung jedesmal eine Mehrheit be­ sonderer Farbiger vorgestellt und verglichen werden. Sehen wir davon ab, ob dies wirklich erwiesen sei, so erscheint es doch nicht absurd, wenn es anders wäre6 }. Das De11ken, das sich auf ein Farbiges im allgemeinen beziel1t, ist ja ein anderes Denken als das, welches ein bestimmtes Farbiges zum Gegenstand hat, und dieses ist nicht in jene� als T e i l beschlossen. Noch deutlicher tritt dies hervor, wenn man Fälle auf­ weist, wo wir etwas Allgemeines vorstellen, das nicht durch Abstraktion von minder Allgemeinem [oder Indivi­ duellem6)] gewonnen wird. Und ein solcher Fall liegt

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Kapitel : Von der Universalität alle1· Anschauungen

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vor bei der inneren Wahrnehmung. Wenn sich einer selbst innerlich '\\rahrnimmt, so nimmt er nichts wahr, was nicht vielen Denkenden ebenso eigen sein könnte. Alles, was er hier wahrnimmt, wäre bei einem anderen auch möglich. Das, was ihn individualisiert, erscheint nicht in seiner inneren Wahrnehmung. Ja, seiner Sub­ stanz nach erltennt er sich nur eben als ein D i n g. Wäre es anders, so wäre der Streit zwischen Materialisten und Spiritualisten von vornherein ausgeschlossen7). § 6. Wenn es nun so unzweifelhaft ist, daß wir nichts, .was wir innerlich wahrnehmen, in individueller Bestimmt­ heit gegeben haben und es wahrnehmen, ohne zugleich eine entsprechende individuelle Vorstellung zu haben, so fragt es sich, ob solches nicht vielleicht für jeden allge­ meinen Begriff ohne Widerspruch denkbar sei. Warum sollte es bei der Substanz und nicht auch bei einer akzi­ dentellen Bestimmung möglich sein 1 In der Tat er­ scheint ja auch der Hörende als Hörender selbst zwar spezialisiert, aber nicht individualisiert. ( Selbst wenn ich einen bestimmten Ton höre, erscheine ich nicht indivi­ dualisie1�t. Die Akzidenzien sind alle miteinander von der Individuation frei8). Könnte es ferner nicht geschehen, daß einer a l l g e ­ m e i n e r e l a t i v e Begriffe ohne Vorstellung von s pe z i ­ f i s c h bestimmten relativen Begriffen und spezifisch be­ stimmten Fundamenten und Terminis derselben hätte 1 Wir können ja etwas als größer als ein anderes denken, ohne die spezifischen Größen des einen und anderen zu denken. Die Möglichkeit solcher unabhängiger relativer allgemeiner Beg1·iffe läßt sich kaum von vornherein leugnen. § 7 . Wenn nun aber dies, so ist zu untersuchen, ob die Erfahrung nicht wirklich solche Fälle zeigt. In der Tat erscheint uns, was die räumlichen Bestimmungen anlangt, a l l e s s p e z i fi s c h ö r t l i c h Diffe r e n z i e r t e unvorstellbar zu sein, während uns die Vorstellungen von räumlichen Abständen und Zusammenhängen in

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

drei Dimensionen sehr wohl zu Gebote stehen. Nur so konnte es dazu kommen, daß L e i b n i z lehrte, der Raum bestehe in nichts anderem als in Relationen, und nur wegen seiner räumlichen Abstände, dem ,,Näher und Ferner' ' zu anderen Körpern lromme einem Körper oder Körperteil Örtlichkeit zu. Von einem Unterschied der Örtlichkeit der Welt als ganzer von anderen denkbaren Welten und einer Bevorzugung der einen vor der an­ deren von seiten Gottes könne daher gar nicht die Rede sein. Das schiene doch wohl kaum begreiflich, wenn L e i b ­ n i z die Vorstellung von absoluten räumlichen Differenzen in Anschauung und Erfahrung vorgefunden hätte. Noch mehr ! Wenn N e w t o n in dieser Hinsicht anderer Mei­ nung war, so stand doch auch ihm dieselbe nicht von vornherein fest. Es bedurfte für ihn besonderer Griinde, un1 sich für die Annahme, daß es absolute räumliche Bestimmungen gebe, zu entscheiden. (Wir wissen, daß es Reflexionen auf gewisse Folgen der Drehung einer Kugel um ihre Achse waren, welche Newton für die Annahme eines absoluten Raumes ausschlaggebend er­ schienen. Woher, so fragte er sich, die Ausbauchung beim Äquator infolge der Drehung der Erde 1 ) Auch dieser Zweifel Newtons wäre aber kaum mehr zu begreifen, wenn er in irgendwelchen Anschauungen absolute örtliche Differenzen vorgefunden hätte. Endlich die neueren Physiker sehen wir sehr allgemein wieder zur Meinung von L e i b n i z zurückgekehrt. Sie leugnen alle absoluten Ortsbestimmungen oder betrach­ ten sie wenigstens als nicht gesichert und reden nur von relativen Orten und relativer Ruhe und Bewegung. § 8. Wenn nun diese Erwägungen richtig sind, was haben wi1· von u.nserer äußere11 Wahrnehmung zu sagen � Die E m p i r i s t e n wollen überhal1pt bestreiten, daß init den Qualitäten von Anfang an schon örtliche Be­ stimmungen verbunden gewesen seien. Erst auf Grund vo11 Erfahrungen sollten sie assoziiert werden. Die N a t i •

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Kapitel : Von der Universalität aller Li\.nschauungen

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v i s t e n widersprechen. Ja, sie wollten meist absolute örtliche Bestimmungen als spezifische Energien den Qualitäten gesellt wissen. Dabei aber waren sie genötigt zu lehren, daß die sämtlicl1en absoluten Orts­ bestimmungen, welche die Sinne uns zeigen, nicht denen der Dinge entsprechen, welche die Ursachen unserer Empfindungen in der Außenwelt sind . Jene erscheinen als dieselben, '\\'O immer wir uns in der Welt befinden, und wenn sie in Wirklichkeit existierten, so vielleicht von uns in der Entfernung von Millionen und Trillionen von Meilen. Verwertet werden sie darum von uns nur hinsichtlich der örtlichen Verhältnisse, welche sie zeigen und welche die Bildung von Begriffen beliebig vergrößertes, und verkleinerter Abstände ermöglichen. Wird es da., wenn die Anna.hme möglich ist, daß in einer Vorstellung n u r r e l a t i ve , ohne letzte9) absolute Bestimmungen enthalten sind, nicht konvenienter an­ zunehmen, d a s s e i b e i u n s e r e r S i n n e s a n s c h a u u n g t a t s ä c h l i c h d e r F a l l 1 Dann würde jene seltsame l{onstante Vortäuschung von gewissen unsäglich weit entfernten Orten entfallen 10). D i e A n s c h a u u n g z e i g t e u n s a l l e r d i n g s n u r A l l g e m e i nes1 1 ), a l l e i n d a s hatte auch d i e innere Wahrnehmung getan , u n d s o h a b e n w i r k e i n e r l e i A n la ß , u n s d a d u r c h b e ­ f r e m d e t z u f ü h l e n. § 9. Aber noch mehr. \Vir gewinnen so einen Vor­ teil, der kaum hoch genug anzuschlagen ist. Die Frage, ob wir nur relative oder auch absolute Bestimmungen vorstellen, welche wir für das räumliche Gebiet auf­ geworfen, kehrt beim zeitlichen wieder. Auch hier war L e i b n i z de1· Ansicht, daß es sich nur um Relationen handle, und darum, wie zwischen Lagen an verschiedenen Stellen des Raumes, Gott bei einer räumlich begrenzten Welt nicht zu wählen hätte, so auch nicht Z\vischen Lagen in der Zeit, wenn der ganze Weltlauf Anfang und Ende hätte oder auch nur der Anfangslosigkeit ent­ behrte. Daß es zu einer solchen Meinung gekommen,

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II. Abschnitt: Phänome11ognosie des Bewußtseins

schiene kaum denkbar, wenn uns in der Anschauung von Sukzessionen, von Bewegung und Ruhe, von Ton­ folgen a b s o l u t e und nicht bloß r e l a t i v e Zeitdiffe­ renzen erschienen. S i c h e r e r s c h e i n t a u c h h i e r j e d e G e g e n w a r t v ö l l i g g l e i c h. Und doch müßte sie, wenn sie eine absolute spezifische Zeitbestimmung enthielte, konstant wechseln oder uns eine ganz falsche, die nicht ist, sondern vielleicht vor Millionen von Jahrhunderten war oder sein wird, vorspiegeln. Alle Zeitbestimmungen, wie : gestern, vor einem Jahr usw., sind ganz deutlich relativ zur Gegenwart. Wenn wir nun bei der Zeit nur zwischen der Annahme, daß wir bloß Vorstellungen von relativen Zeitbestimmungen oder lauter falsche Zeit­ bestimmungen und insbesondere eine falsche Zeitbestim­ mung der Gegenwart haben, wählen können, so ist es klar, daß wir uns der ersteren Entscheidung zuneigen müssen, denn aucl1 die i n n e r e Wahrnehmung zeigt etwas als gegenwärtig, und diese ist völlig wah1· und sicher. Also ist es ausgeschlossen, daß in unserer zeitlichen Be­ stimmung des Gegen\värtigen irgend etwas Falsches ent­ halten wäre·. Und so löst sich denn infolge der voran­ gegangenen Erwägungen eine Schwierigkeit, welche sonst jedem Lösungsversuch trotzen würde. § 1 0. Wir 11aben gesehen, wie unsere Annahme, daß unsere äußere und innere Anschauung keine absoluten, sondern nur relative Orts- und Zeitbestimmungen ent­ halte, die Lehre von der bloßen Relativität des Raumes und der Zeit, die von L e i b n i z und vielen anderen mo­ dernen Physikern ve1�treten und von N e w t o n und seinen Anhängern wenigstens in Rechnung gezogen wurde, schier allein begreiflich macht. Dies gewinnt noch mehr Bedeutung, wenn man erwä.gt, daß diejenigen, welche so an absolute 01·te und Zeiten nicht glauben wollen, gemeiniglich nicht ähnlichen Protest erheben, \\„enn einer sagt, daß es keine Farbenabstände und Ton­ abstände, wenn es nicht absolute Farben und Töne geben würde . So sagt man denn gemeiniglich auch nicht,

4.

Kapitel : Von der Universalität aller Anschauungen

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daß keine Farbe und kein Ton für sich allein bestehen könne. Woher diese Verschiedenheit des Urteils im einen und andern Fall, wenn sie nicht Folge davon ist, daß die Anschauung, die uns absolute Farben und Ton­ qualitäten, uns nicht ebenso absolute Orts- und Zeit­ differenzen darstellt 1 Wenn sie uns auch absolute spezi­ fische Orts- und Zeitbestimmungen zeigte, so würde der Umstand, daß diesen keine Wahrheit an sich, sondern nur sog. phänomen�le Wahrheit zukäme, zur Erklärung nicht wohl genügen, da ja nur diese letztere auch den absoluten Farben- und Tonbestimmungen zuzuerken�en ist. Des weiteren habe ich auch bereits darauf aufmerksam gemacht, wie gewisse Außerungen des A r i s t o t e l e s damit in Zusammenhang stehen. Wenn er die Kategorie des Orts und der Zeit durch Beispiele veranschaulicht, so wählt er lauter relative Bestin1mungen, im Lyzeum , auf dem Markte, gestern, vor einem Jahr. Noch etwas anderes wird aber durch das Gesagte bei ihm verständlich gemacht ; da nämlich, wo er die sensi­ bilia communia aufzählt, hören wir ihn nicht von Ort und Zeit, wohl aber von Ausdehn-ung und Gestalt, Ruhe und Bewegung sprechen, welche gleich sein können, an welchem Ort immer sie sich befinden und zu welcher Zeit immer sie verlaufen, wenn nur die Ortsve1·hältnisse und Zeitverhältnisse gleich sind. So stimmt, was er hier tut, auf das beste zu der Auffassung, daß die sinnliche An­ schauung keine absoluten Orts- und Zeitdifferenzen, sondern nur Orts- und Zeitverhältnisse uns darbietet. § 1 1 . Wenn nun so die Annahme, daß unsere sinnliche Anschat1ung so wie auch die innere Wahrnehmung keine absoluten, sondern nur relative Raum- und Zeitbestim­ mungen zeige, sich mehr und mehr zu empfehlen scheint, so dürfen wir uns darum doch nicht versucht fühlen, mit L e i b n i z und vielen Modernen an nichts als die Existenz von relativen Orts- und Zeitdifferenzen in W i r k l i c h k e i t zu glauben. Hier wie in anderen Fällen, wo es sich um allgemeine Vorstellungen von kompara••

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II. Abschnitt: Phänomenognosie des Bewußtseins

tiven Relationen handelt, wird man bei sorgsamer Ana­ lyse erkennen , d a ß a b s o l u t e B e s t i m m u n g e n i m a l l ­ g e m e i n e n e i n g e s c h l o s s e n s i n d ; (,,Ö r t l i c h e s , Z e i t 1 i c h es'' i s t ab s o 1 u t , , ,Ab s t a i1 d'' i s t r e l a t i v) wie bei de1· des Helleren oder des Besseren die der Helligkeit oder der Güte im allgemeinen, sohin bei der des in irgend­ welcher Richtung und irge11dwelchem Maße räumlich oder zeitlich Abstehenden die der Räumlichkeit und der Zeitlichkeit im allgemeinen. Und so erscheint denn, ähnlich wie der allge m e i n e B e g r iff der Su b s t a n z in dem innerlich \Vahrgenommenen, auch der allgemeine Begriff des Zeitlichen und des Räumlichen in unserer inneren beziehungsweise äußeren 1 2) Anschauu.ng mit ent­ halten, wenn zeitliche oder räumliche Verhältnisse darin beschlossen sind . N u n h a b e n w i r a h e r g e g e n d i e Ul tr a­ R e a l i s t e n f e s t g e s t e l l t , d a ß e s e i n a l l ge m e i n R e a ­ l e s i n W i r k l i c h k e i t n i c h t g e b e n kann. A l s o g i b t ' s i n W i r k l i c h k e i t a u c h k e i n e b l o ß en R a u m - u n d Z e i t v e r h ä l t n i s s e , s o n d e r n a u c h a b s o l u t e Rau m ­ u n d Z e i t d i f f e r e n z e n , "\\: e l c h e s p e z i f i s c h u n d i n ­ d i v i d u e l l d e t e r m i n i e rt s i n d. § 1 2. Fra.gt man aber nach dem allgemeinen Begriff des Räumlichen und Zeitlichen, so wird folge11des zu sagen sein : D e r B e g r i f f d e s Z e i t l i c h e n f ä l l t m i t d e m d e s D i n g e s , i n s o f e r n es s u b s t a n t i e l l d e t e 1' ­ m i n i e r t i s t , d. h. e i n e S u b stanz e i n s c h l i e ß t , z u ­ s a m m e n . Es handelt sich darum, daß jede Substanz als Grenze eines eindimensionalen primären Kontinuums bestehe, welches keiner anderen seiner Grenzen nach ist, und doch demselben Kontinuun1 13) wahrhaft zugehört und von jeder anderen seiner Grenzen als später oder früher absteht. Das liegt im Begriff der Substanz, ja darum auch in dem eines jeden Dinges, insofern auch die Akzidenzien den allgemeinen Begriff der Substanz ein­ schließen. Würden wir absolute spezifische Zeitbestim­ mungen haben, so hätten wir in ihnen substantielle spezi­ fische Differenzen in einer der Serien, in welchen die

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l(apitel : Von der Universalität aller Anschauungen

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allgemeine Gattung der Substanz sich spezifisch diffe­ renziert 1 4). Was die allgemeine Gattung des Räumlichen anlangt, so ist sie von geringerem Umfang, kommt aber auch zu­ nächst den substantiellen Dingen und durch das sub­ stantielle Subjekt auch ihren Akzidenzien zu. Die räum­ lichen Differenzen erscheinen als spezifische Differenzen einer gewissen Klasse von Substanzen, \velche einer anderen Serie der essentiellen Differenzierung der Sub­ stanz im allgemeinen angehört als die zeitlichen Diffe­ renzen„ und die Substanzen, welche ihrer teilhaftig sind, erscheinen dadurch einem in drei Dimensionen aus­ gedehnten primären Kontinuum zugehörig, dessen species specialissima die betreffende Substanz individualisiert ; dieses Kontinuum kann nicht bloß einer, sondern un­ zähliger seiner Grenzen nach bestehen. (Schlechterdings undenkbar aber ist es nicht, daß es nur e i n e r seiner Grenzen nach bestehe, indem diese nur zeitlich mit anderen Grenzen und Teilen eines räumlichen Konti­ nuums zusammenhinge, welches seine vierte Dimension genannt wird, nach der es aber nicht bloß als primäres, sondern als sekundäres l(ontinuum erscheint, indem die Zeit ihm als primäres Kontinuum zugrunde liegt : Ein Konus, welcher von der Basis an sukzessive in kon­ tinuierlicher Abnahn1e vernichtet würde, würde zuletzt i1ur einem Punkte nach , und einer, der ähnlich von der Spitze an vernichtet würde, zuletzt nur einer ebenen Grenze nach bestehen . ) § 1 3 . Nach den Empiristen würden sich niemals andere als relative Bestirnmt1ngen mit der äußeren Anschauung verbinden. Nach G u y o t , der nach Analogie des räum­ lichen Empirismus einen zeitlichen ausgedacht hat, müßte entschieden dasselbe von diesem gelten. § 14. Nach dem Gesagten l i e g t es a l s o i m B e g r i f f e i n e s D i n g e s , daß es mit Realen1 als Späteres und Früheres oder wenigstens als eines der beiden zusammen­ hängt, ihm zt1gehö1·t, während das kontinuierliche Reale,

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

zu dem es gehört, keiner früheren oder späteren Grenze nach ist. Eine d e f i n i ti ve Ausdehnung, und würde die· selbe auch noch so klein angenommen, liegt aber nicht im allgemeinen Begriff des Dinges. Es liegt auch darum zwar in seinem Begriff, daß es von anderen Grenzen des Kontinuums, zu dem es gehört, als Späteres oder Früheres abstehe, n i c h t a b e r , d a ß e s i n e i n e m d e f i ­ n i t e n M a ß von s o l c h e m a b s t e h e . Wenn es aber an­ erkannt wird, so mag es geschehen, daß es nicht sowohl als Späteres als auch als Früheres ein Kontinuum Be­ grenzendes, sondern nur als eines von beiden anerkannt und als das andere geleugnet wird. Im letzteren Fall sagen wir, daß es in halber Plerose anerkannt wird und in halber Plerose geleugnet wird15) . § 1 5. So ist denn der Begriff des D i n g e s mit den1 des Z e i t l i c h e n s e l b s t identisch. E s l i e g t i n i h m d i e relative B e s t i m m u n g d e s S p ä t e r e n i m G e g e n s a t z z u m F r ü h e r e n u n d d e s F r ü h e r e n i m G e g e n s atz z u m S p ä t e re n , und daraufhin besteht für uns die Mög· lichkeit, uns den Begriff von etwas in beliebigem Maß als Späteres von Früherem und als Früheres von Spä­ terem Abstehendem zu bilden. Wenn wir sagen, dieses Ereignis habe vor 1 00 Jahren stattgefunden, so heißt das, genau betrachtet, soviel als : Wir sind (das, was da ist, ist) um 1 00 Jahre später als dieses Ereignis, und so ist die sog. Anerkennung des Ereignisses ähnlich aufzu­ fassen wie die Anerkennung eines Dinges als Gedachten, wo ich eigentlich nur anerkenne, daß einer das Ding denkt. Kann ich doch, wenn einer Widersprechendes denkt, auch das Widersprechende als gedacht anerkennen, ohne daß diese sog. Anerkennung des Widersprechender1 als absurd erschiene. Es ist das, was man eine Anerkennung in obliquo nennen könnte, die offenbar l{eine eigentliche Anerkennung von ihm ist, weil sie keine Vor­ stellung in recto von i h m , sondern von einem a n d e r e n zur Unterlage hat. So ist denn auch, wenn ich sage, daß etwas vor 1 00 Jahren gewesen sei, dieses Ding nicht .

4.

Kapitel : Von der Universalität aller Anschauungen

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eigentlich anerkannt, sondern nur ein Reales als um 1 00 Jahre .als Späteres von ihm Abstehendes. § 16. Man beachte abe1" wohl, daß das Abstehen als später und als früher ganz besondere Eigentümlichkeit hat. Das, wovon etwa.s so absteht, mt1ß nicht bloß nicht sein, sondern kann gar nicht sein, wenn das von ihm Abstehende sein soll. (Geradeso wie wenn icl1 etwas als n1it Recht gele11gnet anerkenne. ) Und so }{önnte auch, wenn etwas von mehrerem anderen in verschiedenem Maße als Früherem oder Späterem oder von dem einen als Früherem, von dem anderen als Späterem absteht, keines von ihnen mit den1 andern verei11bar gedacht werden, und man ka11n sagen, daß, obwohl nichts, was zeitlich von etw·as absteht, mit ihm kompatibel ist, alles also, wovon etwas zeitlicl1 absteht, unmöglich ist, doch das eine seiner Natur nach davon entfernter ist, m ö g l i c h zu sein als das andere (es müsse seiner Natur nach differenter gedacht werden, um etwas zu sein, was möglich ist ; jetzt denken wir es ja gar nicht seiner spezifischen Differenz nach). Nichts Ähnliches findet sich auf anderen Gebieten, wie z. B. Farbiges als Far­ biges, Tönendes als Tönendes, Räumliches als Räum­ liches von dem anderen absteht. Nur w·enn der Gedanke zeitlichen Abstandes sich mit einem anderen, z . B. dem Räumlichen verbindet , wie wenn ich etwa sage , ein Ding habe eine um 1 Meile \Terschiedene örtliche Be­ stimmung von der, welche ein anderes vor einer ge­ wissen Zeit g e h a b t h a t , kann man von einer Inkom­ patibilität des Abstehenden mit dem, wovon es absteht, sprechen. So ist auch jedes Moment einer Bewegung mit jeden1 anderen inkompatibel. Aristoteles nennt die Bewegung eine lv{eyeta arc21]�. Er nennt sie auch Wirklichkeit eines in Möglichkeit Seienden als solchen. Nach dem, was wir gesagt, ist dies letztere aber nicht richtig, denn eine Bewegung ist nicht bloß nicht mehr als einer ·Grenze nach wirklich, sondern nicht mehr als einer Grenze nacl1 möglich. Auch gilt, was er von der

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II. Abschnitt : Phänomenognosie des Bewußtseins

Bewegung sagt, daß sie nur einer Grenze nach wirklich sei, auch von der Ruhe und von allem Bestehenden, da es ja ein zeitlicher Verlauf ist. ,,Die Wirklichkeit eines Unmöglichen als solchen' ' könnte man eher sagen. Bei diesem zeitlichen Verlauf ändert sich aber das Bestehende gewissen spezifischen Bestimmungen nach nicht, ja es kann geschehen, daß es sich nach gar keine1� spezifischen Bestimmung als seiner z e· i t l i c h e n nach ändert, in bezug auf welche der Wechsel allgemein ist und immer nur von solchem zu solchem führt, "'orin alle Dinge übereinstimmen. So begründet er denn auch keinen Unterschied, weder einen s p e z i f i s c hen noch einen i n d i v i d u e l le n zwischen dem einen und dem anderen Ding ; nur wenn man von einem Unterschied auch von solchem, was weder ist noch sein lrann, sprechen will, kann man infolge von einer besonderen zeitlichen Bestimmung, von D i f f e r e n z i e r u n g reden 16) ; somit dürlen wir sagen, im eigentlichen Sinne sei weder von spezifischer noch individueller Verschiedenheit die Rede, oder die Verschiedenheit sei u n t e r i n d i v i d u e l l , wie man denn auch im Falle, wo nichts als zeitlicher Wechsel eintritt, al1gemein von voller individueller Erhaltung spricht. § 1 7 . Das, was wir über den allgemeinen Begriff des Dinges als Grenze, die einem primären zeitlichen Kon­ tinul1m zugehöre, gesagt haben, weist auf einen Cha­ rakterzug des ersten Prinzips aller anderen hin, jenes Dinges, durch das alle anderen sind und verharren. Auch bei ihm muß das Sein in einem kontinuierlichen Verlauf bestehen, der in Richtung und Geschwindigkeit vollkommen gleichmäßig, eindimensional, auch unmittel­ bar notwendig ist. Er ist dies aber nur einer seiner Grenzen nach ,' welche von jeder anderen als später oder früher und als Seiende von Nichtseienden, ja als Not­ wendige von Unmöglichen absteht. Gar mancher mag sich wunde1·n, wenn er solches hört, und insbesondere a11ch mancher Theist zunächst daran Anstoß nehmen.

4.

J(apitel : Von der Universalität aller Anschauungen

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Aber was ihm, ehe er es näher erwägt, absurd erscheinen mag, läßt sich unschwer als einzige Rettung von der Absurdität erweisen, wenn anders man an eine der Um­ wandlung unterworfene Welt und einen allwissenden und mit seinem Willen alles bestimmenden Schöpfer glaubt. Ein Schöpfer hat keine mitbedingende Ursache bei sei­ nem Werk. Jede Ursache aber wirkt, was sie wirken kann, sobald keine Mitbedingung fehlt. Warum also ist diese Welt bei dieser und nicht bei einer anderen Ent­ wicklungsstufe angelangt 1 Ferner, wer allwissend ist, ke11nt alle Wahrheit. Wechselt die Wahrheit, d. h. ist das eine Mal wahr, was ein andermal falsch und umgekehrt, so muß darum auch das Wissen des Allwissenden wechseln und infinitesimal wechseln, insofern er sich, nachdem er sich als von einem Ereignis als �""rüherer abstehend erkannte, in kontinuier­ licher AnnäheFung ihm als mehr und mehr sich annähernd, als gleichzeitig und mehr und mehr als Späterer von ihm sich entfernend erkennt. Mit anderen Worten, er muß erkennen, daß das Ereignis sein wird, in kürzerer Frist sein wird, gegenwärtig und vor kürzerer und längerer Zeit gewesen sei. Was wäre das für ein Gott, der zwar den ganzen Weltlauf kennte, aber nicht wüßte, bis zu welchetn Moment der Entwicklung er gelangt sei ! Ein heiliger Büßer würde in seinen Augen nie weniger als Sünder denn als Heiliger erscheinen.

ANM E R K U NG E N D ES H E R A U S G E B E R S

Ei·ster Absdinitt.

1.

Kapitel.

') Die Abhandlung war als Einleitung in eine Metaphysik oder Weisheitslehre (die , ,erste Philosophie'' des Aristoteles) gedacht. Daher beschäftigt sie sich ei11leitend mit dem Begriff der Weisheit u11d mit erkenntnistheoretischen Frage11, ins­ besondere mit der Frage der unmittelbaren positiven Einsich­ ten. Da jedoch die , , innere Wahrnehmung'' und die mit ihr verbundene unmittelbare Erfahrungserkenntnis at1ch die Grundlage der Psychologie bildet, so paßt diese Einleitt1ng auch sehr gl1t als Einf ühru11g in die Sinnespsychologie und dies um so mehr, als Brentano den sinnespsychologischen Frage11 hier breitesten Raum gewährt. Die Abhandlung bega.nn mit den \Vorten : , , 1 . Die bloße Erkennt.nis, d a ß et,vas sei, steht hinter der Erl{e11ntnis, w ar u m es sei, zurück. Und i11folge davon steht auch unter denen, die ein ,,Warum'' anzugeben vermögen, derjenige noch höher, welcher a11ßer der nächsten Ursache auch eine entferntere noch anzugeben vermag. Am höchsten aber der, dessen Erkenntnis bis zur Einsicht der ersten Ur­ sache, die i11 sich selbst notwendig .ist, gelangt. Man hat den, welcher dies erreicht hat, ei11en \Veisen genannt, und der Name der W e i s h e i t gilt als der vor11ehmste im ganzen Bereich intellektueller Tugend. 2. Aber ist es denn wirklich für uns Menschen möglich, zur 'Veisheit zu gelangen 1 Vielfach zieht man dies in Zweifel, ja, nicht bloß die Möglichkeit der Erklär11ng von Tatsachen durch Rückführung auf ihren ersten Grund wird bestritten, sondern manche gehen so weit, schon die Rückführung auf näherliegende Ursachen, ja, die Möglichkeit der sicheren Er­ kenntnis von Tatsachen gänzlich in Abrede zu stellen. Es sind dies die sogenannten Skeptiker. Ehe wir die Lehre der Weis­ heit darzulegen beginnen, werden wir darum die Skepsis mit einem Worte zu berücksichtigen haben.'' 2) Die Voraussetzungen, von denen Brentano hier spricht, sind, wie sich sogleich ergibt, nichts anderes als unmittelbare Einsichten. Es kann also in der Tat keine ,,voraussetzungslose Forschung'' geben, wenn man darunter eine Forschung ver­ steht, die nicht auf unbeweisbaren, weil unmittelbar einsichti­ gen wa.hrheiten beruht. -

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Anmerkungen des Herausgebers

Dagegen ist die Forderung nach , ,voraussetzungsloser For­ schung'', für die Brentano anderwärts (, ,Die Vier Phasen der Philosophie'' Bd. 195 der Phil. Bibl ., S . 173 ff.) eintritt, nichts anderes als die Forderung nach ,,vor urt e i l s l o s e 1�'', von Neigung und vorgefaßter Überzeugung freier Unter­ suchung. Obgleich Brentano in seiner Erwiderung an H ert­ l i n g, a. a. 0 . , den Sinn jenes selbstverständlichen Postulates völlig klar gestellt hat, polemisiert neuerdings Prof. Kathrein in der sudetendeutschen Zeitschrift ,,Hochschulwissen'' 1926, Jahrg. 3, Heft 3, gegen das ,,Schla.gwort'' einer voraus­ setzungslosen \Vissenschaft . Da er die Erläuterung Brentanos unbeachtet läßt, ist sein Einspruch völlig wirkungslos. 3) Vgl. Brentano, Psych. I, 2. Aufl. Einleitung des Heraus­ gebers Kapitel V ,,Zur Lehre von der äußeren Wahrnehmung'', S . LXXIII ff. ') Prof. K as t i l bemerkt h.ierzu : ,,Denselben Zirkelschluß begehen auch die modernen Konventionalisten, wenn sie lehren, man kö11ne keine Urteile, die unmittelbare Erkenntnis wären, in innerer Wahrnehmung entdecken, sondern müsse gewisse Urteile zu unmittelbaren Erkenntnissen e r n e n 11en , 'vas durch Übereinkt1nft (1{.onvention) vor sich gehe. Denn woher soll ich denn wissen, daß Menscl1en da wa1·en und eine solche Übereinkunft getroffen haben, we11n ich noch gar nicht über irgendwelche u11mittelbare Erkenntnisse verfüge 1 Ding­ ler (Zusan1menbruch der Wissenschaft, 1926) sucht das zu verschleiern, indem er statt Konventionalismus lieber De­ cernismus oder Dekretismus zu sagen vorschlägt. Aber woher soll ich erkennen, wenn es keine unmittelbare Erkenntnis gibt, daß irgendwer irgendwas dekretiert hat, j a auch nur, daß ich selbst mich durch ein solches Dekret an irgendwelche Dekrete gebunden habe 1 Nicht einmal in dem Augenblicke, wo ich es tue, kann ich das unmittelbar erkennen, wenn es noch gar keine unmittelba1'e Erkenntnis gibt. Durch solchen. Wort­ zauber sind innere Widersprüche nicht zu bannen. Übrigens würde Dingler wahrscheinlich antworten, daß sein Kon­ ventionalismus nicht so weit gehe, wie z . B. der Del Negros (Zur Evidenztheorie der Wahrheit, Kantstudien 1925), der auch kei11e unmittelbar sichere T a t s a c h e n e1'kenntnis gelten läßt, 'vä.hrend er selbst sich mit der Ablehn11ng jeder natür­ lichen Einsicht . i11 allgemeine \Vahrheiten begnüge. Aher Del Negro hat - hierin wenigstens - die Konsequenz auf seiner Seite, während Dingler, wenn er jede ,Erkenntnis a priori' verwirft, nicht sicher sein kann, ob er, indem er etwas wa.hrnimmt, es nicht vielleicht zugleich nicht wahrnehme. Da

Erster Abschnitt. I . Kapitel

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die Konventionen und Dekrete nur der Rücksicht auf irgend­ welche Utilität ihre Entstehung verdanken, stellt der K on­ ventionalismus eigentlich nur eine terminologische Neuerung gegenüber dem vor einigen Jahren beliebt gewesenen Pragma­ tismus dar.'' 6) Die unmittelbar evidenten Wahrnehmungen nennt Bren­ tano unmit.telbare T a t s a c h e n e r k e n n t n i s s e (Leibniz spricht von verites de fait); mitunter spricht Br. auch von Tatsachen· k e n n t n i s. Daß man aber das Wort ,,Erkenntnis'' für die verites de raison vorbehalten m ü s s e , wie S c h l i c k s Er­ kenntnislehre diktat.orisch fordert, ist ebenso unbegründet, als es sonderbar wäre, Leibniz zu verbiete11, das Wort ,,verite'' auch für Tatsachenwahrheiten zu gebrauchen. - ,,Unmittel­ bar'' ist im Gegensatze zu ,,gefolgert'' gemeint. ') Es gibt immer noch Erkenntnistheorien, die diesen einzig möglichen Weg verfehlen. Wodurch sich ein Rotsehen von einem Blausehen unterscheidet, kann auf keine andere Weise als durch Vergleich dieser beiden Erfahrungen festgestellt werden. Auf keine andere Weise als eben auch durch Vergleich kann ich feststellen, wodurch sich das, was 'vir als ,,Erkennen'' bezeichnen, von einem sogenannten ,,blinden Urteile'' unte1·­ scheidet, das kei11e Erlt:enntnis ist. Vgl. die Einleitung zu Bd. I und de11 Anha11g zu Bd. II. Die Evide11zlehre Brentanos wird meist völlig mißverstanden. A11sdrücklich warnt Bre11„ tano davor, zu glauben , man halte sicl1 bei jedem evidenten Urteile an ein ,,Kriterium''. Nein ! Das evidente Urteil, die Er­ kenntnif!, ist vielmehr selbst als 'Erkenntnis das Richtmaß für jene Urteile, die nicht evident sind, ist also das ,,Kriterium'' für die Wahrheit anderer. - In dieser Beziehung hat S p i n o z a , hier an D e s c a r t e s orientiert, 'veit deutlicher gesehen als die ,,modernen'' Erkenntnist.heoretiker, daß die Einsicht oder Er­ kenntnis die Norm ist für alle anderen Urteile und keiner Adäquationstheroie zu ihrer Rechtfertigung bedarf. Vgl. die verwandten Lehren von N e 1 s o n - F r i e s. 7) In der 3. Meditation bezeichnet D e s c a r t e s sein ,,co­ gito ergo sum '' als den wichtigsten Fall einer klaren t1nd distinkten Perzeption. Nach B r e n t a n o ist nun in jedem Bewußtsein die Wahr 11eh.mt1ng (das evidente sekundäre Bewußtsein) seiner selbst eing.eschlossen, und wie sich sogleich zeigen wird, ist dieses sekundäre Bewußtsein n iemals distinkt und niemals einer Variation in bezug auf Deutlichkeit oder Undeutlichkeit fähig. Es ist demnach sicher, daß die cartesianische unmitt.elbare Tatsachenerkenntnis über die brentanosche sekundäre Wahrnehmung· hinausgeht. Näheres weiter unten.

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Anme1·kungen des Herausgebers

8) l\'I it andern Worten das Hören, Sehen selbst, obgleich es

kein bloßes Vorstellen, keine bloße idea im cartesianischen Sinne ist, sonder11 ei11 Glauben, cl. h. ei11 posit.ives U1·teil, ist nicht evident, keine bejahende E r k e 11 n t n i s des Tones, d. 11. ich nehme nicl1t eviclent Ke1111tnis vom Tone oder von der Farbe (sondern 11ur vom Tonl1ören und Farbensehen) . Die Empfindungen (Empfindungsakte Empfindungszustände) sind aber nicht nur lteine Erkenntnisse oder evidente Kennt­ nisnahmen von etwas, es ist auch in keiner \Veise möglich, nach· zuweisen, daß dasjenige, was sie uns empfinden lassen (das Farbige, Tönende, mit einem Worte das Qualitativ - Spezi­ fizierte) tatsächlich ( wirklich, existent) ist. Vielmehr ist im Gegenteil seit altersher und in neuerer Zeit durch L o c k e die Ir­ rigkeit der äußeren Wahrnehmung erwiesen. - Nichts von dem, was sie uns in s p e c i e specialissima zeigt, existiert. �Ian könnte höchstens sagen, daß sie uns den g a n z a l l g e m e i n e n B e ­ g r i f f d e s Q u a l i t a t i v - R ä u m li c h e n gewinnen lasse und diesem Begriffe etwas in Wirklichkeit entspreche. 9) So Meinong. Die Absurdität einer solchen Vermutungs­ evidenz erhellt aus der Untersuchung des Wahrschein1ichkeits­ begriffes. Vgl. ,,Versuch über die Erkenntnis'' Phil. Bibi. Bd. 194. 10 ) Selbstverständlich ist at1ch die Wendung, , ,die Leugnung f i11det sich in mir'', nicht wörtlich zu verstehen, d . h. nicht lokal. 1 1) In den Ausdrücken ,,psychische Tätigkeit'', ,,psychiscl1 Tätiger'', ,,psychischer Akt'' gehört ,,Tätigkeit'', ,,Akt'' zur inneren Sprachform , nicht zur Bedeutung. Mit andern Worten, es ist nicht a11 eine Aktivität gedacht, sondern es ist nichts anderes gemeint als Bewußtseinszustand, bewußtes Akzidenz der Seele. Dies sei im Hinblick auf R e h m k e bemerkt, der übersehen zu haben scheint, daß schon A r i s t o t e 1 e s jedes Denken für eine ,,passio'', d. i. ein Gewirktwerden, erklärt hat. 1 2) Das Wort ,,real'' ist hier, wie auch sonst mitunter, im Si11ne des Wirklichen zu verstehen. ,,Real'' ist aber ein mehr­ deutiges Wort und kann auch so viel bedeuten wie Ding, Wesen, res (also etwas, was sowohl wirklich sein als nicht wirklich sein kann). Diese Doppelsinnigkeit des Wortes ist im ersten Bande (Einleitung) ausführlich erörtert worde11. Im Text braucht Brentano das Wort im Sinne von ,,wirklich''. 13) Vgl. hierzu ,,Die vier Phasen de1· Philosophie'' Bd. 195 der Phil. Bibl., S. 92. 1 1) Ü ber den Begriff der Wahrscheinlichkeit vgl. , ,Versuch über die Erkenntnis'' Bd. 194 der Phil. Bibl. 15) Die ,,Selbsterkenntnis'', von der Brentano hier spricht, ist das, was er anderwärts das , ,seku11däre Be\vußtsein'' nennt, =

=

Erster Abschnitt. 1 . Kapitel

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nnd was wir, um Zweideutigkeiten zu ve1'meiden, auch als ,,innere Wahrnehmung im engste-11 Si11ne dieses 'Vortes'' bezeichnen. In der Psychologie vom Jahre 1874 (vgl. Bd. 1 dieser Aus­ gabe Phil. Bibi. Bd. 192, S. 181) lehrte Brentano at1sdrück­ lich : ,,Nur im Hören der Töne wird das Hören selbst miterfaßt. '' Genauer expliziert er das Wesen dieses sekundären Bewußt­ seins in Bd. II (Bd. 193 der Phil. Bibi. im Anhang S. 138 : ,,Von der psychischen Beziehung al1f et,vas als sekundäres Objekt''). Hier wird dargetan, daß als sekundäres Objekt der psychischen Tätigkeit nicht bloß die Beziehu11g zum primären Objekt in Betracht kommt, sondern die ganze psychische Tätigkeit, selbst, worin mit der primären Beziehung (z. B. der Beziehung auf den Ton) auch die sel{undäre Beziehung selbst (das Wissen um das Hören, das Bewußtsein vom Hören) eingeschlossen ist. Beim sekundären Be,vußtsein ist nun die relative Unmög· lichkeit gesichert, daß das psychisch Tätige, wie es ist, sei und das Objekt der psychiscl1en Tätigkeit nicht sei, denn der psychisch Tätige als solcher ist mit dem Objekt des psychisch Tätigen identisch, weil die Tätigkeit, die 'vahrgenommen wird, mitbeschlossen ist in der wahrnehmenden Tätigkeit. Somit steht eines fest : die Richtigkeit des sekundäre11 Be­ \vußtseins (die Unmöglichkeit eines Irrt11ms) ist mit apriori� scher Evidenz gesiche1·t, sie leuchtet ein aus dem Wesen des sekundären Be,vußt.seins (der inneren 'Vahrnehmung im eng­ sten Sinn). Wenn nun aucl1 von mancher Seite die E v i d e n z dieser inneren Wahrnehmung im engsten Sinne des sekundären Be­ wußtseins bei gewissen Al{ten in Frage gestellt wird, so bleibt doch die I r r t 11 m s l o s i g k e i t desselben außer Zweifel. 16) Nicht nur jede unmittelbare Evidenz, sondern jede Möglichkeit unmittelbarer Sicherheit des affirmativen Urteils ist bei l\Iangel der Identität von Erkennendem und Erkann­ tem ausgeschlossen. Nur einem unmittelbar not\vendige11 \Vesen könnte sie, meint Brentano, in solchem Falle zukom­ men. Dies ist ein Seitenblick auf die Metaphysi]{. Läßt sich nämlich ein unmittelbar 11otwendiges Wese11 nachweisen, das als schöpferische Ursache derjenigen \Vese11 (Dinge) zu betrachten iRt, die ,,11icht in sich notwendig'' (kon­ tingent) sind, so läßt sich weiterhin nicht nur die Geistigkeit dieses Urdinges, sonflern aucl1 seine Vollkommenheit erweisen. Auch daß und warum das ihm zukommende Denken (zu seiner Substanz gehörig, nicht wie unsres bloß akzidentell) jederzeit sowohl Vergangenl1eit als Gegenwart und Zukunft mit un· mittelbarer Evidenz umfassen müsse, ergeben die betreffenden

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Anmerkungen des Herausgebers

metaphysischen Untersuchungen, die Brentano in besonderen Vorlesungen und Abhandlungen niedergelegt hat. Ein näheres E ingehen auf diese Fragen ist an dieser Stelle un­ mö glich. Vgl. F. Brentano, „Kategorienlehre" , Bd. 208 der Phil. Bibi. , und „ Vom Dasein Gottes" , Bd. 2 1 0 der Phil. Bibi. -

17) ßrentano führt hier den Bel\·eis für die Behauptung, daß

eine unmittelbare Tatsachenerkenntnis nur dann m ö g l i c h ist, wenn der Erkennende mit dem Erkannten nicht nur identisch ist., sondern wenn diese Id�ntität auch zugleich m i t e r k a n n t werde. Hierzu bemerke ich : Unter Identität des Erkennenden mit dem Erkannten ist hier nicht nur die Identität dem psychisch tätigen Subjekte nach zu verstehen (wie sie etwa bei zwei gleichzeitigen psychischen Akten des· selben Subjektes vorhanden ist), sondern es mt1ß zur Identität dem Subjekte nach noch die Identität des Akzidens, das ist cler psychischen Tätigkeit (des Zustandes) , hinzutreten. Der psychisch Tätige als psychisch Tätiger ist identLc:;ch mit dem, was der psychisch Tätige zum Objekte hat ; die primäre und die sekt1ndäre psychische Beziehung konstituieren j a den Akt, sind begrifflich verschiedene Elemente desselben Zustandes. Ferner : Da Brentano hier von der inneren Wahrnehmung im engsten Si11ne, von dem sogenannten sekundären Bewußt­ sein handelt, so kann da.s Wissen von der Identit.ät. des Er­ kennenden und des Erkannten kein e x p l i z i t e s und d i s t i n k tes sein, sondern jenes Miterkennen kann nur als ein Mitwahr­ nehmen verstanden werden ; so spricht Brentano auch nur von einem ,,B e k a n n t s e i n'', von einem ,,K e n n t n i s - h a b e n''. Das sekundäre Bewußtsein bezieht sich, wie wir oben gesehen haben, auf den ganzen psychischen Zustand, in welchem beide Beziehungen, die primäre und die sekundäre, und daher auch das Verhältnis beider mitinbegriffen ISt. Wer das ,,Ich denke'' umändert in ein ,,Es denkt'', hat schon darum das Wesentlichste verfehlt, weil er die Identität des Subjektes entfallen läßt, ohne die auch von einer Identität zwischen Erkennendem und Erkanntem nicht die Rede sein }{ann. Eine andere Frage ist, ob das Cartesianische ,,cogito ergo sum'' nur auf die innere Wahrnehmung im engsten Sinne (auf das ,,sekundäre ·Bewußtsein'') zielt oder nicht vielmehr über diese hinausgehend, eine e v i d e n t e A p p e r z e p t i o n im Auge hat. Vgl. oben Anm. 7 . Es scheint das letztere der Fall zu sein. Denn vom bloßen sekl1ndäre11 Bewußtsein gilt keines· falls, daß es eine c l a r a a c d i s t i n c t a p e r o e p t i o sei. ·

Erster Abschnitt. 1 . J(apitel

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18) Aus dieser Stelle geht hervor, daß eine evidente Wahr­

nehmung ·von Transzendentem, nach Brentano, nur in dem Falle möglich wäre, wenn das erkennende Subjekt davon Kenntnis hätte,