Sämtliche veröffentlichte Schriften: Band 1 Psychologie vom empirischen Standpunkt. Von der Klassifikation psychischer Phänomene 9783110332582, 9783110332445

Franz Brentanos (1838-1917) Psychologie vom empirischen Standpunkte aus dem Jahre 1874 gehört zu den Klassikern der Phil

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Sämtliche veröffentlichte Schriften: Band 1 Psychologie vom empirischen Standpunkt. Von der Klassifikation psychischer Phänomene
 9783110332582, 9783110332445

Table of contents :
Vorwort der Herausgeber
Eine Psychologie, die Epoche gemacht hat
1. Die Entstehung eines „epochemachenden“ Werkes
2. Begriff und Aufgabe der Psychologie
3. „Psychologie ohne Seele“
4. Die Psychologie auf dem Wege zur selbständigen Wissenschaft
5. Die Psychologie als „Wissenschaft der psychischen Phänomene“
6. Der Aristotelische Hintergrund von Brentanos Psychologie
7. Das akademische Umfeld
8. Die Methode der Psychologie: Erklärung vs. Beschreibung
9. Die Intentionalität
9.2. Die ontologische Deutung der Intentionalität
9.3. Die aristotelische Herkunft von Brentanos Intentionalitätsgedanken
9.4. Intentionales Objekt und intentionales Korrelat
9.5. Reales vs. Existierendes
9.6. Intentionale Inexistenz als „objektive Aufnahme“
9.7. Der nichtexistierende Gegenstand
10. Die Klassifikation der psychischen Phänomene
11. Die Einheit des Bewußtseins
11.1. Die Teile des Bewußtseins
11.2. Ablösbare und distinktionelle Teile
11.3. Das Leib-Seele-Problem
Editorische Vorbemerkung
Vorwort
Erstes, einleitendes Buch. Von der Psychologie als Wissenschaft
Erstes Capitel. Ueber Begriff und Aufgabe der psychischen Wissenschaft
§. 1. Definition der Psychologie als der Wissenschaft von der Seele
§. 2. Definition der Psychologie als der Wissenschaft von den psychischen Phänomenen
§. 3. Eigenthümlicher Werth der Psychologie
Zweites Capitel. Ueber die Methode der Psychologie, insbesondere die Erfahrung, welche für sie die Grundlage bildet
§. 1. Besonderes Interesse, welches sich an die Betrachtung der Methode der Psychologie knüpft
§. 2. Die innere Wahrnehmung als Quelle psychologischer Erfahrung. Sie darf nicht mit innerer Beobachtung verwechselt werden
§. 3. Betrachtung früherer psychischer Phänomene im Gedächtnisse
§. 4. I ndirecte Erkenntniss fremder psychischer Phänomene aus ihren Aeusserungen
§. 5. Studium eines Seelenlebens, das einfacher als das unserige ist
§. 6. Betrachtung krankhaften Seelenlebens
§. 7. Studium hervorragender Thatsachen im Leben Einzelner wie in dem der Völker
Drittes Capitel. Fortsetzung der Untersuchungen über die Methode der Psychologie. Von der Induction der höchsten psychischen Gesetze
§. 1. Die inductive Feststellung der allgemeinsten Eigenthümlichkeiten setzt nicht die Erkenntniss der mittleren Gesetzte voraus
§. 2. Unentbehrlichkeit einer Bestimmung der Grundclassen der psychischen Erscheinungen. Umstände, die sie möglich machen und erleichtern
§. 3. Eine der ersten und allgemein wichtigsten Untersuchungen ist die über die psychischen Elemente
§. 4. Die höchsten Gesetze der Succession psychischer Phänomene, zu welchen die Induction aus innerer Erfahrung führt, sind streng genommen empirische Gesetze
§. 5. Ueber den Versuch von Horwicz, die Psychologie auf Physiologie zu gründen
§. 6. Ueber die Gründe, um derentwillen Maudsley die Erforschung der psychischen Phänomene nur auf physiologischem Wege für möglich hält
§. 7. Ob es bei dem gegenwärtigen Stande der Physiologie räthlich sei, auf Grund ihrer Data eine Rückführung der Succession psychischer Phänomene auf eigentliche Grundgesetze anzustreben?
Viertes Capitel. Fortsetzung der Untersuchungen über die Methode der Psychologie. Ungenauigkeit ihrer höchsten Gesetze. Deduction und Verification
§. 1. Ohne die Messung der Intensität der psychischen Phänomene können exacte Gesetze ihrer Aufeinanderfolge nicht gefunden werden
§. 2. Ueber die Versuche von Herbart und Fechner Maassbestimmungen dafür zu finden
§. 3. Von der Ableitung besonderer Gesetze der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen mittels der deductiven und der sogenannten umgekehrten deductiven Methode
§. 4. Von dem Verfahren, welches bei der Untersuchung über die Unsterblichkeit einzuhalten ist
Zweites Buch. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen
Erstes Capitel. Von dem Unterschiede der psychischen und physischen Phänomene
§. 1. Nothwendigkeit eingehender Untersuchung der Frage
§. 2. Erläuterung des Unterschiedes durch Beispiele
§. 3. Die psychischen Phänomene sind Vorstellungen oder haben Vorstellungen zur Grundlage
§. 4. Bestimmung der psychischen Phänomene durch den Mangel der Ausdehnung, Widerspruch, der sich gegen diese Bestimmung erhebt
§. 5. C harakteristisch für die psychischen Phänomene ist die Beziehung auf ein Object
§. 6. Psychische Phänomene können nur durch inneres Bewusstsein wahrgenommen werden; für physische ist nur äussere Wahrnehmung möglich
§. 7. Physische Phänomene können nur phänomenal, psychische auch in Wirklichkeit existiren
§. 8. Ob, und in welchem Sinne etwa, es richtig sei, dass von psychischen Phänomenen immer nur eines nach dem anderen, von physischen viele zugleich bestehen
§. 9. Rückblick auf die Begriffsbestimmungen der physischen und psychischen Wissenschaft
Zweites Capitel. Vom inneren Bewusstsein
§. 1. In welchem Sinne wir uns des Wortes „Bewusstsein“ bedienen
§. 2. Gibt es ein unbewusstes Bewusstsein? Uneinigkeit der Philosophen. Scheinbare Unmöglichkeit, die Frage zu entscheiden
§. 3. V ier Wege, auf welchen der Nachweis eines unbewussten Bewusstseins versucht werden kann
§. 4. Versuche durch Schluss von der Wirkung auf die Ursache die Existenz eines unbewussten Bewusstseins darzuthun und ihr Misslingen
§. 5. Versuche durch Schluss von der Ursache auf die Wirkung dasselbe zu erreichen. Auch sie erweisen sich als ungenügend
§. 6. V ersuch, welcher sich auf ein functionelles Verhältniss zwischen dem bewussten psychischen Phänomene und dem darauf bezüglichen Bewusstsein stützt. So weit ein solches erkennbar ist, spricht es vielmehr gegen die Annahme
§. 7. V ersuch, welcher sich darauf stützt, dass die Annahme, jedes psychische Phänomen sei Object eines psychischen Phänomens, zu einer unendlichen Verwickelung führe
§. 8. V orstellung und Vorstellung von der Vorstellung sind in ein und demselben Acte gegeben
§. 9. Warum keine innere Beobachtung möglich sei, und warum die Annahme, jedes psychische Phänomen sei bewusst, zu keiner unendlichen Verwickelung führe
§. 10. Bestätigung des Gesagten durch das übereinstimmende Zeugniss verschiedener Psychologen
§. 11. Warum man gemeiniglich glaubt, die begleitende Vorstellung sei mit der begleiteten von gleicher Intensität
§. 12. Einwand, der sich auf die Wahrnehmung des Nichthörens stützt, und Lösung des Einwandes
§. 13. Es gibt keine unbewusste psychische Thätigkeit
Drittes Capitel. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein
§. 1. M it den psychischen Acten ist oft ein darauf bezügliches Urtheil verbunden
§. 2. Die begleitende innere Erkenntniss ist in dem begleiteten Acte selbst beschlossen
§. 3. Das begleitende innere Urtheil zeigt nicht eine Zusammensetzung aus Subject und Prädicat
§. 4. Jeder psychische Act wird innerlich wahrgenommen
§. 5. H äufig besteht in uns ausser der Vorstellung und Erkenntniss noch eine dritte Art von Bewusstsein des psychischen Actes, ein Gefühl, das sich auf ihn bezieht und ebenfalls in ihm selbst enthalten ist
§. 6. Auch diese Art des inneren Bewusstseins begleitet ausnahmslos alle unsere psychischen Thätigkeiten
§. 7. Rückblick auf die Ergebnisse der beiden letzten Capitel
Viertes Capitel. Von der Einheit des Bewusstseins
§. 1. Stellung der Frage
§. 2. Unsere gleichzeitigen psychischen Thätigkeiten gehören sämmtlich zu einer realen Einheit
§. 3. Was besagt die Einheit des Bewusstseins, und was besagt sie nicht?
§. 4. Die Einwände von C. Ludwig und A. Lange gegen die Einheit des Bewusstseins und gegen den Beweis, der uns dieser Thatsachen versichert
Fünftes Capitel. Ueberblick über die vorzüglichsten Versuche einer Classification der psychischen Phänomene
§. 1. Platon’s Unterscheidung eines begierlichen, zornmutigen und vernünftigen Seelentheiles
§. 2. Die Grundeintheilungen der psychischen Phänomene bei Aristoteles
§. 3. Nachwirkungen der Aristotelischen Classificationen. Wolff. Hume. Reid. Brown
§. 4. Die Dreitheilung in Vorstellung, Gefühl und Begehren. Tetens. Mendelssohn. Kant. Hamilton. Lotze. Welches war das eigentlich maassgebende Princip?
§. 5. Annahme der drei Glieder der Eintheilung von Seiten der Herbart’schen Schule
§. 6. Die Eintheilungen von Bain
§. 7. Rückblick auf die zum Behuf einer Grundeintheilung angewandten Principien
Sechstes Capitel. Eintheilung der Seelenthätigkeiten in Vorstellungen, Urtheile und Phänomene der Liebe und des Hasses
§. 1. V erwerfung der Grundeintheilungen, die nicht aus dem Studium der psychischen Erscheinungen hervorgehen
§. 2. Eine Grundeintheilung, welche die verschiedene Weise der Beziehung zum immanenten Objecte zum Principe nimmt, ist gegenwärtig jeder anderen vorzuziehen
§. 3. Die drei natürlichen Grundclassen sind: Vorstellungen, Urtheile und Phänomene der Liebe und des Hasses
§. 4. Welches Verfahren zur Rechtfertigung und Begründung dieser Eintheilung einzuschlagen sei
Siebentes Capitel. Vorstellung und Urtheil zwei verschiedene Grundclassen
§. 1. Zeugniss der inneren Erfahrung
§. 2. Der Unterschied zwischen Vorstellung und Urtheil ist ein Unterschied in den Thätigkeiten selbst
§. 3. Er ist kein Unterschied der Intensität
§. 4. Er ist kein Unterschied des Inhaltes
§. 5. Es ist nicht richtig, dass die Verbindung von Subject und Prädicat oder eine andere derartige Combination zum Wesen des Urtheils gehört. Dies zeigt erstens die Betrachtung des affirmativen und negativem Existenzialsatzes;
§. 6. zweitens bestätigt es sich im Hinblicke auf die Wahrnehmungen, und insbesondere auf die Bedingungen der ersten Wahrnehmungen;
§. 7. drittens ergibt es sich aus der Rückführbarkeit aller Aussagen auf Existenzialsätze
§. 8. Es bleibt hienach nichts übrig, als die Eigenthümlichkeit des Urtheils in der besonderen Beziehungsweise auf seinen Inhalt zu erkennen
§. 9. Alle Eigenthümlichkeiten, die anderwärts den fundamentalen Unterschied in der Weise der Beziehung zum Gegenstande kennzeichnen, finden sich auch in unserem Falle
§. 10. Rückblick auf die dreifache Weise der Begründung
§. 11. Die irrige Auffassung des Verhältnisses von Vorstellung und Urtheil wurde dadurch veranlasst, dass in jedem Acte des Bewusstseins eine Erkenntniss beschlossen ist
§. 12. Dazu kamen sprachliche Gründe der Täuschung: einmal die gemeinsame Bezeichnung als Denken;
§. 13. dann der Ausdruck in Sätzen
§. 14. Folgen der Verkennung der Natur des Urtheils für die Metaphysik,
§. 15. für die Logik,
§. 16. für die Psychologie
Achtes Capitel. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen
§. 1. Die innere Erfahrung lehrt die Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen; einmal, indem sie uns mittlere Zustände zeigt, durch welche zwischen ihnen ein allmäliger, continuirlicher Uebergang gebildet wird;
§. 2. dann, indem sie uns den übereinstimmenden Charakter ihrer Beziehungen auf den Inhalt erkennen lässt
§. 3. Nachweis, dass jedes Wollen und Begehren auf etwas als gut oder schlecht gerichtet ist. Die Philosophen aller Zeiten sind darin einig
§. 4. Nachweis, dass hinsichtlich der Gefühle dasselbe gilt
§. 5. C harakter der Classenunterschiede innerhalb des Gebietes von Gefühl und Willen: Definirbarkeit mit Hülfe der zu Grunde liegenden Phänomene;
§. 6. untergeordnete Verschiedenheiten der Beziehungsweise zum Objecte
§. 7. Keine von den Eigenthümlichkeiten, welche in anderen Fällen die fundamentale Verschiedenheit in der Weise der Beziehung zum Gegenstande kennzeichnen, charakterisirt den Unterschied von Gefühl und Willen
§. 8. Rückblick auf die vorangegangene dreifache Erörterung
§. 9. Die vornehmsten Ursachen, welche die Täuschung über das Verhältniss von Gefühl und Willen veranlassten, waren folgende: Erstens die besondere Vereinigung des inneren Bewusstseins mit seinem Objecte war leicht mit einer besonderen Weise des Bewusstseins zu verwechseln
§. 10. Zweitens setzt das Wollen eine aus dem Vermögen der Liebe unableitbare Fähigkeit des Wirkens voraus
§. 11. Dazu kam ein sprachlicher Anlass: die ungeeignete Bezeichnung der gemeinsamen Classe mit dem Namen Begehren
§. 12. Auch förderte die Verkennung des Verhältnisses von Vorstellung und Urtheil die Täuschung über jenes von Gefühl und Willen. Beziehung der drei Ideen des Schönen, Wahren und Guten zu den drei Grundclassen
Neuntes Capitel. Vergleich der drei Grundclassen mit dem dreifachen Phänomene des inneren Bewusstseins. Bestimmung ihrer natürlichen Ordnung
§. 1. Je eines der drei Momente des inneren Bewusstseins entspricht einer der drei Classen der psychischen Phänomene
§. 2. Die natürliche Ordnung der drei Grundclassen ist diese: erstens Vorstellung, zweitens Urtheil, drittens Liebe

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Franz Brentano Psychologie vom empirischen Standpunkte Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

F R A N Z B R E N TA N O Sämtliche veröffentlichte Schriften Erste Abteilung Schriften zur Psychologie Herausgegeben von Thomas Binder und Arkadiusz Chrudzimski Band I

Wissenschaftlicher Beirat Mauro Antonelli, Mailand Wilhelm Baumgartner, Würzburg Johannes Brandl, Salzburg Wolfgang Huemer, Parma Andrea Göb, Würzburg Robin Rollinger, Salzburg Werner Sauer, Graz

Franz Brentano

Psychologie vom empirischen Standpunkte Von der Klassifikation der psychischen Phänomene Mit einem Vorwort der Herausgeber zur Ausgabe der veröffentlichten Schriften und einer Einleitung von Mauro Antonelli

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ISBN 13: 978-3-938793-41-1 2008 No part of this book may be reproduced, stored in retrieval systems or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, microfilming, recording or otherwise without written permission from the Publisher, with the exception of any material supplied specifically for the purpose of being entered and executed on a computer system, for exclusive use of the purchaser of the work

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Inhalt Vorwort der Herausgeber �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� ��  VII Mauro Antonelli: Eine Psychologie, die Epoche gemacht hat �� �� �  IX 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Die Entstehung eines „epochemachenden“ Werkes  �������������������  IX Begriff und Aufgabe der Psychologie ��������������������������������������  XIII „Psychologie ohne Seele“ �������������������������������������������������������  XVII Die Psychologie auf dem Wege zur selbständigen Wissenschaft ����������������������������������������������������������������������������  XX Die Psychologie als „Wissenschaft der psychischen Phänomene“  �������������������������������������������������������������������������  XXII Der Aristotelische Hintergrund von Brentanos Psychologie ��������������������������������������������������������������������������  XXVI Das akademische Umfeld �������������������������������������������������������  XXX Die Methode der Psychologie: Erklärung vs. Beschreibung ���������������������������������������������������������������������  XXXIV Die Intentionalität ����������������������������������������������������������������  XLIV

9.1. Die „intentionale Inexistenz“ als Kriterium zur Abgrenzung des Psychischen ������������������������������������������������������������������������� XLIV 9.2. Die ontologische Deutung der Intentionalität ��������������������  XLVIII 9.3. Die aristotelische Herkunft von Brentanos Intentionalitätsgedanken ������������������������������������������������������������  LI 9.4. Intentionales Objekt und intentionales Korrelat ������������������������  LV 9.5. Reales vs. Existierendes ��������������������������������������������������������������  LX 9.6. Intentionale Inexistenz als „objektive Aufnahme“ ������������������  LXIII 9.7. Der nichtexistierende Gegenstand  �����������������������������������������  LXV

10. Die Klassifikation der psychischen Phänomene �������������������  LXVII 11. Die Einheit des Bewußtseins ����������������������������������������������  LXXIII 11.1. Die Teile des Bewußtseins ���������������������������������������������������  LXXIII 11.2. Ablösbare und distinktionelle Teile ��������������������������������������� LXXV 11.3. Das Leib-Seele-Problem ��������������������������������������������������� LXXVIII

Editorische Vorbemerkung �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� ��  LXXXVII Psychologie vom empirischen Standpunkte �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  1 Von der Klassifikation der psychischen Phänomene �� �� �� �� �� �� �� �� �  291 Sachregister �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  427 Personenregister �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  435

Vorwort der Herausgeber Die vorliegende Ausgabe der Psychologie vom empirischen Standpunkte bildet den Auftakt zu einer neuen Edition der Werke Franz Brentanos. Sie unternimmt es zum ersten Mal, alle Schriften, die von Brentano selbst publiziert wurden, in einer handlichen, zehnbändigen Studienausgabe dem Leser zugänglich zu machen. Dazu gehören neben seinen bahnbrechenden systematischen Werken wie der eingangs erwähnten Psychologie vom empirischen Standpunkte und Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis auch seine wichtigen Studien zu Aristoteles, dem Brentano insgesamt vier Monographien widmete, sowie viele kleinere bedeutende Aufsätze zur Psychologie, zur Geschichte der Philosophie und zu anderen Themen. Die nicht-philosophischen Schriften Brentanos (darunter neben kirchengeschichtlichen und juristisch-politischen Werken auch Abhandlungen zur Schachtheorie, Rätsel und Lyrik) sollen in einem Ergänzungsband publiziert werden, um damit die Persönlichkeit des großen Denkers abzurunden. Auf zwei Einschränkungen sei hingewiesen: 1. Nicht aufgenommen wurde unter die Druckschriften Brentanos Gutachten zur päpstlichen Unfehlbarkeit, da dieses nur in einem nicht von Brentano selbst besorgten Privatdruck vorliegt, von dem lediglich ein einziges Exemplar überliefert ist. 2. Diese Ausgabe vereint die Druckschriften, soweit sie den Herausgebern bekannt sind. Es kann nicht mit völliger Gewissheit ausgeschlossen werden, dass Brentano noch weitere Schriften veröffentlicht hat. Als Beispiel sei hier auf eine im Oktober 1876 in der Wiener Neuen Freien Presse von Brentano anonym publizierte Rezension hingewiesen, die den Herausgebern nur durch einen Zufall bekannt wurde. Wenig wahrscheinlich ist es allerdings, dass es sich bei einem solchen „verschollenen“ Werk um eine bedeutendere philosophische Schrift handeln sollte; dass auch in Zukunft die eine oder andere bisher unbekannte Gedicht- oder Rätselpublikation Brentanos entdeckt werden könnte, ist aber durchaus vorstellbar. Die Druckschriften werden wie folgt auf die zehn geplanten Bände verteilt, wobei die Texte in Sammelbänden chronologisch angeordnet sind:   1. Band: Psychologie vom empirischen Standpunkte Von der Klassifikation der psychischen Phänomene   2. Band: Untersuchungen zur Sinnespsychologie   3. Band: Schriften zur Ethik und Ästhetik   4. Band: Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles   5. Band: Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom ΝΟΥΣ ΠΟΙΗΤΙΚΟΣ   6. Band: Aristoteles Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes   7. Band: Aristoteles und seine Weltanschauung   8. Band: Kleinere Schriften zu Aristoteles   9. Band: Vermischte Schriften 10. Band: Nicht-philosophische Schriften

VIII

Vorwort der Herausgeber

Die vorliegende Ausgabe basiert ausschließlich auf den Erstpublikationen. Bei Texten, die in wie auch immer veränderter Form wiederholt publiziert wurden, werden alle Varianten vollständig abgedruckt. Beispiele dafür bieten schon im vorliegende ersten Band die Klassifikation der psychischen Phänomene von 1911, deren Text die Psychologie von 1874 nicht nur ergänzt, sondern sich teilweise mit diesem überschneidet, oder die Untersuchungen zur Sinnespychologie von 1907, in denen ältere Beiträge zu Kongressakten neuerlich abgedruckt wurden. Da es sich um keine Edition mit kritischen Anspruch handelt, wurde auf textkritische und erläuternde Anmerkungen weitgehend verzichtet (dass die Texte dennoch akribisch mit den Originaltexten verglichen wurden, versteht sich von selbst). Detailliertere editorische Hinweise zu den einzelnen Texten finden sich in den jeweiligen Bänden. Eine besondere Erwähnung verdient die Handhabung der Rechtschreibung. Da Brentanos Texte sowohl vor als auch nach der II. Berliner Orthographischen Konferenz von 1901 publiziert wurden, und da auch in den nachfolgenden Jahrzehnten die Rechtschreibung immer wieder „reformiert“ wurde, schien es wenig sinnvoll, diese auf einem bestimmten Stand zu vereinheitlichen: die Texte werden also allesamt in der historischen Form abgedruckt, in der sie ursprünglich publiziert wurden. Jedem Band wird eine Einleitung vorangestellt, die den aktuellen Stand der Forschung reflektiert; schließlich sollen Sach- und Personenregister den thematischen Zugang erleichtern. Die Hauptmotivation für diese Edition liegt sicher darin, dass diese sowohl für die Geschichte der Philosophie als auch für die systematische Forschung so wichtigen Schriften schon seit Jahren aus dem Buchhandel verschwunden und damit nur noch schwer zugänglich sind. Zum Teil sind sie seit ihrer Erstveröffentlichung nicht mehr verlegt worden, zum Teil liegen sie aber auch in Ausgaben vor, die weder zeitgemäßen editorischen Standards noch dem aktuellen Stand der philosophischen Forschung entsprechen. Da die Herausgeber der festen Überzeugung sind, dass das Studium der Philosophie Brentanos auch heute nicht nur wichtig, sondern außerordentlich lohnend ist, soll die Lücke mit dieser Ausgabe geschlossen werden. Selbstverständlich können die 10 Bände dieser Edition den Reichtum an Einzelfragen und Lösungsansätzen nicht präsentieren, die Brentanos Philosophieren in mehr als 50 Jahren intensiver Forschertätigkeit geprägt haben – diese Aufgabe muss einer kritischen Edition des äußerst umfangreichen Nachlasses vorbehalten bleiben, die aufgrund der damit verbundenen großen editorischen Herausforderungen bedauerlicherweise noch immer auf sich warten läßt. Bei den vorliegenden von Brentano selbst veröffentlichten Schriften handelt es sich aber dennoch um jene Werke, die seine Bedeutung für die Philosophie zuallererst begründet haben. Die Herausgeber möchten Johannes Brandl für wertvolle Hinweise und Anregungen ihren Dank aussprechen. Februar 2008

Thomas Binder, Arkadiusz Chrudzimski

Eine Psychologie, die Epoche gemacht hat Mauro Antonelli 1.  Die Entstehung eines „epochemachenden“ Werkes Franz Brentanos (1838-1917) Psychologie vom empirischen Standpunkte aus dem Jahre 1874 gehört zu den Klassikern der Philosophie und der Psychologie. Mit diesem Werk, das den Ausgangspunkt sowohl für die phänomenologische Tradition als auch für die heutige Philosophie des Geistes markiert, konnte sich Brentano im damaligen philosophischen Panorama durchsetzen – sein Name ist auch heute noch unauflöslich mit diesem Werk verknüpft. Die Entdeckung bzw. Wiederentdeckung der Grundstruktur psychischer Phänomene, d. h. deren Intentionalität, stellt wohl den wichtigsten Beitrag Brentanos zum Aufbau einer Analytik des Geistes dar. Dieses Werk, das zwei Bücher umfaßte, erschien im Frühjahr 1874 in Leipzig bei Duncker & Humblot. Es kann als Ergebnis jener psychologischen Untersuchungen angesehen werden, die Brentano in seiner Habilitationsschrift über Die Psychologie des Aristoteles (Brentano, 1867; Abk.: PsA) einleitete und dann nach und nach vertiefte, indem er auf der Grundlage seines Aristotelischen Ausgangspunktes Forschungsansätze des neueren wissenschaftlichen und philosophischen Denkens verarbeitete. Die Psychologie vom empirischen Standpunkte markiert in der philosophischen Entwicklung Brentanos einen entscheidenden Wendepunkt, da Brentanos persönlicher und wissenschaftlicher Werdegang sich bis dahin in einem Kontext entwickelt hatte, der durch Konfessionalismus und innerkatholische Spannungen zwischen Liberalismus und Ultramontanismus geprägt war. Brentanos frühes Projekt einer katholischen, auf einem neuthomistischen Aristotelismus ruhenden Wissenschaft – sein Programm einer Erneuerung der philosophia ­perennis auf aristotelisch-thomistischer Grundlage im Rahmen der Vorgaben der 

Die Kapitel 5 bis 9 des zweiten Buches wurden im Jahre 1911 mit zusätzlichen Abhandlungen im Anhang als selbständiger Band unter dem Titel Von der Klassi­ fikation der psychischen Phänomene (Leipzig: Duncker & Humblot) herausgegeben. Diese zwei Ausgaben werden im folgenden mit PeS I und PeS II abgekürzt. Die Paginierung bezieht sich auf vorliegende Ausgabe. Nach dem Tode Brentanos gab O. Kraus die ersten beiden Bände der Psychologie neu heraus, die er mit Einleitung, Anmerkungen, Register sowie weiteren Anhängen aus dem Nachlaß versah (Leipzig: Meiner 1924-1925). Diesen beiden Bänden folgte im Jahre 1928 ein dritter Band mit unveröffentlichten Schriften, der von Kraus unter dem Titel Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein. Psychologie vom empirischen Standpunkt III herausgegeben wurde. Die Kraus-Ausgabe wird im folgenden mit K-PeS I, II, III abgekürzt.



Mauro antonelli

Kirchenlehre – ist untrennbar vom katholisch-christlichen Kontext, an den sich Brentano als junger Priester noch stark gebunden fühlte. Doch wirkte hinter diesem konfessionell geprägten Aristotelismus auch der „wissenschaftstheoretische Aristotelismus“ seines Berliner Lehrers Friedrich Adolf Trendelenburg, durch dessen Vermittlung sich der französische und englische Positivismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an vielen Universitäten Deutschlands verbreiten konnte. In diesem Lichte ist Brentanos Auseinandersetzung mit den Hauptvertretern der französischen und englischen empiristischen und positivistischen Tradition zu sehen, durch die er versucht, seinen Aristotelischen Standpunkt den wissenschaftstheoretischen Anforderungen der zeitgenössischen Wissenschaft anzupassen. Brentano verspricht sich hierbei, durch die „naturwissenschaftliche Methode“ eine Aufwertung der „naturgemäßen Methode“ des Aristoteles zu erreichen (vgl. Haller, 1988). Durch die Lektüre Mills angeregt (Mill, 1865), setzt sich Brentano schließlich mit Auguste Comtes Positivismus auseinander (Brentano, 1869). Comte beeindruckt den kürzlich zum Priester geweihten Brentano so stark, daß für ihn „kein anderer Philosoph der neuesten Zeit“ existiert, „der in so hohem Maße unsere Beachtung verdient“ (Brentano, 1926 [Abk.: VPhPh], 99). Brentano bezeichnet ihn als einen „der hervorragendsten Denker, deren unser Jahrhundert sich rühmen kann“ (ebd.), und versucht, die methodologischen Grundsätze seiner positiven Denkweise mit seinem eigenen metaphysischen Ansatz Aristotelischer Herkunft zu versöhnen. Aristoteles ist nämlich „seinem Grundcharakter nach [...] bereits ein positiver Forscher“, obwohl er „in vielen seiner Lehren, wie in der von Potenz und Akt, von Substanz und Akzidens usw. noch nicht von aller metaphysischen Auffassung frei ist“ (ebd., 132).  Vgl. Sauer, 2000; Münch, 2004a, 2004b. Siehe dazu, neben der schon zitierten Habilitationsschrift über die Psychologie des Aristoteles, die Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles (Brentano, 1862; Abk.: MBS) und vor allem die 25 Habilitationsthesen (Brentano, 1866), die W. Sauer a. a. O. ausführlich und überzeugend untersucht hat.  Vgl. Brentanos Brief an Mill vom 4.3.1872, abgedruckt in: Mill, 1972, Bd. 17, 1875f.  Im selben Jahr hielt Brentano eine Vortragsreihe über Comte und die positive Philosophie sowie eine Vorlesung unter dem Titel „Auguste Comte und der Positivismus im heutigen Frankreich“. Ursprünglich beabsichtigte er, dieses Thema in der Zeitschrift Chilianeum in einer Reihe von Aufsätzen zu behandeln, wovon aber nur einer erschienen ist, da kurze Zeit später die Zeitschrift eingestellt wurde. Vgl. Brentano, 1870, 454-456. Ausschlaggebend für die Unterbrechung der geplanten Aufsatzreihe waren jedoch wahrscheinlich theoretische Schwierigkeiten hinsichtlich der Versöhnung von positiver Philosophie und Theologie. Vgl. dazu die Entwürfe der späteren Aufsätze in: Brentano, 1987, 246-294.  Der Ausdruck „metaphysisch“ ist hier im Sinne Comtes zu verstehen, d. h. als

Eine Psychologie, die Epoche gemacht hat

XI

Die Hinwendung zu den großen Denkern der „aufsteigenden Phasen“ der Philosophiegeschichte sowie die „Reinigung und vollkommenere Entwicklung des positiven Geistes“ (ebd., 132), den diese verkörpern, stellen die beiden Hauptstützen für Brentanos Programm einer wissenschaftlichen Neubegründung der Philosophie dar. In diesem Kontext ist Brentanos Projekt einer Metaphysik und – eng damit verbunden – einer Psychologie „vom empirischen Standpunkt“ zu deuten, d. h. einer Metaphysik, die zwar Aristoteles verpflichtet bleibt, zugleich aber den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Anforderungen seiner Zeit gerecht wird. Brentano kommt somit zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Psychologie und Metaphysik: Zwischen beiden besteht nicht mehr – wie noch in seinen Aristoteles-Studien – die Beziehung einer gegenseitigen Implikation, sondern es kommt zu einer Fundierung der Metaphysik durch die Psychologie. Diese veränderte Perspektive zieht weitreichende Konsequenzen nach sich. Denn diese Fundierung beinhaltet eine „einseitige Ablösbarkeit“ der Psychologie von der Metaphysik, d. h. es wird eine empirische Psychologie möglich, die von ontologisch-metaphysischen Implikationen weitgehend frei ist. Von hier aus werden sowohl Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkte als auch das metaphysische Gebäude verständlich, das er in seinen Würzburger Metaphysikvorlesungen (1867-1873) entwirft. In den Würzburger Metaphysikvorlesungen (Ms. M 96) untersucht Brentano auf der Grundlage eines erkenntnistheoretischen Vorspanns („Transzendentalphilosophie“): 1. die Ontologie oder „spezielle Metaphysik“; diese hat zum Gegenstand: a) die Analyse der verschiedenen Bedeutungen des Seienden und ihre Zurückführung auf die des „eigentlichen Seienden“, d. h. des realen Seienden, des eigentlichen Gegenstands der Metaphysik, b) die „Teile“ dieses letzteren und c) seine Ursachen oder Prinzipien; 2. die Theologie, die sich mit der Frage nach der ersten Ursache des Seienden, der Ganzheit der Wirklichkeit beschäftigt;





„entitätsfingierende Erklärungsweise“, die die Erscheinungen als das Produkt fiktiver Entitäten ansieht, die den Dingen selbst immanent sind. Vgl. ebd., 127. „Unseren Tagen bleibt es vorbehalten, zu einer positiven Behandlung der Philosophie sich zurückzuwenden. Der Ruf danach hat sich laut erhoben, und man hat, teils unter Anknüpfung an die Höhepunkte der Vergangenheit, teils unter Benutzung der Fortschritte der Naturwissenschaft, bereits da und dort mit einem schönen Anfange begonnen.“ Ebd., 133. Die Signatur bezieht sich auf den Nachlaßkatalog von Franziska Mayer-Hille­ brand.

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Mauro antonelli

3. die Kosmologie, die die Welt in ihren Gegebenheiten untersucht: ihre Einheit und Vielheit, ihre Ganzheit als Zweck ihrer Teile und ihr Ende als Zweck der Geschichte. Den Schlußstein von Brentanos gesamtem Metaphysikkonzept stellt seine Umdeutung der traditionellen Kategorienlehre in eine Teil-Ganzes-Lehre dar. Somit wird die Substanzanalyse durch eine Funktionsanalyse der phänomenalen Aspekte der Dinge ersetzt, und zwar entsprechend der „positiven“ Methode, die auf eine fortschreitende Auflösung von Dingen und Eigenschaften in Beziehungen, in gesetzmäßige Funktionsverhältnisse zielt. Dadurch kann Brentano Metaphysik betreiben, ohne sich auf die dem positivem Geist fremden AktPotenz- und Substanz-Akzidens-Lehren des Aristoteles beziehen zu müssen. Diese mereologische Umdeutung der Kategorienlehre des Aristoteles führt Brentano außerdem dazu, seine noch in der Dissertation vertretene, analoge Seinsauffassung aufzugeben. Nach Aristoteles ist nur die individuelle Substanz (οὐσία) real und konkret; die akzidentellen Bestimmungen sind nur in bzw. durch die Substanz etwas Reales und Konkretes, d. h. insofern sie durch diese individuiert werden. Durch seinen neuen Zugang zur Frage nach den „mannigfachen Bedeutungen des Seienden“ bleibt zwar für Brentano das Individuum (das τόδε τι des Aristoteles) etwas Reales und Konkretes, wird aber nicht mehr als Substanz, sondern als jenes „Ganze“ aufgefaßt, von dem sowohl die Sub­ stanz als auch die Akzidenzien „Divisiva“, d. h. bloß begrifflich unterscheidbare „Teile“ sind. Das, was im eigentlichen Sinne ist, ist das Ganze, das konkret und individuell bestimmte Seiende, das sich perspektivisch einmal nach diesem, ein anderes Mal nach einem anderen seiner Teile auffassen läßt. Die „metaphysischen Teile“ (die Substanz und die Akzidenzien) sind bloße Auffassungsweisen des Ganzen, denn sie geben jene Aspekte wieder, nach denen sich das Denkende auf ein an sich absolut univokes Reales richtet. Die psychologische Grundlage für seine Metaphysik erschafft sich Brentano durch sein Hauptwert, die Psychologie vom empirischen Standpunkte, mit dem er sich endgültig von der rationalen Psychologie als Wissenschaft von der Seele und ihrer Vermögen distanziert und sich einer empirischen Psychologie zuwendet, die mit den empiristischen und positivistischen Ansätzen der damaligen deutschen Philosophie und Psychologie im Einklang steht. Von einer Vermögenspsychologie ausgehend setzt sich nun Brentano für eine „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ ein, für eine „Wissenschaft der psychischen Phänomene“, die auf die Klassifikation der psychischen Erscheinungen und auf die Gesetze ihrer wechselseitigen Beziehungen zielt (vgl. Stumpf, 1919, 106, 135ff.). Den Wendepunkt kann man um das Jahr 1870 datieren, denn bis dahin widmete Brentano der Psychologie noch keine besondere Aufmerksamkeit, sondern bezog sie lediglich in einen weiten metaphysischen Rahmen ein (vgl. Antonelli, 2001, Teil III, Kap. 6, § 1).

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Brentano entwickelte schrittweise seinen neuen Standpunkt, um seine Aristotelische Auffassung mit der neuzeitlichen Position zu versöhnen. Dieser Vermittlungsversuch läßt sich auch noch deutlich in der Psychologie vom empirischen Standpunkte nachvollziehen, wo die Präsenz des Aristoteles allgegenwärtig ist, wenn auch oft verschleiert. 2.  Begriff und Aufgabe der Psychologie Die Psychologie vom empirischen Standpunkte ist innerhalb der deutschen Philosophie und Psychologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einzigartig. Zweifellos spiegelt Brentanos Hauptwerk den Zeitgeist wider. Konzipiert in einem kulturellen Umfeld, das eine rationalistisch geprägte philosophische Psychologie schon längst aufgegeben hatte, tritt Brentano mit diesem Werk für eine wissenschaftliche Psychologie ein, die eine Grundlage für die ganze Philosophie bereitstellen und somit deren Krise überwinden soll. Von hier aus werden Brentanos Vertrauen und seine Überzeugung, die Psychologie sei eine Wissenschaft in fieri, die zwar noch aufzubauen ist, für die aber schon Anzeichen einer fruchtbaren Entwicklung gegeben sind, verständlich, ebenso wie seine Forderung, das auf psychologischem Gebiet zu erreichen, was andere Wissenschaften schon längst erlangt haben, nämlich einen Kern allgemein anerkannter Wahrheiten, auf dem sich dann immer weitere Erkenntnisse aufbauen lassen. Obwohl Brentanos Programm einer „neuen Psychologie“ weitgehend mit demjenigen seiner Zeitgenossen übereinstimmt, kann man dennoch seine Psychologie nicht mit den damaligen psychologistischen Ansätzen gleichsetzen, ohne daß dabei die Lebendigkeit und Originalität seines Vorhabens verlorengeht. Diese Eigentümlichkeit besteht in einer einzigartigen Verarbeitung des Aristotelischen Erbes. Diese Verarbeitung erfolgt äußerst vorsichtig, manchmal hintergründig, läßt aber keinen Zweifel an Brentanos eigentlichem Ziel, wesentliche Aspekte der Aristotelischen Psychologie wieder aufzugreifen, sie durch methodologische Unterstützung der neuzeitlichen Wissenschaft zu beleben und somit „gesellschaftsfähig“ zu machen – ein Vorhaben, das Brentano schon zuvor mit seiner ontologisch-metaphysischen Forschung anstrebte. Das Interesse seiner Zeitgenossen richtete sich natürlich nicht so sehr auf den Aristotelischen Hintergrund, auf dem Brentano sein Programm einer „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ aufbaute, sondern eher auf diejenigen Aspekte des Werkes, die mit dem damals weit verbreiteten Programm einer Psychologie als Wissenschaft im Einklang standen. Doch Brentanos subtile Strategie ist eindeutig. Er zeigt, daß die Psychologie des Aristoteles durch methodologische Unterstützung der neuzeitlichen Wissenschaft wieder zur Geltung gelangen und die „neue Psychologie“ als Wissenschaft in der Psychologie des ­Aristoteles

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ihre geeignete Grundlage finden kann, die imstande ist, die überwiegend philosophischen Fragestellungen zu beantworten, die diese neue Wissenschaft impliziert. Brentano formuliert sein Programm einer neuen wissenschaftlichen Psychologie schon in der Einleitung seines Hauptwerkes. Dieses beabsichtige nicht, „ein Compendium der Psychologie zu sein“ (PeS I, 3), habe also keine systematischen Absichten, sondern ein engeres, zugleich aber sehr ehrgeiziges Ziel. „Wir müssen hier das zu gewinnen trachten, was die Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie, die eine früher, die andere später, schon erreicht haben; einen Kern allgemein anerkannter Wahrheit, an welchen dann bald, durch das Zusammenwirken vieler Kräfte, von allen Seiten her neue Kristalle anschiessen werden.“ (Ebd.) Diesem Vorsatz entsprechend zielt Brentano „nicht so sehr auf Vollständigkeit im Ausbau als auf Sicherheit in der Grundlage“, denn er strebt „nicht sowohl Vielheit und Allseitigkeit in den Lehrsätzen als Einheit in der Ueberzeugung“ an. Sein Ziel ist es, „an die Stelle der Psychologieen [...] eine Psy­ chologie zu setzen“ (ebd.). Brentano nimmt diese anspruchsvolle Aufgabe mit vollem Eifer in Angriff, wobei er immer konziliant und niemals hochmütig oder arrogant wirkt. Auf wissenschaftlichem Gebiet, wie auch auf politischem, kann ohne Auseinandersetzung kaum eine Einigung erreicht werden; doch der wissenschaftliche Kampf zielt nicht auf einen Sieg dieser oder jener Partei, sondern ausschließlich auf den Triumph der Wahrheit. In diesem Sinne kritisiert Brentano zwar die irrigen Meinungen anderer Autoren, erkennt aber die Verpflichtung gegenüber seinen Gegnern an und erklärt, „gerne und dankbar“ (ebd., 4) alle Kritikpunkte zu verarbeiten, die an ihn herangetragen werden. Brentano räumt die Abhängigkeit der Psychologie von anderen Wissenschaften ein, sieht aber in ihr deren „krönenden Abschluss“, „die Zinne am thurmartigen Gebäude der Wissenschaft“ (ebd., 19), die auf alle übrigen Wissenschaften „die kräftigste Rückwirkung“ ausübt (ebd.). Er betont den hohen theoretischen Stellenwert der Psychologie und hebt zugleich deren praktische Anwendungsmöglichkeiten hervor (ebd.). Damit verschleiert Brentano nicht die bisherige Fruchtlosigkeit der Disziplin, er betont sie sogar nachdrücklich und gibt dafür einerseits eine plausible Erklärung ab, andererseits bemüht er sich, die unauffälligen, doch sicheren Anzeichen eines zukünftigen Fortschritts aufzuzeigen (ebd., 38ff.), der, „wenn auch späten Geschlechtern, einst reiche Früchte bringen wird“ (ebd., 5). Brentano hebt auch ausdrücklich den empirischen Charakter der Psychologie hervor, teilt aber „mit Anderen [...] die Ueberzeugung, dass eine gewisse ideale Anschauung mit einem solchen Standpunkte wohl vereinbar ist“ (ebd., 3). Als Fürsprecher des Zeitgeistes nimmt Brentano zu den verschiedenen psychologischen Schulen und Forschungsrichtungen Stellung, die er auf einen gemeinsamen Kern allgemein anerkannter Wahrheiten zurückführen möchte.

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Sein Ziel ist es, eine psychologische „Einheitswissenschaft“ zu schaffen, eine gemeinsame Basis, den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu finden, der von den Vertretern der verschiedenen Schulen akzeptiert werden kann. Wenn man die Psychologie vom empirischen Standpunkte im Lichte dieser programmatischen Vorsätze betrachtet, ist ein weiteres Moment nicht außer Acht zu lassen – der Umstand nämlich, daß das, was Brentano damals der Öffentlichkeit vorlegte, lediglich das „Fragment“ (PeS II, 293) eines viel größer angelegten Projektes war, das er im Vorwort ankündigte: Dieses Buch bespricht die Psychologie als Wissenschaft, das nächste die psychischen Phänomene im Allgemeinen; und ihnen werden der Reihe nach folgen ein Buch, welches die Eigenthümlichkeiten und Gesetze der Vorstellungen, ein anderes, welches die der Urtheile und wieder eines, welches die der Gemüths­ bewegungen und des Willens im Besonderen untersucht. Das letzte Buch endlich soll von der Verbindung unseres psychischen mit unserem physischen Organismus handeln, und dort werden wir uns auch mit der Frage beschäftigen, ob ein Fortbestand des psychischen Lebens nach dem Zerfalle des Leibes denkbar sei (PeS I, 3).

Nach dieser Projektskizze wollte Brentano auf einer wissenschaftstheoretischen Fundierung aufbauend den gesamten Bereich der allgemeinen Psychologie abhandeln, um damit die Grundlage für die Entwicklung der speziellen und angewandten Psychologie bereitzustellen. Doch dieses Projekt einer psychologischen Einheitswissenschaft ist von Anfang an auf ein ganz bestimmtes Ziel gerichtet, nämlich auf die Neubegründung einer wissenschaftlichen Lehre von der Unsterblichkeit bzw. dem „Fortbestand des psychischen Lebens nach dem Zerfalle des Leibes“. Vom Programm einer „Psychologie ohne Seele“, einer metaphysikfreien „Wissenschaft der psychischen Phänomene“ ausgehend, wollte Brentano zeigen, daß eine nach der positiven Methode durchgeführte Psychologie notwendig metaphysische Fragen aufwirft. Von den sechs angekündigten Büchern sind lediglich die ersten beiden erschienen. Die übrigen vier, deren Publikation ursprünglich für das Jahr 1875 vorgesehen war, sind von Brentano nie zu Ende gebracht worden. Die Psycho­ logie vom empirischen Standpunkte, so wie sie publiziert wurde, vermittelt dem Leser einen Eindruck, der kaum etwas von dem eigentlichen Vorhaben Brentanos erahnen läßt. Sie ist kein psychologisches Traktat, sondern eher ein programmatisches Manifest, das die methodologische Grundlage und den theoretischen Hintergrund für die Psychologie als „Wissenschaft der Zukunft“ bereitstellen will. Brentano geht besonders auf zwei Hauptfragen ein: jene nach der  Im Nachlaß sind lediglich die Entwürfe zum dritten Band (Ms. Ps 53) vorhanden, der die „Eigentümlichkeiten und Gesetze der Vorstellungen“ behandeln sollte.

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methodologischen Grundlage und jene nach dem Forschungsgegenstand der Psychologie. Der ersten Frage sind das zweite, dritte und vierte Kapitel des ersten Buches gewidmet; die zweite wird im ersten Kapitel des ersten Buches eingeführt und systematisch in den neun Kapiteln des zweiten Buches erörtert. Brentanos Interesse richtet sich somit auf die Grundlagenforschung und nicht auf die empirische Untersuchung. Der Übergang zu dieser Forschungsperspektive hätte in den folgenden – nie erschienenen – Büchern erfolgen sollen, die sich mit den Entstehungs- und Entwicklungsgesetzen der drei Grundklassen psychischer Phänomene (Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen) sowie mit dem Leib-Seele- und dem Unsterblichkeitsproblem hätten beschäftigen sollen. Diese zweifache Aufgabe, die Brentano schon seit dem Jahre 1874 der psychologischen Wissenschaft zuschreibt, nimmt jene Unterscheidung zwischen genetischer und deskriptiver Psychologie vorweg, die er erst in den 80er Jahren explizit einführen wird. In einer häufig zitierten Textstelle aus dem Jahre 1895 formuliert Brentano diese Unterscheidung folgendermaßen: Meine Schule unterscheidet eine Psychognosie und eine genetische Psychologie (in entfernter Analogie zur Geognosie und Geologie). Die eine weist die sämtlichen letzten psychischen Bestandteile auf, aus deren Kombination die Gesamtheit der psychischen Erscheinungen wie die Gesamtheit der Worte aus den Buchstaben sich ergibt. Ihre Durchführung könnte als Unterlage für eine Characteristica uni­ versalis, wie Leibniz und vor ihm Descartes sie ins Auge gefaßt haben, dienen. Die andere belehrt uns über die Gesetze, nach welchen die Erscheinungen kommen und schwinden. Da die Bedingungen wegen der unleugbaren Abhängigkeit der psychischen Funktionen von den Vorgängen im Nervensystem großenteils physiologische sind, so sieht man, wie hier die psychologischen Untersuchungen mit physiologischen sich verflechten müssen (Brentano, 1895 [Abk.: LWÖ], 34).

Die deskriptive Psychologie (Psychognosie) und die genetische Psychologie stellen für Brentano ganz unterschiedliche und nicht aufeinander rückführbare Ebenen dar. Letztere, die sich mit den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen der psychischen Phänomene beschäftigt, kann der Ergebnisse anderer Wissenschaften, insbesondere der Physiologie, nicht entbehren. Erstere hingegen ist eine „reine Wissenschaft“, da sie ausschließlich auf den Gegebenheiten basiert, die durch die innere Erfahrung zugänglich sind und von denen aus sie schließlich „mit einem Schlag, ohne jede Induktion“ (Brentano, 1889 [Abk.: UsE], 82) zur Formulierung apriorischer Wahrheiten gelangt. Die deskriptive Psychologie zielt darauf ab, die elementaren Grundbestandteile unseres psychischen Lebens und alle ihre möglichen Verbindungsweisen durch eine Analyse festzustellen, die nicht restlos an die reine Empirie gebunden ist. Nachdem die Grundelemente unseres psychischen Lebens gefunden sind, ist die Morphologie all ihrer möglichen Kombinationen

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a priori vorbestimmt. Jedes Element trägt diejenigen Bestimmungen in sich, die ihm bestimmte Kombinationen mit anderen Elementen zugestehen oder untersagen. Was Brentano hierdurch umreißt, ist eine reine Grammatik der inneren Erfahrung, eine Morphologie möglicher Formen unserer Erlebnisse. In Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkte ist eine explizite Abgrenzung dieser beiden Forschungsebenen noch nicht zu finden. Hier ist diese Unterscheidung noch unscharf, und beide Forschungsperspektiven werden in ein weiteres Forschungsprojekt eingebunden – in die Fundierung der Psychologie als empirischer Wissenschaft. Die Überbewertung der Kontinuitätsfaktoren, die Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkte mit den psychognostischen Analysen der 80er Jahre verbinden, führt zur Ausklammerung bzw. zur Unterschätzung der Probleme, ja sogar der Ambiguitäten, die in diesem Werk zu finden sind. Brentano ist im Jahre 1874 bemüht, eine Verbindung zwischen der genetischen und der deskriptiven Forschungsperspektive herzustellen. Zugleich versucht er – durch die Rezeption der empiristischen und positivistischen Tradition angeregt –, eine Vermittlung zwischen seinem aristotelischen Hintergrund und jenen positivistischen Ansätzen zu schaffen, die in der zeitgenössischen Philosophie intensiv rezipiert wurden. Gerade das fortschreitende Bewußtsein der hierdurch entstehenden Probleme führt ihn dann in den 80er Jahren dazu, sein ursprüngliches Programm einer „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ zu modifizieren. Brentanos scharfe Trennung von genetischer und deskriptiver Psychologie zerstört jetzt das instabile Gefüge, das er 1874 aufgebaut hatte. Der Vorrang der deskriptiven Psychologie bedeutet nun, sein ursprüngliches Projekt einer empirischen Einheitswissenschaft der psychischen Phänomene in den Hintergrund zu rücken und somit zu einer metaphysisch geprägten Psychologie zurückzukehren – zu einer „Wissenschaft von der Seele“.10 3.  „Psychologie ohne Seele“ Der Übergang von einer an Aristoteles orientierten rationalen Psychologie zu einer empirischen Psychologie, die als Wissenschaft der inneren Erfahrung charakterisiert wird und sich durch die Annahme des Cartesischen Evidenz-Paradigmas auszeichnet, konnte nicht reibungslos verlaufen. Die sich daraus ergebenden Spannungen bezeugt das erste Kapitel der Psychologie vom empirischen Standpunkte, das „Begriff und Aufgabe der psychischen Wissenschaft“ behandelt (PeS I, 19-42). Hierbei geht Brentano immer noch von Aristoteles und dessen Bestimmung der Psychologie als „Wissenschaft von der Seele“ aus.  Vgl. hierzu Gilson, 1955a, 1955b, 1966. 10 „Die Psychologie ist die Wissenschaft vom Seelenleben des Menschen [...].“ Brentano, 1982 (Abk.: DP), 1. Vgl. ebd., 146, 154, 156-158.

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Für Aristoteles ist die Seele die substantielle Form jedes Lebewesens, das Lebensprinzip von Pflanzen, Tieren und Menschen. In seiner überwiegend biologischen Auffassung reicht die Seele von der Pflanzen- über die Tier- bis in die Menschenwelt. Die neuzeitliche Bestimmung der Psychologie – so Brentano – ist hingegen wesentlich enger (ebd., 19ff.). Unter „Seele“ versteht die Neuzeit nicht das Prinzip des Lebens, sondern des Bewußtseins, also die Cartesische mens oder res cogitans, die sich grundsätzlich als heterogene Welt vom Körperlichen unterscheidet.11 Die psychische Welt entzieht sich somit vollkommen dem Gebiet der Physik, das durch physikalische Ursachen bzw. mechanische Gesetze erklärbar ist. Dies bedeutet eine wesentliche Abweichung vom Seelenbegriff des Aristoteles. Brentano sieht jedoch darin keinen zureichenden Grund, um die Aristotelische Bestimmung aufzugeben. 11

„Wie kannst Du es aber wagen, zu sagen, ‚die Ernährung, Bewegung, Empfindung usw. würden von mir der Seele zugeschrieben‘, um dann gleich hinzuzufügen: ‚Das mag so bleiben, nur wollen wir uns vor Deiner Unterscheidung zwischen Seele und Körper hüten!‘ Habe ich meinerseits doch gleich darauf die Ernährung ausdrücklich allein auf den Körper zurückgeführt, die Bewegung aber und Empfindung beziehe ich ebenfalls zum größten Teile auf den Leib, und nichts, was auf sie Bezug hat, schreibe ich der Seele zu mit alleiniger Ausnahme dessen, was Denken (cogitatio) ist. [...] Hier suchst Du eine Dunkelheit in der Doppeldeutigkeit des Wortes ‚Seele‘, die ich doch so sorgfältig am gegebenen Orte behoben habe, daß es mir widerstrebt, es hier noch einmal zu tun. Daher will ich nur sagen, daß die Benennungen meistens von unkundigen Leuten den Dingen beigelegt worden sind, und daß sie deshalb nicht immer so recht auf die Dinge passen, daß es aber nicht unsere Aufgabe ist, sie zu ändern, wenn sie sich einmal eingebürgert haben, sondern daß es nur freisteht, ihre Bedeutungen zu berichtigen, wenn wir merken, daß sie von anderen nicht richtig verstanden werden. So haben etwa die ersten Menschen dasjenige Prinzip, durch das wir ernährt werden, wachsen und alles übrige, was wir, da wir es mit den Tieren gemein haben, ohne jede Denktätigkeit vollbringen, nicht von dem unterschieden, durch das wir denken, und haben beides mit dem einen Worte ‚Seele‘ (anima) benannt und haben dann, als sie merkten, daß die Denktätigkeit von der Ernährungstätigkeit verschieden sei, das, was denkt, ‚Geist‘ (mens) genannt und ihn für den wichtigsten Teil der Seele gehalten. Ich aber habe bemerkt, daß das Prinzip, durch das wir ernährt werden, schlechterdings (toto genere) verschieden ist von dem, durch das wir denken, und habe daher gesagt, das Wort ‚Seele‘ (anima) sei, wenn es für beides gebraucht wird, doppeldeutig und daß, wenn man es ganz besonders für die ‚ursprünglichste Tätigkeit‘ (actus primus) oder die ‚vornehmlichste Erscheinung am Menschen‘ (praecipua hominis forma) nimmt, dies nur für das Prinzip gelten darf, durch das wir denken (Bewußtsein haben), und das habe ich meistens mit dem Worte ‚Geist‘ (mens) bezeichnet, um die Zweideutigkeit zu vermeiden; den ‚Geist‘ betrachte ich nämlich nicht als einen Teil der Seele, sondern als eben die ganze Seele, sofern sie denkt.“ Descartes, 1972 [1641], 324, 327f.

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Unter Seele versteht nämlich der neuere Sprachgebrauch den substantiellen Träger von Vorstellungen und andern Eigenschaften, welche ebenso wie die Vorstellungen nur durch innere Erfahrung unmittelbar wahrnehmbar sind, und für welche Vorstellungen die Grundlage bilden; also den substantiellen Träger einer Empfindung z. B., einer Phantasie, eines Gedächtnissactes, eines Actes von Hoffnung oder Furcht, von Begierde oder Abscheu pflegt man Seele zu nennen. Auch wir gebrauchen den Namen Seele in diesem Sinne. Und es scheint darum nichts im Wege zu stehen, wenn wir, trotz der veränderten Fassung, den Begriff der Psychologie auch heute noch mit den gleichen Worten wie einst Aristoteles bestimmen, indem wir sagen, sie sei die Wissenschaft von der Seele (PeS I, 21).

Dieser Versöhnungsversuch zieht allerdings Schwierigkeiten nach sich. Denn die Auffassung des Aristoteles bleibt einer funktionalistischen Deutung verhaftet, die dem Psychischen keine vom Physischen kategorial verschiedene Seinsweise einräumt. Die Cartesische Auffassung steht mit ihrem rein mechanischen und physikalischen Verständnis der Naturwelt in krassem Gegensatz zur kosmologischen Einheit des Aristotelischen Weltbildes. Trotzdem sieht Brentano den Cartesischen bzw. neuzeitlichen Standpunkt schon durch Aristoteles vorweggenommen. Man könnte auch nicht ohne Grund sagen, dass Aristoteles selbst bereits eine Andeutung der neueren und berichtigten Umgrenzung der Psychologie gegeben habe. Und wer ihn kennt, der weiss, wie häufig sich bei ihm mit der Darlegung einer minder vorgeschrittenen Lehre solche Ansätze zu einer abweichenden und richtigeren Anschauung verbinden. Sowohl seine Metaphysik als auch seine Logik und Ethik liefern dafür Belege. Im dritten Buche von der Seele also, da wo er von der willkürlichen Bewegung handelt, entschlägt er sich der Forschung nach den vermittelnden Organen zwischen dem Begehren und dem Gliede auf dessen Bewegung das Begehren gerichtet ist. Denn diese aufzusuchen, sagt er, indem er ganz wie ein moderner Psychologe spricht, sei nicht Sache dessen, der über die Seele, sondern dessen, der über den Leib forsche. Doch dies nur ganz im Vorübergehen, um vielleicht den einen oder andern der begeisterten Anhänger, die Aristoteles auch noch in unsern Tagen zählt, leichter zu überzeugen (ebd., 20f.; Hervorh. von M. A.).

Die Bestimmung der Psychologie als Wissenschaft von der Seele ist – wie Brentano betont – scharfen Einwänden ausgesetzt. Denn die Annahme einer Seelensubstanz ist eine bloße Hypothese, die durch die unmittelbare Erfahrung keine Rechtfertigung erfährt. Diese zeigt uns nämlich lauter psychische Phänomene und nicht das hypothetische Substrat, dem sie als Eigenschaften anhaften. Der Substanzbegriff ist also eine Fiktion, die vom Gebiet der empirischen Wissenschaft zu verbannen ist.

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4.  Die Psychologie auf dem Wege zur selbständigen Wissenschaft Die methodologische Einstellung des damals herrschenden positivistischen Zeitgeistes geht auf die empiristische Tradition zurück. Diese Tradition klammert nach und nach die rationale Dimension der Psychologie aus, die sich als Teil einer allgemeinen Erkenntnislehre zur empirischen Disziplin entwickelt, und zwar mit dem Ziel, die gesetzmäßigen assoziativen Verbindungen zwischen psychischen Phänomenen zu bestimmen. Während Locke die Unterscheidung zwischen Innenund Außenwelt noch beibehält und hierbei der inneren Erfahrung jene Gewißheit zuschreibt, die der äußeren fremd ist, wird der Seelenbegriff dann nach und nach abgeschwächt bis hin zu Humes Auflösung des Ich in „ein Bündel oder ein Zusammen verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Schnelligkeit folgen und beständig in Fluß und Bewegung sind“.12 Die Kritik des Substanzbegriffes erreicht mit Kant ihren Höhepunkt. Für Kant vollzieht sich jede empirische Erkenntnis nur durch Subsumption eines sinnlich gegebenen Inhaltes unter die Kategorien; der Seelenbegriff stellt das Ergebnis eines Paralogismus der reinen Vernunft dar, die den Begriff der Seele auf jenes „Ich denke“ anwendet, das kein Gegenstand der Erfahrung, sondern die letzte transzendentale Bedingung jeder Erfahrung ist (KrV, A341/B399ff.). Dadurch wird jegliche rationale Psychologie ein für alle Mal verbannt. Aber genauso radikal ist Kants Verdikt gegen eine „Physiologie des inneren Sinnes“ (ebd., A347/B405), d. h. gegen eine wissenschaftliche empirische Psychologie; ein Verdikt, das Kant dadurch begründet, daß in der Psychologie weder Mathematik noch Experiment zur Anwendung kommen können (Kant, 1786, 471). Psychologie „kann daher niemals etwas mehr als eine historische und, als solche, so viel wie möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja nicht einmal psychologische Experimentallehre werden“ (ebd.). Wie für Kant so ist auch für Comte die Psychologie als Wissenschaft unmöglich, weil der Bewußtseinsstrom der Introspektion nicht zugänglich ist. Das Individuum kann sich nicht in zwei Teile teilen, wovon der eine im Fluß des psychischen Geschehens versunken ist und der andere dies beobachtet. Aus diesem Grund löst Comte die Psychologie in Phrenologie und Soziologie auf (Comte, 1830-1842, Bd. 3, 613-622, 631ff.). Der englische Positivismus weist die prinzipiellen Einwände Comtes gegen die Psychologie als Wissenschaft zurück und schließt sich der klassischen empiristischen Tradition an. Sein Ziel ist es, eine Wissenschaft der psychischen Phänomene zu begründen, die einen den Naturwissenschaften vergleichbaren wissenschafts12 Hume, 1973 [1739-1740], 4, 6, 1 (S. 327). Diese Entwicklung wird von Locke vorbereitet; denn für diesen „wird nicht die numerische Identität der Substanz, sondern die Identität des fortdauernden Bewußtseins als dasjenige angesehen, was dasselbe Selbst begründet“. Locke, 1981 [1690], II, 27, § 25 (S. 434f.).

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theoretischen Status besitzt. Gerade auf dieses theoretische Programm beruft sich die deutsche Philosophie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieses Programm, das schon in den 30er Jahren durch Beneke und Fries vorbereitet wird, setzt sich dann endgültig in den 50er Jahren durch und wird zu einer wesentlichen Komponente des Zeitgeistes im Spannungsfeld von Philosophie und Naturwissenschaft. Neben einer reduktionistischen Tendenz, die eine „Psychologie ohne Seele“ (Lange, 1866, Bd. 2, 823) verfolgt und hierbei die Dimension des Psychischen auf ihre physiologisch-physikalischen Grundlagen restlos zurückführt, entwickelt sich eine mehrheitliche Einstellung, die sich eindeutig vom sogenannten Vulgärmaterialismus entfernt.13 Diese Einstellung bewegt sich im Spannungsfeld zwischen dem Modell Herbarts, das erneut die Annahme einer einfachen Seelensubstanz zur unabdingbaren metaphysischen Voraussetzung der Psychologie macht, und den spektakulären Ergebnissen jener Physiologen – wie Johannes Müller, Ernst H. Weber, August W. Volkmann, Hermann v. Helmholtz –, die die ihnen vertrauten Methoden auf die Gebiete der Sinnes- und Reflexphysiologie ausweiten und damit die Anfänge einer experimentellen Psychologie markieren. Die Herbartsche Schule, die innerhalb der deutschen Psychologie jahrzehntelang eine führende Position einnimmt, reformiert das Programm Herbarts einer „auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik“ gegründeten „Psychologie als Wissenschaft“. Parallel zur Betonung der empirischen Dimension tritt nun die metaphysische Begründung der Psychologie immer mehr in den Hintergrund. So betonen Theodor Waitz (Waitz, 1846; 1849) und Moritz W. Drobisch (Drobisch, 1842) die methodologische und inhaltliche Affinität der Psychologie zur Naturwissenschaft, da auch sie induktiv empirische Gesetze aufstellt, ihre Phänomene auf deren einfachste Elemente zurückführt und sie dadurch erklärt. Waitz und Drobisch verwenden die Ergebnisse der Physiologie als Ergänzung der introspektiv gewonnenen Daten, ohne dabei die Autonomie der Psychologie anzutasten. Der empirische Zugang kennzeichnet auch das Werk der Herbartianer Moritz Lazarus und Hajim Steinthal (Lazarus, 1856-1857; Lazarus, Steinthal, 1860), der Begründer der „Völkerpsychologie“. Beide plädieren für eine fortschreitende Auflösung der Substanz- zugunsten der Funktionsanalyse des psychischen Lebens; diese methodologische Einstellung geht auf die Naturwissenschaft zurück, die „Dinge“ und „Eigenschaften“ auf Relationen bzw. gesetzmäßige Funktionsverhältnisse zurückführt (vgl. Lazarus, 1860, 69f.). 13

Unter „Vulgärmaterialismus“ versteht man jene stark reduktionistische Tendenz, deren wichtigste Vertreter Ludwig Büchner (1824-1899), Jacob Moleschott (18221893) und Carl Vogt (1817-1895) waren. Ausgehend von den Errungenschaften der Physik und Physiologie führen sie das Leben in all seinen Manifestationen restlos auf physikalisch-chemische Faktoren zurück. Dies verdeutlicht das viel zitierte Motto von Vogt, nach dem „die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren“.

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Neben den Beiträgen von philosophischer Seite waren für die Geburt der neuen wissenschaftlichen Psychologie vor allem die Physiologie und die Medizin verantwortlich. Die Physiologie, die schon seit längerem den Rang einer experimentellen Wissenschaft genoß, bot der neuen Disziplin Fragestellungen, Methoden und konkrete Ergebnisse. Hier setzen die grundlegenden Arbeiten von Hermann v. Helmholtz, Johannes Müller, Ernst H. Weber und Theodor Fechner an, deren naturwissenschaftliche Gesinnung den philosophischen Implikationen ihrer Arbeit offen gegenüberstand. Diese beiden Forschungsrichtungen fließen im Werk von Rudolf Hermann Lotze zusammen. Er unterscheidet zwischen dem, was einer rein physikalischphysiologischen Erklärung fähig ist, und dem, was sich einer solchen Erklärung entzieht, wodurch man zur Anerkennung einer spezifisch psychischen Dimension gezwungen wird. Somit ist Lotzes Festhalten am mechanistischen Denken Teil einer allgemeineren spiritualistischen Weltanschauung (Lotze, 1852; 1884-1888; 1912; 1989). Eine ähnliche Auffassung vertritt Hermann Ulrici, dessen Psychologie zum Ziel hat, „auf der Grundlage der Ergebnisse der Naturwissenschaften [...] eine idealistische Lebens- und Weltanschauung aufzubauen“ (Ulrici, 1866, vii). Die restlichen metaphysischen Implikationen der Positionen von Lotze und Ulrici werden durch Fechners „Psychophysik“ (Fechner, 1860) und Wundts „physiologische Psychologie“ (Wundt, 1873-1874)14 aufgehoben. Fechner und Wundt treten nämlich für eine Wertung des Verhältnisses von Physischem und Psychischem ein, die sich auf keinen substantiellen, sondern auf einen rein epistemischen Unterschied stützt. Von hier aus kann die These des „psychophysischen Parallelismus“ verstanden werden. So beziehen sich für Fechner die Untersuchungen der Psychophysik – die „exacte Lehre von den functionellen oder Abhängigkeitsbeziehungen zwischen Körper und Seele, allgemeiner zwischen körperlicher und geistlicher, physischer und psychischer Welt“ (Fechner, 1860, 8) – „auf das Physische im Sinne der Physik und Chemie, auf das Psychische im Sinne der Erfahrungsseelenlehre, ohne daß auf das Wesen des Körpers, der Seele hinter der Erscheinungswelt im Sinne der Metaphysik irgendwie zurückgegangen wird“ (ebd.). 5.  Die Psychologie als „Wissenschaft der psychischen Phänomene“ In diesem weiteren Zusammenhang ist Brentanos Programm einer Psychologie als empirischer Wissenschaft zu verstehen. Er macht sich die zu seiner Zeit herrschende positivistische Einstellung nicht deshalb zu eigen, weil er deren anti14

Über die Beziehungen zwischen Brentano und Wundt vgl. Titchener, 1921.

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metaphysischen Absichten teilt, sondern weil sie, ohne das traditionelle Forschungsgebiet der Psychologie einzuengen, den Vorteil aufweist, sich auf eine geringere Anzahl von Voraussetzungen zu stützen, was seinem Programm einer psychologischen Einheitswissenschaft entgegenkommt. Selbst der Metaphysiker hat nichts gegen die Bestimmung der Psychologie als Wissenschaft der psychischen Phänomene einzuwenden, da diese Bestimmung nicht bedeutet, auf die Seele in ihrer metaphysischen Deutung zu verzichten, sondern lediglich eine methodologische Wahl zu treffen. Die neue Erklärung des Namens Psychologie enthält nichts, was nicht auch von Anhängern der älteren Schule angenommen werden müsste. Denn mag es eine Seele geben oder nicht, die psychischen Erscheinungen sind ja jedenfalls vorhanden. Und der Anhänger der Seelensubstanz wird nicht leugnen, dass alles, was er in Bezug auf die Seele feststellen könne, auch eine Beziehung zu den psychischen Erscheinungen habe. Es steht also nichts im Wege, wenn wir, statt der Begriffsbestimmung der Psychologie als Wissenschaft von der Seele, die jüngere uns eigen machen. Vielleicht sind beide richtig. Aber der Unterschied bleibt dann bestehn, dass die eine metaphysische Voraussetzungen enthält, von welchen die andere frei ist, dass diese von entgegengesetzten Schulen anerkannt wird, während die erste schon die besondere Farbe einer Schule an sich trägt, dass also die eine uns allgemeiner Voruntersuchungen enthebt, zu welchen die andere uns verpflichten würde. Und indem so die Annahme der jüngeren Fassung uns die Arbeit vereinfacht, gewährt sie noch einen anderen Vortheil als den der Erleichterung der Aufgabe. Jede Ausscheidung einer gleichgültigen Frage ist als Vereinfachung auch Verstärkung. Sie zeigt die Ergebnisse der Forschung von wenigeren Vorbedingungen abhängig und führt so mit grösserer Sicherheit zur Ueberzeugung hin (PeS I, 34f.).

Die Annahme des positivistischen Paradigmas einer phänomenalen Wissenschaft bedeutet für Brentano somit nicht einen Verzicht auf die metaphysischen Implikationen der psychologischen Untersuchungen – im Gegenteil, sie stimmt damit überein, wie Brentano schon seit den frühen 70er Jahren die Beziehungen zwischen der psychologisch-empirischen und der metaphysischen Ebene auffaßt. Die Fundierung der Metaphysik durch die Psychologie beinhaltet eine „einseitige Ablösbarkeit“ der Psychologie von der Metaphysik, d. h. es wird eine „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ möglich, die in ihren Grenzen noch diesseits metaphysischer Fragestellungen steht und in diesem Sinne metaphysikfrei ist. Die Wahl für eine solche Psychologie ist also eine rein methodologische, schließt aber eine weitere metaphysische Untersuchung über den Seelen- und Substanzbegriff nicht aus. Diesen Schritt wollte Brentano im geplanten sechsten Buch vollziehen.

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Doch die Annahme dieses Standpunktes ist für Brentano an einen grundlegenden Vorbehalt gebunden, der den Begriff des Phänomens betrifft. Während das physische Phänomen, Gegenstand der äußeren Wahrnehmung, nicht eigenständig ist, sondern ein bloßes „Zeichen“ für etwas anderes, von dem es nur einen approximativen Hinweis gibt, kann man das aktuell erscheinende psychische Phänomen nicht anzweifeln, ohne dabei in einen absoluten Skeptizismus zu verfallen, der sich letztlich als widersprüchlich erweist (ebd., 25).15 Das Spezifikum der psychischen Phänomene hebt Brentano anhand ihrer eigentümlichen Erscheinungsweise selbst hervor. Ihre Abgrenzung erfolgt durch den Rekurs auf die „innere Wahrnehmung“, die sich dadurch auszeichnet, daß sie uns den Gegenstand als „leibhaftig“, ohne jegliche Vermittlung präsentiert. Das „Phänomen“, die „Erscheinung“, ist das, was sich uns unmittelbar zeigt, jenseits jeglicher intellektueller Vermittlung. Die psychischen Phänomene sind nicht deshalb Phänomene, weil in ihnen bzw. durch sie etwas – nämlich das entsprechende physische Phänomen – in Erscheinung tritt, sondern weil sie selbst erscheinen bzw. sich zeigen. Das psychische Phänomen erscheint sich selbst als sekundäres Objekt in der inneren Wahrnehmung. So gesehen verdienen sowohl das physische als auch das psychische Phänomen, unter dem gemeinsamen Namen „Phänomen“ klassifiziert zu werden. Sobald man aber den Ausdruck „Phänomen“ über das rein Phänomenologische hinaus ontologisch bzw. erkenntnistheoretisch wertet, wird es mehrdeutig: Physisches und psychisches Phänomen stellen keine gleichgeordneten Arten einer Gattung dar, sondern ontologisch verschiedene und nicht aufeinander rückführbare Entitäten. Während die physischen Erscheinungen „bloße Phänomene“, „ungesättigte“ und unvollständige Entitäten sind, die in sich selbst keine Rechtfertigung finden, sind die psychischen Phänomene ontologisch vollständige bzw. selbständige Entitäten, für die Sein und Schein ein und dasselbe sind. Während beim physischen Phänomen das Erscheinende ein bloßes Indiz ist, das nur in einer hypothetisch angenommenen wirklichen Außenwelt seine Rechtfertigung findet, ist das psychische Phänomen durch sich selbst gerechtfertigt – und nur insofern unselbständig, als es niemals isoliert vorkommt, sondern immer nur als Teil eines komplexeren Ganzen.16 15

„Die Richtigkeit der inneren Wahrnehmung ist in keiner Art erweisbar, aber sie ist mehr als dies, sie ist unmittelbar evident; und wer skeptisch diese letzte Grundlage der Erkenntnis antasten wollte, der würde keine andere mehr finden, um ein Gebäude des Wissens darauf zu errichten.“ Ebd., 159. „Denn die phänomenale Wahrheit der physischen Phänomene verlangt die reale Wahrheit von psychischen; wären die psychischen Phänomene nicht in Wirklichkeit, so wären physische wie psychische auch nicht einmal als Phänomene vorhanden.“ Ebd., 192. 16 In dieser Hinsicht ist die Analogie zwischen physischer und psychologischer Wissenschaft mit äußerster Vorsicht zu betrachten. Denn während die psychischen

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Die innere Wahrnehmung, die das komplexe Gefüge des Psychischen enthüllt, begründet für Brentano den Anspruch der Psychologie und mit ihr der ganzen Philosophie auf eine absolut evidente Grundlage, auf die Wahrheit schlechthin. Denn für Brentano ist das psychische Phänomen primär auf seinen intentionalen Gegenstand gerichtet, sekundär aber auf sich selbst. In diesem sekundären Selbstbezug zeigt sich die wahre Natur des Psychischen. Erkennender und Erkanntes sind in der inneren Wahrnehmung identisch. Diese Identität garantiert erkenntnistheoretisch die Evidenz und ontologisch die Wirklichkeit. Diese ontologische Implikation zu entwickeln und somit zu einer explizit metaphysischen Forschung zu gelangen ist eine Aufgabe, die über die Grenzen der rein psychologischen Untersuchung hinausgeht. Die Ergebnisse der psychologisch-empirischen Forschung enthalten zwar zahlreiche metaphysische Implikationen; doch erst auf einer höheren Forschungsebene kann die metaphysische Relevanz dieser Ergebnisse explizit thematisiert werden. Fragen wie die nach der Existenz einer Außenwelt oder nach der Seele sind metaphysische Fragen, von denen die Psychologie nur die Umrisse abzeichnet, indem sie mögliche Lösungen vorgibt, ohne dabei eine endgültige Antwort geben zu können. Eine dieser Fragen betrifft auch das Problem der Unsterblichkeit. Dieses Problem, das traditionell in den Bereich der Psychologie gehört, ist prinzipiell nicht aus diesem Gebiet auszuschließen, sondern muß entsprechend der neuen methodologischen Einstellung neu formuliert werden. Es geht nicht mehr darum, die Unsterblichkeit der Seelensubstanz festzustellen, vielmehr soll die Möglichkeit eines Fortbestands des psychischen Lebens nach dem Zerfall des Leibes untersucht werden. Hier gelangt die psychologisch-empirische Wissenschaft an ihre äußerste Grenze, bis an die Schwelle der Metaphysik. Auch bei der Untersuchung über die Unsterblichkeit wird das Verfahren ein deductives sein, und die Deduction auf allgemeine Thatsachen sich stützen, die in früheren Erörterungen inductiv festgestellt wurden. Die Forschung [...] wird offenbar einen in mancher Beziehung neuen Charakter annehmen müssen. Sie wird einerseits nicht umhin können, auf einige Gesetze der Metaphysik, mehr als es sonst eine phänomenale Psychologie thut, Rücksicht zu nehmen; und andererseits wird auch von den Ergebnissen der Physiologie hier mehr noch als in den früheren Untersuchungen Anwendung zu machen sein. [...] Ob es uns freilich möglich sein wird, durch Induction auf psychischem Gebiete allgemeine Thatsachen zu finden, welche für eine Deduction zur Entscheidung der Unsterblichkeitsfrage die Prämissen liefern; ob wir nicht genöthigt sein werden, Phänomene zugleich Ausgangspunkt und letztes Ziel der psychologischen Forschung darstellen, sind die physischen Phänomene für die Physik lediglich der Ausgangspunkt, von dem aus diese zu einer physikalischen Wirklichkeit gelangt, auf die die physischen Phänomene symbolisch hinweisen.

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so tief in die Metaphysik einzugehen, dass der sichere Pfad in unbestimmten, haltlosen Träumereien sich verliert; ob nicht auch die Thatsachen, welche wir der Physiologie zu entlehnen haben, bei dem jetzigen Zustande dieser Wissenschaft, auf allzuwenig Vertrauen Anspruch machen können: – das sind Fragen, die wohl nicht mit Unrecht aufgeworfen werden dürften, über die aber hier zu entscheiden nicht des Ortes ist (PeS I, 91).

Diese Fragen wollte Brentano im geplanten sechsten Buch der Psychologie vom empirischen Standpunkte behandeln. Die spärlichen Hinweise hierzu aus den ersten beiden Büchern geben jedoch kaum Aufschluß über seine beabsichtigte Vorgangsweise. Wesentlich ist die Tatsache, daß die „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ nicht auf die Unsterblichkeitsfrage verzichtet und sich somit der Metaphysik öffnet. Brentano findet hier nicht nur bei Aristoteles, sondern auch bei seinem Zeitgenossen Lotze einen Bezugspunkt, der gerade in der Unsterblichkeitsfrage den Übergang bzw. das Vermittlungsglied zwischen empirischer und metaphysischer Dimension der psychologischen Forschung erblickt. Für Brentano, wie für Lotze, führt eine konsequent durchgeführte empirische Psychologie unvermeidlich zu metaphysischen Fragestellungen und stellt somit den bevorzugten Zugang zur Metaphysik dar.17 6.  Der Aristotelische Hintergrund von Brentanos Psychologie Die Unsterblichkeitsfrage und ihre Funktion als Bindeglied zwischen psychologisch-empirischer und metaphysischer Ebene stellen weitere Argumente für die Verankerung der Psychologie Brentanos in derjenigen des Aristoteles dar (vgl. PeS I, 30ff.). Trotz Ausklammerung des Seelenbegriffes und Annahme des positivistischen Paradigmas einer phänomenalen Wissenschaft bleibt Aristoteles das Vorbild, an dem sich Brentanos theoretisches Programm orientiert. Eine Bestätigung hierfür liefert der Vergleich zwischen dem geplanten Aufbau von Brentanos Hauptwerk und Aristoteles’ De anima (vgl. Münch, 1993, 51f.). Das „erste, einleitende Buch“ der Psychologie vom empirischen Standpunkte, das „Begriff und Aufgabe der psychischen Wissenschaft“ sowie die „Methode der Psychologie“ behandelt, hat eine Parallele zu dem ersten Buch aus De anima, das methodologische Überlegungen über den Gegenstand, das Vorgehen und die Stellung der „Forschung über die Seele“ (De an., I 1, 402 a 4) im System der 17 Vgl. Lotze, 1852, Buch I. Brentano, wie auch Lotze, sieht im Leib-Seele-Problem bzw. in der Unsterblichkeitsfrage den Angelpunkt zwischen empirischer und metaphysischer Dimension der psychologischen Forschung. Hinsichtlich dieser Problematik gehen beide von der These der Einheit des Bewußtseins aus.

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Wissenschaften enthält. Mit der Aufstellung der Aporien umreißt Aristoteles den Problembereich der neu eingeführten Disziplin (vgl. ebd., 402 a 25-403 b 20), den er anhand einer kritischen Überprüfung der Ansichten seiner Vorgänger präzisiert. Brentanos Vorgehensweise ist ganz analog. Als Abschluß seiner methodologischen Überlegungen des zweiten, dritten und vierten Kapitels schreibt er: Indem wir unsere Erörterungen über die Methode der Psychologie abschliessen, fügen wir eine letzte, allgemeinere Bemerkung bei. Sie bezieht sich auf ein Mittel, welches zwar auch anderwärts, insbesondere aber auf psychologischem Gebiete, häufig die Forschung vorbereitet und erleichtert. Ich meine das Mittel, das Aristoteles so gerne anzuwenden pflegte, die Zusammenstellung der „Aporien“. Sie zeigt die verschiedenen denkbaren Annahmen sowie für jede von ihnen die ihr eigen­ thümlichen Schwierigkeiten und gibt insbesondere über die widerstreitenden Ansichten, sei es einzelner bedeutender Männer, sei es der Massen eine dialektisch kritische Uebersicht. [...] Ich glaube, es ist einleuchtend, warum gerade der Psychologe aus den sich bekämpfenden Meinungen Anderer mehr noch als ein Forscher auf anderem Gebiete Gewinn ziehen kann. Jeder dieser Meinungen liegt, wenn auch vielleicht einseitig berücksichtigt oder irrig beurtheilt, irgend welche Wahrheit, irgend welche Erfahrung als Anhalt zu Grunde. Und wo es sich um psychische Erscheinungen handelt, hat jeder Einzelne seine besonderen Wahrnehmungen, die keinem Anderen in gleicher Weise zugänglich sind (PeS I, 91).

Die aporetische Methode hat für Brentano wie für Aristoteles eine ganz bestimmte theoretische Funktion. Sie dient der Erläuterung der Problemstellung und ihrer möglichen Lösungen. Brentano präzisiert, wie zuvor Aristoteles, seinen Standpunkt, indem er sich kritisch mit den Lehren seiner Vorgänger und Zeitgenossen auseinandersetzt und ihre verstreuten Anschauungen zur Einheit bringt, um die Wahrheit in der „goldenen Mitte“ ihrer entgegengesetzten Meinungen zu finden. Vor allem durch dieses methodologische Mittel entwickelt Brentano im Verlauf des zweiten Buches seine Theorie des psychischen Aktes; dadurch sucht er seinen „empirischen Standpunkt“ zu stützen. Denn unter den empirischen Daten, den „Phänomenen“, mit denen sich Brentano auseinandersetzt, befinden sich – wie auch unter den φαινόμενα des Aristoteles – nicht zuletzt die Alltagssprache, die üblichen Ansichten sowie die philosophisch-wissenschaftliche Tradition. Das zweite Buch der Psychologie vom empirischen Standpunkte hat ihr Pendant zu den ersten drei Kapiteln des zweiten Buches von De anima. Sowohl Aristoteles wie auch Brentano zielen hier auf eine präzise Bestimmung des Forschungsgegenstandes der Psychologie, den sie jeweils in der Seele bzw. in den psychischen Phänomenen sehen. Wie Aristoteles drei „Teile“ oder Vermögen

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der Seele (vegetatives, sensitives, intellektives) annimmt, so grenzt Brentano drei Grundklassen psychischer Erscheinungen ab (Vorstellungen, Urteile, Gemütsbewegungen). Unter diesen drei Klassen besteht dasselbe Fundierungsverhältnis, das Aristoteles schon zwischen den Seelenvermögen festgestellt hatte. Das Niedrigere ist als Fundament im Höheren enthalten, das dadurch nicht nur die eigenen, sondern auch die niedrigeren Funktionen ausüben kann. Die drei folgenden, nie publizierten Bücher der Psychologie sollten eine syste­ matische Analyse der drei Grundklassen psychischer Phänomene bieten. Eine Entsprechung stellen die Kapitel 4-12 des zweiten Buches und 1-4 des dritten Buches von De anima dar, die analytisch die einzelnen Seelenvermögen untersuchen. Das geplante sechste Buch der Psychologie, das die Unsterblichkeitsfrage behandeln sollte, findet schließlich eine Parallele in Aristoteles’ Untersuchung über den νοῦς ποιητικός (III, 5), den Brentano in seiner Habilitationsschrift als Höhepunkt von De anima und als Vermittlungsglied zwischen „zweiter“ und „erster Philosophie“ beschrieben hatte. Zu diesen Parallelen treten zahlreiche inhaltliche Übereinstimmungen hinzu. Am Aristotelischen Gedanken eines Bewußtseins ἐν παρέργῳ orientiert sich Brentano bei seiner Theorie des inneren Bewußtseins (vgl. Antonelli, 2001, Teil II, Kap. 4, § 7). Brentanos Lehre der „intentionalen Inexistenz“ des Gegenstandes als Hauptmerkmal des Psychischen gegenüber dem Physischen geht ebenfalls auf Aristoteles zurück. Vom Stagiriten stammt außerdem das Prinzip, nach dem psychische Phänomene „Vorstellungen [sind], sowie auch alle jene Erscheinungen, für welche Vorstellungen die Grundlage bilden“ (PeS I, 97. Vgl. De an., III 3, 427 b 154; 7, 431 a 15-20; vgl. auch PsA, 144). Diese Übereinstimmungen, die sich leicht vermehren ließen, sind alles andere als zufällig oder äußerlich. Brentanos Wiederaufnahme des Aristotelischen Erbes erfolgt ganz bewußt und gezielt. Auf der Suche nach einer geeigneten Grundlage, um die zahlreichen, entgegengesetzten Richtungen der zeitgenössischen Psychologie zur Einheit zu bringen, findet Brentano die Basis in der Psychologie seines „Lehrers“, der für ihn „ganz wie ein moderner Psychologe spricht“ (PeS I, 21). Worauf es ihm ankommt, ist, die Psychologie des Aristoteles von ihrem „metaphysischen Ballast“ zu befreien und durch die positive Methode aufzufrischen – ihr also im wissenschaftlichen Panorama seiner Zeit einen neuen Platz zu schaffen. Brentano kann sich hierbei auf ein bestimmtes Aristoteles-Bild stützen, das in den kulturellen Kreisen seiner Zeit weit verbreitet war. Es handelt sich um „Aristoteles als Methodentheoretiker“ bzw. als „positiven“ Forscher, den schon Trendelenburg und seine Schule als Bezugspunkt nahmen, um die Anarchie der philosophischen Systeme aufzuheben, theoretische Streitigkeiten zu beseitigen und entgegengesetzte theoretische Richtungen zu versöhnen. Aristoteles war für die Trendelenburg-Schule die Grundlage einer radikalen Erneuerung des philo-

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sophischen Wissens, er war Mittler zwischen Empirischem und Apriorischem, zwischen Naturwissenschaft und Philosophie (vgl. Eucken, 1872). Der Aristotelismus bietet sich als „Schlichtungsort“ für Lehrstreitigkeiten, als „Vermittlungsort“ für heterogene Fragestellungen an. Gerade aufgrund seines „gastfreundlichen“ Charakters erweist sich der Aristotelismus für Brentano als geeignet, den zahlreichen Richtungen der neuen wissenschaftlichen Psychologie – also jener Disziplin, in der sich am stärksten die Spannung zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Forschung manifestiert – einen einheitlichen Rahmen zu geben. Nicht zufällig drang dieses Aristoteles-Bild in jene Bereiche der deutschen Wissenschaft ein, die sich um die Gründung einer neuen wissenschaftlichen Psychologie bemühten – in jene physiologische Schule, die in Johannes Müller18 ihren Begründer und in A. W. Volkmann, H. v. Helmholtz und W. Wundt ihre Hauptvertreter fand.19 18

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Trendelenburg sagt in seiner Gedenkrede für Johannes Müller, die er im Jahre 1858 an der Berliner Akademie der Wissenschaften hielt: „Er war und blieb ein aristotelischer Geist, aristotelisch in der Strenge der Methode, in der analytischen Schärfe, aristotelisch in der die Welt der Tatsachen durchsuchenden, sichtenden Beobachtung und in der Weite seines wissenschaftlichen Horizontes, aristotelisch endlich in der Auffassung der Prinzipien.“ Zit. nach Petersen, 1913, 191. Vgl. auch Mazzolini, 1992. So schreibt z. B. Wundt in der ersten seiner Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele (Wundt, 1863, 3): „Aristoteles, der schärfste Beobachter und tiefste Denker zugleich, suchte das Denken wieder mit der Beobachtung auszusöhnen, indem er die Seele als das belebende und formgebende Prinzip in die Materie hineintrug. In den Thierformen, in dem Ausdruck der menschlichen Gestalt bei ihrer Ruhe und Bewegung fand er eine unmittelbare Wirkung psychischer Kräfte, und er machte den verallgemeinernden Schluß, daß, wie der Künstler den Marmor gestaltet, so die Seele alle organische Form aus sich heraus erzeugt. Leben und Beseelung wurden ihm identisch. Mit dieser Verallgemeinerung freilich war wiederum das Denken der Erfahrung vorausgeeilt, denn folgerichtig mußte nun auch die Pflanze als ein beseeltes, empfindendes Wesen betrachtet werden. Doch Aristoteles hat sich mit diesen spekulativen Betrachtungen nicht begnügt, sondern er ist, wie Keiner vor ihm und kaum Einer nach ihm, in die Tiefe der menschlichen Seele gedrungen. Durch die scharfsinnige Zergliederung der Selbstbeobachtung hat er den ersten Grund zu einer selbständigen Wissenschaft von der Seele gelegt. Der Gründer der Logik wurde der Schöpfer der Psychologie. Sind in der Logik die Gesetze des Denkens zu einem systematischen Abschluß gebracht, den die Späteren nicht um einen nennenswerthen Schritt überholt haben, so ist in dem Werk über die Seele das Denken in seiner Entwicklung verfolgt, es sind die Grundthätigkeiten des Empfindens, des Vorstellens, des Denkens und des Begehrens zum ersten Mal scharf von einander geschieden und, soweit dies, gestützt auf die unmittelbare Beobachtung, möglich war, in ihrem Ursprung und ursächlichen Zusammenhang dargelegt. Diese empirischen Untersuchungen stehen, wie sich nicht verkennen läßt, in einem gewissen Gegensatz zu

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Somit wird Brentanos Strategie deutlich. Er entwickelt sein Projekt der Erneuerung der Philosophie des Aristoteles auf einem Gebiet – nämlich der Psychologie –, das viel weniger Gefahren und Risiken birgt als die Metaphysik. Zu dieser Strategie bekennt sich Brentano in der Einleitung zur Vorlesung „Ausgewählte metaphysische Fragen“, die er im Wintersemester 1874/75 – also kurz nach Erscheinen seines Hauptwerkes – in Wien hielt. Beim Beginn des vorigen Semesters, damals als ich zum erstenmale mit der akademischen Jugend von Wien in Berührung trat, habe ich an sie einige Worte der Ermutigung gerichtet. Der Erfolg hat meine Hoffnungen nicht getäuscht. Ja, nicht allein in den hiesigen Kreisen, sondern auch anderwärts wurde bei manchen größeres Vertrauen auf die Philosophie erweckt. Doch eine Bemerkung ist mir darüber zu Ohren gekommen, die ich nicht verschweigen will. Ich habe fast nur von der Psychologie gesprochen. Und doch sei es gerade die Metaphysik, in bezug auf welche es am meisten fraglich, ob sie eine wahrhaft wissenschaftliche Weise der Behandlung gestatte, und nicht zum wenigsten dann, wenn man, wie ich, die Erfahrung als Grundlage der Philosophie anerkenne. Die Antwort war einfach. Es handelte sich darum, der Philosophie überhaupt einen Platz unter den Wissenschaften zu sichern. Und warum sollte ich da gerade auf dem schwierigeren Terrain die Schlacht schlagen, wenn ich den Gegner auf einem Felde angreifen konnte, wo der Sieg rascher und leichter zu erringen war? (Ms. M 14/15, zit. nach Werle, 1989, 113).

7.  Das akademische Umfeld Doch Brentanos Entschluß, die Schlacht auf dem einfacheren Feld der Psychologie auszutragen, birgt noch weitere strategische Gründe. Es ist zumindest auffällig, daß Brentano, der seine Kräfte während seiner Würzburger Zeit voll und ganz auf die Ausarbeitung seiner Metaphysik richtet, plötzlich ein groß angelegtes Werk über die Psychologie in Angriff nimmt. Denn er schreibt noch im Juni 1870 in einem „Gesuch [...] um Ernennung zum a.o. Professor“, er konzentriere seine Kraft „hauptsächlich auf die Vorbereitung eines umfassenden Werkes über Metaphysik, eines Werkes, das, in seiner Gesamtheit wenigstens, den spekulativen Forschungen. Die letzteren schlossen, mochten sie auch bei der Hinneigung des Philosophen zum empirisch Gegebenen immer auf dem Boden der Erfahrung bleiben, doch unmittelbar an die spekulativen Betrachtungen der Vorgänger sich an. In der Erfahrungsseelenlehre steht Aristoteles fast ganz auf der Basis eigener Beobachtungen. Seine Psychologie zerfällt daher in zwei Theile: in einen spekulativen, in welchem das Wesen der Seele aus ihrem Begriffe entwickelt wird, und in einen empirischen, in welchem die durch die Erfahrung gegebenen Eigenschaften der Seele der Untersuchung unterworfen werden.“

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noch mehrere Jahre der Veröffentlichung harren muß, da der Natur der Sache nach das „nonum prematur in annum“ hier ganz vorzüglich Regel sein muß“ (Brentano, 1870, 455). Entscheidend für den Entschluß, sich plötzlich von der Metaphysik abzuwenden, um mit der Psychologie vom empirischen Standpunkte zu beginnen, waren nicht zuletzt persönliche und äußere Umstände, die seine akademische Karriere bedrohten. Sieht man von seinen Arbeiten über Aristoteles ab, sind alle Publikationen Brentanos – mit der einzigen, bedeutenden Ausnahme der Psychologie vom empi­ rischen Standpunkte – Gelegenheitsschriften: kurze Abhandlungen, überarbeitete Vorträge und Aufsatzsammlungen. Dies erklärt sich aus seinem problemorientierten Denken, das sich durch ständige Wiederaufnahme derselben Fragen auszeichnet, die er unter immer neuen Blickwinkeln betrachtet. Um sein Werk zu vermitteln, zieht Brentano die Lehre und den mündlichen sowie schriftlichen Verkehr mit seinen Schülern vor.20 Die Psychologie vom empirischen Standpunkte, vor allem im Lichte des ehrgeizigen Programmes des Vorwortes, stellt eine Ausnahme innerhalb seiner Schriften dar. Trotz dieses Ausnahmecharakters kann aber selbst dieses Werk gewissermaßen als Gelegenheitsschrift betrachtet werden; es ist Brentanos Antwort auf die schwierige Situation, mit der er im katholischen und akademischen Umfeld Würzburgs zu kämpfen hatte. Durch seine Stellungnahme gegen die Unfehlbarkeit des Papstes21 hatte sich Brentano, der sich bis dahin streng nach den Vorgaben der Kirchenlehre gehalten 20

Als Paradebeispiel sei der Briefwechsel mit Anton Marty angeführt, von dem etwa 1400 Briefe erhalten sind, die zum Teil mehr als zwanzig Seiten umfassen. Dieser Briefwechsel wird von W. Baumgartner an der Franz Brentano Forschung der Universität Würzburg zur Edition vorbereitet. 21 Im Sommer des Jahres 1869, als im katholischen Deutschland die Diskussion über die Unfehlbarkeit des Papstes entbrannt war, verfaßte Brentano im Auftrag des Mainzer Bischofs Wilhelm E. v. Ketteler jene Denkschrift, die die Diskussionsgrundlage der Bischofskonferenz in Fulda darstellte. Diese Gedenkschrift, die er anonym zusammen mit Christoph Moufang schrieb, trägt den Titel „Einige Bemerkungen über die Frage: Ist es zeitgemäß, die Unfehlbarkeit des Papstes zu definieren?“ (Brentano, Moufang, 1869). Die Schrift hatte insofern große Bedeutung, da die Konferenz zum größten Teil die Thesen Brentanos übernahm und dem Papst ihre Vorbehalte gegen die dogmatische Festlegung der Unfehlbarkeit mitteilte. Nach dieser Gedenkschrift verfaßte Brentano zwischen Ende des Jahres 1869 und Anfang 1870 eine zweite, die allerdings niemals publiziert wurde. Während er ursprünglich gegen die Opportunität der dogmatischen Festlegung der Unfehlbarkeit Stellung nimmt, geht er nun noch einen Schritt weiter. Aus historischen und theologischen Gründen behauptet er hier die Widersprüchlichkeit eines solchen Dogmas. Diese Umstände lösten bei Brentano jene innere Krise aus, die ihn zur Zurücklegung des Priesteramtes (1873) und schließlich (1879) zum Austritt aus der katholischen Kir-

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hatte, im erzkatholischen Würzburg scharfer Kritik ausgesetzt. Zugleich wurde sein thomistisch gefärbter Aristotelismus zur Zielscheibe harscher Angriffe seitens jener liberalen Kreise, die in seinem theoretischen Ansatz eine bloße Wiederbelebung der Scholastik, zumindest aber eine konfessionsgeprägte Philosophie sahen. Hinzu kamen persönliche Feindschaften, vor allem seitens des damals einzigen Ordinarius für Philosophie Franz Hoffmann, der machtlos dem Aufstieg des jungen Privatdozenten zusehen mußte und dessen Lehrerfolg ihm nach und nach seine Studenten abspenstig machte.22 Hoffmann gelang es, alle gegen Brentano mißtrauisch eingestellten Parteien zu mobilisieren, so daß im Jahre 1870 der akademische Senat – wenn auch mit knapper Mehrheit – Brentanos Gesuch um ein Extraordinariat in Philosophie ablehnte. Die offizielle Begründung war folgende: „Die Fakultät läßt zwar der Lehrtätigkeit des Dr. Brentano gerne die verdiente Anerkennung widerfahren. [...] Der Bewerber hat [aber] weder einen Ruf erhalten noch hervorragende wissenschaftliche oder praktische Leistungen aufzuweisen, noch liegt eine Vakatur vor.“23 Es war Brentanos geringe Anzahl von Publikationen, die als Vorwand galt, um seinen Antrag abzuweisen. Brentano sah sich also gezwungen, so schnell wie möglich ein gewichtiges Werk zu publizieren, doch nicht so sehr, um sich damit in Würzburg durchzusetzen, sondern um sich eine breitere akademische Perspektive zu eröffnen. Doch obwohl Brentano schließlich im Jahre 1872 das Würzburger Extraordinariat erhielt – wobei der Senat diesmal einstimmig für ihn votierte –, wurde seine Lage immer unerträglicher. Seine stetig wachsende religiöse Krise, ausgelöst durch die Unfehlbarkeitskontroverse, und das inzwischen aussichtslose Verhältnis zu dem katholischen Umfeld Würzburgs führten ihn im März 1873 zu jenem Entschluß, den er lange hinausgezögert hatte: die Ablegung des Priester-

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che bewegte, was natürlich auch relevante Konsequenzen hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Karriere nach sich zog. Als in Würzburg die Autorschaft dieser Schriften bekannt wurde, führte dies zu einem Eklat, hatte man Brentano doch für einen Ultramontanen gehalten. Eine detaillierte Rekonstruktion dieser Ereignisse bietet Freudenberger, 1969, 133-226. Vgl. dazu auch Lenhart, 1955, 295-334. „Dr. Brentano ist ein begabter jüngerer Gelehrter, dessen Lebensentwicklung und Geistesrichtung ihn auf die Theologie hätte hinweisen sollen. Als Professor der Dogmatik, der Dogmengeschichte, der Patristik an einer theologischen Fakultät würde er wahrscheinlich nach einiger Zeit Vorzügliches, vielleicht Ausgezeichnetes leisten. Als Philosoph steht kaum etwas Anderes von ihm zu erwarten als eine unzulängliche Repristination der vorwiegend unter aristotelischen Einflüssen erwachsenen mittelalterlichen Scholastik, in moderne Formen gegossen und mit einigen modernen Zutaten ausgeschmückt.“ Hoffmann, 1870. Vgl. Stumpf, 1919, 118ff. „Bericht des Dekanats der philosophischen Fakultät an den Senat der Universität“ (20.12.1870), wiederabgedruckt in: Freudenberger, 1969, 465.

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gewands und somit auch die Aufgabe der erst kürzlich errungenen akademischen Position. Denn Brentano wollte eine ihm unter anderen Umständen verliehene Professur nicht behalten und suchte deshalb um Aufhebung seiner Stellung an. Somit geriet der junge Brentano zwischen die Fronten des Kulturkampfes. Als ehemaliger Priester blieben ihm sowohl die Pforten der katholischen aber auch die der protestantischen Universitäten Deutschlands verschlossen. Einen Lichtblick bot das Ausland. In Wien24 wurde ein Ordinariat in Philosophie vakant, das die Universität durch einen mit der Psychologie vertrauten Gelehrten besetzen wollte. Von Lotze, der mit Brentano freundschaftlich verbunden war, wurde er der Universität Wien wärmstens empfohlen.25 Man versteht nun, weshalb sich Brentano plötzlich von dem angekündigten Werk über Metaphysik abwandte und seine ganze Energie der Psychologie vom empirischen Standpunkte widmete.26 Denn durch dieses Werk stiegen nicht nur seine Chancen für Wien, sondern es diente auch der Formierung eines neuen „Erscheinungsbildes“. Hätte Brentano sein angekündigtes metaphysisches Werk zu Ende gebracht, wäre er zwischen die Fronten geraten und von linker Seite als Scholastiker, von rechter als Ketzer gebrandmarkt worden. So sah Brentano in der Psychologie jene „gastfreundliche“ Disziplin, die, ohne sich direkt auf metaphysische Fragen einzulassen, erlaubt, die Basis für eine „Metaphysik vom empirischen Standpunkt“ zu schaffen. Die Psychologie vom empirischen Standpunkte erschien im Frühjahr 1874 in Leipzig – kurz bevor Brentano seinen Ruf nach Wien erhielt. Es steht jedoch außer Frage, daß dieses Werk eine entscheidende Rolle für seine Berufung spielte.27 24 In diesen Jahren erlebte Österreich eine kurze Ära des Liberalismus, die die Berufung des ehemaligen Priesters auf einen Lehrstuhl möglich machte. Doch schon wenig später bekam Brentano, der sich dazu noch 1879 zur Ehe entschloß, unter den neuen politischen Verhältnissen die Feindschaft der österreichischen Behörden zu spüren. 25 Vgl. Winter, 1980, 370f.; Falkenberg, 1901, 111f. Es war allerdings nicht nur die Empfehlung Lotzes, die Brentanos Berufung nach Wien ermöglichte. Auch Brentanos Familie mit ihren guten Beziehungen zu den katholischen Kreisen in Wien spielte hierbei eine wesentliche Rolle, da sie die Vorbehalte des Klerus gegen den Abtrünnigen entkräften konnten. Vgl. hierzu Winter, 1980, 364-379. 26 So empfahl Brentanos Bruder Lujo, „bald irgendeine Arbeit, ganz neutraler Art, […] auch keine[, in der] vom Dasein Gottes oder irgend welcher Dinge, die Parteifrage sein könnten, die Rede ist“ zu veröffentlichen“. Brief an Franz Brentano, Juni 1873, zit. nach Baumgartner, 2004, 132f. 27 Vgl. dazu z. B. den Brief Brentanos an Lotze vom 18.1.1874, der in Falckenberg, 1901, 111f. abgedruckt ist. Vgl. auch Baumgartner, 2004, 132: „Noch war Brentanos Psychologie nicht publiziert, sondern lag nur auszugsweise im Druck vor, da war diese Schrift und ihr wissenschaftliches Programm schon Begutachtern und

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8.  Die Methode der Psychologie: Erklärung vs. Beschreibung Da „mit dem Fortschreiten der Wissenschaft auch das wahre Verständniss ihrer Methode sich erst mehr und mehr entwickelt“ (PeS I, 44), unternimmt Brentano im ersten Buch der Psychologie vom empirischen Standpunkte eine breit angelegte Untersuchung über die methodologischen Grundlagen der „Psychologie als Wissenschaft“, „um zu zeigen, welchem Kreise der Psychologe die Erfahrungen entnimmt, die er seiner Forschung nach den psychischen Gesetzen zu Grunde legt“ (ebd., 58). „Die Aufschrift, die ich meinem Werke gegeben, kennzeichnet dasselbe nach Gegenstand und Methode. Mein Standpunkt in der Psychologie ist der empirische; die Erfahrung allein gilt mir als Lehrmeisterin.“ (Ebd., 3) Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist die Psychologie die „Schwesterwissenschaft“ der Naturwissenschaft. Die Grundlage der Psychologie bildet allerdings eine besondere Art der Erfahrung: die innere Erfahrung der psychischen Phänomene. Brentano teilt zwar die prinzipiellen Einwände Kants und Comtes gegen die introspektive Methode – die Introspektion oder Selbstbeobachtung ist deshalb unmöglich, weil sie eine Objektivierung des psychischen Aktes mit sich bringt, die diesen wesentlich modifiziert –, behauptet aber entschieden die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit der inneren Wahrnehmung, die in der Struktur des psychischen Aktes selbst begründet ist. Denn das psychische Phänomen hat eine zweifache Intentionalität. Es ist auf seinen intentionalen Gegenstand und zugleich auf sich selbst gerichtet (ebd., 44-49). Der Umstand, daß die innere Wahrnehmung nie zur inneren Beobachtung werden kann, beinhaltet für die Psychologie einen großen Nachteil gegenüber der Naturwissenschaft. Es ist zwar immer möglich, sich auf das Gedächtnis zu stützen, das imstande ist, die früheren psychischen Phänomene zu analysieren und zu „beobachten“. Doch das Gedächtnis ist im Unterschied zur inneren Wahrnehmung nicht evident und prinzipiell immer mit Zweifeln behaftet (ebd., 49ff.). Auch durch diese Hilfestellung des Gedächtnisses „bliebe […] die Erfahrungsgrundlage der Psychologie eine ebenso ungenügende als unzuverlässige“ (ebd., 53), falls sie nicht durch die „objektive Beobachtung“ der äußeren Manifestationen der psychischen Phänomene in der Sprache und im Verhalten Unterstützung finden würde. Nur durch diese Ergänzung kann man die unmittelbaren Gegebenheiten der inneren Wahrnehmung, die das Ergebnis individueller Erfahrung sind, einer intersubjektiven Verifikation unterziehen und das Forschungsgebiet der Psychologie auf Bereiche ausdehnen, die der unmittelbaren Befürwortern einer möglichen Berufung bekannt. Namentlich Lotze verwendete sich für Brentano, und auch Carl Stumpf, ebenfalls für Wien im Gespräch, tat das seinige, damit nicht er, sondern Brentano berufen würde.“

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Erfahrung nicht zugänglich sind. Die Untersuchungen über die Sprache, über „die Handlungen und das willkürliche Thun“ sowie über „unwillkürliche physische Veränderungen, welche gewisse psychische Zustände naturgemäss begleiten oder ihnen nachfolgen“ (ebd., 54), ermöglichen eine mittelbare Kenntnis der inneren Zustände, aus denen solche äußeren Momente hervorgehen. Die Analyse der sprachlichen Äußerungen fremder psychischer Phänomene und das Studium von Autobiographien zeigen außerdem, daß die mitteilende Funktion der Sprache gemeinsame psychische Strukturen und eine Analogie der jeweiligen Erfahrungen voraussetzt. Aufschlußreich ist außerdem die Untersuchung von weniger entwickelten Seelenzuständen: von Kindern, Menschen aus weniger entwickelten Kulturen, Blindgeborenen, Tieren sowie außergewöhnlichen oder pathologischen Persönlichkeiten (ebd., 55ff.). Dieses breite Spektrum an methodologischen Hilfsmitteln erscheint notwendig, um die Lücken der rein psychologischen Methoden zu füllen. Die objektive Beobachtung bleibt allerdings nur eine Stütze, die keinesfalls die eigentliche „Erfahrungsgrundlage“ der Psychologie ersetzen kann. „Aber diese letzte Art von Erfahrungen setzte die Beobachtung im Gedächtniss, so wie diese die innere Wahrnehmung gegenwärtiger psychischer Erscheinungen voraus, welche somit für beide die letzte und unentbehrliche Vorbedingung bildet.“ (Ebd., 58) Man kann sich fragen, inwieweit solche „objektiven“ Untersuchungen etwa von Tieren, Kindern oder pathologischen Persönlichkeiten auf eine introspektive Analyse zurückgeführt werden können, da diese Subjekte im Unterschied zu gesunden Erwachsenen ihre Erlebnisse sprachlich nicht bzw. nicht adäquat mitteilen können.28 Gerade deshalb wird Brentano später in der Deskriptiven Psychologie solche Subjekte für die „psychognostische“ Analyse als ungeeignet bezeichnen und „normale und hinreichend gereifte, also von Natur geeignete menschliche Individuen“ heranziehen.29 Dies ist eine weitere Bestätigung dafür, daß Brentano in seiner Psychologie vom empirischen Standpunkte noch keine explizite Unterscheidung zwischen genetischer und deskriptiver Untersuchung eingeführt hat. Weder in seinem breit angelegten methodologischen Abschnitt noch anderswo im Werk erwähnt er die deskriptive Vorgehensweise. Brentano 28

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Solche „objektiven“ Untersuchungen sind zwar nicht rein „genetischer“ Natur, da sie nicht auf die physiologischen Vorbedingungen der psychischen Phänomene gerichtet sind; sie können aber auch nicht auf eine rein introspektive Analyse zurückgeführt werden. „Wie wir nie bei einem Tier darauf ausgehen werden, ihm die Besonderheit gewisser Urteile, welche man evident nennt, bemerklich zu machen, obwohl die Tiere auch evidente Urteile zu haben scheinen: so auch nicht bei einem ganz kleinen Kinde, einem Geistesschwachen, der an Ideenflucht leidet, oder einem Wahnsinnigen. Wir werden uns mit der Hoffnung auf Erfolg wohl an normale und hinreichend gereifte, also von Natur geeignete menschliche Individuen heranmachen.“ DP, 37.

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zählt zwar eine breite Palette an methodologischen Mitteln auf, die in der psychologischen Forschung zur Anwendung kommen: Induktion, Deduktion, historische, aporetische, statistische, komparative Methode etc. Die Deskription hingegen taucht nirgendwo auf, obwohl er das „psychische Phänomen“ oder „Bewußtsein“ eingehend analysiert, klassifiziert sowie adäquat von seinen physikalisch-physiologischen Bedingungen abgegrenzt. Die Art und Weise, wie Brentano die Verhältnisse von Psychologie und Physiologie sieht und – eng damit verbunden – den epistemologischen Stellenwert der psychologischen Gesetze bewertet, macht deutlich, wie unzutreffend es wäre, die Psychologie vom empi­ rischen Standpunkte im Lichte theoretischer und methodologischer Ansätze zu lesen, die Brentano erst fünfzehn Jahre später entwickelt. Brentanos „empirischer Standpunkt“ betrifft sowohl die Analyse und Klassifikation der psychischen Phänomene als auch die Bestimmung ihrer Entstehungsund Sukzessionsgesetze, die er als logische und notwendige Ergänzung der Klassifikation betrachtet. Die psychologische Forschung setzt zwar notwendig „die Feststellung der gemeinsamen Eigenthümlichkeiten aller psychischen Phänomene“ und „die Bestimmung ihrer Grundklassen“ voraus (PeS I, 59), ihr letztes Ziel besteht allerdings in der Feststellung der „obersten und allgemeinsten Gesetze der Succession psychischer Phänomene, mögen sie nun für alle schlechthin oder nur für die Gesammtheit einer Grundklasse gelten“ (ebd., 61f.). Diese Gesetze können aber nicht als „oberste und letzte Gesetze“ wie etwa das Gravitations- oder Trägheitsgesetz der Physik gelten, weil unser Wissen über die physiologischen Entstehungsbedingungen der psychischen Phänomene noch sehr unvollkommen ist.30 Brentano ist also mit der heiklen Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Physiologie konfrontiert, die zu dieser Zeit intensiv diskutiert wurde. Die engen Beziehungen von psychischen und physiologischen Ereignissen macht es äußerst schwierig, zwischen diesen eine scharfe Trennung zu ziehen, die imstande ist, ein für alle Mal jegliche Vermengung dieser beiden Bereiche auszuschließen. Die Schwierigkeit liegt in der Natur der Sache selbst, und gerade 30

„Die obersten und allgemeinsten Gesetze der Succession psychischer Phänomene, mögen sie nun für alle schlechthin oder nur für die Gesammtheit einer Grundclasse gelten, sind nach den allgemeinen Regeln der Induction direct festzustellen. Sie sind, wie A. Bain in seiner inductiven Logik mit Recht bemerkt, nicht oberste und letzte Gesetze in dem Sinne, in welchem wir etwa das Gesetz der Gravitation und das der Trägheit als solche bezeichnen dürfen. Dafür sind die psychischen Phänomene, auf welche sie sich beziehen, zu sehr von einer Mannigfaltigkeit physiologischer Bedingungen abhängig, von welchen wir sehr unvollkommen Kenntniss haben. Sie sind streng genommen empirische Gesetze, die zu ihrer Erklärung einer genauen Analyse der physiologischen Zustände, an welche sie sich knüpfen, bedürfen würden.“ Ebd., 61f.

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hierin wurzelt das angesprochene Problem. Um den Rang einer exakten Wissenschaft zu erreichen, muß die Psychologie die „psychologische Methode“ – die zu bloßen empirischen Verallgemeinerungen führt – durch physiologische Untersuchungen ergänzen, in denen die Mathematik eine Anwendung findet. Nur dadurch kann die Psychologie den Status einer exakten Wissenschaft erlangen, die induktiv allgemeine Gesetze feststellt, aus diesen speziellere Gesetze ableitet und letztere einer empirischen Verifikation unterzieht. Um die psychischen Erscheinungen unter wirklich letzte und endgültige Gesetze zu fassen, reicht es z. B. nicht aus, das Sukzessionsverhältnis zwischen psychischen Phänomenen zu bestimmen, die durch eine längere Zeitspanne voneinander getrennt sind. Um zwischen beiden eine wirkliche kausale Verbindung herzustellen, ist es nötig, die inzwischen stattgefundenen physiologischen Prozesse miteinzubeziehen (ebd., 62f.). Die innere Wahrnehmung kann nur eine wechselseitige, gesetzmäßige Beziehung feststellen; dies veranlaßt uns zur Annahme, das erste Phänomen habe eine „Disposition“ zur Entstehung des zweiten zurückgelassen – eine Disposition, deren letzte Grundlage aber verschlossen bleibt, da uns die entsprechenden physiologischen Prozesse nicht zugänglich sind (ebd., 75f.).31 Wäre dies erreicht, so würden wir höchste psychische Gesetze von einer Fassung erhalten, welche zwar nicht dieselbe durchsichtige Klarheit, wohl aber dieselbe Schärfe und Genauigkeit wie die Axiome der Mathematik besässen, höchste psychische Gesetze, welche als Grundgesetze im vollen Sinne des Wortes zu betrachten wären (ebd., 62f.).

Trotz der notwendigen Ergänzung, die die psychologische von der physiologischen Forschung zu erwarten hat, ist Brentano weit davon entfernt, die Psychologie der Physiologie unterordnen zu wollen. Nachdrücklich betont er, daß die Gegenstände beider Disziplinen, obwohl sie miteinander in Verbindung stehen, wesentlich unterschiedlicher Natur und nicht aufeinander rückführbar sind. Was ich sage, ist nicht so zu verstehen, als ob ich glaubte, man solle es sich als Aufgabe stellen, die höchsten Gesetze psychischer Succession aus Gesetzen physiologischer und in weiterer Folge vielleicht gar chemischer und in engerem Sinne physischer Phänomene abzuleiten. Dies wäre eine Thorheit. Es gibt unüberschreitbare Grenzen der Naturerklärung, und auf eine solche Grenze stösst man, wie J. St. Mill ganz richtig lehrt, wo es sich um den Uebergang vom physischen Gebiet in das der psychischen Phänomene handelt (ebd., 62). 31

Brentano erklärt die „habituellen Dispositionen“ als Folgen „früherer Akte“. Sie sind „keine psychischen Phänomene [...], da sie sonst [...] bewusst“ und intentional wären. Ebd., 76.

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Brentano tritt entschieden für die methodologische und wissenschaftstheoretische Autonomie der Psychologie ein. Er bemüht sich um eine Bekämpfung des Reduktionismus, der Tendenz, „die Psychologie methodisch auf Physiologie zu basiren“ (ebd., 71), die er paradigmatisch durch A. Horwicz und H. Maudsley vertreten sieht (Horwicz, 1872a; 1872b; Maudsley, 1870). Brentano stimmt mit seinen Gegnern darin überein, „dass die Processe des Gehirns, welche in der Succession von physischen Phänomenen ihre Zeichen haben, von wesentlichem Einfluss auf die psychischen Phänomene sind und dieselben mitbedingen“ (PeS I, 78), und daß „der grösste Theil, wenn nicht das Ganze der Psychologie einen halb und halb psychophysischen Charakter“ hat (ebd., 63). Er distanziert sich aber entschieden von ihrer These, das Verhältnis von Psychologie und Physiologie bestehe in einer Fundierung der ersteren auf letzterer. Denn für Brentano ist die Psychologie eine selbständige Wissenschaft, die in der inneren Wahrnehmung ihre letzte methodologische Grundlage findet. Die Psychologie, nicht aber ihre Methode ist psychophysischer Natur (ebd., 80). Brentano beabsichtigt nicht eine Ableitung der psychologischen aus physiologischen Gesetzen, sondern die Aufstellung von Gesetzen, die für das ganze Gebiet des psychischen Lebens gelten, einschließlich der Aspekte dieses Bereiches, die zu physiologischen Ereignissen in enger Beziehung stehen – hierzu gehören vor allem die Empfindungen, die psychophysischen Ursprungs sind und die Grundlage aller anderen mentalen Ereignisse darstellen. Brentano beabsichtigt also mit seiner Bestimmung der Psychologie als „Wissenschaft der psychischen Phänomene“ keine Einschränkung ihres Forschungsgebiets auf reine Bewußtseinsphänomene. Denn die Untersuchung der sie begleitenden physiologischen Ereignisse und ihrer äußeren Manifestationen ist integrierender Bestandteil der psychologischen Forschung. Somit weist Brentano auch auf die Bedeutung der praktischen Anwendungen der Psychologie hin – eine Einstellung, die mit seinem Programm einer „psychologischen Einheitswissenschaft“ kohärent ist. Deshalb zieht er keine scharfe Trennung zwischen empirischer und physiologischer, zwischen deskriptiver und genetischer Psychologie. Diese Forschungsperspektiven erweisen sich als integrierende Aspekte einer wesentlich einheitlichen wissenschaftlichen Disziplin.32 Ohne sich dabei dem Reduktionismus zu nähern, bemüht sich Brentano, den Bezug zur physiologischen Ebene aufrechtzuerhalten. Er sucht eine Verbindung, einen Ausgleich zwischen jenen 32

Selbst später, als Brentano die strikte Trennung zwischen genetischer und deskriptiver Forschung einführt, betont er stets den komplementären Charakter beider Forschungsrichtungen und die Einheit der psychologischen Wissenschaft. Brentano setzte sich bis zuletzt für die Einrichtung eines experimentalpsychologischen Laboratoriums an der Universität Wien ein. Das Scheitern dieses Vorhabens, das nicht zuletzt mit seiner heiklen Position als verheirateter ehemaliger Priester in Zusammenhang stand, war einer der Gründe, weshalb er im Jahre 1895 Österreich verließ. Vgl. LWÖ, 6ff.

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beiden Forschungsrichtungen zu schaffen, die in der damaligen deutschen Psychologie vertreten waren – zwischen der physiologischen Schule um Johannes Müller und dem Modell Herbarts, das für eine „Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik“ eintritt. Brentanos Position nähert sich somit derjenigen von Lotze an. Auch bei diesem fließen beide Forschungsansätze in einem organischen Programm zusammen, das sich von jeglicher reduktionistischer Versuchung fernhält und ein Gleichgewicht zu den einander entgegenstehenden Richtungen der damaligen deutschen Psychologie schafft. Wie Lotze will auch Brentano das Spezifische des Psychischen bewahren, ohne dabei die psychophysische Einheit in Frage zu stellen.33 Denn psychische Phänomene sind Phänomene einer verkörperten Psyche, die mit dem Körper in Wechselbeziehung steht – ein Gedanke, den schon Aristoteles vertrat, als er zwischen dem Platonischen Dualismus und dem materialistischen Monismus der alten Naturphilosophen vermitteln wollte. Brentanos „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ ist somit weit davon entfernt, eine Cartesisch geprägte Psychologie zu sein.34 Von Descartes stammt 33

„Die Lebenskraft, adeligeren Geschlechtes, ist seit Lotze eine mehr und mehr abgethane Sache. Der umfassendere Begriff des chemischen Phänomens ist als ein einheitlicher für die Umwandlungen des Unorganischen wie für das Leben im physiologischen Sinne nachgewiesen. Es fehlt viel daran, dass von dem Begriffe des Lebens, wenn er auf physiologischem und psychischem Gebiete angewandt wird, das Gleiche gesagt werden könnte. Im Gegentheil sieht man sich, wenn man den Blick von Aussen nach Innen wendet, wie in eine neue Welt versetzt. Die Erscheinungen sind völlig heterogen, und selbst die Analogien verlassen uns gänzlich oder nehmen einen sehr vagen und künstlichen Charakter an. Das war ja auch der Grund, wesshalb wir vorher bei der fundamentalen Eintheilung des empirischen Wissensgebietes die psychische und die physische Wissenschaft als Hauptzweige von einander schieden.“ PeS I, 66. 34 In der Psychologie vom empirischen Standpunkte bezieht sich Brentano nicht ausdrücklich auf Descartes, den er dann in den 80er Jahren immer wieder zitiert. Trotzdem ist in ihr der Cartesische Einfluß vor allem bei Brentanos Behandlung der inneren Wahrnehmung nicht zu verkennen, obwohl er seinen Standpunkt in kritischer Auseinandersetzung mit Aristoteles entwickelt. Vgl. PsA, 138. Die These der Evidenz der inneren Wahrnehmung ist allerdings zu dieser Zeit weit verbreitet, vor allem bei jenen Autoren, die sich – wie Trendelenburg, Beneke und Ueberweg – auf Schleiermacher berufen. Was dann die Klassifikation der psychischen Phänomene betrifft, wird sich Brentano erst in den Anmerkungen zum Ursprung sittlicher Erkenntnis („Die Grundeinteilung der psychischen Phänomene bei Descartes“, jetzt in: Brentano, 1930 [Abk.: WE], 54f.) auf Descartes als Vorläufer seiner Einteilung in Vorstellungen, Urteile und Gemütsbewegungen berufen. In der Psychologie vom empirischen Standpunkte, die ausführlich auf die Klassifikationen früherer Denker eingeht (PeS I, 199-216; PeS II, 303-320), fehlt noch jeglicher Bezug auf Descartes. Brentano bot schließlich auch im Jahre 1889 – also zu

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natürlich Brentanos These der Evidenz der inneren Wahrnehmung – eine These, die er allerdings schon bei Aristoteles vorgezeichnet sieht. Brentano scheint sich eher an der empiristischen (Locke) und positivistischen (J. St. Mill, A. Bain, W. Hamilton) englischen Tradition zu orientieren. Denn der englische Positivismus tritt in seiner funktionalistischen Einstellung, die das Individuum in Interaktion mit seiner Umwelt auffaßt und dadurch eine gewisse Nähe zum biologischen Psychologieverständnis des Aristoteles aufweist, für einen Methodenpluralismus ein, der neben der Introspektion auch der Verhaltensforschung einen Platz einräumt. Die psychologischen Gesetze sind im Vergleich zu den naturwissenschaftlichen nicht nur „mit Mängeln und Unvollkommenheiten“ behaftet, sondern weisen einen „unbestimmten, inexakten Charakter“ auf (PeS I, 80, 82), und zwar aufgrund der ungenügenden, wenn nicht unmöglichen Anwendbarkeit der Mathematik auf psychologischem Forschungsgebiet. Die Behauptung, Mathematik sei auf die Psychologie nicht anwendbar, geht auf Kant zurück, der sie auf dem eindimensionalen (zeitlichen, aber nicht räumlichen) Charakter der psychischen Phänomene gründet und daraus die Unmöglichkeit der empirischen Psychologie als exakter Wissenschaft schließt (ebd., 82f.). Herbarts mathematische Behandlung des Psychischen und auch Wundts Einwand gegen Kant – jedes psychische Phänomen weise nicht nur eine zeitliche Lokalisation, sondern zugleich auch eine Intensität auf – führen Fechner schließlich zur Formulierung seines „psychophysischen Grundgesetzes“, nach dem sich die Stärke der Empfindung proportional zum Logarithmus des Reizwertes verhält (ebd., 83f.). Brentano erkennt zwar die Wichtigkeit von Fechners Untersuchungen an, neigt aber dazu, die Tragweite des psychophysischen Prinzips zu relativieren. Denn der gesamte Versuch Fechners – so Brentano – fußt auf der nicht bewiesenen Annahme, daß die „eben merklichen Unterschiede“ Größen konstanten Wertes sind und somit die gesuchte Maßeinheit auf psychologischem Gebiet darstellen. Von den „eben merklichen Unterschieden“ kann man höchstens sagen, daß sie „gleich merklich“, d. h. mit gleicher Leichtigkeit bemerkbar sind, nicht aber daß sie „gleich“ sind (ebd., 84; vgl. ebd., 22ff.). Das psychophysische Prinzip findet außerdem keine Anwendung auf jene psychischen Phänomene, die durch physische Vorgänge, die sich im Inneren des Organismus abspielen, oder durch andere psychische Phänomene hervorgerufen werden (ebd., 86). Nichtsdestoweniger glaubt Brentano an die Anwendbarkeit mathematischer, vor allem statistischer Methoden innerhalb der Psychologie (ebd., 87f.).35

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der Zeit, in der er seinen Vortrag „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“ hielt – ein Seminar über Descartes’ Meditationen an. Über das Verhältnis von Brentano zu Descartes siehe Kastil, 1909; Katkov, 1930; 1937. Zu Brentanos Kritik an Fechners Psychophysik vgl. Antonelli, 1999.

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Die psychologischen Gesetze sind also nicht nur unvollständig, sondern auch nicht exakt. Sie sind – wie Brentano bemerkt – bloß „empirische Gesetze“, die in beiden Hinsichten einer Ergänzung bedürfen. Von mehreren Kritikern ist die Schwierigkeit, ja sogar die Widersprüchlichkeit dieser Behauptung Brentanos hervorgehoben worden, der auf der einen Seite eine „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ aufbauen will, andererseits aber gerade im empirischen Charakter der psychischen Gesetze ein Zeichen ihrer Inexaktheit sieht.36 Brentanos These wird erst dann verständlich, wenn man bedenkt, daß sein Wissenschaftsideal dem Comte­schen Modell einer deduktiven Wissenschaft entspricht, gemäß dem die empirische Dimension allmählich durch die rationale aufgehoben wird. Aufgabe der Wissenschaft ist es, die festgestellten Tatsachen unter genaue und unveränderliche Gesetze zu fassen, die auf eine kleinstmögliche Zahl reduziert werden müssen, um der Rationalität ein immer stärkeres Gewicht gegenüber der Empirie zu geben. Comtes Einfluß wird aus den Argumenten deutlich, die Brentano für den empirischen Charakter der psychischen Gesetze anführt: die mangelhafte Entwicklung der Physiologie – also jener Disziplin, die in Brentanos Klassifikation der Wissenschaften unmittelbar vor der Psychologie einzuordnen ist – und die nicht hinreichende Anwendbarkeit der Mathematik in der Psychologie. Denn die Mathematik, organon des ganzen Wissens, kann immer weniger zum Einsatz kommen, je weiter man von den einfachen zu den komplexen Wissenschaften fortschreitet. Brentano faßt Mathematik und Psychologie als „entgegengesetzte Pole“ des gesamten Wissenschaftssystems auf.37 Die Mathematik liefert die Paradigmen des Abstrakten, die Psychologie die Muster des Konkreten. Die Mathematik betrachtet die einfachsten, unabhängigsten, die Psychologie die abhängigsten und verwickeltsten Phänomene. Die Mathematik zeigt darum in fasslicher Klarheit die Grundcharaktere jedes wahrhaft wissenschaftlichen Forschens. Nirgends kann man besser die erste deutliche Anschauung von Gesetz, Ableitung, Hypothese und vielen andern wichtigen logischen Begriffen gewinnen als bei ihr. [...] Die Psychologie auf der andern Seite zeigt allein den ganzen Reichthum, zu welchem die wissenschaftliche Methode sich entfaltet, indem sie den mehr und mehr verwickelten Erscheinungen der Reihe nach sich anzupassen sucht. Beide zusammen werfen ein helles Licht auf alle Weisen der 36 Vgl. die in Anm. 9 zitierten Arbeiten von L. Gilson. 37 Brentanos „Enzyklopädie der Wissenschaften“ umfaßt der Reihe nach Mathematik, Physik, Chemie, Physiologie und Psychologie (PeS I, 38f.). Sie unterscheidet sich insofern von derjenigen Comtes, als dieser zwischen Mathematik und Physik die Astronomie reiht (die er allerdings als eine Art angewandte Mathematik auffaßt), anstelle der Physiologie die Biologie setzt und vor allem die Psychologie ausschließt (da diese für ihn keine wissenschaftliche Berechtigung hat), um der Soziologie Platz zu machen.

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Forschung, die in den vermittelnden Wissensgebieten zur Anwendung kommen. Der Unterschied, den jede folgende gegen die vorangegangene zeigt, und der Grund ihrer abweichenden Eigenthümlichkeit, das Wachsen der Schwierigkeit im Verhältniss zur grösseren Verwicklung der Phänomene, aber auch das gleichzeitige Wachsen der Hülfsmittel, welches in gewissem Maasse wenigstens der Zunahme der Schwierigkeit das Gleichgewicht hält, – das alles tritt natürlich am Deutlichsten dann hervor, wenn man das erste und letzte Glied der fortlaufenden Kette vergleichend einander gegenüberstellt (PeS I, 43).

Die Naturwissenschaft kann nur zu Verallgemeinerungen gelangen, die die Aufstellung bloß empirischer, wahrscheinlicher Gesetze zulassen. Die Mathematik hingegen, da sie nicht auf empirischen Verallgemeinerungen gründet, sondern auf einem Formalisierungsprozeß, der notwendige Begriffsverbindungen erfaßt, zeichnet sich durch die Exaktheit ihrer Gesetze aus. Die sie kennzeichnende Evidenz ist nicht assertorisch, sondern apodiktisch. Gelänge es, Mathematik und Psychologie zu vereinen, bzw. die Exaktheit und Strenge der ersteren auf letztere zu übertragen, so würde man die Wissenschaft schlechthin, die ersehnte πρώτη φιλοσοφία erhalten. Solch eine Entwicklung schließt Brentano nicht aus, da er die jetzige Unvollkommenheit und Inexaktheit der Psychologie als prinzipiell überwindbar ansieht. Da unsere physiologischen Kenntnisse, insbesondere die des Nervensy­ stems, noch unzureichend sind, weist die Psychologie vorerst noch bescheidene Ergebnisse auf. Doch der zu erwartende Fortschritt wird diesen Umstand aufheben. Brentanos Zuversicht gründet in Comtes Theorem einer differenzierten Entwicklung der verschiedenen Wissenschaften. Demgemäß ist der Übergang der Psychologie – und mit ihr der ganzen Philosophie – vom Status der Ungenauigkeit in jenen der Exaktheit vorbestimmt.38 Brentano wird sich nach und nach der Problematik dieser These bewußt, die ihn schließlich zur Aufgabe seines ursprünglichen Programms einer „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ führt. Im Laufe der 80er Jahre entwickelt er einen neuen phänomenologischen Zugang zum Studium des psy38

„Es ist nun klar, daß, wenn es Phänomene gibt, die sich ähnlich zu den physiologischen, wie diese zu den chemischen und die chemischen zu den physischen verhalten: die Wissenschaft, welche sich mit ihnen beschäftigt, in einer noch unreifen Phase der Entwicklung sich finden muß. Und solche Phänomene sind die psychischen Zustände. Sie begegnen uns nur in Verbindung mit Organismen und in Abhängigkeit von gewissen physiologischen Prozessen. Somit ist es offenbar, daß die Psychologie [...] nicht über die ersten Anfänge ihrer Entwicklung hinausgeschritten sein kann, und daß in einer früheren Zeit, abgesehen von gewissen glücklichen Antizipationen, von einer eigentlich wissenschaftlichen Psychologie gar nicht geredet werden konnte. Mit der Psychologie steht aber die Gesellschaftswissenschaft sowie auch alle übrigen Zweige der Philosophie in Zusammenhang.“ ZPh, 93f.

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chischen Lebens, der zwar im Empirischen seinen Ausgangspunkt findet, doch vom Gegebenen „mit einem Schlag, ohne jede Induktion“ zur Formulierung apriorischer Gesetze gelangt. Die Psychologie behält hierbei ihre Funktion als Fundament der ganzen Philosophie bei, doch ihre Aufgaben und ihr wissenschaftstheoretischer Status haben sich wesentlich verändert. Als neue Grunddisziplin betrachtet Brentano nun die „deskriptive Psychologie“, d. h. die „Psychognosie“ oder „beschreibende Phänomenologie“.39 Ihr Ziel ist es – in scharfer Trennung zur genetischen Psychologie, die die „Bedingungen“ angibt, „mit welchen die einzelnen Erscheinungen ursächlich verknüpft sind“ –, die „letzten Elemente“ des Seelenlebens und deren notwendige „Verbindungsweisen“ aufzuzeigen (DP, 3, 10, 79). Sie ist deshalb eine rein deskriptive Disziplin, da sie nicht auf die Ursachen gerichtet ist, aus denen die psychischen Phänomene hervorgehen, sondern nur auf deren Beschreibung und Klassifikation. Gerade deshalb ist die deskriptive Psychologie zugleich eine „reine“ und „exakte“ Wissenschaft (ebd., 3ff.). Sie behandelt ihre Gegenstände ohne μετάβασις εἰς ἄλλο γένος. Im Unterschied zur genetischen Psychologie, die die Ergebnisse anderer Wissenschaften, insbesondere der Physiologie, voraussetzt, verläßt sie niemals ihren gegenständlichen und methodologischen Bereich. Andererseits gelangt die deskriptive Psychologie zur Formulierung apriorischer Wahrheiten, obwohl sie auf den Gegebenheiten der inneren Erfahrung basiert. Solch eine „reine Psychologie“ kann nun bedenkenlos als Cartesisch bezeichnet werden – denn Brentano bezieht sich bei seinem neuen theoretischen Projekt gerade auf Descartes und Leibniz. Das neue Psychologieverständnis Brentanos stellt somit eine weitere Etappe jener Entwicklung „von Aristoteles zu mir selbst“ dar, die Brentanos ganzes Denken auszeichnet.

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Es ist also kein Zufall, daß Brentano parallel zur Entwicklung seines psychologischen Denkens sein Metaphysikgebäude neu gestaltet. Schon gegen Ende der 70er Jahre fügt er die „Phänomenologie“ zwischen die „Transzendentalphilosophie“ und die „Ontologie“ ein (vgl. den Brief Brentanos an Stumpf vom 5.5.1877, in: Brentano, 1989, 71). Die Phänomenologie hat sich mit den „Grundbestandteilen unserer Vorstellungsinhalte“ zu befassen und erweitert sich zu einer „beschreibenden Phänomenologie“ der Bewußtseinstatsachen. Es sind nun Fragen nach der Nicht-Evidenz der äußeren Wahrnehmung, dem Raum und der Zeit sowie nach der berechtigten Annahme einer Substanz, die Brentano dazu veranlassen, der „Phänomenonologie“ bzw. „beschreibenden Psychologie“ eine zentrale Stellung in seiner Metaphysik zu geben. Siehe Ms. M 96, Bl. 31943, 31730. Vgl. dazu Baumgartner, 1989.

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9.  Die Intentionalität 9.1.  Die „intentionale Inexistenz“ als Kriterium zur Abgrenzung des Psychischen Im ersten Kapitel des zweiten Buches der Psychologie vom empirischen Stand­ punkte bemüht sich Brentano um eine adäquate Grundlegung der Unterscheidung zwischen physischen und psychischen Phänomenen und somit um eine genaue Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Psychologie (PeS I, 95-117). Diese Frage, die damals im Zentrum der philosophischen und psychologischen Debatte stand, versucht Brentano neu anzugehen, indem er nicht wie bisher das Psychische vom Physischen abgrenzt und somit als bloße Restklasse bestimmt; vielmehr bemüht er sich um eine positive Bestimmung des Psychischen, die dessen Wesen ausmacht. Um dies zu erreichen, beruft sich Brentano anfangs auf das Vorverständnis des Lesers, dem er „eine Erklärung durch das Besondere, durch das Beispiel“ (ebd., 96) anbietet. Er führt eine Reihe von Paradebeispielen an, die den Unterschied zwischen beiden Klassen von Phänomenen anschaulich machen sollen. Ein Beispiel für die psychischen Phänomene bietet jede Vorstellung durch Empfindung oder Phantasie; und ich verstehe hier unter Vorstellung nicht das, was vorgestellt wird, sondern den Act des Vorstellens. Also das Hören eines Tones, das Sehen eines farbigen Gegenstandes, das Empfinden von Warm oder Kalt, so wie die ähnlichen Phantasiezustände sind Beispiele, wie ich sie meine; ebenso aber auch das Denken eines allgemeinen Begriffes, wenn anders ein solches wirklich vorkommt. Ferner jedes Urtheil, jede Erinnerung, jede Erwartung, jede Folgerung, jede Ueberzeugung oder Meinung, jeder Zweifel – ist ein psychisches Phänomen. Und, wiederum ist ein solches jede Gemüthsbewegung, Freude, Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Muth, Verzagen, Zorn, Liebe, Hass, Begierde, Willen, Absicht, Staunen, Bewunderung, Verachtung u. s. w. (ebd., 96f.).

Diese Charakterisierung wird noch deutlicher, wenn man sie im Gegensatz zu derjenigen der physischen Phänomene betrachtet. Beispiele von physischen Phänomen dagegen sind eine Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe; ein Accord, den ich höre; Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie erscheinen (ebd., 97).

An dieser Stelle sollen zwei Aspekte hervorgehoben werden. Zum einen ist Brentanos Auffassung des Aktes als einzige psychische Wirklichkeit neu. Brentanos Bemerkung richtet sich vor allem gegen die herkömmliche Verwendung des Aus-

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drucks „Vorstellung“ und dessen Mehrdeutigkeit. Denn unter „Vorstellung“ versteht man allgemein sowohl den Vorstellungsakt als auch den Inhalt desselben, also zugleich ein psychisches und physisches Phänomen (ebd., 102f.). Brentano richtet sich damit auch gegen die empiristische Tradition, die die polare Struktur jeglicher Erfahrung verkennt und somit subjektive und objektive Momente in der Vorstellung, in der idea vermengt (ebd., 95, Fßn. 53, 100-103, 140-145). Der zweite Punkt, auf den später noch näher eingegangen wird, betrifft den Begriff des „physischen Phänomens“. Unter diesem Begriff versteht Brentano nicht die „Gegenstände“ der alltäglichen Erfahrung, sondern das, was uns die äußere Wahrnehmung ohne jegliche induktive oder begriffliche Vermittlung zeigt.40 Hier tritt Brentanos Aristotelischer Hintergrund wieder ans Licht: Was wir eigentlich wahrnehmen, ist das Weiße, und nicht der Sohn des Diares, dem das Weiße zukommt; dieser wird zwar wahrgenommen, aber lediglich per acci­ dens (vgl. De an., II 6, 418 a 20-24; vgl. auch PsA, 84). Wie aus den Beispielen deutlich hervorgeht, sind für Brentano die physischen Phänomene räumlich bestimmte sinnliche Qualitäten, also – in Aristotelischer Diktion – eigentliche Sinnesobjekte, die mit dem gemeinsamen Sinnesobjekt Form bzw. räumliche Gestalt unauflöslich verbunden sind.41 Der Rekurs auf das Beispiel stellt aber lediglich die erste Stufe auf dem Weg zur genauen Abgrenzung beider Klassen von Phänomenen dar. Zu diesem Zweck führt Brentano eine Reihe von Klassifikationskriterien ein. Ein erstes Kriterium stellt die vorstellende Natur psychischer Phänomene dar. Psychische Phänomene sind „die Vorstellungen, sowie auch alle jene Erscheinungen, für welche Vorstellungen die Grundlage bilden“ (PeS I, 97). Der Vor40 Hier treten jedoch Schwierigkeiten auf. Eine betrifft das Beispiel „das Denken eines allgemeinen Begriffes“: Man kann zwar problemlos „das Denken“ als ein psychisches Phänomen bezeichnen, aber nicht zugleich „einen allgemeinen Begriff“ den physischen Phänomenen zuordnen. Es stellt sich somit die Frage, ob sich die beiden Klassen der physischen und psychischen Phänomene gegenseitig ausschließen. Ein zweites Problem stellt das Beispiel „eine Landschaft, die ich sehe“ dar. Einige Forscher (vgl. Kraus, K-PeS I, Anmerkungen des Herausgebers, 266268; ­McAlister, 1974, 155, Fßn. 9) haben hierzu bemerkt, daß eine Landschaft kein physisches Phänomen im Sinne Brentanos sein kann. Denn eine Landschaft, d. h. ein in selbständige Einheiten bzw. Gegenstände gegliedertes Feld, kann kein Objekt unmittelbarer sinnlicher Anschauung sein, sondern nur das Ergebnis einer begrifflichen bzw. urteilsmäßigen Deutung. Man kann aber Brentanos Beispiel auch folgendermaßen interpretieren: Ein physisches Phänomen ist alles, was unmittelbarer Wahrnehmungsgegenstand ist – vom kleinsten Farbfleck bis hin zum „Ganzfeld“. 41 Vgl. hierzu Kraus, K-PeS I, Anmerkungen des Herausgebers, 266-268; McAlister, 1974, 333ff.; Aquila, 1977, 13ff.; Melle, 1984, 429. Eine andere Deutung vertritt Richardson, 1983, 255-263.

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stellungsakt bildet die ursprüngliche und grundlegendste Bewußtseinsform. Im vorstellenden Bewußtsein ist der Gegenstand lediglich präsent, ohne daß dabei der Denkende diesem gegenüber überhaupt eine urteilsmäßige oder emotionale Einstellung einnimmt. Wird der Gegenstand durch einen komplexeren Akt intendiert, so enthält dieser eine vorstellende Komponente als Fundament. Dieses Fundierungsverhältnis weist einen apodiktischen Charakter auf. „Nichts kann beurtheilt, nichts kann aber auch begehrt, nichts kann gehofft oder gefürchtet werden, wenn es nicht vorgestellt wird.“ (Ebd.) Diese Charakterisierung reicht aber noch nicht aus, um die psychischen Phänomene abzugrenzen, da ihre disjunktive Natur noch keine einheitliche Bestimmung des Psychischen zuläßt (ebd., 103). Ein zweites Kriterium lehnt sich an das – auf Descartes zurückgehende – Prinzip an, nach dem das Unterscheidungsmerkmal des Psychischen im Mangel an räumlicher Ausdehnung besteht. Aber auch dieses Kriterium erweist sich als unzureichend. Die Schwierigkeit betrifft hierbei nicht so sehr die Uneinigkeit der Psychologen, sondern den Umstand, daß dieses Kennzeichen rein negativ ist und somit kein adäquates Individuationskriterium darstellt (ebd., 103-105). Ein drittes, auf Locke zurückgehendes Kriterium stützt sich auf die unterschiedlichen Erfahrungsquellen, durch die beide Klassen von Phänomenen in Erscheinung treten. Während die physischen Phänomene durch die äußere Wahrnehmung zugänglich sind, zeigen sich die psychischen Phänomene in der inneren Wahrnehmung.42 Diese zeichnet sich gegenüber der äußeren durch ihre Evidenz aus, die in der Identität von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem gründet.43 Als Korollar zu diesem Prinzip behauptet Brentano, die psychischen Phänomene „seien diejenigen Phänomene, welchen allein ausser der intentionalen auch eine wirkliche Existenz zukomme“ (ebd., 109).44 Während es bei der 42 43

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„Eine weitere gemeinsame Eigenthümlichkeit aller psychischen Phänomene ist die, dass sie nur in innerem Bewusstsein wahrgenommen werden, während bei den physischen nur äussere Wahrnehmung möglich ist.“ Ebd., 108. „Allein die innere Wahrnehmung hat, abgesehen von der Besonderheit ihres Objectes, auch noch Anderes, was sie auszeichnet; namentlich jene unmittelbare, untrügliche Evidenz, die unter allen Erkenntnissen der Erfahrungsgegenstände ihr allein zukommt. Wenn wir also sagen, die psychischen Phänomene seien diejenigen, welche durch innere Wahrnehmung erfasst werden, so ist damit gesagt, dass ihre Wahrnehmung unmittelbar evident sei. Ja noch mehr! Die innere Wahrnehmung ist nicht bloss die einzige unmittelbar evidente; sie ist eigentlich die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes.“ Ebd., 109. „Wir können eben so gut sagen, sie seien diejenigen Phänomene, welchen allein ausser der intentionalen auch eine wirkliche Existenz zukomme. Erkenntniss, Freude, Begierde bestehen wirklich; Farbe, Ton, Wärme nur phänomenal und intentional.“ Ebd.

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äußeren Wahrnehmung prinzipiell immer möglich ist, daß der Wahrnehmungsakt ohne das entsprechende Objekt besteht, kommen in der inneren Wahrnehmung Sein und Schein vollkommen zur Deckung. Ein weiteres Kriterium besagt, daß die psychischen Phänomene immer als Einheit erscheinen. Wie komplex ein konkreter Bewußtseinszustand auch sein mag, die Komplexität ist immer die eines einheitlichen Ganzen. Das Bewußtsein ist eine einheitliche Realität, deren Teile keine selbständigen Entitäten sind, sondern immer bloß begrifflich ablösbare Momente („Divisiva“) eines Ganzen.45 Brentano hebt schon hier hervor, daß die These der Einheit des Bewußtseins mit derjenigen seiner Einfachheit nicht zu verwechseln ist; er bemerkt außerdem, daß von der These der Einheit des Bewußtseins – „eine der folgenreichsten und immer noch angefochtenen Thatsachen der Psychologie“ (ebd., 114) – nicht auf eine Seelensubstanz als Träger des psychischen Lebens geschlossen werden kann. Das „Merkmal“ aber, das „unter allen am Meisten“ (ebd., 115) die psychischen Phänomene auszeichnet, ist die „intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes“ – ein Merkmal, das Brentano durch die Aus­ drücke „Beziehung auf einen Inhalt“, „Richtung auf ein Objekt“ und „immanente Gegenständlichkeit“ zu explizieren sucht. Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisirt, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Aus­ drücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Object (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Object in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urtheile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt u. s. w. (ebd., 106).

Wie hieraus hervorgeht, verwendet Brentano die zitierten Ausdrücke als synonyme Bezeichnungen für ein einheitliches Wesensmerkmal der psychischen Phänomene. Eine gewisse Zweideutigkeit ist allerdings nicht zu verkennen – diese hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß Brentano den intentionalen Charakter des Bewußtseins „mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken“ hervorhebt. 45

„Wenn wir Farbe, Schall, Wärme, Geruch gleichzeitig wahrnehmen, so hindert uns nichts, jedes einem besonderen Dinge zuzuschreiben. Dagegen die Mannigfaltigkeit der entsprechenden Empfindungsacte, Sehen, Hören, Empfinden der Wärme und Riechen, und mit ihnen das gleichzeitige Wollen und Fühlen und Nachdenken, so wie die innere Wahrnehmung, die uns von ihnen allen Kenntniss gibt, sind wir genöthigt, für Theilphänomene eines einheitlichen Phänomens, in dem sie enthalten sind, und für ein einziges einheitliches Ding zu nehmen.“ Ebd., 114.

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Die Intentionalität des psychischen Phänomens betrifft nämlich nicht nur die „intentionale Inexistenz eines Gegenstandes“, sondern auch die „Beziehung auf einen Inhalt“, „Richtung auf ein Objekt“, das – zumindest für den frühen Brentano – nicht notwendigerweise als „eine Realität zu verstehen ist“. Die eine Ausdrucksweise scheint den Gegenstand oder Inhalt (bzw. Objekt oder Gegenständlichkeit) der psychischen Phänomene hervorzuheben und die Frage nach dem sogenannten „immanenten Objekt“ aufzuwerfen. Handelt es sich dabei um einen Gegenstand bzw. um eine besondere Klasse von Gegenständen, die bewußtseinsabhängig existieren? Oder wird hierbei eher die Seinsweise angedeutet, die der „transzendente“ Gegenstand annimmt, wenn er zu einem „immanenten“ wird, d. h. wenn er Gegenstand eines Bewußtseins wird? Die Ausdrücke der zweiten Klasse (Beziehung auf, Richtung auf) scheinen hingegen die typisch relationale Natur der psychischen Phänomene zu betreffen und hierbei die Frage aufzuwerfen, ob die intentionale Beziehung spezifische Merkmale aufweist, die sie von den üblichen Beziehungen trennt. Gerade in dieser scheinbaren Doppeldeutigkeit wurzeln die unterschiedlichen Interpretationen des Intentionalitätsgedankens von Brentano. 9.2.  Die ontologische Deutung der Intentionalität Nach einer weit verbreiteten Interpretation, deren bedeutendster zeitgenössischer Vertreter Roderick M. Chisholm ist,46 die aber schon auf Brentanos Enkelschüler und Herausgeber Oskar Kraus zurückgeht,47 ja bereits bei Anton Marty ansetzt (Marty, 1894), enthält Brentanos ursprünglicher Intentionalitätsgedanke zwei komplementäre Thesen. Zum einen ist dies die ontologische These, nach der es „intentionale Gegenstände“ gibt, die einen besonderen ontologischen Status besitzen; zum anderen ist dies die psychologische These, nach der der Gegenstandsbezug das Wesensmerkmal des psychischen Phänomens im Unterschied zum physischen darstellt. Beide Thesen – so Chisholm – sind zumindest beim frühen Brentano eng miteinander verbunden. Da der relationale Charakter nicht ausschließlich den psychischen Phänomenen zugeschrieben werden kann, ist das sie auszeichnende Merkmal entweder in der Besonderheit ihrer Bezüglichkeit zu suchen, oder in der Besonderheit der Gegenstände, die in der psychischen Beziehung involviert sind. Nach Chisholm gilt ersteres für den späten, sogenannten reistischen Brentano, denn er habe in seinem reifen Denken die Meinung vertreten, daß die psychischen Phänomene bloß „etwas ‚Relativliches‘“ (PeS II, 392) sind und als solche nicht die Existenz beider Relationsglieder verlangen. Für den frühen Brentano sei hingegen die 46 Siehe Chisholm, 1957, 1960, 1967, 1972a, 1972b, 1982. 47 Vgl. z. B. Kraus, K-PeS I, Einleitung des Herausgebers, xxiv.

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intentionale Beziehung eine echte Relation. Diese zeichne sich von den übrigen Beziehungen durch den ontologischen Status ihrer Gegenstände aus. Nach der ontologischen Deutung48 besteht also die Intentionalität des Bewußtseins nicht in einer besonderen Beziehung, d. h. in der „intentionalen Beziehung“ zu gewöhnlichen Objekten, sondern in einer gewöhnlichen Beziehung zu einer besonderen Klasse von Gegenständen, den „intentionalen“ bzw. „immanenten Gegenständen“. Denn für Chisholm will Brentano mit seiner Lehre der „intentionalen Inexistenz“ darlegen, inwieweit wir uns psychisch auf nicht existierende Gegenstände beziehen können. Denkt jemand an ein Einhorn, so gilt gemäß der ontologischen These: 1) „the object of the man’s thought is a unicorn“; 2) „this unicorn is not an actual unicorn (for there are no actual unicorns)“; 3) „this unicorn has a certain mode of being other than actuality“ (Chisholm, 1967, 7f.). Hierbei neigt Chisholm zu einer bestimmten Deutung der ontologischen These, die in der zeitgenössischen Literatur oft mit einer komplementären Auslegung vermengt wird. Denn eine der beiden möglichen Deutungen der ontologischen These besagt, daß das sogenannte immanente bzw. intentionale Objekt eine bewußtseinsimmanente Entität, ein nichtreales Gedankending ist; die zweite Deutung hingegen schreibt dem immanenten Objekt, im Unterschied zum wirklichen, bewußtseinstranszendenten Gegenstand, eine besondere, abgeschwächte Existenzweise, eine mentale oder intentionale „Inexistenz“ zu.49 Zugunsten der ersten Deutung der ontologischen These beruft sich Chisholm auf Brentanos Vorlesungen zur Deskriptiven Psychologie, die er in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts in Wien hielt. Denn Brentano behauptet hierin ausdrücklich, daß das intentionale Korrelat eines jeden Bewußtseinsaktes überhaupt nichts Reales ist.50 Die intentionale Beziehung – so Brentano – umfaßt zwei Korrelate, von denen „das eine allein real, das andere dagegen nichts Reales ist“ (DP, 21). Als Beispiel solcher Korrelatenpaare führt er Sehen und Gesehenes, Vorstellen und Vorgestelltes, Wollen und Gewolltes, Lieben und Geliebtes, Leugnen und Geleugnetes an und fügt schließlich hinzu: 48

Diese Deutung ist zweifelsohne in der Brentano-Forschung vorherrschend. Neben Chisholm sei hier u. a. auf Srzednicki, 1965, Grossmann, 1965, Smith, 1994 und Chrudzimski, 2001 verwiesen. 49 Die Vertreter solch einer Deutung stützen sich hierbei vor allem auf den Ausdruck „intentionale Inexistenz“ und verweisen auf die thomistische Unterscheidung zwischen esse naturale bzw. reale und esse intentionale, d. h. auf die unterschiedliche Existenzweise (esse), die nach Thomas von Aquin die sinnliche Form (als essentia) in rerum natura oder im Geist aufweist. Vgl. dazu z. B. Spiegelberg, 1969, 203ff.; McAlister, 1982, 21ff.; Runggaldier, 1989, 100ff. 50 In diesem Sinne interpretiert Chisholm die schon erwähnte Bemerkung Brentanos „worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist“ (PeS I, 106) und setzt somit intentionales Objekt und intentionales Korrelat gleich.



Mauro antonelli So wenig ein gewesener Mensch, so wenig ist ein gedachter etwas Reales. Der gedachte Mensch hat darum auch keine eigentliche Ursache und kann nicht eigentlich eine Wirkung üben, sondern indem der Bewußtseinsakt, das Denken des Menschen gewirkt wird, ist der gedachte Mensch, sein nichtreales Korrelat, mit da (ebd.).

Diese und ähnliche Textstellen aus der Deskriptiven Psychologie scheinen auf den ersten Blick die ontologische These zu stützen, nach der dem Bewußtsein nicht das transzendente Objekt, sondern bloß dessen mentales Abbild präsent ist. Doch solch eine ontologische These erweist sich als äußerst schwach. Nehmen wir folgendes Beispiel: Jemand denkt an ein wirkliches A. Neben dem wirklichen A und dem wirklichen A-Denkenden – die beide als Seiende im eigentlichen Sinne gelten – besteht nach Chisholms Deutung ein immanentes oder gedachtes A, das mit dem Denken des wirklichen A mitentsteht und mitvergeht – ein Gegenstück zum wirklichen A, das dieses wirkliche A in der Immanenz des Erkenntnisprozesses repräsentiert. Nun erhebt sich aber die Frage, was Gegenstand des Denkens ist, wenn A nicht existiert bzw. aufhört zu bestehen. Wenn A wirklich existiert, so ist eindeutig das wirkliche, transzendente A Gegenstand des Denkens und nicht das gedachte A. Falls aber A nicht existiert bzw. aufhört zu existieren, ist nicht klar, warum nun das gedachte A zum Gegenstand des Denkens werden sollte – denn Gegenstand des Denkens kann nur das transzendente bzw. bewußtseinsunabhängige A sein. Unabhängig davon, ob A existiert oder nicht, das gedachte A kann nicht die Funktion des intentionalen Objekts übernehmen, weil es gar kein Gegenstand ist. Chisholm ist weit davon entfernt, die Haltbarkeit solch einer ontologischen These zu behaupten. Denn gerade die Schwäche solch einer Theorie hat nach Chisholm den späten Brentano dazu geführt, seine ursprüngliche Theorie der Intentionalität zu modifizieren: Um die Klasse der psychischen Phänomene abzugrenzen, stütze sich Brentano nun ausschließlich auf die „psychologische These“ der Eigenart der intentionalen gegenüber der gewöhnlichen binären Beziehung. Während letztere nur zwischen existierenden Gliedern stattfinden, verlangen erstere lediglich die Existenz des Fundaments (des Denkenden) und nicht die des Terminus (des Gedachten). Das Hauptproblem solch einer ontologischen Deutung von Brentanos Intentionalitätsgedanken besteht darin, daß sie sogar von Brentano selbst ausdrücklich verworfen wird. In einem Brief an Anton Marty (17.3.1905),51 der oft als „Manifest“ von Brentanos reistischer Wende bezeichnet wird, nimmt dieser Stellung zur Kritik an der Theorie des immanenten Objektes, die Alois Höfler am 51

Brief an Anton Marty vom 17.3.1905, in: WE, 86-89. Der Brief ist auch in Brentano, 1966 (Abk.: AN), 119-121 abgedruckt.

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V. Internationalen Kongreß für Psychologie vorgetragen hatte. Brentano bekundet darin sein Erstaunen darüber, daß man ihm die These des „vorgestellten Gegenstands“ als (immanenten bzw. intentionalen) Gegenstand der Vorstellung zuschreibt, und verteidigt gleichzeitig seine ursprüngliche Theorie gegen falsche und absurde Deutungen: Es ist aber nicht meine Meinung gewesen, daß das immanente Objekt = „vorgestelltes Objekt“ sei. Die Vorstellung hat nicht „vorgestelltes Ding“, sondern „das Ding“, also z. B. die Vorstellung eines Pferdes nicht „vorgestelltes Pferd“, sondern „Pferd“ zum (immanenten, d. h. allein eigentlich Objekt zu nennenden) Objekt (WE, 87f.).

Brentano fügt hinzu: Das „gedachte Pferd“ als Objekt genommen, wäre Gegenstand der inneren Wahrnehmung, die das Denkende wahrnimmt, wenn dies mit dem Gedachten ein Paar Korrelative bildete, da Korrelative ohne einander nicht wahrnehmbar sind. Das, was als primäres Objekt empfunden oder vom Verstand universell als primäres Objekt gedacht wird, ist aber doch nicht Gegenstand der inneren Wahrnehmung. Entweder müßte ich der primären Vorstellungsbeziehung gar kein Objekt und gar keinen Inhalt zugeschrieben haben, oder ich konnte ihn nicht = „gedachtes Objekt“ gleichgesetzt haben. Ich protestiere also gegen die mir angedichtete Albernheit (ebd., 88f.).

Wie kann man nun diese Behauptung mit der oben zitierten Textstelle aus der Deskriptiven Psychologie in Einklang bringen? Kann man Brentanos rückblickende Rekonstruktion seines Standpunktes wirklich als Ergebnis einer „Gedächtnislücke“ interpretieren, wie dies u. a. Oskar Kraus und Franziska Mayer-Hillebrand behaupten?52 9.3.  Die aristotelische Herkunft von Brentanos Intentionalitätsgedanken Als höchst problematisch erweist sich bei der ontologischen Deutung die Gleichsetzung des intentionalen Objektes bzw. Gegenstandes eines psychischen Aktes mit dessen intentionalem Korrelat. Denn – wie auch aus dem obigen Zitat deutlich hervorgeht – ein solcher Objektbegriff entspricht in keiner Weise demjenigen Brentanos, der sich den klassischen, im Mittelalter gebräuchlichen und letztlich auf Aristoteles zurückgehenden Begriff des Gegenstandes zu eigen gemacht hat. 52 Vgl. WE, Anmerkungen des Herausgebers, 177; AN, Anmerkungen der Herausgeberin, 407.

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Der Begriff „Objekt“ bzw. „Gegenstand“ steht in dieser historischen Tradition unauflöslich mit unserer psychischen Betätigung im Zusammenhang: Objekt (objectum, ἀντικείμενον) ist stets Objekt eines psychischen Vermögens, einer epistemischen bzw. intentionalen Einstellung. Es kann also nicht mit Ding bzw. Seiendem gleichgesetzt werden, sondern das Objekt bezieht sich immer auf ein Seiendes unter dem Gesichtspunkt, durch den es uns psychisch erscheint: Bei einer psychischen Betätigung haben wir stets etwas (ein Ding, ein Seiendes) zum Objekt: als Sichtbares, Hörbares, Erkennbares etc. Da „Objekt“ immer Objekt von etwas (eines psychischen Vermögens bzw. einer psychischen Betätigung) ist, gehört es für Aristoteles – und für die Schola­ stiker – zur Kategorie des Relativen (Cat., 10, 11 b 24). Doch nimmt es innerhalb dieser Kategorie eine besondere Stellung ein. Denn eines der Wesensmerkmale der Relativa ist für Aristoteles ihr Bezug auf die Korrelativa: Besteht das Wesen des Relativum darin, daß es sich immer auf etwas anderes bezieht, so erfordert es notwendigerweise ein Korrelativum. (Ohne Größeres kein Kleineres und umgekehrt.) (Cat., 6, b 28; vgl. MBS, 211ff.) Die Relativa fordern sich gegenseitig und sind – dem Sein und der Erkenntnis nach – voneinander untrennbar.53 Gerade das Fehlen dieser Eigenheit unterscheidet die epistemischen bzw. intentionalen von den gewöhnlichen Relativa: [...] hingegen das Meßbare, das Wißbare, das Denkbare heißt relativ darum, weil etwas anderes auf es selbst bezogen wird. Denn denkbar heißt etwas, weil es ein Denken desselben gibt, aber es ist nicht das Denken Denken dessen, worauf das Denken geht, sonst wäre dasselbe zweimal gesagt. Und ebenso ist das Sehen Sehen von etwas, aber nicht Sehen dessen, worauf das Sehen geht, wiewohl man dies in Wahrheit sagen könnte, sondern das Sehen ist auf eine Farbe oder

53 Hierbei ist wichtig, daß die Relativa bzw. Korrelate mit den Relata bzw. Relationsgliedern, wie wir sie heute verstehen, nicht verwechselt werden. Denn Aristoteles geht nicht von der Relation zwischen Entitäten aus (z. B. „größer als“, „links von“), sondern von dem „zu etwas sich Verhaltenden“ (πρός τι), von jenen (akzidentellen) Dingen, die nur in Hinblick auf etwas anderes das sind, was sie sind. So ist ein Größeres ein Relativum, weil es nur in Bezug auf ein Kleineres ein solches ist; umgekehrt ist ein Kleineres nur in Bezug auf ein Größeres ein Relativum. Ebenso ist ein Herr ein Relativum, weil er ein Herr von etwas, nämlich von einem Knecht, ist – obwohl er natürlich als Mensch (z. B. als Cäsar) kein Relativum, sondern eine Substanz ist. Es ist also das Bezogensein, der relationale Zustand einer Substanz, den Aristoteles thematisiert, und nicht die Beziehung selbst, für die in seiner Substanz-Akzidens-Ontologie kein Platz ist. Die Glieder einer Relation im uns geläufigen Sinne sind also – Aristotelisch gesprochen – keine Relativa, sondern Substanzen.

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etwas dergleichen gerichtet. In jener Weise aber wäre dasselbe zweimal gesagt, das Sehen sei das Sehen dessen, worauf das Sehen geht (Metaph., V 15, 1021 a 26; Übers. von H. Bonitz). 54

Aristoteles gibt also zu, daß Sehen und Gesehenes (gesehene Farbe) korrelativ sind, doch sind sie für ihn eher sprachliche Korrelate – eigentlich eine Trivialität. Er betont aber ausdrücklich, daß der Gegenstand bzw. das eigentliche Sinnesobjekt (das intentionale Objekt) eines Sehaktes nicht die gesehene Farbe, sondern die Farbe schlechthin ist. Die Farbe ist dem Sehakt überhaupt nicht relativ, da das Gesehen- bzw. Nicht-Gesehenwerden ihr absolut äußerlich ist.55 Denselben Standpunkt vertritt auch Brentano in der Psychologie vom empi­ rischen Standpunkte. Obwohl er hier ausdrücklich die Bezüglichkeit des psychischen Phänomens betont, nimmt er sich davor in Acht, dieses als echtes Relativum aufzufassen: Der Begriff Ton ist kein relativer Begriff. Wäre dies der Fall, so würde nicht das Hören ein secundäres, sondern mit dem Tone zugleich das primäre Object des psychischen Actes sein, und dasselbe würde in jedem anderen Falle gelten [...]. Auch könnten wir gar nichts denken ausser gewissen Relationen zu uns selbst und unseren Gedanken, und dies ist ohne Zweifel falsch (PeS I, 151).

Brentano gibt zwar den naiven Realismus des Aristoteles auf, nach dem das „physische Phänomen“ bzw. „eigentliche Sinnesobjekt“ (etwa Farbe oder Ton) eine unabhängige Wirklichkeit außerhalb des Wahrnehmungsprozesses – als dessen wirkende Ursache – besitzt; er macht sich zwar das neuzeitliche wissenschaftliche Weltbild zu eigen und behauptet dementsprechend, daß die physischen Phänomene in Wirklichkeit nicht existieren, daß sie bloße „Zeichen“ (ebd., 35)56 für nicht direkt zugängliche wirkliche Entitäten bzw. Vorgänge sind; 54

55

56

Brentano verweist außerdem auf Metaph., X 6, 1056 b 34 e 1057 a 9. Vgl. MBS, 28: „Während die Relation des Wissens zum Gewußten eine reale Basis in dem Wissen hat, wird die umgekehrte des Gewußten zum Wissen offenbar bloß durch die Verstandesoperation gesetzt, eigentliche Basis der Relation bleibt doch allein dasjenige, was jetzt als ihr Terminus angenommen wird; das Gewußte ist kein πρός τι, weil es in Relation zu einem Andern stände, sondern bloß, weil zu ihm ein Anderes in Relation steht.“ „Der Grund dieser Lehre, die wir [in] Metaph. V, 15 finden, ist leicht einzusehen. Die Harmonie oder Disharmonie unseres Denkens mit den Dingen ändert durchaus nichts an dem Bestande derselben, sie sind unabhängig von unserem Denken und bleiben davon unberührt.“ MBS, 29. Brentano lehnt sich hier deutlich an Helmholtz an, für den die Sinnesempfindungen bloße „Symbole für die Verhältnisse der Außenwelt“ ohne jegliche „Ähnlichkeit oder Gleichheit mit dem, was sie bezeichnen“, sind. Die Vorstellungen weisen

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er hütet sich aber davor, jenen idealistischen Standpunkt einzunehmen, nach dem die physischen Phänomene mentale Entitäten, Sinnesdaten sind, die im Bewußtsein existieren. So gewiss es auch ist, dass eine Farbe uns nur erscheint, wenn wir sie vorstellen: so ist doch hieraus nicht zu schliessen, dass eine Farbe ohne vorgestellt zu sein nicht existiren könne. Nur wenn das Vorgestellt-sein als ein Moment in der Farbe enthalten wäre, so etwa wie eine gewisse Qualität und Intensität in ihr enthalten ist, würde eine nicht vorgestellte Farbe einen Widerspruch besagen, da ein Ganzes ohne einen seiner Theile in Wahrheit ein Widerspruch ist. Dieses aber ist offenbar nicht der Fall (PeS I, 110).

Brentano ist also keinesfalls als Vertreter einer Sinnesdatentheorie einzuordnen. Für ihn ist sogar die Annahme, das physische Phänomen besitze neben der intentionalen auch eine wirkliche Existenz, kein Widerspruch: Es ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht von vornherein ausgeschlossen, daß uns die äußere Wahrnehmung etwas Wirkliches zeigt. Die Argumente, die hierbei angeführt werden können, sind empirischer Natur und setzen die Akzeptanz der neuzeitlichen Wissenschaftsergebnisse voraus.57

57

eine bloß „praktische Wahrheit“ auf, da wir sie „zur Regelung unserer Bewegungen und Handlungen benutzen lernen“. Dies ist die einzig mögliche Art der „Vergleichung“ zwischen Vorstellungen und äußerer Wirklichkeit; jegliche andere Übereinstimmung der Vorstellungen mit den Dingen „ist gar nicht denkbar und hat gar keinen Sinn“. (Helmholtz, 1909-1911, Bd. 3, 17f.) Ganz analog geht auch die Wissenschaft vor, die durch Anwendung des Experiments „zur Anerkennung einer von unserem Wollen und Vorstellen unabhängigen, also äußerlichen Ursache unserer Empfindungen“ gelangt (ebd., 29). So bezeichnen alle „Eigenschaften“, die wir den Objekten der Außenwelt zuschreiben können, „nur Wirkungen [...], welche sie entweder auf unsere Sinne oder auf andere Naturobjekte ausüben. Farbe, Klang, Geschmack, Geruch, Temperatur, Glätte, Festigkeit gehören der ersten Klasse an, sie bezeichnen Wirkungen auf unsere Sinnesorgane. Glätte und Festigkeit bezeichnen den Grad des Widerstands, den die berührten Körper entweder der gleitenden Berührung oder dem Drucke der Hand darbieten. Statt der Hand können aber auch andere Naturkörper eintreten, ebenso für die Prüfung anderer mechanischer Eigenschaften, der Elastizität und Schwere. Die chemischen Eigenschaften beziehen sich ebenfalls auf Reaktionen, d. h. Wirkungen, welche der betrachtete Naturkörper auf andere ausübt. Ebenso ist es mit den anderen physikalischen Eigenschaften der Körper, den optischen, elektrischen, magnetischen. Überall haben wir es mit Wechselbeziehungen verschiedener Körper aufeinander zu tun, mit Wirkungen aufeinander, welche von den Kräften abhängen, die verschiedene Körper aufeinander ausüben.“ Ebd., 19. Vgl. Helmholtz, 1844. „Nicht also das ist richtig, dass die Annahme, es existire ein physisches Phänomen, wie die, welche intentional in uns sich finden, ausserhalb des Geistes und in Wirk-

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9.4. Intentionales Objekt und intentionales Korrelat Betrachtet man nun näher, was eigentlich das intentionale Korrelat eines psychischen Aktes ist und in welcher Beziehung es zum intentionalen Objekt steht, so ist es angebracht, die Brentanosche Theorie der inneren Wahrnehmung nochmals heranzuziehen. Die innere Wahrnehmung stellt neben der Intentionalität ein weiteres wesentliches Merkmal dar, das die psychischen Phänomene von den physischen abgrenzt. Nur diese – so Brentano – werden durch innere Wahrnehmung wahrgenommen, welche, „abgesehen von der Besonderheit ihres Objectes, auch noch Anderes [hat], was sie auszeichnet; namentlich jene unmittelbare, untrügliche Evidenz, die unter allen Erkenntnissen der Erfahrungsgegenstände ihr allein zukommt“ (ebd., 109). Während bei der äußeren Wahrnehmung keine Garantie besteht, daß das physische Phänomen auch in Wirklichkeit so existiert, wie es erscheint, kann nur durch die innere Wahrnehmung jene „Wahrheit“ erfaßt werden, auf die die Etymologie des Wortes „Wahrnehmung“ anspielt (vgl. ebd.). Der – nicht nur epistemische, sondern auch ontologische – Vorrang des sekundären gegenüber dem primären Bewußtsein ist darauf zurückzuführen, daß nur im inneren Bewußtsein eine restlose Identität zwischen Akt und Gegenstand, Wahrnehmen und Wahrgenommenen besteht (vgl. ebd., 159f.). Beide Bewußtseinsformen sind aber unauflöslich miteinander verbunden. Denn die innere Wahrnehmung ist kein weiterer Akt, der zum primären Bewußtsein hinzukommt, sondern ein zweites, bloß begrifflich unterscheidbares intentionales Gerichtetsein, das jedem psychischen Akt zukommt.58 So hat beispielsweise das Sehen Rot zum primären Objekt, sich selbst aber – als Sehen von Rot bzw. Rotsehen – zum sekundären Gegenstand. Bei der inneren Wahrnehmung verschwindet somit das intentionale Objekt nicht aus dem Bewußtseinshorizont. Es bleibt zwar präsent, doch anstatt die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu ziehen, wird es in eine komplexere Struktur eingebettet, innerhalb derer es

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lichkeit, einen Widerspruch einschliesst: nur eines mit dem anderen verglichen, zeigen sie Conflicte, welche deutlich beweisen, dass der intentionalen hier keine wirkliche Existenz entspricht.“ PeS I, 111. „In demselben psychischen Phänomen, in welchem der Ton vorgestellt wird, erfassen wir zugleich das psychische Phänomen selbst, und zwar nach seiner doppelten Eigenthümlichkeit, in sofern es als Inhalt den Ton in sich hat, und in sofern es zugleich sich selbst als Inhalt gegenwärtig ist. Wir können den Ton das primäre, das Hören selbst das secundäre Object des Hörens nennen“ Ebd., 146. Dies erklärt, warum die innere Wahrnehmung nie zur inneren Beobachtung werden kann: Diese setzt nämlich eine wirkliche Trennung zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem voraus, die aber durch die innere Struktur des psychischen Aktes völlig ausgeschlossen wird. Vgl. ebd., 44ff.

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lediglich ein Teil ist.59 Wir haben es hier nicht mit dem Gegenstand als solchem (etwa Rot), sondern mit einem Gedachten (gesehenem Rot), mit einer modifizierten, bewußtseinsabhängigen Entität zu tun, die als Teil im sekundären Objekt enthalten ist.60 Neben dem intentionalen bzw. immanenten (d. h. primären) Gegenstand, dessen Beziehung zur Wahrnehmung rein äußerlicher Natur ist, stellt sich ein Wahrgenommenes bzw. Gedachtes als Teil des sekundären Objektes dar, das innerlich stets mit dem Akt miterfaßt wird und als dessen innerliches Korrelat fungiert – also nur insofern besteht, als es ein Denken gibt, das mit ihm entsteht und vergeht. Vom Gedachten als solchem – wobei „gedacht“ hier im modifizierenden Sinn gemeint ist –61 gilt, daß es sich um eine subjektiv geprägte Entität handelt, die als Teil im korrelativen Akt enthalten ist. Denn während die Beziehung, die der Gegenstand zum Denken aufweist, rein äußerlich ist, erweist sich die Beziehung dieser modifizierten Entität zur Subjektivität als eine ihr wesentliche – sie ist gerade aufgrund dieser Beziehung etwas Modifiziertes. Das intentionale Korrelat ist somit ein ens rationis, also ein nichtreales Gedankending. Der Begriff des intentionalen Korrelats zieht wichtige Konsequenzen auf ontologischer Ebene nach sich. Wie der Akt so wird auch das Korrelat, das im sekundären Objekt als Teil enthalten ist, evident durch die innere Wahrnehmung erfaßt. Die evidente Anerkennung des (realen) psychischen Phänomens schließt somit auch diejenige des (nichtrealen) Korrelats mit ein, da – wie Brentano betont – „wer ein Ganzes anerkennt, jeden einzelnen Teil des Ganzen ein59

„[...] so muss das physische Phänomen in gewisser Weise zu dem Inhalte beider Vorstellungen gehören, zu dem der einen als ausschliesslicher, zu dem der anderen, so zu sagen, als eingeschlossener Gegenstand.“ Ebd., 145. 60 Hierzu schreibt Brentano: „Wenn wir eine Farbe sehen und von diesem unserem Sehen eine Vorstellung haben, so wird in der Vorstellung vom Sehen auch die gesehene Farbe vorgestellt; sie ist Inhalt des Sehens, sie gehört aber auch mit zum Inhalte der Vorstellung des Sehens.“ Ebd., 154 (Hervorh. von M. A.). An einer anderen Stelle ist zu lesen: „[...] die Vorstellung des Tones [ist] mit der Vorstellung von der Vorstellung des Tones in so eigenthümlich inniger Weise verbunden, dass sie, indem sie besteht, zugleich innerlich zum Sein der anderen beiträgt.“ Ebd., 146. 61 Ein Adjektiv wirkt bereichernd bzw. determinierend, wenn es Eigenschaften hinzufügt, die das Bezeichnete näher präzisieren. Im Ausdruck „großer Mensch“ wirkt das Adjektiv bereichernd – nicht aber im Ausdruck „toter Mensch“, da ja ein Toter kein Mensch mehr ist. Brentano führt diese Unterscheidung in PeS II (341, Fßn. 64) ein und entwickelt sie dann in der Deskriptiven Psychologie weiter. Er verwendet die Theorie der Modifikation nicht nur, um den Status des intentionalen Korrelats zu erläutern, sondern auch um die Irrealität des Vergangenen und Zukünftigen zu erklären.

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schließlich anerkennt“ (PeS II, 333). Da Akt und Korrelat in derselben Urteilsmodalität anerkannt werden, besitzen sie dieselbe „Existenzweise“. Das Korrelat weist also im Gegensatz zur vollen Wirklichkeit des Aktes keine abgeschwächte Seinsweise auf, sondern ist eine nichtreale Entität, die im selben Sinne existiert wie der reale psychische Akt, in dem sie enthalten ist. Reales und Nichtreales werden somit gleichberechtigte Klassen von Entitäten, die dieselbe ontologische Konsistenz besitzen. Diese ontologischen Implikationen werden aber in der Psy­ chologie vom empirischen Standpunkte noch nicht ausdrücklich thematisiert. Erst im Rahmen seiner Deskriptiven Psychologie wird Brentano sie wieder aufgreifen und weiterentwickeln. Während Brentano im Jahre 1874 noch nicht über ein adäquates Begriffsgefüge verfügte, um intentionales Objekt und intentionales Korrelat genau zu bestimmen, entwickelt er dann in den 80er Jahren eine äußerst ausgefeilte Teil-Ganzes-Lehre, die es ihm erlaubt, sein Projekt einer Kategorialanalyse der inneren Erfahrung, einer Morphologie aller möglichen Formen unserer Erlebnisse zu verwirklichen. Demzufolge beschränkt sich Brentano in der Deskrip­ tiven Psychologie nicht darauf, die in der Psychologie vom empirischen Standpunkte erlangten Ergebnisse zu systematisieren. Zusätzlich verfeinert er sein mereologisches In­strumentarium und kann somit auch jene Teile, die nur „distinktionell“ (begrifflich) vom jeweiligen Ganzen abtrennbar sind, einer eingehenden Analyse unterziehen (DP, 13f.). Gerade im Rahmen dieser Analyse behandelt Brentano die „intentionalen Korrelate“. Die „Eigenheit“, die „immer und überall“ das Bewußtsein charakterisiert, ist für Brentano die „intentionale Beziehung“, die er – mit Vorsicht – als „eine gewisse Art von Relation“ (ebd., 21) bezeichnet. Da „zu jedem Bewußtsein [...] wesentlich eine Beziehung“ gehört, so „finden sich auch hier zwei Korrelate“ (ebd.). Die Beispiele, die er hierzu anführt, wurden schon erwähnt: Sehen und Gesehenes, Vorstellen und Vorgestelltes, Wollen und Gewolltes, Lieben und Geliebtes, Leugnen und Geleugnetes (ebd.). Als distinktionelle Teile des Bewußtseins sind die intentionalen Korrelate nicht wirklich voneinander ablösbar. Das „intentionale Korrelatenpaar“ stellt ein Ganzes dar, innerhalb dessen jedes Korrelat als Teil des anderen betrachtet werden kann. So enthält das Far­ bensehen die gesehene Farbe als Korrelat, in der wiederum das Sehen als Teil impliziert ist. Brentano beruft sich hierbei auf Aristoteles, der behauptet, „das Sehen sei gewissermaßen gefärbt“ (ebd., 26; vgl. De an., III 2, 425 b 23). „Gewissermaßen“ bedeutet für Brentano, daß die Farbe im Sehen lediglich in uneigentlichem bzw. metaphorischem Sinne enthalten ist, d. h. als „distinktioneller Teil im modifizierenden Sinn“. Brentano stellt die Korrelate auf ganz unterschiedliche, nicht aufeinander rückführbare ontologische Ebenen. Denn er bezeichnet den Akt im Unterschied zu seinem intentionalen Korrelat nicht nur als „real“, sondern sogar

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als „allein real“, während für ihn das Korrelat „nichts Reales“ ist (DP, 21f.; vgl. ebd., 131). Dem realen Bewußtseinsakt – wie es die intentionale Beziehung verlangt – entspricht kein anderes Reales, sondern nur ein Gedachtes, das – eben als Gedachtes – „nichts Reales“ ist. Das intentionale Korrelat – so Brentano – ist lediglich „mit da“ (ebd., 21); sein Dasein reduziert sich auf ein Mitdasein im Akt. Es „hat darum keine eigentliche Ursache und kann nicht eigentlich eine Wirkung üben“ (ebd.), sondern begleitet lediglich den aktuellen Bewußtseinsakt, entsteht und vergeht mit ihm. Brentano nimmt hier abermals auf Aristoteles Bezug: „Bei diesen Korrelaten zeigt sich, wie schon Aristoteles hervorhob, die Eigentümlichkeit, daß das eine allein real, das andere dagegen nichts Reales ist. So wenig ein gewesener Mensch, so wenig ist ein gedachter etwas Reales.“ (Ebd.)

Abbildung: Die Struktur des intentionalen Aktes nach Brentano

Auf den ersten Blick können diese Behauptungen zu falschen Schlüssen führen, da sie den intentionalen Gegenstand mit dem intentionalen Korrelat – dem Gedachten – gleichzusetzen scheinen. Gerade durch das unterschiedliche Teilverhältnis des intentionalen Korrelats und des intentionalen Objekts zum psychischen Akt erklärt Brentano ihre Verschiedenheit. Denn im Unterschied zum intentionalen Korrelat, das „distinktioneller“ (d. h. begrifflich unterscheidbarer) Teil im eigentlichen Sinne ist, betrachtet er das intentionale Objekt als distinktionellen Teil im modifizierenden Sinne bzw. als „durch modifizierende Distinktion zu gewinnenden Teil“ (ebd., 26f.).

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In diesem Kontext ist es notwendig, den schon erwähnten Unterschied zwischen determinierenden und modifizierenden Adjektiven wiederaufzunehmen. Ein Adjektiv hat dann eine determinierende Funktion, wenn es eine Eigenschaft bezeichnet, die den Inhalt des jeweils Bezeichneten präzisiert. In den Aus­drücken „großer Mann“, „reife Frucht“, „regnerischer Tag“ ist das Adjektiv bereichernd; nicht so im Ausdruck „toter Mensch“, da ja ein Toter kein Mensch mehr ist. Andere Adjektive, die modifizierend fungieren, sind z. B. „vergangen“ (vergangener Ton), „falsch“ (falsches Gold, falscher Freund), „gemalt“ (gemalte Landschaft), „gedacht“ (gedachter Baum). Während ein determinierendes Prädikat das Substantiv durch eine neue inhaltliche Bestimmung bereichert, verleiht ein modifizierendes Prädikat dem Bezeichneten eine metaphorische Bedeutung. In den angegebenen Beispielen kann das Modifizierte (z. B. vergangener Ton) als Ganzes betrachtet werden, welches das Nichtmodifizierte (Ton) als Teil enthält. Wie ist nun das Nichtmodifizierte im Modifizierten enthalten? Als „distink­ tioneller Teil im modifizierten Sinn“, d. h. als uneigentlicher Teil, als Teil im übertragenen bzw. metaphorischen Sinne. Hier ist es wichtig, die Aufmerksamkeit auf das modifizierende Adjektiv „gedacht“ (bzw. „vorgestellt“, „geurteilt“, „geliebt“ etc.) zu richten. Denn dadurch erklärt sich die radikale ontologische Verschiedenheit, die das Objekt vom Korrelat – trotz inhaltlicher Übereinstimmung – trennt. Denn das inten­ tionale Objekt eines Bewußtseinsaktes ist nicht mit dem intentionalen Korrelat identisch, sondern es ist in diesem als ein „durch modifizierende Distinktion zu gewinnender Teil“ (ebd., 25-27) enthalten. Wichtig ist hierbei die perspektivische Verschiebung, die den Übergang von der Psychologie vom empirischen Standpunkte zur Deskriptiven Psychologie markiert. Denn in der Psychologie vom empirischen Standpunkte hatte Brentano den psychischen Akt thematisiert, insofern dieser primär auf sein intentionales bzw. immanentes Objekt gerichtet ist; lediglich nebenbei (ἐν παρέργῳ) ist der Akt auf sich selbst als sekundäres Objekt gerichtet. In dieser sekundären Beziehung wird mit dem Akt selbst sein intentionales Korrelat, d. h. das Gedachte als solches, mitgedacht. Dieses intentionale Korrelat, das mit dem Akt mitentsteht und mitvergeht, ist das psychisch modifizierte Gegenstück zum intentionalen Gegenstand, der vom Denken unabhängig ist. In der Deskriptiven Psychologie thematisiert Brentano nun den psychischen Akt in seiner inneren Bezüglichkeit, d. h. insofern er sich selbst in der inneren Wahrnehmung mit unmittelbarer Evidenz erfaßt, wobei das intentionale Korrelat als „nichtrealer Teil des intentionalen Korrelatenpaares“ stets miterfaßt wird. Im Unterschied zum intentionalen Korrelat, das distinktioneller Teil im eigentlichen Sinne des psychischen Aktes ist, betrachtet er nun das intentionale Objekt als distinktionellen Teil im modifizierenden Sinne bzw. als „durch modifizierende Distinktion zu gewinnenden Teil“. Mit anderen Worten: Da das

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intentionale Objekt (Farbe) im modifizierten Sinn als Teil im intentionalen Korrelat (gesehene Farbe) enthalten ist, muß, um vom letzteren zum ersteren zu gelangen, das intentionale Korrelat „de-modifiziert“62 werden. Durch diese Bestimmung des intentionalen Gegenstandes als „distinktionellen Teil im modifizierenden Sinn“ (DP, 25), der sowohl im Akt als auch im intentionalen Korrelat enthalten ist, vermeidet Brentano jeglichen Subjektivismus, da nur Bewußtseinstranszendentes – sei es existierend oder nicht – intentionaler Gegenstand des Denkens sein kann;63 außerdem garantiert er dadurch die Autonomie des Psychischen und mithin die Begründung der Psychologie als reiner Wissenschaft. Nur hierdurch kann das Psychische ohne μετάβασις εἰς ἄλλο γένος sowohl auf noetischer als auch noematischer Seite analysiert werden, denn „die Erkenntnis von Korrelativen ist eine [Erkenntnis]“ (ebd., 131). 9.5.  Reales vs. Existierendes Wir sind nun bei den Begriffen „Reales“ und „Existierendes“ angelangt, die in Brentanos Philosophie eine zentrale Rolle spielen. Diese Unterscheidung geht auf Brentanos Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles zurück, die eine Art logische Grammatik des Seinsbegriffes entworfen hatte: Das Seiende wird einerseits im Sinne des Wahren (ὂν ὡς ἀληθές) ausgesagt, nämlich um die Wahrheit eines Satzes zu bezeichnen, andererseits im Sinne des Realen (ὂν χαθ᾽ αὑτό) – also in einer logischen und realen Bedeutung. Als Beispiel des Seienden im Sinne des Wahren (und des Nichtseienden im Sinne des Falschen) gilt jede Aussage, insofern deren affirmative oder negative Qualität als Zeichen der jeweiligen Wahrheit oder Falschheit betrachtet wird. Das „ist“ der Kopula bedeutet in diesem Falle nichts anderes, als daß der Satz wahr ist; „ist nicht“, daß der Satz nicht wahr, also falsch ist. So bedeutet „ist“ im Satz „Der Baum ist grün“ lediglich: „Es ist wahr“, ‚daß der Baum grün ist‘; „ist nicht“ in „Der Baum ist nicht grün“: „Es ist falsch“, ‚daß der Baum grün ist‘. In beiden Fällen bezeichnet die Kopula kein reales Prädikat, sondern ist bloßes Zeichen der Bejahung bzw. Verneinung. Als Beispiel des Realen gilt hingegen jedes „sachliche“, „wesenhafte“ Prädikat (wie Mensch, groß, weiß, hier, etc.), d. h. alles, was 62 Den Ausdruck benutzt Schuhmann, 1994, 172. 63 Hierzu nimmt Brentano explizit Stellung: „Das Empfinden [...] differenziert sich als ein Empfinden von Farbe, Schall usw. Das Sehen, d. i. das Empfinden von Farbigem, als ein Sehen von Blau, Rot, Gelb u.s.f. Es differenzieren sich also diese Akte nach den Objekten und den Differenzen der Objekte wie Farbe, Blau, Rot. Die Objekte aber enthalten nicht die Gattungsbestimmtheit Empfinden, Sehen.“ Ebd., 26. „Eine Empfindung [...] ist eine fundamentale Vorstellung von realen physischen Phänomenen (Gegenständen).“ Ebd., 139.

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im Sinne des Aristoteles unter eine der Kategorien fällt. Indem man sich auf jene Bedeutung des „Wahrseins“ stützt, die das Urteil als bloße Funktion seiner affirmativen Qualität betrachtet, ist alles, was grammatikalisch die Rolle des Subjekts in einem wahren affirmativen Satz einnehmen kann, ein Seiendes – selbst Negationen und Privationen, ja sogar das Nicht-Seiende (MBS, Kap. II). Brentanos spätere Urteilslehre, die alle kategorischen auf existentielle Urteile reduziert, kann als Weiterentwicklung dieser Auffassung des Seienden im Sinne des Wahren betrachtet werden. Während der Gegenstand in der Vorstellung lediglich (in qualitativ unbestimmter Weise) präsent ist, wird er im Urteil bejaht oder verneint, d. h. als existierend anerkannt oder als nicht existierend verworfen. „Existieren“ heißt dementsprechend lediglich „als richtig anerkannt sein“. Da es keine verschiedenen Weisen des Anerkennens gibt, kann es keine verschiedenen Weisen des Existierens geben. Somit verfügen wir über ein ausreichendes Instrumentarium, um die Unterscheidung zwischen Realität und Existenz näher zu erläutern. Der Brentanosche Begriff des Realen geht auf den Aristotelischen des „Seienden als solchen“, d. h. auf die Substanz und ihrer Akzidenzien zurück. Ein „Reales“ bzw. „Wesenhaftes“ oder – wie sich Brentano in seiner reistischen Phase mit Vorliebe ausdrückt – ein „Ding“ ist eine konkrete, individuelle Entität, sei sie existierend oder nicht existierend. Denn die Frage hinsichtlich der Realität bzw. Nichtrealität einer Entität ist für Brentano von der Frage nach deren Existenz streng zu trennen. „Existierendes“ heißt lediglich „richtig Anerkanntes“, und dies kann sowohl ein Reales als auch ein Nichtreales sein. Ein Reales ist zum Beispiel ein Körper, eine Seele, ein psychisches Phänomen; aber auch ein Kentaur oder ein physisches Phänomen sind Realia, da sie, würden sie existieren, Körper wären. Reales steht also nicht im Gegensatz zu Nichtexistierendem, sondern zu Nichtrealem – wie etwa einem Urteilsinhalt, einer Privation oder einem Gedankending. Nun wird klar, was Brentano mit seiner Bemerkung „worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist“ in der Intentionalitätspassage meint – nämlich lediglich, daß nicht nur Dinge bzw. Konkreta, sondern auch Nichtrealia und Gedankendinge Gegenstände des Denkens sein können. So kann auch ein Gedachtes, also ein intentionales Korrelat, unter bestimmten Umständen zum intentionalen Gegenstand des Denkens werden; dies stellt aber eine Ausnahme unserer psychischen Betätigungen dar, z. B. wenn jemand an jemanden, der an etwas denkt, denkt. Gerade diesen Umstand beschreibt Brentano in einem um 1889 entstandenen Fragment, das des öfteren zugunsten der „ontologischen These“ herangezogen wird (vgl. z. B. Chisholm, 1967, 9). Wir bilden im Hinblick auf uns selbst den Begriff eines Denkenden, welcher in seinem Denken auf einen Gegenstand gerichtet ist. Es sei dies der Gegenstand A, dessen Begriff ebenso wie der des Denkenden der Begriff von etwas Wesen-

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haftem sein mag. Von diesem Wesenhaften A sagen wir daraufhin mit aller Wahrheit, daß es von mir, dem Denkenden, gedacht werde. Es ist ebenso wahr, daß es ein gedachtes A, als daß es ein wirkliches A ist. Und es kann aufhören, als wirkliches A zu sein, während es als gedachtes A fortbesteht, solange der Denkende es denkt. Umgekehrt wird es als gedachtes A aufhören, wenn der Denkende es zu denken aufhört, wie immer es als wirkliches A noch fortbesteht. Sagt man: eben, indem man es dem wirklichen A entgegenstellt, gibt man zu erkennen, daß das gedachte A nichts Wahres und Wirkliches ist: so ist zu erwidern: Keineswegs! Es kann etwas recht wohl etwas Wahres und Wirkliches sein, ohne ein wirkliches A zu sein. Es ist ein wirklich gedachtes A und somit, da dies dasselbe sagt, auch ein wirkliches gedachtes A, dem wieder ein anderes als gedachtes gedachtes A entgegengesetzt werden kann, wenn einer denkt, daß einer A denke. Es ist nicht möglich, daß es ein A-Denkendes gibt, ohne daß es ein gedachtes A gibt, und umgekehrt. Aber man kann darum nicht sagen, der A-Denkende sei das von ihm gedachte A. Die beiden Begriffe sind nicht identisch, sondern korrelativ. Keinem kann in der Wirklichkeit etwas entsprechen, ohne daß dem andern etwas in der Wirklichkeit entspricht. Aber nur der eine ist der Begriff eines Wesenhaften, das gewirkt wird und wirkt, der andere ist der von etwas, was nur, indem jenes gewirkt wird, als begleitendes Seiendes mit entsteht und fortbesteht, bis jenes endet.64

Spricht Brentano von einem „gedachten A“ als Korrelat des A-Denkenden, so behauptet er die Existenz des Gedachten nur insofern, als das, was gedacht wird, das wirkliche A ist. Das wirkliche A existiert natürlich unabhängig von seinem Gedachtwerden, während das gedachte A nur insofern existiert, als man an das wirkliche A denkt. Der intentionale bzw. immanente Gegenstand des Denkens ist nicht das gedachte, sondern das wirkliche A. Nimmt man an, das wirkliche A hört auf zu existieren, was ist dann der Gegenstand des Denkens? Nicht weil das wirkliche A aufhört, ein solches zu sein, d. h. in Wirklichkeit zu existieren, wird das gedachte A zum Gegenstand des Denkens: Gegenstand des Denkens ist in diesem Falle A schlechthin. Das gedachte A bleibt weiterhin intentionales Korrelat des Denkens von A. Das gedachte A kann nur dann zum (intentionalen bzw. immanenten) Objekt werden, wenn sich das Denken ausdrücklich darauf bezieht. Dies geschieht nur dann, wenn der Denkende an einen A-Denkenden denkt. In diesem Falle wird das gedachte A – das bloßes intentionales Korrelat des A-Denkenden ist – zum intentionalen Gegenstand des Denkens, wobei ein gedachtes gedachtes (d. h. zweimal modifiziertes) A als intentionales Korrelat des Denkens an das gedachte A entsteht. 64

F. Brentano, „Das Seiende im Sinne des Wahren“ (Fragment. Vor 1902 entstanden), in: WE, 31.

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Es sei angemerkt, daß Brentano dem gedachten im Vergleich zum wirklichen A keine abgeschwächte Existenzweise zuschreibt. Beide – behauptet er – sind „wirklich“. Dies wird im Lichte des schon angesprochenen Umstands verständlich, daß das intentionale Korrelat wie auch der Akt selbst mit Evidenz als dessen „nicht realer Teil“ innerlich wahrgenommen wird. Da man Akt und Korrelat durch die innere Wahrnehmung erfaßt, werden beide mit assertorischer Evidenz anerkannt: beide weisen somit denselben existentiellen Status auf. Somit wird auch die zweite, oben angesprochene Deutung der ontologischen These entkräftet, nämlich jene Auffassung, nach der dem immanenten Objekt im Unterschied zum wirklichen, bewußtseinstranszendenten Gegenstand eine besondere, abgeschwächte Existenzweise, eine mentale oder intentionale „InExistenz“ zukommt. Letztere Deutung erscheint deshalb unhaltbar, weil sie eine Mehrdeutigkeit des Existenzbegriffes impliziert, die Brentanos Urteilslehre keineswegs zuläßt.65 9.6.  Intentionale Inexistenz als „objektive Aufnahme“ Es sollte klargeworden sein, daß der Hauptbezug von Brentanos Theorie der „intentionalen Inexistenz“ die Wahrnehmungslehre des Aristoteles ist. Dafür sprechen eindeutig sowohl der oben erwähnte Brief an Marty als auch die Psy­ chologie vom empirischen Standpunkte.66 Doch schon in seiner Habilitationsschrift über Die Psychologie des Aristoteles aus dem Jahre 1867 hatte Brentano den Ausdruck objective verwendet, um die Aristotelische Wahrnehmungslehre zu erläutern, nach der der Gegenstand der Seele intentional präsent ist, nämlich nur durch seine Form – und nicht durch die Materie. Denn die Wahrnehmung ist kein echtes „Erleiden“, keine Vernichtung eines Wirklichen durch das Entgegengesetzte; als kognitive und nicht-physikalische Veränderung der Seele kann die Wahrnehmung nicht die materielle bzw. physische Präsenz der sinnlichen Gegenstände beinhalten, sondern nur ihre objektive Präsenz. Kälte zu fühlen heißt nicht, daß der Empfindende selbst kalt ist, sondern daß er etwas wahr65

Gerade deshalb nimmt Brentano in der Psychologie von empirischen Standpunkte ausdrücklich Stellung gegen die thomistische Unterscheidung von esse und essen­ tia, Existenz und Wesen. Vgl. PeS I, 249ff.; PeS II, 352f. 66 Im Brief, um die Übereinstimmung seiner Auffassung des intentionalen Objekts mit derjenigen des Aristoteles hervorzuheben, schreibt Brentano: „Hat er nicht wesentlich gedacht wie wir?“ WE, 88. In der Psychologie vom empirischen Stand­ punkte behauptet er mit Bezug auf die Vorgeschichte der „intentionalen Inexistenz“: „Schon Aristoteles hat von dieser psychischen Einwohnung gesprochen. In seinen Büchern von der Seele sagt er, das Empfundene als Empfundenes sei in dem Empfindenden, der Sinn nehme das Empfundene ohne die Materie auf, das Gedachte sei in dem denkenden Verstande.“ PeS I, 106, Fßn. 67.

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nimmt, das „als Objekt (objective)“ dem Wahrnehmenden präsent ist: „Materiell, als physische Beschaffenheit, ist die Kälte in dem Kalten; als Object, d. h. als Empfundenes, ist sie in dem Kältefühlenden.“ (PsA, 80, Fßn. 6) Die objektive Inexistenz bzw. Aufnahme bedeutet demnach nicht die Existenz eines Gegenstandes oder dessen Abbild im Bewußtsein. Die intentionale Inexi­stenz mit der Existenz eines Objektes im Subjekt gleichzusetzen würde bedeuten, die objektive mit der materiellen Aufnahme zu verwechseln. Der Wahrnehmende wäre somit kalt, würde aber nicht kalt fühlen. Der Gegensatz von materieller und objektiver Aufnahme betrifft also weder zwei verschiedene Klassen von Entitäten, die vom Subjekt aufgenommen werden können, noch zwei Existenzweisen, die derselbe Gegenstand annehmen kann – er betrifft vielmehr zwei unterschiedliche Weisen der Aufnahme. In der materiellen Aufnahme besitzt das Subjekt die angenommene Eigenschaft, die in ihm „physisch“ oder „materiell“ präsent ist; in der objektiven Aufnahme hat das Subjekt diese Eigenschaft nicht, sondern erkennt sie bzw. nimmt sie wahr. Diese objektive Präsenz, diese Verwirklichung der Form ohne die Materie, ist weder der primäre Gegenstand des Denkens, noch dessen Abbild. Sie ist vielmehr ein psychischer Akt (ἐνέργεια), dessen Gegenstand prinzipiell transzendent ist. Brentanos Distanzierung von Aristoteles betrifft die erkenntnistheoretische Tragweite der äußeren Wahrnehmung. Während für Aristoteles die Wahrnehmung des eigentlichen Sinnesobjektes stets irrtumsfrei ist, sieht Brentano – aus empirischen Gründen, die sich auf die Ergebnisse der neuzeitlichen Physik stützen, nicht aber aus logischer Notwendigkeit – die Wahrnehmung des physischen Phänomens als „Falschnehmung“. Aristoteles betrachtet den intentionalen Gegenstand bzw. das eigentliche Sinnesobjekt als Akzidens einer Substanz, die auf den Wahrnehmenden kausal einwirkend den Wahrnehmungsakt hervorruft. Für Brentano existiert hingegen ein solcher Gegenstand (das eigentliche Sinnesobjekt oder physische Phänomen) überhaupt nicht, weder außerhalb, noch innerhalb des Subjekts.67 Wenn Brentano behauptet, die physischen Phänomene bestehen „nur phänomenal und intentional“ (PeS I, 109), meint er damit, daß sie überhaupt nicht existieren, weder in der transzendenten physikalischen Wirklichkeit, noch als mentale Entitäten, die im Bewußtsein enthalten sind. Deshalb ist die äußere Wahrnehmung nur uneigentlich eine „Wahr-nehmung“; sie ist vielmehr eine „Falsch-nehmung“, eine blinde Annahme, die sich letztlich als unhaltbar erweist. Jene nicht hinterfragte Existenz, die wir im Alltagsleben den Gegenständen der sogenannten äußeren Wahrnehmung zuschreiben, geht auf unsere angeborene Neigung zurück, den Sinnen blind zu vertrauen. 67

„Das aber, worauf sich diese psychischen Thätigkeiten als auf ihren Inhalt beziehen, und was uns in Wahrheit als Aeusseres erscheint, besteht in Wirklichkeit eben so wenig ausser uns als in uns, es ist ein blosser Schein; wie ja eigentlich auch die physischen Phänomene, die uns im Wachen erscheinen, ohne Wirklichkeit sind, die ihnen entspräche, obwohl man häufig das Gegentheil annimmt.“ PeS I, 195.

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9.7.  Der nichtexistierende Gegenstand Somit wird auch die Frage nach dem Denken an nichtexistierende Gegenstände beantwortet, denn Brentanos Behauptung, die physischen Phänomene bestehen „nur phänomenal und intentional“, beinhaltet, daß diese in derselben Weise existieren wie ein Einhorn oder eine Chimäre. Zu behaupten, das Einhorn, an das ich denke, habe eine „intentionale Inexistenz“, bedeutet lediglich, daß ich an ein Einhorn denke. Dies beinhaltet aber nicht die Frage nach der Existenz bzw. der Existenzweise des Einhorns. Die These, nach der die psychischen Phänomene durch die „intentionale ­Inexistenz eines Gegenstandes“ charakterisiert sind, impliziert noch keine Theo­ rie über den ontologischen Status der Gegenstände des Denkens. Worauf es Brentano bei seiner Lehre der Intentionalität ankommt, ist nicht die Frage nach dem nichtexistierenden Gegenstand, sondern nach dem Gegenstand schlechthin. Dies bestätigt seine Analyse des Begriffs „Existierendes“, seine strikte Trennung der „Ob-ist“- von der „Was-ist“-Frage. Denkt man an etwas, so hat man dieses Etwas zum Gegenstand des Denkens – unabhängig von dessen Existenz. Das, worauf es Brentano ankommt, ist nicht die Tatsache, daß sich die psychischen Phänomene sowohl auf existierende als auch auf nichtexistierende Gegenstände beziehen können, sondern vielmehr, daß das „etwas zum Gegenstand Haben“ vollkommen unabhängig von der Frage ist, ob dieser Gegenstand existiert: „Damit, daß der Denkende ist, ist noch keineswegs gesagt, daß auch das, woran er denkt, besteht.“68 Die Akzentuierung liegt nicht auf dem nicht­ existierenden Gegenstand, sondern auf dem Gegenstand schlechthin, unabhängig von seiner Existenz betrachtet. Es ist eine kontingente Tatsache, daß einige unserer Denkgegenstände nicht existieren, weshalb man durch sie das Spezifikum des Psychischen nicht bestimmen kann.69 Man kann sich nun fragen, ob die Bestimmung von „psychischer Beziehung“, die Brentano im Anhang der Klassifikation der psychischen Phänomene (1911) vorschlägt, tatsächlich eine Revision seines ursprünglichen Standpunktes darstellt. Das Charakteristische für jede psychische Tätigkeit besteht, wie ich gezeigt zu haben glaube, in der Beziehung zu etwas als Objekt. Hienach scheint jede psychische Tätigkeit etwas Relatives. Und in der Tat hat Aristoteles, wo er die verschiedenen Hauptklassen seines πρός τι aufzählt, auch der psychischen Beziehung Erwähnung getan. Doch versäumt er nicht auf etwas aufmerksam zu machen, was diese Klasse von anderen unterscheide. Wenn bei anderen Relati68 F. Brentano, „Von den Gegenständen des Denkens“ (1915), in: K-PeS II, 218. 69 Vgl. dazu die einleuchtenden Analysen von Kent, 1984.

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onen sowohl Fundament als Terminus real sind, sei es hier nur das Fundament. [...] Denkt einer etwas, so muss zwar das Denkende, keineswegs aber das Objekt seines Denkens existieren; ja, wenn er etwas leugnet, ist dies in allen Fällen, wo die Leugnung richtig ist, geradezu ausgeschlossen. So ist denn das Denkende das einzige Ding, welches die psychische Beziehung verlangt. Der Terminus der sogenannten Relation muss gar nicht in Wirklichkeit gegeben sein (PeS II, 391).70

Nach Chisholm beinhaltet dies eine wesentliche Revision des von Brentano 1874 vertretenen Standpunktes. Der späte Brentano habe seine These der Homogenität der psychischen mit den gewöhnlichen Beziehungen aufgegeben, um nun zwischen gewöhnlich binären und intentionalen Beziehungen zu unterscheiden. Während – so Chisholm – erstere nur zwischen existierenden Gliedern bestehen, verlangen letztere nur die Existenz des Fundaments der Relation (des Denkenden), nicht aber des Terminus (des Gedachten). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß es Brentano von Anfang an nicht auf den nichtexistierenden Gegenstand, sondern auf den Gegenstand schlechthin ankommt, unabhängig von dessen Existenz. Kehren wir nun zur Unterscheidung zwischen intentionalem Objekt und intentionalem Korrelat zurück. Im Brief an Marty von 1905, in dem Brentano die These des „vorgestellten Objekts“ als Gegenstand der Vorstellung verwirft, schreibt er, das „gedachte Pferd“ sei im Gegensatz zum Pferd schlechthin Kor­ 70

Brentano deutet hier die Aristotelische Theorie der Relativa durch die Linse der thomistischen Relationslehre. Das Fundament einer Relation (fundamentum relationis) ist die Substanz, der sie als Akzidens inhäriert (dies macht das esse in der Relation aus), der Terminus das, worauf sie zielt (was ihr esse ad ausmacht). Bei einer echten, wechselseitigen Beziehung („größer als“) sind Fundament (Goliath) und Terminus (David) beide real und austauschbar, so daß der Terminus (David) zum Fundament der konversen Beziehung („kleiner als“) werden kann. Wenn ein Ding als mit sich selbst identisch betrachtet wird, sind die Extreme der Identitätsrelation nicht wirklich zwei: Es handelt sich hierbei um eine bloße relatio rationis, da nur der Verstand aus einem realen Ding zwei Dinge macht. Dasselbe gilt für die Beziehungen zwischen Seiendem und Nichtseiendem, da nur der Verstand das Nichtseiende erfassen und zum Terminus der Beziehung machen kann. Es gibt schließlich Fälle, bei denen die Relation nur in Hinblick auf ein Extrem real, auf das andere hingegen rationis tantum ist. Paradigmatisch hierfür steht die intentionale oder epistemische Beziehung, die nur auf Seiten des Fundaments real ist. „Sicut sensus et scientia referuntur ad sensibile et scibile, quae quidem, inquantum sunt res quaedam in esse naturali existentes, sunt extra ordinem esse sensibilis et intelligibilis: et ideo in scientia quidem et sensu est relatio realis, secundum quod ordinantur ad sciendum vel sentiendum res; sed res ipsae in se consideratae, sunt extra ordinem huiusmodi. Unde in eis non est aliqua relatio realiter ad scientiam et sensum; sed secundum rationem tantum, inquantum intellectus apprehendit ea ut terminos relationum scientiae et sensus. Unde Philosophus dicit, in 5. Metaphys., quod non dicuntur relative eo quod ipsa referantur ad alia, sed quia alia referuntur ad ipsa.“ Sum. Theol., I, q. 13, a. 7. Vgl. oben, Fßn. 53.

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relat der Pferdvorstellung und wie diese Gegenstand der inneren Wahrnehmung – also kein primäres Objekt. Brentano bestreitet also nicht, früher den Standpunkt vertreten zu haben, das Denken von A und das gedachte A seien korrelativ. Er verneint jedoch entschieden, jemals das gedachte A als immanenten bzw. intentionalen Gegenstand des Denkens aufgefaßt zu haben. Mit seiner neuen reistischen Einstellung kann Brentano natürlich das intentionale Korrelat nicht mehr halten. Nicht zufällig bezeichnet er im Brief an Marty das „gedachte Pferd“ als bloßes sprachliches Korrelat, d. h. als Synsemantikum. Aufgrund seiner ontologisch-reistischen Haltung verbannt er nun das intentionale Korrelat in das Gebiet des uneigentlichen Seienden – das Korrelat (das gedachte A) wird schließlich zum in obliquo Gedachten, indem man in recto den A-Denkenden – als real und existierend – denkt. Aufgrund seiner psychologisch-reistischen Einstellung bestreitet Brentano nun auch, daß das Nichtreale intentionaler Gegenstand des Denkens sein kann. Es sind also zwei, zwar wichtige, aber nicht grundlegende Aspekte seiner ursprünglichen Intentionalitätslehre, die Brentano nach der sogenannten reistischen Wende aufgibt. Der eine Punkt betrifft den intentionalen Gegenstand. Während Brentano früher behauptete, daß sowohl das Reale als auch das Nichtreale Gegenstand des Denkens sein können, läßt er nun nur noch das Reale als möglichen Denkgegenstand gelten. Der zweite Aspekt betrifft das intentionale Korrelat. Während Brentano in der Psychologie vom empirischen Standpunkte und in der Deskriptiven Psychologie meinte, das Denken von A verlange notwendig ein gedachtes A als (nichtreales) Korrelat, betrachtet er nun das gedachte A als bloß sprachliches, synsemantisches Korrelat; es wird zum in obliquo Gedachten, indem man in recto den A-Denkenden – als real und existierend – denkt (vgl. Sauer, 2006). 10.  Die Klassifikation der psychischen Phänomene Es wurde oben schon erwähnt, daß in Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkte keine explizite Abgrenzung zwischen genetischer und deskriptiver Psychologie zu finden ist. Beide Forschungsperspektiven werden hier noch unter ein einheitliches Forschungsprojekt gefaßt – unter die Fundierung der Psychologie als empirischer Wissenschaft. Andererseits wird in der Psychologie vom empi­ rischen Standpunkte ein das Grundgerüst des deskriptiven Ansatzes darstellender Klassifikationsapparat der psychischen Phänomene entwickelt. Brentano unterscheidet drei Grundklassen psychischer Phänomene: „Vorstellungen“, „Urteile“ und „Gemütsbewegungen“, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Beziehungen zum intentionalen Gegenstand geschieden werden. Denn nur das Kriterium der Intentionalität als Wesensmerkmal des Psychischen kann

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die Anforderungen einer wissenschaftlichen Klassifikation erfüllen – daß nämlich die Einteilung „naturgemäß“, d. h. der Natur des zu Klassifizierenden nach erfolgt (PeS I, 220-223; PeS II, 320-323; vgl. UsE, 16). Brentano versteht unter „Vorstellungen“ all jene psychischen Phänomene, in denen der Gegenstand lediglich präsent ist, ohne jegliche Stellungnahme des Subjekts. Darunter fallen alle sinnlichen Vorstellungen, seien sie Empfindungs-, Gedächtnis- oder Phantasievorstellungen, und die noetischen oder begrifflichen Vorstellungen. Die Vorstellung bringt einen Gegenstand zum Bewußtsein, prä­ sentiert ihn. In ihrer objektivierenden Funktion stellt sie auf psychischer Ebene das Analogon der grammatikalischen Kategorie des Namens dar: Die Vorstellung fixiert sozusagen das Objekt der psychischen Beschäftigung, bestimmt es. Brentanos Vorstellung hat somit nichts mit dem „sinnlichen Eindruck“ bzw. Sinnesdatum der empiristischen Psychologie gemein. Denn sie kann durchaus komplex und willkürlich sein: Ihr elementarer bzw. fundierender Charakter hängt nicht von ihrer empirischen Herkunft ab, sondern von ihrer Identifikationsfunktion des Gegenstandes des psychischen Aktes. Die Vorstellungen stellen die elementarsten Bewußtseinstatsachen, die Grundbausteine des Bewußtseins dar. Dies besagt aber nicht, daß die komplexen Bewußtseinstatsachen durch bloße Nebeneinanderstellung bzw. Assoziation von Vorstellungen entstehen. Die gegenseitigen Erlebnisverhältnisse sind durchaus komplexer. Urteile und Gemütsbewegungen sind zwar von den Vorstellungen abhängig, sind aber keine reinen Vorstellungskomplexe wie die komplexe Vorstellung des klassischen Empirismus. Urteile und Gemütsbewegungen setzen Vorstellungen, auf die sie gründen, notwendig voraus und stellen hierbei kategorial verschiedene Bewußtseinszustände dar. Sie unterscheiden sich von den Vorstellungen vor allem aufgrund ihres Gegensatz-Charakters: Wie die Urteile um „Anerkennung“ und „Verwerfung“ polarisiert sind, so tritt bei den Gemütsbewegungen der Gegensatz von „Liebe“ und „Haß“ hervor (PeS I, 244f.; PeS II, 344f.; vgl. UsE, 18). Um seine Klassifikation zu untermauern, setzt sich Brentano mit den herkömmlichen Einteilungen auseinander – insbesondere mit der damals vorherrschenden Kantschen Dreiteilung. Diese gliedert sich in Erkenntnis, Gefühl und Willen, d. h. sie faßt das, was Brentano zwei unterschiedlichen Klassen (Vorstellung und Urteil) zuordnet, unter einer einzigen zusammen und trennt in zwei Klassen (Gefühl und Wille), was Brentano unter der gemeinsamen Bezeichnung „Gemütsbewegungen“ einordnet. Der traditionellen These einer wesentlichen Homogenität zwischen Vorstellung und Urteil stellt Brentano die Irreduzibilität der intentionalen Urteilsbeziehung auf die Vorstellungsbeziehung entgegen. Während beim schlichten ­Vorstellen der Gegenstand sozusagen in neutraler Weise präsent ist, wird dieser im Urteil bejaht oder verneint, als existierend anerkannt oder als nicht existierend verworfen.

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Auf logisch-grammatikalischer Ebene ist das Analogon des Urteils die Aussage. Bestimmt die Vorstellung den Gegenstand der psychischen Beschäftigung, so drückt das Urteil aus, wie es um diesen Gegenstand steht. Das Urteil ist eine Stellungnahme und als solche eine Aktivität des Bewußtseins, die allerdings keine „Spontaneität“ im Kantschen Sinne impliziert. Wenn man sich in der Sprache der heutigen Philosophie des Geistes ausdrückt, könnte man das Urteil eher als eine propositionale Einstellung verstehen, durch die man einem Gegenstand gegenüber Stellung nimmt, „sich einstellt“. Die herkömmliche Auffassung, nach der das Urteil lediglich in einer Verknüpfung von Vorstellungsinhalten besteht, läßt sich von der äußeren grammatikalischen Satzstruktur verleiten, die als treues Abbild des Urteiles selbst betrachtet wird. Wie sich der Satz aus Subjekt und Prädikat zusammensetzt, die miteinander durch die Kopula verbunden werden, so wurde traditionell das Urteil als psychische Synthese, als Vorstellungsverbindung betrachtet. Der Hauptfehler besteht hierbei in der Betrachtung der Sprache als treues Abbild dessen, was in unserer Seele vorgeht, wobei die praktische und ökonomische Dimension der Sprache verkannt wird. Brentano kann durch seine „idiogenetische“71 Auffassung die traditionelle Urteilslehre revidieren und ihr eine ganz neue Grundlage geben. Die herkömmliche Auffassung schrieb dem Urteil ausnahmslos eine prädikative Struktur zu (PeS I, 227ff.; PeS II, 329ff.) – selbst den existentiellen Urteilen, die ebenfalls auf die kopulative Form des kategorischen Urteils reduzierbar sind („A existiert“ = „A ist existierend“). Somit wurde auch dem Existenzbegriff eine ursprüngliche Bedeutung zugeschrieben, die als solche dem Urteilsakt fremd ist (vgl. Rossi, 1926, 29). Das Gegenteil ist aber der Fall: Der Begriff der „Existenz“ kann nicht als eine dem Urteilsakt fremde Bestimmung betrachtet werden, die sozusagen von außen her dem Subjekt eines Satzes zugeschrieben werden kann, sondern wird durch Reflexion auf ein wahres affirmatives Urteil gewonnen. Die spezifische intentionale Einstellung, durch die das Urteil seinen Gegenstand erfaßt, führt zur Hervorhebung der Existenz (PeS I, 233f.; PeS II, 335f.).72 Nur die 71

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Dieser Ausdruck wurde vom Brentano-Schüler Franz Hillebrand geprägt, der ihn folgendermaßen erläutert: „Da also das Charakteristische seiner Theorie darin besteht, daß er im Urteilen eine besondere Gattung (ἴδιον γένος) psychischer Phänomene sieht, während alle andern Theorien hierin nur eine gewisse Zusammensetzung aus psychischen Elementen einer andern Gattung (ἄλλο γένος) zu erblicken glauben, dürfen wir die erstere als idiogenetische Urteilstheorie, alle andern als allogenetische Urteilstheorien bezeichnen, um doch für derart fundamentale Unterschiede auch geeignete Namen zu besitzen.“ Hillebrand, 1891, 26f. Als Vorläufer seiner eigenen Urteilsauffassung nennt Brentano Thomas von Aquin und Kant, denen er aber vorwirft, sich nicht ganz von der Hegemonie der kategorischen Urteilsform befreit zu haben. PeS I, 233f.; PeS II, 335f. Eine scharfe Kritik

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Urteils­einstellung, die zur bloßen Vorstellung hinzukommt, führt zur Behauptung der Existenz bzw. Nichtexistenz desselben Gegenstandes, der in der entsprechenden zugrundeliegenden Vorstellung lediglich präsent ist.73 Eine weitere Bewußtseinseinstellung stellt die Gemütsbewegung dar. So wird der Gegenstand nicht nur beurteilt, sondern geliebt oder gehaßt, gewollt oder verabscheut. Solche Zustände werden auch treffend als „Interessensphänomene“ bezeichnet, da hierbei die Einstellung nicht bloß kognitiv, sondern wertbestimmend ist. Was diese dritte Klasse anbelangt, bemüht sich Brentano zu zeigen, daß Gefühl und Wille, trotz ihrer unverkennbaren Differenzen, im wesentlichen dieselbe intentionale Bewußtseinseinstellung teilen und somit unter eine einzige Klasse psychischer Phänomene fallen. Er zeigt, daß scheinbar unterschiedliche Phänomene wie Sehnsucht, Streben, Hoffnung, Wunsch und Wille in Wirklichkeit lückenlos ineinander übergehen: Durch schrittweise vor sich gehende, nahezu unbemerkbare Übergänge ist es möglich, von dem einen zum anderen Glied und somit von dem einen zum anderen Ende der Reihe überzugehen. Betrachten wir als Beispiel die folgende Reihe: Traurigkeit – Sehnsucht nach dem vermissten Gute – Hoffnung, dass es uns zu Theil werde – Verlangen, es uns zu verschaffen – Muth, den Versuch zu unternehmen – Willensentschluss zur That. Das eine Extrem ist ein Gefühl, das andere ein Willen: und sie scheinen weit von einander abzustehen: aber wenn man auf die Zwischenglieder achtet und immer nur die nächststehenden miteinander vergleicht, zeigt sich da nicht überall der innigste Anschluss und ein fast unmerklicher Uebergang? […] liegt nicht […] schon in der Sehnsucht ein Keim des Strebens? und spriesst dieser nicht auf in der Hoffnung, und entfaltet sich, bei dem Gedanken an ein etwaiges eigenes Zuthun, in dem Wunsche zu handeln und in dem Mute dazu; bis endlich das Verlangen darnach zugleich die Scheu vor jedem Opfer und den Wunsch jeder längeren Erwägung überwiegt und so zum Willensentschluss gereift ist? (PeS I, 256; PeS II, 358)

All diese psychischen Phänomenen teilen, von ihren unbestreitbaren Differenzen abgesehen, wesentlich dieselbe Art der Objektbeziehung, eine Art, die wie beim Urteilen einen bipolaren Charakter aufweist: Wird im Urteil etwas als wahr anerkannt oder als falsch verworfen, so wird in der Gemütsbewegung etwas als gut geliebt oder als schlecht gehaßt.

73

an Brentanos Reduktion des kategorischen auf das existentielle Urteil findet sich bei Gilson, 1962, 252ff. Das Gebiet des Existierenden, worunter die Urteilsinhalte als Wahrmacher der jeweiligen Urteile fallen, ist natürlich ontologisch von der Urteilsfunktion als solcher unabhängig. Der Begriff des Existierenden kann allerdings nur durch Reflexion auf ein wahres affirmatives Urteil gebildet werden.

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Aber die Analogie mit der Klasse des Urteils geht noch weiter. Wie der Begriff „Existenz“ keine dem Urteilsakt fremde Bestimmung darstellt, die von außen her dem Subjekt eines Satzes zugeschrieben werden kann, so sind die Begriffe „Güte“ und „Wert“ keine den Gegenständen inhärierenden Bestimmungen, sondern sind auf unsere „gemütsbewegenden“, sie intendierenden Einstellungen zurückzuführen. Existenz und Wahrheit, Güte und Wert werden durch Reflexion aus einem wahren Urteil bzw. einer richtigen Gemütsbewegung gewonnen. Zu sagen, daß ein Ding existiert bzw. gut ist, bedeutet nichts anderes, als daß dieses Ding Gegenstand eines wahren Urteiles bzw. einer richtigen Liebe ist. Brentanos Grundeinteilung der psychischen Phänomene ist durchaus einfach. Brentano und seine engeren Schüler und Enkelschüler (vor allem Anton Marty, Oskar Kraus und Alfred Kastil) blieben ihr treu und traten entschieden gegen jeglichen Versuch ein, die Dreiteilung zu verringern (wie es z. B. der Neukantianer Windelband tat, indem er das Urteil auf die Gemütsbewegung zurückzuführen suchte) oder zu erweitern, im besonderen gegen den Versuch Meinongs, zwischen Vorstellung und Urteil eine weitere Klasse psychischer Phänomenen einzuführen, die der „Annahmen“: Bei diesen ist zwar – wie bei den Urteilen – eine positive bzw. negative Stellungnahme vorhanden, es fehlt aber das Überzeugungsmoment, so daß die Wahrheit bzw. Falschheit des Urteilsinhaltes (des Objektivs) in suspenso bleibt (Meinong, 1902).74 Doch während Brentano im Jahre 1874 die Meinung vertrat, daß sich zwei oder mehrere Vorstellungen untereinander ausschließlich durch den jeweils intendierten Gegenstand unterscheiden, änderte er später seine Meinung und behauptete, daß die Vorstellungen unterschiedliche Modi aufweisen können. Da im Zuge des Reismus nur Reales gedacht werden kann, so müssen all jene Differenzen, die früher im Gegenstand begründet waren (vor allem die Temporaldifferenzen), auf die Seite des psychischen Aktes verlagert werden. Jeder psychische Akt intendiert den Gegenstand als gegenwärtig, vergangen oder als zukünftig; jeder dieser Unterschiede gründet in einem spezifischen „Temporalmodus“ der Vorstellung. Außerdem kann jede Vorstellung modo recto oder modo obliquo erfolgen. Diese beiden Vorstellungsmodi sind dort anzutreffen, wo die Vorstellung ein Relativum zum Gegenstand hat. In solchen Fällen wird das Fundament in recto, der Terminus hingegen in obliquo gedacht.75 Stelle ich mir ein A vor, das größer als B ist, so wird A in recto, B in obliquo vorgestellt. Dies wird für den Intentionsgedanken insofern relevant, als auch der psychisch Tätige ein Relativum 74

Des weiteren lehnte Brentano auch Meinongs und Ehrenfels’ Bemühen ab, auf dem Gebiet der Gemütsbewegungen kategorial zwischen Gefühl und Begehren zu unterscheiden. 75 Vgl. oben, Fßn. 70.

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ist, wenn auch besonderer Art. Stellt man sich einen Blumenliebenden vor, so wird der Liebende in recto, die Blumen hingegen werden lediglich in obliquo vorgestellt. Doch während bei den üblichen Relativen sowohl das Fundament als auch der Terminus existieren müssen, verlangt das psychische Relativum nur die Existenz des Fundaments, nicht aber des Terminus. Mein Farbensehen impliziert nicht, daß außer mir eine Farbe oder ein als autonome und unabhängige Substanz bestehender gefärbter Körper existiert. Dies führt allerdings noch zu keinem Solipsismus oder Skeptizismus. Der Gegenstand ist zwar real, doch nichts im ihn intendierenden psychischen Akt bürgt für seine Existenz. Wie oben schon angesprochen, ist Brentano hierbei abermals ein strikter Aristoteliker: Der psychische Akt stellt das Geschehnis, die Modifikation (im Sinne der alteratio perfectiva) einer Substanz (einer Seele) dar, die als solche durch die Existenz anderer Substanzen nicht bedingt ist. Deshalb ist der psychisch Tätige kein echtes Relativum, sondern lediglich ein „Relativliches“ bzw. ein „Pseudorelativum“. Vor die Alternative gestellt, das Denken (bzw. die „relativliche“ intentio­ nale Beziehung) entweder idealistisch-subjektivistisch zu einer realen Bestimmung des Gedachten oder zu einer realen Bestimmung bzw. Modifikation des Denkenden zu machen, wählt Brentano die zweite Option und behauptet, daß, an eine intentionale Beziehung zu denken, eigentlich heißt, an einen an etwas Denkenden zu denken. Die Aussage „A liebt B“ ist mit der Aussage „A ist ein B-Liebender“ gleichzusetzen; Aussagen wie „Ich sehe eine Farbe“, „Ich urteile, daß p“, „Ich liebe A“ sagen nichts über Farben, p oder X, sondern nur, daß ich ein Farbensehender, ein p-Urteilender, ein A-Liebender bin. Was bringt dieses „neue“ Intentionalitätsmodell mit sich? – Es besagt insbesondere, daß die psychologischen Begriffe in ihrem semantischen Bezug keiner abstakten Entitäten, keiner entia rationis bedürfen. Der Satz „Ich denke an die Schönheit“ beinhaltet nicht die Existenz des vermeintlichen idealen bzw. abstrakten Gegenstandes „Schönheit“, zu dem ich in intentionaler Beziehung stehe, sondern er bedeutet lediglich, daß ich ein an die Schönheit Denkender bin. Die Psychologie beschäftigt sich mit der Art und Weise der Modifizierung der Seele, ganz unabhängig von der Frage, ob diese Modifikation durch äußere Gegenstande verursacht wird, die eventuell die genetische Psychologie angeht. Der Denkgegenstand wird nicht modifiziert, sondern nimmt eine modifizierende Funktion ein: Er wird zu einem adverbial bestimmenden Modus des Subjektes, zu einem bloß mitbedeutenden, synsemantischen Element.

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11.  Die Einheit des Bewußtseins 11.1.  Die Teile des Bewußtseins Brentano begründet in der Evidenz der inneren Wahrnehmung die Wirklichkeit des psychischen Phänomens. Nun versucht er, dieses Ergebnis auf den konkreten Bewußtseinszustand zu übertragen, der sich durch ein komplexes Gewebe, ja durch ein Knäuel an intentionalen – inneren und äußeren – Bezügen auszeichnet. In seinen Untersuchungen über die Einheit des Bewußtseins betritt Brentano eine Ebene der Analyse, die über das rein Psychologisch-Empirische hinausgeht und dabei auch die Ontologie berührt. Die intentionale Bewußtseinsanalyse, wie er sie – trotz Kürze und Bündigkeit – in der Psychologie vom empirischen Standpunkte darlegt, gestaltet sich als Kategorialanalyse der inneren Erfahrung. Diese liefert eine empirische Begründung für die Kategorialanalyse, die Brentano schon in seinen Würzburger Metaphysikvorlesungen entworfen hatte und die er nun wesentlich vertieft. Denn die in den Vorlesungen dargestellte Teil-GanzesLehre wird in der Psychologie an den Gegebenheiten der inneren Wahrnehmung überprüft und weiterentwickelt. Das wesentlich Neue besteht in der Einführung jener Begriffe der „einseitigen“ und „gegenseitigen Unabhängigkeit“, die Brentanos Mereologie entscheidend bereichern. Einheit und Vielheit sind Begriffe, die sich im engeren Sinne ausschließen. So kann weder ein reales Ding aus vielen realen Dingen bestehen, noch können viele reale Dinge ein einziges einheitliches Ding ausmachen. Eine zur Einheit zusammengesetzte Vielheit realer Dinge (z. B. ein Wald) bildet keine wirkliche Einheit, sondern lediglich ein Aggregat, ein „Kollektiv“, wofür die Sprache oft eine Bezeichnung bietet. Sobald man aber die sprachliche von der ontologischen Ebene sondert, wird klar, daß das Kollektiv und seine Teile verschiedene, nicht aufeinander rückführbare Entitäten sind. Wenn auch ein Ding niemals eine Vielheit von Dingen sein kann, so bedeutet dies aber nicht, daß an ihm keine Form von Vielheit unterschieden werden kann. Denn in einem realen einheitlichen Ding können zahlreiche Teile bzw. Aspekte unterschieden werden, die des öfteren mit entsprechenden Namen bezeichnet werden. Doch auch hier wäre es falsch, Sprache und Ontologie zu vermengen und zu glauben, daß dieser Vielheit von Namen eine Vielheit realer, selbständiger Dinge entspricht. Ein reales, einheitliches Ding ist nicht notwendigerweise als einfach zu betrachten, denn Einheit und Einfachheit sind keine austauschbaren Begriffe. Ein reales Ganzes kann also eine Vielzahl von Teilen umfassen, doch muß der Ausdruck „Teil“ dann in einer ganz bestimmten Weise verstanden werden, nämlich im Sinne eines abstrakten, nur begrifflich unterscheidbaren Teiles. Da der Ausdruck „Teil“ auch die Bestandteile eines Kollektivs bezeichnet, schlägt Brentano vor, solche abstrakten Momente als „Divisiva“ zu bezeichnen (PeS I, 175f.).

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Hat man es nun bei einem komplexen Bewußtseinszustand mit einem Kollektiv bzw. Aggregat von selbständigen psychischen Phänomenen zu tun, oder gehören sie als Divisiva einer einheitlichen Realität an? Bildet die Vielheit des konkreten psychischen Lebens eine bloß äußerliche Einheit, ein Kollektiv von realen Dingen, oder vielmehr bloß begrifflich unterscheidbare Aspekte eines einheitlichen Dinges?76 Die Komplexität, die sich im konkreten psychischen Leben zeigt, kann zweifacher Art sein. Sie kann sowohl die verschiedenen Weisen betreffen, in denen man sich auf dasselbe primäre Objekt bezieht, als auch verschiedenartige psychische Akte, die sich auf ebenso viele intentionale Objekte richten. Beide Arten der Komplexität können auch zusammen eintreten; doch wenn keine von beiden in der Lage ist, die reale Einheit des Bewußtseins aufzuheben, so ist dies auch bei ihrem Zusammenspiel nicht möglich. Im folgenden sollen beide Fälle untersucht werden. Was den ersten Fall betrifft, so ist es unmöglich, daß beim Erfassen desselben primären Objekts in mannigfachen intentionalen Einstellungen eine bloße Ansammlung bzw. Überlagerung verschiedener psychischer Phänomene vorhanden ist. Dies wird durch das Fundierungsverhältnis ausgeschlossen, das zwischen den drei Grundklassen psychischer Phänomene besteht. Wird etwas anerkannt oder gefühlt, ist dies nur deshalb möglich, weil der Anerkennungs- bzw. Gefühlsakt auf einem Vorstellungsakt gründet. Es ist also nicht so, daß das Urteilen oder Fühlen zum Vorstellen sozusagen von außen hinzutritt. Man hat es hierbei mit einem viel innigeren Verhältnis zu tun. Der Urteils- bzw. Gefühlsakt wird durch den Vorstellungsakt fundiert, wobei der Vorstellungsgegenstand anerkannt bzw. gefühlt wird. Nur aufgrund dieses Fundierungsverhältnisses, durch den der Vorstellungsakt im Urteils- bzw. Gefühlsakt „eingeschlossen“ ist, kann der Gegenstand der Vorstellung, der bloß neutral präsent ist, als existierend anerkannt bzw. als gut gefühlt werden. Somit steht außer Zweifel, daß Vorstellung und Urteil sowie Vorstellung und Gefühl keine selbständigen psychischen Phänomene sind, sondern Teilaspekte bzw. innere Gliederungen eines einzigen einheitlichen Aktes (ebd., 177f.).77 Größere Schwierigkeiten scheint der zweite oben beschriebene Fall zu bereiten, da mehrere gleichzeitig vorhandene psychische Akte, die auf unterschiedliche primäre Objekte gerichtet sind, sich weder in ihrem Entstehen noch im 76

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„Haben wir bei verwickelteren Seelenzuständen ein Collectiv von Dingen anzunehmen, oder gehört, wie bei den einfachsten, so auch bei den am Meisten zusammengesetzten Zuständen die Gesammtheit der psychischen Erscheinungen einem Dinge an, in welchem wir nur Divisive als Theile zu unterscheiden vermögen?“ Ebd., 176. Auch Lotze zieht den Vergleich zwischen gleichzeitigen psychischen Phänomenen als Argument für die Einheit des Bewußtseins heran. Vgl. z. B. Lotze, 1884-1888, Bd. 1, 184ff.

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Vergehen aneinander gebunden zeigen. So kann beim gleichzeitigen Hören und Sehen der eine Akt aufhören, während der andere weiterhin besteht. Doch auch hier gibt es Argumente für ihre gemeinsame Zugehörigkeit zur selben realen Einheit. Der Ton, den man hört, und die Farbe, die man sieht, kann man miteinander vergleichen und dabei ihre Verschiedenheit erkennen. Wie könnte man eine Vorstellung ihrer Verschiedenheit haben, wenn die Ton- und Farbvorstellung voneinander absolut unabhängig wären? Welcher dieser beiden Vorstellungen müßte man dann die Vorstellung ihrer Verschiedenheit zuschreiben? Weder einer der beiden allein, noch einer dritten, von den beiden ersten verschiedenen Vorstellung. Die Verschiedenheitsvorstellung muß beiden gemeinsam zukommen, nicht aber in kollektiver Weise – denn, wäre es so, müßten ein Blinder und ein Tauber zusammen Farben und Töne vergleichen können –, sondern als Divisiva eines einheitlichen wirklichen Ganzen (PeS I, 177-180). Das Bewußtsein ist also nichts Einfaches und Undifferenziertes, aber auch nicht ein bloßes Bündel von Phänomenen. Jede einzelne psychische Erscheinung ist Teil eines größeren Ganzen, ein Divisivum einer einheitlichen Realität. 11.2.  Ablösbare und distinktionelle Teile Für Brentano bedeutet die Einheit des Bewußtseins nicht reale Identität der gleichzeitigen psychischen Phänomene, sondern lediglich ihre gemeinsame Zugehörigkeit zu einer realen Einheit. Die reale Identität ist die Identität jeder Entität mit sich selbst; doch dies gilt natürlich nicht für die Einheit des Bewußtseinsfeldes. Seine Einheit ist nämlich die eines „Ganzen“, dessen Teile bzw. Divisiva weder mit dem Ganzen noch miteinander real identisch sind. Deshalb tastet der Umstand, daß die divisiven Teile unterschiedliche Arten der Zugehörigkeit zum Ganzen aufweisen, die Einheit des Bewußtseins nicht an. Nur die reale Identität, als absolute Identität, läßt keine Differenzierung zu. Ebenso bereitet es keine Schwierigkeit, daß einige divisive Teile vom jeweiligen Ganzen wirklich ablösbar sind. Nur das real Identische läßt keinerlei Trennung zu. Im Falle des realen Ganzen impliziert die Tatsache, daß ein Teil verschwinden kann, während die anderen fortbestehen, kein Problem. Denn wie die Einheit des Bewußtseins eine Vielheit von Teilen zuläßt, so schließt sie auch eine Mannigfaltigkeit von „ungleichartigen“ Teilen mit ein. Psychische Phänomene verschiedener Art können ohne weiteres gemeinsam in der konkreten Einheit des Bewußtseinsfeldes bestehen (ebd., 180-182, 186). So ist das Verhältnis zwischen gleichzeitigem Sehen und Hören nicht ebenso eng wie jenes zwischen einem Vorstellungsakt und dem dadurch fundierten Urteilsakt. Während Hör- und Sehakt gegenseitig abtrennbar sind, da jeder ohne den anderen fortbestehen kann, ist die Vorstellung vom Urteil nur ein-

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seitig ablösbar, da das Urteil aufhören kann, während die Vorstellung weiterbesteht, nicht aber umgekehrt. Hört der Urteilsakt auf, so kann der anerkannte bzw. verworfene Gegenstand dem Bewußtsein weiterhin vorstellungsmäßig präsent bleiben; hört hingegen die Vorstellung auf, dann wird eo ipso jegliche intentionale Beziehung aufgehoben. Anders ist die Beziehung zwischen psychischem Phänomen und entsprechender innerer Wahrnehmung bzw. zwischen primärem und sekundärem Bewußtsein zu deuten. Während es sich in den bisher dargelegten Fällen um eine wirkliche Ablösbarkeit handelte – da eines der beiden Divisiva aufhören kann zu bestehen, während das andere fortdauert –, kann man hier nur im übertragenen bzw. metaphorischen Sinne von „Abtrennbarkeit“ sprechen. Primäres und sekundäres Bewußtsein stellen zwei verschiedene intentionale Bezüge eines absolut einheitlichen Aktes dar, innerhalb dessen sie nur gedanklich unterschieden werden können. Hier trennt die Analyse begrifflich, was in Wirklichkeit absolut unteilbar ist (ebd., 178, 181f.). Man kann also in verschiedener Hinsicht von „Teilen“ des Bewußtseins sprechen. Es gibt eine Form der Einheit, die die psychischen Akte miteinander verbindet; es gibt aber auch Verbindungsweisen, die in den Akten selbst stattfinden und deren innere Komplexität bestimmen. Hier bereitet Brentano schon jene Unterscheidung zwischen zwei Klassen von Teilen des Bewußtseins vor, die er dann in seiner Deskriptiven Psychologie jeweils als „wirklich ablösbare Teile“ und „distinktionelle Teile“ bezeichnet. Er nimmt also schon das Projekt einer „Psychognosie“ vorweg, die alle möglichen Grundbestandteile unseres Bewußtseins und deren Verbindungsweisen festzustellen sucht. Verlangt die Einheit des Bewußtseins auch die Annahme einer Seelensubstanz als deren Grundlage? Solch ein Substrat anzunehmen heißt natürlich, die psychischen Phänomene als Attribute bzw. Akzidenzien dieses Substrats zu betrachten. Wenn aber die psychischen Phänomene die einzigen bzw. die uns allein zugänglichen Akzidenzien dieses Substrates sind, so ist solch ein Substrat überflüssig. Denn dann würde nicht das Substrat seine Akzidenzien individuieren, sondern eher umgekehrt. Solch ein Substrat einzuführen, hätte also weder eine individuierende noch eine erklärende Funktion. Gerade aus diesem Grund hatte Brentano in seinen Würzburger Metaphysikvorlesungen die herkömmliche Auffassung der Substanz als „Träger“ der Akzidenzien abgelehnt und die traditionelle Kategorienlehre im Rahmen einer Teil-Ganzes-Lehre neu interpretiert. Brentanos Untersuchung der Einheit des Bewußtseins gestaltet sich somit als implizite Kategorialanalyse, die auf empirisch-psychologischer Ebene seine frühere Analyse der „metaphysischen Teile“ neu aufnimmt und weiterentwickelt. Brentano, der am Anfang seiner Psychologie vom empirischen Standpunkte für eine „Psychologie ohne Seele“, eine metaphysikfreie Wissenschaft der psychischen Phänomene eintritt, führt mit seiner Analyse der Einheit des Bewußt-

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seins den Leser ganz geschickt zum Kerngedanken seiner analytischen und deskriptiven Metaphysik. Dies bekräftigt den taktischen Charakter von Brentanos Hauptwerk, das sich auf ein ganz bestimmtes Ziel richtet: durch eine „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ den Grundstein für eine neue „Metaphysik vom empirischen Standpunkt“ zu legen (vgl. Antonelli, 2001, Teil IV, Kap. 9, § 4). Brentano orientiert sich hierbei u. a. an Lotze, der ebenfalls in der Einheit des Bewußtseins die empirische Grundlage für eine neue wissenschaftliche Lehre von der Seele und ihrer Unsterblichkeit erblickt hatte. Der Übergang zur Metaphysik hätte – wie mehrfach angesprochen – im geplanten sechsten Buch der Psychologie stattfinden sollen, das die Frage nach dem Fortbestand des psychischen Lebens nach dem Verfall des Leibes hätte behandeln sollen. Die Grundlage für die Behandlung dieses Problems bereitet Brentano im Kapitel über die Einheit des Bewußtseins vor. Hier wirft er die Frage auf, ob die Einheit des Bewußtseins nur die gegenwärtigen psychischen Phänomene umfaßt oder ob sie auch die vergangenen Akte miteinschließt; ob es also möglich ist, von der Einheit des Bewußtseins zur Identität des Selbst zu gelangen, d. h. zu einer Einheit, die auch das in der Zeit verstreute psychisch Mannigfaltige verbindet. Denn die innere Wahrnehmung bürgt lediglich für die Einheit der psychischen Phänomene, die in der Gegenwart simultan auftreten. Gehört „unser früheres Leben“ derselben realen Einheit an, die unsere gegenwärtigen psychischen Phänomene umfaßt, oder reduziert sich das, was wir unser „Ich“ nennen, auf eine Reihe voneinander getrennter Episoden, die keinen wirklichen Konnex aufweisen? Um diese Frage zu beantworten, ist vor allem die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses zu prüfen. Was uns das Gedächtnis unmittelbar zeigt, ist eine Kette zeitlich verstreuter psychischer Phänomene, von denen jedes zuvor mit anderen Phänomenen eine reale Gruppe bildete. Diese Gruppen von Erscheinungen sind zwar voneinander getrennt, neigen aber dazu, sich zu einer kontinuierlichen Reihe zusammenzuschließen, die nur hier und da durch Lücken unterbrochen wird. Teilweise ist es bei längerem Besinnen sogar möglich, diese Lücken zu füllen. Unter den einzelnen Gruppen besteht außerdem zumeist eine Verwandtschaft. Ihre Unterschiede weisen einen derart infinitesimalen Charakter auf, daß es ganz natürlich erscheint, diesen Komplex von Erscheinungen als eine kontinuierliche Kette aufzufassen, deren letztes Glied jene einheitliche Gruppe von Phänomenen bildet, die man in diesem Moment in der inneren Erfahrung erfaßt. Man bezeichnet diese Kette auch als „unsere Vergangenheit“ und schreibt demselben Ich sowohl die jetzigen als auch die vergangenen psychischen Phänomene zu. Doch die Annahme eines Ichs, das als fortwährendes Substrat des Bewußtseinsstroms fungiert, ist ebenso unberechtigt wie die These eines Trägers unserer jetzigen psychischen Phänomene. In diesem Fall kann man nicht einmal von

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einer realen Einheit sprechen wie derjenigen, welche unsere gegenwärtigen psychischen Erscheinungen umfaßt. Die gegenwärtigen Erinnerungsakte gehören zwar zur selben realen Einheit, die auch unsere anderen gegenwärtigen psychischen Phänomene verbindet, doch dies gilt nicht für die durch diese Erinnerungsakte erfaßten vergangenen psychischen Erscheinungen. An letzteren ist die evidente innere Wahrnehmung nicht beteiligt, so daß man sich lediglich auf das Gedächtnis verlassen kann, das bekanntlich nicht evident ist und mannigfachen Täuschungen unterliegen kann (PeS I, 186-188). Die Frage nach dem Fortbestand des psychischen Lebens bleibt somit offen. Die psychologische Analyse kann hierauf keine endgültige Antwort geben, sondern nur plausible Lösungsmodelle vorschlagen. Zu diesen gehört auch eine biologische Deutung des Ich, vorausgesetzt daß diese nicht atomistisch aufgefaßt wird. Es würde darum z. B. unseren Auseinandersetzungen nicht widerstreiten, wenn einer glaubte, dass das Ich ein körperliches Organ sei, welches fortwährendem Stoffwechsel unterliegt, wenn er nur annimmt, dass die Eindrücke, die es erfahre, auf die Weise, in welcher es sich erneuere, von Einfluss seien, dass also, ähnlich wie die Wunde die Narbe hinterlässt, auch das frühere psychische Erlebnis nachwirkend eine Spur von sich und in ihr die Möglichkeit einer Erinnerung daran vererbe. Die Einheit des Ich in seinem früheren und späteren Bestande wäre dann keine andere als die eines Flusses, in welchem die eine Woge der anderen Woge folgt und ihre Bewegung nachbildet (ebd., 188).

11.3.  Das Leib-Seele-Problem Dies ist jedoch ein Lösungsvorschlag, der mit dem Geist der Philosophie Brentanos überhaupt nicht in Einklang zu bringen ist. Brentano beabsichtigte, die „Frage, ob der Fortbestand des Ich das Beharren ein und desselben einheitlichen Dinges oder etwa eine Aufeinanderfolge verschiedener Dinge sei, von welchen nur das eine an das andere sich anschliesst und sozusagen an seine Stelle tritt“ (ebd., 188f.), und die damit eng verbundene Unsterblichkeitsproblematik im geplanten abschließenden Buch der Psychologie vom empirischen Standpunkte zu behandeln. Es bleibt zwar offen, wie Brentano im einzelnen diese Thematik angehen wollte, doch läßt sich seine Strategie anhand seiner Psychologievorlesungen der Würzburger und frühen Wiener Zeit nachvollziehen,78 da diese Vorlesungen eine Struktur aufweisen, die im wesentlichen dem geplanten Aufbau der Psychologie vom empirischen Standpunkte entspricht. 78 Ms. Ps 62: Für das Psychologie-Kolleg 1872/73; Ms. Ps 64: Plan für das Psychlogie-Kolleg 1876. Vgl. dazu Ms. LS 22: Unsterblichkeit (1875/76).

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Ich habe den Stoff in zwei Teile geteilt: [I.] Von den psychischen Phänomenen und ihren Gesetzen, II. Von dem Substrat der psychischen Phänomene und der Unsterblichkeit der Seele. Der letzte zerfiel in einen allgemeinen und einen besonderen Teil. Und heute erst habe ich den allgemeinen, der 1. den Unterschied der psychischen und physischen Phänomene, 2. das innere Bewußtsein und die Einheit der Bewußtsein überhaupt und 3. die Klassifikation der psychischen Phänomen umfaßt, zu Ende geführt.79

Nach den ersten weitgehend metaphysikfreien Büchern sollte also auch die Psy­ chologie vom empirischen Standpunkte im abschließenden Teil den Seelenbegriff als „Substrat der psychischen Phänomene“ wieder zur Geltung kommen lassen und unter Zuhilfenahme eines Teil-Ganzes-Modells die Unsterblichkeitsproblematik behandeln. Dies unterstreicht nochmals den methodologischen Charakter von Brentanos Bestimmung der Psychologie als „Wissenschaft der psychischen Phänomene“, da sie eine weitere metaphysische Untersuchung über den Seelenund Substanzbegriff überhaupt nicht ausschließt, sondern sogar dessen Voraussetzungen schafft. Auch bei der Untersuchung über die Unsterblichkeit wird das Verfahren ein deductives sein, und die Deduction auf allgemeine Thatsachen sich stützen, die in früheren Erörterungen inductiv festgestellt wurden. Die Forschung [...] wird offenbar einen in mancher Beziehung neuen Charakter annehmen müssen. Sie wird einerseits nicht umhin können, auf einige Gesetze der Metaphysik, mehr als es sonst eine phänomenale Psychologie thut, Rücksicht zu nehmen; und andererseits wird auch von den Ergebnissen der Physiologie hier mehr noch als in den früheren Untersuchungen Anwendung zu machen sein. [...] Ob es uns freilich möglich sein wird, durch Induction auf psychischem Gebiete allgemeine Thatsachen zu finden, welche für eine Deduction zur Entscheidung der Unsterblichkeitsfrage die Prämissen liefern; ob wir nicht genöthigt sein werden, so tief in die Metaphysik einzugehen, dass der sichere Pfad in unbestimmten, haltlosen Träumereien sich verliert; ob nicht auch die Thatsachen, welche wir der Physiologie zu entlehnen haben, bei dem jetzigen Zustande dieser Wissenschaft, auf allzuwenig Vertrauen Anspruch machen können: – das sind Fragen, die wohl nicht mit Unrecht aufgeworfen werden dürften, über die aber hier zu entscheiden nicht des Ortes ist (PeS I, 90).

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Brentano an Stumpf, 23.6.1871, in: Brentano, 1989, 21. Vgl. Stumpf, 1919, 135f.: „Psychologie tritt zum erstenmal im Sommer 1871 unter den Vorlesungsgegenständen auf. Brentano teilte sie damals in zwei Hauptabschnitte: 1. von den psychischen Phänomenen und ihren Gesetzen, 2. Vom Substrat der psychischen Phänomenen und der Unsterblichkeit der Seele.“

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Aus den Psychologievorlesungen geht allerdings hervor, daß Brentano in den 70er Jahren noch dem in seiner Habilitationsschrift vertretenen Aristotelischen Modell verhaftet ist: Nicht nur der Mensch setzt sich aus den „physischen Teilen“ Leib und Seele zusammen; auch die Seele besteht aus zwei „physischen Teilen“, nämlich aus einem sensitiven, den die Menschenseele mit der Tierseele gemeinsam hat, und aus einem intellektiven Teil, der für das begriffliche Denken und die darauf aufbauenden urteilenden und begehrenden Funktionen zuständig ist (vgl. Antonelli, 2001, Teil I, Kap. 3.2, § 6; Münch, 1995/96). Schon oberflächliche Betrachtung zeigt den grandiosen Unterschied zwischen der psychischen Begabung des Menschen und der Thiere. Die nähere psychologische Analyse aber zeigt als die Wurzel des Unterschieds den Besitz und Mangel der abstracten Begriffe, woran sich der der höhern Urtheile und Phänomene von Liebe und Hass knüpft. Grösse der Kluft. 1000 Sinne würden keinen so grossen Abstand bilden. So sind hier die Materialisten völlig im Unrecht. Im Recht dagegen sind sie auf dem physischen Gebiete. Allein gerade hieraus folgt dann das Gegentheil von dem, was sie folgern wollten. Die höhern psychischen Phänomene des Menschen gehören zu einem physischen Theil für sich. Dieser ist übersinnlich, nicht erzeugt, unmittelbar aus nichts geschaffen, unvergänglich, wenn er nicht etwa durch Vernichtung untergeht. Und gegen sie schützen die allgemeinsten und darum schlechthin ausnahmslosen kosmologischen Gesetze. So ist die Unsterblichkeit des Menschen seinem edelsten Theile nach gesichert (Ms. Ps 62, Bl. 54012).

Von dieser Lösung des Leib-Seele-Problems und der Unsterblichkeitsfrage wird sich der spätere „Cartesianer“ Brentano, der schließlich die Aristotelische und somit auch die eigene frühere Position als „Semimaterialismus“ abstempelt (Brentano, 1954, 223ff.), vollkommen abwenden, und zwar gerade weil „sie gegen die gesicherte Tatsache der Einheit des Bewußtseins“ verstößt (ebd., 224). Denn für Brentano steht fest: „Allen psychischen Tätigkeiten, die in die gleichzeitige innere Wahrnehmung fallen, sinnlichen und unsinnlichen, muß dasselbe letzteinheitliche Subjekt zugrunde liegen. Die Einheit des Bewußtseins schließt den Semimaterialismus des Aristoteles aus.“ (Ebd., 228) Die ontologischen Schwierigkeiten, die zur Zeit der Psychologie vom empirischen Standpunkte mit dem Leib-Seele-Problem zusammenhängen und Brentanos Stellung zur Unsterblichkeitsfrage noch unausgereift erscheinen lassen, sind wohl der Hauptgrund dafür, weshalb Brentano sein ehrgeiziges, im Vorwort des Hauptwerkes angekündigtes Vorhaben nicht zu Ende führte und schließlich aufgab.80 80

Teile dieser Einleitung sind aus Antonelli, 2000 und Antonelli, 2001 entnommen. Ich bedanke mich bei Johann Christian Marek und Thomas Binder für sprachliche Korrekturen.

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Mauro antonelli

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Editorische Vorbemerkung Wie schon in der Vorbemerkung der Herausgeber zur Gesamtedition erwähnt, kommt es bereits in diesem ersten Band zu einer gewissen Überschneidung von Texten, da die 1911 publizierte Klassifikation der psychischen Phänomene eine Neuauflage der Kapitel 5 bis 9 des II. Buches der Psychologie vom empirischen Standpunkte von 1874 darstellt. Im Fall der Klassifikation gibt es aber sachliche Gründe, den Text vollständig ein weiteres mal abzudrucken, die über das bloße editorische Prinzip, alle von Brentano selbst herausgegeben Schriften zu edieren, hinausgehen. Brentanos Psychologie ist zur Zeit vor allem in der 1924 und 1925 von Oskar Kraus besorgten 2-bändigen Ausgabe bekannt, die 1973 bzw. 1971 von Meiner unverändert wiederabgedruckt wurde. Diese Edition folgt der ursprünglichen Idee Brentanos, ein umfassendes mehrbändiges Werk über die Psychologie als Wissenschaft zu verfassen, wie er es 1874 skizziert hatte. Kraus publizierte daher aus dem Nachlass Brentanos auch noch einen dritten Band der Psychologie unter dem Titel Vom sinnlichen und noetischen Bewusstsein (1928). Diesem Konzept folgend spricht Kraus im Vorwort zur Klassifikation von der „zweiten Abteilung“ der Psychologie Brentanos, die dieser 1911 noch selbst besorgt habe. Damit erklärte Kraus die Ergänzung von 1911 gleichsam zur „Fortsetzung“ eines fast 30 Jahre früher begonnenen Projektes. Bei der Lektüre von Brentanos eigenem Vorwort von 1911 ergibt sich jedoch ein anderer Eindruck. Brentano äußert sich dort distanziert zur Idee eines umfassenden Lehr- und Handbuches, das sich „die Darstellung einer wissenschaftlichen Disziplin als ganzes zur Aufgabe“ macht, wie es sein ursprünglicher Plan gewesen sein mag. Vielmehr seien es Monographien, welche einzelnen Problemen gewidmet sind, die am meisten zum Fortschritt der Wissenschaft beizutragen pflegen. Vor dem Hintergrund eines „noch immer wachsenden Interesses“ an seinen Untersuchungen zur Klassifikation der psychischen Phänomene nimmt Brentano nun die Übersetzung der entsprechenden Kapitel seiner Psy­ chologie ins Italienische als Anlass, diese auch dem deutschen Publikum in der Form einer Monographie vorzulegen. Diese sollte zwei Aufgaben erfüllen: Zum einen Brentanos Ansichten in der Form wiederzugeben, in der sie ursprünglich gewirkt hatten; zum anderen aber auch die nicht unwichtigen Fortbildungen und „berichtigenden Modifikationen“ seiner Ansichten darzulegen. Die erste Aufgabe erfüllt in der Klassifikation der fast unveränderte Abdruck von fünf Kapiteln aus dem zweiten Buch der Psychologie; um das zweite Ziel zu erreichen, 

Franz Brentano: La classificazione delle attività psichiche. Übers. v. M. Puglisi. Lanciano: R. Carraba 1913, 21931. In dieser Übersetzung fehlt das 1. Kapitel der Klassifikation, wogegen der Anhang berücksichtigt wurde.

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Editorische Vorbemerkung

fügte Brentano zusätzliche Anmerkungen und vor allem einen umfangreichen Anhang hinzu. Folgt man dieser Darlegung von Brentanos Intentionen, so gelangt man eher zu der Auffassung, dass es sich bei der Klassifikation um eine eigenständige Monographie handeln sollte, als um den zweiten Band eines umfassenderen Werkes. Diese Überlegungen lassen es als legitim erscheinen, gegen die editorische Ökonomie zu verstoßen und beide Werke getrennt vollständig und in ihrer ursprünglichen Form zu publizieren. Aufgrund ihrer engen Zusammengehörigkeit wurden sie dennoch in einem Band vereinigt. Die Texte werden unverändert in der jeweiligen Rechtschreibung abgedruckt. Es wurden in der Regel keine Versuche gemacht, die Schreibung von Namen und die Zitierweise zu vereinheitlichen; nur wenn die innerhalb eines Werkes verwendete Schreibweise nicht konsistent war (z. B. „Leibnitz“ und Leibniz“ in der Klassifikation), wurde auf die häufiger verwendete Schreibweise vereinheitlicht. Zur Verbesserung der Lesbarkeit wurden die innerhalb von doppelten Anführungszeichen verwendeten doppelten Anführungszeichen durchgehend in einfache umgewandelt. Sämtliche Sperrungen der Originaltexte wurden in Kursivierungen umgewandelt. Die Fußnoten wurden insofern vereinheitlicht, als es nun für jedes Werk durchgehend nummerierte Fußnoten gibt, wobei der Anhang der Klassifikation als eigenständiges Werk behandelt wird. Die in der Klassifikation fehlenden Kopfzeilen wurden nach dem Muster der Psychologie ergänzt. Einige fehlerhafte Stellen der Klassifikation wurden stillschweigend korrigiert: i) eine Textauslassung im letzten Satz des ersten Absatzes auf Seite 319 („Wirkung, also ein physiologisches oder, wenn man will, psychophysisches Phänomen“) wurde nach der Ausgabe von 1874 eingefügt; ii) die Verweise in Fußnote 29, die sich irrtümlich auf die Psychologie von 1874 anstatt auf die Klas­ sifikation beziehen, wurden entsprechend angepasst; und iii) Fußnote 98 wurde in einer Weise emendiert, die verdeutlicht, dass es sich bei der gesamten Textpassage von „drehen“ bis „untergelegt“ um ein Zitat aus Herbarts Lehrbuch zur Psy­ chologie handelt. An jenen Stellen der Klassifikation, an denen Brentano auf die weiteren Bücher der Psychologie verweist, ohne zu erwähnen, dass diese nicht zum Druck gelangten, wurde dieser Hinweis ergänzt. Alle Seiten- und Fußnotenverweise wurden selbstverständlich an die vorliegende Ausgabe angepasst. Die Herausgeber

Psychologie vom empirischen Standpunkte von

Dr. Franz Brentano O. Ö. Professor der Philosophie an der K. K. Universität zu Wien.

In zwei Baenden.

Erster Band.

Vorwort. Die Aufschrift, die ich meinem Werke gegeben, kennzeichnet dasselbe nach Gegenstand und Methode. Mein Standpunkt in der Psychologie ist der empirische; die Erfahrung allein gilt mir als Lehrmeisterin: aber mit Anderen theile ich die Ueberzeugung, dass eine gewisse ideale Anschauung mit einem solchen Standpunkte wohl vereinbar ist. Näher wird sich die Weise, wie ich die Methode der Psychologie auffasse, in dem ersten der sechs Bücher zu erkennen geben, in welche das Werk zerfällt. Dieses Buch bespricht die Psychologie als Wissenschaft, das nächste die psychischen Phänomene im Allgemeinen; und ihnen werden der Reihe nach folgen ein Buch, welches die Eigenthümlichkeiten und Gesetze der Vorstellungen, ein anderes, welches die der Urtheile und wieder eines, welches die der Gemüthsbewegungen und des Willens im Besonderen untersucht. Das letzte Buch endlich soll von der Verbindung unseres psychischen mit unserem physischen Organismus handeln, und dort werden wir uns auch mit der Frage beschäftigen, ob ein Fortbestand des psychischen Lebens nach dem Zerfalle des Leibes denkbar sei. So umfasst der Plan des Werkes die verschiedenen Hauptgebiete der Psychologie sämmtlich. Seine Absicht ist aber nicht die, ein Compendium der Psychologie zu sein, obwohl es Klarheit und Fasslichkeit auch für einen weiteren Kreis derjenigen, die sich für philosophische Forschungen interessiren, anstrebt. Es verweilt oft bei der einzelnen Frage mit nicht geringer Ausführlichkeit und ist nicht so sehr auf Vollständigkeit im Ausbau als auf Sicherheit in der Grundlage bedacht. Dabei mag es geschehen, dass Manchem meine Sorgfalt übertrieben und lästig scheint. Aber ich höre diesen Vorwurf lieber als den, dass ich meine Behauptungen nicht genug zu rechtfertigen mich bemüht habe. Nicht sowohl Vielheit und Allseitigkeit in den Lehrsätzen als Einheit in der Ueberzeugung ist, was auf psychischem Gebiet uns zunächst Noth thut. Wir müssen hier das zu gewinnen trachten, was die Mathematik, Physik, Chemie und Physiologie, die eine früher, die andere später, schon erreicht haben; einen Kern allgemein anerkannter Wahrheit, an welchen dann bald, durch das Zusammenwirken vieler Kräfte, von allen Seiten her neue Krystalle anschiessen werden. An die Stelle der Psychologieen müssen wir eine Psychologie zu setzen suchen. Auch eine specifisch nationale Psychologie – und wenn es sogar eine deutsche wäre – darf es so wenig geben, als es eine specifisch deutsche Wahrheit



Vorwort.

gibt. Und darum habe ich in meinem Werke die hervorragenden Leistungen der modernen englischen Philosophen nicht minder als die der deutschen berücksichtigt. Durch Compromisse freilich nach den verschiedenen Seiten hin wäre der Wissenschaft schlecht gedient. Sie würden der Einheit und Uebereinstimmung der Lehrenden die Einheit und Einheitlichkeit der Lehre in sich selbst zum Opfer bringen. Auch hat nie etwas Anderes mehr als der Eklekticismus zu einer Zersplitterung der philosophischen Ansichten geführt. Wie auf dem Gebiete der Politik, so ist auf dem der Wissenschaft eine Einigung ohne Krieg kaum durchführbar; nur soll es sich freilich bei den wissenschaftlichen Kämpfen am Allerwenigsten darum handeln, dass die Meinung dieses oder jenes Forschers, sondern nur darum, dass die Wahrheit siege. Keine Herrschbegier, sondern das Verlangen nach gemeinsamer Unterordnung unter die eine Wahrheit soll dazu treiben. Wenn ich darum rücksichtslos darauf ausging, die Ansichten Anderer zu widerlegen und zu beseitigen, wo immer ich sie als irrig zu erkennen glaubte: so werde ich es doch auch gerne und dankbar annehmen, wenn ich statt dessen meinerseits von ihnen eine Berichtigung erfahre. Wenn man aber findet, dass gerade die angesehensten Forscher, wie Mill und Bain, Fechner, Lotze, Helmholtz und andere in diesen oder den noch folgenden Untersuchungen häufiger oder nachdrücklicher bekämpft werden: so möge man darin nicht ein Streben erkennen, ihr Verdienst herabzusetzen, oder die Macht ihrer Einwirkung zu schwächen; im Gegentheile ist es ein Zeichen, dass, wie Andere, auch ich ihren Einfluss in besonderem Maasse erfahren habe und, nicht bloss wo ich ihre Lehre annahm, sondern auch da wo ich zur Bestreitung ihrer Ansicht geführt wurde, mich durch sie gefördert fühlte. Wie ich, so wünschte ich darum, dass auch Andere aus der eingehenden Prüfung derselben Gewinn ziehen möchten. Manchmal allerdings wird sich meine Polemik gegen Meinungen wenden, denen ich in sich selbst kein so hohes Interesse zugestehen kann. Und was mich dazu trieb, auch auf sie weitläufiger einzugehen, waren nur eine ungebührliche Verbreitung und ein beklagenswerther Einfluss, welchen sie gegenwärtig auf ein Publicum gewonnen haben, das in Sachen der Psychologie weniger noch als anderwärts auf wissenschaftliche Strenge Anspruch zu machen gelernt hat. Mehr als einmal wird man finden, dass ich bisher unerhörte Behauptungen aufstellte. Doch wird man, glaube ich, in jedem Falle sich auch leicht überzeugen, dass Neuerungssucht nicht im Geringsten dabei betheiligt war.

Vorwort.



Im Gegentheile wich ich nur ungern, aber durch die überwiegende und, für mich wenigstens, überwältigende Macht der Gründe genöthigt, hin und wieder in solcher Weise von allen hergebrachten Auffassungen ab. Indessen wird man selbst da, wo ich am Meisten als Neuerer auftrete, gewöhnlich bei näherer Betrachtung erkennen, dass meine Ansicht, wenigstens von der einen oder anderen Seite her, schon angebahnt war. Ich habe nicht unterlassen, auf solche Vorbereitungen hinzuweisen, und auch dann, wenn sich meine Anschauung ohne jeden Zusammenhang mit einer früheren, ihr ähnlichen entwickelt hatte, versäumte ich nicht dieser Erwähnung zu thun, weil es mir nicht darauf ankam, als der Erfinder einer neuen, sondern als der Vertreter einer wahren und gesicherten Lehre zu erscheinen. Wenn sich uns aber die seitherigen Annahmen zuweilen nur als die Anbahnung einer richtigeren Lehre erweisen werden: so kann, was ich gebe, natürlich auch nicht mehr sein, als eine schwache Vorbereitung künftiger Leistungen von grösserer Vollkommenheit. Eine Philosophie, die sich in unseren Tagen für einen Augenblick das Ansehen eines Abschlusses aller Wissenschaft zu geben wusste, wurde sehr bald, nicht als unübertrefflich, wohl aber als unverbesserlich erkannt. Jede wissenschaftliche Lehre, die keine weitere Entfaltung zu vollkommenerem Leben zulässt, ist ein todtgeborenes Kind. Die Psychologie aber insbesondere ist gegenwärtig in einem Zustande, bei welchem diejenigen eine geringere Kenntniss von ihr verrathen, welche viel in ihr zu wissen behaupten, als jene, welche mit Sokrates bekennen: „ich weiss nur Eines; nämlich – dass ich nichts weiss.“ Doch die Wahrheit liegt in keinem der Extreme. Es sind Anfänge einer wissenschaftlichen Psychologie vorhanden, unscheinbar in sich selbst, aber sichere Zeichen für die Möglichkeit einer volleren Entwickelung, die, wenn auch späten Geschlechtern, einst reiche Früchte bringen wird. Aschaffenburg, am 7. März 1874.

Inhaltsverzeichniss. Erstes, einleitendes Buch. Von der Psychologie als Wissenschaft. Erstes Capitel. Ueber Begriff und Aufgabe der psychischen Wissenschaft �� �� �� �� �  19 §. 1. Definition der Psychologie als der Wissenschaft von der Seele ����  19 §. 2. Definition der Psychologie als der Wissenschaft von den psychischen Phänomenen ������������������������������������������������������  24 §. 3. Eigenthümlicher Werth der Psychologie ����������������������������������  35

Zweites Capitel. Ueber die Methode der Psychologie, insbesondere die Erfahrung, welche für sie die Grundlage bildet  �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  43 §. 1. Besonderes Interesse, welches sich an die Betrachtung der Methode der Psychologie knüpft ��������������������������������������������  43 §. 2. Die innere Wahrnehmung als Quelle psychologischer Erfahrung. Sie darf nicht mit innerer Beobachtung verwechselt werden  ��������������������������������������������������������������  44 §. 3. Betrachtung früherer psychischer Phänomene im Gedächtnisse ����  49 §. 4. Indirecte Erkenntniss fremder psychischer Phänomene aus ihren Aeusserungen  �������������������������������������������������������������������  51 §. 5. Studium eines Seelenlebens, das einfacher als das unserige ist  ����  55 §. 6. Betrachtung krankhaften Seelenlebens  ������������������������������������  56 §. 7. Studium hervorragender Thatsachen im Leben Einzelner wie in dem der Völker  ����������������������������������������������������������������  57

Drittes Capitel. Fortsetzung der Untersuchungen über die Methode der Psychologie. Von der Induction der höchsten psychischen Gesetze ���������������������  59 §. 1. Die inductive Feststellung der allgemeinsten Eigenthümlichkeiten setzt nicht die Erkenntniss der mittleren Gesetzte voraus �����������������������������������������������������������  59



Inhaltsverzeichniss.

§. 2. Unentbehrlichkeit einer Bestimmung der Grundclassen der psychischen Erscheinungen. Umstände, die sie möglich machen und erleichtern  �������������������������������������������������������������  59 §. 3. Eine der ersten und allgemein wichtigsten Untersuchungen ist die über die psychischen Elemente �����������������������������������������  60 §. 4. Die höchsten Gesetze der Succession psychischer Phänomene, zu welchen die Induction aus innerer Erfahrung führt, sind streng genommen empirische Gesetze �����������������������������������������  61 §. 5. Ueber den Versuch von Horwicz, die Psychologie auf Physiologie zu gründen ���������������������������������������������������������������  63 §. 6. Ueber die Gründe, um derentwillen Maudsley die Erforschung der psychischen Phänomene nur auf physiologischem Wege für möglich hält �������������������������������������  69 §. 7. Ob es bei dem gegenwärtigen Stande der Physiologie räthlich sei, auf Grund ihrer Data eine Rückführung der Succession psychischer Phänomene auf eigentliche Grundgesetze anzustreben? �������������������������������������������������������������������������������  80

Viertes Capitel. Fortsetzung der Untersuchungen über die Methode der Psychologie. Ungenauigkeit ihrer höchsten Gesetze. Deduction und Verification  �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  82 §. 1. Ohne die Messung der Intensität der psychischen Phänomene können exacte Gesetze ihrer Aufeinanderfolge nicht gefunden werden ���������������������������������������������������������������������������������������  82 §. 2. Ueber die Versuche von Herbart und Fechner Maassbestimmungen dafür zu finden �����������������������������������������  83 §. 3. Von der Ableitung besonderer Gesetze der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen mittels der deductiven und der sogenannten umgekehrten deductiven Methode �������������������������  88 §. 4. Von dem Verfahren, welches bei der Untersuchung über die Unsterblichkeit einzuhalten ist ���������������������������������������������������  91

Inhaltsverzeichniss.



Zweites Buch. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen. Erstes Capitel. Von dem Unterschiede der psychischen und physischen Phänomene �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  95 §. 1. Nothwendigkeit eingehender Untersuchung der Frage ���������������  95 §. 2. Erläuterung des Unterschiedes durch Beispiele ���������������������������  96 §. 3. Die psychischen Phänomene sind Vorstellungen oder haben Vor­stellungen zur Grundlage  �����������������������������������������������������  97 §. 4. Bestimmung der psychischen Phänomene durch den Mangel der Ausdehnung, Widerspruch, der sich gegen diese Bestimmung erhebt  �����������������������������������������������������������������  103 §. 5. Charakteristisch für die psychischen Phänomene ist die Beziehung auf ein Object ���������������������������������������������������������  106 §. 6. Psychische Phänomene können nur durch inneres Bewusstsein wahrgenommen werden; für physische ist nur äussere Wahrnehmung möglich  �����������������������������������������������  108 §. 7. Physische Phänomene können nur phänomenal, psychische auch in Wirklichkeit existiren ���������������������������������������������������  109 §. 8. Ob, und in welchem Sinne etwa, es richtig sei, dass von psychischen Phänomenen immer nur eines nach dem anderen, von physischen viele zugleich bestehen �����������������������  111 §. 9. Rückblick auf die Begriffsbestimmungen der physischen und psychischen Wissenschaft ���������������������������������������������������������  114

Zweites Capitel. Vom inneren Bewusstsein �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  118 §. 1. In welchem Sinne wir uns des Wortes „Bewusstsein“ bedienen �����������������������������������������������������������������������������������  118 §. 2. Gibt es ein unbewusstes Bewusstsein? Uneinigkeit der Philo­ sophen. Scheinbare Unmöglichkeit, die Frage zu entscheiden ������  119 §. 3. Vier Wege, auf welchen der Nachweis eines unbewussten Bewusstseins versucht werden kann  �����������������������������������������  122

10

Inhaltsverzeichniss.

§. 4. Versuche durch Schluss von der Wirkung auf die Ursache die Existenz eines unbewussten Bewusstseins darzuthun und ihr Misslingen �������������������������������������������������������������������������������  123 §. 5. Versuche durch Schluss von der Ursache auf die Wirkung dasselbe zu erreichen. Auch sie erweisen sich als ungenügend ���  134 §. 6. Versuch, welcher sich auf ein functionelles Verhältniss zwischen dem bewussten psychischen Phänomene und dem darauf bezüglichen Bewusstsein stützt. So weit ein solches erkennbar ist, spricht es vielmehr gegen die Annahme  �������������  137 §. 7. Versuch, welcher sich darauf stützt, dass die Annahme, jedes psychische Phänomen sei Object eines psychischen Phänomens, zu einer unendlichen Verwickelung führe �������������  139 §. 8. Vorstellung und Vorstellung von der Vorstellung sind in ein und demselben Acte gegeben  ���������������������������������������������������  144 §. 9. Warum keine innere Beobachtung möglich sei, und warum die Annahme, jedes psychische Phänomen sei bewusst, zu keiner unendlichen Verwickelung führe �����������������������������������  146 §. 10. Bestätigung des Gesagten durch das übereinstimmende Zeugniss verschiedener Psychologen �����������������������������������������  149 §. 11. Warum man gemeiniglich glaubt, die begleitende Vorstellung sei mit der begleiteten von gleicher Intensität ���������������������������  152 §. 12. Einwand, der sich auf die Wahrnehmung des Nichthörens stützt, und Lösung des Einwandes  �������������������������������������������  153 §. 13. Es gibt keine unbewusste psychische Thätigkeit  �����������������������  155

Drittes Capitel. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein �� �� �� �� �� �� �� �  157 §. 1. Mit den psychischen Acten ist oft ein darauf bezügliches Urtheil verbunden  �������������������������������������������������������������������  157 §. 2. Die begleitende innere Erkenntniss ist in dem begleiteten Acte selbst beschlossen �������������������������������������������������������������  157 §. 3. Das begleitende innere Urtheil zeigt nicht eine Zusammensetzung aus Subject und Prädicat �����������������������������  160 §. 4. Jeder psychische Act wird innerlich wahrgenommen �����������������  161

Inhaltsverzeichniss.

11

§. 5. Häufig besteht in uns ausser der Vorstellung und Erkenntniss noch eine dritte Art von Bewusstsein des psychischen Actes, ein Gefühl, das sich auf ihn bezieht und ebenfalls in ihm selbst enthalten ist  �������������������������������������������������������������������  163 §. 6. Auch diese Art des inneren Bewusstseins begleitet ausnahmslos alle unsere psychischen Thätigkeiten ��������������������  166 §. 7. Rückblick auf die Ergebnisse der beiden letzten Capitel �����������  173

Viertes Capitel. Von der Einheit des Bewusstseins �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  175 §. 1. Stellung der Frage ���������������������������������������������������������������������  175 §. 2. Unsere gleichzeitigen psychischen Thätigkeiten gehören sämmtlich zu einer realen Einheit ���������������������������������������������  177 §. 3. Was besagt die Einheit des Bewusstseins, und was besagt sie nicht? ���������������������������������������������������������������������������������������  182 §. 4. Die Einwände von C. Ludwig und A. Lange gegen die Einheit des Bewusstseins und gegen den Beweis, der uns dieser Thatsachen versichert �����������������������������������������������������  188

Fünftes Capitel. Ueberblick über die vorzüglichsten Versuche einer Classification der psychischen Phänomene �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  197 §. 1. Platon’s Unterscheidung eines begierlichen, zornmutigen und vernünftigen Seelentheiles  �������������������������������������������������������  197 §. 2. Die Grundeintheilungen der psychischen Phänomene bei Aristoteles ���������������������������������������������������������������������������������  199 §. 3. Nachwirkungen der Aristotelischen Classificationen. Wolff. Hume. Reid. Brown �����������������������������������������������������������������  201 §. 4. Die Dreitheilung in Vorstellung, Gefühl und Begehren. Tetens. Mendelssohn. Kant. Hamilton. Lotze. Welches war das eigentlich maassgebende Princip? ���������������������������������������  202 §. 5. Annahme der drei Glieder der Eintheilung von Seiten der Herbart’schen Schule  ���������������������������������������������������������������  211 §. 6. Die Eintheilungen von Bain �����������������������������������������������������  212

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Inhaltsverzeichniss.

§. 7. Rückblick auf die zum Behuf einer Grundeintheilung angewandten Principien �����������������������������������������������������������  214

Sechstes Capitel. Eintheilung der Seelenthätigkeiten in Vorstellungen, Urtheile und Phänomene der Liebe und des Hasses �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  215 §. 1. Verwerfung der Grundeintheilungen, die nicht aus dem Studium der psychischen Erscheinungen hervorgehen  �������������  215 §. 2. Eine Grundeintheilung, welche die verschiedene Weise der Beziehung zum immanenten Objecte zum Principe nimmt, ist gegenwärtig jeder anderen vorzuziehen  �������������������������������  216 §. 3. Die drei natürlichen Grundclassen sind: Vorstellungen, Urtheile und Phänomene der Liebe und des Hasses �����������������  218 §. 4. Welches Verfahren zur Rechtfertigung und Begründung dieser Eintheilung einzuschlagen sei �����������������������������������������  221

Siebentes Capitel. Vorstellung und Urtheil zwei verschiedene Grundclassen �� �� �� �� �  223 §. 1. Zeugniss der inneren Erfahrung �����������������������������������������������  223 §. 2. Der Unterschied zwischen Vorstellung und Urtheil ist ein Unterschied in den Thätigkeiten selbst �������������������������������������  223 §. 3. Er ist kein Unterschied der Intensität ���������������������������������������  226 §. 4. Er ist kein Unterschied des Inhaltes  �����������������������������������������  227 §. 5. Es ist nicht richtig, dass die Verbindung von Subject und Prädicat oder eine andere derartige Combination zum Wesen des Ur­theils gehört. Dies zeigt erstens die Betrachtung des affirmativen und negativem Existenzialsatzes; ���������������������������  230 §. 6. zweitens bestätigt es sich im Hinblicke auf die Wahrnehmungen, und insbesondere auf die Bedingungen der ersten Wahrnehmungen; �����������������������������������������������������������  232 §. 7. drittens ergibt es sich aus der Rückführbarkeit aller Aussagen auf Existenzialsätze �������������������������������������������������������������������  233

Inhaltsverzeichniss.

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§. 8. Es bleibt hienach nichts übrig, als die Eigenthümlichkeit des Urtheils in der besonderen Beziehungsweise auf seinen Inhalt zu erkennen �����������������������������������������������������������������������������  241 §. 9. Alle Eigenthümlichkeiten, die anderwärts den fundamentalen Unterschied in der Weise der Beziehung zum Gegenstande kennzeichnen, finden sich auch in unserem Falle  ���������������������  242 §. 10. Rückblick auf die dreifache Weise der Begründung  �����������������  245 §. 11. Die irrige Auffassung des Verhältnisses von Vorstellung und Ur­theil wurde dadurch veranlasst, dass in jedem Acte des Bewusstseins eine Erkenntniss beschlossen ist ���������������������������  246 §. 12. Dazu kamen sprachliche Gründe der Täu­schung: einmal die gemeinsame Bezeichnung als Denken; �������������������������������������  248 §. 13. dann der Ausdruck in Sätzen  ���������������������������������������������������  248 §. 14. Folgen der Verkennung der Natur des Urtheils für die Metaphysik, �����������������������������������������������������������������������������  249 §. 15. für die Logik, ���������������������������������������������������������������������������  251 §. 16. für die Psychologie �������������������������������������������������������������������  253

Achtes Capitel. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  255 §. 1. Die innere Erfahrung lehrt die Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen; einmal, indem sie uns mittlere Zustände zeigt, durch welche zwischen ihnen ein allmäliger, continuirlicher Uebergang gebildet wird; ���������������������������������  255 §. 2. dann, indem sie uns den übereinstimmenden Charakter ihrer Beziehungen auf den Inhalt erkennen lässt �������������������������������  258 §. 3. Nachweis, dass jedes Wollen und Begehren auf etwas als gut oder schlecht gerichtet ist. Die Philosophen aller Zeiten sind darin einig  �������������������������������������������������������������������������������  260 §. 4. Nachweis, dass hinsichtlich der Gefühle dasselbe gilt ���������������  261 §. 5. Charakter der Classenunterschiede innerhalb des Gebietes von Gefühl und Willen: Definirbarkeit mit Hülfe der zu Grunde liegenden Phänomene; �������������������������������������������������  267

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Inhaltsverzeichniss.

§. 6. untergeordnete Verschiedenheiten der Bezie­hungsweise zum Objecte �������������������������������������������������������������������������������������  269 §. 7. Keine von den Eigenthümlichkeiten, welche in anderen Fällen die fundamentale Verschieden­heit in der Weise der Beziehung zum Gegenstande kennzeichnen, charakterisirt den Unterschied von Gefühl und Willen  ���������������������������������  271 §. 8. Rückblick auf die vorangegangene dreifache Erörterung �����������  275 §. 9. Die vornehmsten Ursachen, welche die Täuschung über das Verhältniss von Gefühl und Willen veranlassten, waren folgende: Erstens die besondere Vereinigung des inneren Bewusstseins mit seinem Objecte war leicht mit einer besonderen Weise des Bewusstseins zu verwechseln  �����������������  276 §. 10. Zweitens setzt das Wollen eine aus dem Vermö­gen der Liebe unableitbare Fähigkeit des Wirkens voraus �������������������������������  277 §. 11. Dazu kam ein sprachlicher Anlass: die ungeeig­nete Bezeichnung der gemeinsamen Classe mit dem Namen Begehren ���������������������������������������������������������������������  280 §. 12. Auch förderte die Verkennung des Verhältnisses von Vorstellung und Urtheil die Täuschung über jenes von Gefühl und Willen. Beziehung der drei Ideen des Schönen, Wahren und Guten zu den drei Grundclassen ���������������������������������������  280

Neuntes Capitel. Vergleich der drei Grundclassen mit dem dreifachen Phänomene des inneren Bewusstseins. Bestimmung ihrer natürlichen Ordnung �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  286 §. 1. Je eines der drei Momente des inneren Bewusst­seins entspricht einer der drei Classen der psychischen Phänomene �������������������  286 §. 2. Die natürliche Ordnung der drei Grundclassen ist diese: erstens Vorstellung, zweitens Urtheil, drittens Liebe �����������������  287

Psychologie. Erster Band.

Erstes, einleitendes Buch. Von der Psychologie als Wissenschaft.

Erstes Capitel. Ueber Begriff und Aufgabe der psychischen Wissenschaft. Was im Anfang, wohlbekannt und offenbar, für das Verborgne die Erklärung schien, und was später, vor Anderem geheimnissvoll, Staunen und Wissbegier erweckte; woran die grossen Denker des Alterthums am Meisten mit Eifer sich abmühten, und worüber Eintracht und Klarheit noch heute am Wenigsten erzielt sind: das sind die Erscheinungen, die auch ich wieder forschend betrachtete, und von deren Eigenthümlichkeiten und Gesetzen ich hier, in allgemeinen Zügen, ein berichtigtes Bild zu geben suche. Kein Zweig des Wissens hat geringere Früchte für Natur und Leben getragen, und keiner ist, von welchem wesentlichere Bedürfnisse ihre Befriedigung hoffen. Kein Theil ist – die Metaphysik allein ausgenommen –, auf welchen die Mehrzahl mit grösserer Verachtung zu blicken pflegt, und keiner doch ist, welcher von Einzelnen so hoch und werth gehalten wird. Ja das gesammte Reich der Wahrheit würde Manchem arm und verächtlich scheinen, wenn es nicht auch dieses Gebiet mitzuumfassen bestimmt wäre; und alles andere Wissen glaubt er vorzüglich darum ehren zu sollen, weil es zu diesem Wissen die Wege bahnt. Andere Wissenschaften sind in der That der Unterbau: diese gleicht dem krönenden Abschlusse. Alle bereiten sie vor; von allen hängt sie ab. Aber auf alle soll sie auch wieder ihrerseits die kräftigste Rückwirkung üben. Das ganze Leben der Menschheit soll sie erneuern; den Fortschritt beschleunigen und sichern. Und wenn sie darum einerseits wie die Zinne am thurmartigen Gebäude der Wissenschaft erscheint, so hat sie andererseits die Aufgabe, Grundlage der Gesellschaft und ihrer edelsten Güter, und somit auch Grundlage aller Bestrebungen der Forscher zu werden. §. 1.   Der Namen Psychologie besagt: Wissenschaft von der Seele. Wirklich gab Aristoteles, der zuerst die Wissenschaft gliederte und besondere Zweige in besonderen Schriften darlegte, einem seiner Werke die Ueberschrift: περὶ ψυχῆς. Er verstand unter Seele die Natur oder, wie er sich mit Vorliebe ausdrückte, die Form, die erste Wirklichkeit, die erste Vollendung eines Leben

Die griechischen Ausdrücke sind: φύσις, μορφή, πρώτη ἐνέργεια, πρώτη ἐντελέχεια.

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Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft.

digen. Lebendig aber nannte er das, was sich nährt, wächst und zeugt, und empfindend und denkend sich bethätigt, oder auch nur zu irgend einer von diesen Leistungen fähig ist. Weit davon entfernt, einer Pflanze Bewusstsein zuzuschreiben, erklärte er doch auch das Pflanzenreich für lebendig und beseelt. Und so behandelt denn das älteste psychologische Werk nach Feststellung des Begriffs der Seele die allgemeinsten Eigenthümlichkeiten, die sowohl in Bezug auf die vegetativen wie in Bezug auf die sensitiven und intellectiven Bethätigungen den Dingen, die an diesen Theil haben, zukommen. Das war der Kreis der Fragen, den die Psychologie ursprünglich umschloss. Später hat sich ihr Gebiet wesentlich verengt. Von den vegetativen Thätigkeiten sprach der Psychologe nicht mehr. Das ganze Reich der Pflanzen, wenn anders hier das Bewusstsein fehlt, gehörte nicht mehr in die Grenzen seiner Forschung, und auch das Reich der animalischen Wesen, so weit diese, wie Pflanze und unorganischer Körper, Gegenstand äusserer Wahrnehmung sind, lag ihm ausserhalb seiner Sphäre. Dies galt auch da noch, wo solche Erscheinungen in nächste Beziehung zum sensitiven Leben treten, wie dies bei dem System der Nerven und Muskeln der Fall ist. Nicht der Psychologe, der Physiologe war es, dem von nun an die Untersuchung darüber zufiel. Die Beschränkung war keine willkürliche. Im Gegentheil, sie erscheint als eine offenbare Berichtigung, geboten durch die Natur der Sache selbst. Denn nur dann sind ja die Grenzlinien der Wissenschaften richtig gezogen, und nur dann ist ihre Eintheilung dem Fortschritte der Erkenntniss dienlich, wenn das Verwandtere verbunden, das minder Verwandte getrennt wurde. Und verwandt in vorzüglichem Maasse sind die Erscheinungen des Bewusstseins. Dieselbe Weise der Wahrnehmung gibt uns von ihnen allen Kenntniss, und höhere und niedere sind durch zahlreiche Analogien einander nahe gerückt. Was aber die äussere Wahrnehmung uns von den lebenden Wesen zeigt, das sehen wir, wie von einer andern Seite, so auch in einer ganz anderen Gestalt, und die allgemeinen Thatsachen, welche wir hier finden, sind theils dieselben, theils ähnliche Gesetze wie die, welche wir die unorganische Natur beherrschen sehen. Man könnte auch nicht ohne Grund sagen, dass Aristoteles selbst bereits eine Andeutung der neueren und berichtigten Umgrenzung der Psychologie gegeben habe. Und wer ihn kennt, der weiss, wie häufig sich bei ihm mit der Darlegung einer minder vorgeschrittenen Lehre solche Ansätze zu einer abweichenden und richtigeren Anschauung verbinden. Sowohl seine Metaphysik als auch seine Logik und Ethik liefern dafür Belege. Im dritten Buche von der Seele also, da wo er von der willkürlichen Bewegung handelt,

Capitel 1. Begriff und Aufgabe.

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entschlägt er sich der Forschung nach den vermittelnden Organen zwischen dem Begehren und dem Gliede auf dessen Bewegung das Begehren gerichtet ist. Denn diese aufzusuchen, sagt er, indem er ganz wie ein moderner Psychologe spricht, sei nicht Sache dessen, der über die Seele, sondern dessen, der über den Leib forsche. Doch dies nur ganz im Vorübergehen, um vielleicht den einen oder andern der begeisterten Anhänger, die Aristoteles auch noch in unsern Tagen zählt, leichter zu überzeugen. Wir sahen, wie das Gebiet der Psychologie sich enger zusammenzog. Gleichzeitig aber verengte sich der Begriff des Lebens, oder, wenn nicht dieser – denn gerade die Männer der Wissenschaft gebrauchen das Wort noch meist in dem alten, weiten Sinne –, so doch jedenfalls der Begriff der Seele in ziemlich analoger Weise. Unter Seele versteht nämlich der neuere Sprachgebrauch den substantiellen Träger von Vorstellungen und andern Eigenschaften, welche ebenso wie die Vorstellungen nur durch innere Erfahrung unmittelbar wahrnehmbar sind, und für welche Vorstellungen die Grundlage bilden; also den substantiellen Träger einer Empfindung z. B., einer Phantasie, eines Gedächtniss­ actes, eines Actes von Hoffnung oder Furcht, von Begierde oder Abscheu pflegt man Seele zu nennen. Auch wir gebrauchen den Namen Seele in diesem Sinne. Und es scheint darum nichts im Wege zu stehen, wenn wir, trotz der veränderten Fassung, den Begriff der Psychologie auch heute noch mit den gleichen Worten wie einst Aristoteles bestimmen, indem wir sagen, sie sei die Wissenschaft von der Seele. Aehnlich wie die Naturwissenschaft, welche die Eigenthümlichkeiten und Gesetze der Körper, auf die unsere äussere Erfahrung sich bezieht, zu erforschen hat, erscheint dann sie als die Wissenschaft, welche die Eigen­thüm­lich­keiten und Gesetze der Seele kennen lehrt, die wir in uns selbst unmittelbar durch innere Erfahrung finden und durch Analogie auch in Andern erschliessen. So scheinen bei dieser Fassung die beiden genannten Wissenszweige das Gebiet der allgemeinen Erfahrungswissenschaften gänzlich unter sich zu theilen und in scharfer Grenze sich von einander zu sondern. Dennoch ist das Erste wenigstens nicht der Fall. Es gibt Thatsachen, welche auf dem Gebiete der äussern und innern Erfahrung in gleicher Weise nachweisbar sind. Und diese umfassenderen Gesetze werden, gerade wegen ihres weiten Umfanges, weder dem Gegenstande der Naturwissenschaft noch 

De Anim. III, 10. p. 433, b, 21.

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Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft.

dem der Psychologie eigenthümlich sein. Indem sie mit gleichem Rechte der einen wie der andern Wissenschaft zugehören, zeigt es sich, dass sie vielmehr zu keiner von beiden zu rechnen sind. Auch sind sie zahlreich und bedeutend genug, um für sich einen besondern Zweig der Forschung zu beschäftigen, und dieser Zweig ist es, den wir als Metaphysik von Naturwissenschaft und psychischer Wissenschaft zu unterscheiden haben. Aber auch die Sonderung der beiden minder allgemeinen unter den drei grossen Wissensgebieten ist keine vollständige. Wie anderwärts, wo zwei Wissenschaften sich berühren, so kann es auch hier an Grenzfragen zwischen Natur- und psychischer Wissenschaft nicht fehlen. Denn die Thatsachen, welche der Physiologe, und diejenigen, welche der Psychologe betrachtet, stehen, bei aller Verschiedenheit des Charakters, doch in der innigsten Wechselbeziehung. Zu ein und derselben Gruppe finden wir physische und psychische Eigenschaften verbunden. Und nicht bloss werden physische Zustände von physischen, psychische von psychischen hervorgerufen, sondern auch physische haben psychische und psychische physische zur Folge. Manche haben eine eigene Wissenschaft unterschieden, welche sich mit diesen Fragen zu beschäftigen habe. So insbesondere Fechner, welcher dieses Gebiet des Wissens Psychophysik und das von ihm dafür aufgestellte, berühmt gewordene Grundgesetz das „psycho-physische Grundgesetz“ genannt hat. Andere haben der minder glücklichen Bezeichnung „physiologische Psychologie“ den Vorzug gegeben. Hiedurch wäre den Grenzstreitigkeiten zwischen Psychologie und Physiologie ein Ende gemacht. Aber würden nicht neue und zahlreichere zwischen Psychologie und Psychophysik einerseits, und Psychophysik und Physiologie andererseits an die Stelle treten? – Oder ist es nicht offenbar Sache des Psychologen, die ersten Elemente der psychischen Erscheinungen zu bestimmen? – und doch wird auch dem Psychophysiker ihre Erforschung zufallen, denn physische Reize sind es, welche die Empfindungen hervorrufen. Und ist es nicht Aufgabe des Physiologen, die Erscheinungen der willkürlich erregten wie der Reflexbewegungen rückwärts hinauf an fortlaufender Kette 

So neuerdings Wundt in dem bedeutenden Werke: Grundzüge der Physiologischen Psychologie, Leipzig 1873. Wenn auch nicht hier, so könnte doch anderwärts der Ausdruck in der Art missverstanden werden, dass man „physiologisch“ auf die Methode bezöge. Denn wir werden bald hören, wie Manche die gesammte Psychologie auf physiologische Untersuchungen gründen wollten. (Vgl. auch Hagen, Psychol. Studien, Braunschweig 1847. S. 7.)

Capitel 1. Begriff und Aufgabe.

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bis zum Ursprunge hin zu verfolgen? – und doch wird auch der Psychophysiker die erste physische Folge der psychischen Ursache zu suchen haben. Nehmen wir darum lieber an der Nothwendigkeit gegenseitiger Eingriffe zwischen Physiologie und Psychologie keinen Anstoss. Sie werden nicht grösser sein als die, welche wir z. B. auch zwischen Physik und Chemie bemerken. Sie beweisen nichts gegen die Richtigkeit der vollzogenen Grenzbestimmung, sondern deuten nur an, dass, wie jede andere, auch noch so gute Eintheilung der Wissenschaften, auch diese etwas Künstliches an sich hat. Es wird auch keineswegs nöthig werden, die ganze Reihe der sogenannten psychophysischen Fragen nunmehr doppelt, d. h. sowohl in Psychologie als Physiologie zu behandeln. Es wird sich bei jeder einzelnen leicht zeigen lassen, auf welchem Gebiete die wesentliche Schwierigkeit liegt, mit deren Lösung die Lösung der Frage selbst so gut wie gegeben ist. So wird es z. B. jedenfalls Sache des Psychologen sein, die ersten durch physischen Reiz hervorgerufenen psychischen Phänomene zu ermitteln, wenn er auch dabei eines Blickes auf physiologische Thatsachen nicht wird entbehren können. Und ebenso wird er bei der willkürlichen Bewegung des Leibes das letzte und unmittelbare psychische Antecedens für die daran geknüpfte Kette physischer Veränderungen zu bestimmen haben. Dem Physiologen dagegen wird die Aufgabe zufallen, der letzten und unmittelbaren physischen Ursache der Empfindung nachzuforschen, obwohl er dabei natürlich auch auf die psychische Erscheinung blicken muss. Und wiederum wird von ihm, bei der Bewegung durch psychische Ursachen, die erste und nächste Wirkung auf physiologischem Gebiete festzustellen sein. Was den Nachweis des Steigerungsverhältnisses beim Wachsen von physischen und psychischen Ursachen und Folgen, die Erforschung des s. g. psychophysischen Grundgesetzes, betrifft, so scheint mir die Aufgabe in zwei zu zerfallen, deren eine dem Physiologen zukommt, während die andere Sache des Psychologen ist. Die erste ist die, zu bestimmen, welche relative Unterschiede in der Stärke der physischen Reize den kleinsten merklichen Unterschieden in der Stärke der psychischen Erscheinungen entsprechen. Die zweite aber die, zu erforschen, welches das Verhältniss dieser kleinsten merklichen Unterschiede zu einander sei. – Aber ist auf die letzte Frage die Antwort nicht gleich von vorn herein einleuchtend? Ist es nicht klar, dass alle kleinsten merklichen Unterschiede einander gleich zu setzen sind? – Man hat dies allgemein angenommen, und noch Wundt argumentirt in seiner Physiologischen Psychologie (S. 295) also: „Ein solcher eben merklicher Intensitätsunterschied ist ... ein psychischer Werth von constanter Grösse. Denn

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Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft.

wäre ein eben merklicher Unterschied grösser oder kleiner als ein anderer, so wäre er grösser oder kleiner als eben merklich, was ein Widerspruch ist.“ Wundt bemerkt nicht, dass sein Beweis ein Cirkelschluss ist. Wenn einer bezweifelt, dass alle eben merklichen Unterschiede einander gleich seien, so gilt ihm das eben-merklich-Sein nicht mehr als charakteristische Eigen­thüm­ lich­keit eines constanten Grössenmaasses. Richtig und a priori einleuchtend ist nur, dass alle eben merklichen Unterschiede gleichmerklich, nicht aber, dass sie gleich sind. Es müsste denn jeder gleiche Zuwachs gleichmerklich, und darum auch jeder gleichmerkliche Zuwachs gleich sein. Das aber bleibt zunächst zu untersuchen, und diese Untersuchung, die, da es sich um Gesetze vergleichender Beurtheilung handelt, dem Psychologen zufällt, dürfte ein ganz anderes als das erwartete Ergebniss liefern. Wird doch die phänomenale Ortsveränderung der Mondscheibe nah am Horizont eher merklich, als wenn er hoch am Himmel schwebt, obwohl sie in beiden Fällen gleich ist in gleichen Zeiten. Die erste Aufgabe dagegen ist ohne Zweifel Sache des Physiologen. Physische Beobachtungen sind es, die hier in grösster Ausdehnung zur Anwendung kommen. Und gewiss war es nicht zufällig, wenn wir einem Physiologen ersten Ranges, wie E. H. Weber, die erste Anbahnung und einem philosophisch gebildeten Physiker, wie Fechner, die Feststellung des Gesetzes in erweitertem Umfange zu danken hatten. So scheint denn die oben gegebene Begriffsbestimmung der Psychologie gerechtfertigt, und ihre Stellung zu den ihr nächstliegenden Wissenschaften klar geworden. §. 2.   Dennoch erklären nicht alle Psychologen sich damit einverstanden, wenn einer im oben angegebenen Sinne sagt, die Psychologie sei die Wissenschaft von der Seele. Vielmehr bestimmen sie dieselbe als die Wissen­ schaft von den psychischen Phänomenen. Und sie stellen dabei die Psychologie mit ihrer Schwesterwissenschaft auf gleiche Stufe. Auch die Naturwissenschaft, behaupten sie, dürfe nicht als die Wissenschaft von den Körpern, sondern sie müsse als die Wissenschaft von den physischen Phänomenen definirt werden. Machen wir uns den Grund dieses Widerspruches klar. 

Dem entsprechend sagt Fechner: „Von der Physik entlehnt die äussere Psychophysik Hülfsmittel und Methode; die innere lehnt sich vielmehr an die Physiologie und Anatomie namentlich des Nervensystems.“ (Psychoph. I. S. 11.) Und wiederum sagt er in der Vorrede (S. X.), „dass diese Schrift hauptsächlich Physiologen interessiren dürfte, indess sie zugleich Philosophen zu interessiren wünscht.“

Capitel 1. Begriff und Aufgabe.

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Was will man, wenn man sagt: Wissenschaft von den physischen, Wissenschaft von den psychischen Phänomenen? Phänomen, Erscheinung, wird oft im Gegensatze zu dem wahrhaft und wirklich Seienden gebraucht. So sagen wir, die Gegenstände unserer Sinne, so wie die Empfindung sie uns zeige, seien blosse Phänomene; Farbe und Schall und Wärme und Geschmack seien nicht ausser unserer Empfindung wahrhaft und wirklich bestehend, wenn sie auch auf wahrhaft und wirklich Bestehendes hindeuten. John Locke machte bereits einen Versuch, indem er, die eine Hand erwärmt, die andere abgekühlt, beide zugleich in ein und dasselbe Wasserbecken tauchte. Er empfand Wärme an der einen, Kälte an der andern Hand und bewies daraus, dass beide nicht wahrhaft in dem Wasser beständen. Bekannt ist ebenso, dass ein Druck auf das Auge dieselben Lichterscheinungen erwecken kann, wie die Strahlen, die von einem s. g. farbigen Gegenstande ausgehen. Und auch in Bezug auf Ortsbestimmtheiten ist es leicht in ähnlicher Weise den des Irr­thums zu überführen, der sie so, wie sie erscheinen, für wahr und wirklich nehmen will. Verschiedene örtliche Bestimmtheiten erscheinen gleich in gleicher Entfernung und gleiche erscheinen in verschiedener Entfernung verschieden. Und hiemit hängt es zusammen, wenn bald Bewegung als Ruhe, bald umgekehrt Ruhe als Bewegung sich zeigt. Es liegt demnach für die Gegenstände der Sinnesempfindung der volle Beweis ihrer Falschheit vor. Wenn er aber auch nicht so klar erbracht werden könnte, so müsste man dennoch an ihrer Wahrheit zweifeln, da so lange keine Bürgschaft für sie gegeben wäre, als die Annahme, es bestehe in Wirklichkeit eine Welt, welche unsere Empfindungen hervorrufe und mit dem, was uns in ihnen erscheine, gewisse Analogien zeige, zur Erklärung der Erscheinungen genügen würde. Also von den Gegenständen der s. g. äussern Wahrnehmung haben wir kein Recht zu glauben, dass sie so, wie sie uns erscheinen, auch in Wahrheit bestehen. Ja sie bestehen nachweisbar nicht ausser uns. Sie sind im Gegensatze zu dem, was wahrhaft und wirklich ist, blosse Phänomene. Aber was von den Gegenständen der äussern Erfahrung, kann nicht in gleicher Weise von denen der inneren gesagt werden. Bei dieser hat nicht bloss keiner gezeigt, dass, wer ihre Erscheinungen für Wahrheit nähme, in Widersprüche sich verwickelte, sondern wir haben sogar von ihrem Bestande jene klarste Erkenntniss und jene vollste Gewissheit, welche von der unmittelbaren Einsicht gegeben werden. Und desshalb kann eigentlich Niemand zweifeln, ob der psychische Zustand, den er in sich wahrnehme, sei, und ob er so sei, wie er ihn wahrnehme. Wer hier noch zu zweifeln vermöchte, der würde zu einem vollendeten Zweifel gelangen, zu einem Skepticismus, der

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Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft.

freilich sich selbst aufhöbe, indem er auch jeden festen Punkt, von dem aus er seinen Angriff auf die Erkenntniss versuchen könnte, zerstört hätte. Nicht also, um in dieser Hinsicht Natur- und psychische Wissenschaft einander gleich zu stellen, kann man vernünftiger Weise verlangen, dass man die Psychologie als die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen bestimme. Ein ganz anderer Gedanken ist es denn auch, welcher gemeiniglich diejenigen leitet, die eine solche Begriffsbestimmung befürworten. Sie leugnen nicht, dass Denken und Wollen wahrhaft bestehen. Und sie gebrauchen den Ausdruck psychische Phänomene oder psychische Erscheinungen als vollkommen gleichbedeutend mit psychischen Zuständen, Vorgängen und Ereignissen, wie sie uns die innere Wahrnehmung zeigt. Aber dennoch bezieht sich auch bei ihnen der Widerspruch gegen die ältere Begriffsbe­ stimmung darauf, dass in dieser die Grenzen der Erkenntniss verkannt wer­ den. Wenn einer sagt, die Naturwissenschaft sei die Wissenschaft von den Körpern, und unter Körper eine Substanz versteht, welche auf die Sinnes­ organe wirkend die Vorstellung von physischen Phänomenen* hervorbringe, so nimmt er an, dass den äussern Erscheinungen Substanzen als Ursachen zu Grunde liegen. Und wenn einer sagt, die Psychologie sei die Wissenschaft von der Seele, und mit dem Namen Seele den substantiellen Träger psychischer Zustände bezeichnet, so spricht er darin die Ueberzeugung aus, dass die psychischen Erscheinungen als Eigenschaften einer Substanz zu betrachten seien. Aber was berechtigt zur Annahme solcher Substanzen? – Ein Gegenstand der Erfahrung, sagt man, sind sie nicht. Weder die Empfindung zeigt uns eine Substanz, noch die innere Wahrnehmung. Wie uns dort die Phänomene von Wärme, Farbe und Schall begegnen, so bieten sich uns hier die Erscheinungen des Denkens, Fühlens, Wollens dar. Ein Wesen, dem sie als Eigenschaften anhafteten, bemerken wir nicht. Es ist eine Fiction, der keinerlei Wirklichkeit entspricht, oder für die, wenn ihr sogar ein Bestehen zukäme, es auf jeden Fall nicht nachweisbar sein würde. So ist sie offenbar kein Gegenstand der Wissenschaft. Und weder die Naturwissenschaft darf als die Wissenschaft von den Körpern, noch die Psychologie als 

Kant allerdings hatte dies gethan, und es war dies ein Fehler, der schon oft, namentlich auch von Ueberweg in seinem System der Logik, gerügt worden ist. * Im Text des Originals heißt es an dieser Stelle „von psychischen Phänomenen“. Da es sich hierbei wohl um einen Druckfehler handelt, folgen die Herausgeber der Korrektur von O. Kraus, der in seiner Ausgabe der Psychologie vom empirischen Standpunkt (Leipzig 1924/25) in den „Berichtigungen“ am Ende des 1. Bandes hier „psychisch“ durch „physisch“ ersetzt.

Capitel 1. Begriff und Aufgabe.

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die Wissenschaft von der Seele bestimmt werden, sondern jene wird bloss als die Wissenschaft von den physischen, und diese, in ähnlicher Weise, als die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen zu fassen sein. Eine Seele gibt es nicht, wenigstens nicht für uns; eine Psychologie kann und soll es nichtsdestoweniger geben; aber – um den paradoxen Ausdruck von Albert Lange zu gebrauchen – eine Psychologie ohne Seele. Wir sehen, der Gedanken ist nicht so unmittelbar absurd, wie das Wort ihn erscheinen lässt. Die Psychologie bleibt auch nach dieser Ansicht nicht ohne ein weites Feld der Untersuchung. Dies macht schon ein Blick auf die Naturwissenschaft deutlich. Denn alle Thatsachen und Gesetze, welche dieser Zweig der Forschung nach der Anschauung derjenigen betrachtet, welchen sie als die Wissenschaft von den Körpern gilt, wird sie auch nach der Ansicht derer zu untersuchen haben, welche sie nur als die Wissenschaft von den physischen Phänomenen anerkennen wollen. Wirklich thun dies gegenwärtig viele und bedeutende Naturforscher, welche vermöge der bemerkenswerthen Strömung, die jetzt Philosophie und Naturwissenschaft einander näher führt, über philosophische Fragen sich eine Meinung gebildet haben. Sie beschränken aber dadurch in nichts den Umfang des naturwissenschaftlichen Gebietes. Die Gesetze der Coexistenz und der Succession, die es nach Andern umfasst, fallen auch nach ihnen noch sämmtlich in sein Bereich. Aehnlich wird es sich denn auch in Betreff der Psychologie verhalten. Auch die Erscheinungen, welche uns die innere Erfahrung bietet, unterliegen Gesetzen. Das erkennt jeder an, der sich mit psychologischen Untersuchungen wissenschaftlich befasst hat, und auch der Laie findet es leicht und schnell in der eigenen Erfahrung bestätigt. Diese Gesetze von Coexistenz und Succession psychischer Erscheinungen bleiben auch nach dem, welcher der Psychologie die Erkenntniss einer Seele abspricht, Gegenstand ihrer Forschung. Und hiemit ist ihr ein weites Reich von bedeutenden Aufgaben zugewiesen, von denen die allermeisten noch der Lösung harren. J. St. Mill, einer der entschiedensten und einflussreichsten Vertreter dieser Ansicht, hat, um die Psychologie, wie er sie sich denkt, besser anschaulich zu machen, in seiner Logik der Geisteswissenschaften einen Ueberblick über die Fragen, mit denen sie sich zu beschäftigen habe, gegeben.  

Gesch. d. Materialismus 1. Aufl. S. 465. „Also nur ruhig eine Psychologie ohne Seele angenommen! Es ist doch der Name noch brauchbar, so lange es hier irgend etwas zu thun gibt, was nicht von einer andern Wissenschaft vollständig mitbesorgt wird.“ Deductive u. inductive Logik, B. VI. c. 4 §. 3.

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Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft.

Als allgemeine Aufgabe der Psychologie bezeichnet er die Erforschung der Gesetze der Aufeinanderfolge unserer psychischen Zustände, d. h. der Gesetze, nach welchen der eine von ihnen den andern erzeuge. Von diesen Gesetzen seien einige allgemein, andere speciell. Allgemein z. B. sei das Gesetz, dass jeder psychische Eindruck, gleichviel durch welche Ursache gegeben, zur Folge habe, dass eine ihm ähnliche, wenn auch minder lebendige, Erscheinung in Abwesenheit der zuerst erregenden Ursache hervorgebracht werden könne. Jeder Eindruck, sagt er in der Sprache von Hume, hat eine Idee. Eben so seien es gewisse allgemeine Gesetze, welche das wirkliche Eintreten einer solchen Idee bestimmten. Und er nennt drei solche „Gesetze der Ideenassociation“: erstens das Gesetz der Similarität, „dass sich ähnliche Ideen einander zu erregen suchen“; dann das Gesetz der Contiguität, „dass, wenn zwei psychische Erscheinungen häufig in Verbindung mit einander erfahren worden sind, sei es gleichzeitig oder auch in unmittelbarer Folge, und die eine oder die Idee der einen Erscheinung, wiederkehrt, sie die der andern zu erregen sucht“; endlich das Gesetz der Intensität, „dass grössere Lebendigkeit in dem einen oder in den beiden Eindrücken in Bezug auf gegenseitige Erregung gleichbedeutend mit häufigerer Verhindung ist.“ Aus diesen allgemeinen und elementaren Gesetzen der psychischen Erscheinungen ist es nach Mill die weitere Aufgabe der Psychologie, speciellere und complicirtere Gesetze des Denkens abzuleiten. Da oft mehrere psychische Phänomene zusammenwirken, sagt er, so erhebe sich die Frage, ob jeder solche Fall ein Fall der Zusammensetzung von Ursachen sei oder nicht; d. h. ob Folgen und Vorbedingungen sich überall so verhalten, wie auf dem Gebiete der Mechanik, wenn Bewegung aus Bewegungen resultirt, den Ursachen homogen und gewissermassen als ihre Summe; oder ob das psychische Gebiet auch Fälle zeige, ähnlich dem Processe chemischer Mischung, wo an dem Wasser nichts von den Eigenthümlichkeiten des Sauerstoffs und Wasserstoffs, an dem Zinnober nichts von den besondern Eigenschaften des Quecksilbers und Schwefels gefunden wird. St. Mill selbst hält es für erwiesen, dass Fälle von beiderlei Art auf dem Gebiete der innern Erscheinungen eintreten. Zuweilen sei ein Process dem mechanischen, zuweilen aber dem chemischen Zusammenwirken analog. Denn es komme vor, dass mehrere Vorstellungen in der Art zu einer verschmelzen, dass sie nicht mehr als viele 

Die Empfindungen sind zwar auch psychische Zustände. Allein offenbar ist ihre Aufeinanderfolge dieselbe wie die der in ihnen vorgestellten physischen Phänomene. Und für diese, so weit sie von der physischen Reizung der Sinnesorgane abhängt, hat der Naturforscher die Gesetze festzustellen.

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sondern als eine einzige und ganz anders geartete Vorstellung erscheinen. So entwickele sich z. B. die Vorstellung der Ausdehnung und des Raums mit drei Dimensionen aus den Empfindungen des Muskelsinns. Hieran knüpfen sich nun eine Reihe neuer Untersuchungen. Insbesondere wird es sich fragen, ob der Zustand des Glaubens, und ebenso, ob der Zustand des Begehrens ein Fall von psychischer Chemie, ein Ergebniss verschmelzender Vorstellungen sei. Vielleicht, meint Mill, sei diese Frage zu verneinen. Wie sie aber auch immer etwa affirmativ entschieden werde, jedenfalls sei sicher, dass sich hier ganz andere Gebiete eröffnen. Und so ergebe sich denn die neue Aufgabe, die Gesetze der Succession dieser Phänomene, seien sie nun aus psychisch-chemischen Processen hervorgegangen oder nicht, auf Grund besonderer Beobachtungen zu ermitteln. In Betreff des Glaubens werde zu erforschen sein, welchen Glauben wir unmittelbar haben; und weiter, nach welchen Gesetzen ein Glauben den andern erzeuge; und nach welchen Gesetzen eine Thatsache, mit Recht oder Unrecht, als Beweis für eine andere angesehen werde. In Betreff des Begehrens aber werde es vor Allem Aufgabe sein, zu untersuchen, welche Gegenstände wir ursprünglich und von Natur begehren; und weiter dann, die Ursachen zu bestimmen, welche uns ursprünglich gleichgültige oder sogar unangenehme Dinge zu begehren veranlassen. Zu dem Allen kommt dann noch ein anderes und reiches Feld, auf welchem die psychologische Forschung sich mehr als anderwärts mit der physiologischen zu verflechten beginnt. Der Psychologe hat nach Mill auch die Aufgabe, zu untersuchen, in wie weit die Erzeugung eines psychischen Zustandes durch den andern von einem nachweisbaren physischen Zustande beeinflusst werde. Ein dreifacher Grund für die verschiedene Empfänglichkeit verschiedener Menschen für dieselben psychischen Ursachen sei denkbar. Sie könne ursprüngliche und letzte Thatsache, sie könne die Folge der Geschichte seines früheren inneren Lebens, und sie könne die Folge einer verschiedenen physischen Organisation sein. Der sorgfältig prüfende Blick, meint er, werde erkennen, dass der Charakter eines Menschen seinem bei weitem grösseren Theile nach in Erziehung und äussern Umständen seine adäquate Erklärung finde. Der Rest aber werde selbst wieder in weitem Umfange nur mittelbar in organischen Unterschieden gegründet sein. Und offenbar gilt dies in Wahr Ich folge den Uebersetzern, indem ich belief durch Glauben wiedergebe, obwohl der Ausdruck insofern nicht ganz entsprechend ist, als belief, wie Mill es gebraucht, jeden Zustand einer Ueberzeugung oder Meinung, und das Wissen ebensogut als das Glauben im gewöhnlichen Sinne in sich begreift.

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heit nicht bloss von der Neigung zum Misstrauen, die man bei Tauben, der Lüsternheit, die man bei Blindgebornen, und der Reizbarkeit, die man bei Missgestalteten zu bemerken pflegt, sondern ebenso in noch vielen andern und minder leicht zu begreifenden Fällen. Bleiben nun auch, wie Mill zugesteht, noch andere Erscheinungen, wie namentlich die Instincte, welche nicht anders als unmittelbar aus der besondern Organisation erklärbar sind, so sehen wir doch, wie der Psychologie auch als Ethologie, d. h. als Darlegung der Gesetze der Charakterbildung, ein weites Feld gesichert ist. Dies etwa ist der Ueberblick über die psychologischen Probleme, welchen uns einer der bedeutendsten Vertreter der ausschliesslich phänomenalen Wissenschaft von seinem Standpunkte gibt. Und wirklich geschieht durch die veränderte Fassung und nach der Ansicht, die zu ihr führt, in allen diesen Beziehungen der Psychologie kein Eintrag. Ja den Fragen, die J. St. Mill aufstellt, und denen, welche in ihnen eingeschlossen liegen, liessen sich wohl noch andere von nicht geringerer Bedeutung beifügen. An grossen Aufgaben fehlt es also den Psychologen dieser Schule nicht, und es zählen zu ihr in unsern Tagen Männer, die vor Andern um die Fortentwickelung der Wissenschaft sich verdient machen. Nichtsdestoweniger scheint eine Frage wenigstens ausgeschlossen, und diese von solcher Wichtigkeit, dass ihr Mangel allein eine empfindliche Lücke zu lassen droht. Gerade die Untersuchung, welche die ältere Psychologie als ihre vornehmste Aufgabe betrachtete, gerade die Frage, welche zuerst zu psychologischer Forschung anregte, scheint bei einer solchen Anschauung nicht ferner aufgeworfen werden zu dürfen. Ich meine die Frage über die Fortdauer nach dem Tode. Wer Platon kennt, der weiss, wie die Begierde, sich hierüber der Wahrheit zu versichern, ihn vor allem Andern in dieses Gebiet hineinführte. Sein Phädon ist ihr geweiht, und andere Dialoge, sei es Phädrus, sei es Timäus oder Republik, nehmen wieder und wieder auf sie Rücksicht. Und bei Aristoteles tritt dasselbe hervor. Zwar wenig ausführlich legt er seine Gründe für die Unsterblichkeit dar. Aber der würde fehlen, welcher hieraus schliessen wollte, es sei ihm die Frage von minderem Gewichte gewesen. In der Logik, wo ihm die Lehre vom apodiktischen oder wissenschaftlichen Beweise nothwendig die bedeutendste sein musste, drängt er doch, in auffallendem Gegensatze zu andern, breitgedehnten Erörterungen, in den zweiten Analytiken sie auf wenigen Seiten zusammen. In der Metaphysik spricht er von der Gottheit nur in wenigen, kurzen Absätzen des letzten Buches10. Und 10 Ich meine natürlich das Buch Λ.

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doch galt ihm diese Betrachtung ausgesprochen als Hauptsache, so zwar, dass er der ganzen Wissenschaft neben den Namen der Weisheit und ersten Philosophie geradezu auch den der Theologie beilegte. So handelt er denn auch in den Büchern von der Seele von dem Geiste im Menschen und seiner Unsterblichkeit, selbst da, wo er ihrer mehr als vorübergehend erwähnt, nur in äusserster Kürze. Dass sie ihm aber doch als der vor Allem wichtige Gegenstand der Psychologie erschienen, zeigt deutlich die Zusammenstellung der psychologischen Fragen am Anfange des Werkes. Da hören wir, es sei die Sache des Psychologen, vor Allem nach dem, was die Seele sei, dann nach ihren Eigenthümlichkeiten zu forschen, von denen einige ihr und nicht dem Leibe anzuhaften, also geistig scheinen; und ferner, er habe zu untersuchen, ob die Seele zusammengesetzt aus Theilen, oder ob sie einfach sei, und ob alle Theile körperliche Zustände seien, oder einige nicht, in welchem Falle ihre Unsterblichkeit gesichert sei. Die mannigfachen Aporieen, welche sich an die Aufwerfung dieser Fragen knüpfen, zeigen, dass wir hier auf den Punkt gestossen sind, der am Meisten die Wissbegierde des grossen Denkers beschäftigte. Auf diese Aufgabe also hat sich zuerst die Psychologie geworfen, sie hat ihr den Anstoss zur Entwickelung gegeben. Und gerade sie scheint jetzt, wenigstens auf dem Standpunkte derer, welche die Psychologie als Wissenschaft von der Seele leugnen, gefallen und unmöglich geworden. Denn gibt es keine Seele, so kann von einer Unsterblichkeit der Seele natürlich nicht die Rede sein. Dies scheint so unmittelbar einleuchtend, dass man sich nicht wundern kann, wenn es von Anhängern der hier entwickelten Auffassung, wie z. B. von A. Lange, als etwas Selbstverständliches hingestellt wird11. Und so böte sich in der Psychologie ein ähnliches Schauspiel wie auf dem Gebiete der Naturwissenschaft. Das Streben des Alchymisten, Gold durch Mischung zu erzeugen, hat zuerst zu chemischen Forschungen getrieben. Aber die aufgeblühte Wissenschaft hat darauf als auf etwas Unmögliches verzichtet. Und nur etwa in der Weise, wie in der bekannten Parabel die Verheissung des sterbenden Vaters, hat sich auch hier den Erben früherer Forscher die Voraussage der Vorfahren erfüllt. Die Söhne gruben fleissig den Weinberg um, in welchem sie den Schatz verborgen glaubten, und wenn sie das verscharrte Gold nicht fanden, so erwuchs ihnen anderes in den Früchten des wohldurcharbeiteten Bodens. Aehnlich also erging es den Chemikern, und ähnlich würde es auch den Psychologen ergehen. Die Frage nach der Unsterblichkeit wäre 11

Geschichte des Materialismus, 1. Aufl. S. 239.

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von der fortgeschrittenen Wissenschaft preis zu geben, aber das könnte man sich zum Troste sagen, dass der aus der Begierde nach Unmöglichem entsprungene Eifer zur Lösung anderer Fragen geführt habe, denen eine wahre und weit tragende Bedeutung nicht abgesprochen werden kann. Dennoch – wer möchte es leugnen – wären wir hier nicht ganz in dem gleichen Falle. Für die Träume des Alchymisten hat die Wirklichkeit einen höheren Ersatz geboten. Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles, über das Fortleben unseres bessern Theiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Association von Vorstellungen, der Entwickelung von Ueberzeugungen und Meinungen und des Keimens und Treibens von Lust und Liebe alles Andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein. Der Verlust erschiene darum hier bei Weitem beklagenswerther. Und wenn wirklich der Unterschied der beiden Anschauungen die Aufnahme oder den Ausschluss der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen, und ein Eingehen in die metaphysische Untersuchung über die Substanz als Trägerin der Zustände unvermeidlich. Indessen, so scheinbar die Nothwendigkeit der Beschränkung des Forschungsgebietes nach dieser Seite ist, so ist sie doch vielleicht nicht mehr als scheinbar. David Hume hat sich seiner Zeit mit aller Entschiedenheit gegen die Metaphysiker erklärt, welche eine Substanz als Trägerin der psychischen Zustände in sich zu finden behaupteten. „Ich für mein Theil“, sagt er, „wenn ich recht tief in das, was ich mich selbst nenne, eingehe, stosse immer auf die eine oder andere besondere Wahrnehmung von Hitze oder Kälte, Licht oder Schatten, Liebe oder Hass, Schmerz oder Lust. Nie, so oft ich es auch versuche, kann ich meiner selbst habhaft werden ohne eine Vorstellung, und nie kann ich etwas entdecken ausser der Vorstellung. Sind meine Vorstellungen für irgend welche Zeit aufgehoben, wie bei gesundem Schlafe, so kann ich eben so lange nichts von mir selbst verspüren, und man könnte in Wahrheit sagen, dass ich gar nicht bestehe.“ Wenn gewisse Philosophen sich selbst als etwas Einfaches und Beharrendes wahrzunehmen behaupten, so will er nicht widersprechen, aber von sich und von jedermann (diese Sorte von Metaphysikern allein ausgenommen) ist er überzeugt, „dass sie nichts sind als ein Bündel von verschiedenen Vorstellungen, die mit unsäglicher Schnelligkeit auf einander folgen und in beständigem Flusse und ununterbrochener Bewegung sind“12. Wir sehen also, Hume zählt unzweideutig genug zu den Gegnern der Seelen12

Treatise of Human Nature P. IV Sect. 6.

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substanz. Nichtsdestoweniger bemerkt derselbe Hume, dass die sämmtlichen Beweise für die Unsterblichkeit bei einer Anschauung wie der seinigen noch ganz dieselbe Kraft besitzen, wie bei der entgegengesetzten und hergebrachten Annahme. A. Lange freilich13 nimmt diese Aeusserung für Spott, und er mag hierin um so eher Recht haben, als Hume bekanntlich auch anderwärts die Waffe boshafter Ironie nicht verschmähte14. Allein das, was Hume sagt, ist keine so offenbare Lächerlichkeit, wie es Lange und vielleicht auch ihm selbst dünken mochte. Denn wenn auch der, welcher die Seelensubstanz leugnet, von einer Unsterblichkeit der Seele im eigentlichen Sinne selbstverständlich nicht reden kann, so ist es doch durchaus nicht richtig, dass die Unsterblichkeitsfrage durch die Leugnung eines substantiellen Trägers der psychischen Erscheinungen allen Sinn verliert. Dies wird sofort einleuchtend, wenn man bedenkt, dass, mit oder ohne Seelensubstanz, ein gewisser Fortbestand unseres psychischen Lebens hier auf Erden jedenfalls nicht geleugnet werden kann. Verwirft einer die Seelensubstanz, so bleibt ihm nur die Annahme übrig, dass es zu einem Fortbestande wie diesem eines substantiellen Trägers nicht bedürfe. Und die Frage, ob unser psychisches Leben etwa auch nach der Zerstörung unserer leiblichen Erscheinung fortbestehen werde, wird darum für ihn ebensowenig wie für Andere sinnlos sein. Es ist eigentlich eine bare Inconsequenz, wenn Denker dieser Richtung die Frage nach der Unsterblichkeit auch in dieser, ihrer wesentlichen Bedeutung, in welcher sie allerdings besser Unsterblichkeit des Lebens als Unsterblichkeit der Seele zu nennen ist, auf die angegebenen Gründe hin verwerfen. Dies hat recht wohl J. St. Mill erkannt. In der früher angeführten Stelle seiner Logik fanden wir die Frage nach der Unsterblichkeit zwar nicht unter den von der Psychologie zu behandelnden Fragen aufgeführt. Aber an einem andern Orte, in seinem Werke über Hamilton, hat er denselben Gedanken, den wir hier aussprachen, mit aller Klarheit entwickelt15.

13 14 15

Gesch. d. Mater. S. 239. A. Bain sagt von ihm: „Er war ein Mann, der eben so sehr schriftstellerische Wirkung als philosophische Forschung liebte, so dass man nicht immer weiss, ob das, was er sagt, ernsthaft gemeint sei.“ Mental Science 3. ed. p. 207. Examination of Sir W. Hamilton’s Philosophy Ch. XII. „Was die Unsterblichkeit angeht, so ist es eben so leicht zu denken, dass eine Kette von Thatsachen des Bewusstseins sich in’s Unendliche verlängern könne, als zu denken, dass eine Substanz immerdar fortfahre zu existiren; und ein Beweis, der für die eine Theorie gut ist, wird es auch für die andere sein.“

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Ebenso ist in Deutschland gegenwärtig kaum ein Denker von Bedeutung, welcher seine Verwerfung der substantiellen Träger für psychische wie physische Zustände so oft und unumwunden ausgesprochen hätte wie Th. Fechner. In seiner Psychophysik und in seiner Atomenlehre und in anderen seiner Schriften tritt die Polemik dagegen bald ernst bald launig auf. Aber nichtsdestoweniger bekennt er unumwunden seinen Glauben an die Unsterblichkeit. Und so zeigt es sich denn, dass, wenn einer die metaphysische Ansicht annähme, welche neuere Denker dazu bewog, die Begriffsbestimmung der Psychologie als Wissenschaft von den psychischen Phänomenen an die Stelle der älteren, als Wissenschaft von der Seele, treten zu lassen, auch nach dieser Seite keine Verengung des Gebietes, und überhaupt kein wesentlicher Nachtheil für die Psychologie sich ergeben würde. Doch ohne eingehende metaphysische Untersuchung diese Ansicht annehmen scheint ebenso unstatthaft als sie ungeprüft verwerfen. Wenn angesehene Männer die substantiellen Träger der Erscheinungen anzweifeln und leugnen, so standen und stehen ihnen andere grosse Namen entgegen, welche an ihnen festhalten. Mit Aristoteles und Leibnitz stimmt hier H. Lotze und selbst unter den englischen Empirikern unserer Tage Herbert Spencer zusammen16. Und dass das Aufgeben der Substanz als Trägers der Erscheinungen namentlich auf psychischem Gebiete nicht frei von Schwierigkeit und Dunkel sei, hat in seiner Schrift gegen Hamilton17 selbst J. St. Mill mit der ihm eigenen Offenheit anerkannt. Wenn also die neue Begriffsbestimmung der Psychologie ebenso untrennbar mit der neuen, wie die ältere mit der älteren metaphysischen Lehre zusammenhinge, so würden wir entweder nach einer dritten zu forschen oder in die gefürchteten Abgründe der Metaphysik hinabzusteigen uns genöthigt sehen. Zum Glück ist das Gegentheil der Fall. Die neue Erklärung des Namens Psychologie enthält nichts, was nicht auch von den Anhängern der älteren Schule angenommen werden müsste. Denn mag es eine Seele geben oder nicht, die psychischen Erscheinungen sind ja jedenfalls vorhanden. Und der Anhänger der Seelensubstanz wird nicht leugnen, dass alles, was er in Bezug auf die Seele feststellen könne, auch eine Beziehung zu den psychischen Erscheinungen habe. Es steht also nichts im Wege, wenn wir, statt der Begriffsbestimmung der Psychologie als Wissenschaft von der Seele, die jüngere uns eigen machen. Vielleicht sind beide richtig. Aber der Unterschied 16 Vgl. seine First Principles. 17 Exam. of Sir W. Ham. Philos. Ch. XII.

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bleibt dann bestehn, dass die eine metaphysische Voraussetzungen enthält, von welchen die andere frei ist, dass diese von entgegengesetzten Schulen anerkannt wird, während die erste schon die besondere Farbe einer Schule an sich trägt, dass also die eine uns allgemeiner Voruntersuchungen enthebt, zu welchen die andere uns verpflichten würde. Und indem so die Annahme der jüngeren Fassung uns die Arbeit vereinfacht, gewährt sie noch einen anderen Vortheil als den der Erleichterung der Aufgabe. Jede Ausscheidung einer gleichgültigen Frage ist als Vereinfachung auch Verstärkung. Sie zeigt die Ergebnisse der Forschung von wenigeren Vorbedingungen abhängig und führt so mit grösserer Sicherheit zur Ueberzeugung hin. Wir erklären also in dem oben angegebenen Sinne die Psychologie für die Wissenschaft von den psychischen Erscheinungen. Die vorausgegangenen Erörterungen scheinen geeignet, eine solche Begriffsbestimmung der Hauptsache nach deutlich zu machen. Was in dieser Hinsicht noch fehlt, wird die spätere Untersuchung über den Unterschied der psychischen und physischen Phänomene ergänzen. §. 3.   Wenn Jemand das Werthverhältniss des hier umschriebenen Wissensgebietes gegenüber dem der Naturwissenschaft feststellen und dabei einzig und allein den Maassstab der Theilnahme anlegen wollte, welche die eine und andere Forschung heutzutage zu finden pflegt, so würde die Psychologie wohl tief in den Schatten gestellt erscheinen. Anders dagegen, wenn einer die Ziele, welche die eine, und die, welche die andere Wissenschaft verfolgt, vergleichend ins Auge fasst. Wir haben gesehen, von welcher Art die Erkenntniss ist, welche der Naturforscher zu erringen vermag. Die Phänomene des Lichtes, des Schalles, der Wärme, des Ortes und der örtlichen Bewegung, von welchen er handelt, sind nicht Dinge, die wahrhaft und wirklich bestehen. Sie sind Zeichen von etwas Wirklichem, was durch seine Einwirkung ihre Vorstellung erzeugt. Aber sie sind desshalb kein entsprechendes Bild dieses Wirklichen, und geben von ihm nur in sehr unvollkommenem Sinne Kenntniss. Wir können sagen, es sei etwas vorhanden, was unter diesen und jenen Bedingungen Ursache dieser und jener Empfindung werde; wir können auch wohl nachweisen, dass ähnliche Verhältnisse wie die, welche die räumlichen Erscheinungen, die Grössen und Gestalten zeigen, darin vorkommen müssen. Aber dies ist dann auch Alles. An und für sich tritt das, was wahrhaft ist, nicht in die Erscheinung, und das, was erscheint, ist nicht wahrhaft. Die Wahrheit der physischen Phänomene ist, wie man sich ausdrückt, eine bloss relative Wahrheit.

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Anderes gilt von den Phänomenen der inneren Wahrnehmung. Diese sind wahr in sich selbst. Wie sie erscheinen – dafür bürgt die Evidenz, mit der sie wahrgenommen werden – so sind sie auch in Wirklichkeit. Wer könnte also leugnen, dass hierin ein grosser Vorzug der Psychologie vor der Naturwissenschaft zu Tage trete? Noch in einer andern Hinsicht ist der hohe theoretische Werth der psychologischen Erkenntniss einleuchtend. Nicht bloss mit der Weise der Erkennbarkeit, auch mit der Würde des Gegenstandes wächst die Würde der Wissenschaft. Und die Erscheinungen, deren Gesetze der Psychologe erforscht, zeichnen sich nicht allein dadurch vor den physischen aus, dass sie in sich selbst wahr und wirklich sind, auch an Schönheit und Erhabenheit sind sie unvergleichlich ihnen überlegen. Der Farbe und dem Klange, der Ausdehnung und Bewegung steht hier die Empfindung und Phantasie, das Urtheil und der Willen entgegen, mit all der Grossartigkeit, zu welcher sie sich in den Ideen des Künstlers, in der Forschung des grossen Denkers und in der Selbsthingabe des Tugendhaften entfalten. Hier also zeigt sich in neuer Weise, wie die Aufgabe des Psychologen der des Naturforschers gegenüber die höhere ist. Auch das ist richtig, dass das uns Eigene mehr als das Fremde auf unsere Theilnahme Anspruch macht. Die Ordnung und Entstehung unseres Sonnensystems sind wir mehr als die einer fernen Gruppe himmlischer Gestirne zu erkennen begierig. Die Geschichte unseres Landes und unserer Väter zieht mehr unsere Aufmerksamkeit auf sich als die eines Volkes, zu welchem engere Beziehungen uns fehlen. Und auch dies ist ein Grund, welcher der Wissenschaft von den psychischen Phänomenen überwiegenden Werth verleiht. Denn sie sind das, was uns am Meisten eigen ist. Manche Philosophen haben das Ich geradezu als eine Gruppe psychischer Phänomene, andere als den substantiellen Träger einer solchen Gruppe bezeichnet. Und der gemeine Sprachgebrauch sagt von den physischen Veränderungen, dass sie ausser uns, von den psychischen, dass sie in uns stattfinden. Das sind sehr einfache Betrachtungen, die Jeden leicht von der hohen theoretischen Bedeutung des psychologischen Erkenntnissgebietes überzeugen können. Aber auch an praktischer Wichtigkeit – und das ist, was vielleicht mehr verwundern dürfte – stehen ihre Fragen den Fragen, welche die Naturwissenschaft beschäftigen, nicht nach. Ja auch in dieser Hinsicht ist schwerlich ein anderer Wissenszweig ihr gleichzustellen, wenn er nicht etwa insofern auf dieselbe Beachtung Anspruch hat, als er, damit man zu ihr sich erschwinge, als unentbehrliche Sprosse benützt werden muss.

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Nur ganz flüchtig weise ich darauf hin, wie in der Psychologie die Wurzeln der Aesthetik liegen, die unfehlbar bei vollerer Entwickelung das Auge des Künstlers klären und seinen Fortschritt sichern wird. Auch das sei nur mit einem Worte berührt, dass die wichtige Kunst der Logik, von der ein Fortschritt tausend Fortschritte in der Wissenschaft zur Folge hat, in ganz ähnlicher Weise aus der Psychologie ihre Nahrung zieht. Aber die Psychologie hat auch die Aufgabe, die wissenschaftliche Grundlage einer Erziehungslehre, des Einzelnen wie der Gesellschaft, zu werden. Mit Aesthetik und Logik erwachsen auch Ethik und Politik auf ihrem Felde. Und so erscheint sie als Grundbedingung des Fortschrittes der Menschheit gerade in dem, was vor Allem ihre Würde ausmacht. Ohne Anwendung der Psychologie wird die Fürsorge des Vaters sowohl als die des staatlichen Lenkers ein unbeholfenes Tasten bleiben. Und da bisher noch niemals in einer gründlichen Weise psychologische Lehrsätze auf staatlichem Gebiete zur Anwendung gekommen sind, ja da die Hirten der Völker fast ausnahmslos in voller Unkenntniss über sie sich befunden haben, so dürfte man wohl mit Platon und mit manchem Denker auch unserer Tage sagen, dass, so hoher Ruhm auch einzelnen zu Theil wurde, ein eigentlich grosser Staatsmann noch nie in der Geschichte aufgetreten ist. Hat es doch auch vor einer gründlichen Anwendung der Physiologie in der Heilkunst an berühmten Aerzten keineswegs gefehlt, und grosses Vertrauen haben sie errungen, und staunenswerthe Curen werden von ihnen berichtet. Aber dass es vor mehr als etlichen Decennien einen wirklich grossen Arzt gegeben habe, das wird darum nicht weniger jeder Kenner der Medicin heute als etwas Unmögliches verneinen. Sie waren alle blinde Empiriker, mehr oder minder geschickt, und mehr oder minder vom Glücke begünstigt. Aber was ein einsichtiger und gebildeter Arzt sein soll, das waren sie nicht, das konnten sie nicht sein. Aehnliches wird denn auch bis zum heutigen Tage von unseren Staatsmännern gelten müssen. Und wie sehr auch sie blosse blinde Empiriker sind, das zeigt sich jedesmal, wenn ein ausserordentliches Ereigniss plötzlich die politische Sachlage ändert, und deutlicher noch, wenn einer in ein fremdes Land mit fremden Verhältnissen verpflanzt wird. Von ihren empirisch erworbenen Maximen verlassen, zeigen sie sich dann völlig unfähig und rathlos. Wie viele Uebelstände könnten nicht, wie beim Einzelnen so in der Gesellschaft, beseitigt werden bald durch eine richtige psychologische Diagnose bald durch die Erkenntniss der Gesetze, nach welchen ein psychischer Zustand sich verändern lässt! Was für einen geistigen Kraftzuwachs würde nicht schon dadurch allein die Menschheit erlangen, wenn die letzten psy-

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chischen Grundbedingungen der verschiedenen Anlagen, zum Dichter, zum Forscher, zum praktisch tüchtigen Manne, durch psychologische Analyse mit Sicherheit und Vollständigkeit ermittelt wären, so dass man den Baum nicht erst an den Früchten, sondern schon an dem ersten aufkeimenden Blättchen erkennen und sofort in eine Lage, die seiner Natur entspricht, versetzen könnte! Denn jene Leistungen selbst sind sehr zusammengesetzte Erscheinungen und späte Ergebnisse von Kräften, deren ursprüngliches Wirken in der That von vorn herein so wenig das spätere, wie die Gestalt des ersten Keimblättchens die der Frucht des Baumes ahnen lässt. Dabei bleibt aber der Zusammenhang in dem einen wie in dem andern Falle in gleicher Weise ein gesetzmässiger, und was dort die Botanik, müsste darum hier eine genügend entwickelte Psychologie in ähnlicher Weise voraussagen können. So also und in tausendfach anderer Weise noch würde ihr Einfluss der segensreichste ­werden. Und sie allein würde vielleicht im Stande sein, die Mittel gegen jenen Verfall an die Hand zu geben, durch den wir von Zeit zu Zeit eine sonst stetig aufsteigende Entwickelung der Cultur in trauriger Weise unterbrochen sehen. Man hat längst und mit Recht bemerkt, dass die oft gebrauchten metaphorischen Ausdrücke „gealterte Nation“, „gealterte Civilisation“ nicht eigentlich treffend seien, da, während der Organismus sich nur unvollkommen erneuere, die Gesellschaft in jedem folgenden Geschlechte vollkommen sich verjünge; nur von Krankheiten der Völker und Zeiten dürfe man reden. Aber es sind dies Krankheiten, die bisher immer periodisch aufgetreten sind und wegen mangelnder Kunst der Aerzte regelmässig zum Tode führten, so dass, wie auch immer die eigentlich wesentliche Verwandtschaft fehlen mag, die Aehnlichkeit der äusseren Erscheinung mit der des Alterns unleugbar ist. Man sieht, dass ich der psychischen Wissenschaft keine geringen praktischen Aufgaben stelle. Aber ist es denkbar, dass sie wirklich jemals auch nur Annäherndes leisten werde? Der Zweifel daran scheint wohlgegründet. Ja dadurch, dass sie bis heute und durch Jahrtausende hindurch so viel wie nichts dafür geleistet hat, möchte Mancher sich zu dem sichern Schluss berechtigt glauben, dass sie die praktischen Interessen der Menschheit auch in alle Zukunft wenig fördern werde. Allein die Antwort auf diesen Einwurf liegt nicht fern. Sie ergibt sich aus einer einfachen Erwägung der Stellung, welche die Psychologie in der Reihe der Wissenschaften einnimmt. Die allgemeinen theoretischen Wissenschaften bilden eine Art Scala, bei welcher jede höhere Stufe auf der Grundlage der niederen sich erhebt. Die

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höherstehende Wissenschaft betrachtet mehr verwickelte, die niedere einfachere Phänomene, und diese gehen mit in jene Verwickelung ein. So hat der Fortschritt der höherstehenden natürlich den der niederen Wissenschaft zur Voraussetzung, und jene wird daher selbstverständlich, abgesehen von gewissen schwachen empirischen Vorbereitungen, später als diese zur Entwickelung gelangen. In jenen Zustand der Reife insbesondere, in welchem sie sich für die Bedürfnisse des Lebens fruchtbar erweisen kann, wird sie nicht gleichzeitig mit ihr treten können. So sah man die Mathematik schon lange in praktischer Anwendung verwerthet, während die Physik noch immer schlummernd in der Wiege lag und nicht das geringste Zeichen von der später so glänzend bewährten Befähigung gab, den Bedürfnissen und Wünschen des Lebens dienstbar zu werden. Und wiederum war die Physik schon lange zu Ansehen und mannigfacher Verwendung gelangt, als die Chemie durch Lavoisier den ersten festen Punkt entdeckte, auf den sie nach wenigen Decennien sich stützte, um, wenn nicht die Erde, doch den Anbau der Erde und mit ihm so manche andere Sphäre praktischer Thätigkeit aus den Angeln zu heben. Wiederum hatte die Chemie schon manches schöne Ergebniss erzielt, während die Physiologie noch nicht zum Leben erwacht war. Und man braucht nicht viele Jahre rückwärts zu zählen, um für sie die Anfänge einer erfreulicheren Entwickelung zu finden, an die sich dann ebenfalls sofort Versuche für eine praktische Verwerthung knüpften; unvollkommen vielleicht, aber immerhin bereits genügend um zu zeigen, dass nur von ihr eine Wiedergeburt der Heilkunst zu erwarten ist. Dass die Physiologie so spät sich entwickelte, erklärt sich leicht. Sind doch ihre Phänomene viel zusammengesetzter als die der früheren Wissenschaften und stehen in Abhängigkeit von ihnen, wie die der Chemie zu denen der Physik und die der Physik zu denen der Mathematik selbst wieder im Abhängigkeitsverhältnisse stehen. Aber eben so leicht wird es sich dann begreifen lassen, warum die Psychologie bisher keine reicheren Früchte trug. Wie die physicalischen Phänomene unter dem Einflusse der mathematischen Gesetze, die chemischen unter dem Einflusse der physicalischen, und die der Physiologie unter dem Einflusse von ihnen allen stehen: so sind wieder die psychologischen Phänomene von den Gesetzen der Kräfte beeinflusst, welche ihnen die Organe bilden und erneuern. Wer also auch gar nichts von dem Zustande der bisherigen Psychologie durch unmittelbare Erfahrung wüsste und nur die Geschichte der anderen theoretischen Wissenschaften und das jugendliche Alter der Physiologie, ja selbst der chemischen Wissenschaft kennte, der würde, ohne in psychologischen Dingen Skeptiker zu sein, mit Sicherheit

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behaupten können, dass die Psychologie noch nichts oder doch nur äusserst Weniges geleistet und höchstens erst in neuester Zeit einen Ansatz zu kräftigerer Entwickelung gezeigt haben werde. Dass die wesentlichsten Früchte, die sie etwa für das praktische Leben tragen kann, alle erst einer späteren Zeit angehörten, wäre hierin mit ausgesprochen. So würde er denn, wenn er dann die Augen auf die Geschichte der Psychologie richtete, in ihrer bisherigen Unfruchtbarkeit nichts Anderes sehen, als was er erwartet hätte, und in keiner Weise zu einem ungünstigeren Urtheil über ihre künftigen Erfolge sich veranlasst finden. Wir sehen, der bisherige zurückgebliebene Zustand der Wissenschaft erscheint als Nothwendigkeit, auch wenn die Möglichkeit einer späteren reichen Entwickelung nicht bezweifelt wird. Und dass diese Möglichkeit besteht, beweist der glückliche, wenn auch schwache Anfang, den sie bereits wirklich genommen hat. Wird einmal ein gewisses Maass möglicher Entwickelung erreicht sein, so werden aber auch praktische Folgen nicht ausbleiben. Beim Einzelnen und mehr noch bei Massen, bei welchen unberechenbare hemmende und fördernde Umstände ihre Ausgleichung finden, werden die psychologischen Gesetze eine sichere Grundlage des Handelns bilden. Hienach dürfen wir mit aller Zuversicht hoffen, dass es an Beidem, sowohl an der inneren Ausbildung als an der segensreichen Anwendung der Psychologie, nicht immer fehlen werde. Sind doch die Bedürfnisse, welchen sie genügen soll, nachgerade drängend geworden. Die zerrütteten socialen Zustände schreien mehr als Unvollkommenheiten in Schifffahrt und Bahnverkehr, in Ackerbau und Gesundheitspflege mit lauter Stimme nach Abhülfe. Die Fragen, denen sich ein freies Interesse vielleicht in geringerem Maasse zugewandt haben würde, erzwingen sich die allgemeine Theilnahme. Viele haben bereits hier die wesentlichste Aufgabe unserer Zeit erkannt. Und mancher bedeutende Forscher ist zu nennen, der zu diesem Zwecke mit der Erforschung der psychischen Gesetze und mit Untersuchungen über die Methode der Ableitung und Sicherung praktisch zu verwerthender Folgerungen sich beschäftigt. Es kann unmöglich die Aufgabe der Nationalökonomie sein, die eingetretene Verwirrung zu schlichten und den mehr und mehr im Wechselkampfe der Interessen verlorenen Frieden in die Gesellschaft zurückzuführen. Sie ist mit dabei betheiligt, aber ihr fällt nicht das Ganze noch auch der vorzügliche Theil der Aufgabe zu. Aber doch kann auch die wachsende Theilnahme, welche dieser praktischen Disciplin geschenkt wird, mit Zeugniss geben für das

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Gesagte. J. St. Mill hat in der Einleitung zu seinen Grundsätzen der Nationalökonomie ihr Verhältniss zur Psychologie berührt. Die Unterschiede hinsichtlich der Hervorbringung und Vertheilung des Vermögens bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten, sagt er, hätten theils in Unterschieden physicalischer Kenntniss ihren Grund, theils aber hätten sie psychologische Ursachen. „Insoweit die wirthschaftliche Lage der Nationen auf den Zustand physicalischer Kenntnisse sich bezieht“, fährt er fort, „ist sie Gegenstand der Naturwissenschaften und der darauf begründeten Künste. Insoweit aber die Ursachen moralischer oder psychologischer Art sind, von Maassregeln und gesellschaftlichen Verhältnissen oder von Principien der menschlichen Natur abhängen, gehört ihre Untersuchung nicht der Naturwissenschaft, sondern der Ethik und Gesellschaftswissenschaft an und ist Gegenstand der politischen Oekonomie oder der Volkswirthschaft.“ So scheint es denn unzweifelhaft, dass die Zukunft, und bis zu einem gewissen Grade vielleicht eine nicht allzuferne Zukunft, der Psychologie einen bedeutenden Einfluss auf das praktische Leben gestatten werde. Wir könnten sie, wie auch Andere es gethan, in diesem Sinne als die Wissenschaft der Zukunft bezeichnen, als diejenige nämlich, der vor allen anderen theoretischen Wissenschaften die Zukunft gehört, die mehr als alle die Zukunft gestalten, und der alle in ihrer praktischen Verwendung sich in Zukunft unterordnen und dienen werden. Denn dieses wird die Stellung der Psychologie sein, wenn sie einmal erwachsen und zum thätigen Eingreifen befähigt ist. Aristoteles nannte die Politik die baumeisterliche Kunst, der alle anderen handlangend dienen. Die Staatskunst aber, um das zu sein, was sie sein soll, muss, wir haben es gesehen, ebenso den Lehren der Psychologie, wie geringere Künste den Naturwissenschaften, ihr Ohr leihen. Ihre Lehre wird, ich möchte sagen, nur eine veränderte Zusammenordnung und weitere Fortentwickelung psychologischer Sätze zur Erzielung eines praktischen Zweckes sein. Wir haben ein Vierfaches hervorgehoben, was geeignet schien, die vorzügliche Bedeutung der psychischen Wissenschaft darzuthun: die innere Wahrheit, so wie die Erhabenheit ihrer Phänomene, die besondere Beziehung dieser Phänomene zu uns, und endlich die praktische Wichtigkeit der sie beherrschenden Gesetze. Hiezu kommt aber noch das besondere und unvergleichliche Interesse, welches ihr eigen ist, insofern sie uns über unsere Unsterblichkeit belehrt und hiedurch in einem neuen Sinne die Wissenschaft der Zukunft wird. Der Psychologie fällt die Frage über die Hoffnung auf ein Jenseits und auf die Theilnahme an einem vollendeteren Weltzu-

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stande zu. Sie hat, wie bemerkt, früh schon Versuche gemacht, die dahin zielten, und nicht alles, was sie in dieser Richtung unternahm, scheint ohne Erfolg geblieben. Sollte dieses wirklich der Fall sein, so hätten wir hier ohne Zweifel ihre höchste theoretische Leistung, die sowohl selbst wieder von den grössten praktischen Folgen wäre, als auch ihren übrigen theoretischen Leistungen neuen Werth verleihen würde. Von allem dem, wofür die Gesetze der Naturwissenschaft gelten, scheiden wir, wenn wir das Diesseits verlassen. Die Gesetze der Gravitation, die Gesetze des Schalles, des Lichtes und der Electricität schwinden uns mit den Erscheinungen, für welche die Erfahrung sie festgestellt hat. Die psychischen Gesetze dagegen gelten dort wie hier für unser Leben, so weit dasselbe unsterblich fortbesteht. Wohl mit Recht hat darum schon Aristoteles im Anfange seiner Schrift über die Seele die Psychologie über die andern Wissenschaften erhoben, obwohl er dabei ausschliesslich auf ihre theoretischen Vorzüge Acht hatte. „Wenn wir“, sagt er, „zu dem, was edel und ehrwürdig ist, das Wissen rechnen; mehr aber das eine als das andere, sei es, weil seine Schärfe grösser, sei es, weil sein Gegenstand erhabener und wunderbarer ist: so möchten wir wohl aus beiden Gründen die Erkenntniss der Seele mit Fug zu den vorzüglichsten Gütern zählen.“ Dass hier Aristoteles auch der Schärfe nach die Psychologie andern Wissenschaften überlegen nennt, mag freilich Wunder nehmen. Ihm hängt die Schärfe der Erkenntniss mit der Unvergänglichkeit des Gegenstandes zusammen. Das stetig und allseitig Wechselnde entzieht sich nach ihm der wissenschaftlichen Forschung; das, was am Meisten bleibt, hat am Meisten bleibende Wahrheit. Wie dem aber auch sei, eine bleibende bedeutende Wahrheit wenigstens haben den Gesetzen, die der Psychologe feststellt, auch wir nicht absprechen können.

Zweites Capitel. Ueber die Methode der Psychologie, insbesondere die Erfahrung, welche für sie die Grundlage bildet. §. 1.   Die Methode der Psychologie ist der Gegenstand einer ganz vorzüglichen Aufmerksamkeit geworden. Und in der That darf man sagen, dass in dieser Hinsicht keine andere unter den allgemeinen theoretischen Wissenschaften so merkwürdig und lehrreich sei als sie auf der einen und die Mathematik auf der andern Seite. Beide verhalten sich zu einander wie entgegengesetzte Pole. Die Mathematik betrachtet die einfachsten, unabhängigsten, die Psychologie die abhängigsten und verwickeltsten Phänomene. Die Mathematik zeigt darum in fasslicher Klarheit die Grundcharaktere jedes wahrhaft wissenschaftlichen Forschens. Nirgends kann man besser die erste deutliche Anschauung von Gesetz, Ableitung, Hypothese und vielen andern wichtigen logischen Begriffen gewinnen als bei ihr. Und es war ein Zug des Genies, wenn Pascal zur Mathematik sich wandte, um bessere Einsicht in gewisse Grundbegriffe der Logik sich zu verschaffen und, Wesentliches von Unwesentlichem scheidend, die hier entstandene Verwirrung zu lösen. Die Psychologie auf der andern Seite zeigt allein den ganzen Reichthum, zu welchem die wissenschaftliche Methode sich entfaltet, indem sie den mehr und mehr verwickelten Erscheinungen der Reihe nach sich anzupassen sucht. Beide zusammen werfen ein helles Licht auf alle Weisen der Forschung, die in den vermittelnden Wissensgebieten zur Anwendung kommen. Der Unterschied, den jede folgende gegen die vorangegangene zeigt, und der Grund ihrer abweichenden Eigen­thüm­lich­keit, das Wachsen der Schwierigkeit im Verhältniss zur grösseren Verwicklung der Phänomene, aber auch das gleichzeitige Wachsen der Hülfsmittel, welches in gewissem Maasse wenigstens der Zunahme der Schwierigkeit das Gleichgewicht hält, – das alles tritt natürlich am Deutlichsten dann hervor, wenn man das erste und letzte Glied der fortlaufenden Kette vergleichend einander gegenüberstellt. Freilich würde die Fülle des Lichtes eine grössere sein, wenn die Methode der Psychologie in sich selbst klarer erkannt und vollkommner ausgebildet

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wäre. Und in dieser Hinsicht bleibt noch Vieles zu thun übrig, da mit dem Fortschreiten der Wissenschaft auch das wahre Verständniss ihrer Methode sich erst mehr und mehr entwickelt. §. 2.   Die Grundlage der Psychologie wie der Naturwissenschaft bilden Wahrnehmung und Erfahrung. Und zwar ist es vor Allem die innere Wahr­ nehmung der eigenen psychischen Phänomene, welche für sie eine Quelle wird. Was eine Vorstellung, was ein Urtheil, was Freude und Leid, Begierde und Abneigung, Hoffnung und Furcht, Muth und Verzagen, was ein Entschluss und eine Absicht des Willens sei, davon würden wir niemals eine Kenntniss gewinnen, wenn nicht die innere Wahrnehmung in den eignen Phänomenen es uns vorführte. Man merke aber wohl, wir sagten innere Wahrnehmung, nicht innere Beobachtung sei diese erste und unentbehrliche Quelle. Beides ist wohl zu unterscheiden. Ja die innere Wahrnehmung hat das Eigenthümliche, dass sie nie innere Beobachtung werden kann. Gegenstände, die man, wie man zu sagen pflegt, äusserlich wahrnimmt, kann man beobachten; man wendet, um die Erscheinung genau aufzufassen, ihr seine volle Aufmerksamkeit zu. Bei Gegenständen, die man innerlich wahrnimmt, ist dies aber vollständig unmöglich. Dies ist insbesondere bei gewissen psychischen Phänomenen, wie z. B. beim Zorne unverkennbar. Denn wer den Zorn, der in ihm glüht, beobachten wollte, bei dem wäre er offenbar bereits gekühlt, und der Gegenstand der Beobachtung verschwunden. Dieselbe Unmöglichkeit besteht aber auch in allen andern Fällen. Es ist ein allgemein gültiges psychologisches Gesetz, dass wir niemals dem Gegenstande der innern Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden vermögen. Wir werden später uns eingehend damit zu beschäftigen haben; für jetzt genüge der Hinweis auf die Erfahrung, die jeder Unbefangene an sich selber macht. Auch die Psychologen, welche eine innere Beobachtung für möglich halten, heben sämmtlich wenigstens ihre ausserordentliche Schwierigkeit hervor. Und hierin liegt wohl das Zugeständniss, dass eine solche auch ihnen in den meisten Fällen nicht gelungen ist. In den Fällen aber, in welchen sie ausnahmsweise sie gelungen glaubten, sind sie ohne Zweifel einer Selbsttäuschung verfallen. Nur während man mit seiner Aufmerksamkeit einem anderen Gegenstande zugewandt ist, geschieht es, dass auch die auf ihn bezüglichen psychischen Vorgänge nebenbei zur Wahrnehmung gelangen. So kann die Beobachtung der physischen Phänomene in der äusseren Wahrnehmung, indem sie für die Erkenntniss der Natur uns Anhaltspunkte gibt, zugleich ein Mittel psychischer Erkenntniss

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werden. Und die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die physischen Phänomene in der Phantasie ist sogar, wenn nicht ausschliesslich, doch jedenfalls zunächst und hauptsächlich für psychische Gesetze die Erkenntnissquelle. Nicht ohne Grund heben wir diesen Unterschied zwischen innerer Wahrnehmung und innerer Beobachtung hervor und betonen mit Nachdruck, dass die eine, nicht aber ebenso die andere bei den in uns bestehenden psychischen Phänomenen statthaben könne. Denn bis jetzt hat dies, meines Wissens, noch kein Psychologe gethan, und die nachtheiligen Folgen, welche sich an eine solche Vermischung und Verwechslung knüpften, waren beträchtlich. Ich weiss Beispiele von jungen Leuten, die, im Begriffe mit dem Studium der Psychologie sich zu beschäftigen, an der Schwelle der Wissenschaft an der eigenen Befähigung verzweifeln wollten. Man hatte sie auf die innere Beobachtung als die vorzüglichste Quelle psychologischer Erkenntniss hingewiesen. Sie hatten sie versucht, sie hatten angestrengt sich darum gemüht und waren wiederholt dazu zurückgekehrt; aber ganz vergeblich hatten sie sich gequält, ein Taumel verworrener Ideen und ein müder Kopf waren das Einzige, was sie davontrugen. So kamen sie denn zu dem allerdings richtigen Schlusse, dass sie zur Selbstbeobachtung keine Fähigkeit besässen, und hieran knüpfte sich ihnen, vermöge der ihnen beigebrachten Meinung, der Glauben, dass es ihnen für psychologische Forschung an Begabung fehle. Andere, die nicht in dieser Weise, wie durch einen Popanz zurückgeschreckt, im Weiterschreiten aufgehalten wurden, kamen zu anderen Irr­thü­ mern. Viele fingen an, physische Phänomene, wie namentlich alle diejeni­ gen, welche uns in der Phantasie erscheinen, für psychische zu nehmen und so das Heterogenste bunt durcheinander zu werfen. Die vorausgehenden Bemerkungen über den Vortheil, welchen die Psychologie aus der aufmerksamen Betrachtung der Phantasiegebilde zieht, lassen diesen Missgriff begreiflich erscheinen. Aber so lange er ohne Berichtigung blieb, konnte natürlich weder die Classification der psychischen Phänomene gelingen, noch der Versuch einer Feststellung der Eigenthümlichkeiten und Gesetze für die einzelnen Classen einen befriedigenden Erfolg haben. Mit der Verwirrung hinsichtlich der Phänomene hingen dann nothwendig weitere Unordnungen zusammen, und so konnte es geschehen, dass das angebliche Feld der Beobachtungen oft zum Tummelplatze willkürlicher Einfälle wurde. Fortlage in seinem „System der Psychologie als empirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des inneren Sinnes“, aber keineswegs er allein, liefert hiefür reiche Belege. Und ganz richtig ist, was Lange in seiner Geschichte des Materialis-

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mus über ihn bemerkt: „Zuerst macht er sich den innern Sinn zurecht, dem er eine Reihe von Functionen zuschreibt, die sonst dem äusseren Sinn zuge­ schrieben wurden; dann steckt er sich sein Beobachtungsfeld ab“ (indem er sagt, das Beobachtungsfeld der Psychologie sei der Mensch, insofern er mit dem inneren Sinn wahrgenommen werde) „und beginnt zu beobachten.“ Und die Kritik wird scharf, bleibt aber nicht ohne Wahrheit, wenn Lange fortfährt: „Man würde vergeblich einen Preis darauf setzen, wenn Jemand in den beiden dicken Bänden eine einzige wirkliche Beobachtung auftriebe. Das ganze Buch bewegt sich in allgemeinen Sätzen mit einer Terminologie von eigener Erfindung, ohne dass je eine einzelne bestimmte Erscheinung mitgetheilt wird, von welcher Fortlage angeben könnte, wann und wo er sie gehabt hätte, oder wie man es etwa machen müsste, um sie auch zu haben. Es wird uns ganz schön beschrieben, wie z. B. bei der Betrachtung eines Blattes, sobald man die Gestalt desselben auffallend findet, diese Gestalt zum Focus der Aufmerksamkeit wird, ‚wovon die nothwendige Folge ist, dass die der Gestalt des Blattes nach dem Gesetz der Aehnlichkeit angeschmolzene Gestaltscala dem Bewusstsein hell wird‘. Es wird uns gesagt, dass das Blatt nun ‚im Einbildungsraum in der Scala der Gestalten zergeht‘, aber wann, wie und wo dies einmal so begegnet ist, und auf welche Erfahrung sich eigentlich diese ‚empirische‘ Erkenntniss begründet, bleibt ebenso unklar, als die Art und Weise, wie der Beobachter den ‚inneren Sinn‘ anwendet, und die Beweise dafür, dass er sich eines solchen Sinnes bedient, und nicht etwa seine Einfälle und Erfindungen aufs Gerathewohl zum System krystallisiren lässt18.“ Solche Verirrungen, die keineswegs vereinzelt geblieben sind – war ja doch die innere Beobachtung der in uns gegenwärtigen psychischen Zustände bis zur Stunde ein fast allgemein angenommenes Dogma der Psychologen –, führten auf anderer Seite zu einer Kritik dieses Begriffes. Man kam zur Einsicht, dass eine solche innere Beobachtung in Wahrheit gar nicht bestehe; aber indem man wiederum die Unterscheidung zwischen Beobachtung und Wahrnehmung vernachlässigte, leugnete man nun zugleich die Möglichkeit der inneren Wahrnehmung. Comte ist in diesen Fehler gefallen. „Illusorisch“ nennt er in seinem „Cours de Philosophie Positive“19 die Psychologie, welche „den Anspruch erhebe, die Grundgesetze des menschlichen Geistes, indem sie ihn in sich selbst betrachte, zu entdecken“. „Durch eine seltsame Spitzfindigkeit hat 18 Gesch. d. Mater. 1. Aufl. S. 466. 19 Cours de Philosophie Positive, 2. éd. Paris 1864, I, p. 30 ss.

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man in letzter Zeit zwei Arten von Beobachtung von gleicher Bedeutung unterscheiden wollen, eine äussere nämlich und eine innere Beobachtung, von welchen die letztere einzig der Untersuchung der intellectuellen Phänomene geweiht sein sollte. Ich muss mich hier darauf beschränken, nur einen Gedanken anzudeuten, der vor Anderem deutlich beweist, wie diese directe Betrachtung des Geistes durch sich selbst eine reine Illusion ist. Noch vor Kurzem glaubte man, das Sehen erklärt zu haben, indem man sagte, dass die Lichteinwirkung der Körper ein Gemälde von deren äusserer Gestalt und Farbe auf der Retina entwerfe. Und dagegen haben die Physiologen mit Recht eingewendet, dass wenn die Lichteinwirkung wie Bilder wirkten, ein anderes Auge nöthig sein würde, um sie anzuschauen. Liegt aber nicht der gleiche Fall in noch verstärktem Maasse auch hier vor? In der That ist es offenbar, dass vermöge einer unabänderlichen Nothwendigkeit der menschliche Geist alle, nur nicht die eigenen Phänomene direct beobachten kann, fehlt es ja doch hier an dem, welcher die Beobachtung machen könnte.“ Hinsichtlich der moralischen Phänomene, meint Comte, könne man allerdings geltend machen, dass die Organe, deren Function sie sind, von denen des Denkens verschieden seien, so dass bei ihnen nur der Umstand hinderlich werde, dass ein sehr ausgesprochener Affect mit dem Zustande der Beobachtung sich nicht vertrage. „Was aber die Beobachtung eigner intellectueller Phänomene während ihres Verlaufes anlangt, so besteht dafür eine offenbare Unmöglichkeit. Das denkende Individuum kann sich nicht in zwei zertheilen, von welchen das eine nachdenkt, während das andere es nachdenken sieht. Das Organ, welches beobachtet, und das, welches beobachtet wird, sind in diesem Falle identisch, wie könnte also die Beobachtung stattfinden? Diese angebliche psychologische Methode ist also schon von der Wurzel aus nichtig in ihrem Principe. Und zu welchen ganz widersprechenden Weisen des Verfahrens wird man nicht allsogleich dadurch geführt! Auf der einen Seite wird man angewiesen, sich von jeder äusseren Wahrnehmung möglichst zu isoliren und insbesondere jede intellectuelle Arbeit sich zu untersagen; denn was sollte, wenn man sich auch nur mit dem einfachsten mathematischen Exempel beschäftigte, aus der inneren Beobachtung werden? Auf der andern Seite, wenn man endlich durch solcherlei Maassnahmen zu diesem Zustande vollkommenen intellectuellen Schlafes gelangt ist, soll man sich mit der Betrachtung der Thätigkeiten abgeben, die sich im Geiste abspielen, wenn nichts mehr in ihm vorgeht. Unsere Nachkommen, ohne Zweifel, werden ein Unternehmen wie dieses zu ihrer Belustigung einmal auf die Bühne gebracht sehen.“

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So verwirft denn Comte nicht bloss die innere Beobachtung, deren Unmöglichkeit er richtig erkannt hat, wenn auch die Erklärung, die er davon gibt, von zweifelhaftem Werthe ist, sondern mit ihr zugleich und unterschiedslos auch die innere Wahrnehmung der eignen intellectuellen Phänomene. Und was soll für sie einen Ersatz geben? „Ich schäme mich fast, es zu sagen,“ bemerkt St. Mill, wo er über ihn berichtet, „es ist die Phrenologie!“ Und leicht gelingt es seiner Kritik, zu zeigen, wie aus den Phänomenen, die sich uns äusserlich darbieten, eine Vorstellung von Urtheil oder Schluss nie hätte gewonnen werden können. Allein Mill ist seinerseits dem, was Wahres in den Bemerkungen von Comte liegt, nicht vollkommen gerecht geworden; und so vermochte sein Ansehen nicht zu verhindern, dass die von ihm bekämpfte Ansicht bei vielen seiner Landsleute Eingang fand. So verwirft z. B. auch Maudsley in seiner „Physiologie und Pathologie der Seele“ das Selbstbewusstsein als eine Quelle psychologischer Erkenntniss. Und sein wesentlichster Grund ist das Argument von Comte, auf welchen er auch ausdrücklich hinweist20. Da Maudsley, hierin von dem französischen Denker abweichend, dieselben Nervencentren als den Sitz der moralischen wie intellectuellen Phänomene betrachtet, so hat bei ihm das Argument eine noch grössere Tragweite. Doch hält er nicht streng an den Consequenzen, die sich ergeben müssten, fest, und hie und da erkennt er dem Zeugnisse des Selbstbewusstseins (welches er eigentlich ganz leugnen sollte) wohl auch eine gewisse untergeordnete Bedeutung zu. In Deutschland wurde A. Lange durch die Verwechslung von innerer Beobachtung und innerer Wahrnehmung und die daran sich knüpfende Verwirrung, von der oben die Rede war, ebenfalls zur Leugnung der inneren Wahrnehmung geführt. Dass es nicht richtig sei, wie Kant neben dem äusseren einen inneren Sinn zu unterscheiden, der ebenso die psychischen Phänomene wie jener die physischen beobachte, scheint ihm schon aus dem, was Kant selbst über die Folgen solcher innerer Beoachtungsversuche berichtet, hervorzugehen. Sagt er ja doch, sie seien „der gerade Weg, in Kopfverwirrung zu gerathen“, und wir machten hier „vermeinte Entdeckungen von dem, was wir selbst in uns hineingetragen haben“. Die Vermengung aber, die Lange bei Fortlage findet, bringt ihn auf den Gedanken, dass „zwischen innerer und äusserer Beobachtung in keiner Weise eine feste Grenze zu ziehen“ sei. Bezüglich der sogenannten subjectiven Farben oder Töne z. B. 20

Phys. u. Path. d. Seele von H. Maudsley, nach d. Orig. 2ter Aufl. deutsch bearbeitet von R. Boehm, Würzburg 1870, S. 9. 35.

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wirft er die Frage auf, in welches der beiden Gebiete sie zu zählen seien. Er würde aber nicht so fragen, wenn er nicht gefunden hätte, dass man die Betrachtung der Farben, die in der Phantasie erscheinen, zu den Beobachtungen des inneren Sinnes rechnete. Indem er nun mit Recht die Verwandtschaft der aufmerksamen Betrachtung solcher Phänomene, welche wir in der Phantasie vorstellen, mit der Beobachtung beim Sehen geltend macht, kommt er dazu, zu erklären, „dass die Natur aller und jeder Beobachtung dieselbe ist, und dass der Unterschied hauptsächlich nur darin liegt, ob eine Beobachtung so beschaffen ist, dass sie von Anderen gleichzeitig oder später ebenfalls gemacht werden kann, oder ob sie sich jeder solchen Aufsicht und Bestätigung entzieht“21. Mit der inneren Beobachtung gibt er gerade so wie Comte die innere Wahrnehmung auf und hält die äussere allein fest, indem er bei ihr nur den Namen als unstatthaft tadelt. So führt hier dieselbe Unterlassung einer einfachen Unterscheidung Verschiedene nach verschiedener und entgegengesetzter Seite in Irr­thü­mer. Denn, dass es wirklich Irr­thü­mer sind, dürfte schon aus dem bisher Gesagten erhellen, deutlicher aber noch wird es sich zeigen, wenn wir von dem Unterschiede der physischen und psychischen Phänomene und von dem inneren Bewusstsein handeln werden. Also die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen Phänomene ist die erste Quelle der Erfahrungen, welche für die psychologischen Untersuchungen unentbehrlich sind. Und diese innere Wahrnehmung ist nicht mit einer inneren Beobachtung der in uns bestehenden Zustände zu verwechseln, da eine solche vielmehr unmöglich ist. §. 3.   Es ist offenbar, dass hier die Psychologie den andern allgemeinen Wissenschaften gegenüber in grossem Nachtheile erscheint. Denn ohne Experiment sind zwar manche unter ihnen, wie namentlich die Astronomie; ohne Beobachtung aber ist keine. In Wahrheit würde die Psychologie geradezu zur Unmöglichkeit werden, wenn für den Mangel kein Ersatz sich böte. Einen solchen findet sie aber, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, durch die Betrachtung früherer psychischer Zustände im Gedächtnisse. Dieses wurde schon oft als das vorzüglichste Mittel, sich von psychischen Thatsachen Kenntniss zu verschaffen, geltend gemacht, und Denker ganz verschiedener Richtungen stimmten darin überein. Herbart hat nachdrücklich darauf hingewiesen, und J. St. Mill 21

Gesch. d. Mat. 1. Aufl. S. 469.

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bemerkt in seiner Schrift über Comte, es sei möglich, eine psychische Erscheinung in dem darauffolgenden Augenblicke mittels des Gedächtnisses zu untersuchen. „Und dieses ist“, fügt er bei, „in Wahrheit die Weise, in der wir gemeiniglich den besten Theil unserer Kenntniss psychischer Acte uns erwerben. Wir reflectiren auf das, was wir gethan, wenn der Act vorüber, aber sein Eindruck noch frisch im Gedächtniss ist.“ Wenn der Versuch, den Zorn, der uns bewegt, beobachtend zu verfolgen, durch Aufhebung des Phänomens unmöglich wird, so kann dagegen ein Zustand früherer Aufregung offenbar keine Störung mehr erleiden. Auch gelingt es wirklich, dem vergangenen psychischen Phänomene so wie einem gegenwärtigen physischen mit Aufmerksamkeit sich zuzuwenden und es in dieser Weise so zu sagen zu beobachten. Ja man könnte sagen, dass sogar das Experiment mit eigenen Seelenerscheinungen auf diesem Wege möglich werde. Denn wir können absichtlich durch mannigfache Mittel gewisse Seelenerscheinungen in uns hervorrufen, um zu erfahren, ob sich diese oder jene Erscheinung als Folge daran knüpfe, indem wir dann das Resultat des Versuches mit aller Ruhe und Aufmerksamkeit im Gedächtniss betrachten. So schiene denn einem Uebelstande wenigstens abgeholfen. Das Gedächtniss, wie es in allen Erfahrungswissenschaften die Ansammlung beobachteter Thatsachen zum Behuf der Feststellung allgemeiner Wahrheiten möglich macht, ermöglicht in der Psychologie zugleich die Beobachtung der Thatsachen selbst. Und ich zweifle nicht, dass die Psychologen, welche ihre eignen psychischen Phänomene in innerer Wahrnehmung beobachtet zu haben glaubten, in Wahrheit das gethan hatten, wovon Mill in der angezogenen Stelle sprach. Sie hatten jüngst vergangenen Acten, deren Eindruck noch frisch im Gedächtnisse war, ihre Aufmerksamkeit zugewandt. Freilich ist das, was wir in dieser Weise Beobachtung im Gedächtnisse nennen könnten, offenbar kein volles Aequivalent für die eigentliche Beobachtung gegenwärtiger Ereignisse. Das Gedächtniss ist, wie Jeder weiss, in vorzüglichem Maasse Täuschungen unterworfen, während die innere Wahrnehmung untrüglich ist und jeden Zweifel ausschliesst. Indem die Erscheinungen, welche das Gedächtniss bewahrt, für die der inneren Wahrnehmung als Ersatz eintreten, kommt mit ihnen zugleich Unsicherheit und die Möglichkeit vielfältiger Selbsttäuschungen in das Gebiet. Und ist einmal die Möglichkeit dafür gegeben, so liegt auch die Wirklichkeit nicht fern, da gewiss hinsichtlich der eigenen psychischen Acte jene vorurtheilslose Stimmung, deren der Beobachter bedarf, am Schwersten zu erreichen ist.

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So kommt es, dass, während die Einen die Untrüglichkeit des Selbstbewusstseins anpreisen, Andere, wie z. B. auch Maudsley22, ihm die grösste Unzuverlässigkeit zum Vorwurfe machen. Und wenn die Ersteren sich auf die Evidenz der inneren Wahrnehmung berufen, so können dafür die Letzteren auf die häufigen Illusionen hinweisen, denen nicht etwa bloss Geisteskranke, sondern, man darf sagen, in gewissem Grade alle Menschen hinsichtlich ihrer selbst sich hingeben. Auch wird es so begreiflich, wie sich unter den Psychologen oft Streit erhob, obwohl die Lösung der Frage in der inneren Wahrnehmung, mit unmittelbarer Evidenz gegeben, vorlag. Dass die Beobachtung nur im Gedächtnisse stattfinden konnte, hatte dem Zweifel die Thüre geöffnet. Wenn man noch heute über die Frage uneinig ist, ob eine Gefühlserregung, Lust oder Unlust, jedes psychische Phänomen begleite, so ist dies die Folge der eben angedeuteten Verhältnisse. Und die grundlegende Frage über die höchsten Classen der psychischen Phänomene würde ohne sie längst zur Entscheidung und zum Abschlusse gebracht worden sein. Das Hinderniss ist so bedeutend, dass wir uns öfter in die Nothwendigkeit versetzt sehen werden, durch förmliche Beweisführung und durch reductio ad absurdum Meinungen zu widerlegen, welche eigentlich durch die Evidenz der inneren Wahrnehmung unmittelbar als falsch zu erkennen sind. Doch wie gross auch immer der Nachtheil sein mag, der sich an die mangelhafte Zuverlässigkeit des Gedächtnisses knüpft, es wäre offenbar eine thörichte Uebertreibung, wenn man der eigenen inneren Erfahrung desshalb allen Werth absprechen wollte. Wäre das Zeugniss des Gedächtnisses für die Wissenschaft unbrauchbar, so würden mit der Psychologie auch alle anderen Wissenschaften unmöglich werden. §. 4.   Aber ein anderer Umstand bleibt, der die Psychologie den Naturwissenschaften gegenüber mehr noch in Nachtheil zu bringen droht. Was immer wir innerlich wahrnehmen und nach der Wahrnehmung im Gedächtnisse beobachten mögen, sind psychische Erscheinungen, die in unserem eigenen Leben aufgetreten sind. Jede Erscheinung, welche nicht zum Verlaufe dieses individuellen Lebens gehört, liegt ausserhalb des Gesichtskreises. Aber wie reich auch ein Leben an merkwürdigen Phänomenen sein mag – und jedes, auch das ärmste, zeigt eine wunderbare Fülle –, ist es nicht offenbar, dass es arm sein muss im Vergleiche mit dem, was, in tausend und aber tausend anderen beschlossen, unserer inneren Wahrnehmung entzogen ist? 22

a. a. O. S. 9 f.

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Diese Beschränkung ist um so fühlbarer, als das Verhältniss des einen zum anderen menschlichen Individuum, was das innere Leben angeht, nichts weniger als demjenigen gleicht, welches zwischen zwei Individuen derselben Species unorganischer Körper, z. B. zwischen zwei Wassertropfen, besteht. Vielmehr, wie auf physiologischem Gebiete zwei Individuen derselben Art immer gewisse Abweichungen zeigen, so ist dies, und in noch viel höherem Maasse, auch auf psychischem Gebiete der Fall. Auch da, wo zwischen zwei Menschen, wie man sagt, die innigste geistige Verwandtschaft besteht, bleibt die Verschiedenheit so bedeutend, dass es Gelegenheiten gibt, bei welchen der eine mit dem anderen weder übereinzustimmen, noch sein Verhalten zu begreifen vermag. Und wie gross sind nicht die Unterschiede und Gegensätze in Talent und Charakteranlage, die in andern Beispielen sich zeigen, wenn wir die individuelle Begabung eines Pindaros und Archimedes, eines Sokrates und Alcibiades vergleichen, oder auch allgemein den männlichen und weiblichen Charakter einander gegenüberstellen? von Erscheinungen an Kretinen und Wahnsinnigen, die wir als anormal und krankhaft bezeichnen, gar nicht zu sprechen. Wenn wir nun in unserer Beobachtung auf ein einziges Individuum beschränkt sind, ist es dann anders denkbar, als dass unsere Uebersicht über die psychischen Phänomene eine äusserst unvollständige sein werde? Und werden wir nicht unvermeidlich in den Fehler fallen, individuelle Eigenheiten mit allgemeinen Zügen zu verwechseln? Unleugbar ist dies der Fall, und der Uebelstand scheint um so grösser, als nicht einmal das eigene Seelenleben in seiner ganzen Entwickelung unserer Untersuchung vorliegt. Wie weit auch der Blick unseres Gedächtnisses zurückreiche, die ersten Anfänge sind in undurchdringlichen Nebel gehüllt. Und doch würden gerade diese am Besten die allgemeinsten psychischen Gesetze uns erkennen lassen, da im Beginn die Erscheinungen am Einfachsten auftreten, während die spätere Zeit, da jeder psychische Eindruck sich in gewissen Nachwirkungen erhält, einen bis ins Unendliche verwickelten, unentwirrbaren Knäuel unzähliger Ursachen darbietet. Noch nach einer anderen Seite zeigt sich der Nachtheil einer solchen Lage. Wie der Gegenstand der Beobachtung ein einziger ist, – ein einziges und, wie wir sagten, nur theilweise zu überblickendes Leben – so ist auch der Beobachter ein einziger, und kein Anderer ist im Stande, seine Beobachtung zu controliren. Denn, so wenig ich die psychischen Phänomene eines Anderen, so wenig vermag ein Anderer die meinigen durch innere Wahrnehmung zu erfassen. Die Naturwissenschaft erscheint hier wiederum viel günstiger gestellt. Dieselbe Sonnenfinsterniss und derselbe Komet werden von Tausen-

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den wahrgenommen, und eine Beobachtung, die nur Einer gemacht hätte, und die kein Zweiter zu bestätigen vermöchte, wie etwa die eines neuen Planeten, welchen ein Astronom gesehen haben wollte, ohne dass ein Anderer den Stern wiederaufzufinden fähig wäre, würde mit wenig sicherem Vertrauen aufgenommen werden. So bliebe denn immer noch die Erfahrungsgrundlage der Psychologie eine ebenso ungenügende als unzuverlässige, wenn sie sich allein auf die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen Phänomene und ihre Betrachtung im Gedächtniss beschränkte. Dieses jedoch ist nicht der Fall. Zu der directen Wahrnehmung unserer eigenen kommt eine indirecte Erkenntniss fremder psychischer Phänomene. Die Erscheinungen des inneren Lebens pflegen, wie man es nennt, sich zu äussern, d. h. sie haben äusserlich wahrnehmbare Veränderungen zur Folge. Am Vollkommensten äussern sie sich, wenn Jemand geradezu in Worten sie beschreibt. Freilich würde diese Beschreibung unverständlich oder vielmehr unmöglich sein, wenn das psychische Leben des Einen von dem des Anderen so verschieden wäre, dass sie keinerlei homogene Phänomene enthielten. Dann wäre der Austausch ihrer Gedanken wie zwischen einem von Geburt Blinden und Geruchlosen, wenn dieser die Farbe, jener den Geruch des Veilchens dem Anderen angäbe. Allein so ist der Fall nicht. Es zeigt sich im Gegentheil, dass unsere Fähigkeit zu gegenseitiger verständlicher Mit­thei­lung sich über alle Gattungen der Erscheinungen erstreckt, und dass wir uns selbst von psychischen Zuständen, die Jemand im Fieber oder unter anderen abnormen Bedingungen erfuhr, nach seiner Beschreibung eine Vorstellung machen können. Auch kommt es nicht wohl vor, dass ein Gebildeter, wenn er über seine inneren Zustände berichten will, in der Sprache keine Mittel findet, sich auszudrücken. Und hieraus entnehmen wir einerseits den Beweis, dass die individuelle Verschiedenheit von Personen und Lagen doch keine so tiefgreifende ist, wie man sonst hätte vermuthen können, und dass, wenigstens den Gattungen nach, die psychischen Phänomene jedem, der nicht eines Sinnes beraubt, oder sonst abnorm gebildet oder unreif ist, vollzählig in der inneren Erfahrung geboten werden; andererseits aber erwächst uns daraus die Möglichkeit, mit den eigenen inneren Erfahrungen das, was ein Anderer in sich beobachtet hat, zu verbinden und da, wo die Beobachtungen sich auf gleichartige Erscheinungen beziehen, die eigenen durch die fremden in derselben Weise zu controliren, wie das, was ein amerikanischer Forscher mit Licht und Wärme experimentirt, durch den Versuch, den ein anderer in Europa an specifisch gleichen Erscheinungen

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macht, bestätigt oder auch erschüttert wird. Auch die Sprache selbst, welche die beiden, die mit einander über ihr Inneres reden, gemeinsam von ihrem Volke oder von der früheren Wissenschaft ererbt haben, kann, wie anderwärts in Bezug auf äussere Phänomene, so hier hinsichtlich der psychischen Erscheinungen ihre Kenntniss fördern, indem sie ihnen in einer Art von vorläufiger Classification die verschiedenen vorzüglichen Classen von Phänomenen, nach dem Gesichtspunkt besonderer Verwandtschaft übersichtlich zusammengeordnet, vorführt. Endlich ergibt sich aus dem Gesagten der Werth, den das Studium der Selbstbiographieen für den Psychologen hat, wenn man nur dem Umstande, dass der Beobachter und Berichterstatter hier mehr oder minder befangen ist, gebührend Rechnung trägt. Feuchtersleben sagt in dieser Beziehung, man dürfe bei einer Selbstbiographie nicht sowohl auf das, was sie berichte, als auf das, was sie unwillkürlich verrathe, Acht haben. – Minder vollkommen zwar, aber dennoch oft in genügend deutlicher Weise können die psychischen Zustände auch ohne sprachliche Mittheilung sich äusserlich kundgeben. Hierher gehören vor Allem die Handlungen und das willkürliche Thun. Ja der Schluss, den diese auf die inneren Zustände, aus welchen sie hervorgehen, gestatten, ist oft viel sicherer als der, welcher auf mündliche Aussagen sich gründet. Das alte „verba docent, exempla trahunt“ würde nicht eine täglich sich bestätigende Wahrheit sein, wenn nicht das praktische Verhalten allgemein als der zuverlässigere Ausdruck der Ueberzeugung betrachtet würde. Ausser diesen willkürlichen gibt es aber auch unwillkürliche physische Veränderungen, welche gewisse psychische Zustände naturgemäss begleiten oder ihnen nachfolgen. Der Schrecken erblasst, die Furcht zittert, die Röthe der Scham überzieht die Wangen. Und schon ehe man, wie es Darwin in neuester Zeit wieder gethan, mit dem Ausdrucke der Gemüthsbewegungen sich wissenschaftlich beschäftigt hatte, war man durch die einfache Gewohnheit und Erfahrung in weitem Umfange über diesen Zusammenhang belehrt, so dass nun die physische Erscheinung, die man beobachtete, der unsichtbaren psychischen als Zeichen diente. Es ist offenbar, dass diese Zeichen nicht das Bezeichnete selbst sind, und dass darum nicht, wie Manche thöricht genug glauben machen wollten, diese äussere und, wie man sie rühmend nannte, „objective“ Beobachtung psychischer Zustände losgelöst von der „subjectiven“ inneren eine Quelle psychologischer Erkenntniss werden könnte. Aber mit ihr vereint wird sie in hohem Maasse dazu dienen,

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unsere eigenen inneren Erfahrungen durch das, was Andere in sich erleben, zu bereichern und zu ergänzen, und Selbsttäuschungen, in die wir verfallen sind, zu berichtigen. §. 5.   Von einem ganz vorzüglichen Werthe wird es sein, wenn wir auf die eine oder andere der angegebenen Weisen uns einen Einblick in die Zustände eines einfacheren Seelenlebens als das unsrige verschaffen können, sei nun dasselbe bloss darum einfacher, weil es minder entwickelt ist, oder darum, weil gewisse Gattungen von Phänomenen gänzlich davon ausgeschlossen sind. Das Erste ist insbesondere bei Kindern, und bei ihnen in um so höherem Grade der Fall, ein je geringerer Zeitraum seit der Geburt verflossen ist. Man hat daher mehrfach an Neugeborenen Beobachtungen und Experimente gemacht. Aber auch die Betrachtung der Erwachsenen bei Völkerstämmen, welche in der Cultur zurückgeblieben sind, ist in dieser Hinsicht werthvoll. Erscheint ihre Bedeutung nach der einen Seite geringer, so hat man dafür den Vortheil, dass an die Stelle mehr oder minder missverständlicher Zeichen die deutlichere Aeusserung sprachlicher Mittheilung treten kann. Schon Locke hat darum auch von diesem Mittel Gebrauch gemacht, und mehr noch wandte man in neuester Zeit im Interesse der Psychologie den Erscheinungen bei den Naturvölkern seine Aufmerksamkeit zu. Ein Fall der zweiten Art ist der von Blindgeborenen, bei welchen die Vorstellungen von Farben sowie alle diejenigen fehlen, welche etwa noch ausser denselben durch den Gesichtssinn allein erworben werden können. Bei ihnen wird ein Doppeltes von Interesse sein, einmal zu sehen, in wie weit sich ohne Hülfe des Gesichts ein Vorstellungsleben entwickelt, und namentlich, ob sie von den räumlichen Verhältnissen in ähnlicher Weise wie wir Kenntniss haben; dann aber, wenn etwa eine gelungene Operation ihnen später das Sehen möglich macht, die Natur der ersten Eindrücke, welche sie auf diesem Wege empfangen, zu erforschen. Weiter noch gehören hieher die Beobachtungen, die man zu psychologischen Zwecken an Thieren macht. Nicht bloss das psychische Leben der niederen und des einen oder anderen Sinnes beraubten, auch das der höchst gestellten Thierarten erscheint dem des Menschen gegenüber ausserordentlich einfach und beschränkt, sei es nun, weil sie dieselben Fähigkeiten wie er in einem ungleich geringeren Grade besitzen, sei es, weil gewisse Classen psychischer Phänomene gar nicht bei ihnen vorhanden sind. Die Entscheidung dieser Frage selbst ist offenbar von der höchsten Bedeutung. Und sollte etwa die letztere Ansicht, welcher, wie in früheren Zeiten Aristoteles und Locke,

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noch heute die grosse Mehrzahl der Menschen huldigt, als die richtige sich ergeben, so hätten wir hier gewiss den allermerkwürdigsten Fall von isolirter Bethätigung gewisser psychischer Kräfte vor uns. Uebrigens wird nach jeder Theorie, die sich nicht so weit von dem gesunden Menschenverstande entfernt, dass sie den Thieren alles psychische Leben abspricht, die Erforschung und die Vergleichung ihrer psychischen Eigenthümlichkeiten mit denen des Menschen für den Psychologen von grösstem Werthe sein. §. 6.   In einer anderen Weise ist die aufmerksame Verfolgung krankhafter Seelenzustände von Bedeutung und mehrfach hat das theoretische, viel häufiger aber noch das praktische Interesse zu Beobachtungen an Idioten und Irren getrieben, welche für die Psychologie werthvolles Material lieferten. Wie die hieher gehörigen Erscheinungen selbst, so sind natürlich auch die Dienste, welche sie der Psychologie leisten können, von sehr verschiedener Art. Bald zeigt sich die Krankheit in dem Einflusse einer constanten oder, wie man sagt, „fixen“ Idee, welche in weitem Kreise das Seelenleben afficirt; von den Ursachen der Erscheinung ganz abgesehen, können hier die Gesetze der zusammengesetzten Ideenassociation werthvolle Illustrationen finden. Bald erscheinen gewisse Functionen in übermässiger Weise gesteigert oder in äusserstem Maasse geschwächt, und indem andere im Zusammenhange mit ihnen gehoben oder herabgestimmt werden, wird dadurch auf die Gesetze ihres Zusammenhanges ein Licht geworfen. Einen ganz besonderen Werth haben die Phänomene des Blödsinns und Wahnsinns und anderer krankhafter Erscheinungen für die Untersuchungen über die Weise der Verbindung der psychischen Phänomene mit unserem leiblichen Sein, wenn, wie es fast immer der Fall ist, diese entarteten psychischen Erscheinungen mit wahrnehmbaren Abnormitäten körperlicher Organe verknüpft sind. Im Uebrigen sind diejenigen im Unrecht, welche diesen krankhaften Zuständen eine vorzüglichere oder auch nur eine gleich grosse Aufmerksamkeit wie denen des gesunden Seelenlebens zugewandt wissen wollen. Zunächst wird es auf die Feststellung der Verhältnisse der Coexistenz und Succession bei normalen physiologischen Zuständen ankommen, und erst wenn diese in sich selbst, bis zu einem gewissen Maasse wenigstens, genügend beobachtet und verallgemeinert sind, wird das Herbeiziehen jener Anomalieen sich nützlich erweisen. Dann wird einerseits für sie eine richtigere Beurtheilung möglich werden, indem sich ja bei ihnen so zu sagen unter veränderten Zusammenstellungen und unter neuen Verwickelungen, welche die Folge von Revolutionen auf vegetativem Gebiete sind, dieselben Gesetze, die das

Capitel 2. Die Erfahrungsgrundlage der Psychologie.

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normale Leben beherrschen, wirksam zeigen. Und dann – aber erst dann – wird auch andererseits das Verständniss dieser Gesetze und des gewöhnlichen Verlaufs der Phänomene, indem sie auch scheinbare Ausnahmen erklärend mit umfassen, selbst durch ihre Berücksichtigung erweitert und vertieft werden. Gerade hinsichtlich derjenigen Fälle, die wir am Meisten mit Neugier anstaunen, wird die Wissbegier am Spätesten solche Erfolge erzielen. Nur Schritt für Schritt kann man sich ihrer Erklärung nähern. Und bis zu einem vorgeschritteneren Stadium der Entwickelung von Psychologie und Physiologie wird die Beschäftigung damit fast ebenso müssig und unfruchtbar sein, als es ihrer Zeit die Liebhaberei der Zoologen an seltsamen Missgeburten gewesen ist. §. 7.   Weil es also vor Allem darauf ankommt, das Normale kennen zu lernen, so wird zunächst die Beobachtung ausserordentlicher Erscheinungen bei gesunder physischer Disposition im Ganzen für uns lehrreicher sein. Die Biographieen von Männern, welche als Künstler, Forscher oder grosse Charaktere hervorleuchteten, aber auch die von grossen Verbrechern, und ebenso das Studium des einzelnen hervorragenden Kunstwerkes, der einzelnen merkwürdigen Entdeckung, der einzelnen grossen Handlung und des einzelnen Verbrechens, soweit ein Einblick in die Motive und vorbereitenden Umstände möglich ist, werden der psychologischen Forschung schätzbare Anhaltspunkte bieten. So liefert die Geschichte in den grossen Persönlichkeiten, die sie uns vorführt, und in den epochemachenden Begebenheiten, von denen sie erzählt, und die gewöhnlich in irgendwelchem bedeutenden Manne, in dem der Geist einer Zeit oder einer socialen Bewegung gleichsam verkörpert erscheint, ihren Träger haben, gar manche für den Psychologen wichtige Thatsache. Das helle Licht, in welchem dieselbe sich darbietet, kommt ganz besonders der Beobachtung zu Statten. Aber auch der Gang der Weltgeschichte an und für sich, die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, die sich in den Massen darstellen, die Fortschritte und die Rückschritte, das Aufblühen und der Untergang der Völker mögen oft demjenigen grosse Dienste leisten, welcher die allgemeinen Gesetze der psychischen Natur des Menschen aufsuchen will. Die vornehmsten Eigen­ thüm­lich­keiten des Seelenlebens können da, wo es sich um Massen handelt, oft sichtbarer hervortreten, während untergeordnete Besonderheiten sich ausgleichen und verschwinden. Schon Platon hoffte, auf den Staat und die Gesellschaft hinblickend in grossen Zügen das geschrieben zu finden, was die Seele des Einzelnen in kleinerer Schrift in sich enthielt. Er glaubte,

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dass seine drei Seelengebiete den drei wesentlichen Classen im Staate, dem Nährstande, dem Wehrstande und dem Stande der Herrscher entsprächen, und fand eine weitere Bestätigung für sie in dem Vergleiche der Grundzüge der verschiedenen Völkergruppen, der Aegyptier und Phönicier, der tapferen nordischen Barbaren und der bildungsliebenden Hellenen. Vielleicht würde ein Anderer in den erhabenen Phänomenen der Kunst, Wissenschaft und Religion einen Hinweis auf verschiedene Grundanlagen des höheren psychischen Lebens vermuthen. Und auch das ward schon oft und gewiss nicht ohne Wahrheit gesagt, dass die Entwickelungsgeschichte der Menschheit im Grossen darstelle, was sich in analoger Weise in der Entwickelungsgeschichte des Einzelnen im Kleinen wiederhole. Freilich, wenn die Betrachtung der Phänomene der menschlichen Gesellschaft auf die psychischen Phänomene des Einzelnen Licht wirft, so ist doch auch das Umgekehrte, und wohl in reicherem Maasse, der Fall, und es wird im Allgemeinen der naturgemässere Weg sein, wenn man aus dem was man beim Einzelnen gefunden für das Verständniss der Gesellschaft und ihrer Entwickelung, als wenn man umgekehrt aus der Betrachtung dieser für die Probleme der individuellen Psychologie Aufschlüsse zu gewinnen sucht. Das Gesagte genügt, um zu zeigen, welchem Kreise der Psychologe die Erfahrungen entnimmt, die er seiner Forschung nach den psychischen Gesetzen zu Grunde legt. Wir fanden für sie als erste Quelle die innere Wahr­ nehmung, welcher der Nachtheil anhaftete, dass sie nie Beobachtung werden kann. Zu ihr kam das Betrachten unserer früheren psychischen Erlebnisse im Gedächtniss, und hier war eine Hinwendung der Aufmerksamkeit und so zu sagen eine Beobachtung möglich. Das bis dahin auf die eigenen inneren Phänomene beschränkte Feld der Erfahrung erweiterte sich dann, indem uns die Aeusserungen des psychischen Lebens Anderer indirect einen Einblick in fremde psychische Phänomene gewährten. Gewiss wurde hiedurch die Zahl der für die Psychologie merkwürdigen Thatsachen tausendfach vermehrt. Aber diese letzte Art von Erfahrungen setzte die Beobachtung im Gedächtniss, so wie diese die innere Wahrnehmung gegenwärtiger psychischer Erscheinungen voraus, welche somit für beide die letzte und unentbehrliche Vorbedingung bildet. Auf der inneren Wahrnehmung also – darin bleibt die ältere Psychologie Comte gegenüber im Rechte – erhebt sich recht eigentlich der Bau dieser Wissenschaft wie auf seiner Grundlage.

Drittes Capitel. Fortsetzung der Untersuchungen über die Methode der Psychologie. Von der Induction der höchsten psychischen Gesetze. §. 1.   Eine Aufgabe, der sich der Psychologe vor anderen zu unterziehen hat, ist die Feststellung der gemeinsamen Eigenthümlichkeiten aller psychischen Phänomene; vorausgesetzt nämlich, dass es solche gemeinsame Eigen­thüm­ lich­keiten gebe, denn Manche stellen dies in Abrede. Die Behauptung von Bacon, dass man immer zunächst die mittleren und dann erst, in allmäligem Aufsteigen, die höchsten Gesetze aufzusuchen habe, hat sich bekanntlich in der Geschichte der Naturwissenschaften nicht bewahrheitet, und kann darum auch für den Psychologen keine Geltung haben. Richtig ist nur so viel, dass man bei der Induction der allgemeinsten Gesetze die gemeinsame Eigen­thümlichkeit, wie natürlich zunächst an Individuen, so dann an speciellen Gruppen findet, bis sie zuletzt in ihrem vollen Umfange feststeht. §. 2.   Aus der Betrachtung der allgemeinen Eigen­thüm­lichkeiten wird sich das Eintheilungsprincip der psychischen Phänomene ergeben, und daran sofort die Bestimmung ihrer Grundclassen knüpfen, wie die natürliche Verwandtschaft sie fordert. Denn ehe dies geschehen, wird es unmöglich sein, in der Erforschung der psychischen Gesetze, die ja grösstentheils nur für die eine oder andere Gattung von Phänomenen gelten, weitere Fortschritte zu machen. Was sollte aus den Forschungen des Physikers werden, der mit Wärme, Licht und Schall experimentirte, wenn ihm nicht diese Phänomene durch eine, allerdings sehr naheliegende, Classification in natürliche Gruppen geschieden wären? So würde sich denn auch der Psychologe, der noch nicht die verschiedenen Grundclassen psychischer Erscheinungen gesondert hätte, vergeblich um die Feststellung der Gesetze für ihre Succession bemühen. Wir haben schon bemerkt, dass die gewöhnliche Sprache durch die allgemeinen Namen, welche sie psychischen Phänomenen gibt, der Untersuchung vorarbeitet. Aber natürlich bietet sie keine genügende Bürgschaft und würde den, welcher sich zu sehr auf sie verliesse, ebensogewiss in Irr­thümer führen,

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wie sie dem, der ihre Bestimmungen mit Vorsicht benützt, die Auffindung der Wahrheit erleichtert. Es wurde bereits erwähnt, dass wir einen sicheren Beweis dafür haben, dass keine Grundclasse von psychischen Phänomenen, die sich bei anderen Menschen findet, in dem Bereiche unseres eigenen individuellen Lebens fehle. Hiedurch wird die Vollständigkeit der Aufzählung ermöglicht. Auch lässt sich leicht erkennen, dass trotz der grossen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die Zahl ihrer höchsten Classen eine sehr beschränkte ist, was die Untersuchung wesentlich erleichtert und die Besorgniss ausschliesst, man möge ein Phänomen, welches einer andern Grundclasse als alle bis dahin betrachteten angehöre, gänzlich übersehen haben. Die ganze Schwierigkeit entspringt dem früher besprochenen Umstande, dass die innere Wahrnehmung nie innere Beobachtung werden kann. Und hier zeigt sich deutlich, wie gross unter Umständen dieses Hemmniss ist, denn heute noch sind die Psychologen über die fundamentale Frage der höchsten Classen nicht einig. Wie die Zahl, so werden wir aber auch die natürliche Ordnung für sie feststellen müssen. §. 3.   Zu den ersten und allgemein wichtigen Untersuchungen wird auch die über die letzten psychischen Elemente gehören, aus welchen die verwickelteren Phänomene hervorgehen. Unmittelbar wäre eine Lösung dieser Frage möglich, wenn die Anfänge unseres psychischen Lebens uns in deutlicher Erinnerung gegeben wären. Aber in dieser glücklichen Lage befinden wir uns leider nicht. Und die Beobachtungen an Neugeborenen bieten dafür zwar einigen, aber keineswegs einen hinreichenden Ersatz. Die Zeichen sind oft vieldeutig, und wenn auch unsere Schlüsse sicherer wären, so bliebe der Einwand, man habe es auch hier nicht mit ersten Anfängen eines psychischen Lebens zu thun, da dieses vielmehr bis in die Zeit vor der Geburt zurückreiche. Wir sind also zu einer Analyse genöthigt, die man mit der des Chemikers verglichen hat. Und die Aufgabe ist keineswegs eine leichte. Denn nicht damit ist die Sache gethan, dass man die verschiedenen Seiten, welche ein Phänomen darbietet, unterscheidet; das wäre, wie wenn ein Chemiker die Farbe und den Geschmack des Zinnobers als elementare Bestand­theile von ihm angeben wollte; ein lächerlicher Fehler, wenn auch viele Psychologen, nicht ohne eine gewisse Schuld von Seiten Locke’s, wirklich darein verfielen. Der Chemiker trennt die Bestandtheile des zusammengesetzten Stoffes, und so scheint auch hier eine Herauslösung der elementaren Erscheinungen aus den zusammengesetzten anzustreben. Wenn sie nur hier eben so vollkommen und sicher wie auf chemischem Gebiete

Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze.

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zu erreichen wäre! Aber wie überhaupt das psychische Leben niemals von einem späteren zu einem früheren Stadium zurückkehrt, so scheint es insbesondere unmöglich, ein elementares Phänomen später in der Reinheit und Einfachheit, in welcher es ursprünglich auftrat, wieder in sich zu erneuern23. Sollte unter diesen Umständen das Zusammenwachsen von Vorstellungen geradezu eine Verschmelzung, sollte es, ähnlich der chemischen Mischung, eine Transformation in ganz neue Arten von Erscheinungen sein, so würde dies, wenigstens wenn es allgemein stattfände, nothwendig die Schwierigkeit bis zur Unmöglichkeit steigern. Zum Glück geht kein Psychologe in seinen Behauptungen so weit, und der, welcher es thun wollte, wäre leicht zu widerlegen; überhaupt hat die Lehre einer psychischen Chemie von Vorstellungen bis jetzt noch keineswegs widerspruchslose Annahme gefunden. Die Untersuchung über die ersten psychischen Elemente dreht sich vorzüglich um die Empfindungen; denn dass diese für andere psychische Phänomene eine Quelle sind, steht fest, und nicht Wenige sagen, sie seien die einzige Quelle für alle. Die Empfindungen sind Folgen physischer Einwirkungen. Ihre Entstehung also ist ein psycho-physischer Process, und daher kommt es, dass die Physiologie, insbesondere die Physiologie der Sinnesorgane, der Psychologie hier wesentliche Hülfe leistet. Doch sind auch die rein psychologischen Mittel, welche sich für ihre Lösung bieten, oft nicht genügend benützt worden. Man wäre sonst nicht dazu gekommen, Phänomenen, von welchen das eine das andere einschliesst, einen gesonderten Ursprung zuzuweisen. Hier ist es auch, wo, wie schon bemerkt, die Beobachtungen an operirten Blindgeborenen wichtig werden; und dies nicht bloss für den Gesichtssinn, sondern für das ganze Gebiet, weil bei keinem anderen die Untersuchung so vollkommen wie bei diesem unserem vorzüglichsten Sinne sich führen lässt. §. 4.   Die obersten und allgemeinsten Gesetze der Succession psychischer Phänomene, mögen sie nun für alle schlechthin oder nur für die Gesa­mmt­ heit einer Grundclasse gelten, sind nach den allgemeinen Regeln der In­duc­ tion direct festzustellen. Sie sind, wie A. Bain24 in seiner inductiven Logik 23

Schon Kant klagt, es sei unmöglich, dass die Psychologie „als systematische Zergliederungskunst“ der Chemie jemals nahe komme, „weil sich in ihr das Mannigfaltige der inneren Beobachtung nur durch blosse Gedankentheilung von einander absondern, nicht aber abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen“ lasse. (Metaph. Anfangsgr. d. Naturw. Vorrede.) 24 Logic, II. (Induction) p. 284.

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mit Recht bemerkt, nicht oberste und letzte Gesetze in dem Sinne, in welchem wir etwa das Gesetz der Gravitation und das der Trägheit als solche bezeichnen dürfen. Dafür sind die psychischen Phänomene, auf welche sie sich beziehen, zu sehr von einer Mannigfaltigkeit physiologischer Bedingungen abhängig, von welchen wir sehr unvollkommen Kenntniss haben. Sie sind streng genommen empirische Gesetze, die zu ihrer Erklärung einer genauen Analyse der physiologischen Zustände, an welche sie sich knüpfen, bedürfen würden. Was ich sage, ist nicht so zu verstehen, als ob ich glaubte, man solle es sich als Aufgabe stellen, die höchsten Gesetze psychischer Succession aus Gesetzen physiologischer und in weiterer Folge vielleicht gar chemischer und in engerem Sinne physischer Phänomene abzuleiten. Dies wäre eine Thorheit. Es gibt unüberschreitbare Grenzen der Naturerklärung, und auf eine solche Grenze stösst man, wie J. St. Mill ganz richtig lehrt25, wo es sich um den Uebergang vom physischen Gebiet in das der psychischen Phänomene handelt. Auch wenn die Physiker die Ursachen, welche in uns Empfindungen von Farben, Tönen, Gerüchen u. s. f. erzeugen, sämmtlich auf moleculare Schwingungen und auf Druck und Stoss zurückgeführt hätten, blieben doch für die Empfindung der Farbe, ja jeder einzelnen Farbenspecies, und ebenso für die Empfindungen der Töne und Gerüche besondere letzte Gesetze anzunehmen, und jeder Versuch, die Zahl derselben noch zu verringern, wäre hoffnungslos und unvernünftig. Nicht also eine Ableitung psychischer Gesetze aus physischen ist es, was ich zu ihrer weiteren Erklärung für wünschenswerth und nöthig erachte; die Erklärung, die ich meine, würde vielmehr in einfacheren Fällen in nichts Anderem als in einer Angabe der nächsten und unmittelbaren physiologischen Vor- oder Mitbedingungen, sowie in deren genauester Präcision mit Ausschluss jedes nicht unmittelbar betheiligten Momentes bestehen. Da, wo es sich um den Einfluss früher aufgetretener psychischer Erscheinungen auf ein Phänomen späterer Zeit handelt, nachdem vielleicht ein längeres Intervall alle psychische Lebensthätigkeit gänzlich unterbrochen hat, würde es nöthig sein, die rein physiologischen Processe, die sich inzwischen vollzogen, so weit sie das Verhältniss zwischen der früheren psychischen Ursache und ihrer späteren psychischen Wirkung beeinflussen, in Rechnung zu bringen. Wäre dies erreicht, so würden wir höchste psychische Gesetze von einer Fassung erhalten, welche zwar nicht dieselbe durchsichtige Klarheit, wohl aber dieselbe Schärfe und Genauigkeit wie die Axiome der Mathema25

Ded. u. ind. Log. B. III. C. 14.

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tik besässen, höchste psychische Gesetze, welche als Grundgesetze im vollen Sinne des Wortes zu betrachten wären. Unsere jetzigen höchsten Gesetze aber würden in etwas veränderter Form als derivative Gesetze wiederkehren, und der grösste Theil, wenn nicht das Ganze der Psychologie einen halb und halb psychophysischen Charakter erhalten. §. 5.   Die unverkennbare Abhängigkeit der psychischen von den physiologischen Processen hat wiederholt zu dem Gedanken geführt, die Psychologie geradezu auf die Physiologie zu gründen. Wir hörten, wie Comte die Phrenologie als Werkzeug psychologischer Forschung benützen wollte, obwohl in einer Gestalt, die mit der von Gall entwickelten keine nähere Aehnlichkeit zeigt. In Deutschland hat Horwicz neuerdings durch seine interessanten „Psychologischen Analysen auf physiologischer Grundlage“ einen verwandten Versuch zur Neubegründung der Seelenlehre gemacht, nachdem er sich über die Methode, welche er auf psychologischem Gebiete als die richtige betrachtet, in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik in längerer Erörterung ausgesprochen hatte. Horwicz fällt nicht in den Fehler von Comte, welcher das Selbstbewusstsein bei Seite wirft. Im Gegentheil würde ich ihm zum Vorwurfe machen, dass er dasselbe „zur wissenschaftlichen Selbstbeobachtung“ sich steigern lässt, und nur mit den anderen selbstbeobachtenden Psychologen zugibt, dass „eine gute psychologische Beobachtung nicht Jedermanns Sache und überhaupt nicht jederzeit ausführbar“ sei26. Aber trotzdem ist es nicht das Selbstbewusstsein, auf welches er eigentlich baut. Er will sich seiner nur vorbereitend bedienen. Es soll ihm bloss einen vorläufigen rohen Ueberblick über das Ganze der Seelenthätigkeit gewähren27. Alles Weitere erwartet er von der Physiologie. Daraus, dass diese „uns die speciellen Bedingungen des Vorkommens der Seele im Organismus, sowie des Wechselverkehrs, beider liefert“, schöpft er „die methodologische Ueberzeugung, dass die Organisation der Seele – in ihren allgemeinsten und frühesten Umrissen – der Organisation des Leibes entsprechen ... müsse28.“ Wir können nach ihm auf die 26 Methodologie der Seelenlehre. Zeitschr. f. Phil. u. philos. Kr. 1872, LX. S. 170. Wie er damit die Behauptung: „wir sind unfähig, zu gleicher Zeit mehr als eine Vorstellung zu haben“ (Psych. Anal. I. S. 262), vereinigen will, ist schwer einzusehen. Doch später (ebend. S. 326) scheint er selbst an ihrer Richtigkeit stark zu zweifeln. 27 Methodol. d. Seelenl. S. 187. Vgl. Psych. Anal. S. 155 ff. 28 Methodol. d. Seelenl. S. 189.

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Frage „nach der allgemeinsten Organisation und Gliederung des Seelenlebens“ eine Antwort nur dann erhalten, „wenn wir zuvor die Organisation und Gliederung des leiblichen Lebens studiren“. Und so haben wir zunächst eine Rundschau über die Physiologie des Leibes zu halten, und dann zu versuchen, ob diese uns einen gesicherten Ueberblick über die Gesammtorganisation der Seele gestattet. Für die Vollständigkeit der Aufzählung der verschiedenen Seelenprocesse bürgt ihm „die physiologische Grundlage, wenn es irgend richtig ist, dass kein seelischer Process ohne stoffliches Substrat sich vollziehen kann29.“ Aehnlich ist ihm bei allen folgenden Untersuchungen die Physiologie, wie er anderwärts sich ausdrückt, „nicht bloss ein nützliches Beiwerk, sondern das methodologische Vehikel der Forschung30“, und er hofft namentlich, durch die physiologische Vergleichung aller Lebens­ processe „den Leitfaden zu finden, der uns zu den gesuchten einfachsten Seelenelementen führt von welchen aus dann die Entwickelung genetisch erfolgt31.“ Das sind verlockende Aussichten, namentlich in einer Zeit, wo die Naturwissenschaft alles, die Philosophie so gut wie kein Vertrauen besitzt. Die psychologische Wahrnehmung, die mehr als Sache der Philosophen gilt, soll mit allem, was ihr entnommen wird, nur eine einleitende Voruntersuchung bleiben. Dann nimmt der Naturforscher die Aufgabe in die Hand. Er bestimmt auf physiologischem Wege sogar die Zahl der Classen der psychischen Phänomene und ihren relativen Charakter. Er stellt ebenso fest, welches das primitive Seelenelement sei, entdeckt die Gesetze der Complication und leitet die höchsten psychischen Erscheinungen ab. Doch wir dürfen uns durch das, was uns vielleicht wünschenswerth erscheint, nicht unbedacht zu Illusionen fortreissen lassen. Und es scheint nicht schwer zu zeigen, dass Horwicz die Dienste, welche die Physiologie der Psychologie leisten kann, in ganz ähnlicher Weise wie Comte überschätzt. Er gründet seine Ueberzeugung auf das Verhältniss der Psychologie zur Physiologie, welche, da sie von dem nächsthöheren Begriffe, dem des Lebens nämlich, handle, in einer ähnlichen Beziehung zu ihr, wie „die Mathematik zur Physik, und die Astronomie zur Geographie“ stehe32. Aber wie auch immer die Mathematik dem Physiker förderlich und unentbehrlich sein mag, wer 29 Ebend. S. 190. 30 Psych. Anal. I. S. 175. 31 Methodol. d. Seelenl. S. 189. 32 Ebend. S. 188.

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sieht nicht ein, dass diese, wenn er in der Art sich an sie halten und sie zum Vehikel der Forschung machen wollte, wie Horwicz es vom Psychologen der Physiologie gegenüber verlangt, nicht das geringste Resultat erzielen würde? Was sollte, um nur auf Eines hinzuweisen, die Mathematik über die Zahl der Grundclassen der Phänomene lehren, von welchen der Physiker handelt? Vielleicht wird Horwicz erwidern, der Vergleich mit dem Verhältniss zwischen Mathematik und Physik sei, wie jeder Vergleich, nicht ganz genügend. Die Physiologie habe eine ganz besonders innige Beziehung zu dem psychologischen Gebiete, indem, wie er auch hervorgehoben habe, die Phänomene, welche sie betrachte, die Bedingungen für das Vorkommen der psychischen seien und in innigstem Wechselverkehr mit ihnen stehen. Aber angenommen, dies sei bei der Mathematik gegenüber der Physik nicht ebenso der Fall, so können wir dafür um so sicherer auf das Verhältniss zwischen der Chemie und Physik der unorganischen Phänomene einerseits und der Physiologie andererseits hinweisen. Das Unorganische enthält die Bedingungen für die Organismen, und diese bestehen nur in dem steten und innigsten Wechselverkehr mit ihm. Allein wie gross auch die Hülfe sein möge, welche unorganische Chemie und Physik dem Physiologen gewähren, würde dieser jemals von ihnen genügenden Aufschluss über die Gliederung der Organismen erwarten dürfen? Wird er nicht vielmehr sowohl das Ganze dieser Gliederung als die Functionen der einzelnen Theile an den physiologischen Phänomenen selbst zu erforschen haben? In dieser Hinsicht kann wohl kein Zweifel bestehen. Doch auch hier wird der Vergleich vielleicht als unzulänglich beanstandet werden. Die unorganischen Phänomene, wird man sagen, sind zwar in stetem Wechselverkehr mit denen des Organismus, aber sie sind doch nicht in gleicher Weise, wie die physiologischen für die psychischen, ihr „stoffliches Substrat“. Nun ist es aber einmal schon nach Horwicz selbst nicht ganz leicht, die Besonderheit dieses Verhältnisses zu erklären, und noch schwieriger dürfte sein, dasselbe als universell für die Gesammtheit der psychischen Phänomene in gleicher Weise nachzuweisen. Nur das Eine allerdings leuchtet sofort ein, dass die Beziehungen zwischen den psychischen und den sie begleitenden physiologischen Phänomenen von denen zwischen den unorganischen Phänomenen, die der Chemiker, und den Organismen, die der Physiologe behandelt, jedenfalls sehr verschieden sind. Aber das Ergebniss eines sorgsameren Vergleichs und einer Berücksichtigung aller Umstände scheint uns mit Sicherheit vielmehr dahin zu führen, dass bei weitem mehr Aufschluss von den chemischen über die physiologischen, als von diesen über

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die psychischen Erscheinungen zu erwarten ist. Die physiologischen Processe erscheinen den chemischen und physischen gegenüber in Wahrheit nur wie eine höhere Complication. Die Lebenskraft, adeligeren Geschlechtes, ist seit Lotze eine mehr und mehr abgethane Sache. Der umfassendere Begriff des chemischen Phänomens ist als ein einheitlicher für die Umwandlungen des Unorganischen wie für das Leben im physiologischen Sinne nachgewiesen. Es fehlt viel daran, dass von dem Begriffe des Lebens, wenn er auf physiologischem und psychischem Gebiete angewandt wird, das Gleiche gesagt werden könnte. Im Gegentheil sieht man sich, wenn man den Blick von Aussen nach Innen wendet, wie in eine neue Welt versetzt. Die Erscheinungen sind völlig heterogen, und selbst die Analogien verlassen uns gänzlich oder nehmen einen sehr vagen und künstlichen Charakter an33. Das war ja auch der Grund, wesshalb wir vorher bei der fundamentalen Eintheilung des empirischen Wissensgebietes die psychische und die physische Wissenschaft als Hauptzweige von einander schieden. Der unglückliche Erfolg, den man hienach dem Versuche von Horwicz von vorn herein verkünden konnte, bewährt sich auch thatsächlich. Eine tiefer und sicherer begründete Seelenlehre hoffte er zu geben, aber er hält sich an oberflächliche Aehnlichkeiten und baut Hypothesen auf Hypothesen. Ein Beispiel für viele sind die zwei „wichtigen Analogieen des seelischen Lebens mit dem leiblichen“, welche er in seinen psychologischen Analysen am „Ariadnefaden des Nervensystems“ findet34. Die eine ist die zwischen der Verdauung im gewöhnlichen Sinne des Wortes, die aus den von Aussen aufgenommenen Rohstoffen durch allmälige Umwandlung und stufenweise Erhebung das arterielle Blut und aus ihm unsere Muskeln, Sehnen, Knochen, Nerven u. s. w. bildet, und der tropisch sogenannten Verdauung auf dem Gebiete des Seelenlebens. Der Assimilationsprocess, meint er, sei hier ganz ähnlich. „Von Aussen treten die Einwirkungen der Dinge als Reize an die Perceptionsorgane der sensiblen Nerven. Aus ihnen als dem Rohmaterial nimmt die Seele (was wir nun einmal so nennen) ihre Nahrung in Form von Empfindungen auf. Wir sagen mit Recht, wenn uns eine Menge ganz fremder Eindrücke auf einmal trifft, wir müssten das erst verdauen. Die Seele aber verdaut, indem sie das ihr durch die Nerven zugeführte Rohmaterial zu Empfindungen und zu seelischen Producten immer höherer Art als Vorstellungen, Begriffe, Urtheile, Schlüsse, Gefühlsrichtungen, Entschlüsse, 33 Vgl. Lotze, Mikrokosmus I. S. 160 f. 34 Psych. Anal. I. S. 148 ff.

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Pläne, Maximen u. s. w. verarbeitet.“ Die andere Analogie soll die zwischen dem Gegensatze sensibler und motorischer Nerventhätigkeit, welcher das ganze Nervensystem beherrsche, während das sogenannte Centralorgan nur in Einschaltungsstücken zwischen diesen polarisch entgegengesetzten Strömen bestehe, und dem „eben so polarisch feindlichen, eben so tief und eben so allgemein durchgreifenden“, in verschiedenen Formen sich offenbarenden Gegensatze der seelischen Processe sein. Es ist dies der Gegensatz zwischen theoretischer und praktischer Grundrichtung, welcher, wie Horwicz glaubt, das ganze Gebiet des Seelenlebens durchsetzt. Auf diese beiden Analogieen gestützt, kommt er nach physiologischer Methode zu seiner Grund­ein­thei­lung der psychischen Phänomene, von der er selbst sagt, dass sie mit dem „eigentlich ganz richtigen Skelett des Seelenlebens, das Wolff aufstellte,“ wesentlich zusammentreffe. Die psychischen Phänomene zerfallen einerseits in niedere und höhere, andererseits in Phänomene des Erkennens und Begehrens, und beide Eintheilungen kreuzen einander. Nur gibt es, wie zwischen den niederen und höheren Phänomenen, so auch zwischen denen des Erkennens und Begehrens Uebergangsstufen, und hier findet die Classe der Gefühle, welche neuere Psychologen zu unterscheiden pflegen, ihre Stelle. Auf sie weisen jene Einschaltungsstücke des Centralorgans hin. Und so gelangen wir denn auf Grund physiologischer Betrachtung ziemlich zu den gemeinüblichen Grundeintheilungen, nur vermöge eines exacteren Verfahrens, das, was es lehrt, auch sichert und erklärt. Es ist in der That schwer begreiflich, wie, trotz aller Voreingenommenheit für die Untersuchung auf dem Wege physischer Betrachtung, ein so urtheilsfähiger Kopf wie Horwicz sich darüber täuschen konnte, dass mit diesen rohen Analogieen (von welchen die eine nicht einmal auf das „Nervensubstrat des Seelenlebens“ mehr als auf andere Bestandtheile des Organismus sich bezieht) für das, was man etwa auf dem Wege psychischer Beobachtung gefunden, auch nicht die geringste Bekräftigung, geschweige ein Ersatz zu gewinnen war. Wenn jene psychischen Classificationen nicht sicher waren, so ist es die Hypothese, wonach die sensiblen Nerven für das Erkennen, die motorischen für das Begehren als Substrat zu betrachten wären, noch viel weniger. Andere Physiologen haben diese Phänomene in Nervencentren und zwar Denken und Wollen in dieselben Nervencentren verlegt. Und in der That, warum sollten nicht, wie viele und verschiedene Gattungen von physischen, so auch viele und verschiedene Gattungen von psychischen Eigenschaften ein und demselben Stoffe zugeschrieben werden können? Es wird

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sich also schlechterdings auf diesem Wege über die Zahl der Seelenvermögen nichts ermitteln lassen35. Wie nun hier schon die angestrebte Begründung und Sicherung vielmehr nur die Beigabe einer ganzen Zahl gewagter Hypothesen war, so finden wir etwas Aehnliches fast bei jedem weiteren Schritte. Und da mit jeder neuen Hypothese die Wahrscheinlichkeit in geometrischem Verhältnisse abnimmt, so dürfen wir längst die moralische Ueberzeugung haben, von dem Wege der Wahrheit abgekommen zu sein, wenn wir, von dem Verfasser unerschrocken weitergeführt, zu dem Satze gelangen, „dass die innige und nothwendige Verbindung von Empfindung und Bewegung das einfache Element bildet, aus dem sich alle seelischen Processe bloss durch Wiederholung und Complication aufbauen“. Dass das Wort Newton’s „hypotheses non fingo“ auf ihn als physiologischen Analytiker psychischer Erscheinungen nicht anzuwenden sei, dessen ist Horwicz selbst sich wohl bewusst, und er scheint sich zuweilen über die Unmöglichkeit seines Unternehmens völlig klar zu werden. So sagt er einmal (S. 156), die Physiologie vermöge „nicht in das feinere Detail der Seelenprocesse einzudringen“ (wie helles Licht sie auf die höchsten Classificationen geworfen, haben wir gesehen). Und wieder (S. 175) bekennt er, dass es zur erklärenden Zurückführung eines seelischen Gebildes auf seine physiologische Grundlage „vorläufig immer noch an sehr wesentlichen Bindegliedern fehlt“. Er stellt (S. 183) der Physiologie zwar die „grosse Aufgabe“, die ganze Mannigfaltigkeit der Empfindungen und Bewegungen aus einem einzigen Erregungszustand der Nerven abzuleiten, aber er gibt zugleich zu, dass wir von diesem Ziele „noch weit entfernt“ sind. Und wiederum sagt er (S. 224), es sei „höchst misslich, die physiologischen Erfahrungen zu Schlüssen über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Bewusstein zu verwer­then“. Er erkennt (S. 235) an, dass „die physiologischen Bedingungen des Schlafes unbekannt“ seien, worin enthalten ist, dass wir auf physiolo35

Horwicz selbst sagt: Wir müssen „bestimmt annehmen, dass alle seelische Action an die Centralorgane des Nervensystems geknüpft sei. Wir konnten es nicht wahrscheinlich finden, dass die verschiedenen Eigenschaften, Kräfte, Vermögen (oder wie man sich ausdrücken will) der Seele sich, wie die Phrenologen wollen, in bestimmte Partieen der Nervenmasse getheilt haben, sahen uns vielmehr zu der Annahme genöthigt, dass die verschiedenen Organe und Gruppen und Systeme von Organen im Wesentlichen dieselben Functionen verrichteten, dass den einzelnen Centralorganen, resp. Theilen derselben, nicht verschiedene Seelenkräfte entsprechen u. s. w.“ (Psych. Anal. I . S. 223.) Was für ein Werth soll aber dann der von ihm durchgeführten Analogie zukommen?

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gischem Wege nicht einmal von der Existenz eines so merkwürdigen Phänomens eine Ahnung haben würden. Alles, was der Physiologe hier bieten kann, sind auch nach ihm (S. 250) „für jetzt nur fromme Wünsche und Phantasieen“. Sehr offen und umfassend endlich ist das Geständniss, das er (S. 288) gelegentlich der Phänomene der Erinnerung ablegt: „Wir erinnern wiederholt, dass es sich bei dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft nur um Hypothesen und denkbare Möglichkeiten handeln kann. Es kann bei einer Materie, bei welcher Messer und Nadel so vollständig im Stiche lassen, selbstverständlich nicht darauf ankommen, zu sagen, wie die Dinge wirklich sein müssen; was man eben nicht weiss.“ Also auf Grund der Physiologie können wir, meint er, zwar Einiges als irrig bezeichnen, aber was die Wahrheit sei, keineswegs bestimmen. Es bleibt für mannigfache Hypothesen ein Spielraum. Liegt aber die Sache so, dann mögen wir der Physiologie zwar manchmal für einen warnenden Wink dankbar sein, aber sie im eigentlichen Sinne zur Führerin nehmen, wie Horwicz es thun will, das können wir sicher nicht. Nicht einmal eine Erklärung schon festgestellter psychischer Thatsachen wird sie uns geben können, oder diese wird von der Art sein, wie z. B. die, welche Horwicz (S. 325 ff.) für die von ihm anerkannte Einheit des Bewusstseins gibt. Auch hier sagt er selbst wiederholt und in aller Bescheidenheit, die Sache liege „noch zu sehr im Dunkeln“. Das einzige zur Zeit Erreichbare sei, „anzugehen, auf welche physiologisch denkbare Weise es sich verhalten könnte, was in dieser Hinsicht wenigstens physiologisch möglich wäre“. „Welcher Besonnene“, ruft er aus, „macht sich auch an psychologische Untersuchungen in der Erwartung, das letzte Räthsel des physisch-psychischen Zusammenhanges durch seine Analysen erschlossen zu sehen.“ Er wolle, sagt er, nicht mehr als andeuten, „wie ungefähr die Theorie beschaffen sein müsse, welche die Erscheinungen der Reproduction auch physiologisch einigermaassen denk- und begreifbar mache“, er suche sich „nur ein Bild zu machen, eine Vorstellung zu gewinnen, wie die Sache physiologisch sich verhalten könne“. Ob er aber auch nur dieses wirklich erreicht habe, dürfte Manchem zweifelhaft bleiben. §. 6.   Wenn nicht mehr, so doch sicher auch nicht weniger als Horwicz hat Maudsley die Nothwendigkeit hervorgehoben, die Psychologie auf Physiologie zu gründen. Manchmal scheint er, wie wir auch oben schon erwähnten, geneigt, mit Comte das Selbstbewusstsein ganz und gar zu leugnen; wo er es aber anerkennt, da hebt er mit Nachdruck sein gänzliches Ungenügen hervor.

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In einer Kritik von St. Mill’s Werk über Hamilton, die er im „Journal of Mental Science“ 1866 veröffentlichte, macht Maudsley es diesem Denker zum grossen Vorwurfe, dass er auf die physiologische Methode, die sich an Ergebnissen für die Psychologie bereits so fruchtbar erwiesen, keine Rücksicht nehme, dass er sich einbilde, mit dem alten, auf innere Wahrnehmung gegründeten Verfahren das erreichen zu können, was Platon, Descartes, Locke, Berkeley und vielen Andern nicht gelungen sei. „Wir haben“, sagt er, „die feste Ueberzeugung, dass auch tausend Mill nicht im Stande sein werden, etwas, was diese grossen Männer nicht erreicht haben, mit derselben Methode wie sie zu Stande zu bringen, während es keinem Zweifel unterliegt, dass Herr Mill, wenn er sich hätte entschliessen können, sich des neuen Materials und der neuen Methode, die seinen grossen Vorgängern nicht zu Gebote standen, zu bedienen, Erfolge wie kein anderer Sterblicher erzielt haben würde.“ In seiner Physiologie und Pathologie der Seele sucht er sehr eingehend die Unmöglichkeit darzuthun, mit jener alten Methode irgend etwas Erkleckliches zu erzielen. Er hat freilich keine ganz entsprechende Vorstellung von ihr, insofern er glaubt, die älteren Psychologen hätten immer nur auf die ihnen individuell eigenen Phänomene geachtet, und auf alle anderen keine Rücksicht genommen, wesshalb er ihnen den drastischen Vorwurf macht, sie hätten mit einem Talglicht das Universum beleuchten wollen36. Schon dass der eine die Untersuchungen des anderen benützte, hätte ihn hier des Irr­thums überführen können; und hätte er sich sorgfältiger umgesehen, so würde er bei James Mill und früher noch bei Locke, ja schon vor zwei Jahrtausenden bei Aristoteles psychologisch merkwürdige Erscheinungen an anderen Menschen so wie auch an Thieren berücksichtigt gefunden haben. Aber dies bleibt Nebensache, denn „Physiologie oder Psychologie“, das ist die Frage, wie sie Maudsley selbst mit Klarheit formulirt, und er entscheidet sie ganz zu Gunsten der erstgenannten37. Jeder Versuch einer Psychologie gilt ihm von vorn herein als verfehlt, wenn er nicht methodisch auf die Physiologie gegründet wird. Da Maudsley bei seinem Angriffe auf Mill von den fruchtbringenden Ergebnissen gesprochen, welche die physiologische Methode bereits für die Psychologie geliefert, und da er erklärt hatte, nur weil Mill sich nicht ihrer bedient habe, sei es ihm hier versagt geblieben, Erfolge wie kein anderer Sterblicher zu erzielen, so durfte ich wohl mit der Erwartung, reiche Beleh36 37

Phys. u. Path. d. Seele (übers. von Böhm) S. 23. Ebend. S. 22.

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rung über psychologische Fragen zu gewinnen, die Blätter seines Buches entfalten. Aber bald musste ich gewahren, dass sie zwar wiederholte Angriffe auf die alte Methode, nichts aber von den Errungenschaften der neuen enthielten. Ja, angesichts der Aufgabe, an welche er physiologisch Hand anlegen soll, schwindet Maudsley in der Art der Muth, dass er sich selbst und sogar unsere ganze Zeit für unfähig erklärt, sie zu lösen. Er bekennt (S. 7) offen, „dass es bei dem gegenwärtigen Stande der physiologischen Wissenschaften unmöglich sei, sich durch Beobachtung und Experimente über die Natur derjenigen organischen Processe zu unterrichten, welche die körperliche Grundlage der Seelenvorgänge sind.“ Und wiederum sagt er (S. 20): „Alles, was die Physiologie gegenwärtig thun kann, besteht in der Entkräftung der Sätze einer falschen Psychologie.“ Unsere Unwissenheit auf dem betreffenden physiologischen Gebiete, gesteht er, sei so gross, dass sie sehr begreiflicher Weise Zweifel errege, ob die Physiologie jemals im Stande sein werde, eine sichere Grundlage für die Seelenkunde zu legen. Und er tröstet uns damit, dass ja auch auf anderen Gebieten der Wissenschaft einer späteren Zeit Dinge gelungen seien, die vergangenen Jahrhunderten naturgemäss wie etwas Unmögliches erschienen wären. Dann aber fügt er bei: „Freilich ist gegenwärtig noch keine Aussicht auf eine positive Psychologie vorhanden.“ Dies scheint in der That auf dem Standpunkte der physiologischen Methode eine unbestreitbare Wahrheit, deren offenem Bekenntniss selbst Horwicz manchmal nicht fern stand. Und vergleicht man seine kühneren und reicheren Ausführungen mit den vorsichtigeren, spärlichen psychologischen Aufstellungen, welchen wir in dem Verlaufe des Werkes bei Maudsley begegnen, so dient der Widerspruch der beiden in den wesentlichsten Punkten wohl kaum dazu, die verblichene Hoffnung wieder aufzufrischen. Wir sehen also, nicht sowohl „psychologische oder physiologische Methode“, sondern „Sein oder Nichtsein der Wissenschaft“, das ist, für die Gegenwart wenigstens, die Frage, um die es sich handelt. Und es wird darum unumgänglich nöthig sein, sich über sie volle Klarheit zu verschaffen, damit wir nicht an einem von vorn herein unmöglichen Unternehmen nutzlos unsere Kraft vergeuden. Wir haben gehört, wie Maudsley die Frage entschied. Hören wir auch die Motive seiner Entscheidung; denn Maudsley hat in seiner Physiologie der Seele viel eingehender, als Horwicz es gethan, die Gründe für die Nothwendigkeit, die Psychologie methodisch auf Physiologie zu basiren, dargelegt. Sie sind im Wesentlichen die folgenden. Vor Allem liegen nach Maudsley dem Seelenleben materielle Bedingungen zu Grunde, verschieden bei Ver-

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schiedenen und wechselnd bei Ein und Demselben, deren Besonderheiten Besonderheiten des Seelenlebens zur Folge haben. Nur die Physiologie kann über sie Aufschluss geben, das innere Bewusstsein lehrt darüber offenbar nichts38. Ferner hat das Gehirn, als dessen Function nach Maudsley alles Seelenleben zu betrachten ist, auch ein vegetatives Leben. Es unterliegt einem organischen Stoffwechsel, der zwar gewöhnlich, bei gesundem Zustand, unbewusst verläuft, jedoch oft, auch in’s Bewusstsein sich drängend, abnorme Erscheinungen in ihm bedingt. Es treten unwillkürliche Gemüthsbewegungen auf, und ihnen folgt eine Verwirrung der Ideen. So führt z. B. die Gegenwart von Alcohol oder einem andern schädlichen Agens im Blute zu Vorstellungen, die weit ab vom gewöhnlichen Wege der Ideenassociation liegen. Wie kann man anders als mittels einer physiologischen Methode über diese Erscheinungen Aufschluss gewinnen? und wie kann anders als durch sie auch die normale psychische Thätigkeit, die ja nicht minder auf dem organischen Leben des Gehirns beruht, erklärt werden? Dieses besteht in der Assimilation verwendbaren Materials aus dem Blute durch die Nervenzellen, und hiedurch wird nach jeder Leistung, und also auch nach dem Verbrauche, der durch die Vorstellungsthätigkeit in den Nervenzellen gesetzt wurde, das statische Gleichgewicht wiederhergestellt. „Auf diese Weise folgt durch nutritive Attraction eine ständige (habituelle?) Vorstellung auf den Stoffverbrauch, der durch die functionelle Abstossung (functional repulsion) der activen Vorstellung bedingt war. Die Elemente der Ganglienzelle erreichen so allmälig die Entwickelungsstufe auf der sie zur Entfaltung ihrer Energien fähig sind.“ Ueber alles dies schweigt das innere Bewusstsein vollständig39. Ferner. Das Seelenleben involvirt nach Maudsley nicht nothwendig seine Be­thätigung. Descartes behauptete allerdings, dass die Seele immer denke, und dass ihr nicht-Denken ihr nicht-Sein bedeuten würde. Aber das Gegentheil ist richtig. Was mit einer gewissen Vollständigkeit einmal im Bewusstsein vorhanden war, lässt, wenn es daraus verschwunden, eine Spur, eine potentielle oder latente Vorstellung zurück. Weit entfernt also, dass die Seele fortwährend thätig wäre, ist es vielmehr Thatsache, dass in jedem Moment der grösste Theil des Seelenlebens unthätig ist. „Die Kraft der Seele besteht eben so gut in der Aufrechthaltung des Gleichgewichts, wie in der Kundgebung von Energie ... Kein Mensch kann in einem Moment auch nur den tausends38 39

Ebend. S. 12. Ebend. S. 20 f.

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ten Theil seines Wissens sich in’s Bewusstsein rufen. Wie ungemein geringe Rechenschaft kann uns also das Bewusstsein von dem statischen Zustand unserer Seele geben! Aber, da das Gleichgewicht der Seele in Wirklichkeit eben nur der Gleichgewichtszustand der organischen Elemente ist, welche ihren Aeusserungen zu Grunde liegen, so ist es klar, dass, wenn wir irgend etwas von dem unthätigen Zustand der Seele wissen wollen, wir die Fortschritte der Physiologie zu unserer Belehrung in’s Auge fassen müssen40.“ Noch mehr! Nicht bloss schliesst das Seelenleben nicht nothwendig Seelenthätigkeit, auch die Seelenthätigkeit schliesst nicht nothwendig Bewusstsein ein. Maudsley beruft sich hier auf Leibnitz und auf seinen Landsmann Sir W. Hamilton, welcher nach dessen Vorgang ebenfalls die Lehre von unbewussten Vorstellungen vertrat. Auch glaubt Maudsley, es sei nachweisbar, dass das Organ der Seele sich oft, ja gewöhnlich, unbewusst mittels der Sinne die Einflüsse seiner Umgebung aneigne, nämlich im Zustande völliger Unachtsamkeit. Obwohl der Eindruck dann keine bewusste Vorstellung hervorbringe, so bleibe er nichtsdestoweniger und beeinflusse fortwährend das Seelenleben41. Ebenso erfahre das Gehirn als Centralorgan unbewusst verschiedene innere Reize von andern Organen, auf welche es seinerseits reagire. Der Einfluss der Sexualorgane auf das Gehirnleben sei dafür ein deutliches Beispiel42. Auch verarbeite es unbewusst das Material und rufe ohne Bewusstsein die latenten Residua wieder wach. „Des Schriftstellers Bewusstsein“, sagt er, „ist hauptsächlich mit seiner Feder und mit der Gestaltung der Sätze beschäftigt, während die Früchte der unbewussten Seelenthätigkeit, unbewusst herangereift aus unbekannten Tiefen, in das Bewusstsein emporsteigen und mit seiner Hülfe in passende Worte eingekleidet werden43.“ Er citirt das Wort Goethe’s: „Ich habe nie an Denken gedacht“, welches ihn auf die Vermuthung bringt, das der Mensch in seiner höchsten Entwickelung zu einer ähnlichen Unbewusstheit seines Ich wie das Kind gelangt sei und mit kindlicher Unbewusstheit in seiner organischen Entwickelung fortfahre44. So kommt er denn zu der Behauptung, dass nicht bloss das Seelenleben nicht nothwendig Seelenthätigkeit und die Thätigkeit der Seele Bewusstsein einschliesse, sondern „dass der wichtigste Theil der Seelenthätigkeit, der 40 41 42 43 44

Ebend. S. 15 f. Ebend. S. 13 f. Ebend. S. 19 f. Ebend. S. 16. Ebend. S. 32.

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wesentlichste Process, von dem das Denken abhängt, in einer unbewussten Thätigkeit der Seele bestehe“. Er wiederholt demnach die Frage: „Wie kann das Bewusstsein hinreichen, uns die Thatsachen für eine wahre Kenntniss der Seele zu liefern?“45 Zu dem Allem kommt schliesslich, wenn anders ich Maudsley recht verstehe, noch ein Hinweis auf das Princip der Vererbung von Geschlecht zu Geschlechte46. Wie in dem Einzelnen Residua des früheren Seelenlebens fortbestehen, so erhalten sie sich auch in der Art. Das Genie unterscheidet sich von der gemeinen Menge der Sterblichen, wie der Schmetterling, der fliegt und von Honig sich nährt, von der Raupe, welche kriecht und von Blättern lebt. Aber doch ist das Kriechen der Raupe die Vorbedingung für den Flug des Schmetterlings; und das mühselige bewusste Wirken der gewöhnlichen Arbeitskraft liefert die Vorbedingungen zu den unbewussten Schöpfungen des reichgebornen Geistes. Es ist klar, dass dieser Einfluss der Vererbung wiederum dem Gebiete des Bewusstseins entzogen ist. Dieses sind im Wesentlichen die Gründe, durch welche Maudsley es für erwiesen hält, dass kein psychologischer Versuch, ausser ein solcher, der die Seelenerscheinungen von der physiologischen Seite erforsche, der Aufgabe genügen könne. Dass nun dieses in einer gewissen Weise wahr ist, würde ich wenigstens auch vor seinen Argumenten ihm zugestanden haben; ob es aber in dem Sinne und in dem Maasse wahr sei, in welchem er selbst glaubt, muss untersucht werden, und wir wollen zu dem Zwecke seine Gründe in etwas nähere Erwägung ziehen. Vor Allem ist es bemerkenswerth, dass von den Thatsachen, auf welchen Maudsley fusst, um die Unfähigkeit der psychischen und die Nothwendigkeit der physiologischen Methode darzuthun, ein guter Theil selbst nur durch psychische, der Rest aber jedenfalls ohne tiefergehende physiologische Betrachtungen gewonnen wurde, da er vielmehr, noch ehe man von Gehirnphysiologie eine Ahnung hatte, bekannt war. Auf psychischem Wege kam man zu den Annahmen angeborener Kenntnisse und einer Genialität, die leicht und durch unmittelbare Intuition das erfasse, welchem Andere nur mühsam durch langwierige Erörterung sich nähern. Ebenso waren es psychische Erscheinungen, die zuerst Leibnitz dahin führten, an unbewusste Vorstellungen zu glauben, und die später Hamilton und Andere bestimm45 46

Ebend. S. 19. Ebend. S: 32 ff., vgl. S. 17 f.

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ten, seiner Lehre beizupflichten. Und wiederum geschah es auf Grund von inneren Erfahrungen, wenn schon im Alterthum Aristoteles jene unbewussten Habitus und Dispositionen lehrte, die Maudsley als statischen Zustand des Seelenlebens bezeichnet. Der Einfluss der vegetativen Processe und die psychischen Störungen in Folge des Genusses berauschender Getränke, sowie der Zusammenhang physischer mit psychischen Eigenthümlichkeiten überhaupt sind aber Thatsachen, deren Kenntniss sich bis in eine graue Vorzeit zurückverfolgen lässt. Es hätte also diese Erkenntniss des eigenen Unvermögens wenigstens die psychische Methode nicht eigentlich der physiologischen, sondern der Hauptsache nach sich selbst zu danken. Dann aber ist zu beachten, dass Einiges von dem, was Maudsley zum Stützpunkt seiner Angriffe macht, keineswegs so vollkommen, wie er zu glauben scheint, gesichert ist. Dies gilt z. B. hinsichtlich der Vererbung, wenn anders Maudsley wirklich eine Vererbung von Kenntnissen meint. Und wir werden hierauf, wenn wir von den angeborenen Ideen handeln, zu sprechen kommen. Sollte dagegen Maudsley nur eine Vererbung von besonderen Anlagen behaupten wollen, welche einen grossen psychischen Unterschied zwischen verschiedenen Individuen begründe, so wäre die Schwierigkeit, welche hieraus der psychologischen Erforschung erwüchse, keine, die nicht schon in den früher hervorgehobenen enthalten wäre, und mit ihnen zugleich würde dann auch sie sich erledigen. Auch die Existenz unbewusster Vorstellungen ist weit davon entfernt, als eine gesicherte Thatsache gelten zu können. Die Mehrzahl der Psychologen verwirft sie. Und was mich betrifft, so scheinen mir nicht bloss die für ihre Annahme erbrachten Gründe nicht schlagend, sondern ich hoffe später in einer Weise, die kaum einem Zweifel Raum lassen dürfte, die Wahrheit des Gegentheils darzuthun47. Maudsley beruft sich auf Thatsachen, wie die bekannte Geschichte, „welche Coleridge von einem Dienstmädchen erzählt, das im Fieberdelirium lange Stellen in hebräischer Sprache recitirte, die es nicht verstand und in gesunden Tagen nicht wiederholen konnte, die es aber, als es bei einem Geistlichen wohnte, diesen laut vortragen gehört hatte“, ebenso auf das starke Gedächtniss, welche gewisse Idioten zeigen, und dergleichen mehr. Diese Erscheinungen, meint er, lieferten einen klaren Beweis für unbewusste Seelenthätigkeit. Ich sehe nicht ein, aus welchem Grunde. Sowohl beim Hören hatte jenes Dienstmädchen vom Hören, als auch bei 47 Vgl. das II. Buch, 2. Capitel, welches in den §§. 4 und 5 auch auf Maudsley’s Argumente zurückkommt.

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der Wiederkehr des früher Gehörten in der Phantasie von den in ähnlicher Weise erneuerten Erscheinungen ein Bewusstsein. Wenn aber Goethe sagt, er habe nie an Denken gedacht, während es bei ihm doch gewiss nicht an Denken fehlte, so will er wohl nichts Anderes sagen, als dass er sich nie bei seinem Denken beobachtet habe, was nach unserer früheren Erörterung noch keineswegs bedeutet, dass sein Denken ein unbewusstes gewesen sei. Denn sonst könnte man ihn fragen, auf welchem Wege er zu dem Begriffe des Denkens selbst gekommen sei, von dem er redet. Das Alles scheint also weder gesichert, noch auch wahr. Unzweifelhaft dagegen ist der Bestand jener habituellen Dispositionen in Folge früherer Acte. Und dass ihre Existenz nicht geleugnet werden kann, ist ein Zeichen, dass die psychische Methode nicht so ganz machtlos ist, wie Maudsley glaubt; denn, wie gesagt, nur auf psychischem Wege kam man zu ihrer Erkenntniss. Freilich zeigt es auf der anderen Seite unleugbar auch eine Schranke, welche mit psychologischen Mitteln nicht zu übersteigen ist. Denn wollen wir überhaupt es als sicher zugeben, dass diese erworbenen Fähigkeiten und Dispositionen an Wirklichkeiten geknüpft sind (und ich wenigstens nehme keinen Anstand, es zu thun, obwohl mancher andere Metaphysiker, wie z. B. J. St. Mill, Bedenken tragen würde), so müssen wir eingestehen, dass dieselben keine psychischen Phänomene sind, da sie sonst, wie wir darthun werden, bewusst sein würden. Die psychische Betrachtung lehrt sie nur als in sich unbekannte Ursachen, welche das Entstehen von späteren psychischen Phänomenen beeinflussen, sowie als in sich unbekannte Wirkungen von früheren psychischen Erscheinungen kennen. Auf dem einen sowohl als auf dem andern Wege kann sie in einem einzelnen Falle nachweisen, dass sie sind; ein Wissen von dem, was sie sind, kann sie uns dagegen niemals und in keiner Weise geben. Allein wird unsere Erkenntniss der „statischen Zustände des Seelenlebens“, die wir auf psychischem Wege in so beschränkter Weise gewinnen, desshalb als werthlos zu betrachten sein? – Wenn dies, was für einen Werth sollten wir dann der Naturwissenschaft beilegen, die viel früher auf solche Schranken stösst? Denn, wie schon gesagt, geben uns die physischen Phänomene der Farbe, des Tones und der Temperatur, sowie auch das der örtlichen Bestimmtheit von den Wirklichkeiten, durch deren Einfluss sie in uns zur Erscheinung kommen, keine Vorstellung. Wir können sagen, dass es solche Wirklichkeiten gibt, wir können gewisse relative Bestimmungen von ihnen aussagen: was aber und wie sie an und für sich sind, bleibt uns völlig undenkbar. Und wenn darum die Physiologie des Gehirns sogar eine vollen-

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dete Ausbildung erlangt hätte, so würde sie über das, was die Wirklichkeiten, an die sich jene erworbenen Dispositionen knüpfen, in Wahrheit sind, nicht mehr als die rein psychische Betrachtung uns belehren können. Sie würde nichts als gewisse physische Erscheinungen angeben, denen dasselbe unbekannte x als Ursache zu Grunde läge. Dennoch würde sie in einer andern Beziehung wenigstens uns mehr bieten. Wenn ein psychisches Phänomen eine Disposition zurücklässt, aus welcher später einmal wieder ein ihrer Ursache ähnliches Phänomen erzeugt wird, so zeigt uns die innere Erfahrung zwar den früheren und den späteren psychischen Zustand und lässt uns einen gesetzmässigen Zusammenhang zwischen ihnen erkennen, aber über Alles, was etwa zwischen beiden vermittelt, gibt sie uns keine Andeutung. Anders würde es sein, wenn wir die physischen Phänomene kennten, welche man unter geeigneten Bedingungen in der Zwischenzeit im Gehirn auf einander folgen sähe. Wir hätten dann eine Reihe von Zeichen, welche in ihrer Aufeinanderfolge der Aufeinanderfolge des unbekannten wirklichen Seins entsprechen würden, und könnten in Relation zu diesen Zeichen verschiedene vermittelnde Glieder zwischen den beiden innerlich bewussten Phänomenen einschalten. So würden wir das psychisch gefundene Gesetz in einer ähnlichen Weise erklären, wie anderwärts ein Naturgesetz, wenn wir bei einem mittelbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung Zwischenglieder entdecken. Und da es sich zeigt, dass jene vermittelnden physischen Phänomene nicht immer gleichförmig verlaufen, und dass an die Verschiedenheit ihres Verlaufs eine Verschiedenheit der späteren psychischen Erscheinung sich knüpft, so würde die Vermehrung unserer Kenntnisse von noch grösserer Wichtigkeit sein. Wenn in jedem Falle das empirische Gesetz für den Zusammenhang der beiden psychischen Phänomene durch die physiologischen Entdeckungen eine Erklärung und vollkommenere Sicherung gefunden hätte, so würde ihm nun zugleich eine genauere Präcision gegeben werden. Denn die Abweichungen von einer strengen Regelmässigkeit offenbaren sich allerdings auch dem bloss psychisch Betrachtenden, aber er kann ihnen nicht anders Rechnung tragen, als indem er sein Gesetz durch ein „gewöhnlich“ und „ungefähr“ abschwächt. Der durch die Physiologie unterstützte Psychologe dagegen wird mit der Erklärung des Gesetzes auch die genauere Angabe der Fälle von Ausnahme und Modification zu verbinden im Stande sein. So hat Maudsley hier allerdings mit Recht auf eine Schwäche jeder nicht physiologischen Psychologie hingewiesen. Aber Unrecht hatte er, wenn er ihrer Leistung statt eines beschränkten Werthes gar keinen Werth zuer-

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kannte. – Wir geben zu, das auf psychischem Wege gefundene Gesetz der Succession ist empirisch und weiterer Erklärung bedürftig. – Aber hat die Naturwissenschaft nicht auch manches empirische und weiterer Erklärung bedürftige Gesetz, welchem sie dennoch einen hohen Werth beilegt? Oder waren die von Kepler entdeckten Gesetze etwa werthlos, ehe Newton die Erklärung für sie gegeben hatte? – Wir geben ferner zu, das auf psychischem Wege gefundene Gesetz der Succession entbehrt der vollkommenen Genauigkeit und Schärfe. Aber hat nicht auch die Naturwissenschaft Gesetze, von welchen dasselbe gilt? Waren nicht, um zu demselben grossen Beispiel zu greifen, die Gesetze Kepler’s selbst von mangelhafter Genauigkeit? und um wie viel mehr erst diejenigen, welche Kopernikus den Lauf der Planeten beherrschend dachte? Und doch war die von ihm gelehrte Kreisdrehung der Erde um die Sonne bereits eine werthvolle, epochemachende Annäherung. Es folgt also, wie gesagt, aus der vorangegangenen Betrachtung zwar eine Einschränkung, keineswegs aber eine Vernichtung des Werthes der Forschungen auf psychischem Wege. Etwas ganz Aehnliches gilt hinsichtlich des vorhergehenden Arguments. Maudsley sagt nicht mit Unrecht, dass die psychische Thätigkeit auf dem organischen Leben des Gehirns beruhe. Welcher der etwa noch möglichen Ansichten man auch huldigen möge, das Eine kann Niemand leugnen, dass die Processe des Gehirns, welche in der Succession von physischen Phänomenen ihre Zeichen haben, von wesentlichem Einfluss auf die psychischen Phänomene sind und dieselben mitbedingen. Somit ist es klar, dass, wenn sogar der vegetative Verlauf der Processe im Gehirn, abgesehen von Unterschieden in Folge des Einflusses psychischer Phänomene selbst, immer in vollkommen gleicher Weise statthätte, die bloss psychische Betrachtung, indem sie von so wichtigen Mitursachen keine Kenntniss nähme, in den Gesetzen der Succession, die sie aufstellte, nur empirische, weiterer Erklärung bedürftige Gesetze geben würde. Im Uebrigen erlitte wenigstens die Allgemeingültigkeit ihrer Gesetze in diesem Falle keine Beschränkung. Aber auch dies tritt ein, wenn das vegetative Leben des Gehirns in Folge verschiedener physischer Einflüsse variiren kann, und mächtigen krankhaften Störungen, die anomale psychische Erscheinungen nach sich ziehen, unterworfen ist. In diesem Falle, der thatsächlich vorliegt, ist es offenbar, dass die auf psychischem Wege gefundenen empirischen Gesetze nur innerhalb gewisser Schranken gültig sind. Es wird darum nöthig sein, nach sicheren Zeichen dafür zu suchen, ob man auf eine solche Schranke gestossen. Doch dies hat man mit nicht unbedeutendem Erfolge bereits gethan; und die Trunkenheit

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z. B. verräth sich auch dem nicht-Psychologen in nicht leicht misszuverstehenden Aeusserungen. Nur innerhalb solcher Grenzen, hier aber mit Recht, werden wir den Gesetzen vertrauen. Es sei noch bemerkt, dass, wenn die Psychologie in dieser Weise für gewisse empirische Gesetze eine Schranke der Anwendbarkeit findet, diese Schranke nicht nothwendig zugleich Schranke ihrer Forschung ist. Sie kann eine Charakteristik der anomalen Zustände geben und kann für sie wieder ebenso die besonderen Gesetze des Verlaufs, wie für die normalen Zustände feststellen. Es ist von vorn herein nicht unwahrscheinlich, und die Erfahrung bestätigt es deutlich, dass diese besonderen Gesetze von complicirter Art sind, und dass in ihre Complication die gewöhnlichen Gesetze miteingehen. Darauf, dass man auch die Gesetze psychischer Succession bei anomalen Zuständen bis zu einem gewissen Maasse kennt, gründet sich der vielleicht wesentlichste Theil der ärztlichen Behandlung geistesgestörter Personen, nämlich die sogenannte moralische Behandlung der Irren. Das Ergebniss der Prüfung dieses Einwandes, der sich auf die Unzugänglichkeit von Mitbedingungen psychischer Erscheinungen bezog, ist also ganz ähnlich demjenigen, zu welchem die Prüfung des vorigen Einwandes führte, der die Unzugänglichkeit von Vorbedingungen psychischer Erscheinungen für die psychische Untersuchung geltend machte. Hienach sieht Jeder, was auch auf das erste Argument zu antworten ist, das einzige, auf welches uns noch zu entgegnen erübrigt. Wenn dem psychischen Leben, wie Maudsley sagt, materielle Bedingungen zu Grunde liegen: so beweist dies nur, dass die auf psychischem Wege allein zu findenden Gesetze der Succession keine eigentlich letzten Grundgesetze sind und eine Erklärung zu wünschen übrig lassen, die nur mittels physiologischer Forschung erreichbar ist. Mehr beweist es nicht. Und wenn die Unterschiede dieser physischen Bedingungen bei verschiedenen Personen Unterschiede ihres Seelenlebens zur Folge haben: so beweist dies nur, dass in demselben Maasse, als dies der Fall ist, die in unterschiedsloser Allgemeinheit aufgestellten Gesetze an Präcision verlieren; und dass es, um diesem Mangel abzuhelfen, wünschenswerth ist, dass eine specielle Psychologie (wie z. B. eine Psychologie der Frauen einerseits, der Männer andererseits), um nicht zu sagen eine individuelle Psychologie, wie Bacon sie wollte, und wie Mancher sie sich bis zu einem gewissen Grade für einzelne Bekannte bildet, zur allgemeinen hinzukomme. Im Uebrigen zeigt es sich an den allgemeinen Beschreibungen der Zoologen wie Botaniker, die doch auch mit Arten zu thun haben, in welchen kein Individuum dem anderen vollkommen gleicht,

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dass auch in solchen Fällen die allgemeinen und durchschnittlichen Bestimmungen nicht ohne hohen Werth bleiben. Ein solcher wird denn auch den auf rein psychologischem Wege gefundenen Gesetzen nicht abgesprochen werden können. §. 7.   Wir haben die Ansicht derjenigen geprüft, welche sagen, die Psychologie könne allein auf physiologischer Grundlage ihre Aufgabe lösen; jeder Versuch dagegen, der sich nur auf die Betrachtung psychischer Erscheinungen stütze, müsse erfolglos bleiben. Indem wir die Behauptung auf ihr richtiges Maass zurückführten, kamen wir zu einem Ergebniss, das mit früheren Bestimmungen im Einklang war. Es erwies sich als unrichtig, dass auf psychischem Wege nichts erreichbar sei: als richtig, dass auf ihm nicht Alles erreicht werden könne. Es erwies sich als unrichtig, wenn man glauben machen wollte, es liessen sich auf Grund psychischer Erfahrungen keine Gesetze feststellen: als richtig, wenn man sich darauf beschränkte, zu sagen, es sei nur auf Grund physiologischer Thatsachen ein Vordringen zu eigentlichen Grundgesetzen für die Succession psychischer Erscheinungen möglich. Die höchsten Generalisationen auf Grund ausschliesslicher Betrachtung der Aufeinanderfolge psychischer Erscheinungen konnten nichts anderes als empirische Gesetze sein, behaftet mit Mängeln und Unvollkommenheiten, wie sie auch sonst secundären Gesetzen, für welche die Ableitung fehlt, eigen zu sein pflegen. Wirft man nun die Frage auf, ob die Psychologie wohl thun werde, auf Grund physiologischer Data jene letzte Rückführung ihrer höchsten Gesetze auf eigentliche Grundgesetze anzustreben: so ist es wohl klar, dass die Entscheidung ähnlich derjenigen sein muss, welche A. Bain48 hinsichtlich der Vortheile einer Einmischung physiologischer in psychologische Untersuchungen in allgemeinerer Weise gegeben hat. Auf einer Stufe der Erkenntniss mag der Versuch dienlich sein, während er auf einer andern nachtheilig ist. Obwohl wir nun hoffen und sehnlichst wünschen, dass die Physiologie des Gehirns einmal jene Ausbildung erreichen werde, die sie zu einer Erklärung der höchsten Gesetze psychischer Succession anwendbar macht: so glauben wir doch, dass die Geständnisse derjenigen selbst, welche am Eifrigsten eine Benützung der Physiologie befürworteten, mit zweifelloser Klarheit zeigen, dass die Stunde dafür noch nicht gekommen ist. Und so sagt denn J. St. Mill mit vollem Rechte: „Die Hülfsmittel der psychologischen Analyse zu ver48 Logic II, p. 276.

Capitel 3. Induction der höchsten Gesetze.

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werfen und die Psychologie auf Data zu gründen, wie sie die Physiologie bis jetzt darbietet, scheint mir ein sehr grosser Irrthum im Principe zu sein und ein sehr ernstlicher Irrthum in der Praxis. Wie unvollkommen auch die psychische Wissenschaft sein mag, so stehe ich doch nicht an zu behaupten, dass sie bedeutend weiter vorgeschritten ist, als der ihr entsprechende Theil der Physiologie: und die erstere für die letztere hinwegzugeben, scheint mir eine Verletzung der wahren Regeln der inductiven Philosophie, eine Verletzung, welche in einigen sehr wichtigen Zweigen der Wissenschaft von der menschlichen Natur irrige Schlüsse nach sich zieht und ziehen muss49.“ Wir können noch mehr sagen. Nicht bloss das Hinweggeben der psychologischen Untersuchung für die physiologische, auch die Beimischung der letzteren in bedeutendem Umfange scheint wenig räthlich. Es gibt bis zur Stunde überhaupt nur wenige gesicherte Thatsachen der Physiologie, welche auf die psychischen Erscheinungen Licht zu werfen geeignet sind. Zur Erklärung der Gesetze ihrer Succession wären wir an die luftigsten Hypothesen gewiesen; und würden viele geistreiche Köpfe sich hier versuchen, so würden wir bald eine solche Fülle seltsam combinirter Systeme und einen solchen Gegensatz divergirender Meinungen sehen, wie sie etwa das Gebiet der Metaphysik heutigen Tages aufzuzeigen hat. Weit entfernt, hiedurch etwas für die Sicherung der psychischen Gesetze gewonnen zu haben, würden wir diese dem Verdacht aussetzen, selbst in gleicher Weise hypothetisch zu sein. Aus demselben Grunde, wesshalb es uns gut schien, möglichst von allen metaphysischen Theorien Umgang zu nehmen, wird es also zweckmässig sein, auch von den Hypothesen zum Behuf physiologischer Erklärung abzusehen. Dass Hartley dies nicht gethan, war, wie J. St. Mill in seiner Vorrede zur Analyse der Phänomene des menschlichen Geistes bemerkt, ein wesentlicher Grund, warum sein genialer Versuch lange Zeit nicht die verdiente Berücksichtigung fand.

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Deduct. u. Induct. Logik; Buch VI. Cap. 4. §. 2. (Uebers. v. Schiel.)

Viertes Capitel. Fortsetzung der Untersuchungen über die Methode der Psychologie. Ungenauer Charakter ihrer höchsten Gesetze. Deduction und Verification. §. 1.   Die höchsten Gesetze, auf welche wir heutigen Tages, und wohl auch lange noch, die Erscheinungen psychischer Succession zurückführen können, sind, wie wir sahen, bloss empirische Gesetze. Noch mehr! sie sind auch Gesetze von einem gewissen unbestimmten, inexacten Charakter. Und dies hat, wie wir bereits in Kürze gezeigt haben, zum Theil in dem Vorigen seinen Grund; zum Theil aber ist die Ungenauigkeit Folge eines anderen Umstandes. Kant hat seiner Zeit der Psychologie die Befähigung abgesprochen, jemals zum Range einer erklärenden Wissenschaft und einer Wissenschaft im eigentlichen Sinne sich zu erheben. Der wesentlichste Grund, der ihn dabei bestimmte, war der, dass die Mathematik auf psychische Phänomene nicht anwendbar sei, da diese zwar einen zeitlichen Verlauf, aber keine räumliche Ausdehnung hätten50. Wundt in seiner „Physiologischen Psychologie“ sucht diesen Einwand zu entkräften. „Es ist“, sagt er hier, „nicht richtig, dass das innere Geschehen nur eine Dimension, die Zeit, hat. Wäre dies der Fall, so würde allerdings von einer mathematischen Darstellung nicht die Rede sein können, weil eine solche immer mindestens zwei Dimensionen, d. h. zwei Veränderliche, die dem Grössenbegriff subsumirt werden können, verlangt. Nun sind aber unsere Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle intensive Grössen, welche sich in der Zeit an einander reihen. Das innere Geschehen hat also jedenfalls zwei Dimensionen, womit die allgemeine Möglichkeit, dasselbe in mathematischer Form darzustellen, gegeben ist51.“ Wundt zeigt sich also darin mit Kant einverstanden, dass, wenn die psychischen Erscheinungen keine andere continuirliche Grösse als die zeitliche Ausdehnung hätten, der wissenschaft50 Metaph. Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Vorrede. 51 Grundzüge d. physiol. Psych. S. 6.

Capitel 4. Ungenauigkeit der höchsten Gesetze.

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liche Charakter der Psychologie eine bedeutende Einbusse erfahren würde. Nur der Umstand, dass in der Intensität der psychischen Phänomene eine zweite Art stetiger Grösse, die Wundt etwas uneigentlich eine zweite Dimension nennt, gefunden wird, macht, wie es scheint, nach ihm die Psychologie als exacte Wissenschaft möglich. Leider fürchte ich, dass das Gegentheil der Fall ist. Jener Einwand von Kant würde mir wenig Bedenken machen. Denn einmal scheint mir immer noch Gelegenheit zur Anwendung der Mathematik zu bleiben, so lange nur etwas da ist, was gezählt werden kann. Wenn gar keine Unterschiede der Intensität und des Grades stattfänden, so wäre es eine Sache der Mathematik, zu entscheiden, ob eine Idee durch Association hervorgerufen würde, wenn drei Umstände dafür, zwei dagegen wirkten. Und dann scheint mir die Mathematik zur exacten Behandlung aller Wissenschaft nur darum nöthig, weil wir nun einmal thatsächlich in jedem Gebiet auf Grössen stossen. Würde es ein Gebiet geben, worin nichts der Art vorkäme, so wären dafür exacte Feststellungen möglich auch ohne Mathematik. Beständen auf dem Gebiete der psychischen Erscheinungen keine Intensitäten, so wäre der Fall ähnlich, wie wenn allen Erscheinungen eine gleiche und invariabele Intensität zukäme, von der man füglich gänzlich absehen könnte. Offenbar wären alle Bestimmungen der Psychologie dann nicht weniger exact als jetzt, und nur ihre Aufgabe wäre wesentlich vereinfacht und erleichtert. Nun aber bestehen thatsächlich jene Unterschiede der Intensität in Vorstellungen und Affecten; und an sie knüpft sich die Nothwendigkeit mathematischer Messung: wenn anders die Gesetze der Psychologie jene Bestimmtheit und Genauigkeit wieder erlangen sollen, die ihnen, wenn keine Intensität, oder wenigstens kein Unterschied der Intensität ihrer Phänomene bestände, zukommen würden. §. 2.   Herbart war es, der zuerst das Bedürfniss solcher Messungen betonte; und das Verdienst, welches er sich dadurch erwarb, ist ebenso allgemein anerkannt, als das gänzliche Misslingen seines Versuches, wirklich Maassbestimmungen zu finden. Die Willkürlichkeit der letzten Principien, die er seiner mathematischen Psychologie zu Grunde legt, kann durch das consequente sich-Binden an die strengen Gesetze der Mathematik bei der Ableitung der Folgerungen nicht wieder gut gemacht werden. Und so zeigt es sich denn, dass für die Erklärung der psychischen Phänomene, wie die Erfahrung sie zeigt, auf diesem Wege nicht das Geringste gewonnen wird. Keinerlei Voraussagung lässt sich auf sie gründen; ja dem, was man nach ihnen am Sichersten erwarten müsste, widerspricht das, was man thatsächlich eintreten sieht.

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Buch I. Die Psychologie als Wissenschaft.

Später hat, nach dem Vorgange von E. H. Weber, Fechner in seiner „Psychophysik“ einen neuen Versuch gemacht, der auf die Messung der Intensität psychischer Phänomene abzielte. Fechner vermied den Fehler Herbart’s. Er wollte nicht anders als an der Hand der Erfahrung ein grundlegendes Gesetz für die Messung finden. Und ähnlich wie man den zeitlichen Verlauf psychischer Phänomene schon lange an physischen Phänomenen, an regelmässigen örtlichen Veränderungen gemessen hatte, suchte er auch für ihre Intensität nach einem physischen Maasse. Als ein solches bot sich ihm für die Stärke der Empfindung die Stärke des äusseren, die Empfindung verursachenden Eindruckes; und das von ihm so genannte „Weber’sche oder psychophysische Grundgesetz“ bestimmte für alle Sinne, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen, die eine von beiden als Function der anderen. Ich habe schon früher (Capitel 1 §. 1) auf ein nicht unwichtiges Versehen hingewiesen, welches bei dieser Bestimmung untergelaufen sein möchte. Man hatte gefunden, dass der Zuwachs des physischen Reizes, der einen eben merklichen Zuwachs in der Stärke der Empfindung hervorbringt, zu der Grösse des Reizes, zu welchem er hinzukommt, immer im gleichen Verhältnisse steht. Nun nahm man als einleuchtend an, dass jeder eben merkliche Zuwachs der Empfindung als gleich zu betrachten sei. Und so kam man zu dem Gesetze, dass die Intensität der Empfindung um gleiche Grössen zunehme, wenn der relative Zuwachs des physischen Reizes der gleiche sei. In Wahrheit ist es aber keineswegs von vorn herein einleuchtend, dass jeder eben merkliche Zuwachs der Empfindung gleich, sondern nur, dass er gleich merklich ist; und es bleibt zu untersuchen, welches Grössenverhältniss zwischen gleich merklichen Zuwächsen der Empfindung bestehe. Diese Untersuchung führt zu dem Ergebnisse, dass jeder Zuwachs der Empfindung gleich merklich ist, welcher zu der Intensität der Empfindung, zu welcher er hinzukommt, in gleichem Verhältnisse steht. Denn auch bei anderen Veränderungen der Phänomene gilt dieses Gesetz. So ist z. B die Zunahme eines Zolles um eine Linie ungleich merklicher als die Zunahme eines Fusses um dieselbe Grösse, wenn man nicht etwa beim Vergleiche beide Strecken aufeinanderlegt; denn dann allerdings macht die Länge der Strecke, welche den Zusatz erfährt, keinen Unterschied, indem nur noch die beiden Ueberschüsse in Betracht kommen. In anderen Fällen dagegen findet die Vergleichung vermöge des Gedächtnisses statt, das die Erscheinungen um so leichter miteinander verwechselt, je mehr sie einander ähnlich sind. LeichterVerwechseln besagt aber nichts Anderes als schwerer-Unterscheiden, d. h. den Unterschied der einen von der anderen weniger leicht bemerken. Nun

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ist offenbar der um eine Linie verlängerte Fuss dem Fuss ähnlicher, als der um eine Linie verlängerte Zoll dem Zoll, und nur bei einem verhältnissmässig gleichen Zuwachs des Fusses, also bei einem Zoll Zuwachs, würde die spätere der früheren Erscheinung in demselben Grade unähnlich, nur dann also der Unterschied zwischen beiden gleich merklich sein. Ganz dasselbe muss aber jederzeit bei der Vergleichung zweier aufeinanderfolgender Erscheinungen statthaben, die, im Uebrigen gleich, der Intensität nach von einander verschieden sind. Das Gedächtniss vermittelt ja auch hier. Nur wenn die beiden Erscheinungen in gleichem Grade einander unähnlich sind, wird also ihre Verschiedenheit in gleicher Weise auffallen. Mit anderen Worten: Ihr Unterschied wird nur dann gleich merklich sein, wenn das Verhältniss des Zuwachses zu der zuvor gegebenen Intensität dasselbe ist. Wir haben also die beiden Gesetze: 1) Wenn der relative Zuwachs des physischen Reizes der gleiche ist, so nimmt die Empfindung um gleich merkliche Grössen zu. 2) Wenn die Empfindung um gleich merkliche Grössen zunimmt, so ist der relative Zuwachs der Empfindung der gleiche. Hieraus folgt.: 3) Wenn der relative Zuwachs des physischen Reizes der gleiche ist, so ist der relative Zuwachs der Empfindung der gleiche. Mit andern Worten: Wenn die Stärke des physischen Reizes um ein Gleichvielfaches wächst, so wächst auch die Intensität der Empfindung um ein Gleichvielfaches. Dies widerspricht nicht mehr dem, was der gemeine Menschenverstand und mit ihm auch Herbart von vorn herein angenommen hatte: „In der Region, wo die Fundamente der Psychologie liegen, ... wird man ganz einfach sagen, dass zwei Lichter doppelt so stark leuchten als eines; dass drei Saiten auf einer Taste dreimal so stark tönen als eine;“ u. s. w. (V, S. 358.) Aber andererseits ist diese Behauptung auch noch nicht bewiesen. Unser Gesetz verlangt nicht, dass, so oft der Reiz um ein Gleichvielfaches wächst, die Empfindung um dasselbe Gleichvielfache wächst; es würde ihm genügen, wenn, so oft der Reiz um die Hälfte, die Empfindung, um ein Dritttheil sich steigerte. Auch kann es sich bei ihm, wie bei dem Weber’schen, nur um eine Gültigkeit innerhalb gewisser Grenzen handeln. Darum bleibt es ein unbestreitbar grosses Verdienst, wenn Weber und Fechner das Urtheil des gemeinen Verstandes als Vorurtheil verwarfen und uns zu einem sicheren Nachweis den Weg zeigten: obwohl, wenn ich nicht irre, sie sich zu früh am Ziele glaubten, und so in ihrer Correctur der ursprünglichen Vermuthung zunächst nur eine unrichtige Bestimmung an die Stelle einer möglicher

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Weise richtigen setzten. Die Ergänzung, die ich der Untersuchung beifügte, auch wenn sie allgemeine Zustimmung finden sollte, ändert nichts daran, dass das ausschliessliche Verdienst der Arbeit den beiden grossen Forschern zugehört. Und ich brauche auch kaum zu bemerken, dass die Feststellung des Verhältnisses zwischen dem Wachsthum der Reize und einem fortwährend gleich merklichen Wachsthum der Empfindungen in sich selbst von hoher Bedeutung ist. Mag man nun aber den Versuch von Weber und Fechner in der von mir angegebenen Weise berichtigen, oder auch ohne dies für richtig und abgeschlossen halten: jedenfalls kann auch er nicht zu dem von uns gewünschten Ziele führen. Einmal beschränkt sich die Möglichkeit der Messung von Intensitäten nach der von ihnen angegebenen Methode gänzlich auf solche Phänomene, welche durch äussere Reizung der Sinnesorgane hervorgebracht sind. Für alle psychischen Phänomene, welche in physischen Vorgängen im Inneren des Organismus ihren Grund haben, oder durch andere psychische Phänomene hervorgerufen werden, fehlt uns also nach wie vor ein Maass der Intensität. Dazu gehören aber die allermeisten und allerwichtigsten Erscheinungen. So die ganze Classe der Begierden und der Bewegungen des Willens; ferner Ueberzeugungen und Meinungen der mannigfachsten Art, und ein weites Reich von Phantasievorstellungen. Es bleiben unter allen psychischen Phänomenen einzig und allein die Empfindungen, und diese nicht alle, als messbar übrig. Aber noch mehr! Die Empfindungen selbst hängen nicht allein von der Stärke des äusseren Reizes, sie hängen auch von psychischen Bedingungen, wie z. B. von dem Grade der Aufmerksamkeit, ab. Es wird also nothwendig sein, diesen Einfluss zu eliminiren, meinethalben indem man den Fall der höchsten und vollsten Aufmerksamkeit voraussetzt. Dann aber ergibt sich, wenn nicht anderes Inconvenientes, zum Mindesten eine neue und bedeutende Beschränkung. Endlich könnte einer sagen, dass, wenn man sich recht klar mache, was denn eigentlich nach Fechner’s Methode gemessen werde, nicht sowohl ein psychisches als ein physisches Phänomen als Gegenstand der Messung sich herausstelle. Oder was ist denn dasjenige, was wir physische Phänomene nennen, wenn dazu nicht die Farben, die Töne, die Wärme und Kälte u. s. f. gehören, die uns in unserer Empfindung erscheinen? – Misst man also, wie Fechner es gethan, die Intensitäten von Farben, Tönen u. s. f., so misst man die Intensitäten physischer Phänomene. Die Farbe ist nicht das Sehen, der Ton ist nicht das Hören, die Wärme ist nicht das Empfinden

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der Wärme. – Man wird hierauf erwidern, das Sehen, wenn es nicht die Farbe sei, entspreche doch in seiner Intensität der Intensität der Farbe, die dem Sehenden erscheine; und in ähnlicher Weise seien die anderen Empfindungen den physischen Phänomenen, welche in ihnen vorgestellt werden, der Intensität nach gleichzusetzen. So sei denn mit der Stärke des physischen die des psychischen Phänomens zugleich bestimmt. Ich will nicht leugnen, dass sich dieses so verhalte, obgleich es, wie wir später hören werden, Psychologen gibt, die zwischen der Intensität des Vorgestellten und der Intensität des Vorstellens unterscheiden; ich gebe darum meinestheils zu, dass, wenn für das physische, auch für das psychische Phänomen, worin das physische vorgestellt wird, nach Fechner’s Methode eine Maassbestimmung gefunden werden kann: doch scheint es mir nöthig, die neue Beschränkung hinzuzufügen, dass das psychische Phänomen nur nach einer Seite hin, nämlich in seiner Beziehung zum primären Object, seiner Intensität nach gemessen wird; denn wir werden sehen, dass es noch andere Seiten hat und nicht in dieser Beziehung sich erschöpft. Aus allen diesen Gründen scheint es mir demnach offenbar, dass durch Fechner’s bewunderungswürdigen Versuch der Messung psychischer Intensitäten, nicht oder doch nur zu einem verschwindend kleinen Theile dem besprochenen Mangel abgeholfen werden kann. Man wird jetzt erkennen, mit welchem Rechte ich zuvor erklärte, dass ich leider, im Gegensatze zu Wundt, in dem Bestehen der von ihm sogenannten zweiten Dimension der psychischen Erscheinungen keineswegs etwas erblicken könne, was die wissenschaftliche Exactheit der Psychologie ermögliche, sondern etwas, was sie stark benachtheilige und vor der Hand gänzlich unmöglich mache. Denn, wo Fechner’s Mittel uns verlässt, da verlässt uns, bis jetzt wenigstens, jede Möglichkeit, die Intensität psychischer Erscheinungen anders als nach einem vagen Mehr oder Minder vergleichend zu bestimmen. Das also sind die zwei Gründe, welche eine präcise Fassung der höchsten Gesetze psychischer Succession hindern: einmal, dass sie nur empirische Gesetze sind, abhängig von dem veränderlichen Einflusse unerforschter physiologischer Processe; dann, dass die Intensität der psychischen Erscheinungen, welche wesentlich mit maassgebend ist, bis jetzt einer genauen Messung nicht unterworfen werden kann. Für Anwendung der Mathematik wird dabei immer Raum bleiben; liefert uns doch auch die Statistik Zahlenangaben, und ein statistisches Verfahren wird in dem Maasse an Ausdehnung gewinnen, als die Gesetze an Bestimmtheit verlieren, und nur aus durchschnittlichen Verhältnissen die constante Mitbetheiligung einer Ursa-

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che zu entnehmen ist. So bewährt sich die Mathematik als die unentbehrliche Gehülfin aller Wissenschaften auf allen Stufen der Exactheit und in allen Unterschieden der Verhältnisse. §. 3.   Obwohl unsere psychische Induction nicht bis zu den eigentlichen Grundgesetzen vordringen kann, so erreicht sie doch Gesetze von einer sehr umfassenden Allgemeinheit. Es wird darum möglich sein, aus ihnen wieder speciellere Gesetze abzuleiten. So können wir am Besten für complicirtere psychische Phänomene Gesetze gewinnen, indem wir das Verhalten, welches der Naturforscher in verwickelteren Fällen, und darum namentlich auch der Physiologe einzuhalten pflegt, uns zum Vorbilde nehmen. Wie aber dieser sich nicht damit begnügt, das Gesetz für die complicirte Erscheinung aus höheren Gesetzen abgeleitet zu haben, sondern auch Sorge trägt, das abgeleitete durch directe Induction aus der Erfahrung zu verificiren: so wird auch der Psychologe für das Gesetz, welches er deductiv gefunden, auf inductivem Wege eine Bestätigung suchen müssen. Ja bei ihm erscheint eine solche Verification ganz besonders geboten, weil, wie wir sahen, die höheren Gesetze, aus welchen er deducirt, in Bezug auf Präcision oft Vieles zu wünschen übrig lassen. Schon der Hinweis auf einzelne hervorragende Fälle ist bei solcher Lage der Dinge eine willkommene Bekräftigung, namentlich da, wo keine anderen entgegenstehen, welche zu widersprechen scheinen. Ist dies der Fall, so wird ein Nachweis durch überwiegende Zahlen die verlangte Probe liefern. So wird denn die Psychologie reich an Beispielen sein, die der deductiven Methode auf empirischem Gebiete und den drei Stadien, welche die Logiker für sie unterschieden haben, zu einer vorzüglichen Erläuterung dienen: Induction der allgemeineren Gesetze; Deduction des besonderen; und Verification desselben durch Erfahrungsthatsachen. So wenig hienach die Psychologie bei der Feststellung der Gesetze für complicirtere Phänomene des Nachweises durch directe Erfahrung entbehren kann: so wenig wird sie auch andererseits einen solchen als genügend betrachten dürfen. Nicht bloss das wissenschaftliche Interesse, die Vielheit der Thatsachen möglichst aus einer Einheit zu begreifen, verlangt das Zurückgehen auf die höchsten für uns erreichbaren Principien: die Ableitung, wie sie eine vollere Einsicht gibt, gewährt auch eine grössere Sicherheit; denn wie anderwärts, so sind auch hier die allgemeineren Gesetze die zuverlässigeren. Fehlt den allgemeineren Gesetzen die letzte Schärfe und Genauigkeit, so wird dies bei den besonderen noch viel mehr der Fall sein. Kann man die allgemeineren nur in der Art fassen, dass man angibt, was gewöhnlich ein-

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trete, indem man für Ausnahmen eine Stelle freilässt: so werden bei den besonderen die Ausnahmen sich mehren. Und natürlich; denn was bei jenen der wesentlichste Grund mangelnder Präcision ist, das ist derselbe Umstand, der bei den besonderen in noch vorzüglicherem Maasse sich gegeben findet; sie haben ja noch weniger Anspruch darauf als Grundgesetze betrachtet zu werden. Gleichwie die Entdeckung der höchsten Grundgesetze sowohl von unseren jetzigen höchsten psychischen Gesetzen als auch von ihren Ausnahmen und Schranken Rechenschaft geben würde: so wird oft die Ableitung der specielleren Gesetze aus ihnen zugleich die Gesetze selbst und ihre Ausnahmen erklären und die Fälle der Ausnahme genauer bestimmen. Doch Eines wenigstens ist zulässig: wir können das Verhältniss zwischen Ableitung und bestätigender lnduction verkehren; denn es macht offenbar keinen Unterschied, weder in Rücksicht auf den Einblick, noch auf die Sicherheit, die wir gewinnen: ob wir ein Gesetz, nachdem wir es deducirt haben, durch Induction verificiren; oder ob wir es durch Induction finden und es dann im Hinblicke auf die allgemeineren Gesetze erklären. Wir vertauschen dann die sogenannte deductive Methode des Naturforschers mit derjenigen, welche man die umgekehrte deductive Methode genannt hat. Auch den Namen der historischen Methode hat man ihr beigelegt52, weil sie sich vorzüglich zur Auffindung der Gesetze der Geschichte eignet. Comte fand auf diesem Wege die Gesetze, die er seinem merkwürdigen Versuche einer Philosophie der Geschichte zu Grunde gelegt hat. Diese sogenannte historische Methode ist auch ausserhalb der Geschichte auf psychischem Gebiete oft mit grösserem Vortheile als die gewöhnliche deductive Methode anwendbar. Die vorbereitende directe Induction zeigt der Ableitung Weg und Richtung. Die Erfahrung des gemeinen Lebens hat sich bereits oft zu solchen niederen empirischen Gesetzen erhoben und sie selbst in die Form von Sprüchwörtern gekleidet. „Jung gewohnt, alt gethan“, „aller Anfang ist schwer“, „neue Besen kehren gut“, „Abwechselung gefällt“ und dergleichen mehr – sind Ausdrücke für solche empirische Generalisationen. Und so bleibt denn nur noch die Erklärung, Verification und schärfere Begrenzung durch Unterordnung unter die allgemeineren und einfacheren Gesetze, von denen das Volk nichts weiss, als Aufgabe des Psychologen übrig. Einen etwas verwandten Versuch hat bekanntlich Pascal in einer seiner Pensées gemacht.

52 Vgl. J. St. Mill, Ded. u. Induct. Logik, Buch VI. Cap. 10.

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§. 4.   Auch bei der Untersuchung über die Unsterblichkeit wird das Verfahren ein deductives sein, und die Deduction auf allgemeine Thatsachen sich stützen, die in früheren Erörterungen inductiv festgestellt wurden. Die Forschung, die hier sich um die Frage bewegt, welche zu allen Zeiten das lebhafteste Interesse hervorgerufen hat, wird offenbar einen in mancher Beziehung neuen Charakter annehmen müssen. Sie wird einerseits nicht umhin können, auf einige Gesetze der Metaphysik, mehr als es sonst eine phänomenale Psychologie thut, Rücksicht zu nehmen; und andererseits wird auch von den Ergebnissen der Physiologie hier mehr noch als in den früheren Untersuchungen Anwendung zu machen sein. Denn die Frage nach der Möglichkeit eines Fortbestandes des psychischen Lebens bei der Auflösung des leiblichen Organismus, ist eigentlich eine psychophysische Frage; nur eine von denen, die nach unserer früheren Anseinandersetzung, wegen des Uebergewichts psychischer Betrachtungen, der Psychologie, nicht der Physiologie zuzuweisen sind. Ob es uns freilich möglich sein wird, durch Induction auf psychischem Gebiete allgemeine Thatsachen zu finden, welche für eine Deduction zur Entscheidung der Unsterblichkeitsfrage die Prämissen liefern; ob wir nicht genöthigt sein werden, so tief in die Metaphysik einzugehen, dass der sichere Pfad in unbestimmten, haltlosen Träumereien sich verliert; ob nicht auch die Thatsachen, welche wir der Physiologie zu entlehnen haben, bei dem jetzigen Zustande dieser Wissenschaft, auf allzuwenig Vertrauen Anspruch machen können: – das sind Fragen, die wohl nicht mit Unrecht aufgeworfen werden dürften, über die aber hier zu entscheiden nicht des Ortes ist. Auch im Uebrigen wollen wir auf die Methode, die bei der Untersuchung dieses Punktes zu befolgen sein wird, hier nicht weiter eingehen. Wie jede frühere Wissenschaft in ihrer Entwickelung für die Methode der späteren Winke gibt: so kann auch oft bei ein und derselben Wissenschaft die Entwickelung des früheren Theiles über die Weise der Behandlung des späteren Aufschlüsse gewähren. Und diese Untersuchung ist ja der Natur der Sache nach diejenige, der in der Reihe der psychologischen Erörterungen jedenfalls am Besten die letzte Stelle angewiesen wird. Nur Eines sei, da es von vorn herein offenbar ist, auch jetzt schon bemerkt; nämlich, dass eine Verification durch directe Erfahrung bei der Unsterblichkeitsfrage jedenfalls nicht stattfinden kann. Hier scheint also eine gefährliche Lücke zu bleiben. Doch an die Stelle der directen Erfahrung kann vielleicht eine indirecte treten, insofern zahlreiche Erfahrungserscheinungen unter Voraussetzung der Unsterblichkeit besser als ohne sie begreiflich wer-

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den. In ähnlicher Weise sind es ja auch nur indirecte Fingerzeige, welche die Erscheinungen an fallenden Körpern für die Drehung der Erde um ihre Axe geben. Indem wir unsere Erörterungen über die Methode der Psychologie abschliessen, fügen wir eine letzte, allgemeinere Bemerkung bei. Sie bezieht sich auf ein Mittel, welches zwar auch anderwärts, insbesondere aber auf psychologischem Gebiete, häufig die Forschung vorbereitet und erleichtert. Ich meine das Mittel, das Aristoteles so gerne anzuwenden pflegte, die Zusammenstellung der „Aporien“. Sie zeigt die verschiedenen denkbaren Annahmen sowie für jede von ihnen die ihr eigenthümlichen Schwierigkeiten und gibt insbesondere über die widerstreitenden Ansichten, sei es einzelner bedeutender Männer, sei es der Massen eine dialektisch kritische Uebersicht. Auch J. St. Mill hat noch in seinem letzten Aufsatze über Grote’s Aristotle, den er wenige Monate vor seinem Tode in der „Fortnightly Review“ veröffentlichte, die Vorzüge dieser Voruntersuchung in einsichtsvoller Weise gewürdigt. Ich glaube, es ist einleuchtend, warum gerade der Psychologe aus den sich bekämpfenden Meinungen Anderer mehr noch als ein Forscher auf anderem Gebiete Gewinn ziehen kann. Jeder dieser Meinungen liegt, wenn auch vielleicht einseitig berücksichtigt oder irrig beurtheilt, irgend welche Wahrheit, irgend welche Erfahrung als Anhalt zu Grunde. Und wo es sich um psychische Erscheinungen handelt, hat jeder Einzelne seine besonderen Wahrnehmungen, die keinem Anderen in gleicher Weise zugänglich sind.

Zweites Buch. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

Erstes Capitel. Von dem Unterschiede der psychischen und physischen Phänomene. §. 1.   Die gesammte Welt unserer Erscheinungen zerfällt in zwei grosse Classen, in die Classe der physischen und in die der psychischen Phänomene. Wir haben von diesem Unterschiede schon früher gesprochen, da wir den Begriff der Psychologie feststellten, und wiederum sind wir bei der Untersuchung über die Methode darauf zurückgekommen. Aber dennoch ist das Gesagte nicht genügend; was damals nur flüchtig angedeutet wurde, müssen wir jetzt fester und genauer bestimmen. Dies scheint um so mehr geboten, als hinsichtlich der Abgrenzung beider Gebiete weder Einigkeit noch volle Klarheit erzielt sind. Wir sahen bereits gelegentlich, wie physische Phänomene, welche in der Phantasie erscheinen, für psychische gehalten wurden. Es gibt aber noch viele andere Fälle von Vermengung. Und selbst bedeutende Psychologen dürften schwer gegen den Vorwurf, dass sie sich selbst widersprechen, zu rechtfertigen sein53. Manch53

So gelingt es mir wenigstens nicht, die verschiedenen Bestimmungen mit einander in Einklang zu bringen, die A. Bain in einem seiner neuesten psychologischen Werke, Mental Science, Lond. 3. edit 1872, in dieser Hinsicht gegeben hat. S. 120 No. 59 sagt er, die psychische Wissenschaft (Science of Mind, die er auch Subject Science nennt) sei auf Selbstbewusstsein oder introspective Aufmerksamkeit gegründet; das Auge, das Ohr, das Tastorgan seien Media zur Beobachtung der physischen Welt, des „object world“, wie er sich ausdrückt. S. 198 No. 4, I. heisst es dagegen: „Die Wahrnehmung von Materie oder das objective Bewusstsein (object consciousness) ist verknüpft mit der Aeusserung von Muskelthätigkeit im Gegensatz zu passivem Gefühl.“ Und in der Erläuterung fügt er hinzu: „Bei rein passivem Gefühle, wie bei denjenigen Empfindungen, bei welchen unsere Muskelthätigkeit nicht betheiligt ist, nehmen wir nicht Materie wahr, wir sind in einem Zustande subjectiven Bewusstseins (subject consciousness).“ Er erläutert dies an dem Beispiele der Empfindung von Wärme, wenn man ein warmes Bad nimmt, und an jenen Fällen sanfter Berührung, in welchen keine Muskelthätigkeit stattfindet, und erklärt, unter denselben Bedingungen könnten Töne, ja möglicherweise auch Licht und Farbe, eine rein subjective Erfahrung (subject experience) sein. Er entnimmt also Beispiele für das Subject-Bewusstsein gerade den Empfindungen durch Auge, Ohr und Tastorgan, welche er an der anderen Stelle im Gegensatz zum Subject-Bewusstsein als Vermittler des Object-Bewusstseins bezeichnet hatte.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

mal stösst man auf Aeusserungen wie die, dass Empfindung und Phantasie sich dadurch unterscheiden, dass die eine in Folge eines physischen Phänomens entstehe, während die andere, nach den Gesetzen der Association, durch ein psychisches Phänomen hervorgerufen werde. Dabei geben dieselben Psychologen aber zu, dass dasjenige, was in der Empfindung erscheine, der einwirkenden Ursache nicht entsprechend sei. Und somit stellt sich heraus, dass, was sie physische Erscheinungen nennen, uns in Wahrheit nicht erscheint, ja dass wir gar keine Vorstellung davon haben; gewiss eine merkwürdige Art, den Namen Phänomen zu missbrauchen! Bei solcher Lage der Dinge können wir nicht umhin, uns noch etwas eingehender mit der Frage zu beschäftigen. §. 2.   Die Erklärung, die wir anstreben, ist nicht eine Definition nach den herkömmlichen Regeln der Logiker. Diese haben in letzter Zeit mehrfach eine vorurtheilslose Kritik erfahren, und dem, was ihnen zum Vorwurfe gesagt wurde, wäre noch manches weitere Wort beizufügen. Das, worauf wir ausgehen, ist die Verdeutlichung der beiden Namen: physisches Phänomen – psychisches Phänomen. Wir wollen in Betreff ihrer Missverständniss und Verwechselung ausschliessen. Und dabei kommt es uns nicht auf die Art der Mittel an, wenn sie nur wirklich der Deutlichkeit dienen. Zu solchem Zwecke ist nicht allein die Angabe allgemeinerer, übergeordneter Bestimmungen brauchbar. Wie auf dem Gebiete des Beweisverfahrens der Deduction die Induction, so steht hier der Erklärung durch das Allgemeinere eine Erklärung durch das Besondere, durch das Beispiel, entgegen. Und diese wird so oft am Platze sein, als die besonderen Namen deutlicher als die allgemeinen sind. So ist es vielleicht ein wirksameres Verfahren, wenn man den Namen Farbe dadurch erklärt, dass man sagt, er bezeichne die Gattung für Roth, Blau, Grün und Gelb, als wenn man umgekehrt Roth als eine besondere Art von Farbe verdeutlichen will. Doch noch mehr wird bei Namen wie die, um welche es sich in unserem Falle handelt, Namen, welche im Leben gar nicht üblich sind, während die der einzelnen darunter befassten Erscheinungen häufig gebraucht werden, die Erläuterung durch die besonderen Bestimmungen gute Dienste leisten. Suchen wir also zunächst durch Beispiele die Begriffe deutlich zu machen. Ein Beispiel für die psychischen Phänomene bietet jede Vorstellung durch Empfindung oder Phantasie; und ich verstehe hier unter Vorstellung nicht das, was vorgestellt wird, sondern den Act des Vorstellens. Also das Hören eines Tones, das Sehen eines farbigen Gegenstandes, das Empfinden von

Capitel 1. Unterschied der psych. und phys. Phänomene.

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Warm oder Kalt, so wie die ähnlichen Phantasiezustände sind Beispiele, wie ich sie meine; ebenso aber auch das Denken eines allgemeinen Begriffes, wenn anders ein solches wirklich vorkommt. Ferner jedes Urtheil, jede Erinnerung, jede Erwartung, jede Folgerung, jede Ueberzeugung oder Meinung, jeder Zweifel – ist ein psychisches Phänomen. Und‚ wiederum ist ein solches jede Gemüthsbewegung, Freude, Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Muth, Verzagen, Zorn, Liebe, Hass, Begierde, Willen, Absicht, Staunen, Bewunderung, Verachtung u. s. w. Beispiele von physischen Phänomenen dagegen sind eine Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe; ein Accord, den ich höre; Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie erscheinen. Diese Beispiele mögen hinreichen, den Unterschied der beiden Classen anschaulich zu machen. §. 3.   Doch wir wollen noch in einer anderen und einheitlicheren Weise eine Erklärung des psychischen Phänomens zu geben suchen. Hiefür bietet sich uns eine Bestimmung dar, von der wir schon früher Gebrauch machten, indem wir sagten, mit dem Namen der psychischen Phänomene bezeichneten wir die Vorstellungen, sowie auch alle jene Erscheinungen, für welche Vorstellungen die Grundlage bilden. Dass wir hier unter Vorstellung wiederum nicht das Vorgestellte, sondern das Vorstellen verstehen, bedarf kaum der Bemerkung. Dieses Vorstellen bildet die Grundlage des Urtheilens nicht bloss, sondern ebenso des Begehrens, sowie jedes anderen psychischen Actes. Nichts kann beurtheilt, nichts kann aber auch begehrt, nichts kann gehofft oder gefürchtet werden, wenn es nicht vorgestellt wird. So umfasst die gegebene Bestimmung alle eben angeführten Beispiele psychischer Phänomene und überhaupt alle zu diesem Gebiete gehörigen Erscheinungen. Es ist ein Zeichen des unreifen Zustandes, in welchem die Psychologie sich befindet, dass man kaum einen Satz über psychische Phänomene aussprechen kann, der nicht von Manchen bestritten würde. Doch in dem, was wir eben sagten, Vorstellungen seien die Grundlage für die anderen psychischen Phänomene, kommt wenigstens die grosse Mehrzahl mit uns überein. So sagt Herbart ganz richtig: „Jedesmal, indem wir fühlen, wird irgend etwas, wenn auch ein noch so vielfältiges und verwirrtes Mannigfaltiges, als ein Vorgestelltes im Bewusstsein vorhanden sein; so dass dieses bestimmte Vorstellen in diesem bestimmten Fühlen eingeschlossen liegt. Und jedesmal,

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

indem wir begehren, ... haben [wir] auch dasjenige in Gedanken, was wir begehren54.“ Herbart geht dann aber weiter. Er sieht in allen anderen Phänomenen nichts als gewisse Zustände von Vorstellungen, welche aus Vorstellungen ableitbar sind; eine Ansicht, die schon wiederholt und insbesondere von Lotze mit entscheidenden Gründen bestritten worden ist. Unter Anderen trat in neuester Zeit auch J. B. Meyer in seiner Darstellung von Kant’s Psychologie in längerer Erörterung ihr entgegen. Aber dieser begnügte sich nicht damit zu leugnen, dass die Gefühle und Begierden aus Vorstellungen abgeleitet werden könnten; er behauptete, dass Phänomene dieser Art auch ohne jede Vorstellung zu bestehen vermöchten55. Ja, Meyer glaubt, dass die niedersten Thiere nur Gefühle und Begierden, aber keine Vorstellungen haben, und dass das Leben auch der höheren Thiere und der Menschen mit blossem Fühlen und Begehren anfange, während das Vorstellen erst bei fortschreitender Entwickelung hinzukomme56. Hiedurch scheint er auch mit unserer Behauptung in Conflict zu kommen. Doch, wenn ich nicht irre, so ist der Widerspruch mehr scheinbar als wirklich. Aus mehreren seiner Aeusserungen scheint mir hervorzugehen, dass Meyer den Begriff der Vorstellung enger fasst, als wir es gethan haben, während er den Begriff der Gefühle in demselben Maasse erweitert. „Vorstellen“, sagt er, „tritt erst da auf, wo die empfundene Veränderung des eigenen Zustandes als Folge eines äusseren Reizes aufgefasst werden kann, wenn sich dies auch zuerst nur in dem unbewusst erfolgenden Umherblicken oder Umhertasten nach einem äusseren Object ausspricht.“ Würde Meyer unter Vorstellung dasselbe wie wir verstehen, so würde er unmöglich so sprechen können. Er würde einsehen, dass ein Zustand, wie der, welchen er als den Anfang des Vorstellens beschreibt, bereits eine reiche Zahl von Vorstellungen enthalten würde, Vorstellungen von zeitlichem Nacheinander z. B., Vorstellungen von räumlichem Nebeneinander, und Vorstellungen von Ursache und Folge. Wenn alles dies der Seele schon gegenwärtig sein muss, damit eine Vorstellung in J. B. Meyer’s Sinne sich bilde, so ist es freilich klar, dass eine solche nicht die Grundlage jeder anderen psychischen Erscheinung sein kann. Allein jenes Gegenwärtig-sein jedes einzelnen der genannten Dinge ist 54 55 56

Psych. als Wissenschaft Th. II. Abschn. 1. Cap. 1. §. 103. Vgl. auch Drobisch, Empir. Psychol. S. 38 und 348, und Andere aus der Schule Herbart’s. Kant’s Psychologie, Berlin 1870. S. 92 ff. Ebend. S. 94.

Capitel 1. Unterschied der psych. und phys. Phänomene.

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eben schon ein Vorgestellt-sein in unserem Sinne. Und ein solches kommt überall vor, wo etwas im Bewusstsein erscheint: mag es gehasst oder geliebt oder gleichgültig betrachtet; mag es anerkannt oder verworfen oder, bei völliger Zurückhaltung des Urtheils, – ich kann mich nicht besser ausdrücken als – vorgestellt werden. Wie wir das Wort „vorstellen“ gebrauchen, ist „vorgestellt werden“ so viel wie „erscheinen“. Dass ein Vorstellen in diesem Sinne von jedem, auch dem niedrigsten Gefühle der Lust und Unlust vorausgesetzt werde, das erkennt J. B. Meyer selbst an, obwohl er, in seiner Terminologie von uns abweichend, es nicht ein Vorstellen, sondern selbst bereits ein Fühlen nennt. Dies scheint mir wenigstens aus folgenden Worten hervorzugehen: „Zwischen nicht-Empfinden und Empfinden gibt es kein Mittleres ... Nun braucht die einfachste Form der Empfindung nicht mehr zu sein als ein blosses Empfinden der zufolge irgend eines Reizes eingetretenen Veränderung des eigenen Leibes oder eines Theiles desselben. Wesen mit solcher Empfindung ausgestattet, hätten dann nur ein Gefühl ihrer eigenen Zustände. Mit diesem Lebensgefühl für die Vorgänge unter der eigenen Haut könnte wohl unmittelbar eine verschiedene Reizbarkeit der Seele für die ihr förderlichen oder schädlichen Veränderungen verbunden sein, wenn auch diese neue Reizbarkeit nicht einfach aus jenem Gefühl abzuleiten wäre, eine solche Seele könnte Gefühle der Lust und Unlust neben der Empfindung haben ... Eine so ausgestattete Seele besässe noch keine Vorstellung ...57.“ Wir sehen wohl, dass, was nach uns allein den Namen Gefühl verdienen würde, auch nach J. B. Meyer als Zweites nach einem Ersten auftritt, welches unter den Begriff der Vorstellung, wie wir ihn fassen, fällt und für jenes die unentbehrliche Voraussetzung bildet. So scheint es denn, dass, wenn Meyer’s Ansicht in unsere Sprache übersetzt wird, der Widerspruch von selbst verschwindet. Ein Gleiches ist vielleicht auch bei Anderen der Fall, die ähnlich wie Meyer sich äussern. Doch mag es immerhin vorkommen, dass bei einigen Arten von sinnlichen Lust- und Unlustgefühlen Jemand in Wahrheit der Ansicht 57

Kant’s Psychol. S. 92. J. B. Meyer scheint die Empfindung ebenso wie Ueberweg in seiner Logik I. §. 36 (2. Aufl. S. 64) zu fassen: „Von der blossen Empfindung ... unterscheidet sich die Wahrnehmung dadurch, dass das Bewusstsein in jener nur an dem subjectiven Zustand haftet, in der Wahrnehmung aber auf ein Element geht, welches wahrgenommen wird und daher ... dem Acte des Wahrnehmens als ein Anderes und Objectives gegenüber steht.“ Wäre diese Ansicht Ueberweg’s über die Empfindung im Unterschiede von der Wahrnehmung richtig, so würde nichtsdestoweniger das Empfinden ein Vorstellen in unserem Sinne einschliessen. Warum wir sie nicht für richtig halten, wird sich später zeigen.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

ist, es liege ihnen auch in unserem Sinne keine Vorstellung zu Grunde. Eine gewisse Versuchung dazu kann wenigstens nicht geleugnet werden. Dies gilt z. B. hinsichtlich der Gefühle, welche durch Schneiden oder Brennen entstehen. Wird einer geschnitten, so hat er meist keine Wahrnehmung von Berührung, wird er gebrannt, keine Wahrnehmung von Wärme mehr, sondern nur Schmerz scheint in dem einen und anderen Falle vorhanden. Nichtsdestoweniger liegt auch hier ohne Zweifel dem Gefühle eine Vorstellung zu Grunde. Immer haben wir in solchen Fällen die Vorstellung einer örtlichen Bestimmtheit, die wir gewöhnlich in Relation zu dem einen oder anderen sichtbaren und greifbaren Theil unseres Körpers bezeichnen. Wir sagen, es thue der Fuss, es thue die Hand uns weh, es schmerze uns diese oder jene Stelle des Leibes. Und so werden denn vor Allem diejenigen, welche eine solche örtliche Vorstellung als etwas ursprünglich durch die Reizung der Nerven selbst Gegebenes betrachten, eine Vorstellung als Grundlage dieser Gefühle nicht leugnen können. Aber auch Andere können derselben Annahme nicht entgehen. Denn nicht bloss die Vorstellung einer örtlichen Bestimmtheit, auch die einer besonderen sinnlichen Beschaffenheit, analog der Farbe, dem Schall und anderen sogenannten sinnlichen Qualitäten, ist in uns vorhanden, einer Beschaffenheit, die zu den physischen Phänomenen gehört und von dem begleitenden Gefühle wohl zu unterscheiden ist. Wenn wir einen angenehm milden oder einen schrillen Ton, einen harmonischen Klang oder eine Disharmonie hören, so wird es Niemand einfallen, den Ton mit dem begleitenden Lust- oder Schmerzgefühle zu identificiren. Aber auch da, wo durch Schneiden, Brennen oder Kitzeln ein Gefühl von Schmerz oder Lust in uns erweckt wird, müssen wir in gleicher Weise ein physisches Phänomen, das als Gegenstand der äusseren Wahrnehmung auftritt, und ein psychisches Phänomen des Gefühles, welches sein Erscheinen begleitet, auseinanderhalten, obwohl der oberflächliche Betrachter hier eher zur Verwechselung geneigt ist. Der hauptsächliche Grund, der die Täuschung veranlasst, ist wohl folgender. Unsere Empfindungen werden bekanntlich durch die sogenannten sensibeln Nerven vermittelt. Früher glaubte man, dass jeder Gattung von sinnlichen Qualitäten, wie Farbe, Schall u. s. f., besondere Nerven als ausschliessliche Leiter dienen. In neuester Zeit neigt sich dagegen die Physiologie mehr und mehr der entgegengesetzten Ansicht zu58. Namentlich lehrt sie fast allgemein, dass die Nerven für die Berührungsempfindungen, in einer 58 Vgl. insbesondere Wundt, Physiol. Psychol. S. 345 ff.

Capitel 1. Unterschied der psych. und phys. Phänomene.

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anderen Weise gereizt, die Empfindungen der Wärme und Kälte und, wieder in einer anderen Weise erregt, die sogenannten Lust- und Schmerzempfindungen in uns hervorbringen. In Wahrheit gilt aber etwas Aehnliches für alle Nerven, insofern ein sinnliches Phänomen der zuletzt erwähnten Gattung durch jeden Nerven in uns hervorgerufen werden kann. Wenn sie sehr stark gereizt werden, bringen alle Nerven schmerzliche Phänomene hervor, die sich der Art nach nicht von einander unterscheiden59. Vermittelt ein Nerv verschiedene Gattungen von Empfindungen, so geschieht es oft, dass er mehrere zugleich vermittelt, wie z. B. der Blick in ein elektrisches Licht zugleich eine „schöne“, d. h. uns angenehme Farbenerscheinung und zugleich eine uns schmerzliche Erscheinung anderer Gattung zur Folge hat. Die Nerven des Tastsinnes vermitteln häufig zugleich eine sogenannte Empfindung der Berührung, eine Empfindung von Wärme oder Kälte und eine sogenannte Lust- oder Schmerzempfindung. Nun zeigt es sich, dass, wenn mehrere Empfindungsphänomene zugleich erscheinen, sie nicht selten als eines betrachtet werden. In einer auffallenden Weise hat man dies in Betreff der Geruchsund Geschmacksempfindungen nachgewiesen. Es steht fest, dass fast alle Unterschiede, die man als Unterschiede des Geschmacks anzusehen pflegt, in Wahrheit nur Unterschiede gleichzeitig entstehender Geruchsphänomene sind. Aehnlich ist es, wenn wir eine Speise kalt oder warm geniessen: wir glauben oft Unterschiede des Geschmacks zu haben, welche in Wahrheit nur Unterschiede der Temperaturerscheinungen sind. Da ist es denn nicht zu verwundern, wenn wir das, was ein Phänomen der Temperaturempfindung, und das, was ein Phänomen der Berührungsempfindung ist, nicht immer genau auseinanderhalten. Ja wir würden sie vielleicht gar nicht scheiden, wenn sie nicht gewöhnlich unabhängig von einander aufträten. Betrachten wir nun die Gefühlsempfindungen, so finden wir im Gegentheil, dass mit ihren Phänomenen meistens Empfindungen aus einer anderen Classe verbunden sind, welche höchstens im Falle einer sehr starken Erregung neben ihnen verschwinden. Und so erklärt es sich recht wohl, wenn man sich über das Auftreten einer besonderen Gattung von sinnlichen Qualitäten täuschte, und statt zweier eine einzige Empfindung zu haben glaubte. Da die hinzukommende Vorstellung von einem verhältnissmässig sehr starken Gefühle begleitet war, ungleich stärker als dasjenige, welches der ersten Art von Qualität folgte, so betrachtete man diese psychische Erscheinung als das Einzige, was man neu empfangen habe. Und fiel dann die erste Art von Qualität ganz 59 Vgl. unten Buch II. Capitel. 3 §. 6.

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weg, so glaubte man nichts als ein Gefühl ohne zu Grunde liegende Vorstellung eines physischen Phänomens zu besitzen. Ein weiterer Grund, der die Täuschung begünstigt, ist der, dass die Qualität, welcher das Gefühl folgt, und dieses selbst nicht zwei besondere Namen tragen. Man nennt das physische Phänomen, welches mit dem Schmerzgefühle auftritt, in diesem Falle selbst Schmerz. Man sagt nicht sowohl, dass man diese oder jene Erscheinung im Fusse mit Schmerz empfinde, sondern man sagt, man empfinde Schmerz im Fusse. Dies ist eine Aequivocation, wie wir sie allerdings auch anderwärts häufig finden, wo Dinge in enger Beziehung zu einander stehen. Gesund nennen wir den Leib und, in Bezug auf ihn, die Luft, die Speise, die Gesichtsfarbe u. dgl. mehr, aber offenbar in einem anderen Sinne. In unserem Falle nennt man nach dem Gefühle der Lust oder des Schmerzes, welches das Erscheinen eines physischen Phänomens begleitet, dieses selbst Lust und Schmerz, und auch hier ist der Sinn ein modificirter. Es ist, wie wenn wir von einem Wohlklang sagen würden, er sei uns eine Lust, weil wir bei seiner Erscheinung ein Gefühl der Lust empfinden; oder auch, der Verlust eines Freundes sei uns ein grosser Kummer. Die Erfahrung zeigt, dass die Aequivocation eines der vorzüglichsten Hindernisse ist, Unterschiede zu erkennen. Am Meisten musste sie es hier werden, wo an und für sich eine Gefahr der Täuschung gegeben, und die Uebertragung des Namens vielleicht selbst Folge einer Confusion war. Daher wurden viele Psychologen getäuscht, und weitere Irrthümer hingen mit diesem zusammen. Manche kamen zu dem falschen Schlusse, das empfindende Subject müsse an der Stelle des verletzten Gliedes, in welchem ein schmerzliches Phänomen in der Wahrnehmung localisirt wird, gegenwärtig sein. Denn indem sie das Phänomen mit dem begleitenden Schmerzgefühle identificirten, betrachteten sie es als ein psychisches, nicht als ein physisches Phänomen. Und eben darum glaubten sie, seine Wahrnehmung in dem Gliede sei eine innere, also evidente und untrügliche Wahrnehmung60. Allein ihrer Ansicht widersprach die Thatsache, dass die gleichen Phänomene in der gleichen Weise oft nach der Amputation des Gliedes erscheinen. Andere argumentirten daher vielmehr umgekehrt skeptisch gegen die Evidenz der inneren Wahrnehmung. Alles löst sich, wenn man zwischen dem Schmerze in dem Sinne, in welchem der Namen die scheinbare Beschaffenheit eines Theiles unseres Leibes bezeichnet, und zwischen dem Gefühle des Schmerzes, das 60

So noch der Jesuit Tongiorgi in seinem vielverbreiteten Lehrbuche der Philosophie.

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sich an seine Empfindung knüpft, zu unterscheiden gelernt hat. Hat man aber dieses gethan, so wird man nicht mehr geneigt sein zu behaupten, dass dem Gefühle des sinnlichen Schmerzes, den man bei einer Verletzung empfindet, keine Vorstellung zu Grunde liege. Wir dürfen es demnach als eine unzweifelhaft richtige Bestimmung der psychischen Phänomene betrachten, dass sie entweder Vorstellungen sind, oder (in dem erläuterten Sinne) auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen. Hierin hätten wir also eine zweite, in wenigere Glieder zerfallende Erklärung ihres Begriffes gegeben. Immerhin ist sie nicht ganz einheitlich, da sie vielmehr die psychischen Phänomene in zwei Gruppen geschieden uns vorführt. §. 4.   Eine vollkommen einheitliche Bestimmung, die alle psychischen Phänomene gegenüber den physischen kennzeichnet, hat man negativ zu geben gesucht. Alle physischen Phänomene, sagte man, zeigen Ausdehnung und örtliche Bestimmtheit: seien sie nun Erscheinungen des Gesichts oder eines anderen Sinnes; oder seien sie Gebilde der Phantasie, die ähnliche Objecte uns vorstellt. Das Gegentheil aber gilt von den psychischen Phänomenen; Denken, Wollen u. s. f. erscheinen ausdehnungslos und ohne räumliche Lage. Hienach wären wir im Stande, die physischen Phänomene leicht und genau gegenüber den psychischen zu charakterisiren, indem wir sagten, sie seien diejenigen, welche ausgedehnt und räumlich erscheinen. Und auch die psychischen wären dann den physischen gegenüber mit derselben Exactheit als diejenigen Phänomene zu bestimmen, welche keine Ausdehnung und örtliche Bestimmtheit zeigen. Descartes und Spinoza könnte man zu Gunsten einer solchen Unterscheidung anrufen; besonders aber Kant, der den Raum für eine Form der Anschauung des äusseren Sinnes erklärt. Dieselbe Bestimmung gibt neuerdings A. Bain: „Das Gebiet des Objects oder die objective (äussere) Welt,“ sagt er, „ist genau umschrieben durch eine Eigenthümlichkeit, die Ausdehnung. Die Welt der subjectiven Erfahrung (die innere Welt) entbehrt dieser Eigenthümlichkeit. Von einem Baume oder von einem Bache sagt man, er besitze eine ausgedehnte Grösse. Ein Vergnügen hat nicht Länge, Breite oder Dicke; es ist in keiner Hinsicht ein ausgedehntes Ding. Ein Gedanken oder eine Idee mag sich auf ausgedehnte Grössen beziehen, aber man kann nicht von ihnen sagen, sie hätten eine Ausdehnung in sich selbst. Und ebensowenig können wir sagen, dass ein Willensact, eine Begierde, ein Glauben einen Raum nach gewissen Richtungen erfülle.

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Daher spricht man von Allem, was in das Bereich des Subjects fällt, als von dem Unausgedehnten. Gebraucht man also, wie es gemeiniglich geschieht, den Namen Geist für die Gesammtheit der inneren Erfahrungen, so können wir ihn negativ durch eine einzige Thatsache definiren, – durch den Mangel der Ausdehnung61.“ So, scheint es, haben wir wenigstens negativ eine einheitliche Bestimmung für die Gesammtheit der psychischen Phänomene gefunden. Allein auch hier herrscht nicht Einstimmigkeit unter den Psychologen; und aus entgegengesetzten Gründen hört man oft die Ausdehnung und den Mangel an Ausdehnung als unterscheidende Merkmale zwischen physischen und psychischen Phänomenen verwerfen. Viele erklären die Bestimmung darum für falsch, weil nicht allein die psychischen, sondern auch manche von den physischen Phänomenen ohne Ausdehnung erscheinen. So lehrt eine grosse Zahl nicht unbedeutender Psychologen, dass die Phänomene gewisser oder auch sämmtlicher Sinne ursprünglich von aller Ausdehnung und räumlichen Bestimmtheit sich frei zeigen. Besonders von den Tönen und von den Phänomenen des Geruches glaubt man dies sehr allgemein. Nach Berkeley gilt von den Farben, nach Platner von den Erscheinungen des Tastsinnes, nach Herbart und Lotze, sowie nach Hartley, Brown, den beiden Mill, H. Spencer und Anderen von den Erscheinungen aller äusseren Sinne dasselbe. Allerdings kommt es uns so vor, als seien die Erscheinungen, welche die äusseren Sinne, namentlich das Gesicht und der Tastsinn uns zeigen, alle räumlich ausgedehnt. Aber dies, sagt man, komme daher, dass wir die allmälig entwickelten räumlichen Vorstellungen auf Grund früherer Erfahrung damit verbinden; ursprünglich ohne örtliche Bestimmtheit, werden sie später von uns localisirt. Sollte wirklich nur dieses die Weise sein, in welcher die physischen Phänomene örtliche Bestimmtheit erlangen, so könnten wir offenbar nicht mehr in Rücksicht auf diese Eigen­thüm­lich­keit die beiden Gebiete scheiden; um so weniger, als auch psychische Phänomene in solcher Weise von uns localisirt werden, wie z. B. wenn wir ein Phänomen des Zornes in den gereizten Löwen, und unsere eigenen Gedanken in den von uns erfüllten Raum verlegen. Das also wäre die eine Weise, in welcher auf dem Standpunkte einer grossen Zahl bedeutender Psychologen die gegebene Bestimmung beanstandet werden muss. Im Grunde genommen ist auch Bain, der sie zu vertreten schien, diesen Denkern beizuzählen; denn er folgt ganz der Hartley’schen 61 Mental Science, Introd. ch. 1.

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Richtung. Nur darum konnte er sprechen, wie er gesprochen hat, weil er (obwohl nicht mit durchgängiger Consequenz) die Phänomene der äusseren Sinne an und für sich nicht zu den physischen Phänomenen rechnet62. Andere, wie gesagt, werden aus einem entgegengesetzten Grunde die Bestimmung verwerfen. Nicht sowohl die Behauptung, dass alle physischen Phänomene ausgedehnt erscheinen, erregt ihnen Anstoss, als vielmehr die, dass alle psychischen der Ausdehnung entbehren; auch gewisse psychische Phänomene zeigen sich nach ihnen ausgedehnt. Aristoteles scheint dieser Ansicht gewesen zu sein, wenn er im ersten Capitel seiner Abhandlung über Sinn und Sinnesobject es als unmittelbar und ohne vorgängigen Beweis einleuchtend betrachtet, dass die sinnliche Wahrnehmung Act eines körperlichen Organes sei63. Neuere Psychologen und Physiologen äussern sich zuweilen ähnlich hinsichtlich gewisser Affecte. Sie sprechen von einem Lust- und Schmerzgefühl, das in den äusseren Organen auftrete, manchmal sogar noch nach der Amputation des Gliedes; und doch ist Gefühl wie Wahrnehmung ein psychisches Phänomen. Auch von sinnlichen Begierden behaupten Manche, dass sie localisirt erscheinen; und damit stimmt es recht wohl, wenn die Dichter, nicht zwar von einem Denken, wohl aber von einer Wonne und einem Sehnen sprechen, die Herz und alle Glieder durchdringen. So sehen wir, dass sowohl hinsichtlich der physischen als auch hinsichtlich der psychischen Phänomene die gegebene Unterscheidung angefochten wird. Vielleicht ist der eine wie der andere Widerspruch in gleicher Weise unbegründet64. Aber dennoch ist jedenfalls noch eine weitere gemeinsame Bestimmung für die psychischen Phänomene wünschenswerth: denn einmal zeigt der Streit darüber, ob gewisse psychische und physische Phänomene ausgedehnt erscheinen oder nicht, dass das angegebene Merkmal zur deutlichen Scheidung nicht hinreicht; und dann ist es für die psychischen Phänomene nur negativ.

62 Vgl. oben S. 95 Anm. 53. 63 De sens. et sens. 1. p. 436, b, 7. Vgl. auch, was er De Anim. I. 1. p. 403, a, 16 von den Affecten, insbesondere von denen der Furcht, sagt. 64 Die Behauptung, auch psychische Phänomene erschienen ausgedehnt, beruht offenbar auf einer Verwechselung physischer und psychischer Phänomene, ähnlich derjenigen, von welcher wir oben uns überzeugten, da wir eine Vorstellung als nothwendige Grundlage auch der sinnlichen Gefühle nachwiesen.

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§. 5.   Welches positive Merkmal werden wir nun anzugeben vermögen? Oder gibt es vielleicht gar keine positive Bestimmung, die von allen psychischen Phänomenen gemeinsam gilt? A. Bain meint in der That, es gebe keine65. Nichtsdestoweniger haben schon Psychologen älterer Zeit auf eine besondere Verwandtschaft und Analogie aufmerksam gemacht, die zwischen allen psychischen Phänomenen bestehe, während die physischen nicht an ihr Theil haben. Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisirt, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale)66 Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Object (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Object in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise. In der Vorstellung ist etwas vorgestellt, in dem Urtheile ist etwas anerkannt oder verworfen, in der Liebe geliebt, in dem Hasse gehasst, in dem Begehren begehrt u. s. w.67 65 66

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The Senses and the Intellect. Introd. Sie gebrauchen auch den Ausdruck „gegenständlich (objective) in etwas sein“, der, wenn man sich jetzt seiner bedienen wollte, umgekehrt als Bezeichnung einer wirklichen Existenz ausserhalb des Geistes genommen werden dürfte. Doch erinnert daran der Ausdruck „immanent gegenständlich sein“, den man zuweilen in ähnlichem Sinne gebraucht, und bei welchem offenbar das „immanent“ das zu fürchtende Missverständniss ausschliessen soll. Schon Aristoteles hat von dieser psychischen Einwohnung gesprochen. In seinen Büchern von der Seele sagt er, das Empfundene als Empfundenes sei in dem Empfindenden, der Sinn nehme das Empfundene ohne die Materie auf, das Gedachte sei in dem denkenden Verstande. Bei Philo finden wir ebenfalls die Lehre von der mentalen Existenz und Inexistenz. Indem er aber diese mit der Existenz im eigentlichen Sinne confundirt, kommt er zu seiner widerspruchsvollen Logos- und Ideen­ lehre. Aehnliches gilt von den Neuplatonikern. Augustinus in seiner Lehre vom Verbum mentis und dessen innerlichem Ausgange berührt dieselbe Thatsache. Anselmus thut es in seinem berühmten ontologischen Argumente; und dass er die mentale wie eine wirkliche Existenz betrachtete, wurde von Manchen als Grundlage seines Paralogismus hervorgehoben (vergl. Ueberweg, Gesch. der Phil. II.). Thomas von Aquin lehrt, das Gedachte sei intentional in dem Denkenden, der Gegenstand der Liebe in dem Liebenden, das Begehrte in dem Begehrenden, und benützt dies zu theologischen Zwecken. Wenn die Schrift von einer Einwohnung des hl. Geistes spricht, so erklärt er diese als eine intentionale Einwohnung durch die Liebe. Und in der intentionalen Inexistenz beim Denken und Lieben sucht er auch für das Geheimniss der Trinität und den Hervorgang des Wortes und Geistes ad intra eine gewisse Analogie zu finden.

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Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschliess­ lich eigenthümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Aehnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definiren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten. Aber auch hier stossen wir auf Streit und Widerspruch. Und insbesondere ist es Hamilton, der für eine ganze weite Classe von psychischen Erscheinungen, nämlich für alle diejenigen, die er als Gefühle (feelings) bezeichnet, für Lust und Schmerz in ihren mannigfachsten Arten und Abstufungen, die angegebene Eigenthümlichkeit leugnet. Hinsichtlich der Phänomene des Denkens und Begehrens ist er mit uns einig. Offenbar gebe es kein Denken ohne ein Object, das gedacht, kein Begehren ohne einen Gegenstand, der begehrt werde. „In den Phänomenen des Gefühles dagegen,“ sagt er, „(den Phänomenen von Lust und Schmerz) stellt das Bewusstsein den psychischen Eindruck oder Zustand nicht vor sich hin, es betrachtet ihn nicht für sich (apart), sondern ist so zu sagen in Eins mit ihm verschmolzen. Die Eigen­ thüm­lich­keit des Gefühles besteht daher darin, dass in ihm nichts ist, ausser was subjectivisch subjectiv (subjectively subjective) ist; hier findet sich weder ein von dem Selbst verschiedenes Object, noch irgend welche Objectivirung des Selbst68.“ In dem ersten Falle wäre etwas da, was nach Hamilton’s Ausdrucksweise „objectiv“, in dem zweiten etwas, was „objectivisch subjectiv“ ist, wie bei der Selbsterkenntniss, deren Object Hamilton darum Subject-Object nennt; Hamilton stellt, indem er Beides in Betreff des Gefühles leugnet, jede intentionale Inexistenz für dasselbe auf das Entschiedenste in Abrede. Indessen ist, was Hamilton sagt, jedenfalls nicht durchgängig richtig. Gewisse Gefühle beziehen sich unverkennbar auf Gegenstände, und die Sprache selbst deutet diese durch die Ausdrücke an, deren sie sich bedient. Wir sagen, man freue sich an-, man freue sich über etwas, man trauere oder gräme sich über etwas. Und wiederum sagt man: das freut mich, das schmerzt mich, das thut mir leid u. s. f. Freude und Trauer folgen, wie Bejahung und Verneinung, Liebe und Hass, Begehren und Fliehen, deutlich einer Vorstellung und beziehen sich auf das in ihr Vorgestellte. Am Meisten dürfte einer in den Fällen Hamilton beizustimmen geneigt sein, in welchen man, wie wir früher sahen, am Leichtesten der Täuschung verfällt, es liege dem Gefühle keine Vorstellung zu Grunde; also z. B. beim Schmerze, der durch Schneiden oder Brennen erweckt wird. Aber der Grund 68 Lect. on Metaph. I. S. 432.

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ist kein anderer als eben die Versuchung zu dieser, wie wir sahen, irrthümlichen Annahme. Auch Hamilton erkennt übrigens mit uns die Thatsache an, dass Vorstellungen ausnahmslos, und somit auch hier, die Grundlage der Gefühle bilden. Um so auffallender erscheint daher seine Leugnung eines Objects für die Gefühle. Eines freilich ist wohl zuzugeben. Das Object, auf welches sich ein Gefühl bezieht, ist nicht immer ein äusserer Gegenstand. Auch da, wo ich einen Wohlklang höre, ist die Lust, die ich fühle, nicht eigentlich eine Lust an dem Tone, sondern eine Lust am Hören. Ja man könnte vielleicht nicht mit Unrecht sagen, dass sie sich in gewisser Weise sogar auf sich selbst beziehe, und dass darum mehr oder minder das eintrete, was Hamilton sagt, dass nämlich das Gefühl mit dem Gegenstand „in Eins verschmolzen“ sei. Aber dies ist nichts, was nicht in gleicher Weise bei manchen Phänomenen der Vorstellung und Erkenntniss gilt, wie wir bei der Untersuchung über das innere Bewusstsein sehen werden. Dennoch bleibt bei ihnen eine mentale Inexistenz, ein Subject-Object, um mit Hamilton zu reden; und dasselbe wird darum auch bei diesen Gefühlen gelten. Hamilton hat Unrecht, wenn er sagt, dass bei ihnen Alles „subjectivisch subjectiv“ sei; ein Ausdruck, der ja eigentlich sich selbst widerspricht; denn, wo nicht mehr von Object, ist auch nicht mehr von Subject zu reden. Auch wenn Hamilton von einem in-EinsVerschmelzen des Gefühles mit dem psychischen Eindruck sprach, gab er genau betrachtet gegen sich selbst Zeugniss. Jedes Verschmelzen ist eine Vereinigung von Mehrerem; und somit weist der bildliche Ausdruck, welcher die Eigenthümlichkeit des Gefühles anschaulich machen soll, immer noch auf eine gewisse Zweiheit in der Einheit hin. Die intentionale Inexistenz eines Objects dürfen wir also mit Recht als eine allgemeine Eigenthümlichkeit der psychischen Phänomene geltend machen, welche diese Classe der Erscheinungen von der Classe der physischen unterscheidet. §. 6.   Eine weitere gemeinsame Eigenthümlichkeit aller psychischen Phänomene ist die, dass sie nur in innerem Bewusstsein wahrgenommen werden, während bei den physischen nur äussere Wahrnehmung möglich ist. Dieses unterscheidende Merkmal hebt Hamilton hervor69. Es könnte einer glauben, mit einer solchen Bestimmung sei wenig gesagt, da es vielmehr das Naturgemässe scheine, dass man umgekehrt den Act nach 69

Ebend.

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dem Object, also die innere Wahrnehmung im Gegensatze zu jeder anderen als Wahmehmung psychischer Phänomene bestimme. Allein die innere Wahrnehmung hat, abgesehen von der Besonderheit ihres Objectes, auch noch Anderes, was sie auszeichnet; namentlich jene unmittelbare, untrügliche Evidenz, die unter allen Erkenntnissen der Erfahrungsgegenstände ihr allein zukommt. Wenn wir also sagen, die psychischen Phänomene seien diejenigen, welche durch innere Wahrnehmung erfasst werden, so ist damit gesagt, dass ihre Wahrnehmung unmittelbar evident sei. Ja noch mehr! Die innere Wahrnehmung ist nicht bloss die einzige unmittelbar evidente; sie ist eigentlich die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes. Haben wir doch gesehen, dass die Phänomene der sogenannten äusseren Wahrnehmung auch auf dem Wege mittelbarer Begründung sich keineswegs als wahr und wirklich erweisen lassen; ja dass der, welcher vertrauend sie für das nahm, wofür sie sich boten, durch den Zusammenhang der Erscheinungen des Irrthums überführt wird. Die sogenannte äussere Wahrnehmung ist also strenggenommen nicht eine Wahrnehmung; und die psychischen Phänomene können somit als diejenigen bezeichnet werden, in Betreff deren allein eine Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes möglich ist. Auch durch diese Bestimmung sind die psychischen Phänomene genügend charakterisirt. Nicht als ob alle psychischen Phänomene für jeden innerlich wahrnehmbar, und darum alle, die einer nicht wahrnehmen kann, von ihm den physischen Phänomenen zuzurechnen seien; vielmehr ist es offenbar und wurde von uns schon früher ausdrücklich bemerkt, dass kein psychisches Phänomen von mehr als einem Einzigen wahrgenommen wird; allein wir haben damals auch gesehen, dass in jedem vollentwickelten menschlichen Seelenleben jede Gattung psychischer Erscheinungen sich vertreten findet und darum dient der Hinweis auf die Phänomene, welche das Gebiet der inneren Wahrnehmung ausmachen, in genügender Weise unserem Zwecke. §. 7. Wir sagten, die psychischen Phänomene seien diejenigen, von welchen allein eine Wahrnehmung im eigentlichen Sinne möglich sei. Wir können eben so gut sagen, sie seien diejenigen Phänomene, welchen allein ausser der intentionalen auch eine wirkliche Existenz zukomme. Erkenntniss, Freude, Begierde bestehen wirklich; Farbe, Ton, Wärme nur phänomenal und intentional. Es gibt Philosophen, welche so weit gehen zu sagen, es sei durch sich selbst evident, dass einer Erscheinung wie die, welche wir eine physische nennen, keine Wirklichkeit entsprechen könne. Sie behaupten, dass, wer dies annehme

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und physischen Phänomenen eine andere als mentale Existenz zuschreibe, etwas sich selbst Widersprechendes behaupte. So sagt z. B. Bain, man habe die Erscheinungen der äusseren Wahrnehmung durch die Annahme einer physischen Welt zu erklären gesucht, „welche zuerst ohne wahrgenommen zu werden bestehe, und dann durch Einwirkung auf den Geist zur Wahrnehmung gelange“. „Diese Anschauung“, sagt er, „enthält einen Widerspruch. Die herrschende Lehre ist, dass ein Baum etwas in sich selbst, abgesehen von aller Wahrnehmung, sei, dass er durch das Licht, welches er entsende, in unserem Geist einen Eindruck hervorbringe und dann wahrgenommen werde; so zwar, dass die Wahrnehmung eine Wirkung, und der unwahrgenommene“ (d. h. wohl der ausser der Wahrnehmung bestehende) „Baum die Ursache sei. Allein der Baum ist nur durch Wahrnehmung bekannt; was er vor der Wahrnehmung und unabhängig von ihr sein mag, können wir nicht sagen; wir können an ihn als wahrgenommenen, aber nicht als unwahrgenommenen denken. Es liegt ein offenbarer Widerspruch in der Annahme; man verlangt von uns in demselben Augenblicke, wir sollten das Ding wahrnehmen, und wir sollten es nicht wahrnehmen. Wir kennen die Berührungsempfindung von Eisen, aber es ist nicht möglich, dass wir die Berührungsempfindung, abgesehen von der Berührungsempfindung, kennen70.“ Ich muss eingestehen, dass ich nicht im Stande bin, mich von der Richtigkeit dieser Argumentation zu überzeugen. So gewiss es auch ist, dass eine Farbe uns nur erscheint, wenn wir sie vorstellen: so ist doch hieraus nicht zu schliessen, dass eine Farbe ohne vorgestellt zu sein nicht existiren könne. Nur wenn das Vorgestellt-sein als ein Moment in der Farbe enthalten wäre, so etwa wie eine gewisse Qualität und Intensität in ihr enthalten ist, würde eine nicht vorgestellte Farbe einen Widerspruch besagen, da ein Ganzes ohne einen seiner Theile in Wahrheit ein Widerspruch ist. Dieses aber ist offenbar nicht der Fall. Wäre es doch sonst auch geradezu unbegreiflich, wie der Glauben an die wirkliche Existenz der physischen Phänomene ausserhalb unserer Vorstellung, ich will nicht sagen, entstehen, aber zu der allgemeinsten Ausbreitung gelangen, mit äusserster Zähigkeit sich erhalten, ja selbst von Denkern ersten Ranges lange Zeit getheilt werden konnte. – Wenn das richtig wäre, was Bain sagt: „wir können an einen Baum als wahrgenommenen, nicht aber als unwahrgenommenen denken; es liegt ein offenbarer Widerspruch in der Annahme“: so wären seine weiteren Folgerungen allerdings nicht mehr zu beanstanden. Allein gerade dies ist nicht zuzugeben. 70 Mental Science 3. edit. p. 198.

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Bain erläutert den Ausspruch, indem er bemerkt: „man verlangt von uns in demselben Augenblicke, wir sollten das Ding wahrnehmen, und wir sollten es nicht wahrnehmen.“ Aber es ist nicht richtig, dass man dies verlangt: denn einmal ist nicht jedes Denken eine Wahrnehmung; und dann, selbst wenn dies der Fall wäre, würde nur folgen, dass einer nur an von ihm wahrgenommene Bäume, nicht aber, dass er nur an Bäume als von ihm wahrgenommene denken könne. Ein weisses Stück Zucker schmecken, heisst nicht, ein Stück Zucker als weisses schmecken. Recht deutlich zeigt sich der Fehlschluss, wenn man ihn auf die psychischen Phänomene anwendet. Wenn einer sagen würde: „ich kann an ein psychisches Phänomen nicht denken, ohne daran zu denken; also kann ich nur an psychische Phänomene als von mir gedachte denken; also existiren keine psychischen Phänomene ausser meinem Denken“: so wäre dies ein völlig gleiches Schlussverfahren, wie das, dessen Bain sich bedient. Nichtsdestoweniger wird Bain selbst nicht leugnen, dass sein individuelles psychisches Leben nicht das einzige ist, dem wirkliche Existenz zukommt. Wenn Bain beifügt: „wir kennen die Berührungsempfindung von Eisen, aber es ist nicht möglich, dass wir die Berührungsempfindung als etwas für sich, abgesehen von der Berührungsempfindung, kennen“: so gebraucht er das Wort Berührungsempfindung zuerst offenbar im Sinne des Empfundenen, dann im Sinne des Empfindens. Das sind verschiedene Begriffe, wenn auch der Namen derselbe ist. Und somit würde nur der, welcher durch die Aequivocation sich täuschen liesse, das von Bain verlangte Zugeständniss unmittelbarer Evidenz machen können. Nicht also das ist richtig, dass die Annahme, es existire ein physisches Phänomen, wie die, welche intentional in uns sich finden, ausserhalb des Geistes und in Wirklichkeit, einen Widerspruch einschliesst: nur eines mit dem anderen verglichen, zeigen sie Conflicte, welche deutlich beweisen, dass der intentionalen hier keine wirkliche Existenz entspricht. Und gilt dies auch zunächst nur, so weit unsere Erfahrung reicht, so werden wir doch nicht fehl gehen, wenn wir ganz allgemein den physischen Phänomenen jede andere als intentionale Existenz absprechen. §. 8.   Man hat noch einen anderen Umstand als unterscheidend für physische und psychische Phänomene geltend gemacht. Man sagte, dass von psychischen Phänomenen immer nur eines nach dem anderen, von physischen dagegen viele zugleich auftreten. Nicht immer jedoch ist dies in ein und demselben Sinne gesagt worden; und nicht jeder Sinn, den man mit der Behauptung verband, zeigte sich im Einklange mit der Wahrheit.

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In neuester Zeit hat H. Spencer sich also darüber ausgesprochen: „Die zwei grossen Classen von lebendigen Thätigkeiten, welche die Physiologie und die Psychologie beziehungsweise umfassen, sind dadurch weit von einander geschieden, dass, während die eine sowohl gleichzeitige als auch auf einander folgende Veränderungen, die andere nur auf einander folgende Veränderungen einschliesst. Die Phänomene, welche den Gegenstand der Physiologie bilden, stellen sich als eine Unzahl verschiedener mit einander verknüpfter Reihen dar. Diejenigen, welche den Gegenstand der Psychologie bilden, stellen sich nur dar als eine einzige Reihe. Ein Blick auf die vielen fortdauernden Bethätigungen, welche das Leben des Körpers in seiner Gesammtheit ausmachen, zeigt sofort, dass sie gleichzeitig sind, – dass Verdauung, Blutumlauf, Athmung, Excretion, Secretion u. s. f., in allen ihren zahlreichen Untereintheilungen zugleich und in gegenseitiger Abhängigkeit vor sich gehen. Und die kürzeste Selbstbetrachtung lässt deutlich erkennen, dass die Thätigkeiten, welche das Denken ausmachen, nicht zusammen, sondern die eine nach der anderen, verlaufen71.“ – H. ­Spencer fasst also im Besonderen die physiologischen und physischen Erscheinungen bei ein und demselben mit psychischem Leben verbundenen Organismus vergleichend ins Auge. Würde er dies nicht gethan haben, so hätte er nothwendig zugeben müssen, dass auch von psychischen Erscheinungsreihen mehrere gleichzeitig verlaufen, da ja von psychisch begabten lebenden Wesen mehr als eines in der Welt sich findet. Aber auch in der Beschränkung, die er ihr gibt, bleibt die von ihm aufgestellte Behauptung nicht durchgängig wahr. Und H. Spencer selbst ist so weit davon entfernt, dies zu verkennen, dass er sofort auf jene Arten von niederen Thieren, wie z. B. auf die Strahlenthiere, hinweist, bei welchen ein mehrfaches Seelenleben in einem Leibe gleichzeitig sich abspinnt. Hier, meint er darum – was Andere aber nicht leicht zugestehen werden – sei zwischen psychischem und physischem Leben wenig Unterschied72. Und er macht noch weitere Zugeständnisse, wonach die angegebene Verschiedenheit zwischen physiologischen und psychischen Erscheinungen zu einem blossen mehr oder minder sich abschwächt. – Noch mehr! wenn wir uns fragen, was Spencer unter den physiologischen Phänomenen versteht, deren Veränderungen im Gegensatze zu den psychischen zugleich verlaufen sollen, so scheint es, dass er nicht eigentliche physische Erscheinungen, sondern die in sich selbst unbekannten Ursachen dieser Erscheinungen mit 71 72

Principles of Psychol. 2. edit. I. §. 177. p. 395. Ebend. p. 397.

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dem Namen bezeichnet; denn hinsichtlich der physischen Erscheinungen, die in der Empfindung auftreten, möchte es unleugbar sein, dass sie sich nicht gleichzeitig verändern können, wenn nicht auch die Empfindungen gleichzeitigen Veränderungen unterliegen. In dieser Weise können wir also nicht wohl zu einem unterscheidenden Merkmale für die eine und andere Classe gelangen. Andere haben darin eine Besonderheit des Seelenlebens sehen wollen, dass immer nur ein Object, nie mehrere gleichzeitig im Bewusstsein erfasst werden könnten. Sie wiesen auf den merkwürdigen Fall des Fehlers in der Zeitbestimmung hin, der bei astronomischen Beobachtungen regelmässig eintritt, indem der gleichzeitige Pendelschlag nicht gleichzeitig, sondern früher oder später zum Bewusstsein kommt, als der beobachtete Stern mit dem Faden in dem Fernglase sich berührt73. So folge denn von psychischen Phänomenen in einfacher Reihe immer nur eines dem anderen nach. Allein sicher hatte man Unrecht, das, was ein solcher Fall von äusserster Concentration der Aufmerksamkeit zeigt, ohne Weiteres zu verallgemeinern. H. Spencer wenigstens sagt: „Ich finde, dass man zuweilen nicht weniger als fünf gleichzeitige Reihen von Nervenveränderungen entdecken kann, welche in verschiedenen Graden zum Bewusstsein kommen, so dass wir keine von ihnen schlechthin unbewusst nennen können. Wenn wir gehen, ist die Reihe der Ortserscheinungen vorhanden; unter gewissen Umständen mag eine Reihe von Berührungserscheinungen sie begleiten; sehr häufig ist (bei mir wenigstens) eine Reihe von Tonerscheinungen da, welche eine Melodie oder das Bruchstück einer Melodie bilden, die mich verfolgt; und zu ihnen kommt die Reihe der Gesichtserscheinungen: welche alle, dem herrschenden Bewusstsein, das durch einen Zug von Reflexionen gebildet wird, untergeordnet, denselben kreuzen und sich darein verweben74.“ Aehnliches berichten Hamilton, Cardaillac und andere Psychologen auf Grund ihrer Erfahrungen. Angenommen aber, es wäre richtig, dass alle Fälle der Perception demjenigen des Astronomen ähnlich seien, müsste man nicht immer wenigstens anerkennen, dass wir oft zugleich etwas vorstellen und ein Urtheil darüber fällen oder danach begehren? Es bliebe also dennoch eine gleichzeitige Mehrheit psychischer Phänomene. Ja man könnte mit besserem Rechte 73 Vgl. Bessel, Astronom. Beobachtungen, Abthl. VIII. Königsb. 1823, Einl. Struve, Expédition chronométrique etc. Petersb. 1844, p. 29. 74 Ebend. p. 398. Ebenso sagt Drobisch, es sei „Thatsache, dass mehere Reihen von Vorstellungen zugleich durch das Bewusstsein gehen können, aber gleichsam in verschiedenen Höhen.“ Empir. Psychol. S. 140.

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die umgekehrte Behauptung aufstellen, dass von psychischen Phänomenen wohl oft mehrere zugleich, von physischen aber nie mehr als eines vorhanden sei. In welchem Sinne kann man also allein etwa sagen, dass von psychischen Phänomenen stets nur eines, von physischen dagegen viele zu gleicher Zeit auftreten? Man kann es, insofern die ganze Mannigfaltigkeit der psychischen Phänomene, die Jemandem in innerer Wahrnehmung erscheinen, ihm immer als eine Einheit sich zeigt, während von den physischen Phänomenen, die er gleichzeitig durch sogenannte äussere Wahrnehmung erfasst, nicht dasselbe gilt. – Wie anderwärts häufig, so ist auch hier von Manchen Einheit mit Einfachheit verwechselt worden, und sie behaupteten darum, sich selbst als etwas Einfaches in innerem Bewusstsein wahrzunehmen. Andere wieder leugneten, indem sie mit Recht der Einfachheit der Erscheinung widersprachen, zugleich die Einheit. Aber wie die Ersteren sich nicht consequent bleiben konnten, da vielmehr, sobald sie ihr Inneres beschrieben, eine reiche Vielheit verschiedener Momente Erwähnung fand: so konnten auch die Letzteren sich nicht erwehren, unwillkürlich der Einheit der Seelenphänomene Zeugniss zu geben. Sie sprechen, wie Andere, von einem „Ich“ und nicht von einem „Wir“ und bezeichnen dasselbe bald als ein „Bündel“ von Erscheinungen, bald durch andere Namen, die das Zusammengehen in eine innige Einheit charakterisiren. Wenn wir Farbe, Schall, Wärme, Geruch gleichzeitig wahrnehmen, so hindert uns nichts, jedes einem besonderen Dinge zuzuschreiben. Dagegen die Mannigfaltigkeit der entsprechenden Empfindungsacte, Sehen, Hören, Empfinden der Wärme und Riechen, und mit ihnen das gleichzeitige Wollen und Fühlen und Nachdenken, so wie die innere Wahrnehmung, die uns von ihnen allen Kenntniss gibt, sind wir genöthigt, für Theilphänomene eines einheitlichen Phänomens, in dem sie enthalten sind, und für ein einziges einheitliches Ding zu nehmen. Worin der Grund dieser Nöthigung besteht, das werden wir etwas später eingehend erörtern und dann auch noch manches hieher Gehörige ausführlicher darlegen. Denn das, was wir hier berührten, ist nichts Anderes als die sogenannte Einheit des Bewusstseins, eine der folgenreichsten und immer noch angefochtenen Thatsachen der Psychologie. §. 9.   Fassen wir abschliessend die Ergebnisse der Erörterungen über den Unterschied der psychischen und physischen Phänomene zusammen. Wir machten zunächst die Besonderheit der beiden Classen an Beispielen anschaulich. Wir bestimmten dann die psychischen Phänomene als Vor­

Capitel 1. Unterschied der psych. und phys. Phänomene.

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stellungen und solche Phänomene, die auf Vorstellungen als ihrer Grundlage beruhen; alle übrigen gehören zu den physischen. Wir sprachen darauf von dem Merkmale der Ausdehnung, welches von Psychologen als Eigen­thüm­lich­ keit aller physischen Phänomene geltend gemacht wurde; allen psychischen sollte es mangeln. Die Behauptung war aber nicht ohne Widerspruch geblieben, und erst spätere Untersuchungen können über sie entscheiden; nur dass die psychischen Phänomene wirklich sämmtlich ausdehnungslos erscheinen, konnte schon jetzt festgestellt werden. Wir fanden demnächst als unterscheidende Eigenthümlichkeit aller psychischen Phänomene die intentionale Inexistenz, die Beziehung auf etwas als Object; keine von den physischen Erscheinungen zeigt etwas Aehnliches. Weiter bestimmten wir die psychischen Phänomene als den ausschliesslichen Gegenstand der inneren Wahrnehmung; sie allein werden darum mit unmittelbarer Evidenz wahrgenommen; ja sie allein werden wahrgenommen im strengen Sinne des Wortes. Und hieran knüpfte sich die weitere Bestimmung, dass sie allein Phänomene seien, denen ausser der intentionalen auch wirkliche Existenz zukomme. Endlich hoben wir als unterscheidend hervor, dass die psychischen Phänomene, die Jemand wahrnimmt, ihm trotz aller Mannigfaltigkeit immer als Einheit erscheinen, während die physischen Phänomene, die er etwa gleichzeitig wahrnimmt, nicht in derselben Weise alle als Theilphänomene eines einzigen Phänomens sich darbieten. Dasjenige Merkmal, welches die psychischen Phänomene unter allen am Meisten kennzeichnet, ist wohl ohne Zweifel die intentionale Inexistenz. Durch dieses, so wie durch die anderen angegebenen Eigenthümlichkeiten dürfen wir sie den physischen Erscheinungen gegenüber nunmehr als deutlich bestimmt betrachten. – Es kann nicht fehlen, dass die gegebenen Erklärungen der psychischen und physischen Phänomene auch unsere früheren Begriffsbestimmungen von psychischer und Naturwissenschaft in helleres Licht setzen; haben wir ja von dieser gesagt, sie sei die Wissenschaft von den physischen, und von jener, sie sei die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen. Es ist nunmehr leicht zu erkennen, dass die beiden Bestimmungen stillschweigend gewisse Beschränkungen einschliessen. Vor Allem gilt dies von der Bestimmung der Naturwissenschaft. Denn sie handelt nicht von allen physischen Phänomenen; nicht von denen der Phantasie, sondern nur von denen, welche in der Empfindung auftreten. Und auch für diese stellt sie die Gesetze nur insoweit, als sie von der physischen Reizung der Sinnesorgane abhängen, fest. Man könnte die wissenschaftliche

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

Aufgabe der Naturwissenschaft etwa so ausdrücken, dass man sagte: die Naturwissenschaft sei jene Wissenschaft, welche die Aufeinanderfolge der physischen Phänomene normaler und reiner (durch keine besonderen psychischen Zustände und Vorgänge mitbeeinflusster) Sensationen auf Grund der Annahme der Einwirkung einer raumähnlich in drei Dimensionen ausgebreiteten und zeitähnlich in einer Richtung verlaufenden Welt auf unsere Sinnesorgane zu erklären suche75. Ohne über die absolute Beschaffenheit dieser Welt Aufschluss zu geben, begnüge sie sich damit, ihr Kräfte zuzuschreiben, welche die Empfindungen hervorbringen und sich gegenseitig in ihrem Wirken beeinflussen, und stelle für diese Kräfte die Gesetze der Coexistenz und Succession fest. In ihnen gibt sie dann indirect die Gesetze der Aufeinanderfolge der physischen Phänomene der Empfindungen, wenn diese, durch wissenschaftliche Abstraction von psychischen Mitbedingungen, als rein und bei unveränderlicher Empfindungsfähigkeit stattfindend gedacht werden. – In dieser etwas complicirten Weise muss man also den Ausdruck „Wissenschaft von den physischen Phänomenen“ deuten, wenn man ihn mit der Naturwissenschaft als gleichbedeutend setzt76. Indessen haben wir gesehen, wie man den Ausdruck „physisches Phänomen“ missbräuchlich zuweilen auf die eben erwähnten Kräfte selbst anwendet. Und da naturgemäss das als der Gegenstand einer Wissenschaft bezeichnet wird, wofür sie direct und ausdrücklich die Gesetze feststellt, so glaube ich nicht fehl zu gehen, wenn ich annehme, dass auch bei der Definition der Naturwissenschaft als der Wissenschaft von den physischen Phänomenen häufig mit diesem Namen der Begriff von Kräften einer raumähnlich ausgebreiteten und zeitähnlich verlaufenden Welt verbunden wird, die durch ihre Einwirkung auf die Sinnesorgane die Empfindungen hervorrufen und einander in ihrer Wirksamkeit beeinflussen, und für welche die Naturwis75 Vgl. darüber Ueberweg (System der Logik), in dessen Auseinandersetzung freilich nicht Alles zu billigen ist. Namentlich hat er Unrecht, wenn er die Welt der äusseren Ursachen statt raumähnlich geradezu räumlich, statt zeitähnlich geradezu zeitlich sich erstreckend denkt. 76 Ganz so, wie Kant sie fordern würde, wäre die Erklärung nicht, doch so weit als thunlich seinen Erklärungen angenähert. In gewissem Sinne kommt sie den Ansichten von J. St. Mill in der Schrift gegen Hamilton (ch. 11) näher, ohne doch auch mit ihnen in allen wesentlichen Beziehungen zu stimmen. Was Mill bleibende Möglichkeiten von Sensation (Permanent Possibilities of Sensation) nennt, hat mit dem, was wir Kräfte nannten, enge Verwandtschaft. Die Verwandtschaft sowohl als auch die vorzüglichste Abweichung von Ueberweg’s Anschauung wurde bereits in der vorigen Anmerkung berührt.

Capitel 1. Unterschied der psych. und phys. Phänomene.

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senschaft die Gesetze der Coexistenz und Succession erforscht. Betrachtet man diese Kräfte als das Object, so hat dies auch das Conveniente, dass als Gegenstand der Wissenschaft etwas erscheint, was wahrhaft und wirklich besteht. Das Letzte wäre wohl auch zu erreichen, wenn man die Naturwissenschaft als Wissenschaft von den Empfindungen bestimmte, stillschweigend dieselbe Beschränkung, die wir so eben besprachen, ergänzend. Was dem Ausdrucke „physisches Phänomen“ den Vorzug geben liess, war wohl vorzüglich der Umstand, dass man die äusseren Ursachen der Empfindung den in ihr auftretenden physischen Phänomenen entsprechend dachte: sei es, wie es anfänglich der Fall war, in jeder Hinsicht; oder sei es, was noch jetzt geschieht, wenigstens hinsichtlich der Ausdehnung in drei Dimensionen. Daher ja auch der sonst unpassende Namen „äussere Wahrnehmung“. Dazu kommt aber, dass der Act des Empfindens ausser der intentionalen Inexistenz des physischen Phänomens auch noch andere Eigenthümlichkeiten zeigt, mit welchen der Naturforscher sich gar nicht beschäftigt, da durch sie die Empfindung nicht in gleicher Weise Andeutungen über die besonderen Verhältnisse der Aussenwelt gibt. Hinsichtlich der Begriffsbestimmung der Psychologie möchte es zwar zunächst den Anschein haben, als ob der Begriff der psychischen Phänomene eher zu erweitern als zu verengern sei, indem die physischen Phänomene der Phantasie wenigstens ebenso wie die psychischen in dem früher bestimmten Sinne ganz ihrer Betrachtung anheimfallen, und auch diejenigen, welche in der Empfindung auftreten, in der Lehre von der Sensation nicht unberücksichtigt bleiben können. Allein es ist offenbar, dass sie nur als Inhalt psychischer Phänomene bei der Beschreibung der Eigenthümlichkeit derselben in Betracht kommen. Und dasselbe gilt von allen psychischen Phänomenen, die ausschliesslich phänomenale Existenz haben. Als eigentlichen Gegenstand der Psychologie werden wir nur die psychischen Phänomene in dem Sinn von wirklichen Zuständen anzusehen haben. Und sie ausschliess­ lich sind es, in Bezug auf welche wir sagen, die Psychologie sei die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen.

Zweites Capitel. Vom inneren Bewusstsein.

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§. 1.   Es ist nicht jedesmal ein unnützer Kampf um Worte, wenn man darüber streitet, welcher Begriff mit einem Namen zu verbinden sei. Manchmal gilt es, die allgemeinübliche Bedeutung festzustellen, von der es immer miss­ lich ist, sich zu entfernen; manchmal aber handelt es sich darum, die naturgemässe Abgrenzung einer einheitlichen Classe aufzufinden. Ein Fall der letzteren Art muss wohl in dem Streite um die Bedeutung des Namens „Bewusstsein“ vorliegen, wenn wir ihn nicht als eitles Wortgezänke verurtheilen sollen. Denn von einem allgemeinüblichen, ausschliess­ lichen Sinne, der mit dem Worte verbunden würde, kann keine Rede sein. Davon überzeugt man sich sofort, wenn man auf die Uebersicht blickt, die in England Bain78, oder auf die, welche in Deutschland Horwicz79 von dem verschiedenen Gebrauche des Wortes gegeben hat. Bald versteht man darunter Erinnerung an eigene frühere Acte, besonders wenn sie moralischer Natur waren, wie wenn man sagt: ich bin mir keiner Schuld bewusst. Bald bezeichnet man damit jede Art von unmittelbarer Erkenntniss eigener psychischer Acte, insbesondere auch eine Wahrnehmung, welche gegenwärtige psychische Acte begleitet. Bald gebraucht man das Wort in Bezug auf äussere Wahrnehmung, wie z. B. wenn man von dem, welcher aus Schlaf oder Ohnmacht erwacht, sagt, er sei wieder zum Bewusstsein gekommen. Bald nennt man nicht bloss Wahrnehmen und Erkennen, sondern auch jedes Vorstellen ein Bewusstsein. Erscheint nun etwas in der Phantasie, so sagen wir, es trete im Bewusstsein auf. Manche haben jeden psychischen Act als ein Bewusstsein bezeichnet, mochte es nun ein Vorstellen, ein Erkennen, eine irr­thüm­liche Annahme, ein Gefühl, ein Wollen oder irgend eine andere Art von psychischer Erscheinung sein; und diese Bedeutung scheint von den Psychologen (freilich nicht von allen) insbesondere auch dann mit 77

Aehnlich wie man die Wahrnehmung einer gegenwärtig in uns bestehenden psychischen Thätigkeit „innere“ Wahrnehmung nennt, nennen wir hier das darauf gerichtete Bewusstsein „inneres“ Bewusstsein. 78 Mental and Moral Science. Append. p. 93. 79 Psych. Anal. I. S. 211 ff.

Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein.

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dem Namen verknüpft zu werden, wenn sie von der Einheit des Bewusstseins, d. i. von einer Einheit gleichzeitig bestehender psychischer Phänomene, sprechen. Für irgend einen bestimmten Gebrauch des Wortes werden wir uns entscheiden müssen, wenn es uns nicht, statt guter, schlechte Dienste leisten soll. Würden wir auf den Ursprung des Namens Gewicht legen, so würden wir ihn ohne Zweifel auf Phänomene der Erkenntniss, sei es auf alle, sei es auf einige, zu beschränken haben. Allein darauf kommt es offenbar weniger an; geschieht es ja auch sonst häufig ohne Nachtheil, dass Worte ihrer ursprünglichen Bedeutung entfremdet werden. Viel dienlicher ist es offenbar, ihn so zu gebrauchen, dass er eine wichtige Classe bezeichnet, besonders wenn sonst ein entsprechender Namen dafür vermisst, also durch ihn eine fühlbare Lücke ausgefüllt wird80. So gebrauche ich ihn denn am Liebsten als gleichbedeutend mit psychischem Phänomen oder psy­ chischem Acte; denn einmal würde die beständige Anwendung einer solchen zusammengesetzten Bezeichnung schwerfällig sein; und dann scheint der Ausdruck Bewusstsein, da er auf ein Object hinweist, von welchem das Bewusstsein Bewusstsein ist, die psychischen Phänomene gerade nach der sie unterscheidenden Eigen­thüm­lich­keit der intentionalen Inexistenz eines Objectes zu charakterisiren geeignet, für welche uns ebenso ein gebräuchlicher Namen mangelt. §. 2.   Dass kein psychisches Phänomen bestehe, welches nicht in dem angegebenen Sinne Bewusstsein von einem Objecte ist, haben wir gesehen. Eine andere Frage aber ist die, ob kein psychisches Phänomen besteht, welches nicht Object eines Bewusstseins ist. Alle psychischen Phänomene sind Bewusstsein; sind aber auch alle psychischen Phänomene bewusst, oder gibt es vielleicht auch unbewusste psychische Acte? Mancher wird über eine solche Frage den Kopf schütteln. Ein unbewusstes Bewusstsein anzunehmen, scheint ihm absurd. Und auch bedeutende Psychologen, wie z. B. Locke und J. St. Mill, wollten darin einen unmittelbaren Widerspruch erblicken. Allein wer auf die vorangehenden Bestimmungen achtet, wird kaum mehr so urtheilen. Er wird erkennen, dass, wer die Frage erhebt, ob es ein unbewusstes Bewusstsein gebe, nicht in ähnlicher Weise lächerlich fragt, wie einer, der wissen möchte, ob es eine nicht-rothe 80 Vgl. die Bemerkung Herbart’s, Lehrb. zur Psychol. I. Cap. 2. §. 17, und Psychol. als Wissenschaft, Th. I. Abschn. II. Cap. 2. §. 48.

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Röthe gebe. Ein unbewusstes Bewusstsein ist so wenig als ein ungesehenes Sehen eine Contradictio in adjecto81. Doch auch ohne durch falsche Analogien, die der gebrauchte Ausdruck nahelegt, bestimmt zu sein, werden die meisten Laien in der Psychologie sich sofort gegen die Annahme eines unbewussten Bewusstseins erklären. Hat es doch ein paar Jahrtausende gewährt, ehe unter den Philosophen einer auftrat, der ein solches lehrte. Natürlich waren sie mit der Thatsache wohl bekannt, dass man einen Schatz erworbener Erkenntnisse, ohne an sie zu denken, besitzen könne; aber ganz richtig fassten sie dieselben als Dispositionen zu gewissen Acten des Denkens, wie auch den erworbenen Charakter als Disposition zu gewissen Affecten und Willensbethätigungen, nicht aber selbst als ein Erkennen und Bewusstsein. Einer der ersten, die ein unbewusstes Bewusstsein gelehrt haben, ist wohl Thomas von Aquin82. Später sprach Leibnitz von „perceptiones sine apperceptione seu conscientia“, „perceptiones insensibiles83“, und Kant folgte seinem Vorgange. In neuester Zeit aber findet die Lehre von unbewussten psychischen Phänomenen zahlreiche Vertreter, und zwar in Männern, die sonst nicht gerade verwandten Richtungen angehören. So sagt der ältere Mill, es gebe Empfindungen, deren wir uns aus gewohnter Unachtsamkeit nicht bewusst werden, Hamilton lehrt, dass die Kette unserer Ideen oft nur durch unbewusste Mittelglieder verbunden sei. Ebenso glaubt Lewes, dass viele psychische Acte ohne Bewusstsein stattfinden. Maudsley macht die, wie er glaubt, sicher erwiesene Thatsache unbewusster Seelenthätigkeit zu einem der Hauptgründe für seine physiologische Methode. Herbart lehrt Vorstellungen, deren man sich nicht bewusst sei, und Beneke glaubt, nur diejenigen, welche ein höheres Maass von Intensität besitzen, seien von Bewusstsein begleitet. Auch Fechner sagt, die Psychologie könne von unbewussten Empfindungen und Vorstellungen nicht Umgang nehmen. Wundt84, Helmholtz, 81

82 83 84

Wir gebrauchen „unbewusst“ in zweifacher Weise; einmal, activ, von dem, was sich einer Sache nicht bewusst ist; dann, passiv, von einer Sache, deren man sich nicht bewusst ist. In dem ersteren Sinne wäre „unbewusstes Bewusstsein“ ein Widerspruch, nicht aber in dem zweiten, und dieser ist es, in welchem das Wort „unbewusst“ hier genommen wird. Davon unten §. 7. Nouveaux Essais II. 1. Monadologie §. 14. Principes de la nature et de la grace §. 4. Wenigstens in seinem früheren Werke „Vorlesungen über Menschen- und Thierseele“. Einige Stellen seiner Physiol. Psychologie, so weit sie bis jetzt vorliegt, scheinen anzudeuten, dass er von der Annahme unbewusster Seelenthätigkeiten zurückgekommen ist.

Capitel 2. Vom inneren Bewusstsein.

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Zöllner u. A. behaupten, dass es unbewusste Schlüsse gebe. Ulrici sucht durch gehäufte Argumente darzuthun, dass sowohl Empfindungen als auch andere psychische Acte, wie Liebe und Sehnsucht, oft unbewusst geübt würden. Und v. Hartmann hat eine ganze „Philosophie des Unbewussten“ ausgearbeitet. Indessen, so gross die Schaar derjenigen geworden ist, welche den unbewussten psychischen Phänomenen das Wort reden, fehlt doch viel daran, dass sie zu allgemeiner Anerkennung gelangt wären. Weder Lotze hat sie sich zu eigen gemacht, noch haben die berühmten englischen Psychologen A. Bain und H. Spencer sich ihr angeschlossen; und J. St. Mill hat die hohe Achtung, die er durchwegs den Ansichten seines Vaters zollt, nicht abgehalten, hier seiner Lehre entgegenzutreten. Ja auch von denen, welche unbewusste Vorstellungen behaupten, sind viele nur darum ihre Vertheidiger, weil sie mit den Worten einen anderen Sinn verbinden. Dies ist z. B. bei Fechner der Fall, der offenbar, wenn er von unbewusster Empfindung und Vorstellung spricht, mit den Namen Empfindung und Vorstellung etwas anderes bezeichnet als wir, so zwar, dass er gar kein psychisches Phänomen darunter versteht. Die psychischen Phänomene sind nach ihm sämmtlich bewusst, und er ist also der Sache nach ein Gegner der neueren Anschauung85. Ulrici aber versteht unter Bewusstsein etwas Anderes, und leugnet in unserem Sinne ebenso wie Fechner jeden unbewussten psychischen Act86. Wir möchten wohl auch von Hartmann sagen, dass er mit „Bewusstsein“ etwas Anderes als wir bezeichnen wolle, denn seine Definition, das Bewusstsein sei „die Emancipation der Vorstellung vom Willen ... und die Opposition des Willens gegen diese Emancipation“, es sei „die Stupefaction des Willens über die von ihm nicht gewollte und doch emp85

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Dies zeigt deutlich eine Stelle der Psychophysik (II. S. 438): „Die Psychologie kann von unbewussten Empfindungen, Vorstellungen, ja von Wirkungen unbewusster Empfindungen, Vorstellungen nicht abstrahiren. Aber wie kann wirken, was nicht ist; oder wodurch unterscheidet sich eine unbewusste Empfindung, Vorstellung von einer solchen, die wir gar nicht haben?“ Fechner antwortet hierauf, dass im ersteren Fall zwar nicht eigentlich eine Empfindung, aber etwas, wozu die Empfindung in functioneller Beziehung stehe, gegeben sei. „Empfindungen, Vorstellungen haben freilich im Zustande des Unbewusstseins aufgehört, als wirkliche zu existiren, sofern man sie abstract von ihrer Unterlage fasst, aber es geht etwas in uns fort, die psychophysische Thätigkeit, deren Function sie sind, und woran die Möglichkeit des Wiederhervortrittes der Empfindung hängt, u. s. f.“ Gott und Mensch I. 283 sagt er, dass „wir überhaupt von unseren inneren Zuständen, Vorgängen, Bewegungen und Thätigkeiten, ein unmittelbares Gefühl haben“, und dass es keinem Zweifel unterliege, „dass es alle, auch die alltäglichsten Sinneseindrücke (Perceptionen) begleite“, dass wir in dieser Weise „auch fühlen, dass wir sehen, hören, schmecken etc.“

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findlich vorhandene Existenz der Vorstellung“, scheint sich, wenn überhaupt auf etwas nicht rein Imaginäres, jedenfalls auf etwas Anderes als dasjenige, was wir Bewusstsein nannten, zu beziehen87. Doch die von ihm gebrachten Gründe wenigstens zeigen ihn deutlich als einen Verfechter der unbewussten psychischen Thätigkeiten in dem Sinne, in welchem wir davon reden. Die Uneinigkeit der Psychologen in diesem Punkte kann uns nicht auffallen; begegneten wir ihr ja auch sonst bei jedem Schritte. Aus ihr lässt sich vernünftiger Weise kein Grund dafür entnehmen, dass die Wahrheit nicht mit Sicherheit erkennbar sei. Dagegen ist die besondere Natur der Frage allerdings von der Art, dass Mancher glauben möchte, es stehe die Unmöglichkeit einer Beantwortung ihr auf der Stirne geschrieben, und sie könne darum wohl Gegenstand geistreichen Gedankenspieles, nicht aber ernster wissenschaftlicher Untersuchung werden. Denn, dass keine unbewussten Vorstellungen im Bereiche unserer Erfahrung vorkommen, ist selbstverständlich und nothwendig der Fall, auch wenn solche in reicher Anzahl in uns vorhanden sein sollten; wären sie ja sonst nicht unbewusst. Wenn man aber darum, wie es scheint, die Erfahrung nicht gegen sie anrufen kann, so scheint dieselbe doch ebensowenig und aus demselben Grunde für sie Zeugniss geben zu können. Und wie sollen wir, von der Erfahrung verlassen, die Frage zur Entscheidung führen? Doch gegenüber diesem Vorwurfe haben die Vertheidiger des unbewussten Bewusstseins mit Recht geltend gemacht, dass, was nicht unmittelbar erfahren, vielleicht mittelbar aus Erfahrungsthatsachen erschlossen werden könne88. Und sie haben nicht versäumt, solche Thatsachen zu sammeln, und so durch viele und mannigfache Argumente den Beweis für ihre Behauptung zu versuchen. §. 3.   Vier verschiedene Wege sind es, die hier mit einer gewissen Hoffnung auf Erfolg eingeschlagen werden konnten. Man konnte Erstens nachzuweisen suchen, dass gewisse in der Erfahrung gegebene Thatsachen die Annahme eines unbewussten psychischen Phänomens als ihre Ursache verlangen. Man konnte Zweitens darzuthun streben, dass eine in der Erfahrung gegebene Thatsache ein psychisches Phänomen als Wirkung nach sich ziehen müsse, während doch keines im Bewusstsein erscheine. 87 Phil. d. Unbew. 2. Aufl. S. 366. 88 Vgl. Kant, Anthropol. §. 5.

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Man konnte Drittens darauf ausgehen zu zeigen, dass bei den bewussten psychischen Phänomenen die Stärke des begleitenden Bewusstseins eine Func­ tion ihrer eigenen Stärke sei, und dass in Folge dieses Verhältnisses in gewissen Fällen, in welchen die letztere eine positive Grösse sei, die erstere jedes positiven Werthes entbehren müsse. Man konnte endlich Viertens den Beweis versuchen, dass die Annahme, es sei jedes psychische Phänomen Object eines psychischen Phänomens, zu einer unendlichen Verwickelung der Seelenzustände führe, welche sowohl von vornherein unmöglich, als auch der Erfahrung entgegen sei. §. 4.   Am Häufigsten ward und wird der erste Weg betreten. Gewöhnlich aber hat man nicht genug auf die Bedingungen geachtet, unter welchen er allein zum Ziele führen kann. Soll aus einer gewissen Thatsache als Wirkung auf ein unbewusstes psychisches Phänomen als Ursache ein gültiger Schluss gezogen werden, so muss vor Allem die Thatsache selbst hinreichend gesichert sein. Dies ist die erste Bedingung. Aus diesem Grunde schon wird den Beweisversuchen, welche sich auf die Erscheinungen des sogenannten Hellsehens, der Ahnungen, Vorgefühle u. dgl. stützen, ein zweifelhafter Werth zukommen. Hartmann selbst, der auf sie hinweist89, ist sich recht wohl bewusst, dass der Ausgangspunkt des Beweises hier nicht auf grosses Vertrauen rechnen darf. Von diesen Argumenten werden wir darum gänzlich Umgang nehmen können. Aber auch was Maudsley von Leistungen des Genies erzählt90, die nicht aus bewusstem Denken hervorgehen, sind keine Thatsachen, welche genugsam gesichert sind, um als Grundlage eines triftigen Arguments benützt zu werden. Die genialen Denker sind seltener noch als die Somnambulen, und überdies berichteten manche von ihnen, wie z. B. Newton, in der Art über ihre herrlichsten Entdeckungen, dass wir deutlich erkennen, wie dieselben nicht die Frucht unbewussten Denkens gewesen sind. Wir begleiten sie auf dem Wege ihrer Forschung und begreifen ihren Erfolg, ohne ihn darum weniger zu bewundern. Wenn aber andere von ihren Leistungen nicht in gleicher Weise Rechenschaft geben konnten, ist es dann eine gewagtere Annahme, dass sie der bewussten Vermittelung sich nicht mehr erinnerten, als dass ein unbewusstes Denken die Brücke geschlagen habe? Goethe, der sicher Anspruch hat, unter den Genies einen Platz zu 89 90

Philos. d. Unbew. 2. Aufl, S. 81 ff. Physiol. u. Pathol. d. Seele, deutsch von Böhm, S. 17 f. 32 ff.; vgl. oben Buch I. Capitel 3. §. 6.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

erhalten, sagt in seinem Wilhelm Meister, dass ungewöhnliches Talent „nur eine geringe Abweichung von gewöhnlichem“ sei. Gibt es unbewusste psychische Vorgänge, so werden sie sich also auch an minder seltenen Exemplaren nachweisen lassen. Eine weitere Bedingung ist diese, dass die Erfahrungsthatsache durch die Annahme eines psychischen Phänomens, von dem wir kein Bewusstsein haben, wirklich wie eine Wirkung durch die entsprechende Ursache eine Erklärung finden kann. Dazu gehört vor Allem, dass bewusste psychische Phänomene erfahrungsgemäss ähnliche Folgen nach sich zogen. Ferner, dass diese nicht zugleich auch andere Folgen nach sich zogen, welche in dem betreffenden Falle fehlen, obwohl kein Grund ist, zu vermuthen, sie seien an das hier mangelnde begleitende Bewusstsein geknüpft gewesen. Ferner ist nöthig, dass die unbewussten psychischen Phänomene, welche die Hypothese zu Hülfe nimmt, in ihrem Verlaufe so wie in ihren anderen Eigen­ thüm­lich­keiten mit den anerkannten Gesetzen der bewussten psychischen Phänomene nicht im Widerspruche stehen, so zwar, dass etwaige Besonderheiten aus dem Mangel des begleitenden Bewusstseins hinreichend begreiflich sind. Unmittelbar können ihr Verlauf und ihre anderen Eigenthümlichkeiten natürlich nicht wahrgenommen werden, aber in ihren Wirkungen werden sie sich offenbaren, wie ja auch die Gesetze der Aussenwelt, das Gesetz der Trägheit, der Gravitation u. s. f. in den Empfindungen als ihren Wirkungen zu Tage treten. So muss denn insbesondere auch die Entstehung des psychischen Phänomens, welches man trotz mangelnden Bewusstseins annimmt, nicht selbst als etwas ganz und gar Undenkbares erscheinen. Diese Forderungen werden ganz besonders dann unabweislich sein, wenn, wie es fast ausnahmslos geschieht, die angenommenen unbewussten Seelen­ thä­tig­keiten den bewussten homogen gedacht werden. Auch kann man sagen, dass diejenigen, welche aus Erfahrungsthatsachen auf unbewusste psychische Acte als ihre Ursache schlossen, in ihrer grossen Mehrzahl wenigstens nicht auffallend gegen sie zu verstossen pflegen. Nur bei einzelnen Denkern, wie namentlich bei Hartmann, liegt das Gegentheil zu Tage. Er aber unterscheidet sich auch darin von der grösseren Schaar der Vertreter unbewusster psychischer Acte, dass er sie den bewussten heterogen, ja in den wesentlichsten Beziehungen von ihnen abweichend denkt. Es ist einleuchtend, dass wer dieses thut, von vorn herein die Hypothese schwächt. Viele Forscher, welche in ihren logischen Ansichten mit J. St. Mill91 übereinkommen, werden sie 91

Ded. u. Ind. Log. B. III. c.

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in dieser Gestalt, weil sie keiner „Vera Causa“ als Erklärungsprincips sich bediene, sogar ohne Weiteres als unwissenschaftlich verwerfen. Sicher ist, dass der Schluss als Analogieschluss in dem Maasse an Kraft verliert, in welchem die Aehnlichkeit der angenommenen Ursache mit den beobachteten schwindet. Schon die erste abweichende Bestimmung bringt also in dieser Hinsicht Nachtheil, und mit jeder neuen, welche sich aus den früheren nicht als nothwendige Consequenz ergibt, wird die Wahrscheinlichkeit der Hypothese auch wegen der wachsenden Complication eine bedeutende Einbusse erleiden. Im Uebrigen, glaube ich, kann man die Annahme nicht als eine bodenlose und willkürliche Fiction abweisen, wenn sie nur dasjenige erfüllt, was von den zuvor erwähnten Forderungen nach wie vor in Kraft bleibt, oder an deren Stelle tritt. Auch wenn wir aus den Erscheinungen unserer Empfindungen auf eine raumähnlich ausgebreitete Welt als ihre Ursache schliessen, nehmen wir etwas an, was nie als unmittelbare Erfahrungsthat­sache gefunden wurde, und doch ist der Schluss vielleicht nicht unberechtigt. Aber warum nicht? Darum allein, weil wir, indem wir mit der Annahme einer solchen Welt die Annahme gewisser allgemeiner Gesetze verbinden, die in ihr herrschen, die sonst unverständliche Succession unserer Empfindungsphänomene in ihrem Zusammenhang zu begreifen, ja vorherzusagen im Stande sind. So wird es denn auch hier nöthig sein, die Gesetze jener angeblichen unbewussten Phänomene darzulegen und durch die einheitliche Erklärung einer Fülle von Erfahrungsthatsachen, die sonst unerklärt blieben, und durch die Voraussagung anderer, die sonst Niemand erwarten würde, zu bewähren. Ferner, da die unbewussten Phänomene, die man voraussetzt, wenn auch nicht den bewussten homogen, doch in einem gewissen Maasse ihnen ähnlich gedacht werden (würden sie ja sonst mit Unrecht den psychischen Thätigkeiten zugezählt): so wird man nachzuweisen haben, dass, was sich an das ihnen Gemeinsame knüpft, nicht verletzt wird; und überhaupt, dass man in ihrer Annahme nicht widersprechende Bestimmungen vereinigt. Diesen Forderungen hat Hartmann eben so wenig wie den früher angegebenen genügt. Vielmehr zeigt sich da, wo man die Gesetze für die unbewuss­ ten psychischen Phänomene erwarten sollte92, dass diese gar keine psychischen Phänomene sind. Sie lösen sich in ein ewig Unbewusstes, in ein alleiniges93, allgegenwärtiges, allwissendes und allweises94 Wesen auf. Ein 92 93 94

Philos. d. Unbew. 2. Aufl. S. 344 ff. Ebend. S. 473 ff. Ebend. S. 552 ff.

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Gott tritt an die Stelle, dem, um diesen Namen vollkommen zu verdienen, nur das Bewusstsein mangeln soll95, der aber freilich auch sonst noch mit einigen kräftigen Widersprüchen behaftet ist. Er ist das An-sich-seiende96, er erkennt das An-sich-seiende97, er erkennt aber doch nicht sich selbst. Er ist erhaben über alle Zeit98, obwohl er doch zeitlich nicht bloss wirkt, sondern auch leidet99. Er ermüdet nicht100, geht aber doch sehr darauf aus, sich möglichst alle Mühe zu ersparen101. Die Maschinerien, die er zu dem Zwecke erfindet, bleiben freilich sehr unvollkommen, und es bleibt ihm nichts anderes übrig, als fort und fort und überall durch unmittelbares Eingreifen nachzuhelfen102. Aber auch das thut er nicht immer und lässt es im Widerspruche mit seinem sonstigen Verhalten geschehen, dass die Ziele, die durch sein unmittelbares „allweises“ Eingreifen sicher zu erreichen wären, verfehlt werden103, ja dass die von ihm zur Erhaltung geschaffenen Einrichtungen zur Zerstörung führen104. Mit einem Worte, er spielt ganz die Rolle eines Deus ex machina, die vor Zeiten Platon und Aristoteles an dem Nus des Anaxagoras rügten, der überall als Lückenbüsser bei der Hand ist, wo die mechanische Erklärung im Stiche lässt105. Ein solches hypothetisches Unding wird jeder, auch wenn er nicht die von J. St. Mill der wissenschaftlichen Hypothese angewiesenen Schranken anerkennt, wenn er nur einigermaassen ein exacter Denker ist, als unzulässig verwerfen. Es kann darum keinem Zweifel unterliegen, dass die sämmtlichen Argumente, die Hartmann für die Annahme unbewusster psychischer Thätigkeit anführt, so wie er sie bringt, der zweiten Bedingung nicht genügen. Er hat nicht nachgewiesen, dass die Erfahrungsthatsachen, aus welchen 95 96 97 98 99

Ebend. S. 486 ff. Ebend. S. 480. Es gibt nichts ausser dem Unbewussten (ebend. S. 720). Ebend. S. 337. Ebend. S. 338. Ebend. S. 472 wird z. B. von einer „Wechselwirkung gewisser materieller Theile des organischen Individuums mit dem Unbewussten“ gesprochen. 100 Ebend. S. 336. 101 Ebend. S. 554. 102 Ebend. S. 555. 103 Vgl. ebend. S. 339 f. 104 Vgl. ebend. S. 129. 105 Man vergleiche, um recht schlagende Belege dafür zu finden, z. B. das Capitel über die aufsteigende Entwickelung des organischen Lebens auf der Erde.

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die unbewusste psychische Thätigkeit erschlossen werden soll, durch eine solche Annahme eine wirkliche Erklärung finden würden. Eine dritte Bedingung für die Gültigkeit des Schlusses auf unbewusste psychische Phänomene als Ursache gewisser Erfahrungsthatsachen ist endlich die, dass nachgewiesen werde, wie die betreffenden Erscheinungen gar nicht oder wenigstens nicht ohne die grösste Unwahrscheinlichkeit auch ohne ihre Annahme auf Grund anderer Hypothesen denkbar sind. Wenn feststeht, dass in gewissen Fällen bewusste psychische Phänomene ähnliche Erscheinungen als Folgen nach sich zogen, so ist damit noch nicht erwiesen, dass diese niemals in Folge anderer Ursachen entstehen. Es ist nicht richtig, dass ähnliche Wirkungen immer ähnliche Ursachen haben. Sehr verschiedenartige Körper sind der Farbe nach oft nicht von einander zu unterscheiden. Die Wirkung ist also hier die gleiche, die Ursachen aber sind darum nicht weniger von einander verschieden. Dass Bacon diese Möglichkeit ausser Acht liess, war der vorzügliche Grund, wesshalb seine inductiven Versuche so wenig von glücklichem Erfolge gekrönt wurden. Was aber hier auf physischem, ist auch auf psychischem Gebiete möglich. Wirklich gelangen wir oft, schon Aristoteles hat dies erkannt und hervorgehoben, von verschiedenen Prämissen ausgehend, zu demselben Schlusssatze. Und derselbe grosse Denker hat auch bereits bemerkt, dass Urtheile, welche das eine Mal im eigentlichen Sinne erschlossen, das andere Mal nur erfahrungsmässig oder (wie wir, um Missverständnisse zu vermeiden, uns vielleicht besser ausdrücken werden) vermöge der Gewohnheit, unvermittelt gefällt werden. Gewohnheit ist es, die ihre Kraft zeigt, wenn gewisse, häufig angewandte, aber nichts weniger als selbstverständliche Principien uns unmittelbar einleuchtend scheinen, indem sie sich mit einer fast unabweisbaren Macht uns aufdrängen; und wiederum ist es vielleicht Gewohnheit und nichts Anderes, wenn Thiere in ähnlichen Fällen Aehnliches erwarten. Was aber hier eine erworbene, könnte anderwärts eine angeborene Disposition zu unmittelbaren Urtheilen bewirken106, und wir hätten auch dann Unrecht, von unbewussten Schlüssen, d. h. von Schlüssen, deren Prämissen unbewusst geblieben sind, zu sprechen. Wenn man fragt, inwieweit die verschiedenen hieher gehörigen Beweisversuche für die Existenz unbewusster psychischer Phänomene dieser dritten Bedingung genug gethan haben, so nehme ich keinen Anstand zu sagen, dass kein einziger ihr gebührend Rechnung trug, und will dies an den wichtigsten unter ihnen im Einzelnen nachweisen. 106 Ein so genanntes „instinctives“ Urtheilen.

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Hamilton107 und mit ihm viele Andere haben die Annahme unbewusster Vorstellungen daraus gefolgert, dass bei der Erneuerung eines früheren Gedankenzuges in der Erinnerung zuweilen eine ganze Reihe von Mittelgliedern übersprungen erscheint. Diese Thatsache wäre ohne Zweifel mit den Gesetzen der Association in Einklang gebracht, wenn man annähme, dass die betreffenden Zwischenglieder auch hier vermittelt hätten, aber nicht in’s Bewusstsein getreten wären. Allein weder Hamilton noch Andere haben gezeigt oder auch nur zu zeigen versucht, dass dies die einzig mögliche Erklärungsweise sei. In Wahrheit ist dies keineswegs der Fall. J. St. Mill, wo er Hamilton kritisirt108, konnte leicht zwei andere angeben; und da, wo wir von der Association der Ideen handeln, werden wir sehen, dass die Zahl dieser möglichen Hypothesen, von denen bald die eine, bald die andere eine ganz überwiegende Wahrscheinlichkeit besitzt, sich noch bedeutend vermehren lässt. Lange109 bemerkt hinsichtlich der Erscheinungen des blinden Fleckes, von welchen auch wir später zu sprechen haben werden, das Auge schliesse auf die Farbe, die ihn scheinbar ausfülle, und mache bei längeren, in geeigneter Weise fortgesetzten Experimenten die Entdeckung, dass es sich getäuscht habe. Da hätten wir also wieder ein unbewusstes Denken; denn wir sind uns des vermittelnden Schlussverfahrens in keiner Weise bewusst110. Ich lasse es dahingestellt, ob die von Lange gegebene Erklärung auch nur der Bedingung entspricht, dass sie selber nach jeder Seite hin möglich erscheint, obwohl Manches ist, was hier zum Zweifel berechtigt. Jedenfalls aber hat Lange es unterlassen, die Möglichkeit jeder anderen Hypothese auszuschliessen. Hätte er auf die Gesetze der Association geachtet, so würde er gefunden haben, was wir an einem späteren Orte finden werden, dass diese Gesetze das Auftre107 Lect. on Metaph. I. p. 352 s. 108 Examination of Sir W. Hamilton’s Philos. ch. 15 und James Mill, Anal. of the Phenom. of the Human Mind, 2. edit. note 34. I. p. 106 ss. 109 Gesch. d. Material. 1. Ausg. S. 494 ff. Vgl. auch E. H. Weber, Ueber den Raumsinn und die Empfindungskreise in der Haut und im Auge (Ber. d. K. Sächs. Ges. d. Wissensch. 1852, p. 158). 110 Es ist nicht ganz klar, ob Lange wirklich einen vermittelnden Vorgang, ähnlich dem bewussten Schliessen, anerkennen will. S. 494 sagt er: „Das Auge macht gleichsam einen Wahrscheinlichkeitsschluss, einen Schluss aus der Erfahrung, eine unvollständige Induction.“ Und S. 495: „Das Auge kommt gleichsam zu dem Bewusstsein, dass an dieser Stelle nichts zu sehen ist, und corrigirt seinen ursprünglichen Trugschluss.“ Doch spricht er ebendaselbst davon als von einem Vorgange im rein sinnlichen Gebiet, welcher „mit den Verstandesschlüssen wesensverwandt“ sei.

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ten wie das Verschwinden der Erscheinung, und das eine ohne unbewussten Fehlschluss, das andere ohne unbewusste Berichtigung, mit Leichtigkeit begreifen lassen. Des gleichen Versäumnisses haben sich Helmholtz111, Zöllner112 und ausnahmslos auch die übrigen, wie auch immer tüchtigen Forscher schuldig gemacht, welche die Raumvorstellungen, die wir in Folge früherer Erfahrungen mit den gesehenen Farben verbinden, und eine Reihe anderer optischer Erscheinungen auf unbewusste Schlüsse zurückführten. Sie trugen niemals den Mitteln Rechnung, welche die Psychologie auch heute schon bietet, um ohne solche unbewusste Zwischenglieder den Thatsachen gerecht zu werden. Es wäre unzweckmässig, auf diese Mittel schon hier näher einzugehen; erst spätere Erörterungen werden uns damit bekannt machen. Für jetzt genügt es hervorgehoben zu haben, dass die angeblichen Folgerungen aus unbewussten Schlüssen so lange keinen Beweis für das Dasein unbewusster psychischer Thätigkeit liefern können, als der Nachweis der Unmöglichkeit oder überwiegenden Unwahrscheinlichkeit jeder anderen Auffassung nicht geführt wird, und dass dieser Bedingung bis jetzt von Niemand entsprochen wurde. Es gilt dies bei den vorerwähnten optischen Erscheinungen; es gilt ebenso da, wo man den in zartem Alter schon vorhandenen Glauben an die Existenz der Aussenwelt einer unbewussten Induction zuschrieb113, und wiederum da, wo man jede Wiederkehr eines Gedankens im Gedächtnisse als Folge unbewusster Processe begreifen wollte, eben so langwierig und eben so verwickelt wie die, welche wir zuweilen durchlaufen, wenn wir uns besinnen und, von einem zum anderen Gedanken fortschreitend, einem früheren Erlebnisse nachspüren. Hartmann114 hat dies gethan und auch Maudsley115 scheint der Ansicht. Nur der Umstand, dass dieser jeden in uns auftauchenden Gedanken, der nicht die Folge eines absichtlichen und angestrengten Suchens ist, ohne Weiteres als ein Product unbewusster Seelenthätigkeit fasst, lässt ihn zu dem schon erwähnten Schlusse gelangen, „dass der wichtigste Theil der Seelenthätigkeit, der wesentliche Process, von dem das Denken abhängt, in einer unbewussten Thätigkeit der Seele besteht116.“ 111 Physiol. Optik, S. 430. S. 449 u. a. a. Stellen. 112 Ueber die Natur der Cometen, S. 378 ff. 113 Vgl. Hartmann a. a. O. S. 286 ff. 114 Ebend. S. 251. 115 Physiol. u. Pathol. d. Seele, S. 16 ff. 116 Ebend. S. 19.

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Lewes, Maudsley und Ulrici machen zu Gunsten unbewusster Seelenerscheinungen noch eine andere Gruppe von Thatsachen geltend; Ulrici freilich nur, indem er, wie gesagt, einen anderen Begriff mit dem Unbewussten verbindet, Lewes und Maudsley dagegen in eben dem Sinne, in welchem wir davon reden. Und in der That könnte man geneigt sein, um ihretwillen solche Thätigkeiten anzunehmen. Wir haben bei der Untersuchung über die Methode bereits von diesen Erscheinungen gesprochen, wollen aber hier nochmals darauf zurückkommen. Es geschieht häufig, dass wir, mit irgendwelchem Gedanken beschäftigt, auf unsere Umgebung nicht Acht haben. Sie scheint in solchem Falle keine Empfindung in uns zu erwecken, und dennoch zeigen die Folgen, dass wir wirklich Empfindungen gehabt haben. „Jeder, der sorgfältig auf seine Träume Acht gibt“, sagt Maudsley, „wird finden, dass viele von den scheinbar unbekannten Dingen, mit denen seine Seele im Traume beschäftigt ist, und welche ihm als neue, unbekannte Vorstellungen erscheinen, sich auf solche unbewusste Assimilationen während des Tages zurückführen lassen. Hieher gehören Geschichten wie die wohlbekannte, welche Coleridge von einem Dienstmädchen erzählt, das im Fieberdelirium lange Stellen in hebräischer Sprache recitirte, die es nicht verstand und in gesunden Tagen nicht wiederholen konnte, die es aber, als es bei einem Geistlichen wohnte, diesen laut vortragen gehört hatte. Das wunderbare Gedächtniss von gewissen Idioten, welche trotz sehr geringer Intelligenz die längsten Geschichten mit der grössten Genauigkeit wiederholten, liefert auch einen Beweis für solche unbewusste Seelenthätigkeit, und die Art und Weise, in welcher Erregung durch einen grossen Kummer oder andere Ursachen, wie z. B. das letzte Aufflackern des erlöschenden Lebens, oft bei Idioten Kundgebungen von einem Seelenleben hervorrufen, dessen sie immer unfähig schienen, machen es sicher, dass Vieles von ihnen unbewusst assimilirt wurde, was sie gar nicht äussern konnten, was aber Spuren in der Seele zurückgelassen hatte117.“ Ulrici gibt einige andere merkwürdige Beispiele verwandter Erscheinungen. „Oft genug“, sagt er, „begegnet es uns, dass Jemand mit uns spricht, wir aber zerstreut sind und daher im Augenblick nicht wissen, was er sagt; einen Augenblick später indess sammeln wir uns, und nun kommt uns zum Bewusstsein, was wir gehört haben. Wir gehen durch eine Strasse, ohne auf die Aushängeschilder, die wir sehen, auf die Namen und Ankündigungen derselben zu achten; wir vermögen unmittelbar nachher keinen dieser 117 Ebend. S. 14.

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Namen anzugeben; und doch erinnern wir uns, vielleicht einige Tage später, wenn uns einer derselben anderweitig begegnet, dass wir ihn auf einem Aushängeschild gelesen haben. Wiederum also müssen wir die Gesichtsempfindung gehabt haben so vollständig wie jede andere, deren wir uns unmittelbar bewusst werden; sonst könnten wir uns ihrer offenbar nicht erinnern. Ebenso erinnern wir uns oft mehrere Tage später, beim Schreiben oder Sprechen einen Fehler gemacht zu haben, dessen wir uns während des Schreibens selbst nicht bewusst wurden. Auch hier muss ich das falsch geschriebene Wort gesehen, die Gesichtsempfindung vollständig gehabt haben; aber weil ich während des Schreibens nur auf die niederzuschreibenden Gedanken und die Verknüpfung der sie ausdrückenden Worte geachtet hatte, so bemerkte ich den Schreibfehler, d. h. die falschen Schriftzeichen, nicht. Gleichwohl war die Sinnesempfindung zum Momente meiner Seele geworden, und als ich daher hinterdrein nicht mehr auf die niederzuschreibenden Gedanken, sondern auf die wirklich niedergeschriebenen Worte reflectirte, kam mir die gehabte Sinnesänderung des falschgeschriebenen Wortes zum Bewusstsein118.“ Es ist leicht zu erkennen, dass diese und ähnliche Argumente unkräftig sind, wenn man eine in unserem Sinne unbewusste Seelenthätigkeit dadurch begründen will. Die Annahme unbewusster psychischer Phänomene ist nicht die einzige Hypothese, aus welcher sich die Erscheinungen erklären lassen. Für das erste und dritte Beispiel, die ich Ulrici entnommen, genügt die Annahme, dass etwas mit Bewusstsein empfunden und später in dem Gedächtniss erneuert wurde, und dass bei diesem zweiten Auftreten gewisse Associationen und andere Seelenthätigkeiten an die Erscheinung sich knüpften, die das erste Mal in Folge besonderer hindernder Umstände unterblieben waren. In dem einen Beispiele war mit den gehörten Worten nicht ihre Bedeutung verbunden worden, in einem anderen hatte man das unrichtig geschriebene Wort gesehen, aber keine Reflexion über seine Ueber­ ein­stimmung mit den Regeln der Orthographie daran geknüpft119. Der Fall mit den Aushängeschildern ist noch einfacherer Art. Er beruht einzig darauf, dass nicht bloss die Aufnahme eines Eindruckes im Gedächtnisse, sondern auch seine wirkliche Erneuerung an gewisse Bedingungen geknüpft ist, welche das eine Mal fehlen, das andere Mal aber vorhanden sind. Die 118 Gott und der Mensch, I. S. 286. 119 Es ist etwas Anderes „den Schreibfehler“, und etwas Anderes „die falschen Schriftzeichen“ nicht bemerken. Ulrici hat mit Unrecht beides identificirt.

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spätere ähnliche Erscheinung rief die frühere nach einem bekannten Gesetze der Ideenassociation hervor, welches sich, so lange die Vorbedingung fehlte, natürlich nicht wirksam erwiesen hatte. Etwas ganz Aehnliches gilt hinsichtlich des ersten von Maudsley erbrachten Beispiels. Dem Dienstmädchen, von dem er erzählt, kamen Worte, deren es sich zu einer Zeit nicht erinnern konnte, zu einer anderen von selbst in’s Gedächtniss zurück, offenbar unter Umständen, welche Vorbedingungen der Association enthielten, die im ersten Falle gefehlt hatten; Umständen, die unserer Analyse nicht unterworfen sein mögen, von denen wir aber annehmen müssen, dass sie der betreffenden Association so günstig waren, dass sie den Nachtheil einer verhältnissmässig schwachen Vorbereitung aufwogen. Dass das Dienstmädchen gehört habe, ohne sich seines Hörens bewusst zu sein, folgt sicher nicht daraus, dass es den Sinn der gehörten Worte nicht verstand. In derselben Weise zeigt es sich, dass die Erscheinungen von starkem Gedächtnisse, welche bei Idioten, sei es während sei es nach ihrem geisteskranken Zustande, hervortreten, keinen Schluss auf unbewusste Seelenerscheinungen gestatten120. 120 Was Maudsley ebend. S. 19 f. über den unbewussten Einfluss von inneren Stimulis sagt, d. h. über die unbewusste Seelenthätigkeit in Folge der Einwirkung innerer Organe, z. B. der Sexualorgane, auf das Gehirn, erledigt sich in analoger Weise, wie die im Texte angeführten, auf einen unbewussten Einfluss äusserer Stimuli abzielenden Bemerkungen. Die Einwirkungen rufen bewusste Empfindungen hervor, an welche sich in dem speciell erwähnten Falle lebhafte Affecte knüpfen, die dann das ganze psychische Leben mächtig beeinflussen. Lewes führt die nicht gerade seltenen Fälle an, in welchen einer während der Predigt einschläft und bei ihrer plötzlichen Beendigung erwacht; was beweise, dass er die Schallempfindungen gehabt habe, aber unbewusst, denn sonst hätte er wissen müssen, was gesprochen worden. Durch unsere Antwort auf die von Ulrici und Maudsley erbrachten Beispiele sind auch diese Fälle erledigt. Dass die Empfindung vorhanden war, ist erwiesen; dass sie unbewusst vorhanden war, ist nicht erwiesen. – Lewes erzählt auch, wie er einmal in einer Restauration einen Kellner mitten im Lärm eingeschlafen gefunden und ihn vergebens beim Namen und Vornamen gerufen habe. Sobald er jedoch das Wort „Kellner“ ausgesprochen, sei derselbe erwacht. Darauf, dass der Kellner auch das frühere Rufen gehört habe, lässt sich mit Recht schliessen, nicht aber darauf, dass es unbewusst geblieben sei. Der Grund, wesshalb der eine Ruf weckte, während die anderen es nicht thaten, war, dass sich an ihn durch die Gewohnheit sehr stark begründete Associationen und zwar nicht bloss von Vorstellungen, sondern auch von Gefühlen, knüpften, die trotz der Hindernisse, welche im Zustande des Schlafes gegeben waren, zu einer mächtigen Erregung der Seelenthätigkeiten führten. Dem gleichen Umstande ist es zuzuschreiben, wenn Admiral Codrington als Seedienst-Aspirant nur durch das Wort „Signal“ aus tiefem Schlafe erweckt werden konnte. (Lewes, Physiol of com. life, tom II.)

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Auch von Gefühlen der Zuneigung und Liebe sagt man wohl manchmal, dass man, nachdem man sie lange schon gehegt, sich ihrer plötzlich bewusst werde121. Die Wahrheit ist, dass man sich jedes einzelnen Actes bewusst war, als man ihn übte, dass man aber nicht in einer Weise darüber reflectirte, welche die Gleichartigkeit der Seelenerscheinung mit denjenigen, welche man gemeinsam mit diesem Namen zu bezeichnen pflegt, erkennen liess. Man sagt auch oft, es wisse einer selbst nicht was er wolle; denn nachdem er lange nach etwas verlangt, sei er verdriesslich, wenn es ihm zu Theil werde122. Man übersieht aber, dass diese Erscheinung sich leicht daraus erklärt, dass dem Verlangen nur die Licht-, nicht auch die Schattenseite des verlangten Gegenstandes vorgeschwebt hatte, so dass die Wirklichkeit der Erwartung nicht entsprach, oder daraus, dass dieselbe Veränderungslust das Ferne herbeiwünschen und das Gegenwärtige von sich stossen lässt, und dass so auch noch andere Hypothesen der Thatsache genügen können. Häufig haben blosse Vorstellungen oder Gefühle, die von keinem bewussten Willen begleitet sind, körperliche Bewegungen zur Folge. Man glaubte daraus auf ein unbewusstes Wollen schliessen zu dürfen, welches auf dieselben gerichtet sei; denn das Wollen sei es, welches nach Aussen wirke123. Es ist aber nicht im Geringsten unwahrscheinlich, dass auch an andere Phänomene eine solche Wirkung sich knüpft124. Es würde ermüdend sein, wollte ich noch weitere Beispiele häufen. Nur eine Bemerkung sei darum beigefügt. Selbst wenn man in gewissen Fällen zugestehen müsste, dass wir ohne die Annahme der Einwirkung unbewusster psychischer Phänomene unfähig seien eine Erscheinung zu begreifen: würde der Beweis keine Kraft haben, so lange diese Unfähigkeit aus der Mangelhaftigkeit unserer Kenntniss des betreffenden Gebietes sich unschwer erklären lässt. Es ist ein allzukühnes Wort, wenn Hartmann behauptet125, die Vermittelung zwischen dem Willen und der dem Willen gehorchenden Bewegung könne unmöglich eine mechanische sein; sie setze also unbewusste geistige Zwischenglieder, insbesondere die unbe121 Vgl. Ulrici a. a. O. S. 288. 122 Vgl. Hartmann a. a. O. S. 216. 123 Vgl. ebend. S. 143. 124 Hartmann’s Gründe für das Gegentheil (a. a. O. S. 93) sind ein Muster von willkürlicher aprioristischer Speculation, in grellem Gegensatze zu den im Eingange gemachten Verheissungen naturwissenschaftlicher Methode. 125 a. a. O. S. 56.

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wusste Vorstellung der Lage der entsprechenden motorischen Nervenendigungen im Gehirne voraus. Kein besonnener Physiologe wird ihm hier Zeugniss geben. Einen Theil der Vermittelung können wir als mechanisch nachweisen, und erst da endet die Möglichkeit des Nachweises, wo das bis jetzt so wenig zugängliche Gebiet der Gehirnphysiologie beginnt. Auch die Psychologie selbst ist, wie wir schon wiederholt bekennen mussten, noch in einem sehr zurückgebliebenen Zustande; und es ist darum recht wohl denkbar, dass, was man als Folge unbewusster Thätigkeit betrachten zu müssen glaubt, bei vollkommenerer Erkenntniss der psychischen Gesetze auf die bewussten Phänomene allein als genügende Ursache zurückgeführt werden könne. §. 5.   Der zweite Weg, auf welchem sich, wie wir sagten, ein Nachweis unbewusster psychischer Acte versuchen liess, war der Schluss von der Ursache auf die Wirkung. Wenn eine gegebene Thatsache eine Seelenerscheinung nothwendig als Wirkung nach sich zieht, so ist man, wenn dennoch keine im Bewusstsein auftritt, zur Annahme eines unbewussten Phänomens berechtigt. Auch hier gibt es aber gewisse Bedingungen, die nicht ausser Acht gelassen werden dürfen. Einmal muss feststehen, dass das zu erwartende psychische Phänomen nicht im Bewusstsein aufgetreten und dann sofort vergessen worden ist. Ferner muss nachgewiesen sein, dass in dem betreffenden Falle eine den anderen Fällen völlig gleiche Ursache vorlag. Und endlich ist, obwohl eigentlich in dem vorigen Punkte mitenthalten, insbesondere noch die Forderung des Nachweises geltend zu machen, dass die Ursachen, welche hier das begleitende Bewusstsein verhinderten, und welche offenbar in den anderen Fällen nicht vorhanden waren, nicht auch dem psychischen Phänomene, dessen Existenz erschlossen werden soll, entgegenwirkten, und dass überhaupt für dieses keine besonderen Hindernisse bestanden. Legen wir diesen Maassstab an die wenigen hiehergehörigen Beweisversuche, so ergibt sich, dass auch von ihnen nicht ein einziger gelungen ist. Wir wollen auch dies im Einzelnen zeigen. Wenn die Meereswoge an das Ufer schlägt, so hören wir das Getöse ihrer Brandung, und sind uns des Hörens bewusst. Wenn aber nur ein Tropfen bewegt wird, glauben wir kein Geräusch zu hören. Und dennoch, sagt man, müssen wir annehmen, dass wir auch in diesem Fall eine Schallempfindung haben; denn die Bewegung der Woge ist eine gleichzeitige Bewegung ihrer einzelnen Tropfen, und nur aus den Schallempfindungen, welche die

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Tropfen hervorbringen, kann sich die Empfindung der rauschenden Woge zusammensetzen. Wir hören also, aber wir hören unbewusst126. Der Fehler dieses Arguments ist handgreiflich. Es verstösst gegen die zweite der von uns aufgestellten Bedingungen. Eine Summe von Kräften unterscheidet sich in ihrer Wirkung nicht bloss quantitativ, sondern sehr oft auch qualitativ von den einzelnen Summanden. Eine geringere Abkühlung als Null Grad verwandelt das Wasser nicht theilweise oder in einem geringeren Maasse in Eis; eine geringere Erwärmung als achtzig Grad führt nicht zu einem bloss quantitativ verschiedenen Gaszustande. So muss auch, wenn der grössere physische Reiz eine Schallempfindung erzeugt, der kleinere nicht nothwendig die Erscheinung eines Geräusches zur Folge haben, das nur seiner Intensität nach geringer ist. Aehnlich ist der folgende Beweisversuch. „Wir vermögen“, sagt Ulrici, „sehr kleine Objecte, deren Grösse noch nicht den zwanzigsten Theil einer Linie beträgt, nicht wahrzunehmen ... Gleichwohl muss auch von solchen Objecten nothwendig eine Reizung des Nervus opticus und somit ein Sinneseindruck ausgehen. Denn auch grössere Gegenstände werden ja nur dadurch sichtbar, dass jeder kleinste (für sich allein unsichtbare) Punkt einer leuchtenden, gefärbten Fläche einen Lichtstrahl in das Auge sendet, und dieser den über die Retina ausgebreiteten Nerven afficirt, – dass also die stärkere, merkbare, zum Bewusstsein kommende Gesichtsempfindung sich gleichsam zusammensetzt aus einer Menge schwacher, unmerklicher Sinneseindrücke127.“ So gefasst, ist der Schluss auf unbewusste Empfindungen aus dem oben besprochenen Grunde ungültig. Man könnte ihm aber eine etwas andere Wendung geben. Man könnte sagen, die Intensität des Reizes ist häufig in solchen Fällen nachweisbar gross genug, um eine Empfindung zu erzeugen. Denn im Mikroskope betrachtet werde oft das Unsichtbare sichtbar, und doch werde der Lichtreiz beim Durchgange durch die brechende Linse nicht verstärkt, im Gegentheile geschwächt, und auch durch die Vertheilung des Reizes auf eine grössere Fläche müsse die Reizung jeder einzelnen Stelle vermindert werden. So sei es denn sicher, dass ohne Beihülfe des Instruments ebenfalls eine Farbenerscheinung, ja eine lebhaftere und nur etwa minder ausgedehnte Farbenerscheinung, empfunden werden müsse, die aber nicht zum Bewusstsein komme. 126 Dieses Argument geht bis auf Leibnitz zurück; ja, wenn man will, so kann man sagen, dass schon Zeno der Eleate daran gerührt habe, nur benützte dieser die Schwierigkeit in anderem Sinne. (Simplicius zu Arist. Phys. VII. 5.) 127 Gott u. der Mensch, S. 294.

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Allein auch in dieser Gestalt kann das Argument nicht der zweiten Bedingung entsprechend genannt werden. Durch das Mikroskop ist die einwirkende Ursache, wenn nicht in ihrer Intensität verstärkt, doch jedenfalls irgendwie geändert. Es liegen also nicht wahrhaft gleiche Ursachen vor. Wir haben kein Recht zu sagen, dass, weil in dem einen Falle die Intensität der Reizung nicht geringer war als in dem anderen, ebenfalls eine Empfindung eingetreten sein müsse; denn eben so gut lässt sich denken, dass durch die Reizung der Retina in einer grösseren Ausdehnung eine nothwendige und zuvor nicht vorhandene Vorbedingung der Empfindung realisirt worden sei. Vielleicht wird der Mangel der Beweiskraft noch deutlicher, wenn man insbesondere die dritte Bedingung in Betracht zieht. Was soll der Grund sein, warum die angeblich nur dem Raume nach beschränktere, aber nicht minder starke, ja stärkere Empfindung nicht zum Bewusstsein kommen konnte? – Wir wissen keinen anzugeben, und es scheint vielleicht weniger begreiflich, wie die beschränkte Reizung der Netzhaut das Entstehen des Bewusstseins unter Voraussetzung der Empfindung, als wie sie die Empfindung selbst verhindert haben sollte. Von grösserem Gewichte scheint die folgende Thatsache. Helmholtz128 berichtet, dass er nicht selten an den sogenannten Nachbildern Einzelheiten bemerkte, die er beim Sehen des Gegenstandes nicht wahrgenommen hatte. Auch mir ist oft dasselbe begegnet, und ein Jeder kann leicht die Thatsache durch eigene Erfahrung bestätigen. Hier war der Reiz offenbar sehr intensiv, sonst hätte er kein Nachbild erzeugt; und ebenso kann man nicht sagen, die Netzhaut sei nicht in genügender Ausdehnung gereizt worden, denn auch dann hätte derselbe Umstand die Erscheinung im Nachbilde verhindert. Es scheint also sicher, dass eine Empfindung des betreffenden besonderen Zuges eintreten musste. Wenn er nun nichtsdestoweniger unbemerkt blieb, so scheint nur die Annahme übrig zu bleiben, dass er unbewusst von uns vorgestellt worden sei. Dennoch fehlt viel daran, dass diese Beweisführung gesichert wäre. Nicht einmal der ersten der drei von uns verzeichneten Bedingungen wird genügt; denn wer bürgt dafür, dass das betreffende Phänomen nicht wirklich von Bewusstsein begleitet war und nur sofort vergessen worden ist? Was wir später von dem Einflusse der Aufmerksamkeit auf die Begründung der Association hören werden, wird dies als vollkommen denkbar zeigen. Aber auch die zweite und dritte Bedingung sind nicht erfüllt. Der äussere Reiz allerdings war 128 Physiol. Opt., S. 337.

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an und für sich stark und ausgedehnt genug, um eine Empfindung hervorzurufen. Aber waren auch die nöthigen psychischen Vorbedingungen gegeben? – Warum ist denn, die Thatsache als sicher vorausgesetzt, keine bewusste Empfindung entstanden? Man antwortet: weil die Aufmerksamkeit auf etwas Anderes völlig concentrirt war. Aber kann diese gänzliche Absorption durch andere Gegenstände nicht eben so gut die Empfindung selbst als das blosse Bewusstwerden der Empfindung verhindert haben? Ulrici entgegnet hierauf: Das Nachbild, weil es nur „Nachbild eines bestimmten Urbildes ist, konnte unmöglich mehr oder Anderes enthalten als was bereits im Urbilde, d. h. in der ursprünglichen Sinnesempfindung, enthalten war. Die Einzelheiten, die wir am Nachbilde bemerken, müssen mithin nothwendig auch im Urbilde vorhanden gewesen sein in derselben, ja in grösserer Stärke und Deutlichkeit als am Nachbilde129.“ Allein wer sähe nicht, dass er sich hier auf einen Strohhalm stützt? Sein ganzer Halt ist der Namen „Nachbild“, der aber hier durchaus nicht eine Nachbildung in dem Sinne einer im Hinblicke auf ein Vorbild ausgeführten Copie bedeuten soll130, sondern wahrscheinlich in Rücksicht auf die zeitliche Succession gewählt wurde. Das Nachbild erscheint merklich später als der Lichtstrahl die Netzhaut afficirte. Thatsache ist es, dass nicht die frühere Empfindung, sondern der Fortbestand des früheren physischen Reizes oder ein anderer physischer Process, der auf ihn folgt131, als Ursache des sogenannten Nachbildes zu betrachten ist. Nehmen wir nun an, der anfängliche physische Reiz habe wegen eines psychischen Hindernisses nicht zur Empfindung geführt, so wird er darum vielleicht doch nicht weniger lang fortbestanden und nicht minder starke physische Folgen gehabt haben. Somit ist es keineswegs eine Unmöglichkeit, dass Nachbilder oder Theile von Nachbildern von uns empfunden werden, ohne dass eine dem eindringenden Strahl gleichzeitige Empfindung derselben vorangegangen ist. §. 6.   Wir kommen zur dritten Classe möglicher Beweisversuche. Auch dann, sagten wir, werde man die Existenz unbewusster psychischer Acte als gesichert betrachten dürfen, wenn es sich zeige, dass bei den bewussten psychischen Acten die Stärke des darauf bezüglichen Bewusstseins eine Func129 a. a. O. S. 304; vgl. ebend. S. 285. 130 In dem Falle, in welchem nach dem Blicke auf eine rothe Fläche ein grüner Schein auftritt, dürfte diese Copie nicht sehr getreu genannt werden. 131 Hierin sind alle Physiologen einig, obwohl sonst noch manche Meinungsverschiedenheit hier besteht.

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tion ihrer eigenen Stärke sei, und dass aus diesem Verhältnisse hervorgehe, wie in gewissen Fällen, in welchen die letztere eine positive Grösse ist, die erstere jedes positiven Werthes entbehren müsse. Dass die Stärke des Bewusstseins vom psychischen Phänomene eine derartige Function seiner Stärke sei, ist ein Gedanken, dem wir z. B. bei Beneke132 begegnen. Mit einem gewissen Höhegrade der Intensität einer Vorstellung stellt sich darum nach ihm das Bewusstsein ein und wächst und vermindert sich in Abhängigkeit von ihm. Allein dass er oder ein Anderer einen einigermassen genügenden Beweis für das Bestehen eines entsprechenden Abhängigkeitsverhältnisses zwischen der einen und anderen Intensität erbracht habe, wird Niemand behaupten133. Auch sollte man meinen, dass die Ungenauigkeit unserer psychischen Maassbestimmungen, von welcher wir in der Untersuchung über die Methode gesprochen134, der exacten Bestimmung eines solchen functionellen Verhältnisses unübersteigliche Hindernisse in den Weg lege. Die grosse Mehrzahl der Menschen aber wird geneigt sein, die Stärke der bewussten Vorstellungen und die Stärke der Vorstellungen, die sich auf sie beziehen, einfach einander gleichzusetzen. Doch ein besonderer Umstand scheint in diesem Falle wirklich einen genauen und sicheren Nachweis des Intensitätsverhältnisses zu gestatten. Die Intensität des Vorstellens ist immer gleich der Intensität, mit welcher das Vorgestellte erscheint; d. h. sie ist gleich der Intensität der Erscheinung, welche den Inhalt des Vorstellens bildet. Dies darf als selbstverständlich gelten und wird darum fast ausnahmslos von den Psychologen und Physiologen entweder ausdrücklich behauptet oder stillschweigend vorausgesetzt. So fanden wir oben135, dass E. H. Weber und Fechner voraussetzten, die Intensität des Empfindens sei gleich der Intensität, mit welcher das physische Phänomen in der Empfindung auftrete, und nur unter dieser Bedingung war das von ihnen begründete Gesetz ein psychophysisches. 132 Lehrb. d. Psych., 2. Aufl. §. 57. 133 Um ein etwaiges Missverständniss auszuschliessen, mache ich hier nochmals darauf aufmerksam, dass, was Fechner eine unbewusste Vorstellung nennt, nichts Anderes als die mehr oder minder ungenügende Disposition zu einer Vorstellung ist, die an einen gewissen physischen Process sich knüpft, insofern dieser bei grösserer Stärke von einer Vorstellung im eigentlichen Sinne begleitet sein würde. Die Schwelle, unter welche Fechner das Bewusstsein der Empfindung zu negativen Werthen hinab sinken lässt, ist zugleich die Schwelle der Empfindung selbst als eines wirklichen psychischen Actes. 134 Vgl. oben I. Buch, Capitel 4, S. 82 ff. 135 Vgl. I. Buch, Capitel 4, S. 86 f.

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Ist nun dieses richtig, ist die Intensität des Vorstellens allgemein gleich der Intensität der Erscheinung, welche seinen Inhalt bildet: so ist klar, dass auch die Intensität des Vorstellens von einem Vorstellen gleich sein muss der Intensität, mit welcher dieses Vorstellen erscheint. Es fragt sich also nur, wie die Intensität, welche die eigenen bewussten Vorstellungen in der Erscheinung haben, sich zu ihrer wirklichen Intensität verhalte. Doch in dieser Hinsicht kann kein Zweifel bestehen. Beide müssen einander gleich sein, wenn anders die innere Wahrnehmung untrüglich ist. Wie ihr statt des Hörens kein Sehen, so kann ihr auch statt eines schwachen kein starkes, und statt eines starken kein schwaches Hören erscheinen. So kommen wir denn zu dem Schlusse, dass bei jeder bewussten Vorstellung die Stärke der auf sie bezüglichen Vorstellung ihrer eigenen Stärke gleich ist. Hiemit ist nun in der That ein mathematisches Verhältniss zwischen der einen und anderen Intensität gefunden, und zwar das einfache Verhältniss völliger Gleichheit. Aber wenn dieses einfachste aller denkbaren functionellen Verhältnisse es ist, welches eine Veränderung der Intensität der begleitenden Vorstellung als nothwendige Folge jeder Zu- und Abnahme der Intensität des begleiteten psychischen Phänomens erkennen lässt: so ist dies so weit entfernt, einen Beweis für die Existenz unbewusster psychischer Acte zu liefern, dass wir vielmehr das Gegentheil daraus werden folgern müssen. Es gibt keinen unbewussten psychischen Act; denn wo immer er in einer grösseren oder geringeren Stärke besteht, wird die gleiche Stärke einer mit ihm gegebenen Vorstellung zukommen, deren Object er ist. Dies scheint denn auch die Ansicht der grossen Mehrzahl, und selbst unter denjenigen Psychologen, welche den Worten nach das Gegentheil lehren, sind einige, deren Widerspruch sich löst und in volle Zustimmung übergeht, sobald man nur ihre Aussprüche in unsere Sprachweise übersetzt. Aber noch ein vierter Weg bleibt zu berücksichtigen, auf welchem Manche nicht bloss die Falschheit, sondern sogar die Absurdidät der Annahme, dass jede Seelenthätigkeit eine bewusste sei, erweisbar glaubten. Blicken wir, ehe wir endgültig unsere Schlüsse ziehen, auch auf diese Art von Beweisversuchen. §. 7.   Das Hören ist als Vorstellung eines Tones ein psychisches Phänomen und sicher eines der einfachsten Beispiele. Nichtsdestoweniger scheint es, wenn alle psychischen Phänomene bewusst sind, nicht ohne eine unendliche Verwickelung des Seelenzustandes möglich zu sein.

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Vor Allem, wenn kein psychisches Phänomen ohne ein darauf bezügliches Bewusstsein möglich ist, so hat man mit der Vorstellung eines Tones zugleich eine Vorstellung von der Vorstellung des Tones. Man hat also zwei Vorstellungen, und zwar zwei Vorstellungen sehr verschiedener Art. Nennen wir die Vorstellung des Tones „Hören“, so hat man ausser der Vorstellung des Tones eine Vorstellung des Hörens, die von diesem selbst so verschieden ist wie das Hören vom Tone. Aber hiebei wird es nicht sein Bewenden haben. Denn wenn jedes psychische Phänomen, so muss auch die Vorstellung des Hörens ebenso wie die des Tones in bewusster Weise gegenwärtig, also auch von ihr eine Vorstellung vorhanden sein. Wir haben demnach in dem Hörenden drei Vorstellungen: die des Tones, die des Hörens und die der Vorstellung des Hörens. Aber diese dritte Vorstellung kann nicht die letzte sein. Auch sie ist bewusst, also vorgestellt, und die auf sie bezügliche Vorstellung ist wiederum vorgestellt, kurzum die Reihe wird entweder unendlich sein oder mit einer unbewussten Vorstellung abschliessen. Wer also leugnet, dass es unbewusste psychische Phänomene gebe, der wird bei dem einfachsten Act des Hörens eine unendliche Menge von Seelenthätigkeiten anerkennen müssen. Auch das scheint einleuchtend, dass der Ton nicht bloss im Hören, sondern auch in der gleichzeitigen Vorstellung des Hörens als vorgestellt enthalten sein muss. Und auch in der Vorstellung von der Vorstellung des Hörens wird er nochmals, also zum dritten Male, das Hören aber zum zweiten Male vorgestellt werden. Ist dies richtig, so liegt darin ein neuer Grund zu unendlicher Verwickelung, insofern wir nicht eine unendliche Reihe von Phänomenen von gleicher Einfachheit, sondern eine unendliche Reihe von Phänomenen erhalten, in der die einzelnen Glieder selbst mehr und mehr und in’s Unendliche sich verwickeln. Das scheint nun aber eine sehr missliche Annahme; ja die Annahme ist offenbar absurd136, und Niemand wird sich zu ihr bekennen wollen. Wie also soll es möglich sein, auf der Leugnung unbewusster psychischer Acte zu beharren? Nur eine Annahme scheint, wenn es kein unbewusstes Bewusstsein geben soll, der Folgerung einer unendlichen Verwickelung entgehen zu können; diejenige nämlich, welche Hören und Gehörtes für ein und dasselbe Phä136 In neuerer Zeit hat Herbart an diese Schwierigkeiten gerührt (Psychol. als Wissensch., Theil II. Abschn. II. Cap. 5. §. 127; vergl. ebend. Theil I. Abschn. I. Cap. 2. §. 27). Im Alterthume hat Aristoteles sie hervorgehoben (De Anim. III. 2. princ.), ohne sie jedoch für unüberwindlich zu halten.

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nomen erklärt, indem sie das Hören auf sich selbst als sein Object gerichtet denkt. Ton und Hören wären dann entweder nur zwei Namen für ein und dasselbe Phänomen, oder der Unterschied ihrer Bedeutung bestände etwa darin, dass man mit dem Namen Ton die äussere Ursache bezeichnete, die man früher gemeiniglich dem Phänomene im Hörenden ähnlich dachte, und von der man darum sagte, dass sie im Hören erscheine, während sie in Wahrheit unserer Vorstellung sich entzieht. Es gibt unter den englischen Psychologen mehrere, welche eine solche Ansicht vertreten. Im vorigen Capitel besprachen wir eine Stelle von A. Bain, worin dieser Philosoph die Gefühlsempfindung im Sinne des Empfindens und des Empfundenen völlig identificirt und für alle übrigen Gattungen von Sinneseindrücken dasselbe Verhältniss der Identität zwischen Act und Object des Actes andeutet. Auch bei J. St. Mill fehlt es nicht an Aeusserungen, welche die gleiche Anschauung zu verrathen scheinen137. Aber weder richtig scheint mir diese Auffassung zu sein, noch würde sie, wenn sie richtig wäre, die Schwierigkeit in ihrem ganzen Umfange zu beseitigen vermögen. Sie ist nicht richtig, sage ich; denn mit unmittelbarer Evidenz zeigt uns die innere Wahrnehmung, dass das Hören einen von ihm selbst verschiedenen Inhalt hat, der im Gegensatze zu ihm an keiner der Eigenthümlichkeiten der psychischen Phänomene participirt. Unter dem Tone versteht darum auch Niemand ein ausser uns befindliches, anderes Hören, das durch die Einwirkung auf das Ohr unser Hören als sein Abbild hervorbrächte. Und auch nicht an eine unvorstellbare Kraft, die das Hören erzeugt, denkt man dabei, sonst würde man nicht von Tönen, die in der Phantasie erscheinen, sprechen. Vielmehr bezeichnet man mit dem Namen das, was als Erscheinung den immanenten, von unserem Hören verschiedenen Gegenstand unseres Hörens bildet, und je nachdem wir glauben oder nicht glauben, dass sie ­ausser uns eine ihr entsprechende Ursache habe, glauben wir, dass es auch in der Aussenwelt einen Ton gebe oder nicht. Der Anlass zur Entstehung einer Meinung, die so deutlich der inneren Erfahrung und dem Urtheile jedes Unbefangenen widerspricht, scheint in Folgendem zu suchen. Die frühere Zeit glaubte bei dem bewussten Hören nicht bloss ausser der Vorstellung vom Hören eine Vorstellung vom Tone, sondern auch ausser der unmittelbaren Erkenntniss der Existenz des Hörens, eine unmittelbare Erkenntniss der Existenz des Tones zu besitzen. Man glaubte 137 Sowohl in seiner Schrift über die Philosophie von Hamilton als in seinen Noten zur Analysis von James Mill.

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den Ton mit derselben Evidenz wahrzunehmen, wie das Hören. Dieser Glauben ward als Irrthum erkannt, man sah ein, dass dem Hören niemals ein Ton als äusseres, durch das Gehör wahrnehmbares Object gegenüberstehe. Allein man hatte sich daran gewöhnt, das Hören als ein Erkennen und den Inhalt des Hörens als einen wirklichen Gegenstand zu denken, und so kam man nun dazu, da nichts als das Hören sich als real erwies, dieses als auf sich selbst gerichtet zu betrachten. Dies war ein Irrthum nach der entgegengesetzten Seite hin. Wenn beim Hören nichts Anderes als es selbst im eigentlichen Sinne wahrgenommen wird, so ist doch darum nicht weniger etwas Anderes als es selbst als vorgestellt in ihm vorhanden und bildet seinen Inhalt. Aber noch mehr. Wenn diese Auffassung sogar richtig wäre, so ist doch leicht zu zeigen, dass sie auch dann nicht dazu dienen würde, die Schwierigkeit, um die es sich handelt, in ihrem ganzen Umfange zu heben. Angenommen es hätte das Hören nichts Anderes als sich selbst zum Inhalte, so könnte doch Niemand bezüglich anderer psychischer Acte, wie der Acte der Erinnerung und Erwartung, z. B. der Erinnerung eines früheren oder der Erwartung eines späteren Hörens, das Gleiche annehmen, ohne sich der handgreiflichsten Absurdität schuldig zu machen. J. St. Mill selbst sagt darum an einer Stelle, wo er seine von uns verworfene Ansicht über die Empfindung auch zu erkennen gibt: „Eine Empfindung enthält nichts Anderes; aber eine Erinnerung an eine Empfindung enthält den Glauben, dass eine Empfindung oder Vorstellung, deren Abbild sie ist, wirklich in der Vergangenheit bestanden habe; und eine Erwartung enthält einen mehr oder minder festen Glauben, dass eine Empfindung oder ein anderes Phänomen, worauf sie sich bezieht, in der Zukunft bestehen werde138.“ Ist nun dieses richtig und unleugbar, so tritt derselbe Einwand, der in Betreff des Hörens durch die Identificirung des Hörens mit dem Gehörten zurückgewiesen war, bei der Erinnerung und Erwartung des Hörens in alter Kraft hervor. Wenn es keine unbewussten psychischen Phänomene gibt, so habe ich, wenn ich mich eines früheren Hörens erinnere, ausser der Vorstellung von dem Hören eine Vorstellung von der gegenwärtigen Erinnerung an das Hören, die nicht mit ihr identisch ist. Auch diese soll bewusst sein, und wie wäre dieses denkbar ohne die Annahme einer dritten Vorstellung, die zu ihr in dem gleichen Verhältnisse, wie sie selbst zur Erinnerung stehen würde? Diese dritte verlangt aber dann ebenso eine vierte Vorstellung u. s. f. in’s Unendliche. Der Annahme einer unendlichen Verwickelung der psychischen Zustände scheint man 138 Examin. of Sir W. Hamilton’s Philos. chapt. 12.

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also, wenn jedes psychische Phänomen bewusst gedacht wird, in einer grossen Zahl sehr einfacher Fälle nicht entgehen zu können. J. St. Mill erklärt nun zwar in seiner Schrift über Comte, indem er seiner Behauptung, der Verstand könne seine eigenen Acte nicht wahrnehmen, entgegentritt, dass der Geist mehr als einen Eindruck, ja sogar eine beträchtliche Anzahl von Eindrücken (nach Hamilton’s Meinung nicht weniger als sechs) zugleich zu erfassen fähig sei; aber für eine Unendlichkeit von Vorstellungen wird jedenfalls seine Kraft nicht ausreichen, ja es wäre absurd, wenn einer sie ihm zuschreiben wollte. So scheint denn die Annahme unbewusster psychischer Phänomene unvermeidlich. Indessen ist Eines, was von vorn herein vermuthen lässt, dass die Schwierigkeit nicht ganz unlösbar sein möge. Zu verschiedenen Zeiten sind grosse Denker darauf gestossen; aber nur wenige haben um ihretwillen eine unbewusste Seelenthätigkeit anerkannt. Aristoteles, der zuerst darauf aufmerksam machte, hat es nicht gethan. Und wenn in neuerer Zeit Herbart das Dasein unbewusster Vorstellungen als nothwendig daraus folgerte139, so that er es doch nur, nachdem ihm die Existenz unbewusster psychischer Phänomene schon aus anderen Gründen feststand. Zudem ist es von ihm bekannt, dass er allzuleicht einen bloss scheinbaren Widerspruch unlösbar findet. Der einzige Philosoph von Bedeutung, der, wie es scheint, auf einem wenigstens ähnlichen Wege zur Annahme unbewusster Seelenthätigkeiten geführt wurde, war meines Wissens Thomas von Aquin. Und seine Theorie ist von der Art, dass man nicht wohl glauben kann, er habe über diese Frage reiflich nachgedacht140. Es scheint also doch ein Ausweg zu bleiben, mittels dessen man sich der Folgerung eines unbewussten Bewusstseins entziehen kann. 139 „Unter den mehreren Vorstellungsmassen, deren jede folgende die vorhergehende appercipirt, oder von denen wohl auch die dritte sich die Verbindung oder den Widerstreit der ersten und zweiten zu ihrem Gegenstande nimmt, muss irgend eine die letzte sein; diese höchste appercipirende wird nun selbst nicht wieder apperci­ pirt.“ (Psychol. als Wissensch., Theil II. Abschn. II. Cap. 5. §. 199.) 140 Von den Empfindungen der sogenannten fünf Sinne haben wir nach Thomas ein Bewusstsein. Die Sinne selbst, meint er, können allerdings ihre Acte nicht wahrnehmen. Dies wäre eine Reflexion auf die eigenen Acte, eine Einwirkung der Organe, als deren Functionen Thomas die Empfindungen denkt, auf sich selbst; und eine solche hält er darum für unmöglich, weil nie etwas Körperliches auf sich selbst verändernd einwirke. Was die Acte der äusseren Sinne wahrnimmt, ist daher nach Thomas ein von ihnen verschiedenes, inneres Sinnesvermögen, der sensus communis. (Summ. theol. P. I, Q. 78, A. 4, ad 2.; ibid. Q. 87, A. 3, obj. 3 und ad 3.) Aber auch dieser innere Sinn ist wie das ihm entsprechende Object körperlich. Auch er kann darum nicht selbst seine Thätigkeit wahrnehmen. Da nun

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§. 8.   Betrachten wir desshalb noch einmal und mit aller Genauigkeit die Thatsache, um die es sich handelt. Es kommt vor, daran kann wohl Niemand zweifeln, dass wir uns eines psychischen Phänomens, während es in uns besteht, bewusst sind, z. B. dass wir, während wir die Vorstellung eines Tones haben, uns bewusst sind, dass Thomas nicht wieder einen neuen Sinn und ein neues Organ, durch welche wir die Thätigkeiten des inneren Sinnes wahrnehmen könnten, angenommen hat, so ergibt sich, dass nach seiner Lehre die Wahrnehmung der Empfindungsacte der äusseren Sinne niemals wahrgenommen wird, und dass wir demnach auf sinnlichem Gebiete alsbald auf eine unbewusste Seelenthätigkeit stossen. Gewiss wäre es ihm ein Leichtes gewesen, noch einen zweiten und dritten inneren Sinn dazu zu fügen. Aber was hätte er damit gewonnen? Ohne die Annahme einer geradezu unendlichen Menge von Sinnen und Sinnesorganen, die offenbar ein endlicher Leib zu umfassen nicht fähig wäre, hätte er nach seinen Principien die Allgemeinheit des Bewusstseins für alle sinnlichen Acte dennoch nicht durchführen können. Für das Bewusstsein vom Denken des Verstandes (intellectus) gibt Thomas eine ganz andere Theorie. Dieser gilt ihm als unkörperlich und darum als fähig, auf sich selbst zu reflectiren. Von dieser Seite steht also der Erkenntniss seiner Acte durch ihn selbst nichts im Wege. Aber etwas Anderes macht Schwierigkeit; nämlich, dass der Verstand, wie Thomas annimmt, nie mehr als einen Gedanken zugleich zu denken fähig ist. Eine Potenz hat gleichzeitig nie mehr als einen Act in sich. Thomas hilft sich dadurch aus der Verlegenheit, dass er das Bewusstsein von einem Gedanken mit diesem selbst nicht gleichzeitig bestehen, sondern ihm nachfolgen lässt. Auf diese Art tritt nun bei ihm, wenn kein Denkact unbewusst bleiben soll, an die Stelle einer simultan gegebenen eine successive Reihe, in der jeder folgende Act auf den früheren sich bezieht, und für die man, wie Thomas meint, nun ohne Absurdität annehmen kann, dass ihre Glieder in’s Unendliche sich vervielfältigen. (Summ. theol. P. I, Q. 87, A. 3, 2 und ad 2.) Thatsächlich wird dies natürlich nie der Fall sein, und so kommt man auch hier wieder auf ein Denken, das unbewusst ist und bleibt, als letztes Glied der Reihe. Nur ganz kurz will ich auf einige wesentliche Mängel, welche dieser Lehre anhaften, hinweisen. Vor Allem ist es inconvenient, dass Thomas eine ganz andere Theorie für das Bewusstsein von der Sinnesthätigkeit und für das von der Thätigkeit des Verstandes gibt, da doch nach dem Zeugnisse der inneren Erfahrung das eine Phänomen vollständig dem anderen analog erscheint. Dann erregt aber auch jede der beiden Theorien für sich ihre grossen Bedenken. Wir sollen uns nie bewusst sein, dass wir uns des Hörens, Sehens u. s. f. bewusst sind. Schon dies scheint eine harte Annahme. Aber noch deutlicher beweist ein anderer Umstand die Unmöglichkeit der Auffassung. Das Verhältniss des inneren Sinnes zu seinem Object und das des äusseren zu der Ursache, welche eine Empfindung hervorruft, werden einander völlig gleich gedacht. Dem widerspricht aber die untrügliche Evidenz der inneren Wahrnehmung, an welcher die äussere nicht im Geringsten Theil hat. Die innere Wahrnehmung der Empfindungen könnte unmöglich unmittelbar evident sein, wenn sie auf einen ihr fremden Zustand, auf den Zustand eines von ihrem Organe verschiedenen Organs, gerichtet wäre. Ebensowenig befriedigt die Theorie

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wir sie haben. Es fragt sich nun: haben wir in einem solchen Falle mehrere und verschiedenartige Vorstellungen oder nur eine einzige? – Ehe wir die Frage beantworten, müssen wir uns darüber klar sein, ob wir nach der Zahl und Verschiedenheit der Objecte die Zahl und Verschiedenheit der Vorstellungen bestimmen wollen, oder nach der Zahl der psychischen Acte, in welchen wir die Objecte vorstellen. Wenn das Erste, so ist klar, dass wir sagen müssen, wir hätten in einem solchen Falle mehrere Vorstellungen, und diese seien von verschiedener Art; so zwar, dass eine von ihnen den Inhalt der anderen bilde, während sie selbst ein physisches Phänomen zum Inhalt habe. Ist dies richtig, so muss das physische Phänomen in gewisser Weise zu dem Inhalte beider Vorstellungen gehören, zu dem der einen als ausschliesslicher, zu dem der anderen, so zu sagen, als eingeschlossener Gegenstand. Es scheint darum, wie auch Aristoteles schon bemerkt hat, sich herauszustellen, dass das physische Phänomen zweimal vorgestellt werden müsse141. Aber dennoch ist dies nicht der Fall. Vielmehr scheint die innere Erfahrung unzweivon dem Bewusstsein der Verstandesthätigkeit. Nach ihr sollen wir uns nie des gegenwärtigen, sondern immer nur eines vergangenen Denkens bewusst sein, eine Behauptung, die mit der Erfahrung nicht im Einklange erscheint. Wäre sie aber richtig; so könnte man strenggenommen nicht von einer inneren Wahrnehmung des eigenen Denkens, vielmehr nur von einer Art Gedächtniss sprechen, welches auf einen unmittelbar vergangenen eigenen Act sich bezöge; und dies hätte die Folge, dass auch hier die unmittelbare untrügliche Evidenz unbegreiflich würde. Und wie würden wir nach dieser Theorie den Denkact wahrnehmen? Als gegenwärtig oder vergangen oder als zeitlich unbestimmt? Als gegenwärtig nicht; dann wäre ja die Wahrnehmung falsch. Aber auch nicht als zeitlich unbestimmt; sonst wäre sie nicht die Erkenntniss eines individuellen Actes. Als vergangen also; und somit ist klar, dass sein Erfassen in der That nicht bloss als etwas dem Gedächtnisse Aehnliches, sondern als ein reiner Gedächtnissact gedacht werden müsste. Seltsam aber wäre es gewiss, wenn wir von dem, was, da es gegenwärtig war, von uns unbemerkt geblieben ist, nachher eine Erinnerung haben sollten. Es sei schliesslich noch bemerkt, dass es nach der Thomistischen Theorie von dem Erkennen der eigenen Verstandesacte nicht bloss gewisse Acte geben würde, deren man sich nicht bewusst wird, obwohl man sich ihrer bewusst werden könnte, sondern, ähnlich wie bei den Empfindungen, auch solche, deren man sich unmöglich bewusst werden kann; es müsste denn einer dem Verstande eine unendliche Kraft, eine Fähigkeit für unendlich complicirtes Denken zuschreiben. „Alius est actus“, sagt Thomas, „quo intellectus intelligit lapidem, et alius est actus, quo intelligit se intelligere lapidem; et sic deinde.“ Die Complication der Glieder wächst also in’s Unendliche in steigender arithmetischer Progression. 141 De Anim III. 2. p. 425, b, 12: ἐπεὶ δ᾽ αἰσθανόμεθα ὅτι ὁρῶμεν καὶ ἀκούομεν, ἀνάγκη ἢ τῇ ὄψει αἰσθάνεσθαι ὅτι ὁρᾷ, ἢ ἑτέρᾳ. ἀλλ’ ἡ αὐτὴ ἔσται τῆς ὄψεως καὶ τοῦ ὑποκειμένου χρώματος. ὥστε ἢ δύο τοῦ αὐτοῦ ἔσονται ἢ αὐτὴ αὑτῆς.

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felhaft zu zeigen, dass die Vorstellung des Tones mit der Vorstellung von der Vorstellung des Tones in so eigenthümlich inniger Weise verbunden ist, dass sie, indem sie besteht, zugleich innerlich zum Sein der anderen beiträgt. Dies deutet auf eine eigenthümliche Verwebung des Objects der inneren Vorstellung mit dieser selbst und auf eine Zugehörigkeit beider zu ein und demselben psychischen Acte hin. Diese müssen wir in der That annehmen. So gewiss wir in unserem Falle die Frage nach der Mehrheit der Vorstellungen affirmativ entscheiden mussten, wenn wir sie nach der Zahl der Objecte bestimmten: so gewiss müssen wir sie negativ beantworten, wenn wir sie nach der Zahl der psychischen Acte bestimmen, in welchen vorgestellt wird. Die Vorstellung des Tones und die Vorstellung von der Vorstellung des Tones bilden nicht mehr als ein einziges psychisches Phänomen, das wir nur, indem wir es in seiner Beziehung auf zwei verschiedene Objecte, deren eines ein physisches, und deren anderes ein psychisches Phänomen ist, betrachteten, begrifflich in zwei Vorstellungen zergliederten. In demselben psychischen Phänomen, in welchem der Ton vorgestellt wird, erfassen wir zugleich das psychische Phänomen selbst, und zwar nach seiner doppelten Eigenthümlichkeit, insofern es als Inhalt den Ton in sich hat, und insofern es zugleich sich selbst als Inhalt gegenwärtig ist. Wir können den Ton das primäre, das Hören selbst das secundäre Object des Hörens nennen. Denn zeitlich treten sie zwar beide zugleich auf, aber der Natur der Sache nach ist der Ton das frühere. Eine Vorstellung des Tones ohne Vorstellung des Hörens wäre, von vorn herein wenigstens, nicht undenkbar; eine Vorstellung des Hörens ohne Vorstellung des Tones dagegen ein offenbarer Widerspruch. Dem Tone erscheint das Hören im eigentlichsten Sinne zugewandt, und indem es dieses ist, scheint es sich selbst nebenbei und als Zugabe mit zu erfassen. §. 9.   Ist dieses richtig, so ergibt sich daraus die Erklärung mehrerer auffallender Erscheinungen, und mit anderen löst sich auch die Schwierigkeit, welche zuletzt gegen die Annahme, es seien alle psychischen Phänomene bewusst, geltend gemacht wurde. Nehmen wir psychische Phänomene wahr, die in uns bestehen? – Die Frage muss mit entschiedenem Ja beantwortet werden; denn woher hätten wir ohne eine solche Wahrnehmung die Begriffe des Vorstellens und Denkens? Aber es zeigt sich andererseits, dass wir nicht im Stande sind, unsere gegenwärtigen psychischen Phänomene zu beobachten, und wie soll man dies erklären, wenn nicht daraus, dass wir unfähig sind sie wahrzunehmen?

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– Früher, in der That, schien eine andere Erklärung nicht wohl denkbar; jetzt aber sehen wir den wahren Grund deutlich ein. Die einen psychischen Act begleitende, auf ihn bezügliche Vorstellung gehört mit zu dem Gegenstande, auf welchen sie gerichtet ist. Würde jemals aus einer inneren Vorstellung eine innere Beobachtung werden, so würde eine Beobachtung auf sich selbst gerichtet sein. Das aber scheinen auch die Vertheidiger der inneren Beobachtung nicht für möglich zu halten, und J. St. Mill, wo er gegen Comte die Möglichkeit vertritt, dass Jemand sich beim Beobachten beobachte, beruft sich darum auf unsere Thätigkeit, Mehreres gleichzeitig mit Aufmerksamkeit zu verfolgen142. Eine Beobachtung soll also auf die andere Beobachtung, nicht dieselbe auf dieselbe gerichtet sein können. In Wahrheit kann etwas, was nur secundäres Object eines Actes ist, zwar in ihm bewusst, nicht aber in ihm beobachtet sein; zur Beobachtung gehört vielmehr, dass man sich dem Gegenstande als primärem Objecte zuwende. Also nur in einem zweiten, gleichzeitigen Acte, der einem in uns bestehenden Acte als primärem Objecte sich zuwendete, könnte dieser beobachtet werden. Aber die begleitende innere Vorstellung gehört eben nicht zu einem zweiten Acte. Somit sehen wir, dass überhaupt keine gleichzeitige Beobachtung des eigenen Beobachtens oder eines anderen eigenen psychischen Actes möglich ist. Die Töne, die wir hören, können wir beobachten, das Hören der Töne können wir nicht beobachten; denn nur im Hören der Töne wird das Hören selbst mit erfasst. Einem früheren Hören dagegen, welches wir im Gedächtnisse betrachten, wenden wir uns als einem primären Objecte, und darum mitunter auch in ähnlicher Weise wie ein Beobachtender zu. Der gegenwärtig bestehende Act der Erinnerung ist in diesem Falle das psychische Phänomen, das nur secundär erfasst werden kann143. Dasselbe gilt bei der Wahrnehmung aller anderen psychischen Erscheinungen. Somit bewährt sich hier das Sprichwort; denn zwischen den früheren von uns besprochenen144 entgegengesetzten Ansichten eines Comte, Maudsley, 142 In der Abhandlung über A. Comte und den Positivismus. I. Theil. 143 Dieser Umstand macht es begreiflicher, wie Thomas von Aquin darauf verfallen konnte, das Bewusstsein, welches das Denken begleitet, als ein nachfolgendes zu denken, und das Bewusstsein von diesem Bewusstsein als drittes Glied einer Reihe von Reflexionen zu betrachten, von welchen jede folgende auf die vorhergehende sich bezieht. 144 Buch I. Capitel 2. §. 2.

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Lange einerseits, und der grossen Mehrzahl der Psychologen andererseits, liegt die Wahrheit in der Mitte. Eine andere Frage. Hat, wer einen Ton oder ein anderes physisches Phänomen vorstellt und dieser Vorstellung sich bewusst ist, auch von diesem Bewusstsein ein Bewusstsein, oder nicht? – Thomas von Aquin hat dies in weitem Umfange geleugnet. Aber jeder Unbefangene wird zunächst wenigstens geneigt sein, die Frage zu bejahen. Erst, wenn man ihm dann vorrechnet, wie er in diesem Falle ein dreifaches und dreifach ineinandergeschachteltes Bewusstsein, und ausser der ersten Vorstellung und der Vorstellung der Vorstellung auch noch eine Vorstellung der Vorstellung der Vorstellung haben müsse, wird er vielleicht schwankend werden. Denn diese Annahme scheint inconvenient und nicht mehr der Erfahrung entsprechend. Doch das Ergebniss unserer Untersuchung zeigt, wie diese Folgerung mit Unrecht gezogen wird; denn nach ihr fällt das Bewusstsein von der Vorstellung des Tones mit dem Bewusstsein von diesem Bewusstsein offenbar zusammen. Ist ja das Bewusstsein, welches die Vorstellung des Tones begleitet, ein Bewusstsein, nicht sowohl von dieser Vorstellung, als von dem ganzen psychischen Acte, worin der Ton vorgestellt wird, und in welchem es selber mitgegeben ist. Der psychische Act des Hörens wird, abgesehen davon, dass er das physische Phänomen des Tones vorstellt, zugleich seiner Totalität nach für sich selbst Gegenstand und Inhalt. Und hienach löst sich auch mit Leichtigkeit der zuletzt betrachtete Beweisversuch für das Dasein unbewusster psychischer Phänomene. Eine unendliche Verwickelung des Seelenzustandes sollte daraus folgen, wenn jedes psychische Phänomen von einer darauf bezüglichen Vorstellung begleitet wäre. Und wirklich schien es einen Augenblick, als sei eine solche unendliche Verwickelung unvermeidlich. Aber, wenn der Gedanken so ganz absurd ist, wie lässt es sich erklären, dass man ihn fast allgemein angenommen, und dass selbst von den Philosophen, welche unbewusste psychische Acte lehrten, die wenigsten auf jene Absurdität sich berufen haben? Schon von vorn herein schien es uns darum wahrscheinlich, dass irgend ein Ausweg offen stehen müsse. Und nun sehen wir deutlich, dass die Vemuthung richtig war, und dass die Folgerung jener unendlichen Verwickelung in Wahrheit nicht nothwendig ist. Weit entfernt, dass mit mehr und mehr sich verwickelnden Gliedern eine unendliche Reihe von Vorstellungen zugleich in uns aufgenommen werden müsste, zeigt es sich vielmehr, dass schon mit dem zweiten Gliede die Reihe sich abschliesst.

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§. 10.   Die eigenthümliche Verschmelzung der begleitenden Vorstellung mit ihrem Objecte, wie wir sie dargestellt haben, wurde von der grossen Mehrzahl der Psychologen wohl erkannt145, obwohl nicht eben häufig eingehend und genau erörtert. Und ohne Zweifel war dies der Grund, warum die einen die Schwierigkeit nicht sahen, und andere sich nicht dadurch beirren liessen. Das Letztere ist besonders bei Aristoteles unzweideutig erkennbar, der fast eben so wie wir die scheinbare Nothwendigkeit unendlicher Verwickelung hervorhob. Es fiel ihm nicht ein, desshalb einen unbewussten Seelenzustand anzunehmen. Vielmehr kommt er sofort zu der Folgerung, dass in dem bewussten psychischen Phänomene selbst das Bewusstsein von ihm mitbeschlossen sein müsse146. Wie dies zu denken sei, das sucht er bezüglich der Empfindungen mehrfach und nicht ganz glücklich zu erläutern. Es stehe fest, meint er, dass wir durch das Gesicht, Gehör u. s. f. in mehr als einer Weise etwas wahrnehmen; denn durch das Gesicht nehmen wir nicht bloss das Licht sondern auch die Finsterniss, durch das Gehör nicht bloss die Töne sondern auch die Pausen, nicht bloss das Geräusch sondern auch die Stille, den Mangel jeglichen Geräusches wahr; aber nicht in derselben Weise. Wir haben also erwiesenermassen durch das Gesicht, durch das Gehör u. s. f. ein Wahrnehmen mehrfacher Art, und so sei es auch recht wohl denkbar, dass wir durch das Gesicht nicht bloss die Farben sondern auch unser Sehen, durch das Gehör nicht bloss die Töne sondern auch unser Hören wahrnehmen, obwohl die letztere Wahrnehmung kein eigentliches Hören sei. Noch mehr. Wie das Tönen, so sei auch das Hören eine Einwohnung des Tones. Sie verhalten sich zu einander wie Wirken und Leiden. Sie seien darum in Wirklichkeit immer gleichzeitig gegeben. Man könne nur sagen, dass etwas wirklich töne, wenn auch etwas sei, was wirklich den Ton vernehme. Ausserdem dürfe man nur von einem Tönen in Möglichkeit reden. Tönen und Hören seien also, wie allgemein das Wirken und das dem Wirken entsprechende Leiden, sachlich Eins und den Begriffen nach correlativ und darum nie anders als zusammen und in ein und demselben Acte vorstellbar147. 145 So in neuester Zeit von Bergmann, Grundlinien einer Theorie des Bewusstseins, Berlin 1870. Cap. 1 und 2. 146 De Anim III. 2: ἔτι δ᾽ εἰ καὶ ἑτέρα εἴη ἡ τῆς ὄψεως αἴσθησις, ἢ εἰς ἄπειρον εἶσιν ἢ αὐτή τις ἔσται αὑτῆς. 147 Ebend.: φανερὸν τοίνυν ὅτι οὐχ ἓν τὸ τῇ ὄψει αἰσθάνεσθαι· καὶ γὰρ ὅταν μὴ ὁρῶμεν, τῇ ὄψει κρίνομεν καὶ τὸ σκότος καὶ τὸ φῶς, ἀλλ᾽ οὐχ ὡσαύτως. ἔτι

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Der Vergleich der Wahrnehmung des Hörens mit der Wahrnehmung der Stille durch das Gehör ist wenig treffend, und die Unterordnung des Begriffspaares, Hören und Tönen, unter das des Leidens und Wirkens gänzlich verfehlt. Der Begriff Ton ist kein relativer Begriff. Wäre dies der Fall, so würde nicht das Hören ein secundäres, sondern mit dem Tone zugleich das primäre Object des psychischen Actes sein, und dasselbe würde in jedem anderen Falle gelten, was unverkennbar der Ansicht des Aristoteles selbst entgegen ist148. Auch könnten wir gar nichts denken ausser gewissen Relationen zu uns selbst und unseren Gedanken, und dies ist ohne Zweifel falsch. Allein wenn an dieser Stelle Aristoteles zum Mindesten ungenau spricht, so finden wir anderwärts bei ihm die richtige Ansicht mit aller Klarheit ausgesprochen. So sagt er im zwölften Buche der Metaphysik: „Das Wissen und die Empfindung und die Meinung und das Nachdenken scheinen immer auf etwas Anderes zu gehen, auf sich selbst aber nebenbei149.“ Hier zeigt sich δὲ καὶ τὸ ὀρῶν ἕστιν ὡς κεχρωμάτισται· τὸ γὰρ αἰσθητήριον δεκτικὸν τοῦ αἰσθητοῦ ἄνευ τῆς ὕλης ἕκαστον. διὸ καὶ ἀπελθόντων τῶν αἰσθητῶν ἔνεισιν αἰσθήσεις καὶ φαντασίαι ἐν τοῖς αἰσθητηρίοις. ἡ δὲ τοῦ αἰσθητοῦ ἐνέργεια καὶ τῆς αἰσθήσεως ἡ αὐτὴ μέν ἐστι καὶ μία, τὸ δ᾽ εἶναι οὐ τὸ αὐτὸ αὐταῖς· λέγω δ᾽ οἷον ὁ ψόφος ὁ κατ᾽ ἐνέργειαν καὶ ἡ ἀκοὴ ἡ κατ᾽ ἐνέργειαν· ἔστι γὰρ ἀκοὴν ἔχοντα μὴ ἀκούειν, καὶ τὸ ἔχον ψόφον οὐκ ἀεὶ ψοφεῖ· ὅταν δ᾽ ἐνεργῇ τὸ δυνάμενον ἀκούειν καὶ ψοφῇ τὸ δυνάμενον ψοφεῖν, τότε ἡ κατ᾽ ἐνέργειαν ἀκοή ἅμα γίνεται καὶ ὁ κατ᾽ ἐνέργειαν ψόφος, ὧν εἴποιεν ἄν τις τὸ μὲν εἶναι ἄκουσιν τὸ δὲ ψόφησιν. εἰ δή ἐστιν ἡ κίνησις καὶ ἡ ποίησις καὶ τὸ πάθος ἐν τῷ ποιουμένῳ, ἀνάγκη καὶ τὸν ψόφον καὶ τὴν ἀκοὴν τὴν κατ᾽ ἐνέργειαν ἐν τῇ κατὰ δύναμιν εἶναι· ἡ γὰρ τοῦ ποιητικοῦ καὶ κινητικοῦ ἐνέργεια ἐν τῷ πάσχοντι ἐγγίνεται· διὸ οὐκ ἀνάγκη τὸ κινοῦν κινεῖσθαι ... ὁ δ᾽ αὐτὸς λόγος καὶ ἐπὶ τῶν ἄλλων αἰσθήσεον καὶ αἰσθητῶν. ὥσπερ γὰρ καὶ ἡ ποίησις καὶ ἡ πάθησις ἐν τῷ πάσχοντι ἀλλ᾽ οὐκ ἐν τῷ ποιοῦντι, οὕτω καὶ ἡ τοῦ αἰσθητοῦ ἐνέργεια καὶ ἡ τοῦ αἰσθητικοῦ ἐν τῳ αἰσθητικῷ ... ἐπεὶ δὲ μία μέν ἐστιν ἐνέργεια ἡ τοῦ αἰσθητοῦ καὶ τοῦ αἰσθητικοῦ, τὸ δ᾽ εἶναι ἕτερον, ἀνάγκη ἅμα φθείρεσθαι καὶ σώζεσθαι τὴν οὕτω λεγομένην ἀκοὴν καὶ ψόφον, καὶ χυμὸν δὴ καὶ γεῦσιν, καὶ τὰ ἄλλα ὁμοίως· τὰ δὲ κατὰ δύναμιν λεγόμενα οὐκ ἀνάγκη. 148 Sonst würde er uns wie die Farbe auch das Sehen sehen lassen, und nicht, damit das Sehen sich selbst erfasse, der ὄψις eine zweite Art von αἰσθάνεσθαι („ἀλλ᾽ οὐχ ὡσαύτως“) zuschreiben. 149 Metaph. Λ, 9: φαίνεται δ᾽ἀεὶ ἂλλου ἡ ἑπιστήμε καὶ ἡ αἴσθησις καὶ ἡ δόξα καὶ ἡ διάνοια, αὐτῆς δ᾽ἐν παρέργῳ. Vgl. auch ebend. 1, 7. p. 1072, b, 20. Anderwärts hat es den Anschein, als ob Aristoteles ähnlich wie Thomas v. A. für die Empfindungen einen besonderen inneren Sinn annehme, und so der Lehre von einer Verschmelzung der begleitenden inneren Vorstellung mit der Empfindung in einem Acte untreu werde. Seine allgemeine Theorie von den Seelenvermögen scheint auch mit einer solchen Ansicht leichter vereinbar. Und darum habe ich

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seine Auffassung der unserigen vollkommen conform, und so hat sie ihm gewiss auch vorgeschwebt, als er die zuvor betrachtete Stelle niederschrieb, und um ihretwillen die unendliche Verwickelung der Seelenthätigkeit als unberechtigte Folgerung zurückwies. Doch da er hier seine Ansichten von der eigen­thüm­lichen Vereinigung des Hörens und der Wahrnehmung des Hörens in einem Acte anschaulich machen wollte, und keine passenden Analogien dafür fand, begegnete es ihm, dass er sie vielmehr in ein falsches Licht setzte. Dass auch die übrigen Psychologen fast allgemein einer verwandten Anschauung sich zuneigen, davon kann man sich leicht überzeugen. J. St. Mill, dessen abweichende Ansicht über die Empfindungen wir früher kennen lernten und zu widerlegen suchten, spricht hinsichtlich der Erinnerungen und Erwartungen eine mit der unserigen congruente Ueberzeugung aus. Er gibt ihnen (und wie sollte er es nicht thun?) ein von ihnen verschiedenes, ein als früher oder später gedachtes Phänomen zum Inhalte; aber er glaubt, dass sie zugleich selbst für sich selbst Gegenstand seien, indem er sie in dieser Hinsicht in nichts von den Empfindungen unterschieden denkt. „In sich selbst“, sagt er, „sind sie gegenwärtige psychische Phänomene, Zustände eines gegenwärtigen Bewusstseins, und sie unterscheiden sich in dieser Hinsicht in nichts von den Empfindungen150.“ Wenn wir an das, was Mill über die Empfindungen lehrte, und namentlich an die Weise zurückdenken, wie er sie sich selbst erfassen liess, so sehen wir wohl, dass er nicht deutlicher uns zustimmen konnte. Bain ist zweifellos derselben Meinung. Ebenso glaubt Lotze, dass ein Bewusstsein von den in uns bestehenden psychischen Phänomenen in ihnen selbst gegeben sei; ja, wir dürfen sagen, dass unter allen, welche die Existenz unbewusster psychischer Phänomene (in unserem Sinne) leugnen, keiner einer anderen Ansicht ist. Zu diesen gehört aber auch Ulrici, und dem entsprechend erklärt er ausdrücklich, dass selbst in meiner „Psychologie des Aristoteles“ mit der Mehrzahl der Erklärer sie ihm zugeschrieben. Doch die Stelle De Anim III, 2. spricht so klar dagegen, und es ist so misslich, einen Widerspruch seiner verschiedenen Aussagen in diesem Punkte anzunehmen, dass ich mich jetzt zu der hier im Texte dargelegten Auffassung bekenne. H. Schell in seiner Schrift: „Die Einheit des Seelenlebens aus den Principien der Aristotelischen Philosophie entwickelt“, Freiburg 1873, hat mit vielem Scharfsinne den Versuch gemacht, die ihr entgegenstehenden Aussagen damit zu versöhnen und auch die metaphysischen Anschauungen des Aristoteles über Act und Potenz u. s. w. damit in Einklang zu bringen. Vgl. auch unten Buch II. Cap. 3. §. 5. 150 Exam. of Sir W. Hamilton’s Philos. chapt. 12.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

„alle unsere Empfindungen zugleich Selbstempfindungen der Seele“ seien151. Aber auch von denjenigen, welche nicht jedes psychische Phänomen für ein bewusstes halten, geben die Meisten uns Zeugniss, wie z. B. Beneke. Wo immer er ein psychisches Phänomen von einem darauf bezüglichen Bewusstsein begleitet denkt, glaubt er nicht, dass dieses als ein zweiter, besonderer Act hinzukomme, sondern dass es, wie eine besondere Bestimmtheit und Eigenheit des Phänomenes selbst, mit demselben gegeben sei152. Die Allgemeinheit dieser Ueberzeugung ist offenbar der Grund, wesshalb der vierte Weg zum Nachweise unbewusster psychischer Phänomene so wenig betreten worden ist, und durch sie wird die Richtigkeit unserer Auseinandersetzung in willkommener Weise bestätigt. §. 11.   Die eigenthümlich innige Verbindung des psychischen Actes mit der darauf bezüglichen Vorstellung, die ihn begleitet, machte es uns möglich, auch die letzte Art von Beweisversuchen für das Dasein unbewusster psychischer Acte zu entkräften. Sehen wir, ob wir im Stande sein werden, noch weitere Aufschlüsse daraus zu gewinnen. Wir haben früher die Frage besprochen, ob zwischen der Intensität der bewussten psychischen Erscheinungen und der Intensität der darauf bezüglichen begleitenden Vorstellungen ein functionelles Verhältniss bestehe. Es zeigte sich, dass die gewöhnliche Ansicht einer solchen Annahme günstig ist, indem sie die Vorstellungen von Vorstellungen, wo immer sie diese begleiten, der Intensität nach ihnen gleichzustellen pflegt, und eine nähere Untersuchung diente dieser Ansicht zur Bestätigung. Aber die Erörterung war, wenn nicht gerade sehr verwickelt, doch auch nicht von der Art, dass man glauben könnte, sie sei der Weg, auf welchem die gewöhnliche Meinung sich gebildet habe. Ihre Entstehung blieb also damals unerklärt. Jetzt dagegen sind wir, wenn ich nicht irre, in Stand gesetzt, die mangelnde Erklärung zu geben. Wenn wir eine Farbe sehen und von diesem unserem Sehen eine Vorstellung haben, so wird in der Vorstellung vom Sehen auch die gesehene Farbe vorgestellt; sie ist Inhalt des Sehens, sie gehört aber auch mit zum Inhalte der Vorstellung des Sehens153. Würde nun die Vorstellung des Sehens mehr oder minder intensiv sein als das Sehen, so würde die Farbe in ihr mit einer 151 Gott und der Mensch I. 284. 152 Lehrb. d. Psych. 2. Aufl. §. 57. 153 Vgl. oben §. 8.

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anderen Intensität als in dem Sehen vorgestellt werden. Erscheint dagegen diese, insofern sie gesehen wird, und insofern sie zum Inhalt der Vorstellung vom Sehen gehört, gleich intensiv, so werden auch das Sehen und die Vorstellung vom Sehen der Intensität nach einander gleich sein. Hier also ist für das ­Urtheil ein naheliegender Anhaltspunkt gegeben. Nun haben wir erkannt, dass das Sehen und die Vorstellung vom Sehen in solcher Weise verbunden sind, dass die Farbe, indem sie Vorstellungsinhalt des Sehens ist, zugleich zum Vorstellungsinhalt der Vorstellung vom Sehen beiträgt. Die Farbe wird darum, obwohl sie im Sehen und in der Vorstellung vom Sehen vorgestellt wird, doch nicht mehr als einmal vorgestellt154. Von einem Unterschiede der Intensität kann also selbstverständlich nicht die Rede sein. Somit erklärt es sich sehr einfach, warum man allgemein glaubt, auch das Sehen und die Vorstellung des Sehens seien der Intensität nach nicht von einander verschieden, und dieser Glauben erscheint neuerdings als vollkommen gerechtfertigt. Steigt also oder sinkt die Stärke einer bewussten Empfindung oder einer anderen bewussten Vorstellung, so steigt oder sinkt die Stärke der begleitenden, darauf bezüglichen inneren Vorstellung in gleichem Maasse, so dass beide Erscheinungen ihrer Intensität nach immer auf gleicher Höhe stehen. §. 12.   Doch ein Einwand. Wenn mit der Intensität des Hörens die Intensität der Vorstellung des Hörens immer in gleichem Maasse steigt und fällt, so wird, wenn die Intensität des Hörens Null wird, auch die der begleitenden Vorstellung Null werden. Aber das Gegentheil scheint richtig. Wie sollten wir sonst wahrnehmen, dass wir nicht hören, was wir doch thun, indem wir in der Musik die Pausen und die Länge der Pausen und auch sonst das Eintreten vollkommener Stille, das Aufhören jegliches Geräusches bemerken? Recht intensiv sogar scheint manchmal die Vorstellung des Nichthörens zu sein, da der Müller, der beim Klappern der Mühle ruhig schläft, wenn sie plötzlich stille steht, aus tiefstem Schlafe erweckt wird; und dasselbe zeigt sich in einem Falle, den wir früher nach Lewes anführten, wenn der in der Predigt friedlich entschlummerte Zuhörer bei ihrem Schlusse erwacht, auch ehe noch das Geräusch der sich erhebenden Menge ihn erwecken konnte. Der Einwurf mag in der That für einen Augenblick Bedenken erregen. Ist es doch, als ob er nicht bloss unserer eben verfochtenen Theorie gefährlich sei, sondern sogar die Existenz von Wahrnehmungen ohne ein positives Object beweise; denn der Mangel des Hörens ist offenbar kein positives Object. 154 Ebend.

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Betrachtet man aber die Thatsache etwas näher, so findet man wohl eine Lösung. Wenn wir die Vorstellung von einer Pause und von der Länge einer Pause haben, so erscheinen uns die Töne, von welchen die Pause begrenzt ist, mit ihren verschiedenen zeitlichen Bestimmtheiten; wird ja doch ein jeder Ton, nachdem er als gegenwärtig erschienen ist, noch eine Zeit hindurch als vergangen, und als mehr oder minder vergangen vorgestellt. Die Grösse dieser Verschiedenheit ist die sogenannte Länge der Pause. Auch hier haben wir also eine Vorstellung von Tönen wie bei der Vorstellung von continuirlicher Musik; nur etwa Töne von einer gewissen mittleren zeitlichen Bestimmtheit werden nicht vorgestellt. Da wir nun eine Vorstellung von Tönen haben, so ist es nicht zu verwundern, wenn diese von einer gleich intensiven darauf bezüglichen Vorstellung begleitet ist. Die Wahrnehmung bei eingetretener Stille ist ein ähnlicher, nur einfacherer Fall. Ein Geräusch, das früher als gegenwärtig erschien, erscheint hier als unmittelbar vergangen, wenn auch keines als gegenwärtig erscheint. Und die Vorstellung des als vergangen erscheinenden Geräusches ist, nach dem was wir festgestellt haben, von einer gleich intensiven Vorstellung dieser Vorstellung begleitet. Man entgegnet vielleicht, diese Erklärung genüge nicht. So lange die Mühle fortfahre zu klappern, habe der Müller eben so gut die Vorstellung von einem Klappern, das als unmittelbar vergangen erscheine, wie wenn sie anfange still zu stehen, und nur ausser ihr noch die von einem als gegenwärtig erscheinenden Klappern. Er habe also auch dann die Vorstellung, die ihn nach unserer Ansicht beim Stehenbleiben der Mühle weckte, und nur noch eine andere dazu. Somit fehle nach wie vor eine Ursache, die das Erwachen wirklich erklären könnte, und sie werde so lange fehlen, als man sich nicht entschliesse, eine besondere Wahrnehmung des Nichthörens anzuerkennen. – Allein das Verhältniss ist hier ähnlich, wie bei Vorstellungen einer Farbe, wenn sie einmal einen grösseren, einmal einen kleineren Raum, einen Theil jenes grösseren Raumes, ausfüllt. Wie die Farbe dann räumlich beschränkter erscheint, so erscheint das Geräusch, wenn es abbrach, zeitlich beschränkter. Das Bild wird in beiden Fällen ein anderes, die Contoure wird verrückt. Und wie es wohl geschehen kann, dass die enger umgrenzte Farbenfläche uns auffällt, während sie, wenn sie sich weiter ausdehnte, unsere Aufmerksamkeit nicht erregen würde, so kann Aehnliches bei dem Geräusche der Fall sein. Es wird dies von den besonderen Associationen abhängen, welche sich an die eine und andere Erscheinung knüpfen. Bei dem Müller, der die Pflicht hat, sobald das Rad stehen bleibt, der eingetretenen Störung abzu-

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helfen, während er, so lange das Werk regelmässig fortgeht, die Mühle sich selbst überlassen kann, ist es in ähnlicher Weise begreiflich, warum gerade das abbrechende Geräusch ihn weckt, wie bei dem Aufwärter in der Restauration, von dem Lewes uns erzählte, warum ihn kein anderer Ruf mit solcher Leichtigkeit wie der Ruf: Kellner! weckte, durch den man seine Dienste gemeiniglich in Anspruch nahm. Es liesse sich der Gegenstand noch eingehender erörtern, und man könnte namentlich darauf hinweisen, dass allgemein die Contoure die Aufmerksamkeit auf sich zieht; eine Thatsache, für welche der Wettstreit der Sehfelder so merkwürdige Belege bietet. Doch es scheint besser, dies einem späteren Orte vorzubehalten. §. 13.   Es bleibt also bei dem, was wir früher gefunden. Wenn die Stärke einer bewussten Vorstellung steigt und sinkt, so steigt und sinkt die Stärke der darauf bezüglichen begleitenden Vorstellung in gleichem Maasse, und beide Erscheinungen stehen ihrer Intensität nach immer auf gleicher Höhe. Ist dieses richtig, so liegt darin nicht bloss die Widerlegung eines etwaigen Versuches, aus dem betreffenden functionellen Verhältnisse das Dasein unbewusster Vorstellungen darzuthun: es kann vielmehr, wie wir auch früher schon andeuteten, zugleich als ein Beweis dafür betrachtet werden, dass es wirklich keine unbewussten Vorstellungen in unserem Sinne gibt. Hiemit ist allerdings noch nicht ausgesprochen, dass alle psychischen Phänomene während ihres Bestehens von Bewusstsein begleitet sind; denn ausser dem Vorstellen gibt es auch andere psychische Thätigkeiten, wie z. B. Urtheil und Begehren; doch sind wir einem solchen Schlusse um ein Bedeutendes näher gerückt. Und wie etwa wird es uns möglich sein, das Fehlende zu ergänzen? Der Analogie nach könnte einer vermuthen, dass auch bei anderen bewussten psychischen Thätigkeiten zwischen ihrer eigenen Intensität und der Intensität der darauf bezüglichen begleitenden Vorstellungen ein functionelles Verhältniss, und zwar dasselbe Verhältniss einfacher Gleichheit bestehe, welches wir in Betreff des bewussten Vorstellens nachgewiesen haben. Allein wenn wir unter der Intensität eines Urtheils den Grad der Zuversicht verstehen, mit dem es gefällt wird, so lehrt uns die Erfahrung, dass eine schwache Meinung von einer nicht minder starken, ja von einer stärkeren Vorstellung als eine volle Ueberzeuguug begleitet sein kann, wenn nur die der Meinung zu Grunde liegende Vorstellung recht intensiv ist. Auch wird man bei einigem Nachdenken erkennen, dass man von einer Gleichheit, so wie von einem

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Mehr und Minder der Stärke einer Vorstellung gegenüber der Stärke einer Ueberzeugung gar nicht reden kann; dass es sich hier um Unterschiede handelt, die gar nicht mit einander vergleichbar sind. Wenn aber die Stärke der Vorstellung von Urtheilen nicht mit dem Grade ihrer Zustimmung oder Verwerfung verglichen werden kann, so ist es doch sicher, dass den Urtheilen auch eine Intensität zukommt, in Bezug auf welche der Vergleich möglich ist. Wie die Intensität der Vorstellung eines Gegenstandes gleich ist der Intensität, mit welcher der Gegenstand in ihr erscheint, so participirt auch das Urtheil an der Intensität seines Inhaltes. Die Intensität der Vorstellung, die dem Urtheile zu Grunde liegt, ist zugleich eine Intensität des Urtheils in demselben Sinne. Wenn wir nun mit dieser Intensität die Intensität der begleitenden, auf das Urtheil bezüglichen Vorstellung vergleichen, so ist es leicht‚ auf dem doppelten Wege, auf welchem wir für die Vorstellung und die Vorstellung der Vorstellung die Gleichheit der Intensitäten nachwiesen, auch hier dasselbe Verhältniss darzuthun. Es ergibt sich einmal als Consequenz der Untrüglichkeit der inneren Wahrnehmung, und findet ferner dadurch seine Bestätigung, dass die Vorstellung vom Urtheile mit dem Urtheile in derselben Weise verbunden erscheint, wie die Vorstellung von der Vorstellung mit dieser. Der Inhalt des Urtheils gehört, wie zum Urtheile selbst, so auch zu der Vorstellung von ihm ohne irgendwelche Verdoppelung zu erfahren, und für einen Unterschied der Intensität ist darum keine Möglichkeit gelassen. Was aber vom Urtheile gilt, gilt aus denselben Gründen von jeder anderen Gattung bewusster Seelenthätigkeiten. So dürfen wir denn das functionelle Verhältniss, welches wir bei der bewussten Vorstellung zwischen ihrer Intensität und der Intensität der darauf bezüglichen inneren Vorstellung gefunden haben, auf das ganze Gebiet der bewussten Seelenerscheinungen ausdehnen. Durchgehends haben die begleitende und die begleitete Erscheinung gleiche Stärke, und dieses beweist, dass niemals ein psychisches Phänomen in uns besteht, von welchem wir keine Vorstellung haben. Die Frage: gibt es ein unbewusstes Bewusstsein, in dem Sinne in welchem wir sie gestellt hatten, ist demnach mit entschiedenem Nein zu beantworten.

Drittes Capitel. Weitere Betrachtungen über das innere Bewusstsein. §. 1.   Die Untersuchungen des vorigen Capitels haben ergeben, dass jeder psychische Act von einem darauf bezüglichen Bewusstsein begleitet ist. Es fragt sich aber, wie vielfach und von welcher Art das begleitende Bewustsein sei. Vielleicht ist es gut, die Frage mit ein paar Worten zu erläutern. Mit dem Namen Bewusstsein bezeichnen wir nach unserer früheren Erklärung eine jede psychische Erscheinung, insofern sie einen Inhalt hat. Nun sind die psychischen Erscheinungen von verschiedener Gattung; sie haben, wie bereits bemerkt, in verschiedener Weise etwas zum Inhalte. Es fragt sich also, ob die psychischen Phänomene, wenn sie Gegenstand eines Bewusstseins sind, in einer oder in mehreren Weisen bewusst sind, und in welchen? Bis jetzt ist nur erwiesen, dass sie von uns vorgestellt werden, und, wenn in irgend einer, so müssen sie natürlich in dieser Weise uns bewusst sein; denn die Vorstellungen sind für alle übrigen psychischen Phänomene die Grundlage. Es handelt sich also darum, ob sie bloss vorgestellt oder auch noch in anderer Weise uns bewusst sind. Sicher ist es, dass häufig eine Erkenntniss sie begleitet. Wir denken, wir begehren etwas, und erkennen, dass wir dieses thun. Erkenntniss aber hat man nur im Urtheile. Es steht also ausser Zweifel, dass mit dem psychischen Acte in vielen Fällen nicht bloss eine darauf bezügliche Vorstellung, sondern auch ein darauf bezügliches Urtheil in uns besteht. Ob es auch Fälle gebe, in welchen ein solches Urtheil mangele, wollen wir jetzt untersuchen. §. 2.   Dass die Annahme, jedes psychische Phänomen sei Gegenstand einer begleitenden Erkenntniss, zu einer unendlichen Verwickelung des Seelenzustandes führe und darum in sich selbst unmöglich sei, wird Niemand behaupten, der an unsere Erörterung in Betreff der Vorstellungen zurückdenkt. Denn eben so deutlich wie dort zeigt sich auch hier jene eigen­thüm­ liche Verschmelzung von Bewusstsein und Object des Bewusstseins. Wo immer ein psychischer Act Gegenstand einer begleitenden inneren Erkennt-

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

niss ist, enthält er, ausser seiner Beziehung auf ein primäres Object, sich selbst seiner Totalität nach als vorgestellt und erkannt. Dies allein macht auch die Untrüglichkeit und unmittelbare Evidenz der inneren Wahrnehmung möglich. Wäre die Erkenntniss eines psychischen Actes, welche ihn begleitet, ein Act für sich, der als zweiter Act zum ersten hinzukäme; wäre ihr Verhältniss zu ihrem Objecte kein anderes, als das einer Wirkung zu ihrer Ursache, ähnlich wie es auch zwischen der Empfindung und dem physischen Reize besteht, der die Empfindung hervorruft: wie könnte sie dann in sich selbst gesichert sein? ja wie sollten wir überhaupt von ihrer Untrüglichkeit uns überzeugen? Man hat oft gesagt, eine untrügliche Controle der Wahrnehmung sei da möglich, wo man fähig sei, den Inhalt der Vorstellung mit dem wirklichen Gegenstande zu vergleichen. Bei der sogenannten äusseren Wahrnehmung vermöge man dieses nicht zu thun, da hier nur die Vorstellung des Gegenstandes, nicht aber der wirkliche Gegenstand in uns bestehe. Sie sei und bleibe darum unzuverlässig. Dagegen besitze man hinsichtlich der Treue der inneren Wahrnehmung volle Gewissheit; denn hier bestehe, wie die Vorstellung, so auch der wirkliche Gegenstand der Vorstellung in uns. Der Fehler, der hier begangen wird, ist leicht erkennbar. Der Vergleich zwischen einem Vorstellungsinhalte und einer Wirklichkeit wird nicht dadurch möglich, dass die Wirklichkeit in uns ist, sondern nur dadurch, dass sie von uns erkannt ist. Nichts von dem, was in Jemand ist, ohne dass er davon weiss, kann er mit dem, was er vorstellt, als übereinstimmend erkennen. Somit setzt der Vergleich eben das als sicher erkannt voraus, dessen sichere Erkenntniss aus ihm gewonnen werden soll, was sich selbst wider­ spricht. Eben so wenig genügt die Art, wie Ueberweg das Vertrauen auf die innere Wahrnehmung rechtfertigt: „Die innere Wahrnehmung oder die unmittelbare Erkenntniss der psychischen Acte und Gebilde“, sagt er, „vermag ihre Objecte so, wie sie an sich sind, mit materialer Wahrheit aufzufassen. Denn die innere Wahrnehmung erfolgt, indem das einzelne psychische Gebilde durch den Associationsprocess als ein integrirender Theil der Gesammtheit unserer psychischen Gebilde aufgefasst wird ... Nun aber kann die Association des einzelnen Gebildes mit den übrigen dasselbe nach Inhalt und Form nicht verändern; es geht so, wie es ist, in dieselbe ein; wie daher gegenwärtig unsere Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Begehrungen, überhaupt die Elemente unseres psychischen Lebens und deren Verbindungen unter einander wirklich sind, so sind wir uns ihrer bewusst, und wie wir uns ihrer bewusst

Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das inneren Bewusstsein. 159

sind, so ist ihr wirkliches Sein, indem bei den Seelenthätigkeiten als solchen Bewusstsein und Dasein identisch ist155.“ Wir sehen, Ueberweg hält die innere Wahrnehmung nicht für gesichert durch Vergleiche zwischen dem Inhalte der Vorstellung und der wirklichen Beschaffenheit des Gegenstandes. Er glaubt, dass die Wahrnehmung eines psychischen Actes in einer Verknüpfung des Actes mit anderen Acten bestehe. In Folge dieser Verknüpfurig wird der wirkliche Act Theil von einem zusammenhängenden Ganzen, welches aus der Gesammtheit der wirklichen Acte gebildet ist. Das Aufgenommensein in dieses Ganze ist das Wahrgenommenund Erkanntsein des Actes. Er wird nothwendig so wahrgenommen und erkannt, wie er wirklich ist, da er seiner Wirklichkeit nach aufgenommen wird. Das Alles wäre schön und gut wenn es nur richtig wäre, dass eine Vereinigung und Verkettung wirklicher Dinge, eine Aufnahme von Theilen in ein festverbundenes Ganzes, wie z. B. von Rädern, Cylindern, Platten und Stangen in den Organismus einer wohlgefügten Maschine, mit einer Erkenntniss dieser wirklichen Dinge gleichbedeutend wäre. Ueberweg hat in seiner Geschichte der Philosophie Anselmus den Vorwurf gemacht, dass er in seinem ontologischen Argumente das Gedachtsein mit dem wirklichen Sein confundire. Aber hier hat er selbst den gleichen Fehler begangen, indem er aus der wirklichen Existenz von Theilen in einem Ganzen unter der Hand eine Existenz in dem Sinne werden liess, in welchem man von dem Erkannten sagt, dass es in dem Erkennenden bestehe. Diese Versuche, die Untrüglichkeit der inneren Wahrnehmung zu begründen, sind demnach vollständig misslungen, und dasselbe gilt von jedem anderen, den man etwa an die Stelle setzen möchte. Die Richtigkeit der inneren Wahrnehmung ist in keiner Art erweisbar, aber sie ist mehr als dies, sie ist unmittelbar evident; und wer skeptisch diese letzte Grundlage der Erkenntniss antasten wollte, der würde keine andere mehr finden, um ein Gebäude des Wissens darauf zu errichten. Einer Rechtfertigung unseres Vertrauens auf die innere Wahrnehmung bedarf es also nicht; wohl aber bedarf es einer Theorie über das Verhältniss dieser Wahrnehmung zu ihrem Objecte, welche mit ihrer unmittelbaren Evidenz vereinbar ist; und eine solche ist, wie gesagt, nicht mehr möglich, wenn man Wahrnehmung und Object in zwei verschiedene psychische Acte verlegt, von welchen nur etwa der eine Wirkung des anderen wäre. Das macht schon die bekannte Bemerkung von ­ 155 System der Logik. 2. Aufl. S. 67 f.

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Descartes klar; denn ein etwa bestehendes, unendlich mächtiges Wesen würde jedenfalls dieselbe Wirkung wie das Object hervorzubringen im Stande sein. Wenn also nicht jene reale Einheit, jene eigenthümlich innige Verbindung, die wir früher zwischen dem psychischen Acte und der begleitenden Vorstellung gefunden, auch zwischen ihm und der inneren Wahrnehmung bestände, so wäre die Evidenz ihrer Erkenntniss eine Unmöglichkeit. Man kann sagen, dass dieses Argument aus der Evidenz der inneren Wahrnehmung in seiner Kraft weiter reicht, und dass es selbst für die Weise der Vereinigung der inneren Vorstellung mit ihrem wirklichen Objecte, die wir früher auf anderem Wege erkannten, zur Bestätigung dient. Die Erkenntniss eines wirklichen Gegenstandes kann nicht inniger mit ihm vereinigt sein als seine Vorstellung, indem diese für die Erkenntniss die Grundlage bildet. Für beide gilt also nicht bloss dasselbe, sondern auch dasselbe aus denselben Gründen. Es ist darum nicht zu verwundern, wenn die Psychologen, welche, ähnlich wie wir, die begleitende Vorstellung eines psychischen Actes accessorisch in ihm selbst eingeschlossen dachten, sowohl die modernen als auch Aristoteles, in derselben Weise auch die begleitende Erkenntniss mit darin enthalten glaubten. §. 3.   Aber wenn die Folgerung einer unendlichen Verwickelung der Seelen­ thätigkeit nicht zu fürchten ist, so scheint es doch als stehe der Annahme, jeder psychische Act sei von einer darauf bezüglichen Erkenntniss begleitet, eine andere Schwierigkeit im Wege. Jede Erkenntniss ist ein Urtheil, und jedes Urtheil, sagt man gemeiniglich, bestehe darin, dass ein Prädicat einem Subjecte beigelegt oder ihm abgesprochen werde. Im Falle der Erkenntniss durch innere Wahrnehmung ist das Urtheil ohne Zweifel affirmativ, das beigelegte Prädicat aber müsste wohl die Existenz sein; denn man nimmt wahr, dass ein psychischer Act existirt. Was nun der Namen Existenz eigentlich besage, darüber sind die Philosophen nicht einig, obwohl nicht bloss sie, sondern jeder einfache Mann ihn mit aller Sicherheit zu gebrauchen weiss. Aber es scheint nicht schwer einzusehen, dass es ein sehr allgemeiner, also ein sehr abstracter Begriff ist, wenn anders er wirklich aus der Erfahrung gewonnen wurde und nicht (was anzunehmen immer sein Missliches hat) als apriorischer Begriff vor aller Erfahrung in uns vorhanden war. Sollte es hienach denkbar sein, dass schon das erste Empfinden eines Kindes nicht bloss von einer Vorstellung des Empfindungsactes, sondern zugleich von einer Wahrnehmung desselben begleitet sei? von einer Erkenntniss, dass er ist? von einem Urtheile, welches mit dem psychischen Phänomene als Sub-

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ject den Begriff der Existenz als Prädicat verknüpft? Ich glaube Niemand verkennt, wie unwahrscheinlich, ja unmöglich eine solche Annahme ist. Dieses Argument wäre sicher unwiderleglich, wenn die herkömmliche Theorie, wonach jedes Urtheil eine Mehrheit von Begriffen verbindet, und insbesondere das im Existentialsatze ausgedrückte Urtheil den Begriff der Existenz zu irgend welchem Subjectsbegriffe fügt, auf Wahrheit beruhte. Wir werden später diese Ansicht in allgemeiner Weise als irrig nachweisen156, denn die Zusammensetzung aus Subject und Prädicat ist keineswegs etwas, was der Natur des Urtheils wesentlich ist, und die Unterscheidung der beiden Bestandtheile hängt vielmehr nur mit einer gemeinüblichen Form des sprachlichen Ausdruckes zusammen. In der Erkenntniss durch innere Wahrnehmung liegt uns aber im Besonderen ein Urtheil vor, das recht augenscheinlich den gewöhnlichen Ansichten der Psychologen und Logiker widerspricht. Keiner, der auf das achtet, was in ihm vorgeht, wenn er hört oder sieht und sein Hören oder Sehen wahrnimmt, kann sich darüber täuschen, dass dieses Urtheil der inneren Wahrnehmung nicht in der Verbindung eines psychischen Actes als Subject mit der Existenz als Prädicat, sondern in einer einfachen Anerkennung des im inneren Bewusstsein vorgestellten psychischen Phänomens besteht. So erweist sich auch dieses Argument gegen die Allgemeinheit einer Erkenntniss der psychischen Acte durch inneres Bewusstsein als unhaltbar. §. 4.   Versuchen wir, ob es uns gelingt, sogar den positiven Beweis für die Allgemeinheit einer solchen begleitenden Erkenntniss zu erbringen. Wir erinnern uns des Weges, den wir einschlugen, als es sich darum handelte, ob jeder psychische Act von einer darauf bezüglichen Vorstellung begleitet sei. Wir zeigten, dass bei bewussten Seelenerscheinungen die Intensität der begleitenden Vorstellung mit der Intensität des begleiteten Actes (beziehungsweise der dem Acte zu Grunde liegenden Vorstellung) gleichmässig zu- und abnimmt und immer auf gleicher Höhe steht. Hieraus folgte, dass die begleitende Vorstellung nur in solchen Fällen mangelt, in welchen der Act selber aufgehoben ist. Bezüglich der begleitenden Erkenntniss scheint der Nachweis nicht so einfach. Als Urtheil besitzt sie, dem früher Bemerkten entsprechend, eine zweifache Intensität: einmal eine Intensität in dem Sinne, in welchem eine solche auch Vorstellungen zukommt; dann eine dem Urtheil eigenthümliche Art von Stärke, nämlich den Grad der Ueber156 Buch II. Cap. 7. § 5 ff.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

zeugung, mit welchem das Urtheil gefällt wird. Würde die eine oder andere Null werden, so würde das Urtheil nicht mehr bestehen. Doch unsere früheren Untersuchungen haben uns reichlich vorgearbeitet. Wir wissen, dass, was die erste Weise der Intensität anlangt, jedes Urtheil an dem Grade der Intensität der zu Grunde liegenden Vorstellung theilnimmt. Da nun die Intensität der begleitenden Vorstellung nur in dem Falle Null wird, in welchem das Object selbst aufhört, so wird, so weit es auf sie ankommt, niemals ein Grund vorhanden sein, wesshalb die den psychischen Act begleitende Erkenntniss wegfiele. Wir haben also nur noch auf die dem Urtheile als Urtheile eigenthümliche Stärke, auf den Grad der Ueberzeugung zu achten. Hier finden wir nun nichts, was dem besprochenen functionellen Verhältniss ähnlich sehen würde, ja das Maass der Ueberzeugung, welche der begleitenden Erkenntniss inwohnt, ist überhaupt nicht eine Function der Intensität des begleiteten psychischen Actes. Mag derselbe eine Vorstellung, mag er ein Urtheil, eine Begierde oder irgend welche andere Art psychischer Erscheinung sein, die Zu- oder Abnahme seiner Intensität berührt nicht die Intensität der Ueberzeugung, mit welcher wir ihn erkennen. Aber trotzdem sind die Verhältnisse von der Art, dass sie einen sicheren Schluss gestatten. Die Stärke der Ueberzeugung in dem begleitenden, das psychische Phänomen anerkennenden ­Urtheile zeigt sich als eine in allen Fällen gleiche, constante Grösse. Und diese Grösse ist nicht etwa jener geringe Grad von Zustimmung, wie er einer schwach aufkeimenden Meinung eigen ist, sondern sie ist die denkbar höchste; wir haben bei jeder inneren Wahrnehmung jene Vollkommenheit der Ueberzeugung, welche den unmittelbar evidenten Erkenntnissen innewohnt. Dieses Verhalten ist natürlich dasjenige, welches vor allen anderen die Annahme der Allgemeinheit der begleitenden Erkenntniss begünstigt. Wenn hinsichtlich der Stärke der Ueberzeugung die innere Wahrnehmung niemals anders als in der höchsten Vollkommenheit auftritt; wenn sie nie und unter keinerlei Umständen aus diesem Grunde eine Hinneigung zum Verschwinden zeigt: so dürfen wir mit Sicherheit annehmen, dass nur etwa wegen des Verlustes jener anderen, wandelbaren Intensität die innere Wahrnehmung fehlen werde. Da aber auch diese nach solchen Gesetzen und in solchem Verhältnisse zur Intensität des begleiteten Actes sich ändert, dass sie nur bei dessen gänzlichem Verschwinden auf den Nullpunkt herabsinkt: so dürfen wir behaupten, dass die darauf bezügliche Erkenntniss selbst nur in diesem Falle mangeln wird. Mit jedem psychischen Acte ist daher ein doppeltes inneres Bewusstsein verbunden, eine darauf bezügliche Vorstellung und

Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das inneren Bewusstsein. 163

ein darauf bezügliches Urtheil, die sogenannte innere Wahrnehmung, welche eine unmittelbare, evidente Erkenntniss des Actes ist. §. 5.   Die Erfahrung zeigt, dass nicht bloss eine Vorstellung und ein Ur­theil, sondern häufig auch noch eine dritte Art von Bewusstsein des psychischen Actes in uns besteht, nämlich ein auf den Act bezügliches Gefühl, eine Lust oder Unlust, die wir an ihm haben. Blicken wir auf unser altes Beispiel zurück, so ist das Hören eines Schalles oft nicht bloss von einer Vorstellung und Erkenntniss des Hörens, sondern unverkennbar auch von einem Gefühle begleitet, sei es von einer Lust, wie bei dem Klang einer sanften und reinen jugendlichen Stimme, sei es von einer Unlust, wie beim Kratzen eines schlechtgeführten Geigenstriches. Auch dieses Gefühl hat nach früheren Erörterungen157 einen Gegenstand, worauf es sich bezieht. Und dieser ist nicht das physische Phänomen des Schalles, sondern das psychische Phänomen des Hörens; denn offenbar ist es nicht eigentlich der Schall, der uns angenehm und lieb ist oder uns quält, sondern das Hören des Schalles. Demnach gehört auch dieses Gefühl zum inneren Bewusstsein. Aehnliches finden wir beim Sehen von schönen und hässlichen Farben und in anderen Fällen. Auch dieses begleitende Gefühl zeigt sich da, wo es auftritt, in ähnlicher Weise dem begleiteten Phänomen innig zugehörig und in ihm enthalten, wie die darauf bezügliche Vorstellung und Wahrnehmung. Wäre das Verhältniss hier ein anderes, so wäre das begleitende Gefühl ein zweiter psychischer Act, der selbst wieder von Bewusstsein begleitet wäre. In der auf ihn bezüglichen Vorstellung würde aber nothwendig nicht bloss er selbst, sondern auch sein Inhalt, der psychische Act, auf welchen er sich bezieht, vorgestellt werden. Somit würde dieser zweimal vorgestellt: einmal durch die zu ihm selbst gehörige, in ihm selbst gegebene Vorstellung seiner selbst, und dann durch die zu dem begleitenden Gefühlsacte gehörige Vorstellung des Gefühles. Nichts von dem zeigt uns die Erfahrung; vielmehr lässt sie nur die eine Annahme als möglich bestehen, dass, wie die innere Vorstellung und Wahrnehmung, auch das innere Gefühl des Hörens, des Sehens und jedes anderen Actes, der in dieser Weise uns innerlich bewusst ist, mit seinem Objecte verschmolzen und in ihm selbst mit enthalten sei. Unsere frühere analoge Darlegung enthebt uns der Mühe, das Gesagte durch ausführlichere Erörterung zu verdeutlichen. 157 Buch II. Cap. 1. §. 5.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

Dagegen ist es vielleicht nicht ohne Werth, auf die vielen und mannigfachen Spuren hinzuweisen, welche Zeichen für die Richtigkeit unserer Auffassung sind. Wir erinnern uns der eigenthümlichen Ansicht Hamilton’s in Betreff der Gefühle von Lust und Unlust. Bei ihnen, meinte er, bestehe nicht ein ähnliches Verhältniss von Subject und Object wie bei anderen psychischen Phänomenen; beide seien so in Eins verschmolzen, dass von einem Objecte eigentlich gar nicht mehr die Rede sei158. Einen gewissen Anhalt für seine Lehre musste Hamilton doch wohl in der Erfahrung haben, wenn er ihre Erscheinungen auch nicht ganz richtig beschrieb. Und es wäre sein Irrthum in der That ganz unbegreiflich, wenn, im vollen Gegensatze zu dem was er von dem Gefühle behauptete, gerade das Gefühl es wäre, das niemals, auch nur in dem Sinne in welchem es von der inneren Vorstellung und Erkenntniss nachgewiesen wurde, mit seinem Objecte verschmölze. Ferner haben wir gesehen, wie bei manchen Sinnesempfindungen das begleitende Gefühl von Lust und Unlust nicht bloss mit der Empfindung selbst, sondern sogar mit dem immanenten Gegenstande der Empfindung, mit dem physischen Phänomene verwechselt wurde, auf welches der Empfindungsact als auf sein primäres Object gerichtet ist. Dies fanden wir namentlich beim Schmerz und bei der Lust des sogenannten Gefühlssinnes; Philosophen wie Nicht-Philosophen sahen wir hier in den gleichen Fehler fallen. Auch er ist gewiss ein Zeichen, welches auf die Innigkeit der Verbindung des Gefühles mit dem von ihm begleiteten Acte hindeutet. Aber auch direct gibt die übereinstimmende Ansicht älterer wie neuerer Psychologen dem von uns dargelegten Verhältnisse Zeugniss. Die bedeutendsten unter den englischen Psychologen, die der empirischen Schule angehören, halten dafür, dass die einen Empfindungsact begleitende Lust oder Unlust in dem Acte selbst enthalten sei. So z. B. James Mill in seiner Analyse der Phänomene des menschlichen Geistes159, und ebenso A. Bain, der nur einen zweifachen Theil oder eine zweifache Eigenthümlichkeit der Empfindung unterscheidet: ihre, wie er sich ausdrückt, intellectuelle und ihre emotionelle Eigenthümlichkeit, unter welcher er die daran geknüpfte Lust oder Unlust versteht. Auch der jüngere Mill vertritt dieselbe Anschauung. Indem er für die Mehrzahl der Fälle sie als unzweifelhaft richtig voraussetzt, wirft er in einer Note zu dem genannten Werke seines Vaters nur die 158 S. oben Buch II. Cap. 1. §. 5. S. 107. 159 Anal. of the Phen. of the Human Mind, 2. edit. II. ch. 17. p. 184 f.

Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das inneren Bewusstsein. 165

Frage auf, ob nicht etwa in gewissen besonderen Fällen die Lust oder Unlust, die eine Empfindung begleite, vielmehr etwas für sich sei, was zur Empfindung hinzukomme, als eine blosse besondere Seite oder Beschaffenheit der Empfindung160. Nachdem er angeführt, was in Betreff ihrer zu einer abweichenden Ansicht veranlassen könnte, neigt er sich aber trotzdem auch bei ihnen der gleichen Auffassung zu und sucht die Bedenken zu heben161. In Deutschland zeigt sich dasselbe. Domrich z. B. in einem allgemein als werthvoll anerkannten psychologischen Werke nennt mit ganz ähnlichem Ausdrücke wie Mill das Fühlen, welches eine Empfindung begleitet, „eine Qualität des Empfindens“. Und bei allen von einem Gefühle begleiteten Vorstellungen fasst er das Verhältniss in dieser Weise, und nennt das Gefühl „die Art, wie das Bewusstsein durch die Perception erregt wird“162. Auch Nahlowsky glaubt die an eine Empfindung geknüpfte Lust oder Unlust in ihr selbst gegeben. Er nennt sie „Ton der Empfindung“, weigert sich dagegen, ihr den Namen Gefühl beizulegen, da sie vielmehr etwas dem eigentlichen Gefühle völlig Heterogenes sei163. Hiezu hat ihn wohl das Streben geführt, mit den allgemeinen Principien der Herbartischen Gefühlslehre in Einklang zu bleiben; denn Herbart und seine Schule, wenn sie auch die Gefühle als Zustände von Vorstellungen bezeichnen, lassen doch nur aus einem Verhältniss mehrerer Vorstellungen zu einander Gefühle entspringen. Allein da Nahlowsky nun doch einmal auf dem Wege war, sich in diesem Gebiete von Herbart zu emancipiren, so hätte er besser gethan, das Princip selbst aufzugeben, als eine Unterscheidung zu machen, die offenbar unhaltbar ist, und ihn nicht bloss mit allen anderen Psychologen, sondern auch mit den hervorragendsten Herbartianern, wie Drobisch, Zimmermann u. a., in Widerspruch bringt. Auch Wundt, der mit Recht darauf hinweist, dass aus den Gefühlen, die Nahlowsky nur als „Töne der Empfindung“ gelten lassen will, häufig zusammengesetztere Gemüthsbewegungen wie aus ihren elementaren Factoren hervorgehen164, und darum den Namen „Gefühlston der Empfindung“ und „sinnliches Gefühl“ als gleichbedeutend gebraucht, lehrt zugleich 160 „rather than a particular aspect or quality of the sensation“. 161 Anal. of the Phen. of the Human Mind, 2. edit. II. ch. 17. p. 185, wo auch über Bain’s Ansicht berichtet wird. 162 Die psychischen Zustände, S. 166 f. 163 Das Gefühlsleben, Einleitung. Aehnlich wie Nahlowsky äussern sich Volkmann, Grundriss der Psychol., S. 55, und Waitz, Psychol. als Naturwissenschaft, S. 286. 164 Grundz. d. physiol. Psychologie, S. 428.

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auf das Bestimmteste, dass dieses sinnliche Gefühl „ein Bestand­theil“ der Empfindung sei, „eine dritte Bestimmung“, die zur Qualität und Intensität hinzutrete, insofern jede Empfindung „Bestandtheil eines Bewusstseins“ sei165. So ist auch er, und vielleicht mehr noch als die früher Genannten, unserer Ansicht günstig. Aber nicht bloss diese und andere moderne Psychologen neigen sich ihr zu. Im Alterthume schon hat Aristoteles sie anticipirt. Da, wo er in der Nikomachischen Ethik von der Lust spricht, welche gewisse psychische Thätigkeiten begleite, sagt er, dass sie zur Vollkommenheit des Actes beitrage, aber nicht wie eine vorbereitende Disposition, sondern wie eine formale Ursache; dass sie den Act vollendend zu ihm hinzukomme; dass sie zu der von ihr begleiteten Thätigkeit gehöre wie die Reife zu dem, der in der Blüthe des Lebens steht; dass sie in der Thätigkeit enthalten sei166; und dass sie als Vollendung des Actes specifisch verschieden sei je nach der specifischen Verschiedenheit des Actes167. Das Alles gibt unzweideutig die Uebereinstimmung auch dieses scharfen psychologischen Beobachters mit unseren Bestimmungen zu erkennen168. §. 6.   Es fragt sich nun, ob diese dritte Weise begleitenden Bewusstseins auch darin den früher betrachteten gleicht, dass sie allgemein mit den psychischen Acten verbunden ist. Die Psychologen sind hier in ihren Ansichten getheilt. James Mill z. B. behauptet, es gebe auch indifferente Empfindungen; doch erkennt er an, dass in jeder Gattung von Empfindungen solche, woran Lust und Unlust sich knüpfen, vorkommen169; und dieses geben wohl alle 165 Ebend. S. 426, 427. 166 Eth. Nic. X. c. 4. Unter Anderem heisst es: τελειοῖ δὲ τὴν ἐνέργειαν ἡ ἡδονὴ οὐχ ὡς ἡ ἕξις ἐνυπάρχουσα, ἀλλ᾽ ὡς ἐπιγινόμενόν τι τέλος, οἷον τοῖς ἀκμαίοις ἡ ὥρα. ἕως ἂν οὖν τό τε νοητὸν ἢ αἰσθητὸν ᾖ οἷον δεῖ καὶ τὸ κρῖνον ἤ θεωροῦν, ἔσται ἐν τῇ ἐνεργεὶᾳ ἡ ἡδονή. 167 Ebend. c. 5. 168 Ohne Zweifel liegt darin eine Bestätigung dafür, dass Aristoteles bezüglich der begleitenden inneren Wahrnehmung eine analoge Ansicht gehegt hat. 169 Anal. of the Hum. Mind, 2. edit. II. chapt. 17. p. 185. Der gleichen Meinung scheint Aristoteles gewesen zu sein. Eth. Nic. X, 4. p. 1174, b, 20 beweist, dass er in jeder Gattung von Empfindungen Gefühle anerkannte; ja er that dies auch bei den übrigen Gattungen von Seelenthätigkeit, wie beim Denken (ebend.) und Begehren (ebend. 5. p. 2176, a, 26). Doch De Anim. III, 7. p. 431, a, 9 scheint zu zeigen, dass er auch gleichgültige Empfindungen angenommen habe, obwohl der Schluss nicht ganz sicher ist.

Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das inneren Bewusstsein. 167

Psychologen zu. Aber Andere gehen weiter. A. Bain170 z. B. und J. St. Mill sind der Ansicht, dass jede Empfindung von einem Gefühle begleitet sei. Von denjenigen, von welchen man dies zu leugnen geneigt ist, sagt der letztere in seiner Schrift über Hamilton: „Ohne schlechthin indifferent zu sein, sind sie doch nicht in ausschliesslichem Maasse peinlich oder angenehm171.“ H. Spencer erklärt, dass, wie jede Gemüthsbewegung eine Erkenntniss, auch jede Erkenntniss eine Gemüthsbewegung einschliesse172. Hamilton, obwohl einer entgegengesetzten Richtung angehörig, ist hier der gleichen Meinung. Jeder psychische Zustand ist nach ihm mit einem Gefühle verbunden173. In Deutschland hat dieselbe Ansicht zahlreiche und bedeutende Vertreter. So sagt Domrich, dass Gefühl und Gemüth von den anderen Seelenerscheinungen nicht ganz zu trennen seien. Seine Untersuchungen haben ihn zu der Ueberzeugung geführt, dass jede Empfindung oder Vorstellung gleichzeitig von einem Gefühle begleitet werde, dessen Intensität aber freilich sehr verschieden gross sein könne174. Und noch deutlicher fast spricht Lotze sich aus. „Man wird vor Allem sich entwöhnen müssen“, sagt er in seinem Mikrokosmus, „die Gefühle als Nebenereignisse zu nehmen, die im Verlauf der inneren Zustände zuweilen einträten, während der grössere Theil der letzteren in einer gleichgültigen Reihe leid- und lustloser Veränderungen bestände ... Von jeder [Erregung]* werden wir einen Eindruck der Lust oder Unlust erwarten müssen, und eine genauere Selbstbeobachtung, soweit sie die verblassten Farben dieser Eindrücke zu erkennen vermag, bestätigt diese Vermuthung, in dem sie keine Aeusserung unserer geistigen Thätigkeit findet, die nicht von irgend einem Gefühle begleitet wäre. Verblasst sind jene Farben allerdings in dem entwickelten Gemüthe vor dem übermächtigen Interesse, das wir einzelnen Zwecken unserer persönlichen Bestrebungen zuwenden, und nur eine absichtliche Aufmerksamkeit findet sie wieder auf, 170 Bain glaubt, dass alle Empfindungen Gefühle genannt werden können, indem sie alle einen gewissen emotionellen Charakter haben. Eigenthümlich ist es bei ihm, dass er ausser angenehmen und unangenehmen auch völlig neutrale Gemüthsbewegungen annimmt, wie z. B. die Ueberraschung (Mental Science, 3. edit. p. 215. p. 217). Die sogleich zu erwähnende Auffassung von J. St. Mill ist hier wohl sicher die richtigere. 171 Exam. of Hamilt. Philos. chapt. 13. 172 Vgl. Ribot, Psychologie Anglaise Contemporaine, p. 195. 173 Lectures on Metaph. I. p. 188 f. II. p. 433 f. 174 Die psych. Zustände, S. 163. * Ergänzung in eckigen Klammern von Brentano.

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ebenso wie unsere mikroskopische Beobachtung die regelmässige Bildung unscheinbarer Gegenstände, über die unser Blick gewöhnlich unachtsam hinwegsieht. Jeder einfachen sinnlichen Empfindung, jeder Farbe, jedem Tone entspricht ursprünglich ein eigener Grad der Lust oder Unlust; aber gewöhnt, diese Eindrücke nur in ihrer Bedeutung als Merkmale der Gegenstände aufzufassen, deren Sinn und Begriff uns wichtig ist, bemerken wir den Werth des Einfachen nur dann noch, wenn wir mit gesammelter Aufmerksamheit in seinen Inhalt uns vertiefen. Jede Form der Zusammensetzung des Mannigfaltigen erregt neben ihrer Wahrnehmung in uns einen leisen Eindruck ihres Ueber­einstimmens mit den Gewohnheiten unserer eigenen Entwickelung, und diese oft unklaren Gefühle sind es, welche für jedes einzelne Gemüth jedem Gegenstand eine besondere Färbung geben ... Aber selbst die einfachsten und scheinbar trockensten Begriffe des Denkens sind nie von diesem nebenhergehenden Gefühle ganz entblösst; wir fassen den Begriff der Einheit nicht, ohne zugleich ein Glück der Befriedigung zu geniessen, das sein Inhalt einschliesst, den des Gegensatzes nicht, ohne zugleich die Unlust der Feindseligkeit mit zu empfinden; Ruhe, Bewegung und Gleichgewicht beobachten wir weder an den Dingen, noch entwickeln wir uns ihre Vorstellungen, ohne uns mit unserer ganzen Lebendigkeit in sie hineinzuversetzen und den Grad und die Art der Förderung oder der Hemmung mitzufühlen, die für uns aus ihnen hervorgehen könnte.“ „Auf dieser Allgegenwart der Gefühle beruht ein guter Theil unserer höheren menschlichen Ausbildung175.“ Wie gesagt, sind noch viele Andere derselben Ueberzeugung, so dass es wenigstens der Wahrheit nahe kommt, wenn Horwicz sagt: „Dass übrigens alle Empfindungen mehr oder weniger betont (d. h. angenehm oder unangenehm) und keine ganz tonlos sind, wird heutzutage wohl von allen Psychologen anerkannt176.“ Indessen zeigen sich auch hier Schwierigkeiten. Vor Allem könnte gegen die Annahme, dass jede psychische Thätigkeit von einer darauf bezüglichen Lust oder Unlust begleitet sei, wieder geltend gemacht werden, dass sie, da auch die Lust und Unlust selbst zu den Seelenthätigkeiten gehören, zu einer unendlichen Vervielfältigung gleichzeitiger Acte führen müsste. Doch diesem Einwurfe hat eine frühere Betrachtung vorgebeugt. Dagegen bleibt ein anderer Einwand zu berücksichtigen. Wundt, obwohl er Gefühle der Lust oder Unlust in sehr weitem Umfange den Empfindungen zugesellt, hält es doch für unmöglich, dass jede Empfin175 Mikrokosmus I. S. 264 f. 176 Psychol. Anal. I. S. 230.

Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das inneren Bewusstsein. 169

dung von einem Gefühle begleitet sei, und sein Grund ist folgender. „Wir bezeichnen“, sagt er, „das sinnliche Gefühl als angenehm oder unangenehm, als ein Lust- oder Unlustgefühl. Lust und Unlust sind aber gegensätzliche Zustände, welche durch einen Indifferenzpunkt in einander übergehen. Darin liegt ausgesprochen, dass es Empfindungen geben muss, welche unbe­ tont, nicht von sinnlichen Gefühlen begleitet sind.“ – Angenommen, die Prämissen seien richtig, so würde wohl die absolute Möglichkeit einer Empfindung ohne Gefühl sich aus ihnen ergeben, es würde aber noch keineswegs folgen, dass irgend einmal auch nur die kürzeste Zeit hindurch eine solche wirklich bestände. Dies ist, was Wundt selbst zugesteht, indem er fortfährt: „Aber da die Beziehung der Empfindungen zum Bewusstsein fortwährenden Schwankungen unterworfen ist, so entspricht jener Indifferenzpunkt im Allgemeinen immer nur einer vorübergehenden Gemüthslage, von welcher aus leicht ein Uebergang zu Lust- oder Unlustgefühlen stattfindet. Ebendesshalb muss jede Empfindung als verbunden mit einem gewissen Grade von Gefühl betrachtet werden177.“ Es ist mir indessen mehr als zweifelhaft, ob auch nur die Voraussetzungen des Schlusses selbst zugestanden werden können, und ob nicht vielmehr die Empfindungen, welche zwischen den entschieden angenehmen und den entschieden unangenehmen als indifferente eingeschaltet werden, mit J. St. Mill als solche zu bezeichnen sind, bei welchen eine Mischung von Lust und Unlust stattfindet, so dass keine von beiden entschieden überwiegt. Das, was Wundt für seine Auffassung anführen kann, ist insbesondere die Abhängigkeit des begleitenden Gefühles von der Intensität. Wenn wir den Einfluss eliminiren, den der Zusammenhang unserer Vorstellungen auf die den einzelnen Empfindungen beigesellten Gefühle hat, so soll nach Wundt die Erfahrung lehren, dass jede Art von Empfindung bei mässiger Stärke von einem Lustgefühle, bei sehr grosser Intensität von einem Schmerzgefühle begleitet sei. Allerdings, sagt er, sei bei einer sehr schwachen Empfindung das Lustgefühl gering und wachse zunächst, indem die Empfindung zunehme. Aber dann komme es zu einem Höheund Wendepunkte. Ueber ihn hinaus nehme das Lustgefühl rasch ab und verwandle, durch einen Indifferenzpunkt hindurchgehend, sich in Unlust, die in Folge weiterer, stetiger Steigerung bei dem Reize, welcher der Empfindungshöhe entspreche, eine unendliche Grösse erreiche. Ist diese Theorie richtig, so muss sie bei den höchsten Sinnen, bei welchen jede Untersuchung am Vollkommensten zu führen ist, am Meisten sich erproben. Wirk177 Physiol. Psychologie, S. 426.

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lich lässt es sich nicht leugnen, dass an eine schwache Lichterscheinung an und für sich ein gewisses, schwaches Lustgefühl sich knüpft, dass, indem das Licht in lebendigerer Farbe strahlt, das Lustgefühl in erheblichem Maasse zunimmt, dass aber, wenn die Helligkeit einen gewissen Grad überschreitet, eine Unlust entsteht, die bei directem Blick in die Sonne zu einem unerträglichen Schmerze sich steigert. Bei der ersten Betrachtung scheint also Alles die Auffassung von Wundt zu bestätigen. Aber der Schein schwindet sofort, wenn man den Thatbestand sorgfältiger untersucht. Ist es wirklich Lichtempfindung, an welche jener höchste Schmerz sich knüpft, den Wundt als einen unendlichen bezeichnen zu dürfen glaubt? Wundt selbst muss dies verneinen. Vielmehr hat diese Empfindung eine Qualität, die sich von den Qualitäten in gleicher Weise schmerzlicher Empfindungen, die mittels anderer Sinnesnerven erregt werden, in nichts unterscheidet178. Wie nun? Ist in allmäligem Uebergange bei der Steigerung der Empfindung aus einer Farbe eine ganz heterogene Qualität geworden? Das scheint in der That nicht minder undenkbar, als von Farben zu Tönen durch allmälig variirende Zwischenglieder den Uebergang zu vermitteln. In Wahrheit lehrt auch die Erfahrung etwas ganz Anderes. Wenn die Lichtempfindung jene Stärke erreicht, bei welcher ein Unlustgefühl erregt wird, so finden wir die Lichterscheinung selbst nicht minder schön. Der Anblick der Sonne oder eines electrischen Lichtes entzückt uns, obwohl ein Schmerz damit verbunden ist. Es entsteht ein Widerstreit von Begierden in uns, insofern wir den Schmerz vermeiden, und doch von solcher Schönheit das Auge nicht abwenden möchten. Wir haben also hier ein gemischtes, oder vielmehr wir haben zwei verschiedene Gefühle, die sich an zwei gleichzeitig durch denselben Nerven vermittelte, aber darum nicht minder verschiedene, ja heterogene Empfindungen knüpfen. Darum erscheint auch die Unlust ähnlich den Schmerzen, die sonst von sogenannten Gefühlsnerven hervorgerufen werden; sie hat keine Verwandt178 Ebend. S. 433. Wundt drückt sich so aus, dass er sagt, das höchste Unlustgefühl zeige „keine qualitativen Differenzen mehr“, und erklärt dies daraus, dass die Empfindungen vollständig in dem Unlustgefühle aufgegangen seien. Diese Bemerkung ist schwer verständlich; denn es ist nach seiner ganzen Theorie vom Gefühle (vgl. S. 426 und 427) nicht wohl glaublich, dass er damit sagen wollte, es seien die Bestand­theile, aus welchen „die Empfindung an und für sich besteht“, ganz weggefallen. Wäre dies dennoch seine Meinung, so würde er hier denselben Fehler begangen haben, den wir früher an Anderen rügten: indem wir an der Noth­wen­dig­keit einer Vorstellung als Grundlage für das Gefühl festhielten; und unsere damaligen Vermuthungen über die Gründe, welche den Irrthum veranlassten, würden sich bestätigt finden. (S. oben Buch II. Cap. 1. §. 3.).

Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das inneren Bewusstsein. 171

schaft mit der Unlust, wie sie z. B. ein fahles Grau, sei es an sich, sei es im Zusammenhange der Erscheinungen, zu geben pflegt, und nur die Lust zeigt sich als eine gesteigerte Freude, wie der Anblick von Farben sie gewährt. Bei jedem ferneren Wachsthum des Reizes scheinen mir beide, sowohl Lust als Schmerz, gemeinsam zu wachsen, aber offenbar in sehr ungleichen Verhältnissen. Im Anfange mag darum die Schönheit des Anblickes das Unangenehme der zweiten Empfindung missachten lassen; aber bald wird der Schmerz so gross, dass die Schönheit nicht mehr lockt, und die Begierde den Schmerz zu vermeiden allein uns beherrscht. Dann wird es geschehen, dass wir die Empfindung auch einfach als eine unangenehme bezeichnen, obwohl wir, so lange überhaupt eine Farbenerscheinung bleibt, dieselbe nie eine hässliche nennen werden. So dient das, was Wundt’s Ansicht am Meisten zu bestätigen schien, näher untersucht, am Meisten dazu, sie zu widerlegen. Aehnlich wie bei den Gefühlen der Gesichtsempfindungen verhält es sich bei denen der anderen Sinne. Hier ist es noch schwerer, die eine Empfindung von der anderen zu isoliren. Die Empfindungen beim Riechen z. B. sind nicht bloss eigentliche Gerüche; andere sind Folgen der Erregung von Gefühlsnerven, und wieder andere haben eine Beziehung zu den Lungen oder zum Magen, die z. B. bei den Erscheinungen, die wir als frische oder dumpfe, und wiederum bei denen, die wir als ekelhafte Gerüche zu bezeichnen pflegen, in Betracht kommen. Eine Mischung von angenehmen und unangenehmen Gefühlen wird also auch hier, das müssen wir schon von vorn herein mit der grössten Wahrscheinlichkeit vermuthen, statt eines wahrhaft indifferenten Empfindungszustandes zwischen Lust- und Unlustgefühlen in der Mitte stehen. Dass es von vorn herein nothwendig sei, ausser den von Gefühl begleiteten auch indifferente psychische Thätigkeiten anzunehmen, ist also nicht richtig. Sind wir aber auch im Stande den positiven Nachweis dafür zu erbringen, dass diese dritte Art inneren Bewusstseins den früher betrachteten an Allgemeinheit nicht nachsteht? Natürlich werden wir hier eines früher eingeschlagenen Weges uns erinnern. Wir haben die Allgemeinheit begleitender Vorstellungen aus dem functionellen Verhältnisse zwischen ihrer Intensität und der Intensität der begleiteten Erscheinung dargethan. Können wir vielleicht auf ähnliche Weise die Allgemeinheit begleitender Gefühle darthun? Es ist nicht schwer zu erkennen, dass dieses unmöglich ist. Wie bei einem Urtheile, so finden wir auch bei einem Gefühle eine zweifache Art von Stärke, von welchen die eine ihm mit der zu Grunde liegenden Vorstellung gemein, die andere aber eigen­thümlich

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ist. Bei der inneren Wahrnehmung fanden wir, dass nur die erste Art von Intensität Function einer Intensität des wahrgenommenen Actes war; die ihr eigenthümliche Stärke, die Stärke der Ueberzeugung, war dieses nicht und zeigte sich überhaupt unveränderlich. Bei dem inneren Gefühle ist es anders. Es ist sicher, – und in den vorausgegangenen Erörterungen wurde es bereits berührt, – dass auch die dem Gefühl eigenthümliche Stärke, der Grad des Gefallens und Missfallens, abhängig ist von der Stärke des angenehmen oder unangenehmen Phänomens. Aber während die Intensität, welche dem inneren Gefühle mit der ihm zu Grunde liegenden Vorstellung gemein ist, ganz in derselben Weise wie die entsprechende Intensität der inneren Wahrnehmung mit einer Intensität des gefühlten Actes immer auf gleicher Höhe steht, gilt von der dem inneren Gefühle eigenthümlichen Stärke nicht dasselbe; ja es zeigt sich, dass dieselbe psychische Erscheinung, z. B. dieselbe Empfindung, unter verschiedenen Umständen ganz verschieden gefühlt wird, dass sie bald mehr, bald minder gefällt, und sogar bald Lust, bald Unlust erregt. Wenn wir die Tonleiter aufwärts oder abwärts spielen, so hören wir dieselben Töne, aber mit anderen Gefühlen, und noch deutlicher und mannigfaltiger werden die Unterschiede bei anderen Anordnungen der Töne. Passt der Ton in den Zusammenhang der Melodie, so erscheint er angenehmer; passt er nicht, so wird er, wie sonor er sonst sein möge, von einem unangenehmen Gefühle begleitet sein. Wird eine Melodie in einer anderen Tonart gespielt, so gibt jeder Ton ein ganz ähnliches Gefühl, wie derjenige, den er zu ersetzen dient, und ein ganz anderes Gefühl als dasjenige, welches an ihn, als er damals erschien, geknüpft war. Auf dem Gebiete der Farben zeigt sich dasselbe. Es gibt solche, von denen wir sagen, dass sie wohl zusammen stimmen, und es gibt andere, bei denen das Gegentheil der Fall ist. Während die ersteren, nach- oder nebeneinander gesehen, ganz besonders angenehm werden, beleidigen die letzteren, in gleicher Weise in Verbindung gebracht, unser Auge. Wir werden später von den Erscheinungen des simultanen Contrastes sprechen, bei welchen eine Farbe, obwohl in ihrer Erscheinung ganz unverändert, für eine andere gehalten wird. In diesem Falle ist auch das merkwürdig, dass das Gefühl, welches die Empfindung der Farbe begleitet, verändert ist. Aehnlich wie bei der Uebertragung einer Melodie in eine andere Tonart mit jedem einzelnen Ton ein dem Gefühle des Tones, der früher die betreffende Stelle einnahm, verwandtes Gefühl verknüpft wird, finden wir hier, dass die Farbe, welche man mit einer anderen Farbe verwechselt, ein dem Gefühl, welches diese gewöhnlich erweckt, verwandtes Gefühl mit sich führt. Hält man z. B. grau für rosenroth oder grün, so erscheint es ausserordentlich verschönert und erhält ganz den

Capitel 3. Weitere Betrachtungen über das inneren Bewusstsein. 173

besonderen Reiz, welcher die betreffende Farbenerscheinung auszeichnet. So viel ist also einleuchtend, dass, wie auch immer eine Abhängigkeit der Intensität des begleitenden Gefühles von der Intensität der begleiteten psychischen Erscheinung nicht geleugnet werden kann, diese Intensität doch nicht der einzige Factor ist, von dem sie abhängt. Es kommen noch viele andere Mitbedingungen in Betracht, von welchen einige noch ganz unbekannt sein mögen, andere hinsichtlich der Grösse ihres Einflusses noch nicht genau bemessen werden können. Wir sehen also wohl, dass auf diesem Weg ein Beweis für die Allgemeinheit begleitender Gefühle unmöglich zu erbringen ist. Somit sehen wir uns auf die einfache Erfahrung hingewiesen; denn dieser Weg, der, als es sich um die innere Vorstellung und innere Wahrnehmung handelte, uns nicht offen war, ist durch die damaligen Erörterungen uns gebahnt. Als es noch nicht fest stand, dass jeder psychische Act von uns wahrgenommen werde, konnten wir durch einfache Induction keine Sicherheit darüber gewinnen, ob diese oder jene Weise des Bewusstseins allgemein unsere psychischen Thätigkeiten begleite. Ja es wäre eine offenbare Lächerlichkeit gewesen, danach zu forschen, ob im Kreise unserer inneren Wahrnehmung kein Act, der nicht innerlich wahrgenommen werde, uns begegne. Jetzt aber wissen wir, dass, was von psychischen Thätigkeiten in uns ist, auch in das Bereich unserer Wahrnehmung fällt, und wir können mit allem Fug die Frage aufstellen: zeigt uns die innere Wahrnehmung nur Thätigkeiten, die mit einem inneren Gefühle verknüpft sind, oder zeigt sie uns auch einen Fall der Ausnahme? Ein so ausgezeichneter Psychologe wie Lotze hat keinen gefunden, und mit dem seinigen verbinden sich, wie wir sahen, hier noch andere bedeutende Namen. Ja wenn wir die Aussagen von Wundt beachten, so sehen wir deutlich, dass auch er keine psychische Thätigkeit ohne begleitendes Gefühl gefunden hat. Vielmehr ist er nur deductiv zu der Ueberzeugung gelangt, dass es auch Ausnahmen geben müsse. Ist es uns gelungen zu zeigen, dass diese Deduction nichts weniger als auf einer sicheren Grundlage beruht, so dürfen wir erwarten, dass auch von dieser Seite die Annahme der Allgemeinheit begleitender Gefühle statt des Widerspruchs die willkommene Unterstützung durch ein neues und werthvolles Zeugniss finden werde. §. 7.   Fassen wir, indem wir auf die Untersuchungen dieses so wie des vorigen Capitels zurückblicken, ihr Ergebniss in kurzen Worten zusammen. Jeder psychische Act ist bewusst; ein Bewusstsein von ihm ist in ihm selbst gegeben. Jeder auch noch so einfache psychische Act hat darum ein dop-

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peltes Object, ein primäres und ein secundäres. Der einfachste Act, in welchem wir hören, z. B. hat als primäres Object den Ton, als secundäres Object aber sich selbst, das psychische Phänomen, in welchem der Ton gehört wird. Von diesem zweiten Gegenstande ist er in dreifacher Weise ein Bewusstsein. Er stellt ihn vor, er erkennt und fühlt ihn. Und somit hat jeder, auch der einfachste psychische Act eine vierfache Seite, von welcher er betrachtet werden kann. Er kann betrachtet werden als Vorstellung seines primären Objectes, wie z. B. der Act, in welchem ein Ton empfunden wird, als Hören; er kann aber auch betrachtet werden als Vorstellung seiner selbst, als Erkenntniss seiner selbst und als Gefühl seiner selbst. Und in der Gesammtheit dieser vier Beziehungen ist er Gegenstand sowohl seiner Selbstvorstellung, als auch seiner Selbsterkenntniss, als auch so zu sagen seines Selbstgefühles, so dass ohne weitere Verwickelung und Vervielfältigung nicht bloss die Selbstvorstellung vorgestellt, sondern auch die Selbsterkenntniss sowohl vorgestellt als erkannt, und das Selbstgefühl sowohl vorgestellt, als erkannt, als gefühlt ist. Die Intensität der Vorstellung des secundären Objectes ist der Intensität der Vorstellung des primären Objectes in jedem Falle gleich, und dasselbe gilt von der Intensität, die dem begleitenden Urtheile und dem begleitenden Gefühle zukommen, insofern eine Vorstellung ihre Grundlage ist. Die der Erkenntniss des secundären Objectes eigenthümliche Intensität, die Stärke der Ueberzeugung, mit der es wahrgenommen wird, ist unveränderlich, sie ist immer die denkbar höchste. Die dem begleitenden Gefühle eigenthümliche Intensität dagegen, die Grösse des Gefallens oder Missfallens, zeigt nicht eine ähnliche Regelmässigkeit. Sie ist weder constant, wie die Stärke der Ueberzeugung in der inneren Wahrnehmung, noch auch wächst sie und mindert sich, indem die Intensität der Vorstellung zu- und abnimmt, in einem regelmässigen Verhältnisse zu ihr. Sie hängt von ihr, aber zugleich auch von einer Mannigfaltigkeit anderer Factoren ab, die, so weit wir von ihrem Einflusse Rechenschaft geben können, den Gegenstand einer späteren Untersuchung bilden werden. Ursprüngliche Verschiedenheit der Anlagen, Unterschiede erworbener Dispositionen, Unterschiede des Zusammenhanges mit anderen Phänomenen wirken hier mit der Intensität und Qualität des primären Objectes, so wie mit der Verschiedenheit der Beziehungen zu ihm zusammen, um dieses Gebiet zu einem der vielgestaltigsten und wechselreichsten zu machen.

Viertes Capitel. Von der Einheit des Bewusstseins. §. 1.   Unsere Untersuchung hat ergeben, dass, wo immer eine Seelenthätigkeit besteht, eine gewisse Mannigfaltigkeit und Verwickelung vorhanden ist. Selbst in dem einfachsten Seelenzustande ist ein doppelter Gegenstand immanent gegenwärtig, und der eine zum Mindesten ist mehrfach bewusst; er ist nicht bloss Gegenstand einer Vorstellung, sondern auch eines Urtheils und Gefühles. Aber der Mangel an Einfachheit war nicht ein Mangel an Einheit. Das Bewusstsein vom primären und das vom secundären Objecte waren nicht jedes ein Phänomen für sich, sondern sie waren Theilphänomene ein und desselben einheitlichen Phänomens; und eben so wenig hob die mehrfache Weise, in welcher das secundäre Object bewusst war, die Einheit des psychischen Actes auf. Wir fassten sie und mussten sie fassen als Theile eines einheitlichen wirklichen Seins. In Wahrheit kommt ein so wenig zusammengesetzter Zustand wohl niemals vor. Und häufig geschieht es, dass eine nicht unbedeutende Zahl von Gegenständen uns gleichzeitig vorschwebt, zu welchen wir in sehr mannigfache Beziehungen des Bewusstseins treten. Es bleibt die Frage, ob es auch bei einem solchen grösseren Reichthume psychischer Erscheinungen immer noch eine reale Einheit sei, die alle umfasse, ob auch sie alle als Theilphänomene zu einem reell einheitlichen Ganzen gehören, oder ob wir es hier mit einer Vielheit von Dingen zu thun haben, so dass die Gesammtheit des Seelenzustandes als ein Collectiv, als eine Gruppe von Phänomenen zu betrachten sei, deren jedes ein Ding für sich ist oder einem besonderen Dinge zugehört. Ich glaube, die Fragestellung ist klar. Dennoch will ich, da Missverständnisse hier sehr gewöhnlich sind, es nicht unterlassen, sie durch einige kurze Bemerkungen zu erläutern. Es ist unmöglich, dass etwas zugleich ein wirkliches Ding und eine Vielheit wirklicher Dinge sei. Das hat schon Aristoteles ausgesprochen179, und seit seiner Zeit ist es wiederholt und mit Recht geltend gemacht worden. Wir können allerdings eine Vielheit von Dingen zusammenfassen, und ihre Summe mit einem Namen bezeichnen, wie wenn 179 Metaph. Ζ, 16.

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wir sagen „Heerde“ oder „Pflanzenreich“. Aber desshalb sind die zusammengefassten vielen Dinge nicht ein Ding; das, was der Namen bezeichnet, ist kein Ding, sondern ein Collectiv. Ein solches Collectiv ist auch eine Stadt, ja jedes einzelne Haus einer Stadt und jedes Zimmer in dem Hause und der Boden eines jeden Zimmers, der aus vielen Dielen zusammengefügt ist. Und vielleicht ist auch die Diele nur ein Collectiv, das aus vielen Dingen gebildet ist, mögen nun diese Dinge Punkte oder unsichtbare Atome, oder mögen sie grössere Einheiten sein; – denn dies zu untersuchen ist hier nicht unsere Sache und nur das ist sicher, dass es ohne irgend welche sachliche Einheiten auch keine Vielheiten, ohne Dinge keine Collective geben würde180. Aber wenn es klar und von vorn herein einleuchtend ist, dass ein Ding nie eine Vielheit von Dingen sein kann, so ist damit nicht gesagt, dass nicht irgend welche Vielheit an ihm unterschieden werden könne. Einheit und Einfachheit – das hat wiederum schon Aristoteles mit Nachdruck geltend gemacht181 – sind Begriffe, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen. Wenn ein wirkliches Ding nicht eine Mehrheit von wirklichen Dingen, so kann es doch eine Mehrheit von Theilen enthalten, und in jenen beziehungsweise wenig verwickelten Seelenzuständen, von welchen wir im vorigen Capitel handelten, liegt uns ein Beispiel dafür deutlich vor. Das, wozu das primäre und das mehrfache secundäre Bewusstsein gemeinsam gehörten, war ein Ding, aber selbstverständlich kein völlig einfaches Ding. Natürlich können wir eben so, wie wir eine Mehrheit von Dingen zusammenfassend mit einem Namen belegen, auch von den Theilen eines Dinges jeden wie etwas für sich betrachten und benennen. Aber wie dort das Benannte kein Ding, sondern ein blosses Collectiv war, so wird auch hier das Benannte kein Ding sein, und wir können es, in Ermangelung eines gemeinüblichen, unzweideutigen Namens (da der Namen „Theil“ auch wirklichen Dingen in Bezug auf Collective zukommt), als ein Divisiv bezeichnen. Unsere oben gestellte Frage können wir demnach in kürzeren Worten also wiederholen: Haben wir bei verwickelteren Seelenzuständen ein Collectiv von Dingen anzunehmen, oder gehört, wie bei den einfachsten, so auch bei den am Meisten zusammengesetzten Zuständen die Gesammtheit der psychischen Erscheinungen einem Dinge an, in welchem wir nur Divisive als Theile zu unterscheiden vermögen? 180 Dass der Umfang, den wir dem Begriffe „Collectiv“ geben, ein anderer ist als der, welchen er bei den Grammatikern hat, bedarf kaum der Bemerkung, und ebenso leuchtet der Grund, wesshalb wir es thun, von selber ein. 181 Metaph. Λ, 7.

Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins.

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§. 2.   Statt des beziehungsweise einfachen Zustandes bei der Vorstellung eines Tones oder einer Farbe ist eine doppelte Art von Verwickelung möglich. Einmal kann dasselbe primäre Object mehrfach bewusst sein, wie z. B. wenn wir etwas nicht bloss vorstellen, sondern auch begehren. Und zweitens kann auch dadurch eine grössere Verwickelung entstehen, dass unsere Seelen­thä­tig­keit auf mehrere primäre Objecte sich richtet, wie z. B. wenn wir zugleich sehen und hören. Die beiden Arten von Verwickelung können auch zusammen eintreten, und dann wird ein noch mehr zusammengesetzter Seelenzustand sich ergeben. Es ist aber klar, dass die Entscheidung der Fälle, in welchen je eine Weise der Verwickelung vorkommt, auch über diesen Fall mit entscheidet. Wenn keine der beiden Weisen der Verwickelung die reale Einheit aufhebt, so werden es auch beide zusammen nicht thun, und die psychischen Phänomene, die Jemand gleichzeitig in sich hat, werden immer eine solche Einheit bilden. Die Annahme hat ihre Schwierigkeiten. Wären unsere gleichzeitigen psychischen Acte nie etwas anderes als Divisive ein und derselben einheitlichen Sache, wie könnte die eine der anderen gegenüber selbständig sein? Und doch ist dieses der Fall; weder in ihrem Entstehen noch in ihrem Vergehen zeigen sie sich aneinander gebunden. Von Sehen und Hören tritt bald dieses, bald jenes ohne das andere auf, und wenn sie einmal gleichzeitig bestanden, so schwindet vielleicht das eine, während das andere fortbesteht. In diesem Falle der Verwickelung zeigt sich eine gegenseitige, in dem anderen wenigstens eine einseitige Unabhängigkeit. Ich kann etwas nur begehren, wann und so lange ich es vorstelle; ich kann es aber vorstellen ohne es zugleich zu begehren. So hatte ich es vielleicht schon eine Zeit lang vorgestellt, als ich erst anfing, es zu begehren, und meine Begierde danach kann aufgehört oder auch in ihr Gegentheil sich verwandelt haben, während meine Vorstellung immer noch darauf gerichtet bleibt. Ferner, wenn wir das Verhältniss zwischen dem gleichzeitigen Sehen und Hören mit jenem früher betrachteten Verhältnisse zwischen den mehrfachen Formen inneren Bewusstseins vergleichen, so zeigt sich sofort und unverkennbar, dass das letztere ein ungleich innigeres Verhältniss war. Zwischen Sehen und Hören zeigt sich nichts von einer wechselseitigen Verwebung wie zwischen den drei Momenten des inneren Bewusstseins, von denen jedes auf jedes als seinen Gegenstand sich bezog. Würden nun wie die drei Arten des inneren Bewusstseins auch Sehen und Hören von derselben realen Einheit umfasst, so sollte man im Gegentheil glauben, dass ein Unterschied in der Innigkeit der Verbindung nicht mehr möglich wäre. Denn mehr eins als das,

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was wirklich und der Sache nach eins ist, kann etwas offenbar nicht sein. Demnach scheint die Gesammtheit eines verwickelteren Seelenzustandes nothwendig als ein Collectiv gedacht werden zu müssen. Nichtsdestoweniger ist Manches, was dafür spricht, dass auch in diesen Fällen an die Stelle der Einheit der Realität keineswegs eine reale Vielheit trete. Und namentlich scheint es unmöglich, dass die Verwickelung, welche entsteht, wenn ein und dasselbe primäre Object in mehrfacher Weise bewusst ist, also z. B. wenn etwas zugleich vorgestellt und geliebt wird, collec­ ti­visch als eine Zusammensetzung aus mehreren Dingen begriffen werde. Dass etwas geliebt werde, was nicht vorgestellt wird, erscheint uns unmittelbar absurd; und mit Recht halten wir es für widersprechend, da, wie wir früher dargethan haben, jeder anderen Weise des Bewusstseins ein Vorstellen zu Grunde liegt und in ihm beschlossen ist182. Wären dieses Vorstellen und das Lieben jedes ein Act, jedes ein Ding für sich und nur etwa das eine die Ursache des anderen, so wäre es denkbar, dass die Ursache durch eine andere ersetzt würde, und dass wir liebten, was uns in keiner Vorstellung erschiene. Es gehört also jedenfalls mit dem Lieben auch ein Vorstellen des geliebten Gegenstandes zu derselben sachlichen Einheit. Wollten wir nun trotzdem annehmen, dass die Vorstellung, weil sie oft bleibt, während die Liebe aufhört, ein Ding für sich sein müsse, so bliebe uns nichts übrig, als zu sagen, der Gegenstand sei, als wir ihn liebten, zweimal vorgestellt worden, was inconvenient und der Erfahrung entgegen ist. Aber auch bei einer gleichzeitigen Hinwendung zu mehreren primären Objecten, also z. B. bei gleichzeitigem Sehen und Hören fehlt es nicht an Gründen, die man für die Zugehörigkeit des einen und anderen Phänomens zu derselben realen Einheit anführen kann. Es geschieht, dass wir eine Farbe, die wir sehen, und einen Ton, den wir hören, mit einander vergleichen, ja wir thun dies so oft, als wir erkennen, dass sie zwei verschiedene Erscheinungen sind. Wie sollte diese Vorstellung ihrer Verschiedenheit denkbar sein, wenn von den Vostellungen der Farbe und des Tones jede einem anderen Dinge zugehörte? Sollten wir dem einen oder dem anderen oder beiden zusammen oder einem dritten Dinge die Vorstellung ihres Unterschiedes zuschreiben? Dem einen für sich allein offenbar so wenig als dem anderen, da jedem einer der beiden verglichenen Gegenstände fremd ist; und eben darum auch keinem dritten, wenn wir nicht in ihm die Vorstellungen der Farbe und des Tones wiederholt und vereinigt denken wollen. Also bei182 Buch II. Capitel I. §. 3.

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den zusammen? – Aber wer sähe nicht ein, dass auch dies eine lächerliche Behauptung wäre? Es wäre in der That, wie wenn Jemand sagte, dass zwar kein Blinder und kein Tauber Farben und Töne mit einander vergleichen könne, dass aber, wenn der eine höre und der andere sehe, beide zusammen ihr Verhältniss zu erkennen vermögen. Und warum erscheint uns dies so absurd? Darum, weil die vergleichende Erkenntniss eine wirkliche sachliche Einheit ist, wir aber, wenn wir Thätigkeiten des Blinden und Tauben zusammenfassen, immer nur ein Collectiv, niemals ein einheitliches wirkliches Ding gewinnen. Ob der Blinde und Taube einander fern oder einander nahe sind, das macht darum offenbar keinen Unterschied; und wenn sie bleibend zusammen Wohnung nähmen, ja wenn sie wie die Siamesischen Zwillinge, oder noch mehr als diese und wahrhaft untrennbar mit einander verwüchsen, es würde die Annahme nicht möglicher machen. Nur wenn in ein und derselben Realität Ton und Farbe gemeinsam vorgestellt sind, ist es denkbar, dass beide mit einander verglichen werden. Auch stellen wir nicht bloss Vergleiche zwischen verschiedenen primären Objecten an, sondern wir bringen sie auch sonst in unseren Gedanken und Wünschen in mannigfache Beziehungen. Wir ordnen Mittel zu Zwecken und spinnen umfassende Pläne aus. Alle diese Ordnungen und Combinationen würden, wenn wir die einzelnen Glieder unserer Gedanken auf eine Vielheit von Dingen ver­theil­ ten, in eine Vielheit oder vielmehr in ein Nichts sich auflösen. Schliesst nicht das Begehren nach dem Mittel das Verlangen nach dem Zwecke ein, und enthält darum mit der Vorstellung des Mittels auch die des Zweckes? Enthält nicht der einheitliche Act des Wählens nothwendig die Vorstellungen der Gegenstände der Wahl und der Motive, die für den einen oder anderen sprechen? – Das Alles ist so einleuchtend, dass es überflüssig wäre, auch nur mit einem Worte länger dabei zu verweilen. Dasselbe ergibt sich, wenn wir auf die innere Seite des Bewusstseins achten. Wenn einer etwas vorstellt und begehrt, oder wenn er zugleich mehrere primäre Objecte vorstellt, so erkennt er nicht bloss die eine und andere Thätigkeit, sondern auch die Gleichzeitigkeit beider. Wer eine Melodie hört, erkennt, dass er, während er den einen Ton als gegenwärtig, den anderen als vergangen vorstellt; wer erkennt, dass er sieht und hört, erkennt auch, dass er beides zugleich thut. Wenn nun die Wahrnehmung des Sehens in einem, die Wahrnehmung des Hörens in einem anderen Dinge sich findet, in welchem findet sich die Wahrnehmung ihrer Gleichzeitigkeit? Offenbar in keinem. Vielmehr sieht man deutlich, dass die innere Erkenntniss des einen mit der des anderen zu derselben realen Einheit gehören muss. Und wenn von

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der inneren Erkenntniss der Seelenthätigkeiten, dann gilt auf Grund unserer früheren Untersuchungen dasselbe auch für diese Thätigkeiten selbst. Es scheint also, als ob weder die eine noch die andere Weise der Verwickelung uns jemals abhalten dürfe, die Gesammtheit unserer psychischen Thätigkeiten als eine sachliche Einheit zu betrachten. Unstreitig ist die letzte Ansicht die richtige, und die dafür erbrachten Gründe können in keiner Weise widerlegt werden. Die entgegenstehenden aber verlieren ihre Kraft, wenn man den eigentlichen Fragepunkt sich klar macht. Nicht darum handelt es sich, ob die gleichzeitigen psychischen Thätigkeiten alle real identisch seien. Real identisch nennt man das, wovon das eine das andere ist, im Gegensatze zur begrifflichen Identität. So ist Jeder mit sich selbst real identisch. Verschiedene Menschen dagegen sind zwar als Menschen begrifflich identisch, real aber sind sie nicht identisch. Dabei ist es gleichgültig, ob das, was mit etwas real identisch genannt wird, ein Ding oder ein Divisiv oder ein Collectiv oder eine Privation ist oder dergleichen, wie z. B. wenn wir sagen, die Blindheit sei ein Mangel, eine Heerde sei eine Schaar gleichartiger Thiere. Um eine solche reale Identität handelt es sich, wie gesagt, in unserem Falle nicht, und es ist offenbar, dass sie nicht durchgehends zwischen unseren gleichzeitigen Seelenthätigkeiten besteht, ja dass sie nicht einmal zwischen jenen früher unterschiedenen mehrfachen Seiten der einfachsten psychischen Acte gefunden wird. Die Wahrnehmung des Hörens ist nicht das Gefühl des Hörens. Sie sind Divisive derselben Realität, aber sie sind desswegen nicht mit ihr und darum mit einander real identisch. So wenig ein wirkliches Ding, das mit anderen in einem Collective zusammengefasst wird, mit diesem Collective oder mit einem anderen Dinge, das zu ihm gehört, identisch ist – denn Niemand wird es einfallen zu sagen, das Heer sei ein Soldat, oder der eine Soldat sei der andere –: so wenig ist ein Divisiv, das ich als Theil an einem wirklichen Dinge unterscheide, mit diesem Dinge und in Folge dessen mit den anderen Divisiven, die man an ihm unterscheiden kann, identisch zu nennen. Es ist nie ein Divisiv mit einem davon verschiedenen real identisch, sonst wäre es nicht ein anderes, sondern dasselbe Divisiv; aber es gehört mit ihm gemeinsam zu einer Realität. Und diese gemeinsame Zugehörigkeit zu einem wirklichen Dinge ist die Einheit, von welcher in unserem Falle die Rede ist. Haben wir durch diese Betrachtung die Gefahr einer Verwechselung beseitigt, zu welcher ein von der Scholastik überkommener Sprachgebrauch sonst leicht veranlassen könnte, so ergibt sich uns sofort die Lösung der Gegenargumente.

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Mehr eins als das, was real eins ist, wurde gesagt, könne etwas nicht sein; wenn also alle gleichzeitigen psychischen Thätigkeiten eine reale Einheit umfasste, so könnte es nicht geschehen, dass die Innigkeit der Verbindung zwischen einigen unter ihnen von der Innigkeit der Verbindung, die zwischen anderen und namentlich zwischen den verschiedenen Weisen inneren Bewusstseins besteht, übertroffen würde. Hier liegt uns deutlich ein Beispiel jener Verwechselung, vor der wir warnten, vor Augen. Das Verhältniss der realen Identität ist nothwendig immer dasselbe, wo immer es in Wahrheit vorhanden ist, sei es dass ein Ding, sei es dass ein Collectiv oder ein Divisiv oder irgend etwas Anderes mit sich identisch genannt werde. Das eine ist nicht mehr mit sich selber identisch als das andere. Nicht so das Verhältniss der Theile, die zu einer realen Einheit gehören. Wenn es wirklich kleine einheitliche Dinge gibt, wie die, welche man Atome genannt hat, so besteht ein anderes Verhältniss zwischen den verschiedenen Eigenschaften dieser Atome und zwischen den verschiedenen quantitativen Theilen, die auch das unsichtbar kleine Körperchen noch als Divisive umfasst. Seine quantitativen Theile sollen von ihm nicht abgetrennt werden können, und auch manche seiner Eigenschaften sollen unverlierbar sein. Aber von anderen gilt offenbar nicht dasselbe, obwohl auch sie nicht als Dinge für sich zu betrachten sind. Es geht z. B. von der Ruhe zur Bewegung und von der Bewegung zur Ruhe über. Nichtsdestoweniger ist die Bewegung, wenn sie an ihm besteht, nicht ein Ding für sich, sonst wäre es denkbar, dass sie getrennt vom Atom fortbestände. Hiemit will ich in keiner Weise die Richtigkeit der atomistischen Theorie als gesichert voraussetzen und auf die Verhältnisse bei den Atomen als auf ein der Wirklichkeit entnommenes Beispiel mich berufen. Vielmehr ist nichts Anderes meine Absicht, als an einer beliebten Hypothese zu veranschaulichen, wie sich da, wo es sich um Theile handelt, die zu einem einzigen wirklichen Dinge gehören, ganz wohl eine mehrfache und bald innigere, bald minder innige Weise ihrer Verbindung denken lässt. So mag denn auch zwischen den verschiedenen Theilen, die wir an der Gesammtheit unseres Seelenzustandes unterscheiden, die Weise der Vereinigung sehr verschieden sein, obwohl alle als Divisive demselben einheitlichen Dinge zugehören. Inniger ist gewiss das Hören mit dem dreifachen Bewusstsein des Hörens als mit dem gleichzeitigen Sehen verbunden. Ja insofern die Vorstellung und Wahrnehmung des Hörens nur in Abhängigkeit vom Hören, das begleitende Gefühl aber auch aus anderen Gründen Veränderungen erleidet, könnte man sagen, dass selbst hier noch ein Unterschied von Innigkeit der Vereinigung bestehe. Ebenso könnte man behaupten, dass die Verbindung von zwei auf

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dasselbe primäre Object gerichteten Thätigkeiten, von denen die eine auf der anderen basirt, wie das Begehren auf dem entsprechenden Vorstellen, eine innigere als die Verbindung von Thätigkeiten sei, die auf verschiedene primäre Objecte gehen. Wiederum scheinen die gleichzeitigen Vorstellungen der Worte eines Satzes, den ich eben aussprechen hörte, inniger verbunden als die gleichzeitigen Empfindungen verschiedener Sinne und ähnlich liessen sich noch mancherlei Unterschiede der Innigkeit der Vereinigung gleichzeitiger Seelenthätigkeiten bezeichnen. Dass es solche Unterschiede gibt, ist in der That bemerkenswerth, und mag in vieler Hinsicht, wie namentlich in Bezug auf die Gesetze der Ideenassociation wichtig werden; einen triftigen Einwand dagegen, dass sie alle zu ein und derselben realen Einheit gehören, kann man aber, wie wir sehen, nicht daraus entnehmen. Das zweite unter den Argumenten gegen die reale Einheit verwickelterer Seelenzustände ist somit erledigt. Aber auch das erste, welches sich auf das unabhängige Auftreten und Fortbestehen gewisser Seelenthätigkeiten stützt, ist einschliesslich bereits abgethan. Was real identisch ist, kann allerdings keine Lostrennung erfahren; denn das hiesse, dass etwas von sich selbst getrennt werde. Was aber als unterschiedener Theil mit anderen zu einem realen Ganzen gehört, das mag vielleicht ohne Widerspruch aufhören, während die anderen fortbestehen. §. 3.   Das Ergebniss unserer Untersuchung ist, dass die Gesammtheit unseres psychischen Zustandes, wie verwickelt er auch sein möge, immer eine reale Einheit bildet. Dieses ist die berühmte Thatsache der Einheit des Bewusst­ seins, welche man mit Recht als einen der wichtigsten Punkte der Psychologie zu betrachten pflegt. Häufig jedoch ist dieser Punkt missverstanden worden, sowohl von solchen, welche für ihn eintraten, als auch von solchen, die ihn bestritten. Ihnen gegenüber wollen wir in scharfen Bestimmungen sowohl nochmals aussprechen, was die Einheit des Bewusstseins ist, als auch erklären, was sie nicht ist. Die Einheit des Bewusstseins, so wie sie mit Evidenz aus dem, was wir innerlich wahrnehmen, zu erkennen ist, besteht darin, dass alle psychischen Phänomene, welche sich gleichzeitig in uns finden, mögen sie noch so verschieden sein, wie Sehen und Hören, Vorstellen, Urtheilen und Schliessen, Lieben und Hassen, Begehren und Fliehen u. s. f., wenn sie nur als zusammenbestehend innerlich wahrgenommen werden, sämmtlich zu einer einheitlichen Realität gehören; dass sie als Theilphänomene ein psychisches

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Phänomen ausmachen, wovon die Bestandtheile nicht verschiedene Dinge oder Theile verschiedener Dinge sind, sondern zu einer realen Einheit gehören. Dies ist, was zur Einheit des Bewusstseins nothwendig ist; ein Weiteres aber verlangt sie nicht. Vor Allem ist demnach, wenn wir die Einheit des Bewusstseins lehren, nicht das unsere Behauptung, dass niemals mit ein und derselben zusammenhängenden Körpermasse verschiedene Gruppen von psychischen Phänomenen verbunden sein können, welche nicht zu ein und derselben realen Einheit gehörig sind. Wir finden ein solches Verhältniss bei den Korallen, bei welchen zahllose Thierchen ein und demselben Stamme einverleibt erscheinen. Die gleichzeitigen psychischen Phänomene des einen und anderen Thierchens bilden keine reale Einheit. Aber es besteht auch keine innere Wahrnehmung, welche ihr gleichzeitiges Bestehen erfasst. So würde es denn auch keineswegs unseren Bestimmungen zuwiderlaufen, wenn innerhalb meines Leibes ausser mir noch ein anderes Ich gegenwärtig wäre, wie etwa, wenn er von einem jener bösen Geister besessen wäre, von deren Exorcismen die Schrift so Vieles berichtet. Eine reale Einheit zwischen dem Bewusstsein dieses Geistes und meinem Bewusstsein würde nicht bestehen; aber ich würde auch nicht seine psychischen Phänomene mit den meinigen direct in innerer Wahrnehmung erfassen. Dasselbe würde gelten, wenn mein Leib, ähnlich wie Leibnitz es sich dachte, in Wahrheit nichts anderes als eine Unzahl von Monaden, von reell verschiedenen Substanzen wäre, deren jeder ein gewisses psychisches Leben zukäme. Ueber mein Ich, die herrschende Monade, hinaus, würde meine innere Wahrnehmung nicht reichen. Mag eine solche Theorie also wahr oder falsch sein, jedenfalls streitet sie nicht gegen die Einheit des Bewusstseins, wie sie aus der inneren Wahrnehmung erkennbar ist. Ferner besagt die Einheit des Bewusstseins nicht, dass es, wie es in Wirklichkeit besteht, jede Vielheit von Theilen irgend welcher Art ausschliesst. Im Gegentheile haben wir schon gesehen, dass, was die innere Wahrnehmung uns zeigt, eine Mannigfaltigkeit von Thätigkeiten unterscheiden lässt; und die innere Wahrnehmung ist untrüglich. Herbart allerdings war der Meinung, dass jedes Ding einfach sein müsse. Nur ein Collectiv von Dingen könne eine Mehrheit von Theilen haben. Ein nicht-einfaches Ding sei ein Widerspruch, und an dem Gesetze des Widerspruches müsse unter allen Bedingungen festgehalten werden. Das Letzte ist sicher richtig, und wer das Gesetz des Widerspruches irgendwo und irgendwie in Zweifel ziehen wollte, der würde gegen dasjenige seine Argumente kehren, was, sicherer als jeder

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Beweis, durch unmittelbare Evidenz erkennbar ist. Aber ganz dasselbe gilt auch bezüglich der Thatsachen unserer inneren Wahrnehmung; und das war der grosse Fehler Herbart’s und vor ihm Kant’s, dass sie die Phänomene der inneren Wahrnehmung in derselben Weise wie die Erscheinungen, auf welche die sogenannte äussere Wahrnehmung sich richtete, als einen blossen Schein, der auf ein Sein hinweise183, nicht als etwas, was selbst wirklich sei, anerkannten und ihren Forschungen zu Grunde legten. Hätte Herbart dies gethan: so würde die Unvereinbarkeit seiner metaphysischen Lehren mit dem, was die innere Wahrnehmung zeigt, ihn hier und anderwärts auf gewisse Sprünge und Aequivocationen in seinen Beweisführungen aufmerksam gemacht haben; und es hätte nicht des Scharfsinnes eines Anderen bedurft, um zu zeigen, dass die von ihm geltend gemachten Widersprüche bloss scheinbare Widersprüche seien184. Wir also, indem wir die reale Einheit des Bewusstseins behaupten, behaupten damit keineswegs, dass es etwas völlig Einfaches sei; nur werden die Theile, welche es unterscheiden lässt, als blosse Divisive einer realen Einheit zu betrachten sein. Auch das wäre noch zu viel gesagt, dass die Einheit des Bewusstseins, wenn sie keine Einfachheit verlange, doch nur mit einer Mehrheit von Thei­len sich vertrage, die nicht von einander getrennt werden können. Im Gegentheile haben wir gesehen, wie die Erfahrung zeigt, dass von den Thätigkeiten, welche wir in uns finden, die eine oft aufhört, während die andere bleibt, die eine sich umwandelt, während die andere keinem Wechsel unterliegt. Weiter noch ist insbesondere hervorzuheben, dass in der Einheit des Bewusstseins auch nicht der Ausschluss einer Mehrheit quantitativer Theile und der Mangel jeder räumlichen Ausdehnung (oder eines Analogons der183 Nach Herbart ist das Sein, auf welches die psychischen Erscheinungen hinweisen, die Seele; d. i. ein einfaches reales Wesen mit einer einfachen Qualität, welches gegenüber anderen einfachen realen Wesen sich selbst erhält. Was uns als eine Vorstellung erscheint, ist in Wahrheit nichts als eine solche Selbsterhaltung, und daher ist in keiner Weise wegen der Mehrheit der Vorstellungen, die wir in uns wahrnehmen, eine Mehrheit von Eigenschaften und Theilen irgend einer Art in unserem wahrhaften Sein anzuerkennen. So wenigstens scheint die Lehre Herbart’s gefasst werden zu müssen, damit seine Metaphysik mit seiner Psychologie nicht in allzuschroffem Widerspruche stehe. Oder sollte Herbart vielleicht geglaubt haben, unsere Vorstellungen seien zwar nichts anderes als Selbsterhaltungen, unveränderter Fortbestand bei drohenden Störungen; sie seien aber dennoch das, als was sie uns erscheinen? Dann würde er hierin selbst entweder des offenbarsten Widerspruches sich schuldig gemacht oder das Zeugniss der inneren Wahrnehmung in der entschiedensten Weise verleugnet haben. 184 Vgl. Trendelenburg, Historische Beiträge zur Philosophie, II. S. 313 ff.

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selben) ausgesprochen liegt. Es ist gewiss, dass die innere Wahrnehmung uns keine Ausdehnung zeigt; aber etwas nicht zeigen und zeigen, dass etwas nicht ist, ist verschieden. Sonst würde ja auch jener Richter vernünftig geurtheilt haben, von dem man erzählt, er habe einen Angeklagten von dem Vergehen der Beleidigung freigesprochen, weil der Kläger nur fünf Zeugen, welche die Schimpfrede gehört, der Beklagte aber hundert Zeugen, die sie nicht gehört, zu stellen sich anheischig machte. Sicher ist allerdings, dass wir die psychischen Thätigkeiten, welche zu der Einheit unseres Bewusstseins gehören, nicht in jeder Weise quantitativ vertheilt denken können. Es ist nicht möglich, dass in einem quantitativen Theile das Sehen, in einem anderen die darauf bezügliche innere Vorstellung oder Wahrnehmung oder Lust an dem Sehen sich findet. Das widerspräche allem, was wir von der besonderen Innigkeit der Verbindung und Verwebung dieser Phänomene gehört haben. Auch das ist sicher, dass jedenfalls nicht in einem quantitativen Theile eine Vorstellung, in einem anderen ein auf das Vorgestellte gerichtetes Urtheilen oder Begehren sich findet. In diesem Falle würde nicht, wie die innere Wahrnehmung es uns zeigt, in den letzteren Thätigkeiten die Vorstellung als Grundlage beschlossen sein. Dagegen haben wir, bis jetzt wenigstens, keinen Grund, zu bestreiten, dass vielleicht eine Vorstellung ausgedehnt sei, oder verschiedene raumähnlich neben einander bestehen u. dgl. Wenn man einen Wurm zerschneidet, so gibt oft jedes Stück die unzweideutigsten Zeichen von willkürlicher Bewegung, also auch von Gefühl und Vorstellung. Manche, und schon Aristoteles, haben dies so erklärt, dass mit dem Thiere auch die Seele des Thieres so zu sagen zerschnitten worden sei. Es wäre demnach das einheitliche Bewusstsein des zerschnittenen Thieres nothwendig raumähnlich ausgedehnt gewesen. Andere wollten dies nicht gelten lassen, und nahmen lieber an, es hätten in dem Wurme schon vor der Zertheilung mehrere Seelen bestanden; verschiedene in verschiedenen Gliedern. In wie weit es diesen überhaupt gelungen sei‚ ihre Ansicht wahrscheinlich zu machen, wollen wir hier nicht untersuchen; erst an einer viel späteren Stelle wird diese Frage unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen185. Nur das sei hier bemerkt, dass, wenn man, wie man es wirklich gethan hat, gegen die ältere Theorie die Tatsache der Einheit des Bewusstseins anrufen wollte, diese, wenigstens für sich allein, nicht das Geringste gegen sie entscheiden würde. Wir haben gesehen, dass sie sich mit einer Mehrheit von Thätigkeiten vereinbaren lässt, die keineswegs unlöslich verbunden sind. Auch eine 185 Buch VI.

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Mehrheit von einander trennbarer quantitativer Theile würde ihr darum nicht widerstreiten. Wie die Einheit des Bewusstseins nicht die Mehrheit der Theile ausschliesst, so auch nicht ihre Mannigfaltigkeit. Nicht das ist nöthig, dass die Theile gleichartig sind, sondern nur, dass sie zu derselben realen Einheit gehören. So fanden wir bereits, dass die Gesammtheit unseres Bewusstseins nicht bloss eine Mehrheit psychischer Thätigkeiten, sondern auch Thätigkeiten sehr verschiedener Art umfasst, und nicht bloss Vorstellungen, sondern auch Gefühle. Einheit ist nicht so viel wie Einfachheit; Einheit ist aber auch nicht so viel wie Gleichtheiligkeit. Es stände darum bis jetzt wenigstens auch nichts im Wege, wenn Jemand, der sich die Gruppe unserer psychischen Phänomene ausgedehnt denken wollte, annähme, dass ihre quantitativen Theile ungleichartig seien, und sich auch in unseren physischen Phänomenen als ungleichartig zu erkennen geben. Dass diese oder eine ähnliche Annahme richtig sei, wollen wir nicht behaupten; wenn sie aber auch einer als richtig erwiese, so würde dadurch in keiner Weise gegen die von uns behauptete Einheit des Bewusstseins etwas entschieden sein. Sahen wir doch, wie sie jedenfalls eine Vielheit von Theilen unter mannigfachen Theilverhältnissen umfasst. Endlich gehört auch das nicht zur Einheit des Bewusstseins, dass die psychischen Phänomene, welche wir als unsere früheren Seelenthätigkeiten zu bezeichnen pflegen, Theile desselben wirklichen Dinges waren, welches unsere gegenwärtigen psychischen Erscheinungen umfasst. Eines allerdings ist ausser Zweifel. Wie die innere Wahrnehmung uns direct nur eine, real einheitliche Gruppe von psychischen Phänomenen zeigt, so zeigt uns auch das Gedächtniss für jeden Moment der Vergangenheit direct nicht mehr als eine solche Gruppe. Von anderen gleichzeitigen psychischen Phänomenen gibt es uns nur etwa indirect Kenntniss, indem es uns zeigt, wie innerhalb jener Gruppe eine Erkenntnis von ihnen bestand, ähnlich, wie in der Gruppe, welche die innere Wahrnehmung uns zeigt, der Glauben an das Bestehen anderer Gruppen enthalten sein kann. So zeigt uns denn das Gedächtniss direct nicht mehr als eine zeitlich fortlaufende Reihe von Gruppen, von denen jede eine reale Einheit war und diese Reihe bildet ein Continuum, welches nur hie und da durch eine Lücke unterbrochen wird. Bei längerem Besinnen gelingt es uns zuweilen, auch solche Lücken auszufüllen. In der Continuität der Reihe liegt zugleich ausgesprochen, dass die einander folgenden Gruppen meistentheils eine Verwandtschaft zeigen; sei es nun eine völlige Gleichheit bei bloss zeitlichem Unterschiede, oder eine durch infinitesimale Dif-

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ferenzen allmälig sich steigernde Verschiedenheit. Denn es ist undenkbar, dass eine continuirliche Veränderung in jedem Momente einen Sprung von endlicher Grösse oder einen Uebergang zu ganz heterogenen Erscheinungen enthielte. In Wahrheit pflegt sich aber auch nach den stärksten plötzlichen Veränderungen eine Verwandtschaft zwischen den früheren und späteren Gliedern kund zu geben. So zeigt uns das Gedächtniss in dem Gliede unmittelbar nach dem Eintreten einer grösseren Veränderung, ein Bewusstsein von dem Gegensatze des neuen zu dem vorausgegangenen Zustande, und auch sonst, man darf sagen durchgehends, Gedächtnissacte, die sich oft sogar auf entfernt vergangene Glieder der Reihe, aber niemals direct auf eine Gruppe zurück beziehen, die nicht zu der Reihe gehörig ist. Das abschliessende Glied der Reihe bildet die Gruppe, welche wir in der inneren Wahrnehmung unmittelbar erfassen. Wir pflegen diese Kette psychischer Erscheinungen als unser früheres Leben zu bezeichnen, und wie wir sagen: „ich sehe“, „ich höre“, „ich will“, wenn uns die innere Wahrnehmung ein Sehen, Hören oder Wollen zeigt, so sagen wir, wenn uns das Gedächtniss direct ein Sehen, Hören oder Wollen zeigt: „ich sah“, „ich hörte“, „ich wollte“. Wir betrachten also die Phänomene, welche es uns direct zeigt, gemeiniglich als Thätigkeiten, welche zu derselben realen Einheit gehörten, von welcher jetzt die durch innere Wahrnehmung erkannten Thätigkeiten umfasst werden. Die Neigung zu einer solchen Anschauung ist auch, nach dem Charakter, welchen diese Gedächtnisserscheinungen zeigen, und welchen wir in einigen seiner wesentlichsten Züge schilderten, sehr begreiflich. Allein, dass es einleuchtend sei, dass dieselbe reale Einheit, welche unsere gegenwärtigen psychischen Phänomene umfasst, sich wirklich früher auf diejenigen, welche wir „unsere früheren“ zu nennen pflegen, mit erstreckt habe, können wir desshalb noch nicht behaupten. Und auch von den Beweisen, durch welche wir die reale Einheit der gegenwärtigen Phänomene dargethan haben, ist keiner darauf anwendbar. Unsere gegenwärtigen Acte der Erinnerung allerdings müssen zu derselben Realität wie unsere übrigen gegenwärtigen psychischen Acte gehören. Aber der Inhalt eines Erinnerungsactes ist nicht der Erinnerungsact. Und wer bürgt uns dafür, dass die Erinnerung und der Inhalt der Erinnerung, wie nicht identisch, so auch nicht derselben realen Einheit zuzurechnen sind? Wenn eine Erkenntniss, welche uns das Gedächtniss gibt, unmittelbar evident wäre, so könnten wir dies ähnlich wie bei der inneren Wahrnehmung folgern. Aber das Gedächtniss ist bekanntlich nicht evident, ja sogar mannigfachen Täuschungen unterworfen. Es bleibt also zunächst eine offene Frage, ob der Fortbestand des Ich das Beharren ein

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und desselben einheitlichen Dinges oder etwa eine Aufeinanderfolge verschiedener Dinge sei, von welchen nur das eine an das andere sich anschliesst und so zu sagen an seine Stelle tritt. Es würde darum z. B. unseren Auseinandersetzungen nicht widerstreiten, wenn einer glaubte, dass das Ich ein körperliches Organ sei, welches fortwährendem Stoffwechsel unterliegt, wenn er nur annimmt, dass die Eindrücke, die es erfahre, auf die Weise, in welcher es sich erneuere, von Einfluss seien, dass also, ähnlich wie die Wunde die Narbe hinterlässt, auch das frühere psychische Erlebniss nachwirkend eine Spur von sich und in ihr die Möglichkeit einer Erinnerung daran vererbe. Die Einheit des Ich in seinem früheren und späteren Bestande wäre dann keine andere als die eines Flusses, in welchem die eine Woge der anderen Woge folgt und ihre Bewegung nachbildet. Nur der atomistischen Hypothese, welche jedes Organ als eine Vielheit von Dingen ansieht, dürfte Jemand, der ein Organ als Träger des Bewusstseins betrachten wollte, sich natürlich nicht anschliessen, sondern nur etwa so wie Du Bois-Reymond in seinem Vortrage vor der Versammlung der Naturforscher in Leipzig ihr als einer Art von regulativem Princip bei Forschungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete einen Werth zuerkennen186. §.  4.   Die Behauptung der Einheit des Bewusstseins, wie wir sie hier umgrenzten, hat einen bescheideneren Inhalt als den, welchen man ihr häufig gegeben hat. Dafür ist sie aber durch die vorausgegangenen Erörterungen wirklich und vollkommen erwiesen und zeigt sich gegen jeden Einwand geschützt, obwohl nicht bloss die früher betrachteten, sondern noch andere Gründe gegen sie geltend gemacht werden. C. Ludwig in seinem Lehrbuche der Physiologie erklärt, dass der realen Einheit unserer psychischen Phänomene „eine ganz unlösbare“ Schwierigkeit entgegenstehe. „Wie wir schon wiederholt bemerkten“, sagt er, „liegen nirgends Gründe vor, die uns bestimmen konnten, eine wesentliche Verschiedenheit in den empfindenden und bewegenden Nervenröhren anzunehmen. Und wenn diese nicht besteht, woher soll denn die Verschiedenheit in der Resultirenden der Gegenwirkungen der gleichartigen Nerven und der gleichartigen Seele erläutert werden? – Diese Schwierigkeit mahnt uns, wenigstens daran zu denken, dass das, was man Seele nennt, ein sehr complicirtes Gebilde sei, dessen einzelne Theile in einer innigen Wechselbeziehung stehen, vermöge deren die Zustände eines Theiles sich dem Ganzen leicht mittheilen187.“ 186 Ueber die Grenzen der Naturerkenntniss. 1872. 187 Lehrbuch der Physiologie des Menschen, I. S. 606.

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Nehmen wir an, der Beweis, den Ludwig hier führt, sei schlagend und dränge mit Gewalt zu der Folgerung, bei welcher er endet, so würde doch die reale Einheit des Bewusstseins wie wir sie erklärten, keineswegs dadurch widerlegt sein. Wenn diese Einheit quantitative und ungleichartige Theile hätte und ein sehr complicirtes Gebilde wäre, so würde sie den Anforderungen von Ludwig Genüge leisten. Allerdings könnte einer auf Grund der Atomistik eine solche Annahme als unmöglich bestreiten. Aber die atomistische Hypothese, wie viel auch immer für sie sprechen möge, dürfte ihre Wahrscheinlichkeit nicht gegenüber der Evidenz der inneren Thatsachen geltend machen. Noch mehr. Ludwig spricht von einer Mittheilung der Zustände der einzelnen Theile an das Ganze, d. h. wohl an seine sämmtlichen übrigen Theile. Somit wird jeder Theil Zustände haben, wie die anderen Theile; also jeder wird sehen, hören u. s. f., wenn auch ein Theil zunächst durch den Lichtreiz, ein anderer durch den Reiz des Schalles erregt wird. Wenn nun auch das Ganze ein Collectiv und nur die Theile reale Einheiten wären, so würde doch jeder dieser Theile für sich allein eine Gruppe von psychischen Thätigkeiten, wie wir sie innerlich wahrnehmen, enthalten, und es wäre daher nicht nöthig, dass unsere innere Wahrnehmung über eine reale Einheit hinausreichte; ja nicht einmal wahrscheinlich wäre es, da sie uns sonst dieselbe Gruppe mehrmals zeigen würde. Somit wäre nach Ludwig das Verhältniss nur dieses, dass ausser unserem einheitlichen Bewusstsein noch andere, ihm völlig gleiche, in demselben Leibe beständen, was wiederum der Einheit des Bewusstseins, wie wir sie lehren, nicht widersprechen würde. Vielleicht ist aber auch das Argument selbst nicht so zwingend, wie Ludwig glaubt. – Man hat, sagt er, keine wesentliche Verschiedenheit in den Nervenröhren gefunden. Ist man desshalb sicher, dass keine vorhanden ist, die man noch nicht entdeckte? und kann man mit Zuverlässigkeit behaupten, dass Unterschiede, die in anderem Betracht unbedeutend erscheinen, nicht vielleicht in Bezug auf die Empfindungen „wesentlich“ sind? In neuester Zeit hat man behauptet, dass auch zwischen den Ganglien keine wesentlichen Unterschiede sich zeigten, und darum in dem Unterschiede der ­äusseren Organe den ganzen Grund der Unterschiede der Empfindungen sehen wollen188. Mag dies nun zulässig oder unzulässig sein, jedenfalls zeigt 188 Wundt, Physiol. Psychol. Cap. 5. S. 173 ff. Cap. 9. S. 345 ff. „Es ist“, sagt Wundt, „in hohem Grade wahrscheinlich, dass der Satz von der functionellen Indifferenz im selben Umfange, in welchem er in Bezug auf die Nervenfasern angenommen ist, auch auf die centralen Endigungen derselben ausgedehnt werden muss. Die

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es die Unsicherheit des Beweises. Denn, wenn es unzulässig ist, so zeigt es an einem Beispiele, wie uns physiologische Unterschiede entgehen oder unbedeutend erscheinen können, die nichtsdestoweniger einflussreich werden. Endlich wäre denkbar, dass die Verschiedenheit der centralen Gebilde, zu welchen die Empfindungsnerven führten, zwar wirklich die Unterschiede von Schall- und Farbe-Empfindungen bedingten, aber nur in der Weise, in welcher wir die Verursachung den Nerven selbst, wenn sie sich auffallend verschieden zeigten, zuschreiben würden, nämlich als Glieder in einer noch weiter führenden Kette. A. Lange hat, wie auch viele Andere, auf die Erscheinungen der Theilung, durch welche oft ein Thier in zwei Thiere zerlegt werden kann, als etwas mit der Einheit des Bewusstseins Unvereinbares hingewiesen, und ebenso auf die ihnen gegenüberstehende Verschmelzung zweier Thiere in eines. „Die Strah­ lenfüsschen“, sagt er, „eine Generationsfolge der Glockenthierchen (vorticella), nähern sich häufig einander, legen sich innig aneinander, und es entsteht an der Berührungsstelle zuerst Abplattung und dann vollständige Verschmelzung. Ein ähnlicher Copulationsprocess kommt bei den Gregarinen vor, und selbst bei einem Wurme, dem Diplozoon, fand Siebold, dass er durch Verschmelzung zweier Diporpen entsteht189.“ Wir haben schon bemerkt, dass die Theilungserscheinungen, wenn sie uns auch zwingen sollten, die Zerlegung einer Gruppe psychischer Phänomene in mehrere quantitative Theile anzunehmen, nichts gegen die Einheit des Bewusstseins beweisen würden, da in dieser weder die Einfachheit noch Untheilbarkeit behauptet wird. Aus demselben Grunde kann man auch die Verschmelzungserscheinungen nicht gegen sie geltend machen. Würde man Unterschiede, die an den letzteren gefunden werden, sind nicht grösser als diejenigen, welche die verschiedenen Nervengattungen darbieten; und der Erfahrung, dass verschiedenartige Nervenenden mit einander verheilt, und dann z. B. durch Reizung sensibler Fasern motorische Wirkungen ausgelöst werden können, treten die umfangreichen Stellvertretungen zwischen den centralen Endgebilden als nahehin gleichberechtigte Thatsachen zur Seite. Offenbar hat man bei dieser Verlegung in die Centraltheile nur den Kunstgriff gebraucht, den Sitz der specifischen Function in ein Gebiet zu verschieben, das noch hinreichend unbekannt war, um über dasselbe beliebige Behauptungen wagen zu können.“ (S. 347.) Wundt’s eigene Erklärung der Thatsachen enthält jedoch den Widerspruch, dass sie davon ausgeht, die physische Aehnlichkeit der Nerven (ja der Endgebilde) sei zu gross, als dass in ihrem Unterschiede der Grund der specifischen Function gesucht werden könnte, und damit endet, dass dennoch ein Unterschied der Nerven, nämlich ein durch Gewohnheit entstandener, der Grund der specifischen Function sei. 189 Gesch. d. Material. S. 409.

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diesen niederen Thieren Gedächtniss zuschreiben und annehmen, dass sich in den beiden durch Theilung entstandenen Thieren Erinnerungen aus dem Leben des zerfällten Thieres erhielten, so dass nun das gleiche Bewusstsein in zwei Qualitäten bestehe, so spräche auch dies nicht gegen die Einheit des Bewusstseins in unserem Sinne. Würden wir behauptet haben, dass die psychischen Thätigkeiten, die das Gedächtniss unmittelbar zeigt, immer zu derselben Realität wie diejenigen gehören, welche in der inneren Wahrnehmung erfasst werden, so kämen wir hier allerdings zu dem Widerspruche, dass von zwei Gruppen von Phänomenen jede zu derselben Realität gehörte, und dass sie doch zugleich als zwei verschiedene Realitäten zu begreifen wären. Aber unsere Behauptung beschränkte sich ja nur auf die Thätigkeiten der gegenwärtigen psychischen Gruppe. Somit kann man aus ihr jene widersprechenden Folgerungen nicht ziehen. Und wenn einer annähme, dass in dem durch Verschmelzung mehrerer Thiere entstandenen einheitlichen Thiere Erinnerungen aus einem doppelten Leben bestünden, so würde auch dies nicht der Einheit des Bewusstseins widerstreiten; denn das Gedächtniss würde dann zwar unmittelbar eine Mehrheit gleichzeitig bestehender realer psychischer Einheiten zeigen, aber der Gesichtskreis der inneren Wahrnehmung nie über die Grenzen einer realen Einheit sich erstrecken. Eigenthümlich ist es, dass Lange, wenn er einerseits behauptet, dass gewisse Thatsachen der Einheit des Bewusstseins widersprechen, andererseits anerkennt, dass eine Gruppe von psychischen Thätigkeiten, wie wir sie in uns finden, ohne reale Einheit undenkbar sei. So ergibt sich ihm hier ein Widerspruch, der an die Kant’schen Antinomien erinnert, und er löst ihn als ein ächter Schüler dieses Philosophen, indem er den einander widerstreitenden Erscheinungen keine andere als eine phänomenale Wahrheit zuerkennt. Damit kein Widerspruch zwischen Einheit und Vielheit existire, müssen wir nach ihm annehmen, dass weder Einheit noch Vielheit in Wirklichkeit bestehe, sondern dass beide Begriffe nur subjective Auffassungsweisen unseres Denkens seien. „Die einzige Rettung“, sagt er, „besteht darin, dass der Gegensatz von Vielheit und Einheit als eine Folge unserer Organisation gefasst wird, dass man annimmt, er sei in der Welt der Dinge an sich auf irgend eine uns unbekannte Weise gelöst oder vielmehr gar nicht vorhanden. Damit entgehen wir denn dem Innersten Grunde des Widerspruches, der überhaupt in der Annahme absoluter Einheiten besteht, die uns nirgends gegeben sind. Fassen wir alle Einheit als relativ“ (nämlich zu unserem Denken, und zwar zu diesem oder jenem besonderen Denkacte), „sehen wir in der Einheit nur die Zusammenfassung in unserem Denken, so haben wir damit

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zwar nicht das innerste Wesen der Dinge erfasst, wohl aber die Consequenz der wissenschaftlichen Betrachtung möglich gemacht.“ (Mit anderen Worten, wir können trotz der Widersprüche, die zu Tage getreten, getrost die Untersuchung weiter führen, indem wir sie als bloss phänomenale, in keiner Weise der Wirklichkeit zukommende Widersprüche betrachten.) „Die absolute Einheit des Selbstbewusstseins fährt zwar schlecht dabei, allein es ist kein Uebelstand, wenn eine Lieblingsvorstellung einiger Jahrtausende beseitigt wird190.“ Allerdings würde die Einheit des Bewusstseins schlecht dabei fahren, wenn auch den Erscheinungen der inneren Wahrnehmung nur phänomenale Wahrheit zukäme. Nicht einmal die Existenz eines Bewusstseins wäre ja dann gesichert. Aber wir haben schon wiederholt bemerkt, dass der Weg Kant’s, auf welchem Lange ihm hier folgt, ein Irrweg sei. Es ist geradezu ein Widerspruch, wenn man, wie Kant es thut, den inneren und äusseren Wahrnehmungen, beiden in gleicher Weise, bloss phänomenale Wahrheit zuerkennt. Denn die phänomenale Wahrheit der physischen Phänomene verlangt die reale Wahrheit von psychischen; wären die psychischen Phänomene nicht in Wirklichkeit, so wären physische wie psychische auch nicht einmal als Phänomene vorhanden. Auf diese Weise ist also der Widerspruch nicht zu beseitigen. Dagegen haben wir oben gesehen, wie die von Lange geltend gemachten Erscheinungen mit der Thatsache der Einheit des Bewusstseins, wenn man nur diese richtig versteht, ganz leicht in Einklang zu bringen sind. Lange betont noch eine Erscheinung mit besonderem Nachdrucke. „Die relative Einheit“, sagt er, „tritt bei den niederen Thieren besonders merkwürdig hervor bei jenen Polypen, welche einen gemeinsamen Stamm besitzen, an welchem durch Knospung eine Menge von Gebilden erscheint, die in gewissem Sinne selbständig, in anderer Hinsicht dagegen nur als Organe des ganzen Stammes zu betrachten sind. Man wird auf die Annahme geführt, dass bei diesen Wesen auch die Willensregungen theils allgemeiner, theils specieller Natur sind, dass die Empfindungen aller jener halb selbständigen Stämme in Rapport stehen und doch auch ihre besondere Wirkung haben. Vogt hat ganz Recht, wenn er den Streit um die Individualität dieser Wesen einen Streit um des Kaisers Bart nennt. ‚Es finden allmälige Uebergänge statt; die Individualisation nimmt nach und nach zu191.‘“ – Als reale Ein190 Ebend. S. 405. 191 Ebend. S. 409.

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heit, das ist wahr, lassen sich die psychischen Thätigkeiten in einem Polypenstamme nicht wohl begreifen. Aber sollten sie darum als ein Uebergang zwischen Einheit und Vielheit, als etwas, was nicht mehr eigentlich Eins und doch auch noch nicht Vieles ist, gefasst werden müssen? Ich sehe nicht ein, was uns hier zu der Annahme einer solchen widerspruchsvollen Mitte nöthigte und davon abhielte, geradezu eine Vielheit von realen psychischen Einheiten in dem Stamme anzuerkennen. Wenn Lange von diesen Polypen sagt, „die Willensregungen seien bei ihnen theils allgemeiner, theils specieller Natur“, so ist dies nur in dem Sinne etwa eine richtige Deutung der Phänomene, in welchem man auch bei einer Menge zu einer Stadt oder zu einem Volke gehöriger Menschen dasselbe sagen könnte. Jedes einzelne Bewusstsein ist in einer solchen Thiercolonie, wie Lotze treffend bemerkt, unabhängig von dem anderen in der Ausübung der spärlichen Aeusserungen lebendiger Regsamkeit, die ihnen möglich sind, und doch sind sie „durch ihre Verbindung unter einander gemeinsam manchen äusseren Einflüssen unterworfen192.“ Und diese gemeinsam erfahrenen Einflüsse mögen eine gleichzeitige Erregung gewisser miteinander übereinstimmender Begierden und Bethätigungen zur Folge haben. So also kommen wir nicht zu widersprechenden Begriffen, denen wir unser Vertrauen auf die innere Erfahrung und auf das, was wir nach sicherer Analogie aus ihr erschliessen, zum Opfer bringen müssten. Während Lange zugesteht, dass, wenn man die Erscheinungen, wie sie uns das innere Bewusstsein zeigt, als real anerkennen wollte, unsere psychischen Phänomene als wirkliche Einheit gefasst werden müssten, hat C. Ludwig dies geleugnet und die Argumente der Psychologen für die Einheit des Bewusstseins aus diesem Grunde für nichtig erklärt. Es ist vielleicht nicht überflüssig, wie zuvor den Angriff dieses bedeutenden Physiologen auf die Einheit des Bewusstseins, so jetzt auch seinen Angriff auf die Beweise dafür, so weit wir selbst sie für überzeugend erklärten, mit einigen Worten zu besprechen. Ludwig reproducirt dieselben in folgender Weise. Zu der Annahme, dass Empfindung, Willen und Gedankenbildung zu einer realen Einheit gehörten, „glaubt man“, sagt er, „sich berechtigt, weil das Bewusstsein sagt, dass dasselbe einfach die drei besonderen Functionen erfülle.“ Dies ist nicht sehr deutlich gesprochen; doch aus dem Folgenden scheint hervorzugehen, dass Ludwig sagen will, man führe für jene Annahme als Beweis an, dass dasselbe und eine Bewusstsein der drei besonderen Functionen sich bewusst sei. 192 Mikrokosmus I. S. 166.

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Denn, zur Kritik übergehend, fährt er also fort: „Diese Thatsache erscheint aber so lange als nichtssagend, als man nicht ermittelt hat, welche Stellung das Bewusstsein zu den drei Functionen einnimmt, indem sich denken liesse, dass sie in dasselbe fallen, ohne mit ihm identisch zu sein.“ Man kann – das ist offenbar der Sinn seiner Worte – aus dieser Thatsache nur dann schliessen, dass die drei Functionen zu einer realen Einheit gehören, wenn vorausgesetzt wird, dass sie, um vom Bewusstsein wahrgenommen zu werden, mit diesem zu einer realen Einheit gehören müssen. Denn dann gilt der Satz, zwei Dinge, die mit einem dritten identisch sind, sind unter sich identisch. Aber jene Voraussetzung, meint er, sei unberechtigt. Wird bei anderen Wahrnehmungen, z. B. bei denen des Gesichtssinnes, etwas wahrgenommen, was nicht zu derselben Realität wie die Wahrnehmung gehörig ist, warum sollte nicht Aehnliches auch bei den inneren Wahrnehmungen, nämlich den Wahrnehmungen der psychischen Functionen, der Fall sein können? Und er fügt bei: „Diese letztere Unterstellung erhält sogar aus den Traumerscheinungen einige Wahrscheinlichkeit, indem hier unsere eigenen Empfindungen und Vorstellungen uns als absolut äussere erscheinen, die wir z. B. fragen193.“ Denken wir an unsere frühere Erörterung zurück, so erkennen wir sofort, dass das Argument für die Einheit hier sehr unvollkommen vorgeführt wird. Davon z. B., dass dem Wollen nothwendig ein Vorstellen zu Grunde liege, so dass es ohne ein solches ganz undenkbar sei, ist hier gar nicht die Rede, und doch beweist gerade dieser Umstand recht schlagend die Vereinigung beider. Auch ist es eine unrichtige Darlegung der Sachlage, wenn Ludwig so spricht, als habe man ganz willkürlich die Annahme gemacht, dass die innere Wahrnehmung einer psychischen Thätigkeit mit ihr zu derselben realen Einheit gehöre. Wir sahen, wie sowohl vieles Andere als insbesondere der Umstand dieses verlangt, dass sonst die Evidenz der inneren Wahrnehmung unmöglich wäre. Der von Ludwig verlangte Nachweis, dass die psychische Function, die in innerem Bewusstsein wahrgenommen wird, mit diesem zu derselben realen Einheit gehören müsse, ist also bereits wirklich erbracht. Den Hinweis endlich auf die Traumerscheinungen, der es sogar wahrscheinlich machen soll, dass Empfindungen und Vorstellungen nicht zu derselben Realität mit dem auf sie bezüglichen Bewusstsein gehören, dürfen wir wohl als völlig verfehlt bezeichnen.

193 Physiol. d. Menschen I. S. 605 f.

Capitel 4. Von der Einheit des Bewusstseins.

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Vor Allem ist es gewiss ein sonderbarer Schluss, dass, weil unsere eigenen Empfindungen und Vorstellungen uns im Traume als äussere erscheinen, sie es wahrscheinlich auch sind. Denn mit demselben Rechte könnte einer auch weiter noch schliessen, dass, weil sie uns als Bäume, Häuser und Menschen erscheinen (die wir, wie Ludwig bemerkt, oft fragend anreden), sie wahrscheinlich auch Bäume, Häuser und Menschen seien. Darein pflegt man ja gerade das Unterscheidende des Traumes vom Wachen zu setzen, dass er uns Falsches vorspiegelt, und höchstens nur dann und wann auch etwas Wahres einmischt. Die Voraussetzung, auf welche der Schluss sich gründet, dass, wenn uns unsere Vorstellungen u. s. f. im Traume als etwas Aeusseres erscheinen, sie wahrscheinlich auch etwas Aeusseres seien, ist also im höchsten Grade unstatthaft. Aber nicht bloss der Obersatz, auch der Untersatz ist falsch. Es ist nicht richtig, dass unsere Vorstellungen und Empfindungen uns im Traume als „absolut äussere“ erscheinen, wenn anders man unter den Vorstellungen die Acte des Vorstellens, unter den Empfindungen die Acte des Empfindens versteht. Denn die Namen an und für sich gestatten allerdings einen Gebrauch in noch anderem Sinne, indem wir „Vorstellung“ nicht bloss das Vorstellen, sondern auch das Vorgestellte, „Empfindung“ nicht bloss das Empfinden, sondern auch das Empfundene nennen. In unserem Falle handelt es sich um unsere psychischen Thätigkeiten. Diese psychischen Thätigkeitn nun erscheinen uns im Traume wie im Wachen in gleicher Weise als innere, und in Bezug auf sie besteht auch im Traume keine Täuschung; denn es ist wahr, dass wir im Traume Vorstellungen von Farben und Tönen und mancherlei Gebilden haben; dass wir uns fürchten, erzürnen, freuen und anderen Gemüthsbewegungen unterliegen. Das aber, worauf sich diese psychischen Thätigkeiten als auf ihren Inhalt beziehen, und was uns in Wahrheit als Aeusseres erscheint, besteht in Wirklichkeit eben so wenig ausser uns als in uns, es ist ein blosser Schein; wie ja eigentlich auch die physischen Phänomene, die uns im Wachen erscheinen, ohne Wirklichkeit sind, die ihnen entspräche, obwohl man häufig das Gegentheil annimmt. Wir haben früher gesehen, wie die Psychologen, nachdem sie diese Existenz der scheinbaren Aussenwelt als irrig erkannt hatten, in Folge der Gewohnheit die Gegenstände der Empfindungen als etwas Wirkliches zu denken, die Empfindungsthätigkeit als diese Wirklichkeit betrachteten und sie selbst auf sich selbst gerichtet glaubten194. In einer etwas ähnlichen Weise ist, wie es scheint, Ludwig dazu gekommen, 194 Vgl. oben Buch II. Cap. 2. §. 5.

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die Empfindungs- und Vorstellungsacte, wie wir sie im Traume haben, für das zu nehmen, was uns in ihnen erscheine; und dabei mag die Aequivocation der Worte Vorstellung und Empfindung das ihrige dazu beigetragen haben, seinen Fehler ihm zu verdecken. Es könnte einer so argumentiren: Was uns im Traume als etwas Aeusseres erscheint, besteht nicht wirklich ausser uns; es besteht also bloss als von uns vorgestellt; es ist also nichts anderes als unsere Vorstellung und gehört wie unsere Vorstellungen überhaupt zu unseren psychischen Thätigkeiten; also erscheinen eigene psychische Thätigkeiten uns im Traume als etwas Aeusseres. Aber das Argument enthielte dann einen offenbaren Paralogismus der Aequivocation, indem das Wort „Vorstellung“ zuerst im Sinne des Vorgestellten, und dann im Sinne des Vorstellens genommen würde. Wir sehen demnach, wie Ludwig eben so wenig da glücklich ist, wo er den Beweis für die Einheit des Bewusstseins entkräften will, als er da, wo er ihr Gegentheil zu begründen suchte, erfolgreich war. In ähnlicher Weise, wie die Angriffe von Ludwig und Lange, gelingt es leicht, auch jeden anderen Versuch, der sich gegen diese Thatsache richtet, zurückzuweisen. Da die Fehler im Wesentlichen dieselben sind, wie die, welchen wir bei diesen bedeutenden Forschern begegneten: so wäre es in keiner Weise lohnend, wenn wir uns im Einzelnen bei ihnen aufhalten wollten. Die Thatsache der Einheit des Bewusstseins, wie wir sie erklärten, ist also als etwas unzweifelhaft Gesichertes zu betrachten195.

195 Wie von einem Bewusstsein, so spricht man auch von einer Einheit des Bewusstseins in mehrfachem Sinne; ja die Unterschiede der Bedeutung sind hier noch mannigfaltiger, indem nicht bloss die des Namens Bewusstsein variirt, sondern auch die Einheit zuweilen statt auf das Subject auf das Object bezogen wird. So verstehen Manche darunter die Thatsache, dass man gleichzeitig nur eine Gedankenreihe aufmerksam und consequent verfolgen, nur mit einer Sache wahrhaft sich beschäftigen kann. In dieser Bedeutung werden wir später von der Einheit des Bewusstseins handeln, da sie so gefasst mit den Gesetzen der Ideenassociation in engstem Zusammenhange steht.

Fünftes Capitel. Ueberblick über die vorzüglichsten Versuche einer Classification der psychischen Phänomene. §. 1.   Wir kommen zu einer Untersuchung, die nicht bloss an sich, sondern auch für alle folgenden von grosser Wichtigkeit ist. Denn die wissenschaftliche Betrachtung bedarf der Eintheilung und Ordnung, und diese dürfen nicht willkürlich gewählt werden. Sie sollen, so viel als möglich, natürlich sein und sind dieses dann, wenn sie einer möglichst natürlichen Classification ihres Gegenstandes entsprechen. Wie anderwärts, so werden auch in Bezug auf die psychischen Phänomene Haupteintheilungen und Untereintheilungen zu treffen sein. Zunächst aber wird es sich um die Bestimmung der allgemeinsten Classen handeln. Die ersten Classificationen, wie überhaupt so auch auf psychischem Gebiete, ergaben sich Hand in Hand mit der fortschreitenden Entwickelung der Sprache. Diese enthält allgemeinere wie minder allgemeine Ausdrücke für Phänomene des inneren Gebietes, und die frühesten Erzeugnisse der Dichtkunst beweisen, dass schon vor Beginn der griechischen Philosophie der Hauptsache nach dieselben Unterscheidungen gemacht waren, welche noch jetzt eine im Leben gangbare Bezeichnung finden. Bevor jedoch Sokrates zur Definition anregte, mit welcher die wissenschaftliche Classification auf ’s Innigste zusammenhängt, wurde von keinem Philosophen ein nennenswerther Versuch zu einer Grundeintheilung der psychischen Erscheinungen gemacht. Platon gebührt wohl das Verdienst, hier die Bahn gebrochen zu haben. Er unterschied drei Grundclassen der psychischen Phänomene, oder vielmehr, wie er sich ausdrückte, drei Theile der Seele, von denen jeder besondere Seelenthätigkeiten umschloss; nämlich den begierlichen, den zornmüthigen und den vernünftigen Seelentheil196. Diesen drei Theilen entsprachen, wie 196 Die griechischen Ausdrücke sind τὸ ἐπιθυμητικόν, τὸ θυμοειδές und τὸ λογιστικόν.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

wir schon gelegentlich bemerkten197, die drei Stände, welche Platon als die hauptsächlichsten im Staate unterschied: der Stand der Erwerbenden, welcher die Hirten, Ackerbauer, Handwerker, Kaufleute und andere umfasste, der Stand der Wächter oder Krieger und der Stand der Herrscher. Auch sollten sich nach denselben drei Seelentheilen und in Rücksicht auf ihr relatives Uebergewicht die drei hauptsächlichen Völkergruppen, die der verweichlichten, nach den Genüssen des Reichthums jagenden Südländer (Phönicier und Aegypter), die der tapferen aber rohen nördlichen Barbaren und die der bildungsliebenden Hellenen unterscheiden. Wie Platon seine Eintheilung bei der Bestimmung der wesentlichsten Unterschiede von Richtungen des Strebens als Anhalt benützte, so scheint er sie im Hinblicke auf solche Verschiedenheiten auch aufgestellt zu haben. Er fand in dem Menschen einen Kampf von Gegensätzen; einmal zwischen den Forderungen der Vernunft und den sinnlichen Trieben; dann aber auch zwischen den sinnlichen Trieben selbst; und hier schien ihm der Gegensatz von heftig aufbrausender Leidenschaft, die dem Schmerz und Tod entgegenstürmt, und weichlichem Hang zum Genusse, der vor jedem Schmerze sich zurückzieht, besonders auffallend und nicht minder gross als der Gegensatz zwischen vernünftigem und unvernünftigem Verlangen selbst. So glaubte er drei, auch ihrem Sitze nach verschiedene, Seelentheile anerkennen zu sollen. Der vernünftige Theil sollte im Haupte, der zornmüthige im Herzen, der begierliche im Unterleibe wohnen198; der erste jedoch so, dass er vom Leibe trennbar und unsterblich sei, und nur die beiden anderen an ihm haftend und in ihrem Bestehen an ihn gebunden. Auch hinsichtlich ihrer Verbreitung über einen engeren oder weiteren Kreis von lebenden Wesen glaubte Platon sie verschieden. Der vernünftige Theil sollte unter allem, was auf Erden lebt, nur dem Menschen zukommen, den zornmüthigen sollte der Mensch mit den Thieren, den begierlichen endlich sowohl mit ihnen als auch mit den Pflanzen gemein haben. 197 Buch I. Cap. 2. §. 7. 198 Schon Demokrit hatte geglaubt, das Denken habe im Gehirn, der Zorn im Herzen seinen Sitz. Die Begierde hatte er in die Leber verlegt. Dies wäre ein unbedeutender Unterschied von der späteren Platonischen Lehre. Aber nichts macht wahrscheinlich, dass Demokrit in diesen drei Theilen die Gesammtheit der Seelenthätigkeiten begreifen wollte; vielmehr verlangte der Zusammenhang seiner Ansichten, dass er jedes Organ mit besonderen Seelenthätigkeiten begabt dachte, und eben darauf scheint eine Stelle Plutarch’s hinzudeuten. (Plac. IV. 4. 3.) So können wir denn überhaupt nicht sagen, dass von Demokrit bereits ein Versuch zu einer Grundeintheilung der psychischen Phänomene gemacht worden sei.

Capitel 5. Die vorzüglichsten Classificationsversuche.

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Die Unvollkommenheit dieser Eintheilung ist leicht erkennbar. Ihre Wurzeln liegen einseitig auf ethischem Gebiete, und dem widerspricht es nicht, wenn ein Theil als der vernünftige bezeichnet wird, da Platon wie Sokrates die Tugend als ein Wissen betrachtete. Sobald man bestimmen will, welchem Theile diese oder jene einzelne Thätigkeit zuzuschreiben sei, kommt man in Verlegenheit. Die sinnliche Wahmehmung z. B. scheint sowohl dem begierlichen als zornmüthigen zugeschrieben werden zu müssen und an gewissen Stellen scheint Platon mit anderen Weisen der Erkenntniss auch sie dem vernünftigen Theile beizulegen199. Auch die Anwendungen, die Platon von der Eintheilung macht, und in deren vermeintem Gelingen er eine Bestärkung finden mochte, zeigen vielmehr auf ’s Neue ihre Schwäche. Es wird heutzutage kaum Jemand geneigt sein, mit Platon in den drei Ständen der Erwerbenden, Krieger und Herrscher die hauptsächlichen Berufsthätigkeiten, welche in der Gesellschaft sich auseinanderzweigen, in erschöpfender Weise dargestellt zu sehen. Weder die Kunst findet in ihr die gebührende Stelle, noch die Wissenschaft. Denn die Erfahrung zeigt zu deutlich die Verschiedenheit der Begabung für theoretische und praktische Leistungen, als dass wir in der Tüchtigkeit des wissenschaftlichen Denkers nicht eine ganz andere Art von Vollkommenheit als in der Tüchtigkeit des Herrschers anerkennen müssten; abgesehen davon, dass durch die Herrschaft eines Philosophen, die Platon als Ideal vorschwebte, die Freiheit der Wissenschaft, und somit ihr ungehemmter Fortschritt, am Allermeisten gefährdet sein würde. Nichtsdestoweniger lagen in der Platonischen Eintheilung die Keime für die Bestimmungen, welche bei Aristoteles ihre Stelle einnahmen, und welche, ungleich bedeutender als die Platon’s selbst, für Jahrtausende maassgebend geworden sind. §. 2.   Wir finden bei Aristoteles drei Grundeintheilungen der psychischen Phänomene, von welchen jedoch zwei, in ihrer Gliederung vollkommen sich deckend, als eine betrachtet werden können. Einmal unterschied er die Seelenerscheinungen, insofern er die einen für Thätigkeiten des Centralorgans, die anderen für immateriell hielt, also in Phänomene eines sterblichen und unsterblichen Seelentheiles. Dann unterschied er sie nach ihrer grösseren oder geringeren Verbreitung in allgemein animalische und eigenthümlich menschliche. Diese Eintheilung 199 Vgl. Zeller’s Bemerkungen in seiner Philosophie der Griechen, II, a. 2. Aufl. S. 540.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

erscheint bei ihm dreigliederig, indem Aristoteles vermöge seines weiteren Begriffes des Seelischen, wie wir schon früher hörten, auch die Pflanzen für beseelt erklärte. Er zählt darum einen vegetativen, sensitiven und intellecti­ ven Theil der Seele auf. Der erste, der die Phänomene der Ernährung, des Wachsthums und der Erzeugung in sich schliesst, soll allen irdischen lebenden Wesen, auch den Pflanzen, gemeinsam zukommen. Der zweite, der Sinn und Phantasie und andere verwandte Erscheinungen und mit ihnen die Affecte enthält, gilt ihm als der specifisch animalische. Den dritten endlich, welcher das höhere Denken und Wollen in sich begreift, glaubt er unter den irdischen lebenden Wesen dem Menschen ausschliesslich eigen­thüm­ lich. Aber in Folge der Beschränkung, welche der Begriff der psychischen Thätigkeit später erfuhr, fällt das erste der drei Glieder gänzlich ausserhalb ihres Bereiches. Die Seelenthätigkeiten im neueren Sinne des Wortes hat also Aristoteles vermöge dieser Eintheilung nur in die zwei Gruppen der allgemein animalischen und eigenthümlich menschlichen zerlegt. Diese Glieder fallen mit den Gliedern der ersten zusammen. Ihre Ordnung aber bestimmt der Grad der Allgemeinheit ihres Bestehens. Eine andere Haupteintheilung, die Aristoteles gibt, scheidet die psychischen Phänomene, – das Wort in unserem Sinne genommen200, – in Den­ ken und Begehren, νοῦς und ὄρεξις, im weitesten Sinne. Diese Eintheilung kreuzt sich bei ihm mit der vorigen, so weit sie für uns in Betracht kommt. Denn in der Classe des Denkens fasst Aristoteles mit den höchsten Verstandes­ bethätigungen, wie Abstraction, Bildung allgemeiner Urtheile und wissenschaftlicher Schlussfolgerung, auch Sinneswahrnehmung und Phantasie, Gedächtniss und erfahrungsmässige Erwartung zusammen. In der des Begehrens aber sind ebenso das höhere Verlangen und Streben wie der niedrigste Trieb, und mit ihnen alle Gefühle und Affecte, kurzum alles, was von psychischen Phänomenen der ersten Classe nicht einzuordnen ist, begriffen. Wenn wir untersuchen, was Aristoteles dazu geführt habe, vermöge dieser Eintheilung zu verbinden, was die frühere Eintheilung geschieden hatte: so erkennen wir leicht, dass ihn dabei eine gewisse Aehnlichkeit bestimmte, welche das sinnliche Vorstellen und Scheinen mit dem intellectuellen, begrifflichen Vorstellen und für-wahr-Halten und ebenso das niedere Begehren mit dem höheren Streben zeigt. Er fand hier und dort, um es mit einem Ausdrucke, den wir schon früher einmal den Scholastikern entlehnten, zu bezeichnen, die gleiche Weise der intentionalen Inexistenz. Und aus dem200 Vgl. De Anim. III, 9. Anf. 10. Anf.

Capitel 5. Die vorzüglichsten Classificationsversuche.

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selben Principe ergab sich dann auch die Trennung von Thätigkeiten, welche die frühere Eintheilung verbunden hatte, in verschiedene Classen. Denn die Beziehung auf den Gegenstand ist bei Denken und Begehren verschieden. Und darein eben setzte Aristoteles den Unterschied der beiden Classen. Nicht auf verschiedene Objecte glaubte er sie gerichtet, sondern auf dieselben Objecte in verschiedener Weise. Deutlich sagt er, sowohl in seinen Büchern von der Seele als in seiner Metaphysik, dass dasselbe Gegenstand des Denkens und Begehrens sei und, zuerst im Denkvermögen aufgenommen, dann das Begehren bewege201. Wie also bei der früheren Eintheilung die Verschiedenheit des Trägers der psychischen Phänomene so wie die Verbreitung über einen weiteren oder engeren Kreis psychisch begabter Wesen den Eintheilungsgrund bildete, so bildet ihn bei dieser der Unterschied in ihrer Beziehung auf den immanenten Gegenstand. Die Ordnung der Aufeinanderfolge der Glieder ist durch die relative Unabhängigkeit der Phänomene bestimmt202. Die Vorstellungen gehören zur ersten Classe; ein Vorstellen aber ist die nothwendige Vorbedingung eines jeden Begehrens. §. 3.   Im Mittelalter blieben die Aristotelischen Eintheilungen wesentlich in Kraft; ja bis in die neue Zeit hinein reicht ihr Einfluss. Wenn Wolff die Seelenvermögen einmal in höhere und niedere und dann in Erkenntniss- und Begehrungsvermögen scheidet und diese zwei Eintheilungen sich kreuzen lässt, so erkennen wir hierin leicht ein der doppelten Aris­totelischen Gliederung wesentlich entsprechendes Schema. Auch in England hat wenigstens die letzte Eintheilung sehr lange nachgewirkt. Den Untersuchungen von Hume liegt sie zu Grunde; und Reid sowohl als Brown brachten nur unbedeutende und keineswegs glückliche Aenderungen an, wenn jener intellective und active203 Seelenvermögen unterschied, und dieser, nachdem er zunächst die Empfindungen als äussere Affectionen allen übrigen als inneren Affectionen gegenübergestellt hatte, die letzteren dann in intellectuelle Geisteszustände und Gemüthsbewegungen sonderte204. Alles, was Aristoteles unter seiner ὄρεξις, begreift Brown unter der letztgenannten Classe. 201 De Anim. III, 10. Metaph. Λ, 7. 202 Vgl. die oben citirten Stellen. 203 Aristoteles hatte das Begehren zugleich für das Princip der willkürlichen Bewegung erklärt. (De Anim. III, 10.) 204 External – internal affections; intellectual states of mind – emotions.

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§. 4.   Eine Eintheilung, die in ihrer Abweichung bedeutender und in ihrem Einflusse nachhaltiger war, und die gemeiniglich noch heute als ein Fortschritt in der Classification der psychischen Erscheinungen betrachtet wird, wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von Tetens und Men­ delssohn aufgestellt. Sie schieden die Seelenthätigkeiten in drei coordinirte Classen und nahmen für jede von ihnen ein besonderes Seelenvermögen an. Tetens nannte seine drei Grundvermögen Gefühl, Verstand und Thätig­ keitskraft205 (Willen); Mendelssohn bezeichnete sie als Erkenntnissvermögen, als Empfindungs- oder Billigungsvermögen („vermöge dessen wir an einer Sache Lust oder Unlust empfinden“) und als Begehrungsvermögen206. Kant, ihr Zeitgenosse, machte die neue Classification in seiner Weise207 sich eigen; er nannte die drei Seelenvermögen das Erkenntnissvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen und legte sie der Eintheilung seiner kritischen Philosophie zu Grunde. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ bezieht sich auf das Erkenntnissvermögen, insofern es die Principien des Erkennens selbst, seine „Kritik der Urtheilskraft“ auf das Erkenntnissvermögen, insofern es die Principien des Fühlens, seine „Kritik der praktischen Vernunft“ endlich auf das Erkenntnissvermögen, insofern es die Principien des Begehrens enthält. Hiedurch vorzüglich gewann die Classification Einfluss und Verbreitung, so dass sie noch heute ziemlich allgemein herrschend ist. Kant hält die Eintheilung der Seelenthätigkeiten in Erkennen, Fühlen und Wollen darum für fundamental, weil er glaubt, dass keine der drei Classen aus der anderen ableitbar sei, oder mit ihr auf eine dritte als ihre gemeinschaftliche Wurzel zurückgeführt werden könne208. Die Unterschiede zwischen dem Erkennen und Fühlen seien zu gross, als dass etwas Derartiges denkbar scheine. Wie auch immer Lust und Unlust ein Erkennen voraussetzen, so sei doch eine Erkenntniss schlechterdings kein Gefühl, und ein 205 Ueber die menschliche Natur I. Versuch X. S. 625. (1777 er schienen.) 206 In einer Bemerkung über das Erkenntniss-, Empfindungs- und Begehrungsvermögen, die, obwohl erst in den gesammelten Schriften (IV. S. 122 ff.) gedruckt, aus dem Jahre 1776 stammt, und in den 1785 erschienenen Morgenstunden, Vorles. VII. (ges. Schriften II. S. 295). 207 Vgl. darüber J. B. Meyer, Kant’s Psychologie S. 41 ff. 208 „Alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnissvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen.“ (Kritik der Urtheilskraft, Einleit., III.)

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Gefühl schlechterdings keine Erkenntniss. Und ebenso zeige das Begehren sich der einen und dem anderen völlig heterogen. Denn jedes Begehren, und nicht bloss das ausgesprochene Wollen, sondern auch der ohnmächtige Wunsch, ja selbst die Sehnsucht nach dem anerkannt Unmöglichen209, sei ein Streben nach der Verwirklichung eines Objectes, während die Erkenntniss das Object nur erfasse und beurtheile, das Gefühl der Lust aber gar nicht auf das Object, sondern bloss auf das Subject sich beziehe, indem es für sich selbst Grund sei, seine eigene Existenz im Subjecte zu erhalten210. Die Bemerkungen Kant’s zur Begründung und Rechtfertigung seiner Eintheilung sind spärlich. Da aber später manche Philosophen, wie Carus, Weiss, Krug und andere, die wieder auf die Zweitheilung von Vorstellungsund Bestrebungsvermögen zurückgingen, sie nicht bloss angriffen, sondern sie als von vorn herein unmöglich hinstellen wollten, übernahmen Andere, und namentlich W. Hamilton, ihre Vertheidigung und führten die Gedanken, die Kant bloss angedeutet hatte, weiter aus. Die Angriffe waren freilich sonderbar. So argumentirte Krug, nur darum seien Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen als zwei anzusehen, weil die Thätigkeit des Geistes eine doppelte Richtung, eine Richtung einwärts und eine Richtung auswärts, habe. Daher seien die Bethätigungen des Geistes in immanente oder theoretische und in transeunte oder praktische zu scheiden. Unmöglich aber sei es, zwischen ihnen eine dritte Classe einzuschieben; denn diese müsste eine Richtung haben, die weder einwärts noch auswärts ging, was undenkbar sei. 209 Ebend. Anm. 210 In dem Abschnitte der Abhandlung über die Philosophie überhaupt, in welchem Kant „Von dem System aller Vermögen des menschlichen Gemüths“ handelt und ausführlicher als anderwärts seine Lehre vorträgt und begründet, sagt er, man habe von Seiten gewisser Philosophen sich bemüht, die Verschiedenheit des Erkenntnissvermögens, des Gefühles für Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens „nur für scheinbar zu erklären und alle Vermögen auf ’s blosse Erkenntnissvermögen zu bringen“. Aber vergeblich. „Denn es ist immer ein grosser Unterschied zwischen Vorstellungen, so ferne sie, bloss auf ’s Object und die Einheit des Bewusstseins desselben bezogen, zum Erkenntniss gehören, ingleichen zwischen derjenigen objectiven Beziehung, da sie, zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objects betrachtet, zum Begehrungsvermögen gezählt werden, und ihrer Beziehung bloss auf ’s Subject, da sie für sich selbst Gründe sind, ihre eigene Existenz in demselben bloss zu erhalten, und so ferne im Verhältnisse zum Gefühle der Lust betrachtet werden, welches letztere schlechterdings kein Erkenntniss ist noch verschafft, ob es zwar dergleichen zum Bestimmungsgrunde voraussetzen mag.“ (Kant’s Werke, Ausgabe v. Rosenkranz I. S. 586 ff.)

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Hamilton musste es leicht werden, ein solches Raisonnement als nichtig darzuthun. Warum, fragt er mit Biunde, sollten wir nicht vielmehr sagen, dass drei Gattungen von Thätigkeiten in der Seele zu denken seien, von welchen die einen ineunt, die anderen immanent, die dritten transeunt wären211? – Und wirklich käme man auf diesem, allerdings etwas abenteuerlichen, Wege zu einer Classification, die in ihren drei Gliedern mit dem, was Kant in der oben citirten Stelle von Erkenntniss, Gefühl und Begehren sagte, ziemlich gut stimmen würde. Aber Hamilton weist nicht bloss diesen Angriff zurück; er versucht auch eine positive Begründung der Nothwendigkeit der Annahme der Gefühle als einer besonderen Grundclasse. Zu diesem Zwecke zeigt er, dass es gewisse Zustände des Bewusstseins gebe, die weder als ein Denken noch auch als ein Bestreben classificirt werden können. Solche seien die Gemüthsbewegungen, die in Jemand erregt werden, wenn er den Bericht vom Tode des Leonidas bei den Thermopylen lese, oder wenn er die folgende schöne Strophe aus einer bekannten alten Ballade höre: „Um Widdrington hüllt Gram mein Haupt, Weil ihn der Tod rafft’ hin, Der, als die Füsse ihm geraubt, Noch focht auf seinen Knien.“

Solche Gemüthsbewegungen seien kein blosses Denken; und auch als Wollen oder Begehren lassen sie sich nicht bezeichnen. Aber doch gehören auch sie zu den psychischen Phänomenen, und somit sei es nothwendig, den beiden Classen eine dritte zu coordiniren, die man mit Kant als die der Gefühle bezeichnen könne212. Dass dieses Argument ungenügend sei, ist leicht erkennbar. Es könnte sein, dass die Ausdrücke Wollen und Begehren nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche zu eng wären, um alle psychischen Phänomene ausser den Phänomenen des Denkens zu umfassen, und dass überhaupt ein hiezu geeigneter Namen in der gewöhnlichen Sprache fehlte, dass aber nichtsdestoweniger die Erscheinungen, die wir Begierden und die, welche wir Gefühle nennen, zusammen eine einheitliche, weitere und den Phänomenen des Denkens naturgemäss coordinirte Classe psychischer Phänomene bildeten. Eine wahre Rechtfertigung der Eintheilung ist nicht möglich ohne Darlegung des Eintheilungsprincips. Und Hamilton versäumt nicht, an einer anderen Stelle 211 Sir W. Hamilton, Lectures on Metaphysics II. p. 423. 212 Ebend. II. p. 420.

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eine solche zu geben, indem er mit Kant die drei Classen für Phänomene verschiedener Vermögen der Seele erklärt, von welchen keines einer Ableitung fähig sei. Descartes, Leibnitz, Spinoza, Wolff, Platner und andere Philosophen, sagt er, haben, weil die Erkenntniss des inneren Bewusstseins alle Phänomene begleitet, das Vorstellungsvermögen als das Grundvermögen des Geistes betrachten zu müssen geglaubt, von dem die anderen nur abgeleitet seien. Allein mit Unrecht. „Diese Philosophen bemerkten nicht, dass obwohl Lust und Schmerz und ebenso Begehren und Wollen nur sind, insofern sie als seiend erkannt werden, dennoch in diesen Modificationen eine absolut neue Qualität, ein absolut neues Geistesphänomen hinzugekommen ist, welches niemals in der Fähigkeit der Erkenntniss inbegriffen war und daher auch nie aus ihr entwickelt werden konnte. Die Fähigkeit des Erkennens ist unstreitig die erste der Ordnung nach und so die conditio sine qua non der anderen, und wir sind fähig ein Wesen zu denken, das etwas als seiend zu erkennen fähig ist und doch gänzlich aller Gefühle von Lust und Schmerz, aller Fähigkeiten zum Begehren und Wollen ermangelt. Auf der anderen Seite sind wir völlig unfähig ein Wesen zu denken, welches, im Besitze von Gefühl und Begehren, – zugleich ohne Erkenntniss irgend welchen Objectes, auf welches seine Affecte sich richteten und ohne ein Bewusstsein von diesen Affectionen selbst wäre. „Wir können ferner ein Wesen denken, welches mit Erkenntniss und Gefühl allein ausgestattet wäre, ein Wesen, begabt mit einer Fähigkeit, Objecte zu erkennen und sich freuend in der Ausübung, sich betrübend bei der Hemmung seiner Thätigkeit, – und dennoch beraubt jener Fähigkeit zur Willensenergie, jenes Bestrebens, welches wir im Menschen finden. Solch einem Wesen würden Gefühle von Schmerz und Lust, nicht aber Begehren und Willen im eigentlichen Sinne zukommen. „Auf der anderen Seite jedoch können wir unmöglich denken, dass eine Willensthätigkeit unabhängig von allem Gefühle bestehe; denn die Willensbestrebung ist eine Fähigkeit, welche nur durch einen Schmerz oder eine Lust zur Bethätigung bestimmt werden kann, – nämlich durch eine Schätzung des relativen Werthes der Objecte213.“ Diese Rechtfertigung der Classification in Bezug auf Princip, Zahl, Art und Ordnung der Glieder darf wohl als eine weitere Ausführung der Bemerkungen Kant’s im gleichen Sinne betrachtet werden. 213 Lect. on Metaph. I. p. 187 s.; vgl. II. p. 431.

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Hören wir auch noch Lotze, der gegenüber Herbart’s neuem Versuche, jede Mehrheit von Vermögen zu beseitigen, in seiner Medicinischen Psychologie und mehr noch in seinem Mikrokosmus der Kant’schen Dreitheilung eine eingehende Vertheidigung widmet. „Die frühere Psychologie“, sagt Lotze, „hat geglaubt, dass Gefühl und Wille eigenthümliche Elemente enthalten, welche weder aus der Natur des Vorstellens fliessen, noch aus dem allgemeinen Charakter des Bewusstseins, an dem beide mit diesem zugleich Theil haben; dem Vermögen des Vorstellens wurden sie desshalb als zwei ebenso ursprüngliche Fähigkeiten zugesellt, und neuere Auffassungen scheinen nicht glücklich in der Widerlegung der Gründe, die zu dieser Dreiheit der Urvermögen veranlassten. Zwar nicht das können wir behaupten wollen, dass Vorstellen, Gefühl und Wille als drei unabhängige Entwickelungsreihen mit geschiedenen Wurzeln entspringend sich in den Boden der Seele theilen, und jede für sich fortwachsend, nur mit ihren letzten Verzweigungen sich zu mannigfachen Wechselwirkungen berühren. Zu deutlich zeigt die Beobachtung, dass meistens Ereignisse des Vorstellungslaufes die Anknüpfungspunkte der Gefühle sind und dass aus diesen, aus Lust und Unlust, sich begehrende und abstossende Strebungen entwickeln. Aber diese offen vorliegende Abhängigkeit entscheidet doch nicht darüber, ob hier das vorangehende Ereigniss in der That als die volle und hinreichend bewirkende Ursache aus eigener Kraft das nachfolgende erzeugt, oder ob es nur als veranlassende Gelegenheit dieses nach sich zieht, indem es zum Theil mit der fremden Kraft einer unserer Beobachtung entgehenden, im Stillen mithelfenden Bedingung wirksam ist ... „Die Vergleichung jener geistigen Erscheinungen nöthigt uns, wenn wir nicht irren, zu dieser letzteren Annahme. Betrachten wir die Seele nur als vorstellendes Wesen, so werden wir in keiner noch so eigenthümlichen Lage, in welche sie durch die Ausübung dieser Thätigkeit geriethe, einen hinlänglichen Grund entdecken, der sie nöthigte, nun aus dieser Weise ihres Aeusserns hinauszugehen und Gefühle der Lust und Unlust in sich zu entwickeln. Allerdings kann es scheinen, als verstände im Gegentheil nichts so sehr sich von selbst, als dass unversöhnte Gegensätze zwischen mannigfachen Vorstellungen, deren Widerstreit der Seele Gewalt anthut, ihr Unlust erregen, und dass aus dieser ein Streben nach heilender Verbesserung entspringen müsse. Aber nur uns scheint dies so, die wir eben mehr als vorstellende Wesen sind; nicht von selbst versteht sich die Nothwendigkeit jener Aufeinanderfolge, sondern sie versteht sich aus dem allgemeinen Herkommen unserer inneren Erfahrung, die uns längst an ihre thatsächliche Unvermeidlichkeit gewöhnt

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hat und uns darüber hinwegsehen lässt, dass in Wahrheit hier zwischen jedem vorangehenden und dem folgenden Gliede der Reihe eine Lücke ist, die wir nur durch Hinzunahme einer noch unbeobachteten Bedingung ausfüllen können. Sehen wir ab von dieser Erfahrung, so würde die bloss vorstellende Seele keinen Grund in sich finden, eine innere Veränderung, wäre sie selbst gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Daseins, anders als mit der gleichgültigen Schärfe der Beobachtung aufzufassen, mit der sie jeden anderen Widerstreit von Kräften betrachten würde; entstände ferner aus anderen, Quellen doch neben der Wahrnehmung noch ein Gefühl, so würde doch die bloss fühlende Seele selbst in dem tödtenden Schmerze weder Grund noch Befähigung in sich finden, zu einem Streben nach Veränderung überzugehen; sie würde leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht so ist, und damit es anders sein könne, muss die Fähigkeit, Lust und Unlust zu fühlen, ursprünglich in der Seele liegen, und die Ereignisse des Vorstellungslaufes, zurückwirkend auf die Natur der Seele, wecken sie zur Aeusserung, ohne sie erst aus sich zu erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüth beherrschen mögen, sie bringen nicht ein Streben hervor, sondern sie werden nur zu Beweggründen für ein vorhandenes Vermögen des Wollens, das sie in der Seele vorfinden, ohne es ihr jemals geben zu können, wenn es ihr fehlte ... „So würden nun diese drei Urvermögen sich als stufenweise höhere Anlagen darstellen, und die Aeusserung der einen die Thätigkeit der folgenden auslösen214.“ Lotze führt seine Erläuterung und vertheidigende Begründung der Kant’schen Classification noch weiter fort. Doch genügt die angezogene Stelle, um uns zu zeigen, dass er ihr Princip eben so fasst wie Hamilton, und dass er auch in einer ganz ähnlichen Weise sowohl die Dreiheit der Vermögen, als auch ihre Ordnung feststellt. Beide thun eben nichts Anderes, als dass sie den Gedanken Kant’s weiter ausführen. Indessen scheint das Princip, welches Kant bei seiner Grundeintheilung der psychischen Phänomene anwandte, und welches Hamilton sowohl als Lotze und mit ihnen viele Andere sich eigen machten, zur Bestimmung der höchsten Classen wenig geeignet; und dies nicht etwa, weil Herbart’s Meinung sich aufrecht erhalten liesse, sondern, ich möchte sagen, aus einem entgegengesetzten Grunde.

214 Mikrokosmus I. S. 193 ff.

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Wenn zwei psychische Phänomene, schon desshalb, weil aus der Fähigkeit zu dem einen auf die Fähigkeit zu dem anderen nicht von vorn herein geschlossen werden kann, verschiedenen Grundclassen zuzurechnen wären, so müsste man nicht bloss, wie Kant, Hamilton und Lotze wollen, das Vorstellen vom Fühlen und Begehren, sondern auch das Sehen vom Schmecken, ja das Roth-Sehen vom Blau-Sehen als von einem Phänomene scheiden, das zu einer anderen höchsten Classe gehörte. In Betreff des Sehens und Schmeckens ist, was ich sagte, einleuchtend; gibt es ja zahlreiche Gattungen von niederen Thieren, die am Geschmacke, nicht aber am Gesichte Theil haben. Aber auch für Roth-Sehen und Blau-Sehen gilt, wie gesagt, dasselbe; und ein handgreiflicher Beweis liegt in der Thatsache der Rothblindheit, dem sogenannten Daltonismus, vor. Der Rothblinde sieht nur die mittleren Farben des Spectrums, während die stärker oder schwächer gebrochenen Lichtstrahlen wie Roth und Violett ihm entgehen. Auch gibt es bekanntlich Lichtarten, welche selbst das normale Auge nicht zu sehen fähig ist; jene nämlich, die stärker als Roth und schwächer als Violett gebrochen werden, und von denen wir nur durch ihre chemischen Wirkungen und durch ihren Einfluss auf die Temperatur, so wie durch solche Experimente Kenntniss gewinnen, durch welche es gelingt, eine prismatische Farbe in eine andere von stärkerer oder schwächerer Brechung zu verwandeln. Auf diese Weise verwandeln wir auch uns unsichtbare Lichtstrahlen in sichtbare. Es steht offenbar nichts im Wege anzunehmen, dass bei anderen Augen oder bei einem anderen Gesichtssinne als dem unsrigen, eine ausgedehntere Farbenscala möglich sein würde, welche auch die uns unempfindlichen Lichtarten in sich begriffe und so sich zu der unsrigen, wie diese zu der des Rothblinden, verhielte. Diese Betrachtungen zeigen gewiss auf ’s Deutlichste, dass die Fähigkeit für eine Farbenwahrnehmung nicht von vorn herein auf die Fähigkeit für eine andere schliessen lässt. Und in der That würden wir, auf das Sehen des Grünen beschränkt, nie eine Ahnung vom Gelben bekommen. Auch J. St. Mill betrachtet darum die Erscheinung jeder einzelnen Farbe als eine letzte unableitbare Thatsache215. Nun sieht aber jeder ein, dass es ungereimt wäre, die Vorstellungen von Roth und anderen einzelnen Farbenarten, als Phänomene, die auf verschiedenen ursprünglichen, nicht von einander ableitbaren Vermögen beruhten, verschiedenen höchsten Classen zuzuweisen. Und somit sehen wir uns zu 215 Deduct. und Induct. Log. Buch III. Cap. 14. §. 2.

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dem Schlusse genöthigt, dass dieses Eintheilungsprincip für die Bestimmung der höchsten Classen der psychischen Phänomene in keiner Weise geeignet ist. Wäre dies aber der Fall, so würden wir offenbar nicht Denken, Fühlen und Streben, sondern eine ungleich grössere Zahl von höchsten Classen der psychischen Phänomene zu unterscheiden haben. Es ist gewiss etwas Missliches, zu behaupten, dass Kant und die bedeutenden Männer, welche nach ihm seine Dreitheilung vertraten, sich über das Princip, welches sie bei ihrer Classification bestimmte, selbst nicht genügend Rechenschaft gegeben hätten. Und zudem finden wir, dass auch schon die Vorläufer Kant’s, Tetens und Mendelssohn, sich auf die Unableitbarkeit der Vermögen als Bürgschaft für ihre Grundeintheilung beriefen. Dennoch lässt sich, wenn man das Missverhältniss zwischen dem angeblichen Ein­thei­lungs­ grunde und der Gliederung der Eintheilung in’s Auge fasst, die Annahme nicht umgehen, dass alle diese Denker, sich selbst mehr oder minder unbewusst, durch ganz andere Motive geleitet wurden. Und in ihren Aeusserungen finden sich deutliche Spuren, die darauf hinweisen. Was Kant in Wahrheit bestimmte, die psychischen Thätigkeiten in seine drei Classen zu scheiden, war, glaube ich, ihre Uebereinstimmung oder Verschiedenheit unter einem ähnlichen Gesichtspunkte wie der, welcher Aristoteles bei seiner Unterscheidung von Denken und Begehren maassgebend gewesen ist. Eine Stelle, welche wir oben seiner Abhandlung über die Philosophie überhaupt entlehnten, setzt die Verschiedenheit zwischen Erken­ nen und Begehren deutlich in einen Unterschied der Beziehung auf ’s Object, während die Besonderheit des Fühlens darin gesucht wird, dass hier jede derartige Beziehung mangele, indem das psychische Phänomen bloss auf ’s Subject Bezug habe216. Das also war die grosse Differenz, aus welcher sich die gegenseitige Unableitbarkeit allerdings als eine Folgerung ergeben mochte, welche aber in sich selbst eine tiefer einschneidende Kluft als die Unmöglichkeit der Ableitung war; eine Kluft, welche nicht ebenso in jenen anderen Fällen besteht, die zur Annahme besonderer ursprünglicher Vermögen nöthigen. Dasselbe zeigt sicht bei Hamilton. Fragen wir ihn, warum er Gefühle und Strebungen als Phänomene besonderer Urvermögen bezeichne, und es für unmöglich halte, dass sie aus dem einen Grundvermögen erklärbar seien: so gibt er in dem zweiten Bande seiner Vorlesungen über Metaphysik folgende Antwort. Darum, sagt er, thue er dies, weil das Bewusstsein uns in diesen 216 S. 203. Anm. 210.

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Phänomenen, obwohl ihnen wegen der inneren Wahrnehmung allgemein eine Erkenntniss beigemischt sei, ausser ihr gewisse Beschaffenheiten (certain qualities) zeige, die weder explicite noch implicite in den Phänomenen der Erkenntniss selbst erhalten seien. „Die Eigenthümlichkeiten, wodurch diese drei Classen gegenseitig sich von einander unterscheiden, sind folgende: Bei den Phänomenen der Erkenntniss unterscheidet das Bewusstsein ein erkanntes Object von dem erkennenden Subject ... Bei dem Gefühle, bei den Phänomenen von Lust und Schmerz ist dies dagegen nicht der Fall. Das Bewusstsein stellt hier nicht den psychischen Zustand sich selbst gegenüber, sondern ist gleichsam mit ihm in Eins verschmolzen. In dem Gefühle ist daher nichts, als was subjectivisch subjectiv (subjectively subjective) ist“ – ein Ausspruch, dessen wir schon einmal Erwähnung gethan haben. „In den Phänomenen des Strebens, den Phänomenen der Begierde und des Willens, endlich findet sich zwar wie bei denen der Erkenntniss ein Object und zwar ein Object, das auch ein Object der Erkenntniss ist. Aber obwohl beide, Erkenntniss und Strebung, eine Relation zu einem Objecte in sich tragen, so sind sie doch unterschieden durch die Verschiedenheit dieser Relation selbst. Bei der Erkenntniss besteht kein Bedürfniss; und das Object wird weder gesucht noch gemieden; während bei der Strebung ein Mangel und eine Neigung vorausgesetzt wird, welche zu dem Versuche führt, entweder das Object zu erreichen (im Falle nämlich die Erkenntnissfähigkeiten es so geartet darstellen, dass es den Genuss dessen, was man bedarf, zu gewähren verspricht) oder das Object abzuhalten, wenn diese Thätigkeiten es so angethan erscheinen lassen, dass es den Versuch jenem Bedürfnisse zu genügen zu vereiteln droht217.“ Diese Stelle aus Hamilton erscheint fast wie eine commentirende Paraphrase der zuvor erwähnten Bemerkung Kant’s. Im Wesentlichen übereinstimmend, spricht sie nur ausführlicher und klarer. Und offenbar ist nach ihr der Gesichtspunkt, von welchem aus Hamilton, wenn man auf den letzten Grund geht, die psychischen Phänomene in verschiedene höchste Classen zerlegt hat, wie bei Aristoteles jener der intentionalen Inexistenz. Bei einigen psychischen Phänomenen findet sich, wie Hamilton meint, gar keine intentionale Inexistenz eines Objectes und als solche gelten ihm die Gefühle. Aber auch diejenigen, bei welchen sich eine finde, sollen nach ihm hinsichtlich der Weise dieser Inexistenz einen fundamentalen Unterschied zeigen und so in Gedanken und Strebungen zerfallen. 217 Lect. on Metaph. II. p. 431.

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Was schliesslich Lotze betrifft, so fehlt es auch bei ihm nicht an Zeichen, dass ein bedeutenderes Moment als die blosse Unableitbarkeit der Vermögen ihn die drei Classen des Vorstellens, Fühlens und Strebens als die verschiedenen Grundclassen der Seelenerscheinungen betrachten liess. Nur der Umstand, dass die Unmöglichkeit der Ableitung von der Herbart’schen Schule geleugnet worden war, führt ihn dazu gerade diesen Punkt mit besonderem Nachdrucke zu betonen. Lotze verkennt so wenig, dass die nicht von einer anderen ableitbaren Fähigkeiten der Seele sich nicht auf eine Dreizahl beschränken: dass er vielmehr ebenso wie wir die Anlagen zum Sehen und Hören als verschiedene ursprüngliche Anlagen betrachtet; und gerade bei seiner Untersuchung über die drei Grundclassen finden wir diese Wahrheit berührt218. Warum hat er nun die Vorstellungen von Tönen und Farben dennoch derselben Grundclasse zugetheilt, und ebenso andere Unterschiede, welche man, namentlich innerhalb des Bereiches der Gefühle, leicht als ähnlich unableitbar nachweisen kann, bei seiner Grundeintheilung nicht maassgebend werden lassen? Die Wahrnehmung eines ganz besonders tiefgehenden Unterschiedes, der, zwischen jenen drei Classen vorhanden, nicht in gleicher Weise in anderen Fällen unmöglicher Ableitung gefunden wird, muss hier bestimmend gewesen sein. Nach dem, was wir bei Kant und Hamilton gefunden, ist es aber von vorn herein zu vermuthen, dass eine Verschiedenheit der Seelenthätigkeiten in Rücksicht auf die Beziehung zum Objecte, auch Lotze dazu führte, gerade diese drei Classen als die am Meisten verschiedenen und als die Grundclassen der psychischen Erscheinungen anzusehen. So bleibt denn nur noch zu untersuchen, ob man wirklich gut gethan habe, diesen Gesichtspunkt bei einer Haupteintheilung der Seelenthätigkeiten geltend zu machen; so wie, ob die Dreitheilung in Denken, Fühlen, Streben mit den fundamentalen Unterschieden, welche die psychischen Phänomene in dieser Beziehung zeigen, in Wahrheit coincidire und sie erschöpfe. Wenn wir am Ende dieses Ueberblickes über die bisher versuchten Classificationen uns selbst über die Frage zu entscheiden haben, werden wir auch diesen Punkt behandeln. §. 5.   Wie schon bemerkt, ist die eben besprochene Eintheilung des Bewusstseins in Vorstellung, Gefühl und Willen in neuerer Zeit sehr allgemein geworden. Auch Herbart und seine Schule haben sie angenommen; und bei 218 Mikrokosmus I. S. 198.

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den Darstellungen der empirischen Psychologie pflegen die Herbartianer in derselben Weise wie Andere sie der Ordnung des Stoffes zu Grunde zu legen. Das Unterscheidende bei ihnen ist nur dies, dass sie die beiden letzten Classen nicht auf besondere Urvermögen zurückführen, sondern aus der ersten ableiten wollen; ein, wie schon wiederholt bemerkt, offenbar vergebliches Bemühen. §. 6.   Unter den Vertretern der empirischen Schule in England, die in einem gewissen Gegensatze zur Schule Hamilton’s steht, hat Alexander Bain ebenfalls seine Dreitheilung unter ähnlichen Namen aufgestellt. Er unterscheidet: erstens Gedanken, Verstand oder Erkenntniss (Thought, Intellect or Cognition); zweitens Gefühl (Feeling); und endlich drittens Streben oder Willen (Volition or the Will). Auch hier scheint also dieselbe Grundeintheilung uns zu begegnen, und Bain selbst beruft sich auf diese Uebereinstimmung als auf eine Bestätigung. Wenn man indessen auf die Erklärungen achtet, die Bain von den drei Gliedern seiner Classification gibt, so zeigt sich, dass die Gleichheit der Ausdrücke eine grosse Verschiedenheit der Gedanken verdeckt. Unter der dritten Classe, dem Streben oder Willen, versteht Bain etwas ganz Anderes, als was die deutschen Psychologen so wie auch Hamilton mit dem Worte zu bezeichnen pflegen nämlich das von psychischen Phänomenen ausgehende Wirken. So erklärt er im Anfang seines umfangreichen Werkes über die Sinne und den Verstand, das Streben oder der Willen umfasse das Ganze unserer Activität, so weit sie von unseren Gefühlen geleitet werde219. Und weiter unten erläutert er den Begriff also: „Alle Wesen“, sagt er, „die wir als mit Bewusstsein begabt kennen, haben nicht bloss die Fähigkeit zu fühlen, sondern auch zu handeln (act). Die Anwendung einer Kraft zur Erreichung eines Zweckes ist das Zeichen einer psychischen Natur. Essen, Gehen, Fliegen, Bauen, Sprechen, – sind Bethätigungen, die aus psychischen Bewegungen hervorgehen. Sie entspringen alle aus gewissen Gefühlen, die befriedigt werden sollen, und dieses gibt ihnen den Charakter eigenthümlicher psychischer Thätigkeiten. Wenn ein Thier seine Nahrung zerreisst, kaut und verschlingt, auf Beute Jagd macht oder vor einer Gefahr flieht, so sind es Empfindungen oder Gefühle, die seine Thätigkeit anregen und erhalten. Dieser dem Gefühle entstammten Activität geben wir den Namen Streben (Volition)220.“ 219 The Senses and the Intellect p. 2. 220 The Senses and the Intellect p. 4. Vgl. Mental and Moral Science p. 2.

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Essen, Gehen, Sprechen und dergleichen würden wir nicht als Wollen, sondern nur etwa als Wirkungen eines Wollens bezeichnen. Kant allerdings spricht manchmal von dem Begehren, als verstehe er darunter ein Hervorbringen der begehrten Objecte. Er definirt in seiner Kritik der praktischen Vernunft das Begehrungsvermögen als „das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“221. Aber nimmermehr glaube ich, dass er sich dazu verstanden hätte, das Essen oder Gehen als ein Begehren zu bezeichnen; sondern Alles weist darauf hin, dass er nur in ungeeigneter Weise seinen Gedanken erklärte222. Anders ist es bei Bain. Seine oben betrachteten Aussprüche nöthigen uns anzunehmen, dass er mit dem Namen „Willen“ in Wahrheit einen abweichenden Sinn verband, und auch das unmittelbar Folgende bestätigt diese Auffassung, indem Bain den Unterschied von seinem Wollen gegenüber den Naturkräften des Windes, Wassers, der Schwere, des Pulvers u. s. f. und dann ebenso gegenüber unbewussten physiologischen Functionen, wie z. B. dem Blutumlaufe, festzustellen sucht – was alles er offenbar nicht nöthig hätte, wenn er nicht unter dem Wollen nicht sowohl ein innerliches, psychisches Phänomen als eine von psychischen Phänomenen ausgehende (physische) Wirkung, also ein physiologisches oder, wenn man will, psychophysisches Phänomen verstände. So stimmt Bain’s Eintheilung der Seelenerscheinungen der Sache nach mehr mit der Aristotelischen Zweitheilung in Denken und Begehren (an welches letztere unter Umständen eine willkürliche Bewegung sich knüpft) als mit der späteren Dreitheilung in Vorstellen, Fühlen und Begehren zusammen. Was wir Begehren und Wollen nennen, gehört bei Bain zu dem Gefühl. Und es erscheint Gefühl und Begehren bei ihm wiederum zu einer Classe verbunden. Ausserdem hat er das Gebiet der Gefühle auch nach einer anderen Seite erweitert, indem er die Sinnesempfindungen, welche nach den meisten Neueren und auch nach Aristoteles der ersten Classe zuzurechnen wären, mit in ihr Bereich zieht. Ausser dieser Eintheilung gibt Bain noch eine andere, die sich mit der vorerwähnten kreuzt. Er scheidet die psychischen Phänomene in primitive und in solche, welche sich aus diesen in weiterer Entwickelung ergeben. Zu 221 Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede. Vgl. Kritik der Urtheilskraft, Einleitung III. Anm. und die oben angezogene Stelle aus der Abhandlung über die Philosophie überhaupt (S. 203 Anm. 210). 222 Er würde sonst nicht jeden Wunsch und jede Sehnsucht zum Begehren rechnen (was Bain nicht thut), noch auch die Freiheit in das Begehrungsvermögen verlegen.

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den ersteren rechnet er die Empfindungen, die aus den Bedürfnissen des Organismus hervorgehenden Begierden und die Instincte, worunter er die Bewegungen versteht, die man, ohne sie erlernt oder sich angeübt zu haben, ausführt. Diese Zweitheilung hat er in den späteren Ausgaben seines grossen psychologischen Werkes, so wie in seinem Compendium vor allen anderen bei der Anordnung des Stoffes zu Grunde gelegt. Die Anregung zu ihr scheint Bain durch Herbert Spencer erhalten zu haben, bei welchem sich eine ähnliche Scheidung in primitive und entwickeltere psychische Phänomene erkennen lässt, wie überhaupt die Idee der Evolution in seinen „Principien der Psychologie“ jede andere beherrscht. Die entwickelteren Seelenthätigkeiten scheidet Spencer in cognitive (Gedächtniss, Vernunft) und affective (Gefühl, Willen) und denkt die Anfänge der einen wie der anderen Classe in den primitiven Erscheinungen vorhanden, so dass man vielleicht sagen könnte, er lasse mit der ersten eine zweite Eintheilung sich kreuzen, welche in ihrer Gliederung an die Aristotelische Scheidung von νοῦς und ὄρεξις erinnert223. §. 7.   Hiemit können wir unsere Uebersicht über die vorzüglichsten Classificationsversuche abschliessen. Achten wir auf die Principien, welche wir bei ihnen angewandt fanden, so erkennen wir, dass sie von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus gemacht wurden. Drei davon waren uns schon bei Aristoteles begegnet. Er hatte die psychischen Thätigkeiten geschieden: einmal, insofern er sie theils an dem Leibe haftend, theils nicht an ihn gebunden glaubte; dann, insofern er sie theils dem Menschen mit den Thieren gemein, theils ihm ausschliesslich eigenthümlich dachte, und endlich nach dem Unterschiede der Weise der intentionalen Inexistenz oder, wie wir sagen könnten, nach dem Unterschiede der Weise des Bewusstseins. Das letzte Eintheilungsprincip sehen wir besonders häufig und zu allen Zeiten angewandt. Hiezu kommt dann noch das Princip der zweiten Eintheilung von Bain, welche die psychischen Erscheinungen in primitive und in solche zerlegt, welche sich aus primitiven entwickeln. Wir werden nun in den folgenden Untersuchungen sowohl hinsichtlich des Principes als hinsichtlich der Gliederung der Grundeintheilung unsererseits eine Entscheidung zu treffen haben. 223 Vgl. Ribot, Psychologie Anglaise Contemporaine, Paris 1870, (p. 191), eine Schrift, in welcher insbesondere über Herbert Spencer’s psychologische Ansichten ein sehr hübscher Ueberblick gegeben wird.

Sechstes Capitel. Eintheilung der Seelenthätigkeiten in Vorstellungen, Urtheile und Phänomene der Liebe und des Hasses. §. 1.   An welche Grundsätze haben wir uns bei der Grundeintheilung der psychischen Phänomene zu halten? – Offenbar an diejenigen, welche auch anderwärts bei der Classification in Betracht kommen, und von deren Anwendung uns die Naturwissenschaft mehr als ein ausgezeichnetes Beispiel bietet. Eine wissenschaftliche Classification soll von der Art sein, dass sie in einer der Forschung dienlichen Weise die Gegenstände ordnet. Zu diesem Zwecke muss sie natürlich sein; d. h. sie muss das zu einer Classe vereinigen, was seiner Natur nach enger zusammengehört, und sie muss das in verschiedene Classen trennen, was seiner Natur nach sich relativ fern steht. Daher wird sie erst bei einem gewissen Maasse von Kenntniss der Objecte möglich; und es ist die Grundregel der Classification, dass sie aus dem Studium der zu classificirenden Gegenstände, nicht aber aus apriorischer Construction hervorgehen soll. Krug fiel in diesen Fehler, wenn er von vorn herein argumentirte, dass die Seelenthätigkeiten von zweifacher Gattung sein müssten: solche die von aussen nach innen, und solche die von innen nach aussen gerichtet seien. Und auch Horwicz verstiess gegen das Princip, wenn er, wie wir früher sahen224, statt durch ein genaueres Studium der Seelenerscheinungen selbst eine Sicherung oder Berichtigung der üblichen Grundeintheilung anzustreben, auf dem Grunde physiologischer Betrachtungen, die ihm den Gegensatz von Empfindungs- und Bewegungsnerven zeigten, zur Annahme eines ähnlichen‚ das ganze Seelengebiet durchdringenden Gegensatzes von Denken und Begehren sich verstieg. Allerdings begreift es sich bei dem zurückgebliebenen Zustande der Psychologie sehr wohl, dass man gerne auf andere Untersuchungen als die der psychischen Phänomene gestützt eine entsprechende Classification gewinnen möchte. Allein wenn der naturgemässe Weg noch wenig gangbar ist, so knüpft sich doch an keinen anderen 224 Buch I. Cap. 3. §. 5.

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eine Hoffnung dem Ziele näher zu kommen. Derjenige aber, welcher die bis jetzt erlangten Kenntnisse der psychischen Erscheinungen maassgebend werden lässt, wird selbst dann, wenn es ihm heute noch unmöglich wäre, eine endgültig beste Grundeintheilung festzustellen, eine solche wenigstens vorbereiten, indem wie anderwärts auch hier Classification und Kenntniss der Eigenthümlichkeiten und Gesetze sich in der weiteren Entwickelung der Wissenschaft dann gegenseitig vervollkommnen werden. §. 2.   Die in dem vorigen Capitel betrachteten Eintheilungsversuche sind sämmtlich in so weit zu billigen, als sie aus dem Studium der psychischen Phänomene selbst hervorgegangen sind. Auch waren ihre Urheber darauf bedacht, dass die Gliederung naturgemäss sei, indem sie die Unabhängigkeit der einen Erscheinungen von den anderen oder eine tiefgreifende Unähnlichkelt maassgebend werden liessen. Freilich ist damit nicht gesagt, dass nicht vielleicht die Unvollkommenheit ihrer Kenntniss des psychologischen Gebietes sie bei diesem Streben missleitet habe. Und jedenfalls sind einige von den Eintheilungsversuchen nicht in gleichem Maasse wie andere verwerthbar; sowohl weil ihre Grundlage noch strittig ist, als auch weil die Vor­ theile, welche sie der Forschung zu gewähren versprechen, in Folge besonderer Hindernisse verloren gehen. Machen wir dies im Einzelnen klar. Aristoteles schied die psychischen Phänomene in solche, welche dem Menschen mit den Thieren gemein, und solche, welche ihm eigenthümlich seien. Stellen wir uns auf den Standpunkt der Aristotelischen Lehre, so wird diese Eintheilung in vieler Hinsicht vorzüglich scheinen. Denn Aristoteles glaubte gewisse Seelenvermögen dem Menschen ausschliesslich eigen und hielt diese für immateriell, die allgemein animalischen dagegen für Vermögen eines körperlichen Organes. Es sondert also, wenn wir die Richtigkeit seiner Anschauungen voraussetzen, jene Eintheilung in dem ersten Gliede Erscheinungen für sich ab, welche auch in der Natur von den anderen isolirt auftreten; und der Umstand, dass die einen Functionen eines Organs sind, die anderen nicht, lässt erwarten, dass jede der beiden Classen wichtige gemeinsame Eigenthümlichkeiten und Gesetze zeigen werde. Aber die Aristotelischen Ansichten, auf Grund deren die Eintheilung sich empfehlen würde, enthalten gar Manches, was bestritten werden kann. Viele stellen in Abrede, dass dem Menschen im Gegensatze zum Thiere geistige Kräfte eigen seien; ja überhaupt ist man schon darüber nicht einig, welche psychischen Erscheinungen dem Menschen mit dem Thiere gemein seien und welche

Capitel 6. Eintheilung der Seelenthätigkeiten.

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nicht. Während Descartes den Thieren alle psychische Thätigkeit abspricht, lassen andere und nicht unbedeutende Forscher die höheren Thierclassen an allen Arten unserer einfacheren psychischen Phänomene Theil haben. Nur graduell glauben sie ihre Thätigkeiten von den unsrigen verschieden und sind der Meinung, dass der gesammte Unterschied ihrer Leistungen sich genugsam daraus erklären lasse. Wenn insbesondere Aristoteles der Ansicht ist, dass den Thieren das Vermögen für allgemeine, abstracte Begriffe fehle, so stimmt zwar Locke ihm bei, aber von anderen und entgegengesetzten Seiten streitet man dagegen, dass hierin eine fundamentale Verschiedenheit zwischen der psychischen Begabung von Mensch und Thier zu finden sei: die Einen wollen allgemeine Begriffe mit Bestimmtheit auch bei Tieren nachgewiesen haben; die Anderen, Berkeley an der Spitze, leugnen, dass sie auch nur dem Menschen in Wirklichkeit zukommen. Die Ansicht von Descartes, wenn auch Manche im Hinblick auf die Reflex­ erscheinungen sich neuerdings ihr zuneigen, wird uns wohl weniger beirren: für die entgegengesetzte treten aber auch jetzt noch angesehene Denker von sonst verschiedenen Richtungen ein; und insbesondere sind die Berkeleyaner in England zahlreich geworden und fangen auch auf dem Continent sich auszubreiten an. Fände sich nun wirklich zwischen der psychischen Begabung von Menschen und Thieren kein, wie man sich ausdrückt, qualitativer Unterschied: so würde offenbar die Eintheilung der psychischen Phänomene in allgemein animalische und eigenthümlich menschliche viel von ihrer Bedeutung verlieren. Und jedenfalls erlaubt es uns schon der Streit der Ansichten und die Schwierigkeit ihn zu entscheiden nicht, diese Eintheilung bei der Anordnung unseres Stoffes als Grundeintheilung zu benützen. Zudem wird der vorzüglichste Vortheil, welchen die Classification im besten Falle der Forschung bieten könnte, nämlich das isolirte Studium eines Theiles unserer psychischen Phänomene, dadurch wesentlich beeinträchtigt, dass wir in das psychische Leben der Thiere nur indirect einen Einblick besitzen. Und dieser Umstand sowohl als auch der Wunsch keine unerwiesenen Voraussetzungen zu machen, hat selbst Aristoteles abgehalten, sie bei der systematisch geordneten Darlegung seiner Seelenlehre als Grundeintheilung zu verwenden. Bain, wie wir hörten, hat die Seelenerscheinungen in elementare und in solche geschieden, welche aus diesen in weiterer Entwickelung sich ergeben. Auch hier umfasst die erste Classe Erscheinungen, welche in der Natur von den anderen unabhängig auftreten. Aber auch hier gilt Aehnliches wie das, was wir eben bemerkten, dass sie nämlich da, wo sie unabhängig auftreten,

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nicht direct von uns zu beobachten sind. Auch hat es keine geringen Schwierigkeiten, sich über den Charakter der ersten Anfänge des Seelenlebens ein sicheres Urtheil zu bilden. Wenn in späteren Jahren ein physischer Reiz eine Empfindung hervorruft, so können erworbene Dispositionen einen mächtig umgestaltenden Einfluss auf die Erscheinung üben. Und so finden wir thatsächlich, dass dieses Feld heutzutage ein vorzügliches Gebiet des Streites ist. Wie wir daher auch immer den Bain’schen Gesichtspunkt bei der Anordnung unserer Untersuchungen zu berücksichtigen haben werden, für die Grundeintheilung werden wir besser thun einen anderen Maassstab zu wählen. Es bleiben von den betrachteten Classificationen noch diejenigen übrig, welche die verschiedene Beziehung zum immanenten Gegenstande der psychischen Thätigkeit oder die verschiedene Weise seiner intentionalen Existenz zum Eintheilungsgrunde haben. Dieser Gesichtspunkt war es, den Aristoteles bei der Anordnung des Stoffes vor allen übrigen bevorzugte, und den häufiger als irgend einen anderen auch die verschiedensten Denker späterer Zeit, mehr oder minder bewusst, bei der Grundeintheilung der psychischen Phänomene einnahmen. Die psychischen Phänomene unterscheiden sich von allen physischen durch nichts so sehr als dadurch, dass ihnen etwas gegenständlich inwohnt. Und darum ist es sehr begreiflich, wenn die am Tiefsten greifenden Unterschiede in der Weise, in welcher ihnen etwas gegenständlich ist, zwischen ihnen selbst wieder die vorzüglichsten Classenunterschiede bilden. Je mehr die Psychologie sich entwickelte, um so mehr hat sie auch gefunden, dass an die fundamentalen Unterschiede in der Weise der Beziehung zum Object sich mehr als an irgendwelche andere gemeinsame Eigen­ thümlichkeiten und Gesetze knüpfen. Und wenn die zuvor besprochenen Classificationen dem Bedenken unterlagen, dass ihr Nutzen grossentheils durch die Stellung des Beobachters verloren geht, so ist dagegen diese frei von einer solchen Beeinträchtigung ihres Werthes. Somit werden wir durch die mannigfachsten Erwägungen dazu geführt, das gleiche Princip auch bei unserer Grundeintheilung zu benützen. §. 3.   Aber wie viele und welche höchste Classen werden wir zu unterscheiden haben? – Wir sahen, dass in dieser Hinsicht zwischen den Psychologen keine Einigkeit besteht. Aristoteles hat zwei verschiedene Grundclassen unterschieden, Denken und Begehren. Unter den Modernen aber ist eine Dreitheilung in Vorstellung, Gefühl und Streben (oder wie man sonst die drei Gattungen zu benennen liebt) anstatt jener Zweitheilung üblich geworden.

Capitel 6. Eintheilung der Seelenthätigkeiten.

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Um sogleich unsere Ansicht auszusprechen, so halten auch wir dafür, dass hinsichtlich der verschiedenen Weise ihrer Beziehung zum Inhalte drei Hauptclassen von Seelenthätigkeiten zu unterscheiden sind. Aber diese drei Gattungen sind nicht dieselben wie die, welche man gemeiniglich aufstellt, und wir bezeichnen in Ermangelung passenderer Ausdrücke die erste mit dem Namen Vorstellung, die zweite mit dem Namen Urtheil, die dritte mit dem Namen Gemüthsbewegung, Interesse oder Liebe. Keine dieser Benennungen ist von der Art, dass sie nicht missverständlich wäre; vielmehr wird jede häufig in einem engeren Sinne angewandt. Aber unser Wortvorrath bietet uns keine einheitlichen Ausdrücke, welche sich besser mit den Begriffen decken. Und obwohl es etwas Missliches hat, Ausdrücke von schwankender Bedeutung als Termini bei so wichtigen Bestimmungen zu benützen, und mehr noch, sie in einem vielleicht ungewöhnlich erweiterten Sinne anzuwenden: so scheint mir dies in unserem Falle doch besser als die Einführung völlig neuer und unbekannter Benennungen. Darüber, was wir Vorstellen nennen, haben wir uns auch früher schon erklärt. Wir reden von einem Vorstellen, wo immer uns etwas erscheint. Wenn wir etwas sehen, stellen wir uns eine Farbe; wenn wir etwas hören, einen Schall; wenn wir etwas phantasiren, ein Phantasiegebilde vor. Vermöge der Allgemeinheit, in der wir das Wort gebrauchen, konnten wir sagen, es sei unmöglich, dass die Seelenthätigkeit in irgend einer Weise sich auf etwas beziehe, was nicht vorgestellt werde225. Höre und verstehe ich einen Namen, so stelle ich mir das, was er bezeichnet, vor; und im Allgemeinen ist dieses der Zweck der Namen, Vorstellungen hervorzurufen226. Unter dem Urtheilen verstehen wir, in Uebereinstimmung mit dem gewöhnlichen philosophischen Gebrauche, ein (als wahr) Annehmen oder (als falsch) Verwerfen. Dass aber ein solches Annehmen oder Verwerfen auch da vorkommt, wo Viele den Ausdruck Urtheil nicht gebrauchen, wie z. B. bei der Wahrnehmung psychischer Acte und bei der Erinnerung, haben wir 225 Buch II. Cap. 1. §. 3. 226 Viel enger fassen Meyer (Kant’s Psychologie), Bergmann (Vom Bewusstsein), Wundt (Physiologische Psychologie) u. A. den Begriff der Vorstellung, während z. B. Herbart und Lotze den Namen ähnlich wie wir gebrauchen. Es gilt hier, was wir früher in Betreff des Namens Bewusstsein bemerkten. (Buch II. Cap. 2. §. 1.) Man wird am Besten thun, den Namen so zu gebrauchen, dass er am Meisten eine Lücke in der Terminologie auszufüllen dient. Nun besitzen wir für jene specielleren Classen auch andere Ausdrücke, während für unsere erste Grundclasse kein anderer uns gegeben ist. Somit scheint die Verwendung in diesem allgemeinsten Sinne geboten.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

schon berührt. Und natürlich werden wir uns nicht abhalten lassen, auch diese Fälle der Classe des Urtheils unterzuordnen. Für die dritte Hauptclasse, deren Phänomene wir als Gemüthsbewegungen, als Phänomene des Interesses oder als Phänomene der Liebe bezeichneten, fehlt am Meisten ein recht geeigneter einheitlicher Ausdruck. Diese Classe soll nach uns alle psychischen Erscheinungen begreifen, die nicht in den beiden ersten Classen enthalten sind. Aber unter den Gemüthsbewegungen begreift man gemeiniglich nur Affecte, die mit einer merklichen physischen Aufregung verbunden sind. Zorn, Angst, heftige Begierde wird Jeder als Gemüthsbewegungen bezeichnen; in der Allgemeinheit, in der wir das Wort gebrauchen, soll es dagegen auch auf jeden Wunsch, jeden Entschluss und jede Absicht in gleicher Weise Anwendung finden. Doch bediente sich Kant wenigstens des Wortes Gemüth in noch weiterem Sinne als wir, indem er jedes psychische Vermögen, sogar das der Erkenntniss, als ein Vermögen des Gemüthes bezeichnete. Auch den Ausdruck Interesse pflegt man vorzugsweise nur für gewisse Acte, die zu dem hier umschriebenen Gebiete gehören, zu gebrauchen; namentlich in Fällen, wo Wissbegier oder Neugier erregt wird. Doch kann man wohl nicht leugnen, dass jede Lust oder Unlust an etwas, sich nicht ganz unpassend als Interesse bezeichnen lässt, und dass auch jeder Wunsch, jede Hoffnung, jeder Willensentschluss ein Act des Interesses ist, welches an etwas genommen wird. Statt mit dem einfachen Namen Liebe, hätte ich die Classe streng genommen als Lieben oder Hassen bezeichnen müssen; und nur weil man auch anderwärts, wie z. B. wenn man das Urtheilen als ein für-wahr-Halten bezeichnet, oder von Phänomenen des Begehrens in weiterem Sinne redet227, den Gegensatz mit eingeschlossen denkt; habe ich der Kürze halber den einen Namen für sich allein das Namenpaar vertreten lassen. Aber auch abgesehen davon wird vielleicht Mancher mir vorwerfen, dass ich den Namen zu weit gebrauche. Und es ist sicher, dass er nicht in jedem Sinne das ganze Gebiet umspannt. In einem anderen Sinne sagt man nämlich, dass man einen Freund, in einem anderen, dass man den Wein liebe; jenen liebe ich indem ich ihm Gutes wünsche, diesen, indem ich ihn selbst als etwas Gutes begehre und mit Lust geniesse. In einem Sinne wie dem, welchen das Wort in dem zweiten Falle hat, glaube ich nun, dass in jedem Acte, der zu dieser dritten 227 Wie Kant, wenn er das eine seiner drei Grundvermögen Begehrungsvermögen nennt, und Aristoteles, indem er ὄρεξις als Namen einer Grundclasse verwendet.

Capitel 6. Eintheilung der Seelenthätigkeiten.

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Classe gehört, etwas geliebt, genauer gesprochen etwas geliebt oder gehasst wird. Wie jedes Urtheil einen Gegenstand für wahr oder falsch nimmt, so nimmt in analoger Weise jedes Phänomen, welches der dritten Classe zugehört, einen Gegenstand für gut oder schlecht. Spätere Erörterungen werden dies näher erklären und hoffentlich vollkommen ausser Zweifel setzen. §. 4.   Vergleichen wir unsere Dreitheilung mit derjenigen, welche seit Kant in der Psychologie vorherrscht, so finden wir, dass sie in einer doppelten Hinsicht von ihr abweicht. Sie trennt in zwei Grundclassen die Phänomene, die bisher in der ersten Classe vereinigt wurden; und sie fasst die Phänomene der beiden letzten Classen in einem Gliede zusammen. In jeder dieser Beziehungen werden wir uns zu rechtfertigen haben. Wie aber soll uns eine solche Rechtfertigung gelingen? Werden wir etwas Anderes thun können, als auf die innere Erfahrung verweisen, welche lehre, dass die Beziehung des Bewusstseins zum Objecte in den einen Fällen eine durchaus gleiche oder eine ähnliche, in den anderen dagegen eine grundverschiedene sei? – Es scheint, als ob kein anderes Mittel uns zu Gebote stehe. Die innere Erfahrung ist offenbar die Schiedsrichterin, die in dem Streite über Gleichheit oder Verschiedenheit der intentionalen Beziehung allein zum Urtheile berechtigt ist. – Aber auf seine innere Erfahrung beruft sich auch jeder von unseren Gegnern. Und wessen Erfahrung wird hier den Vorzug verdienen? Doch die Schwierigkeit ist keine andere als in vielen anderen Fällen. Auch sonst geschieht es, dass man bei der Beobachtung Fehler macht: sei es, dass man etwas übersieht; sei es, dass man etwas, was man erschliesst oder sonst wie denkend hinzubringt, mit dem Beobachteten vermengt oder verwechselt. Wird man aber von Anderen aufmerksam gemacht, so erkennt man, namentlich bei erneuerter Beobachtung, den begangenen Fehler. Dies also werden wir auch hier thun müssen, in der Hoffnung eine Aenderung abweichender Ueberzeugungen und eine allgemeine Uebereinstimmung in dieser wichtigen Frage zu erzielen. Indess, wenn angestammte und tief eingewurzelte Vorurtheile dem Fehler der Beobachtung zur Seite stehen, so lehrt die Erfahrung und erklärt die Psychologie, dass die Erkenntniss des Irrthums nicht wenig erschwert ist. Es genügen dann nicht ein blosser Widerspruch gegen die hergebrachte Meinung und eine Aufforderung zu neuer Betrachtung; auch nicht ein Hinweis auf die Punkte, in welchen die Fehler der Beobachtung liegen, die man berichtigen will, und eine Entgegenstellung des wahren Thatbestan-

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des: vielmehr wird es nöthig sein, die Aufmerksamkeit zugleich auf solche Eigen­thümlichkeiten zu lenken, die damit in Zusammenhang stehen, und namentlich auch auf solches, was gemeinsam anerkannt, aber im Widerspruche mit der angeblichen Beobachtung ist. Endlich muss man suchen, nicht allein die Täuschung, sondern auch den Grund der Täuschung aufzudecken. Wenn irgendwo, so ist alles dieses auch in unserem Falle geboten; und wir werden auf solche Weise im nächsten Capitel unsere Trennung von Vorstellung und Urtheil, und in dem darauf folgenden unsere Zusammenfassung von Gefühl und Streben sorgfältig zu rechtfertigen uns bemühen.

Siebentes Capitel. Vorstellung und Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. §. 1.   Wenn wir sagen, Vorstellung und Urtheil seien verschiedene Grundclassen psychischer Phänomene, so meinen wir damit nach dem zuvor Bemerkten, sie seien zwei gänzlich verschiedene Weisen des Bewusstseins von einem Gegenstande. Dabei leugnen wir nicht, dass alles Urtheilen ein Vorstellen zur Voraussetzung habe. Wir behaupten vielmehr, dass jeder Gegenstand, der beurtheilt werde, in einer doppelten Weise im Bewusstsein aufgenommen sei, als vorgestellt und als anerkannt oder geleugnet. So wäre denn das Verhältniss ähnlich dem, welches mit Recht, wie wir sahen, von der grossen Mehrzahl der Philosophen, und von Kant nicht minder als von Aristoteles, zwischen Vorstellen und Begehren angenommen wird. Nichts wird begehrt, was nicht vorgestellt wird; aber doch ist das Begehren eine zweite, ganz neue und eigen­ thümliche Weise der Beziehung zum Objecte, eine zweite, ganz neue Art von Aufnahme desselben in’s Bewusstsein. Nichts wird auch beur­theilt, was nicht vorgestellt wird; aber wir behaupten, dass, indem der Gegenstand einer Vorstellung Gegenstand eines anerkennenden oder verwerfenden Urtheils werde, das Bewusstsein in eine völlig neue Art von Beziehung zu ihm trete. Er ist dann doppelt im Bewusstsein aufgenommen, als vorgestellt und als für wahr gehalten oder geleugnet, wie er, wenn die Begierde auf ihn sich richtet, als vorgestellt zugleich und als begehrt ihm inwohnt. Das sagen wir ist, was die innere Wahrnehmung und die aufmerksame Betrachtung der Erscheinungen des Urtheilens im Gedächtnisse klar erkennen lassen. §. 2.   Freilich hat dies nicht verhindert, dass das wahre Verhältniss zwischen Vorstellen und Urtheilen bis jetzt allgemein verkannt wurde, und ich muss desshalb darauf rechnen, dass ich, wenn ich auch nichts Anderes sage, als was das Zeugniss der inneren Wahrnehmung unmittelbar bestätigt, mit meiner Aufstellung zunächst dem grössten Misstrauen begegne. Aber wenn man nicht annehmen will, dass im Urtheilen zum blossen Vorstellen eine zweite, grundverschiedene Weise der Beziehung des Bewusstseins

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

zum Gegenstand hinzutrete, so leugnet man doch nicht und kann nicht leugnen, dass irgend ein Unterschied zwischen dem einen und anderen Zustande bestehe. Vielleicht wird eine nähere Erwägung darüber, worin die Verschiedenheit des Urtheilens, wenn sie nicht in unserer Weise aufgefasst wird, eigentlich liegen möge, zur Annahme unserer Behauptung geneigter machen, indem sie zeigt, dass keine einigermaassen haltbare Antwort gegeben werden kann. Käme im Urtheilen nicht eine zweite und eigenthümliche Weise der Beziehung zum Vorstellen hinzu; wäre also die Weise, wie der Gegenstand des Urtheils im Bewusstsein ist, wesentlich dieselbe wie die, welche Gegenständen, insofern sie vorgestellt werden, zukommt: so könnte ihr Unterschied wohl nur gefunden werden entweder in einem Unterschiede des Inhalts, d. h. in einem Unterschiede zwischen den Gegenständen, auf welche sich Vorstellung und Urtheil beziehen, oder in einem Unterschiede der Vollkommenheit, mit welcher derselbe Inhalt beim blossen Vorstellen und beim Ur­thei­len von uns gedacht wird. Denn zwischen dem Denken, welches wir Vorstellen, und demjenigen, welches wir Urtheilen nennen, besteht ja doch ein innerer Unterschied. A. Bain allerdings hatte den unglücklichen Gedanken, den Unterschied zwischen Vorstellen und Urtheilen nicht in diesen Denkthätigkeiten selbst, sondern in den daran geknüpften Folgen zu suchen. Weil wir dann, wann wir etwas nicht bloss vorstellen, sondern auch für wahr halten, in besonderer Weise bei unserem Wollen und Handeln es maassgebend werden lassen, so meinte er, der Unterschied des für-wahr-Haltens von dem blossen Vorstellen bestehe in nichts Anderem als in diesem Einflusse auf den Willen. Das Vorstellen, welches einen solchen Einfluss übe, sei dadurch, dass es ihn übe, ein Glauben (belief ). Ich nannte diese Theorie eine unglückliche. Und in der That, woher kommt es denn, dass das eine Vorstellen des Gegenstandes jenen Einfluss auf das Handeln hat, das andere aber ihn nicht hat. – Das blosse Aufwerfen der Frage genügt, um das Versehen, dessen Bain sich schuldig machte, deutlich zu zeigen. Die besonderen Folgen würden nicht sein, wenn nicht ein besonderer Grund dafür in der Beschaffenheit des Denkens gegeben wäre. Weit entfernt, dass der Unterschied in den Folgen die Annahme einer inneren Verschiedenheit zwischen der blossen Vorstellung und dem Urtheil entbehrlich machte, weist er vielmehr nachdrücklich auf eine solche innere Verschiedenheit hin. Von John Stuart Mill bekämpft228, hat darum 228 In einer Note zur Analysis of the Phenomena of the Human Mind von James Mill, 2. edit. I. p. 402.

Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 225

Bain selbst die von ihm in seinem grossen Werke über die Gemüthsbewegungen und den Willen229, so wie in den ersten Ausgaben seines Compendiums der Psychologie vertretene Behauptung in einer Schlussbemerkung zu dessen dritter Auflage als irrig anerkannt und zurückgenommen230. In einen ähnlichen Fehler ist der ältere Mill231 und in neuester Zeit wieder Herbert Spencer232 gefallen. Diese beiden Philosophen sind der Meinung, das Vorstellen einer Vereinigung von zwei Merkmalen sei dann mit Glauben (belief ) verbunden, wenn sich in dem Bewusstsein zwischen den beiden Merkmalen eine untrennbare Association gebildet habe, d. h. wenn die Gewohnheit zwei Merkmale verbunden vorzustellen so stark geworden sei, dass die Vorstellung des einen Merkmals unausbleiblich und unwiderstehlich auch das andere in’s Bewusstsein rufe und mit ihm verknüpfe. In nichts Anderem als in einer solchen untrennbaren Association, lehren sie, bestehe das Glauben. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob wirklich in jedem Falle, in welchem eine gewisse Verbindung von Merkmalen für wahr gehalten wird, eine untrennbare Association zwischen ihnen bestehe, und ob wirklich in jedem Falle, in welchem eine solche Association sich gebildet hat, die Verbindung für wahr gehalten werde. Angenommen vielmehr, Beides sei richtig, so ist es doch leicht erkennbar, dass diese Bestimmung des Unterschiedes zwischen Urtheil und Vorstellung nicht genügen kann, da, wenn der angegebene Unterschied allein zwischen dem Urtheil und der betreffenden Vorstellung bestände, beide in sich selbst betrachtet ein völlig gleiches Denken sein würden. Die Gewohnheit zwei Merkmale vereinigt zu denken ist nicht selbst ein Denken oder die besondere Beschaffenheit eines Denkens, sondern eine Disposition, die einzig und allein in ihren Folgen sich offenbart. Und die Unmöglichkeit von zwei Merkmalen das eine ohne das andere zu denken, ist eben so wenig selbst ein Denken oder die besondere Beschaffenheit eines Denkens; sie ist vielmehr nach der Ansicht der genannten Philosophen nur ein besonders hoher Grad jener Disposition. Wenn sich diese Disposition nur darin offenbart, dass die Verbindung von Merkmalen ausnahmslos, aber ganz in derselben Weise wie vor ihrer Erwerbung gedacht 229 The Emotions and the Will. 230 Mental and Moral Science, 3. edit. London 1872. Note on the chapter on Belief, Append. p. 100. 231 Anal. of the Phenom. of the Human Mind. Chapt. XI. 232 Principles of Psychology, 2. edit. I. London and Edinburgh, 1870. Sieh darüber J. St. Mill in einer Note zu dem eben citirten Capitel der Anal. p. 402.

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wird, so ist es klar, dass, wie wir sagten, zwischen dem Denken vorher, welches ein blosses Vorstellen, und dem Denken nachher, welches ein Glauben sein soll, in sich selbst kein Unterschied besteht. Wenn sich die Disposition aber noch in anderer Weise von Einfluss zeigt, so dass nach ihrer Erwerbung das Denken der Verbindung modificirt ist und eine neue, besondere Beschaffenheit erlangt hat, so muss man sagen, dass in dieser Beschaffenheit, nicht aber in der inseparablen Association, aus welcher sie hervorgeht, der eigentliche Unterschied des für-wahr-Haltens vom blossen Vorstellen anzuerkennen sei. Darum sagte ich, der Fehler von James Mill und Herbert Spencer sei demjenigen von Bain verwandt. Denn, wie Bain eine Besonderheit der Folgen mit der inneren Besonderheit des für-wahr-Haltens verwechselte, so haben der ältere Mill und Spencer etwas als Besonderheit dieser Weise des Denkens geltend gemacht, was sie nur etwa als Ursache seiner Besonderheit hätten bezeichnen dürfen. §. 3.   So viel also steht fest, dass der Unterschied zwischen Vorstellen und Ur­theilen ein innerer Unterschied des einen Denkens vom anderen sein muss. Und wenn dies, so gilt, was wir oben gesagt haben, dass nämlich wer unsere Anschauung über das Urtheilen bestreitet, die Verschiedenheit, die zwischen ihm und dem blossen Vorstellen besteht, nur in einem von Beidem, entweder in einem Unterschiede der gedachten Gegenstände, oder in einem Unterschiede der Vollkommenheit, mit welcher sie gedacht werden, suchen kann. Ziehen wir von diesen zwei Annahmen zunächst die letztere in Erwägung. Wo es sich um einen Unterschied der Vollkommenheit zweier psychischer Thätigkeiten handelt, die sowohl hinsichtlich der Weise ihrer Beziehung auf das Object als auch hinsichtlich des Inhalts, auf welchen sie sich beziehen, übereinstimmen, da kann wohl von nichts Anderem als von einem Unterschiede der Stärke des einen und anderen Actes die Rede sein. Die Frage, die wir zu untersuchen haben, ist also keine andere als die, ob etwa darin die Besonderheit des Urtheilens gegenüber dem Vorstellen bestehe, dass beim Urtheilen der Inhalt mit grösserer Intensität gedacht, also das Vorstellen eines Objectes durch eine Zunahme seiner Intensität zum für-wahr-Halten gesteigert werde. Es leuchtet ein, dass eine solche Auffassung nicht richtig sein kann. Nach ihr wäre das Urtheil eine stärkere Vorstellung, die Vorstellung ein schwächeres Urtheil. Aber ein Vorgestellt-sein, wenn auch noch so klar und deutlich und lebendig, ist nicht ein Beurtheilt-sein, und ein mit noch so geringer Zuversicht gefälltes Urtheil ist nicht eine blosse Vorstellung. Allerdings mag es geschehen, dass einer etwas, was ihm mit fieberhafter Lebhaftigkeit in der

Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 227

Phantasie erscheint wie etwas, was er sieht, für wirklich nimmt, was er nicht thun würde, wenn es ihm in schwächerem Eindrucke erschiene; aber wenn mit der grösseren Stärke einer Vorstellung in gewissen Fällen ein für-wahrHalten gegeben ist, so ist sie desshalb nicht selbst das für-wahr-Halten. Die Illusion kann darum schwinden, während die Lebendigkeit der Vorstellung beharrt. Und in anderen Fällen hält man mit aller Zuversicht etwas für wahr, obwohl der Inhalt des Urtheils nichts weniger als lebendig vorgestellt wird. Wie endlich sollte, wenn die Anerkennung eines Gegenstandes ein starkes Vorstellen wäre, die verneinende Verwerfung desselben gefasst werden? Gewiss wäre es unnütz, wollten wir uns länger mit der Bekämpfung einer Hypothese aufhalten, bei welcher schon von vorn herein nur Wenige geneigt sein werden, sie zu vertreten. Sehen wir vielmehr, ob es uns ebenso gelingen wird, den anderen Weg, auf welchem man mit grösserem Scheine unsere Annahme für vermeidlich halten könnte, als einen unmöglichen nachzuweisen. §. 4.   In der That geht eine sehr gewöhnliche Meinung dahin, dass das Ur­thei­ len in einem Verbinden oder Trennen bestehe, welches in dem Bereiche unseres Vorstellens sich vollziehe, und das bejahende Urtheil und, in etwas modificirter Art, auch das verneinende werden darum im Gegensatze zur blossen Vorstellung sehr gewöhnlich als ein zusammengesetztes oder auch beziehendes Denken bezeichnet. So gefasst würde das, was den Unterschied des Urtheilens vom blossen Vorstellen ausmachte, wirklich nichts Anderes sein als ein Unterschied des Urtheilsinhaltes vom Inhalte des bloss vorstellenden Denkens. Würde eine gewisse Art von Verbindung oder Beziehung zweier Merkmale gedacht, so wäre der Gedanken ein Urtheil, während jeder Gedanken, der nicht eine solche Beziehung zum Inhalte hätte, eine blosse Vorstellung genannt werden müsste. Aber auch diese Ansicht ist unhaltbar. Nehmen wir an, es sei richtig, dass immer nur eine gewisse Art von Verbindung mehrerer Merkmale den Inhalt eines Urtheils bilde, so wird dies die Urtheile zwar von einigen, keineswegs aber von allen Vorstellungen unterscheiden. Denn offenbar kommt es vor, dass ein Denkact, welcher nichts als ein blosses Vorstellen ist, eine vollkommen ähnliche, ja eine völlig gleiche Zusammensetzung mehrerer Merkmale zum Inhalte hat, wie diejenige, welche in einem anderen Falle den Gegenstand eines Urtheils bildet. Wenn ich sage: irgend ein Baum ist grün, so bildet das Grün als Eigenthümlichkeit mit einem Baume verbunden den Inhalt meines Urtheils. Es könnte mich aber

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

einer fragen: ist irgend ein Baum roth? und ich, in der Pflanzenwelt nicht genugsam erfahren und uneingedenk der herbstlichen Farbe der Blätter, könnte mich jedes Urtheils über die Frage enthalten. Aber dennoch würde ich die Frage verstehen und mir in Folge dessen einen rothen Baum vorstellen. Das Roth, ganz ähnlich wie zuvor das Grün als Eigenthümlichkeit mit einem Baume verbunden, würde dann den Inhalt einer Vorstellung bilden, mit welcher kein Urtheil gegeben wäre. Und hätte Jemand nur Bäume mit rothen und niemals einen mit grünen Blättern gesehen, so würde er vielleicht bei einer Frage über grüne Bäume nicht bloss eine ähnliche, sondern sogar dieselbe Verbindung von Merkmalen, die der Inhalt meines Urtheils war, in blosser Vorstellung erfassen. Offenbar hatten James Mill und Herbert Spencer dies erkannt, da sie bei der Bestimmung der Eigenthümlichkeit des Urtheils nicht wie die meisten Anderen dabei stehen blieben, dass der Inhalt des Urtheils eine gewisse Art von Verbindung vorgestellter Merkmale sei, sondern als eine weitere Bedingung hinzufügten, dass eine inseparabele Association zwischen denselben bestehen müsse. Und auch A. Bain hatte darum für nöthig gehalten, noch eine besondere Bestimmung hinzuzufügen, nämlich den Einfluss des Denkens auf das Handeln. Der Fehler, den sie begingen, war nur der, dass sie nicht in der Angabe einer inneren Besonderheit des urtheilenden Denkens, sondern in einem Unterschiede von Dispositionen oder Folgen die Ergänzung suchten. Glücklicher war hier John Stuart Mill, der den besprochenen Punkt mit grossem Nachdrucke hervorhob und überhaupt mehr als irgend ein anderer Philosoph einer richtigen Würdigung des Unterschiedes zwischen Vorstellung und Urtheil nahe gekommen ist. „Es ist“, sagt er in seiner Logik, „ganz richtig, dass wir, wenn wir urtheilen „Gold ist gelb“, die Idee von Gold und die Idee von gelb haben, und dass beide Ideen in unserem Geiste zusammengebracht werden müssen. Es ist aber klar, dass dies nur ein Theil von dem ist, was vorgeht; denn wir können zwei Ideen zusammenstellen, ohne dass ein Glauben stattfindet, wie wenn wir etwas, z. B. einen goldenen Berg, nur erdichten, oder wenn wir geradezu nicht glauben; denn sogar um nicht zu glauben, dass Muhammed ein Apostel Gottes war, müssen wir die Idee von Muhammed und die eines Apostels Gottes zusammenstellen. Zu bestimmen, was im Falle von Zustimmung oder Leugnung ausser dem Zusammenstellen zweier Ideen noch weiter vorgeht, ist eines der verwickeltsten metaphysischen Probleme233.“ 233 Ded. u. Ind. Logik Buch I. Cap. 5. §. 1.

Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 229

In seinen kritischen Noten zu James Mill’s Analyse der Phänomene des menschlichen Geistes geht er tiefer in die Sache ein. Er bekämpft in dem Capitel über die Aussage (Prädication) die Ansicht, welche in ihr in ähnlicher Weise den Ausdruck für eine gewisse Ordnung von Ideen wie in dem Namen den Ausdruck für eine einzelne Idee sehen wollte. Der charakteristische Unterschied zwischen einer Aussage und einer anderen Form des Sprechens, behauptet er seinerseits, sei vielmehr der, dass sie nicht bloss ein gewisses Object vor den Geist bringe, sondern dass sie etwas darüber behaupte, dass sie nicht bloss zur Vorstellung einer gewissen Ordnung von Ideen, sondern zum Glauben an sie anrege, indem sie anzeige, dass diese Ordnung eine wirkliche Thatsache sei234. Wiederholt kommt er darauf zurück, sowohl bei demselben235 als bei späteren Capiteln, wie beim Capitel über das Gedächtniss, wo ausser der Idee von dem Dinge und der Idee davon, dass ich es gesehen, nebst Anderem auch noch der Glauben, dass ich es gesehen habe, hinzukommen müsse236. Besonders ausführlich handelt er aber in einer langen Anmerkung zum Capitel „Belief“ von der eigen­ thümlichen Natur des Urtheils gegenüber der blossen Vorstellung. Er zeigt wiederum deutlich, dass es sich nicht in blosse Vorstellungen auflösen und durch blosse Zusammensetzung von Vorstellungen bilden lasse. Vielmehr, sagt er, müsse man jeden Versuch einer Ableitung der einen aus der anderen Erscheinung als etwas Unmögliches anerkennen und den Unterschied zwischen Vorstellung und Urtheil als eine letzte und ursprüngliche Thatsache betrachten. „Kurzum“, fragt er am Schlusse einer längeren Erörterung, „was ist für unseren Geist der Unterschied zwischen dem Gedanken, es sei etwas wirklich, und der Vorstellung eines von der Einbildungskraft entworfenen Gemäldes? Ich gestehe, dass ich keinen Ausweg finde, auf dem man sich der Ansicht entziehen könnte, dass der Unterschied ein letzter und ursprüng234 The characteristic difference between a predication and any other form of speech, is that it does not merely bring to mind a certain object ...; it asserts something respecting it ... Whatever view we adopt of the psychological nature of Belief, it is necessary to distinguish between the mere suggestion to the mind of a certain order among sensations or ideas – such as takes place when we think of the alphabet, or the numeration table – and the indication that this order is an actual fact, which is occurring, or which has occurred once or oftener, or which, in certain definite circumstances, always occurs; which are the things indicated as true by an affirmative predication, and as false by a negative one. (Anal. of the Phenom. of the Human Mind 2. edit. Ch. IV. Sect. 4. Note 48. I. p. 162 s.) 235 Ebend. Note 55. I. p. 187. 236 Ebend. Ch. X. Note 91. I. p. 329.

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licher ist237.“ Wir sehen, J. St. Mill erkennt hier einen Unterschied an, ähnlich dem welchen Kant und Andere zwischen Denken und Gefühl geltend gemacht haben. In ihrer Sprache ausgedrückt, würde die Behauptung von Mill diese sein, dass für Vorstellen und Glauben oder, wie wir sagen würden, für Vorstellen und Urtheilen zwei verschiedene Urvermögen angenommen werden müssen. Nach unserer Ausdrucksweise aber ist seine Lehre die, dass Vorstellen und Urtheilen zwei völlig verschiedene Arten der Beziehung auf einen Inhalt, zwei grundverschiedene Weisen des Bewusstseins von einem Gegenstande seien. Also, wie gesagt, angenommen sogar es finde wirklich bei jedem Urtheilen ein Verbinden oder Trennen vorgestellter Merkmale statt – und John Stuart Mill war in der That dieser Ansicht238 –: so besteht hierin doch nicht die wesentliche Eigenthümlichkeit des urtheilenden im Gegensatze zu dem bloss vorstellenden Denken. Eine solche Eigenthümlichkeit des Inhaltes würde die Urtheile zwar von einigen, nicht aber schlechthin von allen Vorstellungen unterscheiden. Und sie würde darum die Annahme einer anderen und mehr charakteristischen Besonderheit, wie die, welche wir in dem Unterschiede der Weise des Bewusstseins anerkennen, nicht entbehrlich machen. §. 5.   Aber noch mehr. Es ist nicht einmal richtig, dass bei allem Urtheilen eine Verbindung oder Trennung vorgestellter Merkmale statt hat. So wenig als das Begehren oder Verabscheuen, so wenig ist auch das Anerkennen oder Verwerfen ausschliesslich auf Zusammensetzungen oder Beziehungen gerichtet. Auch ein einzelnes Merkmal, das wir vorstellen, kann anerkannt oder verworfen werden. Wenn wir sagen, „A ist“, so ist dieser Satz nicht, wie Viele geglaubt haben und noch jetzt glauben, eine Prädication, in welcher die Existenz als Prädicat mit A als Subject verbunden wird. Nicht die Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, sondern „A“ selbst ist der Gegenstand, den wir anerkennen. Ebenso wenn wir sagen, „A ist nicht“, so ist dies keine Prädication der 237 „that the distinction is ultimate and primordial“. (Ebend. I. p. 412.) 238 Sowohl in seiner Logik gibt sie sich zu erkennen, wo Mill von dem Inhalte der Urtheile handelt (Buch I. Cap. 5) als auch in seinen Noten zu dem genannten Werke seines Vaters. So z. B. in folgender Stelle: „I think it is true, that every assertion, every object of Belief, – everything that can be true or false – that can be an object of assent or dissent – is some order of sensations or of ideas: some coexistence or succession of sensations or ideas actually experienced, or supposed capable of being experienced.“ (a. a. O. Ch. IV. Note 48. p. 162.)

Capitel 7. Vorstellung u. Urtheil zwei verschiedene Grundclassen. 231

Existenz von A in entgegengesetztem Sinne, keine Leugnung der Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, sondern „A“ ist der Gegenstand, den wir leugnen. Damit dies recht deutlich werde, mache ich darauf aufmerksam, dass, wer ein Ganzes anerkennt, jeden einzelnen Theil des Ganzen einschliesslich anerkennt. Wer immer daher eine Verbindung von Merkmalen anerkennt, erkennt einschliesslich jedes einzelne Element der Verbindung an. Wer anerkennt, dass ein gelehrter Mann, d. h. die Verbindung eines Mannes mit dem Merkmale „Gelehrsamkeit“ sei, erkennt einschliesslich an, dass ein Mann sei. Wenden wir dies an auf das Urtheil „A ist“. Wäre dieses Urtheil die Anerkennung der Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, so würde darin einschliesslich die Anerkennung jedes einzelnen Elementes der Verbindung, also auch die Anerkennung von A liegen. Wir kämen also an der Annahme einer einschliesslichen einfachen Anerkennung von A nicht vorbei. Aber wodurch würde sich diese einfache Anerkennung von A von der Anerkennung der Verbindung von A mit dem Merkmale „Existenz“, welche in dem Satze „A ist“ ausgesprochen sein soll, unterscheiden? Offenbar in gar keiner Weise. Somit sehen wir, dass vielmehr die Anerkennung von A der wahre und volle Sinn des Satzes, also nichts anderes als A Gegenstand des Urtheils ist. Erwägen wir in derselben Weise den Satz „A ist nicht“; vielleicht wird seine Betrachtung die Wahrheit unserer Auffassung noch einleuchtender machen. Wenn derjenige, welcher ein Ganzes anerkennt, jeden Theil des Ganzen einschliesslich anerkennt, so gilt doch nicht ebenso, dass derjenige, welcher ein Ganzes leugnet, jeden Theil des Ganzen einschliesslich leugnet. Wer leugnet, dass es weisse und blaue Schwäne gibt, leugnet darum nicht einschliesslich, dass es weisse Schwäne gibt. Und natürlich; da, wenn auch nur ein Theil falsch ist, das Ganze nicht wahr sein kann. Wer daher eine Verbindung von Merkmalen verwirft, verwirft dadurch keineswegs einschliesslich jedes einzelne Merkmal, welches Element der Verbindung ist. Wer z. B. leugnet, dass es einen gelehrten Vogel, d. h. die Verbindung eines Vogels mit dem Merkmale „Gelehrsamkeit“ gebe, leugnet damit nicht einschliesslich, dass ein Vogel, oder dass Gelehrsamkeit in Wirklichkeit bestehe. Machen wir auch hievon auf unseren Fall Anwendung. Wäre das Urtheil „A ist nicht“ die Leugnung der Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, so würde damit keineswegs A selbst geleugnet sein. Das aber wird unmöglich Jemand behaupten. Vielmehr ist klar, dass nichts Anderes als eben dies der Sinn des Satzes ist. Somit ist auch nichts Anderes als A der Gegenstand dieses verwerfenden Urtheils.

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§. 6.   Dass die Prädication nicht zum Wesen eines jeden Urtheils gehört, geht auch daraus recht deutlich hervor, dass jede Wahrnehmung zu den Ur­thei­len zählt; ist sie ja eine Erkenntniss oder doch ein, wenn auch irr­thüm­ liches, für-wahr-Nehmen. Wir haben dies, da wir von den verschiedenen Momenten des inneren Bewusstseins sprachen, schon berührt239. Und es wird auch von solchen Denkern nicht geleugnet, welche dafür halten, dass jedes Urtheilen in einem Verbinden von Subject und Prädicat bestehe. So erkennt z. B. J. St. Mill es ausdrücklich an sowohl anderwärts als auch an der zuletzt von uns citirten Stelle. Es liege, fügt er hier bei, keine grössere Schwierigkeit darin, so, wie er es gethan, den Unterschied zwischen dem Anerkennen einer Realität und dem Vorstellen eines imaginären Gebildes für einen letzten und ursprünglichen zu halten, als darin, den Unterschied zwischen einer Sensation und einer Idee240 für einen ursprünglichen zu erklären. Es scheine dieser kaum etwas Anderes als dieselbe Differenz unter verändertem Gesichtspunkte betrachtet241. Nun dürfte es aber nicht leicht etwas geben, was offenbarer und unverkennbarer wäre, als dass eine Wahrnehmung nicht in der Verbindung eines Subject- und Prädicatbegriffes bestehe, oder sich auf eine solche beziehe, dass vielmehr der Gegenstand einer inneren Wahrnehmung nichts Anderes als ein psychisches Phänomen, der Gegenstand einer äusseren nichts Anderes als ein physisches Phänomen, Ton, Geruch oder dergleichen sei. Also haben wir hier einen recht augenscheinlichen Beleg für die Wahrheit unserer Behauptung. Oder sollte einer auch hier noch Bedenken hegen? Sollte er, weil man nicht bloss sagt, man nehme eine Farbe, einen Ton, man nehme ein Sehen, ein Hören wahr, sondern auch, man nehme wahr, dass ein Sehen, Hören ­existire, sich zu dem Glauben verleiten lassen, auch die Wahrnehmung bestehe in der Anerkennung der Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit dem betreffenden Phänomene? Mir scheint eine solche Verkennung offen liegender Thatsachen fast undenkbar. Doch auf ’s Neue und mit einer vorzüglichen Klarheit wird sich die Unhaltbarkeit einer solchen Meinung aus der 239 Buch II. Cap. 3. §. 1 ff. 240 Im Sinne Hume’s, s. o. Buch I. Cap. 1. §. 2. S. 28. 241 Er fährt fort: There is no more difficulty in holding it to be so, than in holding the difference between a sensation and an idea to be primordial. It seems almost an­other aspect or the same difference. Ebenso sagt er im Verlaufe derselben Abhandlung: The difference [between recognising something as a reality in nature, and regarding it as a mere thought of our own] presents itself in its most elementary form in the distinction between a sensation and an idea. (a. a. O. p. 419.)

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Erörterung des Begriffes der Existenz ergeben. Manche waren der Ansicht, dass dieser Begriff nicht der Erfahrung entnommen sein könne. Wir werden darum bei der Untersuchung über die sogenannten angeborenen Ideen ihn in dieser Hinsicht zu prüfen haben. Und wir werden dann finden, dass er allerdings der Erfahrung, aber der inneren Erfahrung entstammt und nur im Hinblicke auf das Urtheil gewonnen wurde. So wenig daher der Begriff des Urtheils in dem ersten Urtheile Prädicat sein konnte, so wenig der Begriff der Existenz. Und darum erkennt man auch auf diesem Wege, dass wenigstens die erste Wahrnehmung, diejenige, welche in dem ersten psychischen Phänomene gegeben war, unmöglich in einer solchen Prädication bestanden haben kann. J. St. Mill definirt in der letzten (achten) Ausgabe seiner Logik den Begriff Existenz in folgender Weise. Sein, sagt er, heisse so viel als irgendwelche (gleichvielwelche) Sinnesempfindungen oder sonstige Bewusstseinszustände erregen oder erregen können242. Obwohl ich diese Bestimmung nicht vollkommen billige, so würde doch auch sie genügen, um die Unmöglichkeit, dass bei der ersten Empfindung der Begriff Existenz als Prädicat des Urtheils benützt werden konnte, recht anschaulich zu machen. Denn darin stimmt sie mit derjenigen, welche wir als die richtige darzuthun hoffen, überein, dass sie erst im Hinblick auf psychische Thätigkeiten gewonnen werden konnte, die in jenem Falle umgekehrt ihrerseits ihn voraussetzen und als einen schon gegebenen verwenden würden. §. 7.   Dass nicht jedes Urtheil auf eine Verbindung vorgestellter Merkmale sich beziehe, und die Prädication eines Begriffes von einem anderen nicht unumgänglich dazu gehöre, ist eine Wahrheit, die zwar gewöhnlich, aber doch nicht ausnahmslos verkannt wurde. Kant hat bei seiner Kritik des ontologischen Gottesbeweises die treffende Bemerkung gemacht, in einem Existentialsatze, d. h. in einem Satze von der Formel „A ist“, sei das Sein „kein reales Prädicat, d. i. ein Begriff von etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne“. „Es ist“, sagte er, „bloss die Position eines Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.“ Anstatt aber nun zu erklären, dass der Existentialsatz überhaupt kein kategorischer Satz sei, weder ein im Kant’schen Sinne analytischer, d. h. ein solcher, bei welchem das Prädicat im Subject eingeschlossen ist, noch ein synthetischer, bei welchem das Sub-

242 Uebersetzung von Gomperz, Anhang, III. S. 373.

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ject das Prädicat nicht in sich begreift243, liess Kant sich dazu verleiten, den Satz zu den synthetischen zu rechnen, indem er meinte, wie das „ist“ der Copula gewöhnlich zwei Begriffe zu einander in Beziehung setze, so setze das „ist“ in dem Existentialsatz „den Gegenstand in Beziehung auf meinen Begriff“. „Der Gegenstand“, sagt er, „kommt zu meinem Begriffe synthetisch hinzu244.“ Dies war eine unklare und widerspruchsvolle Halbheit. Herbart machte ihr ein Ende, indem er die Existentialsätze deutlich als eine besondere Art von den kategorischen Sätzen unterschied245. Andere Philosophen, und nicht bloss seine zahlreichen Anhänger, sondern bis zu gewissem Maasse auch Solche, die, wie Trendelenburg, der Herbart’schen Schule gewöhnlich polemisch entgegentreten, haben sich ihm in diesem Punkte angeschlossen246. 243 Auch diese Bestimmungen gebe ich nach Kant. Dass sie eigentlich nicht auf die betreffenden Urtheile passen (was aus den folgenden Untersuchungen hervorgehen wird), hindert nicht, dass sie, wegen ihrer Uebereinstimmung mit der Ansicht, die man gemeiniglich von ihnen hat, sie genugsam kennzeichnen. 244 Dass Kant die Urtheile der Existentialsätze noch mit zu den kategorischen Urtheilen rechnete, ersieht man daraus, dass er ihrer bei der Relation der Urtheile nicht besonders erwähnt. Ganz eben so nahe wie Kant ist im Mittelalter Thomas von Aquin der Wahrheit gekommen, und merkwürdiger Weise in Reflexion auf denselben Satz „Gott ist“. Auch nach ihm soll das „ist“ kein reales Prädicat, sondern ein Zeichen des für-wahr-Haltens sein. (Summ. Theol. P. I. Q. 3. A. 4. ad 2.) Aber auch er hält dennoch den Satz für kategorisch (ebend.) und glaubt, dass das Urtheil einen Vergleich unserer Vorstellung mit ihrem Gegenstande enthalte, was nach ihm von jedem Urtheile gelten soll. (Q. 16. A. 2.) Dass dies unmöglich ist, haben wir früher gesehen. (Vgl. Buch II. Cap. 3. §. 2. S. 157 ff.) 245 Vgl. darüber Drobisch, Logik, 3. Aufl. S. 61. 246 Logische Untersuchungen 2. Aufl. II. S. 208. Vgl. auch das Citat aus Schleierma­ cher (ebend. S. 214, Anm. 1). Anklänge an die richtige Auffassung der Existentialsätze finden sich schon bei Aristoteles. Doch scheint er nicht zu voller Klarheit über sie gelangt zu sein. In seiner Metaphysik, Θ, 10 lehrt er, dass, da die Wahrheit des Denkens in seiner Uebereinstimmung mit den Dingen bestehe, die Erkenntniss einfacher Gegenstände im Gegensatze zu anderen Erkenntnissen nicht eine Verbindung oder Trennung von Merkmalen, sondern ein einfaches Denken, ein Wahrnehmen (er nennt es Berühren, θιγεῖν) sein müsse. In der Schrift „De Interpretatione“ (Cap. 3) spricht er klar aus, dass das „Sein“ der Copula nicht etwas für sich bedeute wie ein Namen, sondern nur den Ausdruck eines Urtheils ergänze, und von diesem „Sein“ der Copula hat er das „Sein“ im Existentialsatze nie als etwas wesentlich Anderes, und als etwas, was schon für sich eine Bedeutung habe, unterschieden. Zeller sagt mit Recht: „Dass jeder Satz, selbst der Existentialsatz, logisch betrachtet aus drei Bestandtheilen besteht, sagt Aristoteles nirgends.“ Und

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Aber noch mehr. Wenn auch nicht alle Denker die von uns vertretene Auffassung des Existentialsatzes bereits als richtig anerkennen, so geben doch gegenwärtig alle ohne Ausnahme eine andere Wahrheit zu, aus welcher sich dieselbe mit grösster Stringenz erschliessen lässt. Auch diejenigen, welche die Natur des „ist“ und „ist nicht“ in dem Existentialsatze missdeuten, beur­ theilen doch das „ist“ und „ist nicht“, welche als Copula zu einem Subject und Prädicat hinzukommen, vollkommen richtig. Wenn sie glauben, dass das „ist“ und „ist nicht“ im Existentialsatze etwas für sich allein bezeichne; dass es die Vorstellung des Prädicats „Existenz“ zu der Vorstellung des Subjects hinzubringe, um beide mit einander zu verknüpfen: so erkennen sie dagegen hinsichtlich der Copula an, dass sie, für sich allein genommen ohne alle Bedeutung, nur den Ausdruck von Vorstellungen zum Ausdrucke eines anerkennenden oder verwerfenden Urtheils ergänze. Hören wir z. B. J. St. Mill, der in der Auffassung des Existentialsatzes unser Gegner ist: „Ein Prädicat und ein Subject“, sagt er, „sind alles, was nöthig ist, um ein Urtheil zu bilden. Da wir aber aus der blossen Zusammenstellung zweier Namen nicht ersehen können, dass sie Prädicat und Subject sind, d. h. dass das eine von dem anderen behauptet oder verneint werden soll, so muss ein Modus oder eine Form da sein, woraus sich das erkennen lässt, irgend ein Zeichen, um eine Prädication von jeder anderen Redeform zu unterscheiden ... Diese Function wird bei einer Affirmation gewöhnlich von dem Worte „ist“, bei einer Negation von „ist nicht“ oder durch einen anderen Theil des Zeitwortes „sein“ übernommen. Ein solches als Zeichen der Prädication dienendes Wort wird Copula genannt247.“ Von diesem „ist“ oder „ist nicht“ der Copula unterscheidet er dann ausdrücklich dasjenige, welches den Begriff der Existenz in seiner Bedeutung einschliesse. Das ist die Lehre nicht allein von Mill, sondern man darf sagen von Allen, welche in der Auffassung des Existen­tial­satzes nicht mit uns übereinstimmen. Ausser von Logikern findet man sie auch von Grammatikern und Lexicographen vertreten248. Und wenn er macht darauf aufmerksam, wie vielmehr Manches eine entgegengesetzte Ansicht bei Aristoteles erkennen lasse. (Philos. d. Griechen II. 2. S. 158, Anm. 2.) Wäre dies richtig, so würde Aristoteles hiedurch nicht hinter der Lehre der gewöhnlichen späteren Logik zurückstehen, wie Zeller zu glauben scheint, sondern im Gegentheile hier wie in manchem anderen Punkte eine richtigere Anschauung anticipirt haben. (Man vgl. auch die Reproduction der Aristotelischen Lehre bei Thomas von Aquin, Summ. Theol. P. I. Q. 85. A. 5.) 247 Ded. u. Induct. Logik. Uebers. v. Schiel, I. S. 93. 248 Vgl. z. B. Heyse’s Wörterbuch der Deutschen Sprache.

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J. St. Mill erst James Mill diese Auffassung klar entwickeln lässt249, so ist er sehr im Unrecht. Er hätte sie z. B. in der Logik von Port Royal schon ganz ebenso dargelegt finden können250. Wohlan denn, – es bedarf nicht mehr als dieses Zugeständnisses, welches unsere Gegner allgemein in Betreff der Copula machen, um daraus mit Nothwendigkeit zu folgern, dass auch dem „ist“ und „ist nicht“ des Existentialsatzes keine andere Function zugeschrieben werden könne. Denn auf ’s Deutlichste lässt sich zeigen, dass jeder kategorische Satz ohne irgend welche Aenderung des Sinnes in einen Existentialsatz übersetzt werden kann, und dass dann das „ist“ und „ist nicht“ des Existentialsatzes an die Stelle der Copula tritt. Ich will dies an einigen Beispielen nachweisen. Der kategorische Satz „irgend ein Mensch ist krank“ hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein kranker Mensch ist“ oder „es gibt einen kranken Menschen“. Der kategorische Satz „kein Stein ist lebendig“ hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein lebendiger Stein ist nicht“ oder „es gibt nicht einen lebendigen Stein“. Der kategorische Satz „alle Menschen sind sterblich“ hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein unsterblicher Mensch ist nicht“ oder „es gibt nicht einen unsterblichen Menschen“251. Der kategorische Satz „irgend ein Mensch ist nicht gelehrt“ hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein ungelehrter Mensch ist“ oder „es gibt einen ungelehrten Menschen“. Da in den vier Beispielen, die ich wählte, die sämmtlichen vier Classen von kategorischen Urtheilen, welche die Logiker zu unterscheiden pflegen252, vertreten sind, so ist die Möglichkeit der sprachlichen Umwandlung der kategorischen Sätze in Existentialsätze dadurch allgemein erwiesen; und 249 Ebend. S. 95. 250 Logique ou l’Art de Penser, II. Partie, Chap. 3. 251 Die gewöhnliche Logik erklärt, die Urtheile „alle Menschen sind sterblich“ und „kein Mensch ist nicht sterblich“ für aequipollent (vgl. z. B. Ueberweg, Logik, Th. 5. §. 96. 2. Aufl. S. 235); in Wahrheit sind sie identisch. 252 Die particulär bejahenden, die allgemein verneinenden, und die irrthümlich sogenannten allgemein bejahenden und particulär verneinenden. In Wahrheit ist, wie die obige Rückführung auf die existentiale Formel deutlich erkennen lässt, kein bejahendes Urtheil allgemein (es müsste denn ein Urtheil mit individueller Materie allgemein genannt werden) und kein verneinendes Urtheil particulär.

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es ist deutlich, dass das „ist“ und „ist nicht“ des Existentialsatzes nichts als ein Aequivalent der Copula, also kein Prädicat, und für sich allein genommen gänzlich bedeutungslos ist. Doch ist die von uns gegebene Rückführung der vier kategorischen Sätze auf Existentialsätze auch wirklich richtig? Gerade von Seiten Herbart’s, den wir zuvor als Zeugen anriefen, würde sie vielleicht beanstandet werden. Denn seine Auffassung der kategorischen Sätze war von der unserigen völlig verschieden. Er glaubte, dass jeder kategorische Satz ein hypothetisches Ur­theil ausdrücke, dass das Prädicat nur unter einer gewissen Voraussetzung, nämlich unter Voraussetzung der Existenz des Subjects, demselben zuoder abgesprochen werde. Gerade darauf gründete er seinen Beweisversuch dafür, dass der Existentialsatz nicht als ein kategorischer Satz gefasst werden dürfe253. Nach uns dagegen entspricht der kategorische Satz einem Ur­theile, das man ebensogut in der existentialen Formel aussprechen kann, und die in Wahrheit affirmativen kategorischen Sätze enthalten einschliesslich die Anerkennung des Subjectes254. Allein, so sehr wir die Ansicht Herbart’s über das „Sein“ des Existentialsatzes billigen, so wenig können wir mit seiner Deduction derselben uns einverstanden erklären. Vielmehr scheint uns diese ein Beispiel, das in ausgezeichneter Weise die Bemerkung des Aristoteles bestätigt, dass irrige Prämissen zu einem richtigen Schlusssatze führen können. Es ist eine starke, ja unmögliche Zumuthung, zu glauben, dass der Satz „irgend ein Mensch geht spaziren“ oder auch der oben angeführte „irgend ein Mensch ist krank“ die stillschweigende Voraussetzung „wenn es nämlich einen Menschen gibt“ enthalte. Und ebenso ist es nicht bloss nicht richtig, sondern es hat auch nicht den mindesten Schein für sich, dass der Satz „irgend ein Mensch ist nicht gelehrt“ diese Voraussetzung mache. Bei dem Satze „kein Stein ist lebendig“ wüsste ich gar nicht, was die Beschränkung „wenn es nämlich einen Stein gibt“ für eine Bedeutung haben sollte. Wenn es keinen Stein gäbe, so wäre es ja sicher eben so richtig, dass es keinen lebendigen Stein gibt, als jetzt, da Steine existiren. Nur bei dem Beispiele „alle 253 Vgl. Drobisch, Logik, 3. Aufl. S. 59 ff. 254 Die in Wahrheit affirmativen sind nach dem, was in einer vorausgehenden Note bemerkt worden ist, das sogenannte particulär bejahende und das sogenannte particulär verneinende. Die in Wahrheit negativen Behauptungen, zu welchen auch die allgemein bejahenden gehören, enthalten selbstverständlich nicht die Anerkennung des Subjects, da sie ja überhaupt nicht etwas anerkennen, sondern verwerfen. Warum sie auch nicht die Verwerfung des Subjects enthalten, zeigt eine frühere Erörterung (S. 231).

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Menschen sind sterblich“, einem von den gewöhnlich sogenannten allgemein bejahenden Sätzen, hat es allerdings einen gewissen Schein, als ob eine beschränkende Bedingung darin enthalten sei. Er scheint die Verbindung von „Mensch“ und „sterblich“ zu behaupten. Diese Verbindung von Mensch und sterblich besteht offenbar nicht, wenn kein Mensch besteht. Und doch lässt sich aus dem Satze „alle Menschen sind sterblich“ die Existenz eines Menschen nicht erschliessen. Somit scheint er die Verbindung von Mensch und sterblich nur unter der Voraussetzung der Existenz eines Menschen zu behaupten. Doch ein Blick auf den diesem kategorischen Satze äquivalenten Existentialsatz löst die ganze Schwierigkeit. Er zeigt, dass der Satz in Wahrheit keine Bejahung, sondern eine Verneinung ist, und darum gilt von ihm Aehnliches wie das, was wir so eben über den Satz „kein Stein ist lebendig“ bemerkten. Wenn ich übrigens die Lehre Herbart’s, dass alle kategorischen Sätze hypothetische Sätze seien, hier bekämpfte, so that ich es nur, um meine oben gegebenen Uebersetzungen in Existentialsätze im Einzelnen zu rechtfertigen, nicht aber, weil in dem Falle, dass Herbart Recht hätte, eine solche Rückführung unmöglich sein würde. Im Gegentheile gilt von den hypothetischen Sätzen dasselbe, was ich von den kategorischen sagte; auch sie lassen sich sämmtlich in die existentiale Formel kleiden, und es ergibt sich dann, dass sie lauter verneinende Behauptungen sind. Ein Beispiel wird genügen, um zu zeigen, wie dasselbe Urtheil ohne die geringste Veränderung sowohl in der Formel eines hypothetischen als in der eines kategorischen und eines Existentialsatzes ausgesprochen werden kann. Der Satz „wenn ein Mensch schlecht handelt, schädigt er sich selbst“ ist ein hypothetischer Satz. Er ist aber dem Sinne nach derselbe wie der kategorische Satz „alle schlechthandelnden Menschen schädigen sich selbst“. Und dieser wiederum hat keine andere Bedeutung als der Existentialsatz „ein sich selbst nicht schädigender schlechthandelnder Mensch ist nicht“ oder, etwas, gefälliger ausgedrückt, „es gibt keinen sich selbst nicht schädigenden schlechthandelnden Menschen“. Die schwerfällige Gestalt, die der Ausdruck des Urtheils in der existentialen Formel erhält, macht es sehr begreiflich, warum die Sprache ausser ihr auch andere syntaktische Einkleidungen erfunden hat, aber mehr als ein Unterschied sprachlichen Ausdruckes liegt in der Verschiedenheit der drei Sätze nicht vor, obwohl der berühmte Philosoph von Königsberg sich verleiten liess, um derartiger Verschiedenheiten willen fundamentale Unterschiede der Urtheile anzunehmen, und besondere apriorische Kategorien auf diese „Relation der Urtheile“ zu gründen.

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Die Rückführbarkeit der kategorischen, ja die Rückführbarkeit aller Sätze, welche ein Urtheil ausdrücken, auf Existentialsätze ist also zweifellos255. Und dieses dient in doppelter Weise die irrige Meinung derjenigen zu widerlegen, welche den wesentlichen Unterschied des Urtheils von der Vorstellung darin finden wollten, dass es eine Verbindung von Merkmalen zum Inhalte habe. 255 Es gibt noch gewisse Fälle, in welchen eine solche Rückführbarkeit aus specielleren Gründen beanstandet werden könnte. Obwohl ich ihretwegen den Gang der Untersuchung im Texte nicht aufhalten will (denn Mancher wird sich von vorn herein wenig daran stossen), so scheint es mir doch andererseits gut, sie wenigstens in einer Anmerkung zu berücksichtigen. J. St. Mill, wo er in seiner Logik die verschiedene Natur des „Seins“ der Copula und des „Seins“ des Existentialsatzes, welches nach ihm den Begriff der Existenz einschliesst, klar machen will, beruft sich zur Verdeutlichung auf den Satz „ein Centaur ist eine Erfindung der Poeten“. Dieser, sagt er, könne unmöglich eine Existenz aussagen, da vielmehr im Gegen­theil daraus hervorgehe, dass das Subject kein reales Dasein besitze. (Buch I. Cap. 4. §. 1.) Ein anderesmal führt er zu ähnlichem Zwecke den Satz an: „Jupiter ist ein Non-Ens“. In der That sind diese Sätze von der Art, dass bei ihnen die Rückführbarkeit auf existentiale Sätze am Wenigsten möglich scheint. Im Briefwechsel mit Mill hatte ich einmal die Frage über die Existentialsätze zur Sprache gebracht, und namentlich auch die Möglichkeit der Zurückführung einer jeden Aussage auf einen Existentialsatz dagegen geltend gemacht, dass das „Sein“ desselben sich zu dem der Copula so, wie er glaubte, verhalte. In seiner Antwort beharrte Mill auf seiner alten Auffassung. Und obwohl er nicht ausdrücklich der von mir dargelegten Rückfübrbarkeit aller anderen Aussagen auf existentiale widersprach, so vermuthete ich doch, ich möge diesen Punkt meiner Beweisführung ihm nicht genugsam einleuchtend gemacht haben. Ich kam darum nochmals auf ihn zurück und besprach auch speciell die Beispiele in seiner Logik. Da ich unter meinen Papieren gerade ein Brouillon des Briefes finde, so will ich die kleine Erörterung hier wörtlich wiederholen. „Es dürfte“, schrieb ich, „nicht undienlich sein, wenn ich die Möglichkeit einer solchen Reduction speciell an einem Satze zeige, welchen Sie in Ihrer Logik so zu sagen als ein Beispiel, an dem das Gegentheil ersichtlich sei, anführen. Der Satz ‚ein Centaur ist eine Erfindung der Poeten‘ verlangt, wie Sie mit Recht bemerken, nicht, dass ein Centaur existire, vielmehr das Gegentheil. Allein er verlangt, um wahr zu sein, wenigstens dass etwas Anderes existire, nämlich eine Fiction der Poeten, die in einer besonderen Weise Theile des menschlichen Organismus und Theile des Pferdes verbindet. Wenn es keine Fiction der Poeten gäbe, und wenn es keinen von den Poeten fingirten Centauren gäbe, so wäre der Satz falsch; und seine Bedeutung ist thatsächlich keine andere als die, ‚es gibt eine poetische Fiction, welche einen menschlichen Oberleib mit dem Rumpfe eines Pferdes zu einem lebenden Wesen vereinigt denkt‘, oder (was dasselbe sagt) ‚es gibt einen von den Poeten fingirten Centauren‘. Aehnliches gilt, wenn ich sage, Jupiter sei ein Non-Ens, d. h. wohl, er sei etwas, was bloss in der Einbildung, nicht aber in Wirklichkeit bestehe. Die Wahrheit des Satzes verlangt nicht, dass es einen Jupiter, wohl aber, dass es etwas Anderes gebe. Gäbe es nicht etwas, was bloss in der Vorstellung existirte, so wäre der Satz nicht wahr. – Der besondere Grund, warum

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Einmal tritt bei der Rückführung des kategorischen auf den Existentialsatz das „Sein“ des Existentialsatzes an die Stelle der Copula und lässt so erkennen, dass es so wenig wie diese ein Prädicat enthält. Dann sieht man recht anschaulich, wie die Verbindung mehrerer Glieder, die man‚ für die allgeman bei Sätzen wie ‚der Centaur ist eine Fiction‘ geneigt ist, ihre Rückführbarkeit auf Existentialsätze anzuzweifeln, liegt in einem, wie mir scheint, von den Logikern bisher übersehenen Verhältniss ihrer Prädicate zu ihren Subjecten. Aehnlich wie die Adjectiva für das ihnen beigefügte Substantiv, sind auch die Prädicate für das mit ihnen verbundene Subject gewöhnlich etwas, was den Begriff durch neue Bestimmungen bereichert, manchmal aber etwas, was ihn modificirt. Das Erste gilt z. B., wenn ich sage ‚ein Mensch ist gelehrt‘; das Zweite, wenn ich sage ‚ein Mensch ist todt‘. Ein gelehrter Mensch ist ein Mensch; ein todter Mensch ist aber kein Mensch. So setzt denn der Satz ‚ein todter Mensch ist‘ nicht, um wahr zu sein, die Existenz eines Menschen, sondern nur die eines todten Menschen voraus; und ähnlich fordert der Satz ‚ein Centaur ist eine Fiction‘ nicht, dass es einen Centauren, sondern einen fingirten Centauren, d. i. die Fiction eines Centauren gebe, u. s. f.“ Vielleicht dient diese Erklärung dazu, ein Bedenken, das in Jemand entstanden sein konnte, zu beseitigen. Was Mill selbst betrifft, so zeigte es sich, dass sie bei ihm gar nicht nöthig gewesen wäre, denn er antwortete mir unter dem 6. Februar 1873: „You did not, as you seem to suppose fail to convince me of the invariable convertibility of all categorical affirmative propositions into predica­ tions of existence (er meint affirmative Existentialsätze, die ich natürlich nicht als „Prädicationen von Existenz“ bezeichnet hatte). The suggestion was new to me, but I at once saw its truth when pointed out. It is not on that point that our differ­ ence hinges etc.“ Dass Mill trotz der zugestandenen Rückführbarkeit aller kategorischen Sätze auf Existentialsätze seine Meinung das „ist“ und „ist nicht“ in ihnen enthalte einen Prädicatsbegriff „Existenz“ wie früher festhielt, zeigt sich schon in der mitgetheilten Stelle seines Briefes, und er sprach es in dem darauf Folgenden noch entschiedener aus. Wie er aber dabei an seiner Lehre von der Copula festhalten könne, zeigte er nicht. Consequent hätte er sie aufgeben und überhaupt noch Vieles in seiner Logik (wie z. B. Buch I. Cap. 5. §. 5) wesentlich umbilden müssen. Ich hoffte, im Frühsommer seiner Einladung nach Avignon folgend, über diese wie über andere zwischen uns schwebende Fragen mündlich mich leichter mit ihm verständigen zu können, und urgirte den Punkt nicht weiter. Doch sein plötzlicher Tod vereitelte meine Hoffnungen. Nur noch eine kurze Bemerkung will ich meiner Erörterung gegen Mill beifügen. Die Sätze von der Art wie „ein Mensch ist todt“ sind im wahren Sinne des Wortes gar nicht kategorisch zu nennen, weil todt kein Attribut, sondern, wie gesagt, eine Modification des Subjectes enthält. Was würde einer zu dem kategorischen Schlusse sagen: „alle Menschen sind lebende Wesen; irgend ein Mensch ist todt; also ist irgend ein Todtes ein lebendes Wesen“? Er wäre aber, wenn die Minor ein wahrer kategorischer Satz wäre, ein gültiger Schluss der dritten Figur. Wollten wir nun mit Kant, solchen verschiedenen Aussageformeln entsprechend, verschiedene Classen von „Relation“ der Urtheile annehmen, so hätten wir hier wieder neue „transcendentale“ Entdeckungen zu machen. In Wahrheit ist aber

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meine und besondere Natur der Urtheile so wesentlich glaubte, die Combination von Subject und Prädicat, von Antecedens und Consequens u. s. f., in Wahrheit nichts anderes als Sache des sprachlichen Ausdruckes ist. Hätte man dies von Anfang erkannt, so wäre wohl Niemand auf den Gedanken gekommen, Vorstellungen und Urtheile dadurch zu unterscheiden, dass der Inhalt der ersteren ein einfacher, der Inhalt der letzteren ein zusammengesetzter Gedanken sei. Denn in Wahrheit besteht hinsichtlich des Inhaltes nicht der geringste Unterschied. Der Bejahende, der Verneinende und der ungewiss Fragende haben denselben Gegenstand im Bewusstsein; der letzte, indem er ihn bloss vorstellt, die beiden ersten, indem sie ihn zugleich vorstellen und anerkennen oder verwerfen. Und jedes Object, das Inhalt einer Vorstellung ist, kann unter Umständen auch Inhalt eines Ur­theils werden. §. 8.   Ueberblicken wir noch einmal rasch den Gang unserer Untersuchung in seinen wesentlichsten Momenten. Wir sagten, wenn man nicht zugebe, dass zwischen Vorstellung und Urtheil ein Unterschied wie zwischen Vorstellung und Begehren, d. h, ein Unterschied in der Weise der Beziehung zum Gegenstand bestehe, so leugne doch Niemand, dass irgend ein Unterschied zwischen beiden anerkannt werden müsse. Ein bloss äusserer Unterschied, eine blosse Verschiedenheit in den Ursachen oder Folgen könne aber dieser Unterschied offenbar nicht sein. Vielmehr sei er, wenn man die Verschiedenheit der Beziehungsweisen ausschliesse, nur in zweifacher Art denkbar; entweder als ein Unterschied in dem, was gedacht wird, oder als ein Unterschied der Inten­ sität, mit welcher es gedacht wird. Wir prüften beide Hypothesen. Die zweite erwies sich sofort als hinfällig. Aber auch die erste, zu der man zunächst eher geneigt sein konnte, zeigte sich bei näherer Betrachtung als völlig unhaltbar. Wenn eine noch immer sehr gewöhnliche Meinung dahin geht, dass die Vorstellung auf einen einfacheren, das Urtheil auf einen zusammengesetzteren Gegenstand, auf eine Verbindung oder Trennung gehe, so wiesen wir dagegen nach, dass auch blosse Vorstellungen diese zusammengesetzteren Gegenstände, und andererseits auch Urtheile jene einfacheren Gegenstände zum Inhalte haben. Wir zeigten, dass die Verbindung von Subject und Prädicat und andere derartige Combinationen durchaus nicht zum Wesen des ­Urtheils die besondere Aussageformel leicht abgestreift, indem der Existentialsatz „es gibt einen todten Menschen“ ganz und gar dasselbe besagt. Und somit, hoffe ich, wird man endlich einmal aufhören, hier sprachliche Unterschiede mit Unterschieden des Denkens zu verwechseln.

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gehören. Wir begründeten dies durch Betrachtung des affirmativen wie negativen Existentialsatzes; wir bestätigten es durch den Hinweis auf unsere Wahrnehmungen und insbesondere unsere ersten Wahrnehmungen, und endlich durch die Rückführung der kategorischen, ja aller Arten von Aussagen auf Existentialsätze. So wenig also ein Unterschied der Intensität, so wenig kann ein Unterschied des Inhaltes es sein, was die Eigen­thüm­lich­keit des Urtheils gegenüber der Vorstellung ausmacht. Somit bleibt nichts Anderes übrig als, wie wir es gethan, die Eigenthümlichkeit des Ur­theils als eine Besonderheit in der Beziehung auf den immanenten Gegenstand zu begreifen. §. 9.   Ich glaube, die eben beendete Erörterung ist eine kräftige Bestätigung unserer These; so zwar, dass sie jeden Zweifel daran niederschlägt. Dennoch wollen wir wegen der fundamentalen Bedeutung der Frage den Unterschied von Vorstellung und Urtheil nochmals und von einer anderen Seite her beleuchten. Denn nicht bloss die Unmöglichkeit sonstwie von ihm Rechenschaft zu geben, auch vieles Andere weist uns auf die Wahrheit hin, die nach unserer Behauptung unmittelbar in der inneren Erfahrung vorliegt. Vergleichen wir zu diesem Zwecke das Verhältniss von Vorstellung und Urtheil mit dem Verhältniss zwischen zwei Classen von Phänomenen, deren tiefgreifende Verschiedenheit in der Beziehung zum Object ausser Frage steht: nämlich mit dem Verhältniss zwischen Vorstellungen und Phänomenen von Liebe oder Hass. So sicher es ist, dass ein Gegenstand, der zugleich vorgestellt und geliebt, oder zugleich vorgestellt und gehasst wird, in zweifacher Weise intentional im Bewusstsein ist: so sicher gilt dasselbe auch in Betreff eines Gegenstandes, den wir zugleich vorstellen und anerkennen, oder zugleich vorstellen und leugnen. Alle Umstände sind hier und dort analog; alle zeigen, dass wenn in dem einen auch in dem anderen Falle eine zweite, grundverschiedene Weise des Bewusstseins zu der ersten hinzugekommen ist. Betrachten wir dies im Einzelnen. Zwischen Vorstellungen finden wir keine Gegensätze ausser die der Objecte, die in ihnen aufgenommen sind. Insofern Warm und Kalt, Licht und Dunkel, hoher und tiefer Ton u. dgl. Gegensätze bilden, können wir die Vorstellung des einen und des anderen entgegengesetzte nennen; und in einem anderen Sinne findet sich überhaupt auf dem ganzen Gebiete dieser Seelenthätigkeiten kein Gegensatz. Indem Liebe und Hass hinzutreten, tritt eine ganz andere Art von Gegensätzen auf. Ihr Gegensatz ist kein Gegensatz zwischen den Objecten, denn

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derselbe Gegenstand kann geliebt oder gehasst werden: er ist ein Gegensatz zwischen den Beziehungen zum Object; gewiss ein deutliches Zeichen, dass wir es hier mit einer Classe von Phänomenen zu thun haben, bei welchen der Charakter der Beziehung zum Object ein durchaus anderer als bei den Vorstellungen ist. Ein ganz analoger Gegensatz tritt aber unverkennbar auch dann in dem Bereiche der Seelenerscheinungen auf, wenn nicht Liebe und Hass, sondern Anerkennung und Leugnung auf die vorgestellten Gegenstände sich richten. Ferner. In den Vorstellungen findet sich keine Intensität ausser der grösseren oder geringeren Schärfe und Lebhaftigkeit der Erscheinung. Indem Liebe und Hass hinzukommen, kommt eine ganz neue Gattung von Intensität hinzu, die grössere oder geringere Energie, die Heftigkeit oder Mässigung in der Gewalt dieser Gefühle. In ganz analoger Weise finden wir aber auch eine vollkommen neue Gattung von Intensität in dem zur Vorstellung hinzutretenden Urtheile. Denn das grössere oder geringere Maass von Gewissheit in Ueberzeugung oder Meinung ist offenbar nichts, was dem Unterschiede in der Stärke der Vorstellungen verwandter genannt werden könnte als der Unterschied in der Stärke der Liebe. Noch mehr. In den Vorstellungen wohnt keine Tugend und keine sittliche Schlechtigkeit, keine Erkenntniss und kein Irrthum. Das Alles ist ihnen innerlich fremd, und höchstens in homonymer Weise können wir eine Vorstellung sittlich gut oder schlecht, wahr oder falsch nennen; wie z. B. eine Vorstellung schlecht genannt wird, weil wer das Vorgestellte liebte sündigen, und eine andere falsch, weil wer das Vorgestellte anerkennte irren würde; oder auch, weil in der Vorstellung eine Gefahr zu jener Liebe, eine Gefahr zu dieser Anerkennung gegeben ist256. Das Gebiet der Liebe und des Hasses zeigt uns also eine ganz neue Gattung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit, von welcher das Gebiet der Vorstellung nicht die leiseste Spur enthält. Indem Liebe und Hass zu den Vorstellungsphänomenen sich gesellen, tritt – wenigstens häufig, und da wo es sich um zurechnungsfähige psychische Wesen handelt – das sittlich Gute und Böse in das Reich der Seelenthätigkeit ein. Doch auch hier gilt in Bezug auf das Urtheil Aehnliches. Denn die andere eben so neue und wichtige Gattung von Vollkommenheit und Unvollkom256 Vgl., was schon Aristoteles in dieser Hinsicht bemerkt hat, in meiner Abhandlung „Von der Mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“ S. 31 f.

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menheit, an der, wie wir sagten, kein blosses Vorstellen Theil hat, ist in ähnlicher Weise das Eigenthum des Gebietes des Urtheils wie die erstgenannte das Eigenthum des Gebietes der Liebe und des Hasses ist. Wie die Liebe und der Hass Tugend oder Schlechtigkeit sind, so sind die Anerkennung oder Leugnung Erkenntniss oder Irrthum. Endlich noch Eines. Obwohl von den Gesetzen des Vorstellungslaufes nicht unabhängig, unterliegen doch Liebe und Hass, als eine besondere, in der ganzen Weise des Bewusstseins grundverschiedene Gattung von Phänomenen, noch besonderen Gesetzen der Succession und Entwickelung, welche vornehmlich die psychologische Grundlage der Ethik ausmachen. Sehr häufig wird ein Gegenstand wegen eines anderen geliebt und gehasst, während er an und für sich in keiner von beiden Weisen oder vielleicht nur in einer entgegengesetzten uns bewegen würde. Und oft haftet die Liebe, einmal in dieser Weise übertragen, ohne Rücksicht auf den Ursprung bleibend an dem neuen Objecte. Auch in dieser Hinsicht aber finden wir eine ganz analoge Thatsache bei den Urtheilen. Auch bei ihnen kommen zu den allgemeinen Gesetzen des Vorstellungslaufes, deren Einfluss auf dem Gebiete des Urtheils nicht zu verkennen ist, noch besondere Gesetze hinzu, die speciell für die Urtheile Geltung haben, und in ähnlicher Beziehung zur Logik, wie die Gesetze der Liebe und des Hasses zur Ethik stehen. Wie eine Liebe aus der anderen nach besonderen Gesetzen entsteht, so wird ein Urtheil aus dem anderen nach besonderen Gesetzen gefolgert. So sagt denn mit Recht J. St. Mill in seiner Logik der Geisteswissenschaften: „In Betreff des Glaubens werden die Psychologen immer durch spe­ cifisches Studium nach den Regeln der Induction zu untersuchen haben, welchen Glauben wir durch unmittelbares Bewusstsein haben, und nach welchen Gesetzen ein Glauben den anderen erzeugt; welches die Gesetze sind kraft deren ein Ding, mit Recht oder mit Unrecht, von unserem Geiste als Beweis für ein anderes Ding angesehen wird. In Bezug auf das Begehren werden sie ebenso zu untersuchen haben, welche Gegenstände wir ursprünglich begehren, und welche Ursachen uns dazu führen, Dinge zu begehren, die uns ursprünglich gleichgültig oder sogar unangenehm sind u. s. w.“257. Dem entsprechend verwirft er in seinen Noten zur Analyse von James Mill nicht bloss die Ansicht des Verfassers so wie Herbert Spencer’s, dass der Glauben in einer untrennbar festen Association von Vorstellungen bestehe, sondern er leugnet auch, dass, wie diese beiden Denker nothwendig annehmen muss257 Ded. u. Ind. Logik B. VI. Cap. 4. §. 3.

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ten, der Glauben nur nach den Gesetzen der Ideenassociation sich bilde. „Wäre dies der Fall“, sagt er, „so würde das für-wahr-Halten eine Sache der Gewohnheit und des Zufalls und nicht der Vernunft sein. Sicher ist eine Association zwischen zwei Vorstellungen, so stark sie auch sein mag, kein hinreichender Grund des für-wahr-Haltens; sie ist kein Beweis dafür, dass die betreffenden Thatsachen in der äusseren Natur verbunden sind. Die Theorie scheint jeden Unterschied aufzuheben zwischen dem für-wahr-Halten des Weisen, welches durch Beweisgründe geleitet wird und den wirklichen Successionen und Coexistenzen der Thatsachen in der Welt entspricht, und dem für-wahr-Halten eines Thoren, welches durch irgendwelche zufällige Association, welche die Vorstellung einer Succession oder Coexistenz in dem Geiste hervorruft, mechanisch hervorgebracht worden ist, einem für-wahrHalten, das treffend charakterisirt wird durch die gemeinübliche Bezeichnung, etwas für-wahr-Halten, weil man es sich in den Kopf gesetzt hat“258. Es wäre überflüssig jetzt länger bei einem Punkte zu verweilen, der genügend klar und, mit geringen Ausnahmen, auch von allen Denkern anerkannt wird. Spätere Erörterungen werden das, was hier über die besonderen Gesetze der Urtheile und der Gemüthsbewegungen gesagt worden ist, noch mehr in’s Licht setzen259. Unser Ergebniss ist also dieses: Aus der Analogie aller begleitenden Verhältnisse ist auf ’s Neue ersichtlich, dass, wenn zwischen Vorstellung und Liebe, und überhaupt irgendwo zwischen zwei verschiedenen psychischen Phänomenen, auch zwischen Vorstellung und Urtheil eine fundamentale Verschiedenheit der Beziehung zum Objecte angenommen werden muss. §. 10.   Fassen wir die Beweisgründe für diese Wahrheit kurz zusammen, so sind es folgende: Erstens zeigt die innere Erfahrung unmittelbar die Verschiedenheit in der Beziehung auf den Inhalt, die wir für Vorstellung und Urtheil behaupten. Zweitens würde, wenn nicht ein solcher, überhaupt kein Unterschied zwischen ihnen bestehen. Weder die Annahme einer verschiedenen Intensität, noch die Annahme eines verschiedenen Inhaltes für die blosse Vorstellung und das Urtheil ist haltbar. Drittens endlich findet man, wenn man den Unterschied von Vorstellung und Urtheil mit anderen Fällen psychischer Unterschiede vergleicht, 258 a. a. O. Ch. XI. Note 108; I. p. 407. 259 Buch IV und V.

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dass von allen Eigenthümlichkeiten, welche sich anderwärts zeigen wo das Bewusstsein in völlig verschiedenen Weisen zu einem Gegenstande in Beziehung tritt, auch hier nicht eine einzige mangelt. Also, wenn nicht hier, so dürften wir wohl auch in keinem anderen Falle einen solchen Unterschied auf psychischem Gebiete anerkennen. §. 11.   Es bleibt uns nun noch eine Aufgabe zu lösen. Ausser dem Irrthum in der gewöhnlichen Ansicht müssen wir auch den Anlass des Irrthums nachweisen. Die Ursachen der Täuschung waren, wie mir scheint, von doppelter Art. Der eine Grund war ein psychischer, d. h. eine psychische Thatsache, welche die Täuschung begünstigte; der andere ein sprachlicher. Der psychische Grund scheint mir vorzüglich darin zu liegen, dass in jedem Acte des Bewusstseins, so einfach er auch sein mag, wie z. B. in dem, worin ich einen Ton vorstelle, nicht bloss eine Vorstellung, sondern zugleich auch ein Urtheil, eine Erkenntniss beschlossen ist. Es ist dies die Erkenntniss des psychischen Phänomens im inneren Bewusstsein, deren Allgemeinheit wir früher nachwiesen260. Dieser Umstand, der manche Denker dazu veranlasst hat, alle psychischen Phänomene unter den Begriff des Erkennens als unter eine einheitliche Gattung zu subsumiren, hat andere bestimmt, wenigstens Vorstellung und Urtheil, weil sie nie getrennt erscheinen, in Eins zu fassen, indem sie nur für die Phänomene, die, wie Gefühle und Bestrebungen, in besonderen Fällen hinzukommen, besondere neue Classen aufstellten. Ich brauche, um diese Bemerkung zu bestätigen, nur eine schon früher einmal angezogene Stelle aus Hamilton’s Vorlesungen in Erinnerung zu bringen. „Es ist offenbar“, sagte er, „dass jedes psychische Phänomen entweder ein Act der Erkenntniss oder einzig und allein durch einen Act der Erkenntniss möglich ist, denn das innere Bewusstsein ist eine Erkenntniss; und dies ist der Grund, wesshalb viele Philosophen – wie Descartes, Leibnitz, Spinoza, Wolff, Platner u. A. – dazu geführt wurden, die vorstellende Fähigkeit, wie sie sie nannten, die Fähigkeit der Erkenntniss, als das Grundvermögen der Seele zu betrachten, von dem alle anderen sich ableiteten. Die Antwort darauf ist leicht. Jene Philosophen beachteten nicht, dass obwohl Lust und Unlust, Begierde und Willen bloss sind, insofern sie als seiend erkannt werden, dennoch in diesen Modificationen ein absolut neues Phänomen hinzuge­ kommen ist, welches nie in der blossen Fähigkeit der Erkenntniss enthalten 260 Buch II. Cap. 3.

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war, und daher auch nie daraus entwickelt werden konnte. Die Fähigkeit der Erkenntniss ist sicher die erste der Ordnung nach und insofern die conditio sine qua non der übrigen u. s. w.“261 Wir sehen, weil kein psychisches Phänomen möglich ist, ausser insofern es von innerer Erkenntniss begleitet ist, so glaubt Hamilton, ein Erkennen sei der Ordnung nach das Erste in uns, und unterscheidet, indem er das Vorstellen mit ihm in Eines fasst, nur noch für Gefühl und Streben besondere Classen. In der That ist es aber nicht richtig, dass ein Erkennen der Ordnung nach das Erste ist, da ein solches zwar in jedem und darum auch in dem ersten psychischen Acte auftritt, aber nur secundär. Das primäre Object des Actes ist nicht immer erkannt (sonst könnten wir nie etwas falsch beurtheilen) und auch nicht immer beurtheilt (sonst würden die Frage und Untersuchung darüber wegfallen), sondern oft und in den einfachsten Acten nur vorgestellt. Und auch hinsichtlich des secundären Objects bildet die Erkenntniss in gewisser Weise nur das zweite Moment, indem sie wie jedes Urtheil die Vorstellung des Beurtheilten zur Vorbedingung hat, also diese (wenn auch nicht zeitlich, doch der Natur nach) das Frühere ist. Auf dieselbe Weise, wie Hamilton für die Erkenntniss, könnte man auch für das Gefühl den ersten Platz in der Ordnung der Phänomene in Anspruch nehmen und in Folge davon auch dieses mit Vorstellung und Urtheil confundiren. Denn, wie wir gesehen haben, kommt auch ein Gefühl als secundäres Phänomen in jedem psychischen Acte vor262. Wenn dieses nicht oder doch nicht so häufig wie die Allgemeinheit der begleitenden inneren Wahrnehmung zu einem ähnlichen Missgriffe veranlasste: so erklärte sich dies nur daraus, dass einerseits die Allgegenwart der Gefühle nicht so allgemein erkannt wurde; und andererseits gewisse Vorstellungen uns wenigstens relativ gleichgültig lassen, und dieselbe Vorstellung zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen, ja entgegengesetzten Gefühlen begleitet ist263. Die innere Wahrnehmung dagegen besteht immer und wechsellos mit derselben Fülle der Ueberzeugung, und wenn sie einem Unterschiede der Intensität unterliegt, so ist es ein solcher, der mit einer Intensität des von ihr begleiteten Phänomens in gleichem Grade steigt und fällt264. Dies also ist, was ich den psychischen Grund des Irrthums nannte. 261 Lectures on Metaphysics I. p. 187. 262 S. o. Buch II. Cap. 3. §. 6. 263 Vgl. ebend. 264 S. ebend. §. 4.

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§. 12.   Zu ihm kommt, wie gesagt, auch ein sprachlicher. Wir können nicht erwarten, dass Verhältnisse, die sogar scharfsinnigen Denkern der Anlass einer Täuschung wurden, nicht auch auf die gewöhnlichen Ansichten einen Einfluss gewonnen haben sollten. Aus diesen aber erwächst die Sprache des Volkes. Und so müssen wir von vorn herein vermuthen, dass unter den Namen, mit welchen das gemeine Leben die psychischen Thätigkeiten zu bezeichnen pflegt, sich einer finde, welcher auf Vorstellungen wie Urtheile, aber auf kein anderes Phänomen anwendbar, beide wie zu einer einheitlichen, weiteren Classe gehörig zusammenfasst. Dies zeigt sich in der That. Wir nennen Vorstellen und Urtheilen mit gleicher Ungezwungenheit ein Denken; auf ein Fühlen oder Wollen dagegen können wir den Ausdruck nicht wohl anwenden, ohne der Sprache Gewalt anzuthun. Auch finden wir in fremden Sprachen, antiken wie modernen, Bezeichnungen, die in demselben Umfange gebräuchlich sind. Wer die Geschichte der wissenschaftlichen Bestrebungen kennt, wird mir nicht widersprechen, wenn ich diesem Umstande einen hindernden Einfluss zuschreibe. Wenn sehr berühmte Philosophen der Neuzeit, ein um das andere Mal, sogar dem Paralogismus der Aequivocation erlegen sind: wie sollte nicht eine Gleichheit der Benennung bei der Classification eines Erscheinungsgebietes verführerisch für sie gewesen sein? Whewell in seiner Geschichte der inductiven Wissenschaften zeigt solche Versehen und andere ihnen verwandte Fehler in reichen Beispielen; denn wie zu einem Verbinden, wo keine Gleichheit, so führte die Sprache oft zu einem Unterscheiden, wo keine Verschiedenheit vorlag, und die Scholastiker waren nicht die einzigen, die Distinctionen auf blosse Worte gründeten. Es ist also sehr natürlich, wenn die Homonymie des Namens „Denken“ in unserem Falle nachtheilig gewirkt hat. §. 13.   Aber weit mehr ohne Zweifel hat eine andere Eigenheit des sprachlichen Ausdrucks die Erkenntniss des richtigen Verhältnisses erschwert. Die Aussage eines Urtheils ist, man kann sagen, durchgehends ein Satz, eine Verbindung mehrerer Worte, was sich auch von unserem Standpunkte leicht begreifen lässt. Es hängt damit zusammen, dass eine Vorstellung die Grundlage eines jeden Urtheiles ist, und dass bejahende und verneinende Urtheile hinsichtlich des Inhalts auf den sie sich beziehen übereinstimmen, indem das negative Urtheil nur den Gegenstand leugnet, den das entsprechende affirmative anerkennt. Obwohl der Ausdruck des Urtheils der vorzügliche Zweck sprachlicher Mittheilung war, so war es daher sehr nahe

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gelegt, den einfachsten sprachlichen Ausdruck, das einzelne Wort, nicht für sich allein dazu zu verwenden. Benützte man es für sich als den Ausdruck der einem Urtheilspaare gemeinsam zu Grunde liegenden Vorstellung, und fügte man, um Ausdrücke für die Urtheile selbst zu erhalten, eine doppelte Art von Flection oder auch eine doppelte Art von stereotypen Wörtchen (wie „sein“ und „nicht sein“) hinzu: so ersparte man durch diesen einfachen Kunstgriff dem Gedächtniss die Hälfte der Leistung, indem dieselben Namen in den affirmativen und in den entsprechenden negativen Urtheilen Verwendung fanden. Ausserdem hatte man den Vortheil, bei der Weglassung jener Ergänzungszeichen den Ausdruck einer anderen Classe von Phänomenen, der Vorstellungen, rein für sich zu besitzen, welcher, da die Vorstellungen auch für Begehren und Fühlen die Grundlage sind, in Fragen, in Ausrufungen, in Befehlen u. s. f. noch weitere treffliche Dienste leisten konnte. So konnte es nicht fehlen, dass längst vor den Anfängen eigentlich wissenschaftlicher Forschung der Ausdruck des Urtheils eine Zusammensetzung aus mehreren unterscheidbaren Bestandtheilen geworden war. Danach bildete man sich die Ansicht, das Urtheil selbst müsse ebenfalls eine Zusammensetzung, und zwar – da die Mehrzahl der Worte Namen, Ausdrücke von Vorstellungen, sind – eine Zusammensetzung von Vorstellungen sein265. Und stand einmal dieses fest, so schien ein unterscheidendes Merkmal des Urtheils von der Vorstellung gegeben, und man fühlte sich nicht aufgefordert näher zu untersuchen, ob dies der ganze Unterschied zwischen Vorstellung und Urtheil sein könne, ja ob ihre Verschiedenheit nur irgendwie in dieser Weise sich begreifen lasse. Nach allem dem vermögen wir es uns recht wohl zu erklären, wesshalb das wahre Verhältniss zwischen zwei fundamental verschiedenen Classen psychischer Erscheinungen so lange Zeit verborgen blieb. §. 14.   Inzwischen hat natürlich die falsche Wurzel mannigfache Schösslinge des Irrthums hervorgetrieben, welche in weiter Verzweigung nicht bloss über das Gebiet der Psychologie, sondern auch über das der Metaphysik und Logik sich ausbreiteten. Das ontologische Argument für das Dasein Gottes ist nur eine ihrer Früchte. Die gewaltigen Kämpfe, welche die mittelalterlichen Schulen über essentia und esse, ja über esse essentiae und esse existentiae führten, geben von den convulsivischen Anstrengungen einer energischen 265 Man vergleiche zum Beleg das erste Capitel der Aristotelischen Schrift De Interpretatione.

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Denkkraft Zeugniss, welche sich müht des unverdaulichen Elementes Herr zu werden. Thomas, Scotus, Occam, Suarez – alle betheiligen sich lebhaft an dem Kampfe; jeder hat in der Polemik, keiner in seinen positiven Aufstellungen Recht. Immer dreht sich die Frage nur darum, ob die Existenz des Wesens eine andere, oder ob sie dieselbe Realität wie das Wesen sei. Scotus, Occam, Suarez leugnen mit Recht, dass sie eine andere Realität sei (was besonders Scotus sehr hoch anzurechnen und schier bei ihm wie ein Wunder zu betrachten ist); aber sie fallen in Folge dessen in den Irr­ thum, die Existenz eines jeden Dinges gehöre zum Wesen des Dinges selbst, sie betrachten dieselbe als seinen allgemeinsten Begriff. Hier war nun der Widerspruch der Thomisten im Rechte, obwohl ihre Kritik den eigentlich schwachen Punkt nicht traf und sich vornehmlich auf die Grundlage gemeinsamer irriger Annahmen stützte. Wie, riefen sie, die Existenz eines jeden Dinges sein allgemeinster Begriff? – Das ist unmöglich! – Würde doch seine Existenz sich dann aus seiner Definition ergeben, und folglich die Existenz des Geschöpfes so selbstevident und von vorn herein nothwendig wie die des Schöpfers selber sein. Aus der Definition eines creatürlichen Seins ergibt sich nicht mehr, als dass es ohne Widerspruch, also möglich ist. Das Wesen einer Creatur ist demnach ihre blosse Möglichkeit, und jede wirkliche Creatur ist aus zwei Bestandtheilen, aus einer realen Möglichkeit und einer realen Wirklichkeit zusammengesetzt, deren eine von der anderen im Existentialsatz ausgesagt wird, und die sich ähnlich wie nach Aristoteles Materie und Form in den Körpern zueinander verhalten. Die Grenzen der Möglichkeit sind natürlich auch die der in ihr aufgenommenen Wirklichkeit. Und so ist die Existenz, die an sich etwas Schrankenloses und Allumfassendes wäre, in der Creatur eine beschränkte. Anders ist es bei Gott. Er ist das in sich selbst nothwendig Seiende, auf welches alles Zufällige zurückweist. Er ist also nicht aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzt. Sein Wesen ist seine Existenz; die Behauptung, dass er nicht sei, ein Widerspruch. Und eben darum ist er unendlich. In keiner Möglichkeit aufgenommen, ist die Existenz bei ihm unbeschränkt; und so ist er der Inbegriff aller Realität und Vollkommenheit. Das sind hochfliegende Speculationen, die aber Niemanden mehr mit sich über die Wolken erheben werden. Bezeichnend ist es aber, dass ein eminenter Denker, wie Thomas von Aquin sicher einer war, wirklich mittels eines solchen Beweises die unendliche Vollkommenheit des Urgrundes der Welt dargethan zu haben glaubte. Ich brauche hienach nicht mehr auf die allbekannten Beispiele der neueren Metaphysik zu verweisen, welche den

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nachtheiligen Einfluss irriger Anschauungen über die Urtheile und das, was damit in nächstem Zusammenhange steht, nicht minder anschaulich machen können266. §. 15.   Auch in der Logik hat die Verkennung des Wesens der Urtheile mit Nothwendigkeit weitere Irrthümer erzeugt. Ich habe den Gedanken nach dieser Seite in seine Consequenzen verfolgt und gefunden, dass er zu nichts Geringerem als zu einem völligen Umsturz aber auch zu einem Wiederaufbau der elementaren Logik führt. Und Alles wird dann einfacher, durchsichtiger und exacter. Nur in einigen Beispielen will ich den Contrast zwischen den Regeln dieser reformirten Logik und der althergebrachten nachweisen, indem uns hier die vollständige Durchführung und Begründung natürlich zu lange aufhalten und zu weit von unserem Thema abführen würde267. An die Stelle der früheren Regeln von den kategorischen Schlüssen treten als Hauptregeln, die eine unmittelbare Anwendung auf jede Figur gestatten, und für sich allein zur Prüfung eines jeden Syllogismus vollkommen ausreichend sind, folgende drei: 1. Jeder kategorische Syllogismus enthält vier Termini, von denen zwei einan­ der entgegengesetzt sind und die beiden andern zweimal zu stehen kommen. 2. Ist der Schlusssatz negativ, so hat jede der Prämissen die Qualität und einen Terminus mit ihm gemein. 3. Ist der Schlusssatz affirmativ, so hat die eine Prämisse die gleiche Qualität und einen gleichen Terminus, die andere die entgegengesetzte Qualität und einen entgegengesetzten Terminus.

266 Einwirkungen auf Kant’s Transcendentalphilosophie wurden im Vorausgehenden berührt. 267 Zum Behuf meiner Vorlesungen über Logik, die ich im Winter 1870/71 an der Würzburger Hochschule hielt, habe ich eine auf die neue Basis gegründete logische Elementarlehre vollständig und systematisch ausgearbeitet. Da sie nicht bloss bei meinen Zuhörern, sondern auch bei Fachmännern in der Philosophie, denen ich davon Mittheilung machte, Interesse erregte, so ist es meine Absicht, sie nach vollendeter Herausgabe meiner Psychologie nochmals zu revidiren und zu veröffentlichen. Die Regeln, die ich hier im Texte beispielsweise folgen lasse, werden, mit den übrigen, in dieser Schrift jene sorgfältige Begründung finden, die man bei einem Widerspruch gegen die gesammte Tradition seit Aristoteles gewiss zu verlangen berechtigt ist. Uebrigens werden Viele vielleicht von selbst die nothwendige Verkettung mit der dargelegten Ansicht von der Natur des Urtheils erkennen.

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Das sind Regeln, die ein Logiker der alten Schule zunächst nicht ohne Grauen hören wird. Vier Termini soll jeder Syllogismus haben: – und er hat die Quaternio terminorum immer als Paralogismus verdammt268. Negative Schlusssätze sollen lauter negative Prämissen haben: – und er hat immer gelehrt, dass aus zwei negativen Prämissen nichts gefolgert werden kann. Auch unter den Prämissen des affirmativen Schlusssatzes soll sich ein negatives Urtheil finden: – und er hätte darauf geschworen, dass er unumgänglich zwei affirmative Prämissen verlange. Ja, für einen kategorischen Schluss aus affirmativen Prämissen ist gar kein Raum gelassen: – und er hatte docirt, dass die affirmativen Prämissen die vorzüglichsten seien, indem er, wo eine negative sich dazu gesellte, diese als die „pejor pars“ bezeichnete. Von „allgemein“ und „particulär“ endlich hört man in den neuen Regeln gar nichts: – und ihm waren diese so zu sagen nicht aus dem Munde gekommen. Und haben nicht seine alten Regeln sich bei der Prüfung der Syllogismen so geeignet erwiesen, dass nun umgekehrt wieder die tausend an ihrem Maass­ stabe gemessenen Schlüsse für sie selbst Probe und Bewährung sind? Sollen wir den berühmten Schluss: „Alle Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, also ist Cajus sterblich“, und alle seine Begleiter nicht mehr als bündig anerkennen? – Das scheint eine unmögliche Zumuthung. Doch so schlimm steht die Sache auch nicht. Da die Fehler, aus welchen die früheren Regeln der Syllogistik entsprangen, in der Verkennung der Natur der Urtheile nach Inhalt und Form bestanden, so glichen sie, bei der Anwendung derselben consequent festgehalten, meistens ihre nachtheilige Wirkung selber aus269. Von allen Schlüssen, die man nach den bisherigen Regeln für richtig erklärte, waren nur die nach vier Modis gefolgerten ungül-

268 In der allerneuesten Zeit hat auch ein englischer Logiker, Boole, richtig erkannt, dass manche kategorische Syllogismen vier Termini haben, von denen zwei einander contradictorisch entgegengesetzt seien. Andere haben ihm beigepflichtet, und auch A. Bain, der in seiner Logik ausführlich über Boole’s Zusätze zur Syllogistik berichtet, gibt seine Zustimmung unzweideutig zu erkennen (I. p. 205). Obwohl Boole diese Syllogismen mit vier Terminis nur neben Syllogismen mit drei Terminis stellt, statt die Quaternio terminorum als allgemeine Regel anzuerkennen, und obwohl die ganze Weise seiner Ableitung mit der meinigen keine Aehnlichkeit hat: so war sie mir doch interessant als ein Zeichen, dass man auch jenseits des Canals an dem Gesetze der Dreiheit der Termini zu zweifeln anfängt. 269 Sagte man z. B. in Folge des Missverständnisses der Sätze: zum richtigen kategorischen Schlusse gehören drei Termini, so bewirkte dasselbe Missverständniss, dass man im einzelnen Schlusse drei Termini sah, wo in Wahrheit vier gegeben waren.

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tig, wogegen auf der anderen Seite freilich auch eine nicht unbedeutende Zahl richtiger Modi übersehen wurde270. Schädlicher waren die Folgen in der Lehre von den so genannten unmittelbaren Schlüssen. Nicht bloss ist z. B. die richtige Regel für die Conversion, dass jeder kategorische Satz simpliciter convertibel ist (man muss nur über das wahre Subject und über das wahre Prädicat im Klaren sein), sondern man erklärte nach den alten Regeln auch viele Conversionen für gültig, die in Wahrheit ungültig sind, und umgekehrt. Bei den so genannten Schlüssen durch Subalternation und Opposition ergibt sich dasselbe271. Auch stellt sich, wenn man kritisch die alten Regeln mit einander vergleicht, seltsam genug heraus, dass sie zuweilen miteinander im Widerspruch stehen, so dass, was nach der einen als gültig nach der anderen als ungültig zu bezeichnen wäre. §. 16.   Doch wir überlassen es einer künftigen Revision der Logik, dies im Einzelnen auszuführen und zu bewähren. Uns gehen hier weniger die nach­ thei­ligen Folgen an, welche die Verkennung der Natur des Urtheils für Logik oder Metaphysik hatte, als diejenigen, welche für die Psychologie sich ergaben und, wegen des Verhältnisses der Psychologie zur Logik, allerdings auch für diese ein neues Hinderniss fruchtbarer Entwickelung wurden. Die bisherige Psychologie hat, man kann sagen, durchwegs die Erforschung der Gesetze der Entstehung der Urtheile in ungebührlicher Weise vernachlässigt; und dies kam daher, weil man immer Vorstellen und Urtheilen als „Denken“ zu einer Classe zusammenrechnete, und mit der Erforschung der Gesetze der Aufeinanderfolge der Vorstellungen auch für die Urtheile das Wesentliche gethan glaubte. So sagt selbst ein so eminenter Psychologe wie Hermann Lotze: „In Bezug auf die Urtheilskraft und Einbildungskraft werden wir ohne Bedenken zugeben, dass diese beiden nicht zu dem angeborenen Besitze der Seele gehören, sondern Fertigkeiten sind, die sich durch die Bildung des Lebens, die eine langsam, die andere schnell entwickeln. Wir wer270 Letzteres wurde auch von den vorerwähnten englischen Logikern bereits erkannt. Die vier ungültigen Modi, von denen ich spreche, sind in der dritten Figur Darapti und Felapton und in der vierten Bamalip und Fesapo. 271 Unzulässig ist die Conversion eines so genannten allgemein bejahenden in einen particulär bejahenden Satz; die gewöhnlichen Schlüsse durch Subalternation sind sämmtlich ungültig, und von denen durch Opposition die Schlüsse auf die Unwahrheit der s. g. conträren so wie die auf die Wahrheit der s. g. subconträren Urtheile.

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den zugleich zugestehen, dass zur Erklärung ihrer Entstehung nichts als die Gesetze des Vorstellungslaufes nöthig sind “272. Hier zeigt sich der Grund des grossen Versäumnisses unverhüllt. Er lag in der mangelhaften Classification, die Lotze von Kant überkommen hatte. Richtiger hat hier J. St. Mill geurtheilt. In den früher von uns citirten Stellen sahen wir ihn mit Nachdruck eine specifische Erforschung der Gesetze des für-wahr-Haltens als unumgängliches Bedürfniss betonen. Eine blosse Ableitung aus den Gesetzen des Vorstellungslaufes schien ihm in keiner Weise genügend. Aber die Vorstellungsverbindung, die Zusammensetzung von Subject und Prädicat, die er bei sonst sehr richtigen Ansichten über die Natur des Urtheils immer noch für wesentlich hielt, liess den Charakter desselben als einer besonderen, den andern ebenbürtigen Grundclasse nicht hinreichend hervortreten. Und so ist es gekommen, dass nicht einmal Bain, der Mill so nahe stand, die von ihm gegebenen Winke zur Ausfüllung einer weitklaffenden Lücke der Psychologie benützt hat. Das Wort, welches die Scholastik von Aristoteles ererbt hatte, „parvus error in principio maximus in fine“ hat also in unserem Falle nach jeder Seite hin sich bewährt.

272 Mikrokosmus 1. Aufl. I. S. 192.

Achtes Capitel. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen. §. 1.   Nachdem Vorstellung und Urtheil als verschiedene Grundclassen psychischer Phänomene festgestellt sind, haben wir uns noch in Betreff unserer zweiten Abweichung von der herrschenden Classification zu rechtfertigen. Wie wir Vorstellung und Urtheil trennen, so vereinigen wir Gefühl und Willen. Hier sind wir nicht so sehr wie im früheren Punkte Neuerer: denn von Aristoteles bis herab auf Tetens, Mendelssohn und Kant hat man allgemein bloss eine Grundclasse für Fühlen und Streben angenommen; und unter den psychologischen Autoritäten der Gegenwart sahen wir Herbert Spencer nur zwei Seiten des Seelenlebens, eine cognitive und eine affective, unterscheiden. Doch dies soll uns bei der Wichtigkeit der Frage nicht abhalten, mit der gleichen Sorgfalt und unter Benützung der sämmtlichen uns zu Gebote stehenden Hülfsmittel unsere Lehre zu begründen und zu sichern. Wir halten hier denselben Gang wie bei der Untersuchung über das Verhältniss von Vorstellung und Urtheil ein; wir berufen uns daher vor Allem auf das Zeugniss unmittelbarer Erfahrung. Die innere Wahrnehmung, sagen wir, zeigt deutlich hier den Mangel, wie dort das Vorhandensein eines fundamentalen Unterschiedes; und hier eine wesentliche Uebereinstimmung, wie dort eine völlige Verschiedenheit in der Weise der Beziehung zum Object. Wenn wirklich der rückständige Theil der psychischen Phänomene, von welchem wir jetzt handeln, einen ähnlich tiefgreifenden Unterschied wie das vorstellende und urtheilende Denken zeigte; wenn wirklich auch zwischen Fühlen und Streben von der Natur selbst eine scharfe Grenzlinie vorgezeichnet wäre: so könnten vielleicht in die Bestimmung der eigenthümlichen Natur der einen und anderen Classe Irrthümer sich einmischen; aber die Abgrenzung der Gattungen, die Angabe, welche Erscheinungen der einen und welche der anderen Gattung angehörten, würde sicher ein Leichtes sein. So wird man ohne Zögern sagen, dass „Mensch“ eine blosse Vorstellung, „es gibt Menschen“ ein für-wahr-Halten ausdrücke, auch wenn man über die Natur des Urtheils völlig im Unklaren ist; und Aehnliches gilt für das ganze Gebiet der einen und anderen Gattung des Denkens. Aber bei der Frage, was ein Gefühl und was ein Begehren, Wollen oder Streben sei, verhält es

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sich ganz anders; und ich wenigstens weiss in Wahrheit nicht, wo die Grenze zwischen beiden Classen eigentlich liegen sollte. Zwischen den Gefühlen der Lust und Unlust und dem, was man gewöhnlich Wollen oder Streben nennt, stehen andere Erscheinungen in der Mitte; und zwischen den Extremen mag der Abstand gross erscheinen: wenn man aber die mittleren Zustände mit in Betracht zieht; wenn man immer nur das nächststehende mit dem nächststehenden Phänomene vergleicht: so zeigt sich auf dem gesammten Gebiete nirgends eine Kluft, sondern ganz allmälig finden die Uebergänge statt. Betrachten wir als Beispiel die folgende Reihe: Traurigkeit – Sehnsucht nach dem vermissten Gute – Hoffnung, dass es uns zu Theil werde – Verlangen, es uns zu verschaffen – Muth, den Versuch zu unternehmen – Willens­ ent­schluss zur That. Das eine Extrem ist ein Gefühl, das andere ein Willen; und sie scheinen weit von einander abzustehen: aber wenn man auf die Zwischenglieder achtet und immer nur die nächststehenden miteinander vergleicht, zeigt sich da nicht überall der innigste Anschluss und ein fast unmerklicher Uebergang? – Wenn wir classificirend in Gefühle und Strebungen sie scheiden wollen, zu welcher von beiden Grundclassen sollen wir die einzelnen rechnen? – Wir sagen: „ich fühle Sehnsucht“, „ich fühle Hoffnung“, „ich fühle ein Verlangen, mir dieses zu verschaffen“, „ich fühle Muth, dieses zu versuchen“; – nur, dass er einen Willensentschluss fühle, wird wohl keiner sagen: ist darum vielleicht hier die Grenzmarke und gehören alle Mittelglieder noch der Grundclasse der Gefühle an? Wenn wir durch den Sprachgebrauch des Volkes uns bestimmen lassen, werden wir allerdings so urtheilen; und in der That verhalten wenigstens die Traurigkeit über die Entbehrung und die Sehnsucht nach dem Besitze sich etwa so, wie sich die Leugnung eines Gegenstandes und die Anerkennung seines Nichtseins zu einander verhalten: aber liegt nicht demungeachtet schon in der Sehnsucht ein Keim des Strebens? und spriesst dieser nicht auf in der Hoffnung, und entfaltet sich, bei dem Gedanken an ein etwaiges eigenes Zuthun, in dem Wunsche zu handeln und in dem Muthe dazu; bis endlich das Verlangen darnach zugleich die Scheu vor jedem Opfer und den Wunsch jeder längeren Erwägung überwiegt und so zum Willensentschluss gereift ist? – Sicher, wenn wir diese Reihe von Phänomenen nun doch einmal in eine Mehrheit von Grundclassen zertheilen wollen, so dürfen wir die mittleren Glieder ebensowenig mit dem ersten Gliede dem letzten unter dem Namen Gefühl, als mit dem letzten Gliede dem ersten unter dem Namen Willen oder Strebung entgegensetzen: vielmehr wird nichts übrig bleiben, als jedes Phänomen für sich als eine besondere Classe zu betrachten. Dann aber, glaube

Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen.

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ich, ist es für Jeden unverkennbar, dass die Unterschiede der Classen hier keine so tief einschneidenden Differenzen wie die zwischen Vorstellung und Ur­theil, oder zwischen ihnen und allen übrigen psychischen Phänomenen sind; und so nöthigt uns der Charakter unserer inneren Erscheinungen, die Einheit derselben natürlichen Grundclasse über das ganze Reich des Fühlens und Strebens auszudehnen273. 273 Es ist interessant und lehrreich, das vergebliche Bemühen der Psychologen um eine feste Grenzbestimmung zwischen Gefühl und Willen oder Streben zu beobachten. Sie widersprechen dabei dem herkömmlichen Sprachgebrauche; und der eine widerspricht dem anderen, ja nicht selten sogar sich selbst. Kant rechnet schon die hoffnungslose Sehnsucht nach anerkannt Unmöglichem zum Begehrungsvermögen, und ich zweifle kaum, dass er auch die Reue dazu gerechnet haben würde; und doch stimmt dies ebensowenig mit der gewöhnlichen Weise der Bezeichnung, da man von einem Gefühle der Sehnsucht spricht, als mit seiner Definition des Begehrungsvermögens als „Vermögens durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (s. o. S. 213). Hamil­ ton wundert sich über die, wie er anerkennt, sehr häufige Confusion von Erscheinungen der beiden Classen, da es doch so leicht sei, die natürliche Grenzscheide zwischen ihnen zu erkennen (Lect. on Metaph. II. p. 433): aber seine wiederholten Bemühungen, eine genaue Bestimmung dafür zu geben, zeigen, dass dies keineswegs eine leichte Sache ist. Er bestimmt, wie wir schon hörten, dass die Gefühle objectlos im vollen Sinne des Wortes, dass sie „subjectivisch subjectiv“ seien (II, 432; vgl. o. S. 209 f.), während nach ihm die Strebungen alle auf ein Object gerichtet sind; und hierin, sollte man meinen, werde man ein einfaches und leicht anwendbares Kriterium besitzen: aber so sicher dies der Fall sein müsste, wenn die Bestimmung der Eigenthümlichkeit der Erscheinungen entspräche, so wenig konnte Hamilton bei ihrer thatsächlichen Unrichtigkeit mit ihr ausreichen; selbst bei den entschiedensten Gefühlen, wie Freude und Trauer, wird eben jeder sagen, auch sie schienen ihm ein Object zu haben. Da macht denn Hamilton noch einen anderen Unterschied, obwohl vielleicht nicht ohne einigen Widerspruch zum ersten, geltend; er bestimmt, dass das Gefühl es bloss mit Gegenwärtigem zu thun habe, während die Strebung auf Zukünftiges sich richte. – „Lust und Unlust“, sagt er, „als Gefühle, gehören ausschliesslich der Gegenwart an, während die Strebung sich einzig und allein auf die Zukunft bezieht; denn Strebung ist ein Verlangen, ein Trachten, entweder den gegenwärtigen Zustand dauernd zu erhalten, oder ihn gegen einen anderen zu vertauschen“ (II. p. 633). Diese Bestimmungen sind nicht wie die vorigen in der Art verfehlt, dass der einen von ihnen in Wahrheit kein psychisches Phänomen entspräche. Das ist aber auch ihr einziges Lob; denn die Scheidung des Gebietes nach Gegenwart und Zukunft ist sowohl unvollständig als willkürlich. Sie ist unvollständig, denn wohin sollen wir jene Gemüthsbewegungen rechnen, die nicht auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges, sondern wie die Reue und das Dankgefühl auf Vergangenes sich beziehen? – Man müsste wohl für sie eine dritte Classe bilden. Doch das wäre das geringere Uebel; viel schlimmer ist die Willkürlichkeit, mit welcher, in Rücksicht auf verschiedene Zeitbestim-

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§. 2.   Wenn die Grundclasse für die Phänomene des Gefühls und Willens dieselbe ist, so muss, nach dem von uns angenommenen Principe der Ein­ thei­lung, die Weise der Beziehung des einen und anderen Bewusstseins eine wesentlich verwandte sein. Was aber sollen wir als den gemeinsamen Charakter ihrer Richtung auf die Gegenstände angeben? Auch hierauf muss, wenn unsere Ansicht richtig ist, die innere Erfahrung antworten. Sie thut dies wirklich und liefert so noch unmittelbarer den Beweis für die Einheit der höchsten Classe. Wie die allgemeine Natur des Urtheils darin besteht, dass eine Thatsache angenommen oder verworfen wird: so besteht nach dem Zeugnisse der inneren Erfahrung auch der allgemeine Charakter des Gebietes, welches uns jetzt vorliegt, in einem gewissen Annehmen oder Verwerfen; nicht in demselben, mungen der Objecte, psychische Erscheinungen, die sich vorzüglich nahe stehen, hier in verschiedene Grundclassen zu sondern wären. So z. B. gehen die Phänomene, die man als Wünsche zu bezeichnen pflegt, theils auf Zukünftiges, theils auf Gegenwärtiges, theils auf Vergangenes. Ich wünsche dich oft zu sehen; ich möchte, ich wäre ein reicher Mann; ich wünschte, ich hätte das nicht gethan; das sind Beispiele, welche die drei Zeiten vertreten; und wenn die letzten beiden Wünsche unfruchtbar und aussichtslos sind, so bleibt doch, wie Kant, Hamilton’s vorzüglichste Autorität, anerkennt, der allgemeine Charakter des Wunsches dabei gewahrt. Es kann aber sogar geschehen, dass, indem einer wünscht, sein Bruder sei glücklich in America angekommen, sein Wunsch sich auf Vergangenes bezieht, ohne darum auf etwas zu gehen, dessen Unmöglichkeit offenbar ist. Sollen wir nun die psychischen Zustände, welche die Sprache hier unter dem Namen der Wünsche vereinigt, als in keiner Weise enger verwandt betrachten? sollen wir sie von einander scheiden, um einen Theil mit den Willensacten, einen anderen mit Lust und Unlust, einen dritten mit der für die Vergangenheit zu bildenden Classe zu vereinigen? Ich glaube, keinem entgeht, wie ungerechtfertigt und widernatürlich ein solches Verfahren wäre. Es ist demnach auch dieser Versuch einer Grenzbestimmung zwischen Gefühl und Willen völlig verunglückt. Kein Wunder daher, wenn die Confusion zwischen Gefühlen und Strebungen, die Hamilton an Andern tadelte, ihm selbst in keiner Weise erspart bleibt. Hört man die Begriffsbestimmungen, die er von den specielleren Erscheinungen gibt, so wird man oft schwerlich errathen, zu welcher von seinen zwei Grundclassen er die eine oder andere rechnen wollte. Die Eitelkeit definirt er als „den Wunsch Anderen zu gefallen aus Begierde von ihnen geachtet zu werden“ und rechnet sie – zu den Gefühlen (II. p. 519); und ebendazu rechnete er die Reue und die Scham, d. i. „die Furcht und Sorge, die Missachtung Anderer sich zuzuziehen“; als ob nicht bei beiden ihre Richtung auf ein Object, und – bei der einen an sich schon, bei der anderen nach der Definition, die Hamilton gibt – ihre Beziehung auf etwas nicht Gegenwärtiges auf ’s Deutlichste ersichtlich wäre. Dieser vollständige Misserfolg eines so angesehenen Denkers bestätigt, glaube ich, in einer schlagenden Weise, was ich über den Mangel einer von der Natur selbst vorgezeichneten, deutlichen Abgrenzung zwischen den angeblichen zwei Grundclassen bemerkt habe.

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aber in einem analogen Sinne. Wenn etwas Inhalt eines Urtheils werden kann, insofern es als wahr annehmlich oder als falsch verwerflich ist: so kann es Inhalt eines Phänomens der dritten Grundclasse werden, insofern es als gut genehm (im weitesten Sinne des Wortes) oder als schlecht ungenehm sein kann. Es handelt sich, wie dort um Wahrheit und Falschheit, hier um Werth und Unwerth eines Gegenstandes. Ich glaube Niemand wird meine Worte so verstehn, als wollte ich sagen, die Phänomene dieser Classe seien Erkenntnissacte, vermöge deren Güte oder Schlechtigkeit, Werth oder Unwerth in gewissen Gegenständen wahrgenommen werde; doch bemerke ich ausdrücklich, um jede solche Auslegung vollends unmöglich zu machen, dass dies eine gänzliche Verkennung meiner wahren Meinung wäre. Einmal, würde ich ja sonst diese Phänomene zu den Urtheilen rechnen; ich trenne sie aber von ihnen als eine besondere Classe; und dann, würde ich die Vorstellungen von Güte und Schlechtigkeit, Werth und Unwerth für diese Classe von Phänomenen allgemein voraussetzen, während dies so wenig der Fall ist, dass ich vielmehr zeigen werde, wie alle derartigen Vorstellungen erst aus der inneren Erfahrung dieser Phänomene entspringen. Auch die Vorstellungen von Wahrheit und Falschheit werden, wie wohl Niemand bezweifelt, im Hinblick auf Urtheile und unter Voraussetzung ihrer uns zu Theil. Wenn wir sagen, jedes anerkennende Ur­theil sei ein für-wahr-Halten, jedes verwerfende ein für-falsch-Halten, so bedeutet dies also nicht, dass jenes in einer Prädication der Wahrheit von dem fürwahr-Gehaltenen, dieses in einer Prädication der Falschheit von dem fürfalsch-Gehaltenen bestehe; unsere früheren Erörterungen haben vielmehr dargethan, dass, was die Ausdrücke bedeuten, eine besondere Weise intentionaler Aufnahme eines Gegenstandes, eine besondere Weise der psychischen Beziehung zu einem Inhalte des Bewusstseins ist. Nur das ist richtig, dass, wer etwas für wahr hält, nicht bloss den Gegenstand anerkennt, sondern dann, auf die Frage ob der Gegenstand anzuerkennen sei, auch das Anzuerkennen-sein des Gegenstandes, d. h. (denn nichts Anderes bedeutet der barbarische Ausdruck) die Wahrheit des Gegenstandes ebenfalls anerkennen wird. Und damit mag der Ausdruck „für wahr halten“ zusammenhängen. Der Ausdruck „für falsch halten“ aber wird in analoger Weise sich erklären. Ebenso bedeuten uns denn die Ausdrücke, die wir hier in analoger Weise gebrauchen, „als gut genehm sein“, „als schlecht ungenehm sein“ nicht, dass in den Phänomenen dieser Classe Güte einem als-gut-Genehmen, oder Schlechtigkeit einem als-schlecht-Ungenehmen zugeschrieben werde, vielmehr bedeuten auch sie eine besondere Weise der Beziehung der psychischen

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Thätigkeit auf einen Inhalt. Nur das ist auch hier richtig, dass einer, dessen Bewusstsein sich in solcher Weise auf einen Inhalt bezieht, die Frage, ob der Gegenstand von der Art sei, dass man zu ihm in die betreffende Beziehung treten könne, in Folge davon bejahen wird; was dann nichts Anderes heisst, als ihm Güte oder Schlechtigkeit, Werth oder Unwerth zuschreiben. Ein Phänomen dieser Classe ist nicht ein Urtheil: „dies ist zu lieben“, oder „dies ist zu hassen“ (das wäre ein Urtheil über Güte oder Schlechtigkeit); aber es ist ein Lieben oder Hassen. Im Sinne der gegebenen Erläuterung wiederhole ich also jetzt ohne Besorg­ niss missverstanden zu werden, dass es sich analog wie bei den Urtheilen um Wahrheit und Unwahrheit bei den Phänomenen dieser Classe um Güte und Schlechtigkeit, um Werth und Unwerth der Gegenstände handelt. Und diese charakteristische Beziehung zum Objecte ist es, die, wie ich behaupte, bei Begehren und Wollen so wie bei allem, was wir Gefühl oder Gemüthsbewegung nennen, die innere Wahrnehmung in gleich unmittelbarer und evidenter Weise erkennen lässt. §. 3.   Beim Streben, Begehren und Wollen darf, was ich sage, als allgemein anerkannt betrachtet werden. Hören wir darüber einen der hervorragendsten und einflussreichsten Vertheidiger der fundamentalen Scheidung von Gefühl und Willen. Lotze, wo er diejenigen bekämpft, welche das Wollen als ein Wissen fassen und sagen, das „ich will“ sei gleich einem zuversichtlichen „ich werde“, setzt das Wesen des Wollens in eine Billigung oder Missbilligung, also in ein gutFinden oder schlecht-Finden. „Nur die Gewissheit vielleicht, dass ich han­ deln werde“, sagt er, „mag gleichgeltend sein mit dem Wissen meines Wollens, aber dann wird in dem Begriffe des Handelns jenes eigenthümliche Element der Billigung, der Zulassung oder Absicht eingeschlossen sein, welches den Willen zum Willen macht.“ Und wiederum, gegen diejenigen gewendet, welche den Willen als eine gewisse Macht zum Wirken begreifen wollen, erklärt er: „Diese Billigung nun, durch welche unser Wille den Entschluss, welchen die drängenden Beweggründe des Vorstellungslaufes ihm darbieten, als den seinigen adoptirt, oder die Missbilligung, mit welcher er ihn von sich zurückweist, beide würden denkbar sein, auch wenn keiner von beiden die geringste Macht besässe, bestimmend und verändernd in den Ablauf der inneren Ereignisse einzugreifen“274. – Was ist diese Billigung oder Missbilli274 Mikrokosmus, 1. Aufl. I. p. 280.

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gung, von der Lotze spricht? Es ist klar, dass er nicht ein gut- oder schlechtFinden im Sinne eines praktischen Urtheils meint, da er die Ur­theile, wie wir sahen, zur Classe der Vorstellungen rechnet. Was lehrt er also Anderes, als dass das Wesen des Wollens in einer besonderen Beziehung der psychischen Thätigkeit auf den Gegenstand als gut oder schlecht bestehe? Aehnlich könnten wir Stellen von Kant und von Mendelssohn, den vorzüglichsten Begründern der üblichen Dreitheilung, anführen, die dafür sprechen, dass eine solche Beziehung auf den Gegenstand als gut oder schlecht den Grundcharakter eines jeden Begehrens ausmache275. Doch wir greifen lieber sogleich in das Alterthum zurück, um das Zeugniss der antiken Psychologie mit dem der modernen zu verbinden. Aristoteles spricht hier mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig lässt. „Gut“ und „begehrbar“ sind ihm gleichbedeutende Ausdrücke. „Der Gegenstand des Begehrens“ (τὸ ὀρεκτόν), sagt er in seinen Büchern von der Seele, „ist das Gute oder das als gut Erscheinende“; und am Anfange seiner Ethik erklärt er: „Jede Handlung und jede Wahl scheint nach einem Gute zu streben; wesshalb man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet hat, wonach Alles strebt“276. Daher identificirt er auch die Zweckursache mit dem Guten277. Dieselbe Lehre erhielt sich dann im Mittelalter. Thomas von Aquin lehrt mit aller Klarheit, dass wie das Denken zu einem Object als erkennbarem, das Begehren zu ihm als gutem in Beziehung trete. So könne es geschehen, dass ein und dasselbe Gegenstand ganz heterogener psychischer Thätigkeiten sei278. Wir sehen an diesen Beispielen, wie die hervorragendsten Denker verschiedener Perioden hinsichtlich des Strebens und Wollens in der Anerkennung der von uns geltend gemachten Erfahrungsthatsache einig sind, wenn sie auch vielleicht nicht alle in gleicher Weise ihre Bedeutung würdigen. §. 4.   Wenden wir uns zu den andern Phänomenen, um die es sich handelt, und namentlich zu Lust und Unlust, die am Meisten als Gefühle von dem Willen gesondert zu werden pflegen. Ist es richtig, dass auch hier die innere Erfahrung jene eigenthümliche Weise der Beziehung zum Inhalte, jenes „als gut Genehm-sein“ oder „als schlecht Ungenehm-sein“ als Grundcharakter 275 Vgl. Mendelssohn, Gesammlte Schriften IV. p. 122 ff. 276 De Anim. III, 10. Eth. Nic. I, 1. Metaph. Λ, 7. Vgl. auch Rhet. I, 6. 277 Metaph. Λ, 10, u. anderwärts. 278 Vgl. z. B. Summ. Theol. P. I. Q. 80. A. 1. ad 2.

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der Erscheinungen mit Klarheit erkennen lässt? Handelt es sich auch hier deutlich in ähnlicher Weise um den Werth und Unwerth, wie beim Urtheile um die Wahrheit und Falschheit der Gegenstände? – Was mich betrifft, so scheint mir dies bei ihnen nicht minder einleuchtend als beim Begehren. Weil man aber glauben könnte, dass eine Voreingenommenheit hiebei im Spiele sei und mich die Erscheinungen missdeuten lasse, so will ich mich auch hier wieder zugleich auf die Zeugnisse Anderer berufen. Hören wir auch in diesem Punkte vor Allem Lotze. „War es eine ursprüngliche Eigenthümlichkeit des Geistes“, sagt er in seinem Mikrokosmus279, „Veränderungen nicht nur zu erfahren, sondern sie auch vorstellend wahrzunehmen, so ist es ein ebenso ursprünglicher Zug desselben, sie nicht nur vorzustellen, sondern in Lust und Unlust auch des Werthes inne zu werden, den sie für ihn haben.“ Unmittelbar darauf äussert er sich ähnlich: „Im Gefühle der Lust wird die Seele sich der Uebung ihrer Kräfte als einer Steigerung in dem Werthe ihres Daseins bewusst.“ So wiederholt er noch öfter den Gedanken und hält bei höheren wie niederen Gefühlen gleichmässig ihn fest. Der eigentliche Kern des sinnlichen Triebes ist nach ihm immer nur „ein Gefühl, das in Lust und Unlust uns den Werth eines vielleicht nicht zur bewussten Einsicht kommenden körperlichen Zustandes verräth“280; und „die sittlichen Grundsätze jeder Zeit waren Aussprüche des werthempfindenden Gefühles“; sie „wurden stets von dem Gemüthe in einer anderen Weise gebilligt als die Wahrheiten der Erkenntniss“281. Wie sich Lotze das Empfinden des Werthes in dem Gefühle denkt, wage ich nicht mit voller Sicherheit zu bestimmen: dass er aber das Gefühl selbst nicht als die Erkenntniss eines Werthes ansah, ist unzweifelhaft, nicht bloss aus einzelnen Aeusserungen282, sondern auch schon daraus, dass er es sonst 279 Mikrokosmus 1. Aufl. I, p. 261. 280 Ebend. p. 277. 281 Ebend. p. 268. 282 So setzte er in der eben mitgetheilten Stelle die Billigung durch das Gefühl als eine „andere Weise der Billigung“ jeder Anerkennung einer Wahrheit entgegen. Und p. 262 sagt er, die Gefühle der Lust oder Unlust würden „immer von uns auf irgend eine unbekannte Förderung oder Störung gedeutet werden“. Die Annahme folgt also erst dem Fühlen, wenn auch vielleicht auf dem Fusse. – Fragen wir aber, warum jene Gefühle immer so gedeutet werden, so bekommen wir von Lotze, wie mir scheint, keine ganz genügende Antwort. Dass die Vorstellung einer Lust ohne eine gleichzeitige Förderung wie die, auf welche wir sie nach Lotze deuten, eine Contradiction enthalten würde, scheint nicht seine Ansicht; woher also jene Nothwendigkeit oder unüberwindliche Neigung? – Wir, auf unserem Stand-

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seiner ersten Classe untergeordnet haben würde. Danach scheint aber der Ausdruck nur mehr in einer Weise, und zwar im Sinne unserer Anschauung sich rechtfertigen zu lassen. Es ist auch bemerkenswerth, dass Lotze nicht bloss sagt, dass das Gefühl Werth und Unwerth empfinde, und es so zu dem Gegenstand als gut und schlecht in Beziehung setzt, sondern bei ihm auch ganz derselben Bezeichnung „billigen“ sich bedient, die er zuvor angewandt hatte, um das „eigenthümliche Element, welches den Willen zum Willen macht“, zu benennen. Umgekehrt sagt er ein anderes Mal für „Wollen“ „herzliche Theilnahme“283, ein Ausdruck, der gewöhnlich für Phänomene von Lust und Leid gebraucht wird. Wie sollte nicht in dieser Uebertragung der am Meisten charakteristischen Benennungen des einen Gebietes auf das andere ein unwillkürliches aber bedeutungsvolles Zeugniss für die wesentliche Verwandtschaft in der Beziehungsweise der beiderseitigen Erscheinungen zu ihren Objecten und somit für ihre Zusammengehörigkeit zu einer Grundclasse liegen? punkte, können, glaube ich, die Frage beantworten. Mit derselben Nothwendigkeit, mit welcher Jemand dem Objecte eines anerkennenden oder verwerfenden Urtheils in Folge dieses Urtheils Wahrheit zuschreibt, mit derselben Nothwendigkeit schreibt er bei der Ausübung einer Thätigkeit der dritten Grundclasse in Folge dieser Thätigkeit ihrem Objecte einen Werth oder Unwerth zu (s. o. S. 260). So denn auch bei Lust und Unlust. Haben wir also eine von Lust begleitete sinnliche Empfindung, so schreiben wir der Empfindung einen Werth zu, und in so weit ist der Process offenbar nothwendig. Wir werden aber alsbald weiter geführt. Indem wir z. B. bemerken, dass die angenehmen Empfindungen von gewissen körperlichen Processen abhängen, werden uns nothwendig auch diese wegen ihrer Folgen werthvoll sein; und vermöge der eigenthümlichen Gesetze, welche wir später für dieses Gebiet der Seelenerscheinungen festzustellen haben, wird es dann geschehen, dass sie allmälig auch ohne Berücksichtigung der Folgen Gegenstand unserer Liebe und Werthschätzung werden. Ja es kann dazu kommen, dass wir ihnen Vorzüge beilegen, für deren Annahme wir nicht den mindesten vernünftigen Anhalt besitzen, wie wenn wir ohne jede Erfahrung, dass wohlschmeckende Speisen der Gesundheit zuträglicher seien, ihnen um ihres Wohlgeschmackes willen auch diese gute Eigenschaft zuschrieben. Hat ja der Aberglauben des Volkes in dem Golde, weil es in anderer Hinsicht sich vielfach werthvoll und nützlich erwies, in Folge dessen auch ein treffliches Heilmittel vermuthet. Doch gibt es in unserem Falle auch specifische Erfahrungen, die einen sehr weitgehenden Zusammenhang von Lust und organischer Förderung erkennen lassen, und so eine vernünftigere Vermuthung gestatten, es möge auch in dem einzelnen, vorliegenden Falle dasselbe gelten. Auch diese mögen, wenn nicht allgemein, doch in der Regel zu den vorher besprochenen Motiven hinzukommen und mit ihnen zusammenwirken. 283 Ebend. p. 280.

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Hamilton – denn auch diesen grossen Vertheidiger der Sonderstellung der Gefühle wollen wir nicht unberücksichtigt lassen – nennt mit ganz ähnlichen Ausdrücken wie Lotze „Lust und Unlust“ „eine Schätzung des relativen Werthes der Objecte“284, wobei wir es freilich ihm selbst überlassen müssen, diesen Ausspruch mit dem, wie er uns lehrte, „subjectivisch subjectiven“ Charakter der Gefühle in Einklang zu bringen. Solche Aeusserungen, welche die Beziehung der Gefühlsphänomene auf die Gegenstände als gut und schlecht deutlich anerkennen, kehren bei ihm auch anderwärts, ja sehr häufig wieder285. Kant endlich, in seiner Kritik der Urtheilskraft, bezeichnet gerade da, wo er Gefühl und Begehren scheiden will, beide als ein Wohlgefallen, nur das eine als uninteressirtes, das andere als praktisches. Näher untersucht, läuft dies darauf hinaus, dass man in dem Gefühle bloss an der Vorstellung eines Gegenstandes, in dem Begehren an der Existenz eines Gegenstandes ein Interesse habe; und auch dieser Unterschied würde aufgehoben, wenn es sich zeigen sollte, dass was Kant hier Gefühl nennt, in Wahrheit auf jene Vorstellung selbst als seinen Gegenstand gerichtet ist. In einer früheren Schrift aber sagt Kant geradezu: „Man hat es in unseren Tagen allerst einzusehen angefangen, dass das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntniss, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei, und dass beide ja nicht miteinander müssen verwechselt werden“286. Solche Zeugnisse aus dem Munde der am Meisten hervorragenden Gegner sind gewiss von unleugbarer Bedeutung. Und auch hier verbinden sich mit den modernen287 die übereinstimmenden Aussagen längst vergangener 284 Lect. on Metaph. I. p. 188 285 Vgl. ebend, II. p. 434 ff., besonders p. 436 Nr. 3 u. 4. 286 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (I. S. 109), eine Schrift aus dem Jahre 1763. 287 Einige andere, freilich sehr unfreiwillige neuere Zeugnisse für den übereinstimmenden Charakter von Gefühl und Willen führt Herbart an. Wenn man die Psychologen nach dem Ursprunge der Grenze zwischen Fühlen und Begehren fragt, sagt er: „drehen sich ihre Erklärungen im Cirkel ... Maass in dem Werke über die Gefühle (S. 39 des I. Th.) erklärt Fühlen durch Begehren (‚ein Gefühl ist angenehm, so fern es um seiner selbst willen begehrt wird‘), aber eben derselbe, in dem Werke über die Leidenschaften (S. 2, vgl. S. 7) sagt: es sei ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was als gut, zu verabscheuen, was als böse vorgestellt werde. Wobei die Frage entsteht, was denn gut, und was denn böse sei? Darauf nun erhalten wir die Antwort: die Sinnlichkeit stelle als gut vor das, wovon sie angenehm afficirt werde u. s. w. Und hiemit sind wir im Cirkel herum geführt.

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Perioden. Wie wenig es richtig ist, dass man, wie Kant meinte, erst zu seiner Zeit ein besonderes Vermögen, welches sich auf etwas als gut bezieht, dem, welches auf etwas als wahr gerichtet ist, zur Seite zu stellen anfing, hat uns unser historischer Ueberblick gelehrt. Die ältere Psychologie, so weit und so lange Aristoteles sie beherrschte, schied ja in diesem Sinne Denken und Begehren. In dem Begehren – so sehr entschränkte sie den Ausdruck – waren auch die Gefühle von Lust und Unlust und überhaupt alles, was nicht ein vorstellendes oder urtheilendes Denken ist, begriffen. Hierin lag, was uns bei unserer Frage vorzüglich interessirt, die Anerkennung, dass die Relation zu den Objecten als guten oder schlechten, die wir als den allgemeinen wesentlichen Grundcharakter der Gefühle behaupten, bei ihnen nicht minder als beim Begehren und Wollen gegeben sei. Dasselbe zeigen die Aussprüche des Aristoteles über die Beziehung der begleitenden Lust zur Vollkommenheit des Actes, die man in der Nikomachischen Ethik findet, und die wir bei der Untersuchung über das Bewusstsein erwähnt haben, sowie einige Stellen seiner Rhetorik288. Die Peripatetische Schule des Mittelalters, insbesondere Thomas von Aquin in seiner interessanten Lehre von dem Zusammenhange der Gemüthsbewegungen vertritt auf ’s Unzweideutigste dieselbe Anschauung289. Auch die Sprache des gewöhnlichen Lebens deutet darauf hin, dass bei Lust und Unlust eine Beziehung zum Gegenstand bestehe, die derjenigen des Wollens wesentlich verwandt ist. Sie liebt es, Ausdrücke, die sie zunächst auf dem einen Gebiete anwandte, dann auf das andere zu übertragen. So nennen wir angenehm das, was uns Lust, unangenehm das, was uns Unlust gewährt, wir sprechen aber auch von einem Genehm-sein und einer Genehmigung auf der Seite des Willens. Ebenso wurde das „Placet“ im Sinne einer Gutheissung offenbar aus dem Gebiete des Gefühls auf einen Willensentschluss übertragen; und nicht minder deutlich hat der deutsche Ausdruck – Hoffbauer, in seinem Grundrisse der Erfahrungsseelenlehre, fängt die Capitel vom Gefühlsvermögen und Begehrungsvermögen so an: ‚Wir sind uns mancher Zustände bewusst, welche wir uns bestreben hervorzubringen, diese nennen wir angenehm; gewisse Vorstellungen erzeugen in uns das Bestreben ihren Gegenstand wirklich zu machen, dies nennen wir Begehren‘ u. s. w. Hier ist einerlei Grund, das Bestreben, den Gefühlen und Begierden untergelegt.“ (Lehrbuch zur Psychologie Th. 2, Abschn. 1, Cap. 4, §. 96). 288 S. o. Buch II. Cap. 3. §. 6 und Rhet. I. 11, besonders p. 1370, a, 16. II. 4. p. 1381, a, 6. 289 Summ. Theol. P. II, 1. q. 26 ff.

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„Gefallen“ in „thue, was dir gefällt!“ oder „ist Ihnen etwas gefällig?“ u. s. f. dasselbe erfahren. Ja selbst das Wort „Lust“ wird in der Frage: „hast du Lust?“ zur unverkennbaren Bezeichnung einer Willensrichtung. Andererseits ist der „Unwillen“ kaum ein Willen zu nennen, obwohl der Ausdruck daher entlehnt ist, und der „Widerwillen“ als Bezeichnung gewisser Erscheinungen des Ekels ist unverkennbar der Namen eines Gefühls geworden. Die Sprache thut aber mehr als dass sie gewisse Namen von Erscheinungen des einen auf Erscheinungen des anderen Gebietes überträgt. Sie hat in den Ausdrücken „Liebe“, und „Hass“ ein Mittel der Bezeichnung, das in ganz eigentlicher Weise bei jedem Phänomen in dem gesammten Bereiche anwendbar ist. Denn, sind sie auch in dem einen oder anderen Fall minder üblich, so versteht einer doch, wenn man sie gebraucht, was damit gemeint ist, und erkennt, dass sie ihrer eigentlichen Bedeutung nicht entfremdet werden. Das Einzige, was in solchen Fällen gegen sie spricht, ist, dass der Sprachgebrauch hier specielleren Bezeichnungen den Vorzug zu geben pflegt. Denn in Wahrheit sind sie in einem sehr gewöhnlich, obwohl nicht ausschliesslich damit verbundenen Sinne Ausdrücke, welche die unserer dritten Grundclasse eigenthümliche Weise der Beziehung zum Gegenstande in ihrer Allgemeinheit kennzeichnen. Die Zusammenstellungen von „Lust und Liebe“ „lieb und leid“ und dgl. zeigen den Ausdruck „Liebe“ auf die entschiedensten Gefühle angewandt. Und wenn wir sagen „lieblich“ „hässlich“, was meinen wir Anderes als eine Lust oder Unlust erweckende Erscheinung? Andererseits weisen Aeusserungen wie „es beliebt mir“, „thue was dir lieb ist“ deutlich auf Phänomene des Willens hin. In dem Satze „er hat eine Vorliebe für wissenschaftliche Beschäftigung“ ist etwas ausgesprochen, was vielleicht Manche zu dem Gefühle rechnen, während es Andere für eine habituelle Richtung des Willens erklären werden. Ebenso überlasse ich es Anderen zu entscheiden, ob bei Namen wie „missliebig“ „unliebsam“ „Liebling“ („Lieblingspferd“ und „Lieblingsstudium“ miteinbegriffen) mehr Gründe für die Einordnung des Liebens, von dem die Rede ist, in das Gebiet, das sie Gefühle nennen, oder in das, welches sie dem Willen zuweisen, sich anführen lassen. Was mich betrifft, so glaube ich, dass es als allgemeinerer Ausdruck auch in diesem einzelnen Falle beide umspannt. Wer sich nach etwas sehnt, der liebt es zu haben; wer über etwas trauert, dem ist das unlieb, worüber er trauert; wer sich über etwas freut, liebt, dass es so ist; wer etwas thun will, liebt es zu thun (wenn nicht an und für sich, so doch in Rücksicht auf diese oder jene Folge) u. s. f., und die genann-

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ten Acte sind nicht etwas, was bloss mit einem Lieben zusammen besteht, sondern sie selbst sind Acte der Liebe. So zeigt sich, dass „gut sein“ und „irgendwie zu lieben sein“ so wie andererseits „schlecht sein“ und „irgendwie zu hassen sein“ dasselbe besagen, und wir sind gerechtfertigt, wenn wir den Ausdruck „Liebe“ zum Namen unserer dritten Grundclasse wählten, in dem wir dabei, wie schon bemerkt, wie man bei Begehren und Wollen ähnlich zu thun pflegt, den Gegensatz miteinbegriffen. Als Ergebniss unserer Erörterung dürfen wir also aussprechen, dass die innere Erfahrung deutlich die Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen offenbart. Sie thut es, indem sie uns zeigt, dass nirgends zwischen ihnen eine scharf gezogene Grenze ist, und dass ein gemeinsamer Charakter ihrer Beziehung auf den Inhalt sie von den übrigen psychischen Phänomenen unterscheidet. Was die Philosophen der verschiedensten Richtung und selbst die, welche das Gebiet in zwei Grundclassen sondern, darüber äusserten, wies deutlich auf diesen gemeinsamen Charakter hin und bestätigte, ebenso wie die Sprache des Volkes, die Richtigkeit unserer Beschreibung der inneren Erscheinungen. §. 5.   Verfolgen wir weiter den Plan unserer Untersuchung. Als es sich darum handelte, Vorstellung und Urtheil als zwei verschiedene Grundclassen psychischer Phänomene zu erweisen, begnügten wir uns nicht damit, das directe Zeugniss der Erfahrung anzurufen; vielmehr haben wir auch gezeigt, dass der grosse Unterschied, der unleugbar zwischen dem einen und anderen Phänomene besteht, gänzlich auf Rechnung der verschiedenen Weisen ihrer Beziehungen zum Objecte zu setzen ist. Von diesem Unterschiede abgesehen, würde jedes Urtheil mit einer Vorstellung sich gedeckt haben und umgekehrt. Werfen wir jetzt in Betreff der Gefühle und des Willens die gleiche Frage auf. Wäre, wer keinerlei Unterschied in der Weise des Bewusstseins zwischen einem Fühlen von Freude und Schmerz und einem Wollen anerkennte, vielleicht ebenfalls ausser Stande irgend etwas als unterscheidend namhaft zu machen? würde auch zwischen ihnen jede Verschiedenheit dann ausgeglichen sein? – Sicher ist dieses nicht der Fall. Wir haben früher gesehen, wie zwischen dem Fühlen einer Freude oder eines Schmerzes und dem Wollen im eigentlichsten Sinne eine Reihe von Seelenzuständen so zu sagen in der Mitte steht, von welchen man nicht recht weiss, ob sie bei einer Scheidung des Gebietes in Gefühl und Willen besser der einen oder anderen Seite zugerechnet werden. Sehnsucht, Hoffnung, Muth und andere Erscheinungen gehören hieher. Gewiss wird Nie-

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mand behaupten, jede dieser Classen sei von der Art, dass sich ausser einer etwaigen Besonderheit der Beziehung zum Objecte kein Unterschied dafür angeben lasse. Eigenthümlichkeiten der Vorstellungen und Eigenthümlichkeiten der Urtheile, die ihnen zu Grunde liegen, dienen dazu, die eine von der anderen zu unterscheiden; und an solche Unterschiede hat man sich darum gehalten, da man in älterer wie neuerer Zeit Versuche machte, sie definirend gegen einander abzugrenzen. Dies hat schon Aristoteles in seiner Rhetorik, so wie in der Nikomachischen Ethik gethan, und Andere wie z. B. Cicero im vierten Buch der Tusculanae Quaestiones sind seinem Beispiele gefolgt. Später finden wir ähnliche Versuche bei Kirchenvätern wie Gregor von Nyssa, Augustinus und anderen, und in einem vorzüglichen Maasse im Mittelalter bei Thomas von Aquin in seiner Prima Secundae. Wiederum begegnen sie uns in der Neuzeit bei Descartes in seiner Abhandlung über die Leidenschaften, bei Spinoza im dritten Theile seiner Ethik, wohl dem verdienstvollsten des ganzen Werkes; ferner bei Hume, Hartley, James Mill u. s. f. bis auf unsere Zeit. Natürlich konnten solche Definitionen, indem sie die einzelne Classe nicht bloss gegen eine, sondern gegen jede andere abgrenzen wollten, nicht immer von dem Gegensatze absehen, welcher dieses Gebiet, wie Anerkennung und Leugnung das der Urtheile durchdringt, und ebenso mussten sie auf die Unterschiede in der Stärke der Phänomene mitunter Rücksicht nehmen. Mehr aber ist in der That nicht nöthig, um im Uebrigen mit den zuvor erwähnten Mitteln bei der Bestimmung eines jeden zu diesem Gebiete gehörigen Classenbegriffes vollkommen auszureichen; womit selbstverständlich nicht gesagt sein soll, dass jeder Versuch, den man mit ihrer Hülfe gemacht hat, auch wirklich gelungen sei. Lotze, der in seiner medicinischen Psychologie hinsichtlich verschiedener Classen, die er zu den Gefühlen rechnet, denselben Weg der Definition betritt, enthält sich dagegen in Betreff der Besonderheit des Wollens eines jeden solchen Versuches, indem er ihn für nothwendig erfolglos hält. „Vergeblich“, sagt er, „sucht man das Vorhandensein des Wollens zu leugnen, ebenso vergeblich, als wir uns bemühen würden, seine einfache Natur, die nur unmittelbar sich erleben lässt, durch umschreibende Erklärungen zu verdeutlichen290“. Dies ist auf seinem Standpunkt consequent geurtheilt291; 290 Mikrokosmus 1. Aufl. I. S. 280. 291 Kant und Hamilton haben freilich die Consequenz nicht gezogen; aber einerseits waren sie bei ihren Versuchen wenig glücklich, andererseits so weit sie Erfolg hatten, geben sie dadurch nur selbst gegen ihren Grundgedanken eines fundamentalen

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richtig aber scheint es mir in keiner Weise. Jedes Wollen participirt an dem gemeinsamen Charakter unserer dritten Grundclasse; und wer darum das Gewollte als etwas, was Jemand lieb ist, bezeichnet, hat dadurch schon einigermassen und in äusserster Allgemeinheit die Natur der Willensthätigkeit gekennzeichnet. Fügt man dann Bestimmungen über die Besonderheit des Inhaltes, über die Eigenthümlichkeit der Vorstellung und des Urtheils hinzu, die dem Wollen zu Grunde liegen, so ergänzt sich die erste Angabe in ähnlicher Weise zu einer genau abgrenzenden Definition, wie in anderen Fällen die einer Classe von Gefühlen. Jedes Wollen geht auf ein Thun, von dem wir glauben, dass es in unserer Macht liege, auf ein Gut, welches als Folge des Wollens selbst erwartet wird. An diese specialisirenden Bestimmungen hat schon Aristoteles gerührt, indem er das Wählbare als ein durch Handeln zu erreichendes Gut bezeichnete. Eingehender haben James Mill und Alexander Bain die besonderen Bedingungen des Phänomens, die in den zu Grunde liegenden Vorstellungen und Urtheilen gegeben sind, analysirt. Diese Analysen, selbst wenn einer das Eine oder Andere noch daran auszusetzen fände, werden doch, glaube ich, in jedem, der sie beachtet, die Ueberzeugung erwecken, dass man wirklich auch das Wollen in ähnlicher Weise und mit ähnlichen Mitteln wie die einzelnen Classen der Gefühle definiren kann, und dass es nicht so unbeschreiblich einfach ist, wie Lotze uns lehrte292. §. 6.   Wenn wir indessen sagten, dass das Wollen durch Hinzufügung von ­solcherlei Bestimmungen zum allgemeinen Begriffe der Liebe definirbar sei, so meinen wir damit nicht, dass Jemand, der das specielle Phänomen nie selbst in sich erfahren hätte, durch die Definition zu vollkommener Klarheit darüber gelangen könnte. Dies ist keineswegs der Fall. Es besteht in dieser Beziehung ein grosser Unterschied zwischen der Definition des Wollens und der Begriffsbestimmung einer besonderen Classe von Urtheilen durch Angabe der Gattung des Inhaltes, auf welchen sie anerkennend oder verwerfend gerichtet sind. Wenn man nur irgendwelche bejahende und verneinende Urtheile gefällt hat, so kann man sich jedes andere Urtheil anschaulich vorstellen, so bald man weiss, worauf es bejahend oder verneinend gerichtet ist. Hätte sich Classenunterschiedes Zeugniss. So Kant, wenn er das Wohlgefallen des Willens, als Wohlgefallen am Sein, dem Wohlgefallen des Gefühles als dem uninteressirten Wohlgefallen, welches durch die blosse Vorstellung befriedigt ist, gegenüberstellt. (s. o. S. 264.) 292 Im fünften Buche werden wir uns eingehend mit der Frage zu beschäftigen haben.

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dagegen Jemand auch noch so häufig liebend und hassend bethätigt und in mannigfachen Abstufungen der Stärke, so würde doch für ihn, wenn er nie in specie etwas gewollt hätte, aus der Angabe der Besonderheit des Wollens in den erwähnten Beziehungen das Phänomen in seiner eigenthümlichen Natur nie vollkommen vorstellbar werden. Wenn Lotze nichts Anderes hätte sagen wollen, so würden wir uns vollkommen mit ihm einverstanden erklären. Aber dies ist nichts, was nicht ebenso für andere specielle Classen, die man gewöhnlich dem Gefühle unterordnet, gelten würde; denn auch von ihnen zeigt, um mich eines Ausdruckes von Lotze selbst zu bedienen, jede eine besondere Färbung. Wer nur Gefühle der Freude und der Trauer gehabt hätte, dem würde durch eine Definition des Hoffens oder Fürchtens dessen innere Eigenthümlichkeit unmöglich vollkommen anschaulich werden; ja schon hinsichtlich verschiedener Arten von Freude gilt dasselbe: die Freude des guten Gewissens und die Lust bei angenehmer Erwärmung, die Freude beim Anblick eines schönen Gemäldes und die Lust beim Wohlgeschmacke einer Speise sind nicht etwa bloss quantitativ, sie sind qualitativ von einander verschieden, und ohne eine specifische Erfahrung würde die Angabe des besonderen Objects zur Erweckung einer vollkommen entsprechenden Vorstellung nicht führen können. Um dieser qualitativen Verschiedenheiten willen wird man allerdings zugeben müssen, dass innerhalb des Gebietes der Liebe noch Unterschiede in der Weise der Beziehung zum Objecte bestehen. Aber damit ist nicht gesagt, dass nicht die Einheit derselben Grundclasse alle Phänomene der Liebe umfasse. Wie vielmehr zwischen qualitativ verschiedenen Farben, so besteht auch zwischen qualitativ verschiedenen Phänomenen der Liebe eine wesentliche Verwandtschaft und Uebereinstimmung. Auch der Vergleich mit dem Gebiete des Urtheils macht dies deutlich. Fehlen hier andere Unterschiede in der Weise der Beziehung zum Objecte, so sind doch wenigstens Anerkennung und Verwerfung zwei verschiedene Weisen der Beurtheilung; man nennt sie mit Recht qualitativ verschieden. Dennoch erstreckt sich, da sie in ihrem allgemeinen Charakter miteinander übereinstimmen, die Einheit derselben Grundclasse über beide, und ihre Scheidung, obwohl ebenfalls durch die Natur vorgezeichnet, ist doch keine, welche auch nur annähernd eine ähnlich fundamentale Bedeutung wie die zwischen Vorstellung und Urtheil hätte. Ganz dasselbe gilt in unserem Falle. Ja es ist wo möglich noch einleuchtender, dass bei einer Grundeintheilung der psychischen Phänomene die qualitativen Unterschiede specieller Weisen des Liebens nicht in Betracht kommen können, als dass die Unterschiede der Qualität der Ur­theile nicht

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dabei zu berücksichtigen sind. Die höchsten Classen würden ausserordentlich zahlreich oder vielmehr geradezu unzählig werden, namentlich da dasjenige, was zu einem geliebten oder gehassten Gegenstande in Beziehung tritt, selbst wieder Gegenstand einer Liebe oder eines Hasses wird, und sehr gewöhnlich mit einer veränderten Färbung des Phänomenes. Auch würde die enge Umgrenzung, die jede von diesen höchsten Classen erhielte, dem Zwecke einer ersten und fundamentalen Eintheilung entgegen sein. Darum haben auch diejenigen, welche das von uns einheitlich umschriebene Gebiet in mehrere Grundclassen zerlegten, bei ihrer Eintheilung nicht allen diesen Unterschieden Rechnung getragen. Sie scheiden nur zwei Classen, Gefühl und Willen; alle speciellen Färbungen der Phänomene der Liebe und des Hasses, welche innerhalb des Gebiets, das sie Willen nennen, und zahlreicher noch innerhalb des Bereiches der Gefühle bestehen, lassen sie dagegen unberücksichtigt. So erkennen sie durch ihr praktisches Verhalten in der bei weitem grösseren Zahl der Fälle an, dass solche untergeordnete Unterschiede nicht eine Sonderung in verschiedene Grundclassen rechtfertigen, und hiemit ist, wenn unsere Auseinandersetzung richtig ist, auch die Verwerfung ihrer Unterscheidung von Gefühl und Willen als höchster Classen im Principe zugegeben. §. 7.   Wir kommen zu einer dritten Reihe von Erörterungen, welche die von uns behauptete Zusammengehörigkeit von Gefühl und Willen zu einer natürlichen Grundclasse bestätigen wird. Da es sich um die Feststellung der fundamentalen Verschiedenheit von Vorstellung und Urtheil handelte, zeigten wir, wie alle Umstände darauf hinweisen, dass ein grundverschiedenes Verhältniss zum Inhalte das eine von dem anderen Phänomen unterscheidet. Wo das Urtheil zur Vorstellung hinzutritt, findet man eine ganz neue Gattung von Gegensätzen, eine ganz neue Gattung von Intensität, eine ganz neue Gattung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit und eine ganz neue Gattung von Gesetzen der Entstehung und Aufeinanderfolge. Auch die Classe der Liebe und des Hasses, als Ganzes genommen, zeigte sich uns damals der Vorstellung und dem Ur­theile gegenüber in derselben allseitigen Weise durch Eigenthümlichkeiten ausgezeichnet. Sollte innerhalb dieser Classe selbst noch ein fundamentaler Unterschied in der Beziehungsweise zum Objecte bestehen, so dürfen wir demnach erwarten, dass auch hier in ähnlicher Art das eine Gebiet von dem anderen in jeder der angegebenen Richtungen die Besonderheit seines Charakters offenbaren werde.

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Aber in keiner Weise ist dies der Fall. Vor Allem wird man sich leicht überzeugen, dass innerhalb des ganzen Gebietes von Gefühl und Willen nirgends eine Verschiedenheit von Gegen­ sätzen auftritt, von denen das eine Paar dem anderen so heterogen wäre, wie es der Gegensatz von Liebe und Hass dem von Anerkennung und Leugnung ist. Auch wenn wir Freude und Traurigkeit mit Wollen und Nicht-wollen vergleichen, erkennen wir, dass hier und dort im Grunde genommen derselbe Gegensatz von Lieb- und Unlieb-sein, Gefallen und Missfallen uns entgegentritt. Allerdings erscheint er in jedem der beiden Fälle etwas modificirt, entsprechend der verschiedenen Färbung der Phänomene: aber der Unterschied ist nicht grösser als der, welcher zwischen den Gegensätzen von Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht, Muth und Verzagen, Verlangen und Fliehen und vielen anderen in der Classe gefunden wird. Dasselbe gilt in Betreff der Stärke. Die Gesammtheit der Classe ist deutlich durch eine besondere Gattung von Intensität ausgezeichnet. Die Unterschiede der Gewissheit sind, wie schon früher bemerkt, mit den Unterschieden der Grade des Liebens und Hassens unvergleichbar; ja geradezu lächerlich würde es sein, wenn einer sagte: es ist mir dies doppelt so wahrscheinlich, als mir jenes lieb ist od. dgl. Aber innerhalb der Classe selbst gilt nirgends dasselbe. Wie die verschiedenen Stufen der Ueberzeugung im Anerkennen und Verwerfen, so lassen auch die Gradunterschiede im Lieben und Hassen sich mit einander vergleichen. Wie ich ohne Inconvenienz sagen kann, dass ich das Eine mit grösserer Gewissheit annehme, als ich das Andere leugne: so kann ich auch sagen, dass ich das Eine in höherem Maasse liebe als ich das Andere hasse. Und nicht bloss die Stärke von Gegensätzen, sondern auch die von Freude und Verlangen und Willen und Vorsatz kann ich im Verhältnisse zu einander als grösser und geringer bestimmen. Ich freue mich mehr darüber, als ich nach jenem verlange; mein Verlangen ihn wieder zu sehen ist nicht so stark, als mein Vorsatz ihn meine Missbilligung empfinden zu lassen u. s. f. Aehnliches zeigt sich in Hinsicht auf die Vollkommenheit und Unvollkom­ menheit. Wir sahen, wie in den Vorstellungen einerseits weder Tugend noch sittliche Schlechtigkeit, andererseits weder Erkenntniss noch Irrthum liegt. Mit den Phänomenen des Urtheilens kommen die letzten beiden hinzu; das erste Paar dagegen liegt, wie schon gesagt, ausschliesslich in dem Gebiete der Liebe und des Hasses. Findet es sich nun vielleicht nur in der einen der beiden Classen, in welche man das Gebiet zerlegt hat, in dem Willen; nicht aber in dem der Gefühle? – Man erkennt leicht, dass dies nicht der Fall ist,

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sondern dass es wie einen sittlich guten und sittlich schlechten Willen, auch sittlich gute und sittlich schlechte Gefühle gibt, wie z. B. Mitleid, Dankbarkeit, Heldenmuth, Neid, Schadenfreude, feige Furcht u. s. f. Wegen des besprochenen Mangels deutlicher Abgrenzung weiss ich freilich nicht, in wie weit einer einzelne von diesen Beispielen vielleicht lieber zum Gebiete des Willens rechnet; aber auch nur eines von ihnen würde zu unserem Zwecke genügen293. Auch kann man nicht behaupten, dass zwar Tugend und Schlechtigkeit beiden Gebieten gemein, aber im Willen noch eine neue, besondere Classe von Vollkommenheit und Unvollkommenheit zu ihnen hinzugekommen sei; und bis jetzt wenigstens hat, meines Wissens, Niemand eine solche bezeichnet. Wenden wir uns zu dem letzten Punkte des Vergleiches, zu den Gesetzen der Succession der Erscheinungen. Bei den Urtheilen, obwohl sie von den allgemeinen Gesetzen des Vorstellungslaufes sich keineswegs unabhängig zeigen, kommen doch noch andere, besondere Gesetze hinzu, welche aus ihnen nicht abgeleitet werden können. Wir bemerkten bereits, dass diese Gesetze die vorzügliche psychologische Grundlage der Logik ausmachen. Bei Liebe und Hass, sagten wir damals, sei etwas Aehnliches der Fall; und in der That sind zwar diese Phänomene weder von den Gesetzen des Vorstellungslaufes noch von denen der Entstehung und Succession der Urtheile unabhängig: aber dennoch zeigen auch sie besondere unableitbare Gesetze ihrer Aufeinanderfolge und Entwickelung, welche die psychologische Grundlage der Ethik bilden. Fragen wir nun, wie es mit diesen Gesetzen sich verhalte. Sind sie vielleicht auf die Classe des Willens allein beschränkt? oder beherrscht wenigstens nur ein Theil von ihnen Gefühle und Willensthätigkeiten gemeinsam, 293 Es ist richtig, dass die Namen Tugend und Schlechtigkeit von uns in einem zu engen Sinne gebraucht zu werden pflegen, als dass man von jedem Acte der Liebe oder des Hasses sagen könnte, er sei tugendhaft oder schlecht. Nur gewisse ausgezeichnete Acte, in welchen das wahrhaft Liebenswürdige geliebt, das wahrhaft Hassenswürdige gehasst wird, ehren wir mit dem Namen Tugend; und ebenso legen wir nur gewissen ausgezeichneten Acten, in welchen ein entgegengesetztes Verhalten stattfindet, den Namen Schlechtigkeit bei. Acte von Liebe und Hass, bei welchen ein entsprechendes Verhalten selbstverständlich erscheint, werden wir nicht als tugendhaft bezeichnen. Wir könnten vielleicht zeigen, wie sich die Begriffe zu einer vollkommen allgemeinen Anwendbarkeit entschränken liessen. Doch genügt es uns hier, dargethan zu haben, dass sie so, wie man sie gemeiniglich anwendet, wenigstens der üblichen Unterscheidung von Gefühl und Willen keine Stütze bieten.

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während ein anderer, durch einen neuen und eigenthümlichen Charakter ausgezeichnet, für die Phänomene des Wollens ausschliesslich Geltung hat? – Keines von Beidem ist richtig; vielmehr gehen in ganz ähnlicher Weise in einem Falle Acte des Wollens wie in einem anderen Acte der Freude und Traurigkeit auseinander hervor. Ich freue mich oder betrübe mich über einen Gegenstand um eines Anderen willen, während er sonst mich unberührt gelassen hätte; und ebenso begehre und will ich etwas wegen eines Anderen, obwohl ich sonst nicht danach verlangte. Auch erzeugt die Gewohnheit des Genusses bei eingetretenem Mangel eine stärkere Begierde, wie umgekehrt ein vorausgegangenes längeres Verlangen den eingetretenen Genuss verstärkt und hebt. Doch wie? – wir sagen, dass wesentlich dieselben Gesetze auf dem Gebiete der Gefühle und auf dem des Willens Geltung haben? und doch scheint gerade hier der grösste Gegensatz zu bestehen, der überhaupt auf psychischem Gebiete sich zeigt. Denn der Willen, im Unterschiede von allen übrigen Gattungen, gilt als das Reich der Freiheit, welches, wenn nicht jeden Einfluss, doch sicher eine Herrschaft von Gesetzen, wie sie auf den anderen Gebieten besteht, von sich ausschliesse. Somit scheint hier ein starker Grund für die herkömmliche Scheidung von Gefühl und Willen vorzuliegen. Die Thatsache der Willensfreiheit, auf welche sich dieser Einwand stützt, hat bekanntlich von Alters her den Gegenstand eifrigen Streites gebildet, an dem wir selbst uns erst an einem späteren Orte betheiligen werden294. Aber ohne dem künftigen Ergebniss irgendwie vorzugreifen, sind wir, glaube ich, schon jetzt das Argument zurückzuweisen im Stande. Angenommen es finde sich auf dem Gebiete des Willens wirklich jene volle Freiheit, welche in demselben einzelnen Fall ein Wollen und Nichtwollen und ein entgegengesetztes Wollen als möglich erscheinen lässt: so besteht dieselbe doch sicher nicht auf dem ganzen Gebiete, sondern nur etwa da, wo entweder verschiedene Arten des Handelns oder wenigstens Handeln und nicht-Handeln, jedes in seiner Weise als ein Gut in Betracht kommt. Dies wurde von den bedeutendsten Vertretern der Willensfreiheit immer und ausdrücklich anerkannt. Was aber, obwohl vielleicht minder deutlich ausgesprochen, dennoch ebenso unverkennbar als ihre Ueberzeugung sich zu erkennen gibt, ist, dass sich unter jenen Seelenthätigkeiten, die nicht als ein Wollen bezeichnet werden können, und die man den Gefühlen zurechnet, gleichfalls freie Acte finden. So hält man den Schmerz der Reue über ein früheres Vergehen, die 294 Buch V.

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schadenfrohe Lust und viele andere Phänomene der Freude und Traurigkeit für nicht weniger freie Acte, als den Vorsatz sein Leben zu ändern und die Absicht Jemand einen Nachtheil zuzufügen. Ja die Gefühle einer contemplativen Gottesliebe gelten Vielen als verdienstlicher als die hülfreiche Bethätigung des Willens im Dienste des Nächsten, obwohl sie nur bei freien Bethätigungen von Verdienst und Missverdienst sprechen wollen. Wenn man trotzdem im Allgemeinen nur von Willensfreiheit sprach, so hing dies bei älteren Philosophen mit dem, wie wir sahen, erweiterten und auf Gefühl und Willen im engeren Sinne gleichmässig ausgedehnten Gebrauche dieses Namens; bei modernen aber häufig mit anderen Unklarheiten zusammen, die sich in ihre Untersuchung einmischten. So hat selbst Locke die Unterscheidung zwischen dem Vermögen, eine Handlung, je nachdem man sie will oder nicht will, zu üben oder zu unterlassen, und der Möglichkeit, unter denselben Umständen sie zu wollen oder nicht zu wollen, niemals klar vollzogen. Es ist also sicher, dass, wenn überhaupt auf dem Gebiete der Liebe und des Hasses Freiheit besteht, dieselbe nicht auf Acte des Wollens allein, sondern ebenso auf gewisse Bethätigungen der Gefühle sich erstreckt, und dass andererseits ebensowenig jeder Act des Wollens als jeder Act des Fühlens frei genannt werden kann. Dies genügt, um zu zeigen, wie durch die Anerkennung der Freiheit die Kluft zwischen Gefühl und Willen nicht erweitert und der hergebrachten Classeneintheilung keine Stütze geboten wird. §. 8.   Wir haben nun den vorgezeichneten Weg unserer Untersuchung auch seinem dritten Theile nach zurückgelegt. Es war wesentlich derselbe Gang, den wir jetzt einhielten, da wir das Verhältniss von Gefühl und Begehren prüften, wie früher, als es sich um den Nachweis des fundamentalen Unterschiedes zwischen Vorstellung und Urtheil handelte. Aber Schritt für Schritt waren unsere Wahrnehmungen dieses Mal die entgegengesetzten. Fassen wir das Ergebniss kurz zusammen: Erstens hat uns die innere Erfahrung gezeigt, wie zwischen Gefühl und Willen nirgends eine scharfe Grenze gezogen ist. Wir haben bei allen psychischen Phänomenen, die nicht Vorstellungen oder Urtheile sind, einen übereinstimmenden Charakter der Beziehung auf den Inhalt gefunden, und können sie alle in einem einheitlichen Sinne als Phänomene der Liebe und des Hasses bezeichnen. Zweitens, wenn bei Vorstellung und Urtheil mit der Leugnung einer Verschiedenheit in der Weise des Bewusstseins die Angabe eines Unterschiedes überhaupt unmöglich wurde: so haben wir auf dem Gebiete von Gefühl und

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Willen im Gegentheile gesehen, dass unter zu Hülfe Nahme des Gegensatzes von Liebe und Hass und ihrer Gradunterschiede sich jede einzelne Classe durch Berücksichtigung der besonderen zu Grunde liegenden Phänomene definiren lässt. Drittens endlich haben wir gesehen, dass eine Variation von Umständen, wie sie bei einer Verschiedenheit der Weise des Bewusstseins anderwärts sich zu zeigen pflegt, bei Gefühl und Willen nicht gefunden wird. Somit dürfen wir wohl die Einheit unserer dritten Grundclasse als vollkommen erwiesen betrachten, und es bleibt uns nur noch übrig, wie früher bei Vorstellung und Urtheil, so jetzt bei Gefühl und Willen die Gründe aufzudecken, welche eine Verkennung des wahren Verhältnisses begünstigten. §. 9.   Diese Anlässe der Täuschung scheinen mir von dreifacher Art gewesen zu sein: psychische, sprachliche und, wenn wir sie so nennen wollen, histo­ rische, d. h. solche Anlässe, welche durch vorausgegangene Verirrungen der Psychologie in anderen Fragen gegeben wurden. Betrachten wir zunächst die vornehmsten psychischen Gründe. Wir haben früher gesehen, wie die Phänomene des inneren Bewusstseins in eigenthümlicher Weise mit ihrem Object verschmolzen sind. Die innere Wahrnehmung ist in dem Acte, den sie wahrnimmt, mitbegriffen, und ebenso ist das innere Gefühl, welches einen Act begleitet, selbst Theil seines Gegenstandes. Es lag nahe, diese besondere Weise der Verbindung mit dem Objecte mit einer besonderen Weise von intentionaler Beziehung zu ihm zu verwechseln, und so die zum inneren Bewusstsein gehörigen Phänomene der Liebe und des Hasses von allen übrigen, wie eine Grundclasse‚ von einer anderen zu sondern. Wenn wir an die Weise zurückdenken, in welcher Kant über den Unterschied des Gefühls und Begehrens sich äusserte, so glaube ich werden wir deutliche Spuren eines Zusammenhanges seiner Lehre mit dem eben erwähnten Unterschiede erkennen; sagte er doch, dass das Begehrungsvermögen eine „objective Beziehung“ habe, während das Gefühl „bloss auf ’s Subject“ sich beziehe295. Bei Hamilton tritt dasselbe in dem Maasse auffälliger hervor, als er sich ausführlicher über die Scheidung von Gefühl und Streben verbreitet; und Bestimmungen, die im Uebrigen schwer mit einander in Einklang zu bringen sind, weisen doch übereinstimmend darauf hin, dass ihm bei der Classe 295 S. oben S. 203 Anm. 210.

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des Gefühls hauptsächlich die zum inneren Bewusstsein gehörigen Gefühls­ phä­no­mene vorschwebten. Seine Bestimmung, dass das Gefühl ausschliess­ lich der Gegenwart angehöre, ist dann gerechtfertigt; und seine Charakteristik der Gefühle als „subjectivisch subjectiv“ wenigstens begreiflich geworden. Auch steht die Untersuchung über die Entstehung der Gefühle, wie man sie im zweiten Bande seiner Vorlesungen findet, vollkommen mit einer solchen Auffassung im Einklange296. Wie kommt es aber, dass wenn hier die besondere Verbindung der inneren Phänomene mit ihrem Objecte zu einer Unterscheidung zweier Grundclassen führte, auf dem Gebiete der Erkenntniss nicht dasselbe der Fall war? Warum hat man nicht auch die innere Wahrnehmung von jeder anderen Erkenntniss als eine eigene, grundverschiedene Weise des Bewusstseins abgesondert? – Die Antwort hierauf ist leicht. Wir haben gesehen, wie es eine Eigenthümlichkeit unserer dritten Grundclasse ist, eine Menge von Arten in sich zu schliessen, die mehr als besondere Classen von Urtheilen von einander verschieden sind. So war es denn hier überhaupt leichter, die Uebereinstimmung im allgemeinen Charakter der Beziehung zum Objecte zu verkennen als bei den Phänomenen der Erkenntniss; und derselbe Umstand, der auf diesem Gebiete keinerlei Versuchung mit sich führte, konnte auf dem anderen die Täuschung veranlassen. §. 10.   Zu dem angegebenen kommt aber noch ein anderer psychischer Grund. Wie wir uns erinnern, machten Kant und seine Nachfolger für die fundamentale Verschiedenheit des Wollens von dem Gefühle seine Unableitbarkeit aus den Phänomenen dieser Classe geltend. Es ist ausser Frage, dass die Erscheinungen des Willens wirklich aus anderen psychischen Phänomenen nicht abgeleitet werden können. Und ich meine hier nicht etwa dies, dass die besondere Färbung der Willensbethätigungen nur durch specifische Erfahrung erkannt werden kann; denn das ist etwas, was ebenso für andere specielle Classen der Liebe und des Hasses gilt. Die besondere Färbung der Hoffnung gegenüber dem besitzenden Genusse, die besondere Färbung der edelen geistigen Freude gegenüber der niederen Sinnenlust sind ebenfalls unableitbar. Ein anderer Umstand ist, der in einer ganz vorzüglichen Weise gerade das Wollen als unableitbar erscheinen und gerade bei ihm die Neigung entstehen lässt, es als Bethätigung eines besonderen Urvermögens zu fassen. 296 Lectures on Metaphysics II. p. 436 ss. Vgl. auch Lotze, Mikrokosmus 1. Aufl. I. S. 261 ff. und a. a. O.

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Jedes Wollen oder Streben im eigentlicheren Sinne bezieht sich auf ein Handeln. Es ist nicht einfach ein Begehren, dass etwas geschehe, sondern ein Verlangen, dass etwas als Folge des Verlangens selbst eintrete. Ehe Jemand die Erkenntniss oder wenigstens die Vermuthung gewonnen hat, dass gewisse Phänomene der Liebe und des Verlangens die geliebten Gegenstände unmittelbar oder mittelbar als Folge nach sich ziehen, ist ein Wollen für ihn unmöglich. Wie soll er nun aber zu einer solchen Erkenntniss oder Vermuthung gelangen? – Aus der Natur der Phänomene der Liebe, seien sie Phänomene der Lust oder Unlust, des Verlangens, der Furcht oder andere, lässt sie sich nicht schöpfen. Es bleibt also nur übrig, entweder anzunehmen, dass sie ihm angeboren sei, oder dass sie, ähnlich wie auch andere Erkenntnisse von Kraftbeziehungen, von ihm der Erfahrung entnommen werde. Das Erste wäre offenbar die Annahme einer ganz ausserordentlichen Thatsache, die, wenn irgend etwas, keine Ableitung zuliesse. Das Zweite aber, das gewiss von vorn herein unvergleichlich wahrscheinlicher ist, setzt deutlich einen besonderen Kreis von Erfahrungen und die Existenz und wirkliche Bethätigung einer besonderen Gattung von Kräften voraus, auf welche diese Erfahrungen sich beziehen. Somit ist die Kraft gewisser Phänomene der Liebe zur Verwirklichung der Gegenstände, auf welche sie gerichtet sind, eine Vorbedingung des Wollens, und gibt, auch wenn man nicht, wie Bain es gethan hat, das Vermögen zu handeln als das Vermögen des Wollens selbst betrachtet, in gewisser Weise erst die Fähigkeit zu ihm. Da nun diese Kraft zur Aeusserung und Bethätigung der Liebe und des Verlangens der Fähigkeit zu diesen Phänomenen selbst völlig heterogen ist, und darum nicht mehr, ja eher noch viel weniger aus ihr als sie aus dem Vermögen der Erkenntniss ableitbar erscheint: so erscheint natürlich auch die Fähigkeit zum Streben und Wollen als ein in ganz vorzüglicher Weise unableitbares Vermögen, obwohl die Unmöglichkeit der Ableitung nicht darin ihren Grund hat, dass die betreffenden Phänomene selbst einen von den übrigen Phänomenen der Liebe fundamental verschiedenen Charakter zeigen. Im Gegentheile wird man bei näherer Erwägung finden, dass sich hier auf ’s Neue ein Zug der Verwandtschaft der Willensphänomene mit anderen Erscheinungen der Liebe und des Verlangens offenbart. Wenn das Wollen die Erfahrung eines Einflusses von Phänomenen der Liebe zur Hervorbringung des geliebten Gegenstandes voraussetzt, so setzt es offenbar voraus, dass auch Phänomene der Liebe, welche kein Wollen genannt werden können, ähnlich wie das Wollen, wenn auch vielleicht in schwächerem Grade, sich

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wirksam erweisen. Denn würde eine solche Einwirkung sich ausschliesslich an das Wollen knüpfen, so würde man in einen verhängnissvollen Zirkel verwickelt. Das Wollen würde die Erfahrung des Wollens voraussetzen, während natürlich umgekehrt auch diese das Wollen voraussetzt. Anders, wenn auch schon das blosse Verlangen nach gewissen Ereignissen ihr Eintreten zur Folge hat; es kann dann mit der Modification, welche die Kenntniss von dieser Kraftbeziehung ihm gibt, d. i. als Wollen sich wiederholen. Mögen diese Andeutungen genügen, bis wir später uns eingehend mit dem Probleme der Entstehung des Wollens beschäftigen werden. Wenn wir aus einer früher betrachteten Aeusserung Kant’s über die Eigen­ thümlichkeit der Gefühle den Zusammenhang seiner Classification mit der Zugehörigkeit gewisser Phänomene der Liebe zum inneren Bewusstsein erkannten, so weisen andere, und nicht wenige, sehr deutlich auf die eben betrachteten Verhältnisse hin. Hat doch Kant das Begehrungsvermögen geradezu als das „Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ definirt, und an derselben Stelle, an welcher er von einer Beziehung von Vorstellungen „bloss auf ’s Subject“ redet, hinsichtlich welcher sie „im Verhältnisse zum Gefühle der Lust betrachtet werden“, spricht er von einer anderen, „objectiven Beziehung, da sie, zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objectes betrachtet, zum Begehrungsvermögen gezählt werden“. Nun fällt aber die Abgrenzung der beiden Classen, welche sich ergibt, wenn man die inneren Phänomene der Liebe als Gefühle zusammenfasst und allen übrigen entgegenstellt, keineswegs mit jener zusammen, zu welcher man gelangt, wenn man das Streben nach einem Gegenstande, das die besprochene Kraftbeziehung als bekannt voraussetzt, von allen übrigen Phänomenen der Liebe scheidet. Daher finden wir bei Kant jene befremdende Behauptung, dass jeder Wunsch, und wenn es ein anerkannt unmöglicher wäre, wie z. B. der Wunsch Flügel zu haben, schon ein Bestreben sei, das Gewünschte zu erlangen, und die Vorstellung der Causalität unserer Begehrung enthalte297. Sie ist ein verzweifelter Versuch, die Grenzlinie der beiden Classen, so wie die eine Rücksicht sie verlangt, auch mit der anderen in Einklang zu bringen. Andere haben es vorgezogen, die Classe der Gefühle weiter und bis zur Grenze des eigentlichen Wollens auszudehnen, und wieder Andere haben jeder der beiden Classen mehr oder minder beträchtliche Theile von dem Zwischengebiete zugewiesen. Daher die Unsicherheit der Grenzscheidung, die wir gefunden haben. 297 Kritik der Urtheilskraft, Einleitung III. Anm.

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§. 11.   Wir sagten, zu den psychischen Gründen, die in der eigenthümlichen Natur der Phänomene selbst liegen, seien sprachliche Anlässe hinzugekommen. Aristoteles, welcher die Einheit unserer dritten Grundclasse richtig erkannt hatte, bezeichnete sie, wie wir hörten, mit dem Namen Begehren (ὄρεξις). Der Ausdruck war wenig passend gewählt298; denn nichts liegt dem Sprachgebrauche des gewöhnlichen Lebens ferner, als die Freude ein Begehren zu nennen. Doch dies hinderte nicht, dass das Mittelalter sich hier wie in so mancher anderen Beziehung von der Autorität des „Philosophen“ und seiner Uebersetzer leiten liess und das Vermögen zu den sämmtlichen hieher gehörigen Acten als „facultas appetendi“ bezeichnete299; und an die Ausdrücke der Scholastiker schloss sich später Wolff bei der Unterscheidung seines Erkenntniss- und Begehrungsvermögens an. Da nun der Namen Begehren im Leben eine viel zu enge Bezeichnung hat, als dass er alle psychischen Phänomene ausser denen des Denkens umfassen könnte, so lag der Gedanken nahe, dass es Phänomene gebe, die in den bisher aufgestellten Classen nicht einbegriffen seien, und dass somit diesen eine neue Classe coordinirt werden müsse. Dass wirklich auch dieser Umstand nicht ohne Einfluss blieb, zeigt eine früher aus Hamilton angezogene Stelle300. §. 12.   Wir sagten aber, die Täuschung hinsichtlich der Einheit dieser Classe psychischer Phänomene habe auch noch eine dritte Art von Ursachen gehabt; in früheren Untersuchungen begangene Fehler haben hier nachtheilig eingewirkt. Der Irrthum, den wir hier vorzüglich im Auge hatten, war der, dass man Vorstellung und Urtheil als Phänomene derselben Grundclasse betrachtete. Man fand die drei Ideen (wie man sie oft mit Auszeichnung nennt) des Wahren, Guten und Schönen; und sie schienen einander coordinirt. Man 298 Aristoteles wurde auf ihn wahrscheinlich durch eine verallgemeinernde Zusammenfassung von θυμός und ἐπιθυμία geführt, die in Platon’s Eintheilung neben dem λογισμός erscheinen; ein Zeichen mehr für die Wahrheit unserer früheren Bemerkung, dass sich die Grundeintheilungen des Aristoteles sämmtlich aus der Platonischen entwickelt haben. Nach anderen Seiten hin ist der Zusammenhang ohnehin unverkennbar. 299 Nur einzelne Male zeigen sich Spuren von Emancipation wie z. B. bei Thomas von Aquin, wenn er Summ. Theol. P. I. Q. 37. art. 1 und öfter den Ausdruck „amare“ als allgemeinsten Classennamen gebraucht. 300 Lectures on Metaph. II. p. 420; vgl. oben Buch II. Cap. 5. §. 4.

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glaubte, sie müssten eine Beziehung zu drei coordinirten, grundverschiedenen Seiten unseres Seelenlebens haben. Die Idee des Wahren theilte man dem Erkenntnissvermögen, die Idee des Guten dem Begehrungsvermögen zu; da war denn das dritte Vermögen, das der Gefühle, eine willkommene Entdeckung, um ihm die Idee des Schönen als seinen Antheil zuzuweisen. So ist schon bei Mendelssohn, wo er von den drei Seelenvermögen spricht, von dem Wahren, Guten und Schönen die Rede. Und Kant wird es von späteren Vertretern einer ähnlichen Dreitheilung zum Vorwurfe gemacht, dass er das Gefühl der Lust und Unlust „einseitig auf das ästhetische Geschmacks­ ur­theil“ beschränkte, und ebenso „das Begehrungsvermögen nicht als rein psychologische Kraft, sondern in Beziehung zum Ideal des Guten, dem es dienen soll, betrachtete301.“ Bei einer genaueren Untersuchung, ob die Vertheilung des Wahren, Guten und Schönen auf die drei Classen des Erkenntniss-, Begehrungs- und Gefühlsvermögens wirklich zu rechtfertigen sei, wird sich freilich manches Bedenken erheben. Wir haben früher eine Stelle von Lotze angeführt, worin dieser Denker, der doch selbst Willen und Gefühl als Grundvermögen scheidet, „die sittlichen Grundsätze jeder Zeit“ als „Aussprüche eines werthempfindenden Gefühles“ bezeichnet. In der That hat Herbart302 die ganze Ethik, wie einen besonderen Zweig, der Aesthetik als der allgemeineren Wissenschaft zugewiesen, so dass bei ihm das Ideal des Guten ganz in dem des Schönen unterzugehen droht, oder doch als eine besondere Gestaltung dem umfassenderen Gedanken sich unterordnet. Andere haben einen entgegengesetzten Versuch gemacht; sie haben das Schöne unter den Begriff des Guten gestellt, wie z. B. Thomas von Aquin, indem er sagt, gut sei das, was gefalle, schön das, dessen Erscheinung gefalle303. Hier wird zunächst die Erscheinung des Schönen als etwas Gutes betrachtet, 301 J. B. Meyer, Kant’s Psychologie, S. 120. 302 Im Grunde genommen schon Adam Smith, wenn anders Kant Recht hat, indem er sagt, schön sei was uninteressirtes Wohlgefallen errege. Ja lange vor ihnen sagte Augustinus: „Honestum voco intelligibilem pulchritudinem, quam spiritualem nos proprie dicimus.“ (83 Q. Q. quaest. 30 nahe am Anf.) 303 De ratione boni est quod in eo quietetur appetitus. Sed ad rationem pulchri pertinet quod in ejus aspectu seu cognitione quietetur appetitus ... Pulchrum addit supra bonum quemdam ordinem ad vim cognoscitivam; ita quod bonum dicatur id quod simpliciter complacet appetitui; pulchrum autem dicatur id cujus ipsa apprehensio placet. (Summ. Theol. P. II. 1. Q. 27. A. 1 ad 3.)

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und dann natürlich ist auch das, was die Erscheinung hervorruft, in Rücksicht darauf ein Gut. In der That gehört die Schönheit in diesem Sinne ohne Zweifel unter die Güter; aber auch von der Wahrheit muss Aehnliches gesagt werden; und somit scheint der Charakter des Begehrenswerthen allen dreien gemeinsam zu sein, wie es ja auch darum weil es sich um drei Ideale handelt nicht anders denkbar ist. Es thut also Noth, in einer etwas anderen Weise die Dreiheit des Schönen, Wahren und Guten zu fassen, und es wird sich dann zeigen, dass sie wirklich zu einer Dreiheit der Seiten unseres Seelenlebens in Beziehung steht; nicht aber zu Erkenntniss, Gefühl und Willen, sondern zu jener Dreiheit, die wir in den drei Grundclassen der psychischen Phänomene unterschieden haben. Jede Grundclasse von psychischen Phänomenen hat eine ihr eigenthümliche Gattung von Vollkommenheit; und diese gibt sich in dem inneren Gefühle, welches, wie wir sahen, jeden Act begleitet, zu erkennen. Den vollkommensten Acten jeder Grundclasse wohnt eine darauf bezügliche, wie wir sagen, edle Freude inne. Die höchste Vollkommenheit der vorstellenden Thätigkeit liegt in der Betrachtung des Schönen, sei diese nun durch die Einwirkung des Objectes unterstützt, oder von einer solchen unabhängig. An sie knüpft sich der höchste Genuss, welchen wir in der vorstellenden Thätigkeit als solcher finden können. Die höchste Vollkommenheit der urtheilenden Thätigkeit liegt in der Erkenntniss der Wahrheit; am Meisten natürlich in der Erkenntniss solcher Wahrheiten, die mehr als andere eine reiche Fülle des Seins uns offenbaren. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn wir ein Gesetz erfassen, durch welches, wie durch das Gesetz der Gravitation, mit einem Schlage ein weites Gebiet von Erscheinungen erklärt wird. Darum ist das Wissen eine Freude und ein Gut an und für sich und abgesehen von allem praktischen Nutzen, den es gewährt. „Alle Menschen verlangen von Natur nach dem Wissen“, sagt der grosse Denker, der mehr als viele Andere die Freuden der Erkenntniss verkostet hat. Und wiederum sagt er: „die erkennende Betrachtung ist das Süsseste und Beste304.“ Die höchste Vollkommenheit der liebenden Thätigkeit endlich liegt in der durch Rücksicht auf eigene Lust und eigenen Gewinn ungehemmten freien Erhebung zu höheren Gütern, in der opferwilligen Hingabe ihrer selbst an das, was um seiner Vollkommenheit willen mehr und über Alles liebenswürdig ist, in der Uebung der Tugend oder der Liebe des Guten um seiner selbst willen und nach dem Maasse seiner Vollkommenheit. Die Freude, die der edlen Handlung und überhaupt der edlen 304 Arist. Metaph. Α, 1. Λ, 7.

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Liebe innewohnt, ist es, die in ähnlicher Weise dieser Vollkommenheit, wie die Freuden der Erkenntniss und der Betrachtung des Schönen der Vollkommenheit der anderen beiden Seiten des Seelenlebens, entspricht. Das Ideal der Ideale besteht in der Einheit alles Wahren, Guten und Schönen, d. i. in einem Wesen, dessen Vorstellung die unendliche Schönheit und in ihr wie in ihrem unendlich überragenden Urbilde alle denkbare endliche Schönheit zeigt; dessen Erkenntniss die unendliche Wahrheit und in ihr wie in ihrem ersten und allgemeinen Erklärungsgrunde alle endliche Wahrheit offenbart; und dessen Liebe das unendliche, allumfassende Gut und in ihm jedes andere liebt, welches in endlicher Weise an der Vollkommenheit Theil hat. Das, sage ich, ist das Ideal der Ideale. Und die Seligkeit aller Seligkeiten bestände in dem dreifachen Genusse dieser dreifachen Einheit, indem die unendliche Schönheit angeschaut, und aus ihrer Anschauung durch sich selbst als nothwendige und unendliche Wahrheit erkannt, und als unendliche Liebenswürdigkeit offenbar geworden mit gänzlicher und nothwendiger Hingabe als das unendliche Gut geliebt würde. Dies ist auch die Verheissung der Seligkeit, welche in der vollkommensten der Religionen, die in der Geschichte aufgetreten sind, in dem Christenthume, gegeben wird, und mit ihm stimmen die grössten Denker des Heidenthums und namentlich der gottbegeisterte Platon in der Hoffnung auf ein solches beseligendes Glück überein. Wir sehen, auch wenn man mit uns das Gefühl als eine Grundclasse verwirft, wenn man nur zugleich im Uebrigen unsere Grundeintheilung sich eigen macht, lässt die Dreiheit der Ideale, des Schönen, Wahren und Guten, sich aus dem System der psychischen Vermögen wohl erklären. Ja sie wird dadurch erst in voller Weise verständlich gemacht; und selbst bei Kant fehlt es nicht an Aeusserungen, welche dafür zeugen, dass nur durch die von uns durchgeführte Beziehung des Schönen zur vorstellenden Thätigkeit die richtige Stellung ihm gegeben wird. Unter vielen will ich hier nur die eine oder andere Stelle aus verschiedenen seiner Schriften hervorheben. In der Kritik der Urtheilskraft sagt Kant: „Wessen Gegenstandes Form in der blossen Reflexion über dieselbe als der Grund einer Lust an der Vorstellung eines solchen Objectes beurtheilt wird; mit dessen Vorstellung wird diese Lust auch als nothwendig verbunden geurtheilt, folglich als nicht bloss für das Subject, welches diese Form auffasst, sondern für jeden Urtheilenden überhaupt. Der Gegenstand heisst alsdann schön; und das Vermögen durch eine solche Lust (folglich auch allgemeingültig) zu urtheilen, der Geschmack 305.“ In den metaphy305 Krit. d. Urtheilskr. Einl. VI.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

sischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1797) wiederholt er nochmals, dass es eine Lust gebe, welche mit gar keinem Begehren des Gegenstandes, sondern mit der blossen Vorstellung, die man sich von einem Gegenstande macht, schon verknüpft sei, und bemerkt: „Man würde die Lust, die mit dem Begehren des Gegenstandes nicht nothwendig verbunden ist, die also im Grunde nicht eine Lust an der Existenz des Objectes der Vorstellung ist, sondern bloss an der Vorstellung allein haftet, bloss contemplative Lust oder unthätiges Wohlgefallen nennen können. Das Gefühl der letzteren Art von Lust nennen wir Geschmack306.“ So bewährt sich unsere Behauptung, dass die Verkennung der fundamentalen Verschiedenheit von Vorstellung und Urtheil die Annahme eines anderen fundamentalen Unterschiedes, der nicht wirklich vorhanden ist, vorbereitete; und dass so der erste in der Eintheilung der psychischen Phänomene begangene Fehler zur Entstehung des zweiten wesentlich beitrug. Es scheint, als ob dieser Umstand nicht am Wenigsten ein störendes Moment geworden sei. Ausserdem wurde der neue Irrthum natürlich auch durch den Mangel an Klarheit über das eigentliche Princip der Eintheilung begünstigt. Wir haben davon schon früher gesprochen und können uns darum jetzt jedes weitere Wort ersparen. Was immer sonst noch dazu beigetragen haben mag, dass man Gefühl und Willen irrthümlich für zwei verschiedene Grundclassen psychischer Erscheinungen hielt: die hauptsächlichsten Anlässe der Täuschung haben wir, glaube ich, in der vorausgegangenen Untersuchung zusammengestellt. Sie sind so mannigfach und bedeutend, dass wir uns nicht darüber verwundern können, wenn sich auch mancher hervorragende Denker dadurch verführen liess; und so, hoffe ich, wird durch ihre Darlegung das letzte Bedenken gegen die von uns verfochtene Zusammengehörigkeit von Gefühl und Willen verschwunden sein. Dann aber scheint unsere Grundeintheilung überhaupt gesichert. Wir dürfen es daher als feststehend betrachten, dass die psychischen Phänomene nicht mehr und nicht weniger als einen dreifachen 306 Metaph. Anfangsgr. der Rechtslehre Cap. 1. – Auch Thomas von Aquin, der, wie überhaupt die Peripatetische Schule, den Fehler der Vereinigung von Vorstellung und Urtheil in derselben Grundclasse mit Kant gemein hatte, gibt in der oben (S. 281 Anm. 303) mitgetheilten Stelle der Beziehung des Schönen zur Vorstellung Zeugniss. An einem anderen Orte sagt er: „Bonum proprie respicit appetitum ... Pulchrum autem respicit vim cognoscitivam: pulchra enim dicuntur, quae visa placent.“ (Summ. Theol. P. I. Q. 5. A. 4 ad 1.)

Capitel 8. Einheit der Grundclasse für Gefühl und Willen.

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fundamentalen Unterschied hinsichtlich ihrer Beziehung zum Inhalte, oder, wie wir uns ausdrücken können, hinsichtlich der Weise des Bewusstseins zeigen; und dass sie hienach in drei Grundclassen zerfallen: in die Classe der Vorstellungen, in die der Urtheile und in die der Phänomene der Liebe und des Hasses.

Neuntes Capitel. Vergleich der drei Grundclassen mit dem dreifachen Phänomene des inneren Bewusstseins. Bestimmung ihrer natürlichen Ordnung. §. 1.   Die drei von uns festgestellten Grundclassen der Vorstellung, des Ur­theils und der Liebe erinnern uns an eine früher gefundene Dreiheit von Phänomenen. In dem inneren Bewusstsein, das jede psychische Erscheinung begleitet, sahen wir eine darauf gerichtete Vorstellung, eine Erkenntniss und ein Gefühl beschlossen, und offenbar entspricht je eines dieser Momente einer der drei Classen der Seelenthätigkeiten, die sich uns jetzt ergeben haben. Hieraus ersehen wir, dass Phänomene der drei Grundclassen auf ’s Innigste sich miteinander verflechten. Denn eine innigere Verbindung als die zwischen den drei Momenten des inneren Bewusstseins ist nicht mehr denkbar. Wir erkennen ferner, dass die drei Classen von äusserster Allgemeinheit sind; es gibt keinen psychischen Act, bei welchem nicht alle vertreten wären. Jeder Classe kommt eine gewisse Allgegenwart in dem ganzen Seelenleben zu. Daraus folgt aber, wie auch früher bemerkt, nicht, dass sie auseinander ableitbar sind. Aus jedem Gesammtzustande des psychischen Lebens lässt sich erkennen, dass ein Vermögen zu jeder der drei Gattungen von Thätigkeiten vorhanden ist. Aber ohne Widerspruch liesse es sich denken, dass ein psychisches Leben bestände, dem die eine oder auch zwei von den Gattungen, so wie die Fähigkeit zu ihnen mangelte. Ebenso bleibt ein Unterschied zwischen psychischen Acten, die in einem relativen Sinne blosse Vorstellungsacte zu nennen sind, und solchen, bei welchen dies nicht der Fall ist, insofern das primäre Object eines Actes bald bloss vorgestellt, bald auch anerkannt oder geleugnet, bald zugleich in irgendwelcher Weise geliebt oder gehasst wird. Bei den letzteren werden Saiten, die in dem ersten Falle nur mitgeklungen hatten, so zu sagen direct angeschlagen. Die Thatsache gibt also nur der universellen Bedeutung jeder der drei Classen Zeugniss; und dieses Zeugniss ist, wo es sich um die Frage nach dem fundamentalen Charakter der Classe handelt, gewiss willkommen.

Capitel 9. Vergleich der Grundclassen mit dem inneren Bewusstsein.

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Die übliche Dreitheilung in Erkenntniss, Gefühl und Willen kann es nicht in gleicher Weise für sich anführen. Hamilton, wahrscheinlich weil er die Bedeutsamkeit des Umstandes begriff, hat freilich auch für die Willensthätigkeit den Anspruch vollkommener Allgemeinheit erhoben. „In unseren philosophischen Büchern“, sagt er, „da mögen allerdings Erkenntniss, Gefühl und Bestrebung, jedes von dem anderen getrennt in Büchern und Capiteln stehen; in der Natur sind sie aber mit einander verwoben. In jeder, auch der einfachsten Modification des Geistes finden sich Erkenntniss, Gefühl und Willen zusammen, um den psychischen Zustand zu bilden“307, u. s. f. Aber demjenigen, welcher den Begriff des Wollens analysirt, kann es nicht zweifelhaft bleiben, dass Hamilton für seine dritte Grundclasse Unmögliches behauptet. Wird doch ein Wollen, wie wir auch früher sagten, erst durch den Gedanken an ein eigenes Wirken möglich; ein Umstand, der, wie er überhaupt den weniger generellen Charakter dieses Classenbegriffes anzeigt, insbesondere beweist, wie weit er davon entfernt ist, auf eine primitive Be­thä­ ti­gung Anwendung finden zu können. So sehen wir auch nach dieser Seite hin unsere Classification gegenüber der gegenwärtig üblichen im Vortheile, obwohl ich diesem Umstande nicht eine gleich entscheidende Bedeutung wie manchen Ergebnissen früherer Erörterung beilegen möchte. §. 2.   Es bleibt uns jetzt nur noch eine Frage zu beantworten, und auch für sie ist die Entscheidung in den vorangegangenen Untersuchungen vorbereitet, ja gewissennassen schon anticipirt. Es ist die Frage nach der natürlichen Reihenfolge der drei Classen. Wie überall, so muss auch in unserem Falle die relative Unabhängigkeit, Einfachheit und Allgemeinheit der Classen für ihre Ordnung bestimmend werden. Nach diesem Principe ist es klar, dass der Vorstellung der erste Platz gebührt: denn sie ist das einfachste der drei Phänomene, indem Urtheil und Liebe immer eine Vorstellung in sich schliessen; sie ist ebenso das unabhängigste unter ihnen, da sie die Grundlage der übrigen ist; und ebendarum ist dieses Phänomen auch das allgemeinste. Ich sage dies nicht, als wollte ich leugnen, dass auch Urtheil und Liebe in jedem psychischen Zustande irgendwie vertreten seien; dies haben wir vielmehr so eben noch ausdrück307 Lect. on Metaph. I. p. 188. Später (ebend. II. p. 433) wiederholt er nochmals denselben Gedanken, aber nicht mehr mit der gleichen Zuversicht.

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Buch II. Von den psychischen Phänomenen im Allgemeinen.

lich hervorgehoben. Aber wir haben dennoch zugleich einen gewissen Unterschied der Allgemeinheit bemerkt, insofern das primäre Object nothwendig und allgemein nur in der dem Vorstellen eigenen Weise oder intentionalen Einwohnung im Bewusstsein gegenwärtig ist. Auch könnte man sich ohne Widerspruch ein Wesen denken, welches, ohne Vermögen für Urtheil und Liebe, allein mit dem Vermögen der Vorstellung ausgestattet wäre, nicht aber umgekehrt; und die Gesetze des Vorstellungslaufes bei einer solchen psychischen Fiction könnten einige von den Gesetzen sein, die auch jetzt in unserem psychischen Leben ihren Einfluss offenbaren. Aus ähnlichen Gründen gebührt dem Urtheile die zweite Stelle. Denn das Urtheil ist nächst der Vorstellung die einfachste Classe. Es hat nur die Vorstellung zu seiner Grundlage, nicht aber die Phänomene der Liebe und des Hasses. Der Gedanken eines Wesens, das mit der Thätigkeit zum Vorstellen die zum Urtheilen verbände, aber ohne jede Regung der Liebe oder des Hasses bliebe, enthält keinen Widerspruch; und wir sind im Stande zu jenen Gesetzen des Vorstellungslaufes, von welchen wir sprachen, einen gewissen Kreis von besonderen Gesetzen des Urtheiles hinzuzufügen, worin noch von allen Phänomenen der Liebe gänzlich Umgang genommen wird. Anderes gilt dagegen von diesen Erscheinungen, wenn man sie in ihrem Verhältniss zu den Urtheilen betrachtet. Es ist gewiss nicht nöthig, dass derjenige, welcher etwas liebt, glaubt, dass es existire, oder auch nur existiren könne; aber dennoch ist jedes Lieben ein Lieben, dass etwas sei; und wenn eine Liebe die andere erzeugt, wenn Eines um des Anderen willen geliebt wird, so geschieht dies nie, ohne dass ein Glauben an gewisse Beziehungen des Einen zum Anderen dabei betheiligt ist. Je nach dem Urtheile über das Sein oder Nichtsein, die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit dessen, was man liebt, ist der Act der Liebe bald Freude, bald Trauer, bald Hoffnung, bald Furcht, und nimmt so noch mannigfache andere Formen an. So scheint es in der That undenkbar, dass ein Wesen mit dem Vermögen der Liebe und des Hasses begabt wäre, ohne an dem des Urtheiles Theil zu haben. Und ebenso ist es unmöglich irgend welches Gesetz der Aufeinanderfolge für diese Gattung von Phänomenen aufzustellen, welches von den Phänomenen des Ur­thei­les gänzlich absieht. In Bezug auf Unabhängigkeit, in Bezug auf Einfachheit, und eben darum auch in Bezug auf Allgemeinheit steht also diese Classe der des Urtheiles nach; an Allgemeinheit natürlich nur in dem Sinne, in welchem allein auch bei Vorstellung und Urtheil von einem Unterschiede der Allgemeinheit gesprochen werden konnte.

Capitel 9. Vergleich der Grundclassen mit dem inneren Bewusstsein.

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Man erkennt aus dem Gesagten, wie vollständig diejenigen den wahren Zusammenhang der Thatsachen verkennen, welche, wie es gerade in unseren Tagen von mehreren Seiten geschieht, den Willen unter allen psychischen Phänomenen als das erste betrachten. Nicht bloss das Vorstellen ist offenbar eine Vorbedingung des Wollens; die eben geführten Erörterungen zeigen, dass auch das Urtheilen dem Lieben und Hassen überhaupt, und um so mehr dem relativ späten Phänomene des Wollens vorgeht. Jene Philosophen verkehren also die naturgemässe Ordnung geradezu in ihr Gegentheil. Wie die gefundene natürliche Classification, so werden wir auch die natürliche Ordnung ihrer Glieder den folgenden specielleren Untersuchungen zu Grunde legen. Wir werden zuerst von den Gesetzen der Vorstellungen, dann von denen der Urtheile, endlich von denen der Liebe und des Hasses sprechen. Allerdings wird es unmöglich sein, bei der Betrachtung der früheren Classe einen Blick auf die spätere völlig auszuschliessen, da ihre Unabhängigkeit ja nur in einem beschränkten und relativen Sinne von uns behauptet wurde und behauptet werden konnte. Der Willen greift herrschend nicht bloss in die Aussenwelt, sondern auch in das innere Gebiet der Vorstellungen ein und auch die Gefühle beeinflussen ihren Lauf. Ebenso ist es bekannt, wie häufig die Menschen etwas darum für wahr halten, weil es ihrer Eitelkeit schmeichelt oder sonst ihren Wünschen entspricht. Wie die natürlichste Eintheilung, so ist auch die natürlichste Ordnung ihrer Glieder immer noch etwas Künstliches. Da Comte in seiner berühmten Hierarchie der Wissenschaften alle theoretischen Disciplinen in eine Reihe ordnete, stellte ihr Herbert Spencer seine Lehre von dem „Consensus“ aller Wissenschaften entgegen, welcher es verbiete, die eine der anderen gegenüber als die frühere zu bezeichnen. Vielleicht ging diese Behauptung zu weit; aber Comte selbst hatte zugegeben, dass seine Stufenleiter keine absolute sei, und dass auch die frühere Wissenschaft vielfach durch die spätere gestützt und gehoben werde.

Von der Klassifikation der psychischen Phänomene Neue, durch Nachträge stark vermehrte Ausgabe der betreffenden Kapitel der Psychologie vom empirischen Standpunkt von

Franz Brentano

Vorwort. Nicht die Lehr- und Handbücher, welche sich die Darstellung einer wissenschaftlichen Disziplin als Ganzes zur Aufgabe setzen, sondern Monographien, welche einem einzelnen Problem gewidmet sind, pflegen am meisten zum Fortschritt der Wissenschaft beizutragen. Und so ist es denn nicht zu verwundern, wenn meine Psychologie vom empirischen Standpunkt, die ein Fragment geblieben ist, trotzdem in weiten Kreisen Teilnahme finden konnte; gewisse elementare Fragen waren darin in ganz neuer Weise beantwortet, und durch eingehendste Begründung hatte ich jede neue Bestimmung zu sichern mich bemüht. So hat sich insbesondere meiner Untersuchung über die Klassifikation der psychischen Phänomene mehr und mehr die allgemeine Aufmerksamkeit zugewandt, und als Zeichen eines noch immer wachsenden Interesses mag es betrachtet werden, wenn ich jüngst um die Erlaubnis zu einer neuen Veröffentlichung der betreffenden Kapitel in italienischer Übersetzung angegangen wurde. Mehr als drei Dezennien waren seit dem Erscheinen meines Buches verflossen, und neue Forschungen hatten bei mir zwar der Hauptsache nach die damals ausgesprochenen Ansichten bestehen lassen, aber doch in manchem nicht unwichtigen Punkt zu einer Fortbildung oder, wie ich wenigstens glaube, berichtigenden Modifikation geführt. Es schien mir unmöglich, dieselben unerwähnt zu lassen. Und doch empfahl es sich zugleich, die Darlegung in ihrer ursprünglichen Gestalt, in der sie auf die Zeitgenossen gewirkt hatte, beizubehalten; und dies um so mehr, als ich die Erfahrung gemacht hatte, daß manche angesehene Psychologen, die meiner Lehre ernste Beachtung geschenkt, ihr mehr in der früheren Fassung beizupflichten, als auf den neueingeschlagenen Wegen mir zu folgen geneigt waren. So entschloß ich mich zu einer so gut wie unveränderten Wiedergabe des alten Textes, zugleich aber zu seiner Bereicherung durch gewisse Bemerkungen, die ich zum Teil als Fußnoten, zum Teil aber, und vorzüglich, als Anhang beifügte. Sie enthalten neben einer Verteidigung gegen gewisse Angriffe, welche meine Lehre von anderer Seite erfahren, auch eine Angabe von solchen Momenten, für die ich selbst eine Korrektur nötig finde. Eine der wichtigsten Neuerungen ist die, daß ich nicht mehr der Ansicht bin, daß eine psychische Beziehung jemals anderes als Reales zum Objekt haben könne. Die Absicht, gerade in diesem Stücke meinen gegenwärtigen Standpunkt als den richtigen zu erweisen, nötigte mich, ganz neue Fragen

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

einzubeziehen, wie z. B. auf die Untersuchung über die Modi des Vorstellens einzugehen. Ich weiß wohl, daß die Gedrängtheit der Darstellung das Verständnis nicht erleichtert. Umsomehr habe ich mich großer Präzision im Ausdruck beflissen. Deutsche Psychologen, welche von der italienischen Übersetzung und den Zugaben zu ihr erfahren hatten, machten mich darauf aufmerksam, daß ich doch wohl tun werde, das Buch zugleich in deutscher Sprache erscheinen zu lassen, zumal meine Psychologie vom empirischen Standpunkt seit Jahren vergriffen sei. Und so erscheint denn auf ihre Anregung alles, was die italienische Neuausgabe enthält, hier auch als zweite, in der angegebenen Weise erweiterte Neuausgabe des deutschen Originals. Florenz 1911. Franz Brentano.

Inhalt. Erstes Kapitel. Überblick über die vorzüglichsten Versuche einer Klassifikation der psychischen Phänomene  �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  299 § 1. Platons Unterscheidung eines begierlichen, zornmutigen und vernünftigen Seelenteiles ����������������������������������������������������������  299 § 2. Die Grundeinteilungen der psychischen Phänomene bei Aristoteles ���������������������������������������������������������������������������������  301 § 3. Nachwirkungen der Aristotelischen Klassifikationen. Wolff. Hume. Reid. Brown �����������������������������������������������������������������  304 § 4. Die Dreiteilung in Vorstellung, Gefühl und Begehren. Tetens. Mendelssohn. Kant. Hamilton. Lotze. Welches war das eigentlich maßgebende Prinzip? �����������������������������������������������  304 § 5. Annahme der drei Glieder der Einteilung von Seiten der Herbartschen Schule �����������������������������������������������������������������  313 § 6. Die Einteilungen von Bain �������������������������������������������������������  314 § 7. Rückblick auf die zum Behuf einer Grundein­teilung angewandten Prinzipien �����������������������������������������������������������  316

Zweites Kapitel. Einteilung der Seelentätigkeiten in Vorstellungen, Urteile und Phänomene der Liebe und des Hasses �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  317 § 1. Verwerfen der Grundeinteilungen, die nicht aus dem Studium der psychischen Erscheinungen hervorgehen  �������������  317 § 2. Eine Grundeinteilung, welche die verschiedene Weise der Beziehung zum immanenten Objekte zum Prinzipe nimmt, ist gegenwärtig jeder anderen vorzuziehen  �������������������������������  318 § 3. Die drei natürlichen Grundklassen sind: Vorstellungen, Urteile und Phänomene der Liebe und des Hasses �������������������  320 § 4. Welches Verfahren zur Rechtfertigung und Begründung dieser Einteilung einzuschlagen sei �������������������������������������������  323

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

Drittes Kapitel. Vorstellung und Urteil zwei verschiedene Grundklassen  �� �� �� �� �  325 § 1. Zeugnis der inneren Erfahrung �������������������������������������������������  325 § 2. Der Unterschied zwischen Vorstellung und Urteil ist ein Unterschied in den Tätigkeiten selbst ���������������������������������������  325 § 3. Er ist kein Unterschied der Intensität ���������������������������������������  328 § 4. Er ist kein Unterschied des Inhaltes  �����������������������������������������  329 § 5. Es ist nicht richtig, daß die Verbindung von Subjekt und Prädikat oder eine andere derartige Kombination zum Wesen des Urteils gehört. Dies zeigt erstens die Betrachtung des affirmativen und negativem Existenzialsatzes; ���������������������������  332 § 6. zweitens bestätigt es sich im Hinblicke auf die Wahrnehmungen, und insbesondere auf die Bedingungen der ersten Wahrnehmungen; �����������������������������������������������������������  334 § 7. drittens ergibt es sich aus der Rückführbarkeit aller Aussagen auf Existenzialsätze �������������������������������������������������������������������  335 § 8. Es bleibt hienach nichts übrig, als die Eigentüm­lichkeit des Urteils in der besonderen Bezie­hungsweise auf seinen Inhalt zu erkennen �����������������������������������������������������������������������������  343 § 9. Alle Eigentümlichkeiten, die anderwärts den fundamentalen Unterschied in der Weise der Beziehung zum Gegenstande kennzeichnen, finden sich auch in unserem Falle  ���������������������  344 § 10. Rückblick auf die dreifache Weise der Begründung  �����������������  347 § 11. Die irrige Auffassung des Verhältnisses von Vorstellung und Urteil wurde dadurch veranlasst, dass in jedem Akte des Bewußtseins eine Erkenntnis beschlossen ist �����������������������������  348 § 12. Dazu kamen sprachliche Gründe der Täu­schung: einmal die gemeinsame Bezeichnung als Denken; �������������������������������������  350 § 13. dann der Ausdruck in Sätzen  ���������������������������������������������������  350 § 14. Folgen der Verkennung der Natur des Urteils für die Metaphysik, �����������������������������������������������������������������������������  352 § 15. für die Logik, ���������������������������������������������������������������������������  353 § 16. Für die Psychologie �������������������������������������������������������������������  355

Inhaltsverzeichnis.

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Viertes Kapitel. Einheit der Grundklasse für Gefühl und Willen  ������������������������  357 § 1. Die innere Erfahrung lehrt die Einheit der Grundklasse für Gefühl und Willen; einmal, indem sie uns mittlere Zustände zeigt, durch welche zwischen ihnen ein allmählicher, kontinuierlicher Übergang gebildet wird; ���������������������������������  357 § 2. dann, indem sie uns den übereinstimmenden Charakter ihrer Beziehungen auf den Inhalt erkennen läßt �������������������������������  360 § 3. Nachweis, daß jedes Wollen und Begehren auf etwas als gut oder schlecht gerichtet ist. Die Philosophen aller Zeiten sind darin einig  �������������������������������������������������������������������������������  362 § 4. Nachweis, daß hinsichtlich der Gefühle dasselbe gilt  ���������������  363 § 5. Charakter der Klassenunterschiede innerhalb des Gebietes von Gefühl und Willen: Definierbarkeit mit Hilfe der zu Grunde liegenden Phänomene �������������������������������������������������  369 § 6. Untergeordnete Verschiedenheiten der Bezie­hungsweise zum Objekte  �����������������������������������������������������������������������������������  371 § 7. Keine von den Eigentümlichkeiten, welche in anderen Fällen die fundamentale Verschieden­heit in der Weise der Beziehung zum Gegenstande kennzeichnen, charakterisiert den Unterschied von Gefühl und Willen  ���������������������������������  373 § 8. Rückblick auf die vorangegangene dreifache Erörterung �����������  377 § 9. Die vornehmsten Ursachen, welche die Täu­schung über das Verhältnis von Gefühl und Willen veranlaßten, waren folgende: Erstens die besondere Vereinigung des inneren Bewußt­seins mit seinem Objekte war leicht mit einer besonderen Weise des Bewußtseins zu verwechseln �������������������  378 § 10. Zweitens setzt das Wollen eine aus dem Vermö­gen der Liebe unableitbare Fähigkeit des Wirkens voraus �������������������������������  379 § 11. Dazu kam ein sprachlicher Anlaß: die ungeeig­nete Bezeichnung der gemeinsamen Klasse mit dem Namen Begehren �����������������  381 § 12. Auch förderte die Verkennung des Verhältnisses von Vorstellung und Urteil die Täuschung über jenes von Gefühl und Willen. Beziehung der drei Ideen des Schönen, Wahren und Guten zu den drei Grundklassen ���������������������������������������  382

298

Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

Fünftes Kapitel. Vergleich der drei Grundklassen mit dem dreifachen Phänomene des inneren Bewußtseins. Bestimmung ihrer natürlichen Ordnung �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  387 § 1. Je eines der drei Momente des inneren Bewußt­seins entspricht einer der drei Klassen der psychischen Phänomene �������������������  387 § 2. Die natürliche Ordnung der drei Grundklassen ist diese: erstens Vorstellung, zweitens Urteil, drittens Liebe �������������������  388

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen zur Erläuterung und Verteidigung, wie zur Berichtigung der Lehre  �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �� �  391 I.

Die psychische Beziehung im Unterschied von der Relation im eigentlichen Sinne ���������������������������������������������������������������  391

II.

Von der psychischen Beziehung auf etwas als sekundäres Objekt �������������������������������������������������������������������������������������  394

III. Von den Modis des Vorstellens �������������������������������������������������  397 IV. Von der attributiven Vorstellungsverbindung in recto und in obliquo �������������������������������������������������������������������������������������  400 V. Von der Modifikation der Urteile und Gemüts­bewegungen durch die Modi des Vorstellens �������������������������������������������������  401 VI. Von der Unmöglichkeit, jeder psychischen Bezie­hung eine Intensität zuzuerkennen und insbeson­dere die Grade der Überzeugung und Bevorzu­gung als Unterschiede der Intensität zu fassen �������������������������������������������������������������������  404 VII. Von der Unmöglichkeit, Urteil und Gemütsbe­ziehung in einer Grundklasse zu vereinigen  �����������������������������������������������  405 VIII. Von der Unmöglichkeit, für Gefühl und Wille in Analogie zu Vorstellung und Urteil verschie­dene Grundklassen anzunehmen �����������������������������������������������������������������������������  407 IX. Von den wahren und fiktiven Objekten �����������������������������������  409 X. Von den Versuchen, die Logik zu mathematisieren �������������������  419 XI. Vom Psychologismus  ���������������������������������������������������������������  424

Erstes Kapitel.



Überblick über die vorzüglichsten Versuche einer Klassifikation der psychischen Phänomene. § 1.   Wir kommen zu einer Untersuchung, die nicht bloß an sich, sondern auch für alle folgenden von großer Wichtigkeit ist. Denn die wissenschaftliche Betrachtung bedarf der Einteilung und Ordnung, und diese dürfen nicht willkürlich gewählt werden. Sie sollen, so viel als möglich, natürlich sein und sind dieses dann, wenn sie einer möglichst natürlichen Klassifikation ihres Gegenstandes entsprechen. Wie anderwärts, so werden auch in bezug auf die psychischen Phänomene Haupteinteilungen und Untereinteilungen zu treffen sein. Zunächst aber wird es sich um die Bestimmung der allgemeinsten Klassen handeln. Die ersten Klassifikationen, wie überhaupt so auch auf psychischem Gebiete, ergaben sich Hand in Hand mit der fortschreitenden Entwickelung der Sprache. Diese enthält allgemeinere wie minder allgemeine Ausdrücke für Phänomene des inneren Gebietes, und die frühesten Erzeugnisse der Dichtkunst beweisen, daß schon vor Beginn der griechischen Philosophie der Hauptsache nach dieselben Unterscheidungen gemacht waren, welche noch jetzt eine im Leben gangbare Bezeichnung finden. Bevor jedoch ­Sokrates zur Definition anregte, mit welcher die wissenschaftliche Klassifikation aufs Innigste zusammenhängt, wurde von keinem Philosophen ein nennenswerter Versuch zu einer Grundeinteilung der psychischen Erscheinungen gemacht. Platon gebührt wohl das Verdienst, hier die Bahn gebrochen zu haben. Er unterschied drei Grundklassen der psychischen Phänomene, oder vielmehr, wie er sich ausdrückte, drei Teile der Seele, von denen jeder besondere Seelentätigkeiten umschloß; nämlich den begierlichen, den zornmütigen und 

Dieses Kapitel ist das fünfte des zweiten Buches meiner Psychologie vom empirischen Standpunkt. Die früheren, hier entfallenen Kapitel dieses Buches, auf deren Inhalt manchmal zurückgeblickt wird, handeln: Kap. I von dem Unterschiede der psychischen und physischen Phänomene, Kap. II und III vom inneren Bewußtsein und Kap. IV von der Einheit des Bewußtseins. [Anm. 1911]

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

den vernünftigen Seelenteil. Diesen drei Teilen entsprachen, wie wir schon gelegentlich bemerkten, die drei Stände, welche Platon als die hauptsäch­ lichsten im Staate unterschied: der Stand der Erwerbenden, welcher die Hirten, Ackerbauern, Handwerker, Kaufleute und andere umfaßte, der Stand der Wächter oder Krieger und der Stand der Herrscher. Auch sollten sich nach denselben drei Seelenteilen und in Rücksicht auf ihr relatives Übergewicht die drei hauptsächlichsten Völkergruppen, die der verweichlichten, nach den Genüssen des Reichtums jagenden Südländer (Phönizier und Ägypter), die der tapferen aber rohen nördlichen Barbaren und die der bildungsliebenden Hellenen unterscheiden. Wie Platon seine Einteilung bei der Bestimmung der wesentlichsten Unterschiede von Richtungen des Strebens als Anhalt benützte, so scheint er sie im Hinblicke auf solche Verschiedenheiten auch aufgestellt zu haben. Er fand in dem Menschen einen Kampf von Gegensätzen; einmal zwischen den Forderungen der Vernunft und den sinnlichen Trieben, dann aber auch zwischen den sinnlichen Trieben selbst; und hier schien ihm der Gegensatz von heftig aufbrausender Leidenschaft, die dem Schmerz und Tod entgegenstürmt, und weichlichem Hang zum Genusse, der vor jedem Schmerze sich zurückzieht, besonders auffallend und nicht minder groß als der Gegensatz zwischen vernünftigem und unvernünftigem Verlangen selbst. So glaubte er drei, auch ihrem Sitze nach verschiedene Seelenteile anerkennen zu sollen. Der vernünftige Teil sollte im Haupte, der zornmütige im Herzen, der begierliche im Unterleibe wohnen; der erste jedoch so, daß er vom Leibe trennbar und unsterblich sei, und nur die beiden anderen an ihm haftend und in ihrem Bestehen an ihn gebunden. Auch hinsichtlich ihrer Verbreitung über einen engeren oder weiteren Kreis von lebenden Wesen glaubte Platon sie verschieden. Der vernünftige Teil sollte unter allem, was auf Erden   

Die griechischen Ausdrücke sind: τὸ ἐπιθυμητικόν, τὸ θυμοειδές und τὸ λογιστικόν. Buch 1 Kap. 2 § 7 m. Psych. v. emp. St. Schon Demokrit hatte geglaubt, das Denken habe im Gehirn, der Zorn im Herzen seinen Sitz. Die Begierde hatte er in die Leber verlegt. Dies wäre ein unbedeutender Unterschied von der späteren Platonischen Lehre. Aber nichts macht wahrscheinlich, daß Demokrit in diesen drei Teilen die Gesamtheit der Seelentätigkeiten begreifen wollte; vielmehr verlangte der Zusammenhang seiner Ansichten, daß er jedes Organ mit besonderen Seelentätigkeiten begabt dachte, und eben darauf scheint eine Stelle Plutarchs hinzudeuten. (Plac. IV. 4. 3.) So können wir denn überhaupt nicht sagen, daß von Demokrit bereits ein Versuch zu einer Grundeinteilung der psychischen Phänomene gemacht worden sei.

1. Kapitel. Die vorzüglichsten Klassifikationsversuche.

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lebt, nur dem Menschen zukommen, den zornmütigen sollte der Mensch mit den Tieren, den begierlichen endlich sowohl mit ihnen als auch mit den Pflanzen gemein haben. Die Unvollkommenheit dieser Einteilung ist leicht erkennbar. Ihre Wurzeln liegen einseitig auf ethischem Gebiete, und dem widerspricht es nicht, wenn ein Teil als der vernünftige bezeichnet wird, da Platon wie Sokrates die Tugend als ein Wissen betrachtete. Sobald man bestimmen will, welchem Teile diese oder jene einzelne Tätigkeit zuzuschreiben sei, kommt man in Verlegenheit. Die sinnliche Wahrnehmung z. B. scheint sowohl dem begierlichen als zornmütigen zugeschrieben werden zu müssen und an gewissen Stellen scheint Platon mit anderen Weisen der Erkenntnis auch sie dem vernünftigen Teile beizulegen. Auch die Anwendungen, die Platon von der Einteilung macht, und in deren vermeintem Gelingen er eine Bestärkung finden mochte, zeigen vielmehr aufs neue ihre Schwäche. Es wird heutzutage kaum jemand geneigt sein, mit Platon in den drei Ständen der Erwerbenden, Krieger und Herrscher die hauptsächlichen Berufstätigkeiten, welche in der Gesellschaft sich auseinanderzweigen, in erschöpfender Weise dargestellt zu sehen. Weder die Kunst findet in ihr die gebührende Stelle, noch die Wissenschaft. Denn die Erfahrung zeigt zu deutlich die Verschiedenheit der Begabung für theoretische und praktische Leistungen als daß wir in der Tüchtigkeit des Wissenschaftlichen Denkers nicht eine ganz andere Art von Vollkommenheit als in der Tüchtigkeit des Herrschers anerkennen müßten; abgesehen davon, daß durch die Herrschaft eines Philosophen, die Platon als Ideal vorschwebte, die Freiheit der Wissenschaft, und somit ihr ungehemmter Fortschritt, am allermeisten gefährdet sein würde. Nichtsdestoweniger lagen in der Platonischen Einteilung die Keime für die Bestimmungen, welche bei Aristoteles ihre Stelle einnahmen, und welche, ungleich bedeutender als die Platons selbst, für Jahrtausende maßgebend geworden sind. § 2.   Wir finden bei Aristoteles drei Grundeinteilungen der psychischen Phänomene, von welchen jedoch zwei, in ihrer Gliederung vollkommen sich deckend, als eine betrachtet werden können. Einmal unterschied er die Seelenerscheinungen, insofern er die einen für Tätigkeiten des Zentralorgans, die anderen für immateriell hielt, also in Phänomene eines sterblichen und unsterblichen Seelenteiles.  Vgl. Zellers Bemerkungen in seiner Philosophie der Griechen, II, a. 2. Aufl. S. 540.

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Dann unterschied er sie nach ihrer größeren oder geringeren Verbreitung in allgemein animalische und eigentümlich menschliche. Diese Einteilung erscheint bei ihm dreiteilig, indem Aristoteles vermöge seines weiteren Begriffes des Seelischen, wie wir schon früher hörten, auch die Pflanzen für beseelt erklärte. Er zählt darum einen vegetativen, sensitiven und intellektiven Teil der Seele auf. Der erste, der die Phänomene der Ernährung, des Wachstums und der Erzeugung in sich schließt, soll allen irdischen lebenden Wesen, auch den Pflanzen, gemeinsam zukommen. Der zweite, der Sinn und Phantasie und andere verwandte Erscheinungen und mit ihnen die Affekte enthält, gilt ihm als der spezifisch animalische. Den dritten endlich, welcher das höhere Denken und Wollen in sich begreift, glaubt er unter den irdischen lebenden Wesen dem Menschen ausschließlich eigentümlich. Aber infolge der Beschränkung, welche der Begriff der psychischen Tätigkeit später erfuhr, fällt das erste der drei Glieder gänzlich außerhalb ihres Bereiches. Die Seelentätigkeiten im neueren Sinne des Wortes hat also Aristoteles vermöge dieser Einteilung nur in die zwei Gruppen der allgemein animalischen und eigentümlich menschlichen zerlegt. Diese Glieder fallen mit den Gliedern der ersten zusammen. Ihre Ordnung aber bestimmt der Grad der Allgemeinheit ihres Bestehens. Eine andere Haupteinteilung, die Aristoteles gibt, scheidet die psychischen Phänomene, – das Wort in unserem Sinne genommen, – in Denken und Begehren, νοῦς und ὄρεξις, im weitesten Sinne. Diese Einteilung kreuzt sich bei ihm mit der vorigen, so weit sie für uns in Betracht kommt. Denn in der Klasse des Denkens faßt Aristoteles mit den höchsten Verstandesbetätigungen, wie Abstraktion, Bildung allgemeiner Urteile und wissenschaftlicher Schlußfolgerung, auch Sinneswahrnehmung und Phantasie, Gedächtnis und erfahrungsmäßige Erwartung zusammen. In der des Begehrens aber sind ebenso das höhere Verlangen und Streben wie der niedrigste Trieb, und mit ihnen alle Gefühle und Affekte, kurzum alles, was von psychischen Phänomenen der ersten Klasse nicht einzuordnen ist, begriffen.  Vgl. De Anim. III, 9. Anf., 10. Anf.  Wundt macht denen, welche Empfinden und höheres Erkennen einander ähnlich finden, den Vorwurf des „Logizimus“. Dieser würde, wenn begründet, auch Aristoteles treffen, Doch wie käme es dann, daß Descartes hier ganz ebenso geurteilt hat, ja daß manche, indem sie die universellen Begriffe ganz leugneten, die betreffenden Denktätigkeiten den empfindenden unterordnen wollten? Freilich war dies ein Fehler, aber ein nicht minder großer Fehler würde es sein, wenn einer das, was dem Empfinden und intellektiven Denken gemeinsam ist, in Abrede stellte. [Anm. 1911]

1. Kapitel. Die vorzüglichsten Klassifikationsversuche.

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Wenn wir untersuchen, was Aristoteles dazu geführt habe, vermöge dieser Einteilung zu verbinden, was die frühere Einteilung geschieden hatte: so erkennen wir leicht, daß ihn dabei eine gewisse Ähnlichkeit bestimmte, welche das sinnliche Vorstellen und Scheinen mit dem intellektuellen, begrifflichen Vorstellen und Fürwahrhalten und ebenso das niedere Begehren mit dem höheren Streben zeigt. Er fand hier und dort, um es mit einem Ausdrucke, den wir schon früher einmal den Scholastikern entlehnten, zu bezeichnen, die gleiche Weise der intentionalen Inexistenz. Und aus demselben Prinzipe ergab sich dann auch die Trennung von Tätigkeiten, welche die frühere Einteilung verbunden hatte, in verschiedene Klassen. Denn die Beziehung auf den Gegenstand ist bei Denken und Begehren verschieden. Und darein eben setzte Aristoteles den Unterschied der beiden Klassen. Nicht auf verschiedene Objekte glaubte er sie gerichtet, sondern auf dieselben Objekte in verschiedener Weise. Deutlich sagt er, sowohl in seinen Büchern von der Seele als in seiner Metaphysik, daß dasselbe Gegenstand des Denkens und Begehrens sei und, zuerst im Denkvermögen aufgenommen, dann das Begehren bewege. Wie also bei der früheren Einteilung die Verschiedenheit des Trägers der psychischen Phänomene so wie die Verbreitung über einen weiteren oder engeren Kreis psychisch begabter Wesen den Einteilungsgrund bildete, so bildet ihn bei dieser der Unterschied in ihrer Beziehung auf den immanenten Gegenstand. Die Ordnung der Aufeinanderfolge der Glieder ist durch die relative Unabhängigkeit der Phänomene bestimmt10. Die Vorstellungen gehören zur ersten Klasse; ein Vorstellen aber ist die notwendige Vorbedingung eines jeden Begehrens.



Dieser Ausdruck ist in der Art mißverstanden worden, daß man meinte, es handle sich dabei um Absicht und Verfolgung eines Zieles. So hätte ich vielleicht besser getan ihn zu vermeiden. Die Scholastiker gebrauchen weit häufiger noch statt „intentional“ den Ausdruck „objektiv“. In der Tat handelt es sich darum, daß etwas für das psychisch Tätige Objekt und als solches, sei es als bloß gedacht oder sei es auch als begehrt, geflohen oder dergleichen, gewissermaßen in seinem Bewußtsein gegenwärtig ist. Wenn ich dem Ausdruck „intentional“ den Vorzug gab, so tat ich es, weil ich die Gefahr eines Mißverständnisses für noch größer hielt, wenn ich das Gedachte als gedacht objektiv seiend genannt hätte, wo die Modernen, im Gegensatz zu „bloß subjektiven Erscheinungen“, denen keine Wirklichkeit entspricht, das wirklich Seiende so zu nennen pflegen. [Anm. 1911]  De Anim. III, 10. Metaph. Λ, 7. 10 Vgl. die oben zitierten Stellen.

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§ 3.   Im Mittelalter blieben die Aristotelischen Einteilungen wesentlich in Kraft; ja bis in die neue Zeit hinein reicht ihr Einfluß. Wenn Wolff die Seelenvermögen einmal in höhere und niedere und dann in Erkenntnis- und Begehrungsvermögen scheidet und diese zwei Einteilungen sich kreuzen läßt, so erkennen wir hierin leicht ein der doppelten Aristotelischen Gliederung wesentlich entsprechendes Schema. Auch in England hat wenigstens die letzte Einteilung sehr lange nachgewirkt. Den Untersuchungen von Hume liegt sie zugrunde; und Reid sowohl als Brown brachten nur unbedeutende und keineswegs glückliche Änderungen an, wenn jener intellektive und aktive11 Seelenvermögen unterschied, und dieser, nachdem er zunächst die Empfindungen als äußere Affektionen allen übrigen als inneren Affektionen gegenübergestellt hatte, die letzteren dann in intellektuelle Geisteszustände und Gemütsbewegungen sonderte12. Alles, was Aristoteles unter seiner ὄρεξις, begreift Brown unter der letztgenannten Klasse. § 4.   Eine Einteilung, die in ihrer Abweichung bedeutender und in ihrem Einflusse nachhaltiger war, und die gemeiniglich noch heute als ein Fortschritt in der Klassifikation der psychischen Erscheinungen betrachtet wird, wurde in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts von Tetens und Men­ delssohn aufgestellt. Sie schieden die Seelentätigkeiten in drei koordinierte Klassen und nahmen für jede von ihnen ein besonderes Seelenvermögen an. Tetens nannte seine drei Grundvermögen Gefühl, Verstand und Tätig­ keitskraft13 (Willen); Mendelssohn bezeichnete sie als Erkenntnisvermögen, als Empfindungs- oder Billigungsvermögen („vermöge dessen wir an einer Sache Lust oder Unlust empfinden“) und als Begehrungsvermögen14. Kant, ihr Zeitgenosse, machte die neue Klassifikation in seiner Weise15 sich eigen; er nannte die drei Seelenvermögen das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen und legte sie der Einteilung seiner kri11

Aristoteles hatte das Begehren zugleich für das Prinzip der willkürlichen Bewegung erklärt. (De Anim. III, 10.) 12 External – internal affections; intellectual states of mind – emotions. 13 Über die menschliche Natur I. Versuch X, S. 625. (1777 erschienen.) 14 In einer Bemerkung über das Erkenntnis-, Empfindungs- und Begehrungsvermögen, die, obwohl erst in den gesammelten Schriften (IV, S. 122 ff.) gedruckt, aus dem Jahre 1776 stammt, und in den 1785 erschienenen Morgenstunden, Vorles. VII (ges. Schriften II, S. 295). 15 Vgl. darüber J. B. Meyer, Kants Psychologie S. 41 ff.

1. Kapitel. Die vorzüglichsten Klassifikationsversuche.

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tischen Philosophie zu Grunde. Seine „Kritik der reinen Vernunft“ bezieht sich auf das Erkenntnisvermögen, insofern es die Prinzipien des Erkennens selbst, seine „Kritik der Urteilskraft“ auf das Erkenntnisvermögen, insofern es die Prinzipien des Fühlens, seine „Kritik der praktischen Vernunft“ endlich auf das Erkenntnisvermögen, insofern es die Prinzipien des Begehrens enthält. Hierdurch vorzüglich gewann die Klassifikation Einfluß und Verbreitung, so daß sie noch heute ziemlich allgemein herrschend ist. Kant hält die Einteilung der Seelentätigkeiten in Erkennen, Fühlen und Wollen darum für fundamental, weil er glaubt, daß keine der drei Klassen aus der anderen ableitbar sei, oder mit ihr auf eine dritte als ihre gemeinschaftliche Wurzel zurückgeführt werden könne16. Die Unterschiede zwischen dem Erkennen und Fühlen seien zu groß, als daß etwas Derartiges denkbar scheine. Wie auch immer Lust und Unlust ein Erkennen voraussetzen, so sei doch eine Erkenntnis schlechterdings kein Gefühl, und ein Gefühl schlechterdings keine Erkenntnis. Und ebenso zeige das Begehren sich der einen wie dem anderen völlig heterogen. Denn jedes Begehren, und nicht bloß das ausgesprochene Wollen, sondern auch der ohnmächtige Wunsch, ja selbst die Sehnsucht nach dem anerkannt Unmöglichen17, sei ein Streben nach der Verwirklichung eines Objektes, während die Erkenntnis das Objekt nur erfasse und beurteile, das Gefühl der Lust aber gar nicht auf das Objekt, sondern bloß auf das Subjekt sich beziehe, indem es für sich selbst Grund sei, seine eigene Existenz im Subjekte zu erhalten18. 16

„Alle Seelenvermögen oder Fähigkeiten können auf die drei zurückgeführt werden, welche sich nicht ferner aus einem gemeinschaftlichen Grunde ableiten lassen: das Erkenntnisvermögen, das Gefühl der Lust und Unlust und das Begehrungsvermögen.“ (Kritik der Urteilskraft, Einleit., III.) 17 Ebenda Anm. 18 In dem Abschnitte der Abhandlung über die Philosophie überhaupt, in welchem Kant „Von dem System aller Vermögen des menschlichen Gemüts“ handelt und ausführlicher als anderwärts seine Lehre vorträgt und begründet, sagt er, man habe von Seiten gewisser Philosophen sich bemüht, die Verschiedenheit des Erkenntnisvermögens, des Gefühles für Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens „nur für scheinbar zu erklären und alle Vermögen aufs bloße Erkenntnisvermögen zu bringen“. Aber vergeblich. „Denn es ist immer ein großer Unterschied zwischen Vorstellungen, so ferne sie, bloß aufs Objekt und die Einheit des Bewußtseins desselben bezogen, zum Erkenntnis gehören, ingleichen zwischen derjenigen objektiven Beziehung, da sie, zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objekts betrachtet, zum Begehrungsvermögen gezählt werden, und ihrer Beziehung bloß aufs Subjekt, da sie für sich selbst Gründe sind, ihre eigene Existenz in demselben bloß zu erhalten, und so ferne im Verhältnisse zum Gefühle der Lust betrachtet

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Die Bemerkungen Kants zur Begründung und Rechtfertigung seiner Einteilung sind spärlich. Da aber später manche Philosophen, wie Carus, Weiß, Krug und andere, die wieder auf die Zweiteilung von Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen zurückgingen, sie nicht bloß angriffen, sondern sie als von vornherein unmöglich hinstellen wollten, übernahmen andere, und namentlich W. Hamilton, ihre Verteidigung und führten die Gedanken, die Kant bloß angedeutet hatte, weiter aus. Die Angriffe waren freilich sonderbar. So argumentierte Krug, nur darum seien Vorstellungs- und Bestrebungsvermögen als zwei anzusehen, weil die Tätigkeit des Geistes eine doppelte Richtung, eine Richtung einwärts und eine Richtung auswärts, habe. Daher seien die Betätigungen des Geistes in immanente oder theoretische und in transeunte oder praktische zu scheiden. Unmöglich aber sei es, zwischen ihnen eine dritte Klasse einzuschieben; denn diese müßte eine Richtung haben, die weder einwärts noch auswärts ginge, was undenkbar sei. Hamilton mußte es leicht werden, ein solches Raisonnement als nichtig darzutun. Warum, fragt er mit Biunde, sollten wir nicht vielmehr sagen, daß drei Gattungen von Tätigkeiten in der Seele zu denken seien, von welchen die einen ineunt, die anderen immanent, die dritten transeunt wären19? – Und wirklich käme man auf diesem, allerdings etwas abenteuerlichen, Wege zu einer Klassifikation, die in ihren drei Gliedern mit dem, was Kant in der oben zitierten Stelle von Erkenntnis, Gefühl und Begehren sagte, ziemlich gut stimmen würde. Aber Hamilton weist nicht bloß diesen Angriff zurück; er versucht auch eine positive Begründung der Notwendigkeit der Annahme der Gefühle als einer besonderen Grundklasse. Zu diesem Zwecke zeigt er, daß es gewisse Zustände des Bewußtseins gebe, die weder als ein Denken noch auch als ein Bestreben klassifiziert werden können. Solche seien die Gemütsbewegungen, die in jemand erregt werden, wenn er den Bericht vom Tode des Leonidas bei den Thermopylen lese, oder wenn er die folgende schöne Strophe aus einer bekannten alten Ballade höre: „Um Widdrington hüllt Gram mein Haupt, Weil ihn der Tod rafft’ hin, Der, als die Füße ihm geraubt, Noch focht auf seinen Knien.“

19

werden, welches letztere schlechterdings kein Erkenntnis ist noch verschafft, ob es zwar dergleichen zum Bestimmungsgrunde voraussetzen mag.“ (Kants Werke, Ausgabe v. Rosenkranz I, S. 586 ff.) Sir W. Hamilton, Lectures on Metaphysics II, p. 423.

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Solche Gemütsbewegungen seien kein bloßes Denken; und auch als Wollen oder Begehren lassen sie sich nicht bezeichnen. Aber doch gehören auch sie zu den psychischen Phänomenen, und somit sei es notwendig, den beiden Klassen eine dritte zu koordinieren, die man mit Kant als die der Gefühle bezeichnen könne20. Daß dieses Argument ungenügend sei, ist leicht erkennbar. Es könnte sein, daß die Ausdrücke Wollen und Begehren nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauche zu eng wären, um alle psychischen Phänomene außer den Phänomenen des Denkens zu umfassen, und daß überhaupt ein hierzu geeigneter Name in der gewöhnlichen Sprache fehlte, daß aber nichtsdestoweniger die Erscheinungen, die wir Begierden, und die, welche wir Gefühle nennen, zusammen eine einheitliche, weitere und den Phänomenen des Denkens naturgemäß koordinierte Klasse psychischer Phänomene bildeten. Eine wahre Rechtfertigung der Einteilung ist nicht möglich ohne Darlegung des Einteilungsprinzips. Und Hamilton versäumt nicht, an einer anderen Stelle eine solche zu geben, indem er mit Kant die drei Klassen für Phänomene verschiedener Vermögen der Seele erklärt, von welchen keines einer Ableitung fähig sei. Descartes, Leibniz, Spinoza, Wolff, Platner und andere Philosophen, sagt er, haben, weil die Erkenntnis des inneren Bewußtseins alle Phänomene begleitet, das Vorstellungsvermögen als das Grundvermögen des Geistes betrachten zu müssen geglaubt, von dem die anderen nur abgeleitet seien. Allein mit Unrecht. „Diese Philosophen bemerkten nicht, daß, obwohl Lust und Schmerz und ebenso Begehren und Wollen nur sind, insofern sie als seiend erkannt werden, dennoch in diesen Modifikationen eine absolut neue Qualität, ein absolut neues Geistesphänomen hinzugekommen ist, welches niemals in der Fähigkeit der Erkenntnis inbegriffen war und daher auch nie aus ihr entwickelt werden konnte. Die Fähigkeit des Erkennens ist unstreitig die erste der Ordnung nach und so die conditio sine qua non der anderen, und wir sind fähig, ein Wesen zu denken, das etwas als seiend zu erkennen fähig ist und doch gänzlich aller Gefühle von Lust und Schmerz, aller Fähigkeiten zum Begehren und Wollen ermangelt. Auf der anderen Seite sind wir völlig unfähig, ein Wesen zu denken, welches, im Besitze von Gefühl und Begehren, – zugleich ohne Erkenntnis irgendwelchen Objektes, auf welches seine Affekte sich richteten und ohne ein Bewußtsein von diesen Affektionen selbst wäre. 20

Sir W. Hamilton, Lectures on Metaphysics II, p. 420.

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„Wir können ferner ein Wesen denken, welches mit Erkenntnis und Gefühl allein ausgestattet wäre, ein Wesen, begabt mit einer Fähigkeit, Objekte zu erkennen und sich freuend in der Ausübung, sich betrübend bei der Hemmung seiner Tätigkeit, – und dennoch beraubt jener Fähigkeit zur Willensenergie, jenes Bestrebens, welches wir im Menschen finden. Solch einem Wesen würden Gefühle von Schmerz und Lust, nicht aber Begehren und Willen im eigentlichen Sinne zukommen. „Auf der anderen Seite jedoch können wir unmöglich denken, daß eine Willenstätigkeit unabhängig von allem Gefühle bestehe; denn die Willensbestrebung ist eine Fähigkeit, welche nur durch einen Schmerz oder eine Lust zur Betätigung bestimmt werden kann, – nämlich durch eine Schätzung des relativen Wertes der Objekte21.“ Diese Rechtfertigung der Klassifikation in bezug auf Prinzip, Zahl, Art und Ordnung der Glieder darf wohl als eine weitere Ausführung der Bemerkungen Kants im gleichen Sinne betrachtet werden. Hören wir auch noch Lotze, der gegenüber Herbarts neuem Versuche, jede Mehrheit von Vermögen zu beseitigen, in seiner Medizinischen Psychologie und mehr noch in seinem Mikrokosmus der Kantschen Dreiteilung eine eingehende Verteidigung widmet. „Die frühere Psychologie“, sagt Lotze, „hat geglaubt, daß Gefühl und Wille eigentümliche Elemente enthalten, welche weder aus der Natur des Vorstellens fließen, noch aus dem allgemeinen Charakter des Bewußtseins, an dem beide mit diesem zugleich Teil haben; dem Vermögen des Vorstellens wurden sie deshalb als zwei ebenso ursprüngliche Fähigkeiten zugesellt, und neuere Auffassungen scheinen nicht glücklich in der Widerlegung der Gründe, die zu dieser Dreiheit der Urvermögen veranlaßten. Zwar nicht das können wir behaupten wollen, daß Vorstellen, Gefühl und Wille als drei unabhängige Entwickelungsreihen mit geschiedenen Wurzeln entspringend sich in den Boden der Seele teilen, und jede für sich fortwachsend, nur mit ihren letzten Verzweigungen sich zu mannigfachen Wechselwirkungen berühren. Zu deutlich zeigt die Beobachtung, daß meistens Ereignisse des Vorstellungslaufes die Anknüpfungspunkte der Gefühle sind und daß aus diesen, aus Lust und Unlust, sich begehrende und abstoßende Strebungen entwickeln. Aber diese offen vorliegende Abhängigkeit entscheidet doch nicht darüber, ob hier das vorangehende Ereignis in der Tat als die volle und hinreichend bewirkende Ursache aus eigener Kraft das nachfolgende erzeugt, oder ob es 21 Lect. on Metaph. I, p. 187 s.; vgl. II, p. 431.

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nur als veranlassende Gelegenheit dieses nach sich zieht, indem es zum Teil mit der fremden Kraft einer unserer Beobachtung entgehenden, im Stillen mithelfenden Bedingung wirksam ist ... „Die Vergleichung jener geistigen Erscheinungen nötigt uns, wenn wir nicht irren, zu dieser letzteren Annahme. Betrachten wir die Seele nur als vorstellendes Wesen, so werden wir in keiner noch so eigentümlichen Lage, in welche sie durch die Ausübung dieser Tätigkeit geriete, einen hinlänglichen Grund entdecken, der sie nötigte, nun aus dieser Weise ihres Äußerns hinauszugehen und Gefühle der Lust und Unlust in sich zu entwickeln. Allerdings kann es scheinen, als verstände im Gegenteil nichts so sehr sich von selbst, als daß unversöhnte Gegensätze zwischen mannigfachen Vorstellungen, deren Widerstreit der Seele Gewalt antut, ihre Unlust erregen, und daß aus dieser ein Streben nach heilender Verbesserung entspringen müsse. Aber nur uns scheint dies so, die wir eben mehr als vorstellende Wesen sind; nicht von selbst versteht sich die Notwendigkeit dieser Aufeinanderfolge, sondern sie versteht sich aus dem allgemeinen Herkommen unserer inneren Erfahrung, die uns längst an ihre tatsächliche Unvermeidlichkeit gewöhnt hat und uns darüber hinwegsehen läßt, daß in Wahrheit hier zwischen jedem vorangehenden und dem folgenden Gliede der Reihe eine Lücke ist, die wir nur durch Hinzunahme einer noch unbeobachteten Bedingung ausfüllen können. Sehen wir ab von dieser Erfahrung, so würde die bloß vorstellende Seele keinen Grund in sich finden, eine innere Veränderung, wäre sie selbst gefahrdrohend für die Fortdauer ihres Daseins, anders als mit der gleichgültigen Schärfe der Beobachtung aufzufassen, mit der sie jeden anderen Widerstreit von Kräften betrachten würde; entstände ferner aus anderen Quellen doch neben der Wahrnehmung noch ein Gefühl, so würde doch die bloß fühlende Seele selbst in dem tötenden Schmerze weder Grund noch Befähigung in sich finden, zu einem Streben nach Veränderung überzugehen; sie würde leiden, ohne zum Wollen aufgeregt zu werden. Da dies nun nicht so ist, und damit es anders sein könne, muß die Fähigkeit, Lust und Unlust zu fühlen, ursprünglich in der Seele liegen, und die Ereignisse des Vorstellungslaufes, zurückwirkend auf die Natur der Seele, wecken sie zur Äußerung, ohne sie erst aus sich zu erzeugen; welche Gefühle ferner das Gemüt beherrschen mögen, sie bringen nicht ein Streben hervor, sondern sie werden nur zu Beweggründen für ein vorhandenes Vermögen des Wollens, das sie in der Seele vorfinden, ohne es ihr jemals geben zu können, wenn es ihr fehlte ...

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„So würden nun diese drei Urvermögen, sich als stufenweise höhere Anlagen darstellen, und die Äußerung der einen die Tätigkeit der folgenden auslösen22.“ Lotze führt seine Erläuterung und verteidigende Begründung der Kant­ schen Klassifikation noch weiter fort. Doch genügt die angezogene Stelle, um uns zu zeigen, daß er ihr Prinzip ebenso faßt wie Hamilton, und daß er auch in einer ganz ähnlichen Weise sowohl die Dreiheit der Vermögen, als auch ihre Ordnung feststellt. Beide tun eben nichts anderes, als daß sie den Gedanken Kants weiter ausführen. Indessen scheint das Prinzip, welches Kant bei seiner Grundeinteilung der psychischen Phänomene anwandte, und welches Hamilton sowohl als Lotze und mit ihnen viele andere sich eigen machten, zur Bestimmung der höchsten Klassen wenig geeignet; und dies nicht etwa, weil Herbarts Meinung sich aufrecht erhalten ließe, sondern, ich möchte sagen, aus einem entgegengesetzten Grunde. Wenn zwei psychische Phänomene, schon deshalb, weil aus der Fähigkeit zu dem einen auf die Fähigkeit zu dem anderen nicht von vornherein geschlossen werden kann, verschiedenen Grundklassen zuzurechnen wären, so müßte man nicht bloß, wie Kant, Hamilton und Lotze wollen, das Vorstellen vom Fühlen und Begehren, sondern auch das Sehen vom Schmecken, ja das Rotsehen vom Blausehen als von einem Phänomene scheiden, das zu einer anderen höchsten Klasse gehörte. In betreff des Sehens und Schmeckens ist, was ich sagte, einleuchtend; gibt es ja zahlreiche Gattungen von niederen Tieren, die am Geschmacke, nicht aber am Gesichte teilhaben. Aber auch für Rotsehen und Blausehen gilt, wie gesagt, dasselbe; und ein handgreiflicher Beweis liegt in der Tatsache der Rotblindheit, dem sogenannten Daltonismus, vor. Diese Betrachtungen zeigen gewiß aufs deutlichste, daß die Fähigkeit für eine Farbenwahrnehmung nicht von vornherein auf die Fähigkeit für eine andere schließen läßt. Und in der Tat würden wir, auf das Sehen des Blauen und Gelben beschränkt, nie eine Ahnung vom Roten bekommen. Auch J. St. Mill betrachtet darum die Erscheinung jeder einzelnen Farbe als eine letzte unableitbare Tatsache23. Nun sieht aber jeder ein, daß es ungereimt wäre, die Vorstellungen von Rot und anderen einzelnen Farbenarten, als Phänomene, die auf verschie22 Mikrokosmus I, S. 193 ff. 23 Dedukt. und Indukt. Log. Buch III, Kap. 14 § 2.

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denen ursprünglichen, nicht voneinander ableitbaren Vermögen beruhten, verschiedenen höchsten Klassen zuzuweisen. Und somit sehen wir uns zu dem Schlusse genötigt, daß dieses Einteilungsprinzip für die Bestimmung der höchsten Klassen der psychischen Phänomene in keiner Weise geeignet ist. Wäre dies aber der Fall, so würden wir offenbar nicht Denken, Fühlen und Streben, sondern eine ungleich größere Zahl von höchsten Klassen der psychischen Phänomene zu unterscheiden haben. Es ist gewiß etwas Mißliches, zu behaupten, daß Kant und die bedeutenden Männer, welche nach ihm seine Dreiteilung vertraten, sich über das Prinzip, welches sie bei ihrer Klassifikation bestimmte, selbst nicht genügend Rechenschaft gegeben hätten. Und zudem finden wir, daß auch schon die Vorläufer Kants, Tetens und Mendelssohn, sich auf die Unableitbarkeit der Vermögen als Bürgschaft für ihre Grundeinteilung beriefen. Dennoch läßt sich, wenn man das Mißverhältnis zwischen dem angeblichen Einteilungsgrunde und der Gliederung der Einteilung ins Auge faßt, die Annahme nicht umgehen, daß alle diese Denker, sich selbst mehr oder minder unbewußt, durch ganz andere Motive geleitet wurden. Und in ihren Äußerungen finden sich deutliche Spuren, die darauf hinweisen. Was Kant in Wahrheit bestimmte, die psychischen Tätigkeiten in seine drei Klassen zu scheiden, war, glaube ich, ihre Übereinstimmung oder Verschiedenheit unter einem ähnlichen Gesichtspunkte wie der, welcher Aristoteles bei seiner Unterscheidung von Denken und Begehren maßgebend gewesen ist. Eine Stelle, welche wir oben seiner Abhandlung über die Philosophie überhaupt entlehnten, setzt die Verschiedenheit zwischen Erken­ nen und Begehren deutlich in einen Unterschied der Beziehung aufs Objekt, während die Besonderheit des Fühlens darin gesucht wird, daß hier jede derartige Beziehung mangele, indem das psychische Phänomen bloß aufs Subjekt Bezug habe24. Das also war die große Differenz, aus welcher sich die gegenseitige Unableitbarkeit allerdings als eine Folgerung ergeben mochte, welche aber in sich selbst eine tiefer einschneidende Kluft als die Unmöglichkeit der Ableitung war; eine Kluft, welche nicht ebenso in jenen anderen Fällen besteht, die zur Annahme besonderer ursprünglicher Vermögen nötigen. Dasselbe zeigt sich bei Hamilton. Fragen wir ihn, warum er Gefühle und Strebungen als Phänomene besonderer Urvermögen bezeichne, und es für unmöglich halte, daß sie aus dem einen Grundvermögen erklärbar seien: so gibt er in dem zweiten Bande seiner Vorlesungen über Metaphysik folgende 24

S. 305 Anm. 18.

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Antwort. Darum, sagt er, tue er dies, weil das Bewußtsein uns in diesen Phänomenen, obwohl ihnen wegen der inneren Wahrnehmung allgemein eine Erkenntnis beigemischt sei, außer ihr gewisse Beschaffenheiten (certain qualities) zeige, die weder explicite noch implicite in den Phänomenen der Erkenntnis selbst enthalten seien. „Die Eigentümlichkeiten, wodurch diese drei Klassen gegenseitig sich voneinander unterscheiden, sind folgende: Bei den Phänomenen der Erkenntnis unterscheidet das Bewußtsein ein erkanntes Objekt von dem erkennenden Subjekt ... Bei dem Gefühle, bei den Phänomenen von Lust und Schmerz ist dies dagegen nicht der Fall. Das Bewußtsein stellt hier nicht den psychischen Zustand sich selbst gegenüber, sondern ist gleichsam mit ihm in eins verschmolzen. In dem Gefühle ist daher nichts, als was subjektivisch subjektiv (subjectively subjective) ist“ – ein Ausspruch, dessen wir schon einmal Erwähnung getan haben. „In den Phänomenen des Strebens, den Phänomenen der Begierde und des Willens endlich findet sich zwar wie bei denen der Erkenntnis ein Objekt und zwar ein Objekt, das auch ein Objekt der Erkenntnis ist. Aber obwohl beide, Erkenntnis und Strebung, eine Relation zu einem Objekte in sich tragen, so sind sie doch unterschieden durch die Verschiedenheit dieser Relation selbst. Bei der Erkenntnis besteht kein Bedürfnis; und das Objekt wird weder gesucht noch gemieden; während bei der Strebung ein Mangel und eine Neigung vorausgesetzt wird, welche zu dem Versuche führt, entweder das Objekt zu erreichen (im Falle nämlich die Erkenntnisfähigkeiten es so geartet darstellen, daß es den Genuß dessen, was man bedarf, zu gewähren verspricht) oder das Objekt abzuhalten, wann diese Tätigkeiten es so angetan erscheinen lassen, daß es den Versuch jenem Bedürfnisse zu genügen zu vereiteln droht25.“ Diese Stelle aus Hamilton erscheint fast wie eine kommentierende Paraphrase der zuvor erwähnten Bemerkung Kants. Im wesentlichen übereinstimmend, spricht sie nur ausführlicher und klarer. Und offenbar ist nach ihr der Gesichtspunkt, von welchem aus Hamilton, wenn man auf den letzten Grund geht, die psychischen Phänomene in verschiedene höchste Klassen zerlegt hat, wie bei Aristoteles jener der intentionalen Inexistenz. Bei einigen psychischen Phänomenen findet sich, wie Hamilton meint, gar keine intentionale Inexistenz eines Objektes und als solche gelten ihm die Gefühle. Aber auch diejenigen, bei welchen sich eine finde, sollen nach ihm hinsichtlich der Weise dieser Inexistenz einen fundamentalen Unterschied zeigen und so in Gedanken und Strebungen zerfallen. 25 Lect. on Metaph. II, p. 431.

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Was schließlich Lotze betrifft, so fehlt es auch bei ihm nicht an Zeichen, daß ein bedeutenderes Moment als die bloße Unableitbarkeit der Vermögen ihn die drei Klassen des Vorstellens, Fühlens und Strebens als die verschiedenen Grundklassen der Seelenerscheinungen betrachten ließ. Nur der Umstand, daß die Unmöglichkeit der Ableitung von der Herbartschen Schule geleugnet worden war, führt ihn dazu gerade diesen Punkt mit besonderem Nachdrucke zu betonen. Lotze verkennt so wenig, daß die nicht von einer anderen ableitbaren Fähigkeiten der Seele sich nicht auf eine Dreizahl beschränken: daß er vielmehr ebenso wie wir die Anlagen zum Sehen und Hören als verschiedene ursprüngliche Anlagen betrachtet; und gerade bei seiner Untersuchung über die drei Grundklassen finden wir diese Wahrheit berührt26. Warum hat er nun die Vorstellungen von Tönen und Farben dennoch derselben Grundklasse zugeteilt, und ebenso andere Unterschiede, welche man, namentlich innerhalb des Bereiches der Gefühle, leicht als ähnlich unableitbar nachweisen kann, bei seiner Grundeinteilung nicht maßgebend werden lassen? Die Wahrnehmung eines ganz besonders tiefgehenden Unterschiedes, der, zwischen jenen drei Klassen vorhanden, nicht in gleicher Weise in anderen Fällen unmöglicher Ableitung gefunden wird, muß hier bestimmend gewesen sein. Nach dem, was wir bei Kant und Hamilton gefunden, ist es aber von vornherein zu vermuten, daß eine Verschiedenheit der Seelentätigkeiten in Rücksicht auf die Beziehung zum Objekte, auch Lotze dazu führte, gerade diese drei Klassen als die am meisten verschiedenen und als die Grundklassen der psychischen Erscheinungen anzusehen. So bleibt denn nur noch zu untersuchen, ob man wirklich gut getan habe, diesen Gesichtspunkt bei einer Haupteinteilung der Seelentätigkeiten geltend zu machen; so wie, ob die Dreiteilung in Denken, Fühlen, Streben mit den fundamentalen Unterschieden, welche die psychischen Phänomene in dieser Beziehung zeigen, in Wahrheit koinzidiere und sie erschöpfe. Wenn wir am Ende dieses Überblickes über die bisher versuchten Klassifikationen uns selbst über die Frage zu entscheiden haben, werden wir auch diesen Punkt behandeln. § 5.   Wie schon bemerkt, ist die eben besprochene Einteilung des Bewußtseins in Vorstellung, Gefühl und Willen in neuerer Zeit sehr allgemein geworden. Auch Herbart und seine Schule haben sie angenommen; und bei den Darstellungen der empirischen Psychologie pflegen die Herbartianer in derselben 26 Mikrokosmus I, S. 198.

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Weise wie andere sie der Ordnung des Stoffes zugrunde zu legen. Das Unterscheidende bei ihnen ist nur dies, daß sie die beiden letzten Klassen nicht auf besondere Urvermögen zurückführen, sondern aus der ersten ableiten wollen; ein, wie schon wiederholt bemerkt, offenbar vergebliches Bemühen. § 6.   Unter den Vertretern der empirischen Schule in England, die in einem gewissen Gegensatze zur Schule Hamiltons steht, hat Alexander Bain ebenfalls seine Dreiteilung unter ähnlichen Namen aufgestellt. Er unterscheidet: erstens Gedanken, Verstand oder Erkenntnis (Thought, Intellect or Cognition); zweitens Gefühl (Feeling); und endlich drittens Streben oder Willen (Volition or the Will). Auch hier scheint also dieselbe Grundeinteilung uns zu begegnen, und Bain selbst beruft sich auf diese Übereinstimmung als auf eine Bestätigung. Wenn man indessen auf die Erklärungen achtet, die Bain von den drei Gliedern seiner Klassifikation gibt, so zeigt sich, daß die Gleichheit der Ausdrücke eine große Verschiedenheit der Gedanken verdeckt. Unter der dritten Klasse, dem Streben oder Willen, versteht Bain etwas ganz anderes als was die deutschen Psychologen so wie auch Hamilton mit dem Worte zu bezeichnen pflegen, nämlich das von psychischen Phänomenen ausgehende Wirken. So erklärt er im Anfang seines umfangreichen Werkes über die Sinne und den Verstand, das Streben oder der Wille umfasse das Ganze unserer Aktivität, so weit sie von unseren Gefühlen geleitet werde27. Und weiter unten erläutert er den Begriff also: „Alle Wesen“, sagt er, „die wir als mit Bewußtsein begabt kennen, haben nicht bloß die Fähigkeit zu fühlen, sondern auch zu handeln (act). Die Anwendung einer Kraft zur Erreichung eines Zweckes ist das Zeichen einer psychischen Natur. Essen, Gehen, Fliegen, Bauen, Sprechen, – sind Betätigungen, die aus psychischen Bewegungen hervorgehen. Sie entspringen alle aus gewissen Gefühlen, die befriedigt werden sollen, und dieses gibt ihnen den Charakter eigentümlicher psychischer Tätigkeiten. Wenn ein Tier seine Nahrung zerreißt, kaut und verschlingt, auf Beute Jagd macht oder vor einer Gefahr flieht, so sind es Empfindungen oder Gefühle, die seine Tätigkeit anregen und erhalten. Dieser dem Gefühle entstammten Aktivität geben wir den Namen Streben (Volition)“28. Essen, Gehen, Sprechen und dergleichen würden wir nicht als Wollen, sondern nur etwa als Wirkungen eines Wollens bezeichnen. Kant allerdings 27 28

The Senses and the Intellect p. 2. The Senses and the Intellect p. 4. Vgl. Mental and Moral Science p. 2.

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spricht manchmal von dem Begehren, als verstehe er darunter ein Hervorbringen der begehrten Objekte. Er definiert in seiner Kritik der praktischen Vernunft das Begehrungsvermögen als „das Vermögen, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“29. Aber nimmermehr glaube ich, daß er sich dazu verstanden hätte, das Essen oder Gehen als ein Begehren zu bezeichnen; sondern alles weist darauf hin, daß er nur in ungeeigneter Weise seinen Gedanken erklärte30. Anders ist es bei Bain. Seine oben betrachteten Aussprüche nötigen uns anzunehmen, daß er mit dem Namen „Willen“ in Wahrheit einen abweichenden Sinn verband, und auch das unmittelbar Folgende bestätigt diese Auffassung, indem Bain den Unterschied von seinem Wollen gegenüber den Naturkräften des Windes, Wassers, der Schwere, des Pulvers usf. und dann ebenso gegenüber unbewußten physiologischen Funktionen, wie z. B. dem Blutumlaufe, festzustellen sucht – was alles er offenbar nicht nötig hätte, wenn er nicht unter dem Wollen nicht sowohl ein innerliches, psychisches Phänomen als eine von psychischen Phänomenen ausgehende (physische) Wirkung, also ein physiologisches oder, wenn man will, psychophysisches Phänomen verstände. So stimmt Bains Einteilung der Seelenerscheinungen der Sache nach mehr mit der Aristotelischen Zweiteilung in Denken und Begehren (an welches letztere unter Umständen eine willkürliche Bewegung sich knüpft) als mit der späteren Dreiteilung in Vorstellen, Fühlen und Begehren zusammen. Was wir Begehren und Wollen nennen, gehört bei Bain zu dem Gefühl. Und es erscheint Gefühl und Begehren bei ihm wiederum zu einer Klasse verbunden. Außerdem hat er das Gebiet der Gefühle auch nach einer anderen Seite erweitert, indem er die Sinnesempfindungen, welche nach den meisten Neueren und auch nach Aristoteles der ersten Klasse zuzurechnen wären, mit in ihr Bereich zieht. Außer dieser Einteilung gibt Bain noch eine andere, die sich mit der vorerwähnten kreuzt. Er scheidet die psychischen Phänomene in primitive und in solche, welche sich aus diesen in weiterer Entwickelung ergeben. Zu den ersteren rechnet er die Empfindungen, die aus den Bedürfnissen des 29 30

Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede. Vgl. Kritik der Urteilskraft, Einleitung III. Anm. und die oben angezogene Stelle aus der Abhandlung über die Philosophie überhaupt (S. 305 Anm. 18). Er würde sonst nicht jeden Wunsch und jede Sehnsucht zum Begehren rechnen (was Bain nicht tut), noch auch die Freiheit in das Begehrungsvermögen verlegen.

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

Organismus hervorgehenden Begierden und die Instinkte, worunter er die Bewegungen versteht, die man ohne sie erlernt oder sich angeübt zu haben, ausführt. Diese Zweiteilung hat er in den späteren Ausgaben seines großen psychologischen Werkes, so wie in seinem Kompendium vor allen anderen bei der Anordnung des Stoffes zugrunde gelegt. Die Anregung zu ihr scheint Bain durch Herbert Spencer erhalten zu haben, bei welchem sich eine ähnliche Scheidung in primitive und entwickeltere psychische Phänomene erkennen läßt, wie überhaupt die Idee der Evolution in seinen „Prinzipien der Psychologie“ jede andere beherrscht. Die entwickelteren Seelentätigkeiten scheidet Spencer in kognitive (Gedächtnis, Vernunft) und affektive (Gefühl, Willen) und denkt die Anfänge der einen wie der anderen Klasse in den primitiven Erscheinungen vorhanden, so daß man vielleicht sagen könnte, er lasse mit der ersten eine zweite Einteilung sich kreuzen, welche in ihrer Gliederung an die Aristotelische Scheidung von νοῦς und ὄρεξις erinnert31. § 7.   Hiermit können wir unsere Übersicht über die vorzüglichsten Klassifikationsversuche abschließen. Achten wir auf die Prinzipien, welche wir bei ihnen angewandt fanden, so erkennen wir, daß sie von vier verschiedenen Gesichtspunkten aus gemacht wurden. Drei davon waren uns schon bei Aristoteles begegnet. Er hatte die psychischen Tätigkeiten geschieden: einmal, insofern er sie teils an dem Leibe haftend, teils nicht an ihn gebunden glaubte; dann, insofern er sie teils dem Menschen mit den Tieren gemein, teils ihm ausschließlich eigentümlich dachte, und endlich nach dem Unterschiede der Weise der intentionalen Inexistenz oder, wie wir sagen könnten, nach dem Unterschiede der Weise des Bewußtseins. Das letzte Einteilungsprinzip sehen wir besonders häufig und zu allen Zeiten angewandt. Hierzu kommt dann noch das Prinzip der zweiten Einteilung von Bain, welche die psychischen Erscheinungen in primitive und in solche zerlegt, welche sich aus primitiven entwickeln. Wir werden nun in den folgenden Untersuchungen sowohl hinsichtlich des Prinzipes als hinsichtlich der Gliederung der Grundeinteilung unsererseits eine Entscheidung zu treffen haben.

31 Vgl. Ribot, Psychologie Anglaise Contemporaine, Paris 1870 (p. 191), eine Schrift, in welcher insbesondere über Herbert Spencers psychologische Ansichten ein sehr hübscher Überblick gegeben wird.

Zweites Kapitel. Einteilung der Seelentätigkeiten in Vorstellungen, Urteile und Phänomene der Liebe und des Hasses. § 1.   An welche Grundsätze haben wir uns bei der Grundeinteilung der psychischen Phänomene zu halten? – Offenbar an diejenigen, welche auch anderwärts bei der Klassifikation in Betracht kommen und von deren Anwendung uns die Naturwissenschaft mehr als ein ausgezeichnetes Beispiel bietet. Eine wissenschaftliche Klassifikation soll von der Art sein, daß sie in einer der Forschung dienlichen Weise die Gegenstände ordnet. Zu diesem Zwecke muß sie natürlich sein; d. h. sie muß das zu einer Klasse vereinigen, was seiner Natur nach enger zusammengehört, und sie muß das in verschiedene Klassen trennen, was seiner Natur nach sich relativ fern steht. Daher wird sie erst bei einem gewissen Maße von Kenntnis der Objekte möglich; und es ist die Grundregel der Klassifikation, daß sie aus dem Studium der zu klassifizierenden Gegenstände, nicht aber aus apriorischer Konstruktion hervorgehen soll. Krug fiel in diesen Fehler, wenn er von vornherein argumentierte, daß die Seelentätigkeiten von zweifacher Gattung sein müßten: solche, die von außen nach innen, und solche, die von innen nach außen gerichtet seien. Und auch Horwicz verstieß gegen das Prinzip, wenn er, wie wir früher sahen32, statt durch ein genaueres Studium der Seelenerscheinungen selbst eine Sicherung oder Berichtigung der üblichen Grundeinteilung anzustreben, auf dem Grunde physiologischer Betrachtungen, die ihm den Gegensatz von Empfin­dungs- und Bewegungsnerven zeigten, zur Annahme eines ähnlichen, das ganze Seelengebiet durchdringenden Gegensatzes von Denken und Begehren sich verstieg. Allerdings begreift es sich bei dem zurückgebliebenen Zustande der Psychologie sehr wohl, daß man gerne auf andere Untersuchungen als die der psychischen Phänomene gestützt eine entsprechende Klassifikation gewinnen möchte. Allein wenn der naturgemäße Weg noch wenig gangbar ist, so knüpft sich doch an keinen anderen eine Hoffnung dem Ziele näher zu kommen. Derjenige aber, welcher die 32

Buch I, Kap. 3, § 5 m. Psych. v. emp. St.

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

bis jetzt erlangten Kenntnisse der psychischen Erscheinungen maßgebend werden läßt, wird selbst dann, wenn es ihm heute noch unmöglich wäre, eine endgültig beste Grundeinteilung festzustellen, eine solche wenigstens vorbereiten, indem wie anderwärts auch hier Klassifikation und Kenntnis der Eigentümlichkeiten und Gesetze sich in der weiteren Entwickelung der Wissenschaft dann gegenseitig vervollkommnen werden. § 2.   Die in dem vorigen Kapitel betrachteten Einteilungsversuche sind sämtlich insoweit zu billigen, als sie aus dem Studium der psychischen Phänomene selbst hervorgegangen sind. Auch waren ihre Urheber darauf bedacht, daß die Gliederung naturgemäß sei, indem sie die Unabhängigkeit der einen Erscheinungen von den anderen oder eine tiefgreifende Unähnlichkeit maßgebend werden ließen. Freilich ist damit nicht gesagt, daß nicht vielleicht die Unvollkommenheit ihrer Kenntnis des psychologischen Gebietes sie bei diesem Streben mißleitet habe. Und jedenfalls sind einige von den Einteilungsversuchen nicht in gleichem Maße wie andere verwertbar; sowohl weil ihre Grundlage noch strittig ist, als auch weil die Vorteile, welche sie der Forschung zu gewähren versprechen, infolge besonderer Hindernisse verloren gehen. Machen wir dies im einzelnen klar. Aristoteles schied die psychischen Phänomene in solche, welche dem Menschen mit den Tieren gemein, und solche, welche ihm eigentümlich seien. Stellen wir uns auf den Standpunkt der Aristotelischen Lehre, so wird diese Einteilung in vieler Hinsicht vorzüglich scheinen. Denn Aristoteles glaubte gewisse Seelenvermögen dem Menschen ausschließlich eigen, und hielt diese für immateriell, die allgemein animalischen dagegen für Vermögen eines körperlichen Organes. Es sondert also, wenn wir die Richtigkeit seiner Anschauungen voraussetzen, jene Einteilung in dem ersten Gliede Erscheinungen für sich ab, welche auch in der Natur von den anderen isoliert auftreten; und der Umstand, daß die einen Funktionen eines Organs sind, die anderen nicht, läßt erwarten, daß jede der beiden Classen wichtige gemeinsame Eigentümlichkeiten und Gesetze zeigen werde. Aber die Aristotelischen Ansichten, auf Grund deren die Einteilung sich empfehlen würde, enthalten gar manches, was bestritten werden kann. Viele stellen in Abrede, daß dem Menschen im Gegensatze zum Tiere geistige Kräfte eigen seien; ja überhaupt ist man schon darüber nicht einig, welche psychischen Erscheinungen dem Menschen mit dem Tiere gemein seien und welche nicht. Während Descartes den Tieren alle psychische Tätigkeit abspricht,

2. Kapitel. Einteilung der Seelentätigkeiten.

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lassen andere und nicht unbedeutende Forscher die höheren Tierklassen an allen Arten unserer einfacheren psychischen Phänomene Teil haben. Nur graduell glauben sie ihre Tätigkeiten von den unsrigen verschieden und sind der Meinung, daß der gesamte Unterschied ihrer Leistungen sich genugsam daraus erklären lasse. Wenn insbesondere Aristoteles der Ansicht ist, daß den Tieren das Vermögen für allgemeine, abstrakte Begriffe fehle, so stimmt zwar Locke ihm bei, aber von anderen und entgegengesetzten Seiten streitet man dagegen, daß hierin eine fundamentale Verschiedenheit zwischen der psychischen Begabung von Mensch und Tier zu finden sei: die einen wollen allgemeine Begriffe mit Bestimmtheit auch bei Tieren nachgewiesen haben; die anderen, Berkeley an der Spitze, leugnen, daß sie auch nur dem Menschen in Wirklichkeit zukommen. Die Ansicht von Descartes, wenn auch manche im Hinblick auf die Reflexerscheinungen sich neuerdings ihr zuneigen, wird uns wohl weniger beirren: für die entgegengesetzte treten aber auch jetzt noch angesehene Denker von sonst verschiedenen Richtungen ein; und insbesondere sind die Berkeleyaner in England zahlreich geworden und fangen auch auf dem Kontinent sich auszubreiten an. Fände sich nun wirklich zwischen der psychischen Begabung von Menschen und Tieren kein, wie man sich ausdrückt, qualitativer Unterschied: so würde offenbar die Einteilung der psychischen Phänomene in allgemein animalische und eigentümlich menschliche viel von ihrer Bedeutung verlieren. Und jedenfalls erlaubt es uns schon der Streit der Ansichten und die Schwierigkeit ihn zu entscheiden nicht, diese Einteilung bei der Anordnung unseres Stoffes als Grundeinteilung zu benützen. Zudem wird der vorzüglichste Vorteil, welchen die Klassifikation im besten Falle der Forschung bieten könnte, nämlich das isolierte Studium eines Teiles unserer psychischen Phänomene, dadurch wesentlich beeinträchtigt, daß wir in das psychische Leben der Tiere nur indirekt einen Einblick besitzen. Und dieser Umstand sowohl als auch der Wunsch keine unerwiesenen Voraussetzungen zu machen, hat selbst Aristoteles abgehalten, sie bei der systematisch geordneten Darlegung seiner Seelenlehre als Grundeinteilung zu verwenden. Bain, wie wir hörten, hat die Seelenerscheinungen in elementare und in solche geschieden, welche aus diesen in weiterer Entwickelung sich ergeben. Auch hier umfaßt die erste Klasse Erscheinungen, welche in der Natur von den anderen unabhängig auftreten. Aber auch hier gilt ähnliches wie das, was wir eben bemerkten, daß sie nämlich da, wo sie unabhängig auftreten, nicht direkt von uns zu beobachten sind. Auch hat es keine geringen Schwie-

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

rigkeiten, sich über den Charakter der ersten Anfänge des Seelenlebens ein sicheres Urteil zu bilden. Wenn in späteren Jahren ein physischer Reiz eine Empfindung hervorruft, so können erworbene Dispositionen einen mächtig umgestaltenden Einfluß auf die Erscheinung üben. Und so finden wir tatsächlich, daß dieses Feld heutzutage ein vorzügliches Gebiet des Streites ist. Wie wir daher auch immer den Bainschen Gesichtspunkt bei der Anordnung unserer Untersuchungen zu berücksichtigen haben werden, für die Grundeinteilung werden wir besser tun einen anderen Maßstab zu wählen. Es bleiben von den betrachteten Klassifikationen noch diejenigen übrig, welche die verschiedene Beziehung zum immanenten Gegenstande der psychischen Tätigkeit oder die verschiedene Weise seiner intentionalen Existenz zum Einteilungsgrunde haben. Dieser Gesichtspunkt war es, den Aristoteles bei der Anordnung des Stoffes vor allen übrigen bevorzugte, und den häufiger als irgendeinen anderen auch die verschiedensten Denker späterer Zeit, mehr oder minder bewußt, bei der Grundeinteilung der psychischen Phänomene einnahmen. Die psychischen Phänomene unterscheiden sich von allen physischen durch nichts so sehr als dadurch, daß ihnen etwas gegenständlich inwohnt. Und darum ist es sehr begreiflich, wenn die am tiefsten greifenden Unterschiede in der Weise, in welcher ihnen etwas gegenständlich ist, zwischen ihnen selbst wieder die vorzüglichsten Klassenunterschiede bilden. Je mehr die Psychologie sich entwickelte, um so mehr hat sie auch gefunden, daß an die fundamentalen Unterschiede in der Weise der Beziehung zum Objekt sich mehr als an irgendwelche andere gemeinsame Eigentümlichkeiten und Gesetze knüpfen. Und wenn die zuvor besprochenen Klassifikationen dem Bedenken unterlagen, daß ihr Nutzen großenteils durch die Stellung des Beobachters verloren geht, so ist dagegen diese frei von einer solchen Beeinträchtigung ihres Wertes. Somit werden wir durch die mannigfachsten Erwägungen dazu geführt, das gleiche Prinzip auch bei unserer Grundeinteilung zu benützen. § 3.   Aber wie viele und welche höchste Klassen werden wir zu unterscheiden haben? – Wir sahen, daß in dieser Hinsicht zwischen den Psychologen keine Einigkeit besteht. Aristoteles hat zwei verschiedene Grundklassen unterschieden, Denken und Begehren. Unter den Modernen aber ist eine Dreiteilung in Vorstellung, Gefühl und Streben (oder wie man sonst die drei Gattungen zu benennen liebt) anstatt jener Zweiteilung üblich geworden. Um sogleich unsere Ansicht auszusprechen, so halten auch wir dafür, daß hinsichtlich der verschiedenen Weise ihrer Beziehung zum Inhalte drei

2. Kapitel. Einteilung der Seelentätigkeiten.

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Hauptklassen von Seelentätigkeiten zu unterscheiden sind. Aber diese drei Gattungen sind nicht dieselben wie die, welche man gemeiniglich aufstellt, und wir bezeichnen in Ermangelung passenderer Ausdrücke die erste mit dem Namen Vorstellung, die zweite mit dem Namen Urteil, die dritte mit dem Namen Gemütsbewegung, Interesse oder Liebe. Keine dieser Benennungen ist von der Art, daß sie nicht mißverständlich wäre; vielmehr wird jede häufig in einem engeren Sinne angewandt. Aber unser Wortvorrat bietet uns keine einheitlichen Ausdrücke, welche sich besser mit den Begriffen decken. Und obwohl es etwas Mißliches hat, Ausdrücke von schwankender Bedeutung als Termini bei so wichtigen Bestimmungen zu benützen, und mehr noch, sie in einem vielleicht ungewöhnlich erweiterten Sinne anzuwenden: so scheint mir dies in unserem Falle doch besser als die Einführung völlig neuer und unbekannter Benennungen. Darüber, was wir Vorstellen nennen, haben wir uns auch früher schon erklärt. Wir reden von einem Vorstellen, wo immer uns etwas erscheint. Wenn wir etwas sehen, stellen wir uns eine Farbe, wenn wir etwas hören, einen Schall, wenn wir etwas phantasieren, ein Phantasiegebilde vor. Vermöge der Allgemeinheit, in der wir das Wort gebrauchen, konnten wir sagen, es sei unmöglich, daß die Seelentätigkeit in irgendeiner Weise sich auf etwas beziehe, was nicht vorgestellt werde33. Höre und verstehe ich einen Namen, so stelle ich mir das, was er bezeichnet, vor; und im allgemeinen ist dieses der Zweck der Namen, Vorstellungen hervorzurufen34. Unter dem Urteilen verstehen wir, in Übereinstimmung mit dem gewöhnlichen philosophischen Gebrauche, ein (als wahr) Annehmen oder (als falsch) Verwerfen. Daß aber ein solches Annehmen oder Verwerfen auch da vorkommt, wo Viele den Ausdruck Urteil nicht gebrauchen, wie z. B. bei der Wahrnehmung psychischer Akte und bei der Erinnerung, haben wir schon berührt. Und natürlich werden wir uns nicht abhalten lassen, auch diese Fälle der Klasse des Urteils unterzuordnen. 33 Buch II, Kap. 1, § 3 m. Psych. v. emp. St. 34 Viel enger fassen Meyer (Kants Psychologie), Bergmann (Vom Bewußtsein), Wundt (Physiologische Psychologie) u. a. den Begriff der Vorstellung, während z. B. Herbart und Lotze den Namen ähnlich wie wir gebrauchen. Es gilt hier, was wir früher in betreff des Namens Bewußtsein bemerkten (Buch II, Kap. 2, § 1). Man wird am besten tun, den Namen so zu gebrauchen, daß er am meisten eine Lücke in der Terminologie auszufüllen dient. Nun besitzen wir für jene spezielleren Klassen auch andere Ausdrücke, während für unsere erste Grundklasse kein anderer uns gegeben ist. Somit scheint die Verwendung in diesem allgemeinsten Sinne geboten.

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

Für die dritte Hauptklasse, deren Phänomene wir als Gemütsbewegungen, als Phänomene des Interesses oder als Phänomene der Liebe bezeichneten, fehlt am meisten ein recht geeigneter einheitlicher Ausdruck. Diese Klasse soll nach uns alle psychischen Erscheinungen begreifen, die nicht in den beiden ersten Klassen enthalten sind. Aber unter den Gemütsbewegungen begreift man gemeiniglich nur Affekte, die mit einer merklichen physischen Aufregung verbunden sind. Zorn, Angst, heftige Begierde wird jeder als Gemütsbewegungen bezeichnen; in der Allgemeinheit, in der wir das Wort gebrauchen, soll es dagegen auch auf jeden Wunsch, jeden Entschluß und jede Absicht in gleicher Weise Anwendung finden. Doch bediente sich Kant wenigstens des Wortes Gemüt in noch weiterem Sinne als wir, indem er jedes psychische Vermögen, sogar das der Erkenntnis, als ein Vermögen des Gemütes bezeichnete. Auch den Ausdruck Interesse pflegt man vorzugsweise nur für gewisse Akte, die zu dem hier umschriebenen Gebiete gehören, zu gebrauchen; namentlich in Fällen, wo Wißbegier oder Neugier erregt wird. Doch kann man wohl nicht leugnen, daß jede Lust oder Unlust an etwas, sich nicht ganz unpassend als Interesse bezeichnen läßt, und daß auch jeder Wunsch, jede Hoffnung, jeder Willensentschluß ein Akt des Interesses ist, welches an etwas genommen wird. Statt mit dem einfachen Namen Liebe, hätte ich die Klasse streng genommen als Lieben oder Hassen bezeichnen müssen; und nur weil man auch anderwärts, wie z. B. wenn man das Urteilen als ein Fürwahrhalten bezeichnet, oder von Phänomenen des Begehrens in weiterem Sinne redet35, den Gegensatz mit eingeschlossen denkt, habe ich der Kürze halber den einen Namen für sich allein das Namenspaar vertreten lassen. Aber auch abgesehen davon wird vielleicht mancher mir vorwerfen, daß ich den Namen zu weit gebrauche. Und es ist sicher, daß er nicht in jedem Sinne das ganze Gebiet umspannt. In einem anderen Sinne sagt man nämlich, daß man einen Freund, in einem anderen, daß man den Wein liebe; jenen liebe ich, indem ich ihm Gutes Wünsche, diesen, indem ich ihn selbst als etwas Gutes begehre und mit Lust genieße. In einem Sinne wie dem, welchen das Wort in dem zweiten Falle hat, glaube ich nun, daß in jedem Akte, der zu dieser dritten Klasse gehört, etwas geliebt, genauer gesprochen etwas geliebt oder gehaßt wird. Wie jedes Urteil einen Gegenstand für wahr oder falsch nimmt, so nimmt in 35

Wie Kant, wenn er das eine seiner drei Grundvermögen Begehrungsvermögen nennt, und Aristoteles, indem er ὄρεξις als Namen einer Grundklasse verwendet.

2. Kapitel. Einteilung der Seelentätigkeiten.

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analoger Weise jedes Phänomen, welches der dritten Klasse zugehört, einen Gegenstand für gut oder schlecht. Spätere Erörterungen werden dies näher erklären und hoffentlich vollkommen außer Zweifel setzen. § 4.   Vergleichen wir unsere Dreiteilung mit derjenigen, welche seit Kant in der Psychologie vorherrscht, so finden wir, daß sie in einer doppelten Hinsicht von ihr abweicht. Sie trennt in zwei Grundklassen die Phänomene, die bisher in der ersten Klasse vereinigt wurden; und sie faßt die Phänomene der beiden letzten Klassen in einem Gliede zusammen. In jeder dieser Beziehungen werden wir uns zu rechtfertigen haben. Wie aber soll uns eine solche Rechtfertigung gelingen? Werden wir etwas anderes tun können, als auf die innere Erfahrung verweisen, welche lehre, daß die Beziehung des Bewußtseins zum Objekte in den einen Fällen eine durchaus gleiche oder eine ähnliche, in den anderen dagegen eine grundverschiedene sei? – Es scheint, als ob kein anderes Mittel uns zu Gebote stehe. Die innere Erfahrung ist offenbar die Schiedsrichterin, die in dem Streite über Gleichheit oder Verschiedenheit der intentionalen Beziehung allein zum Urteile berechtigt ist. – Aber auf seine innere Erfahrung beruft sich auch jeder von unseren Gegnern. Und wessen Erfahrung wird hier den Vorzug verdienen? Doch die Schwierigkeit ist keine andere als in vielen anderen Fällen. Auch sonst geschieht es, daß man bei der Beobachtung Fehler macht: sei es, daß man etwas übersieht; sei es, daß man etwas, was man erschließt oder sonst wie denkend hinzubringt, mit dem Beobachteten vermengt oder verwechselt. Wird man aber von anderen aufmerksam gemacht, so erkennt man, namentlich bei erneuerter Beobachtung, den begangenen Fehler. Dies also werden wir auch hier tun müssen, in der Hoffnung, eine Änderung abweichender Überzeugungen und eine allgemeine Übereinstimmung in dieser wichtigen Frage zu erzielen. Indeß, wenn angestammte und tief eingewurzelte Vorurteile dem Fehler der Beobachtung zur Seite stehen, so lehrt die Erfahrung und erklärt die Psychologie, daß die Erkenntnis des Irrtums nicht wenig erschwert ist. Es genügen dann nicht ein bloßer Widerspruch gegen die hergebrachte Meinung und eine Aufforderung zu neuer Betrachtung; auch nicht ein Hinweis auf die Punkte, in welchen die Fehler der Beobachtung liegen, die man berichtigen will, und eine Entgegenstellung des wahren Tatbestandes: vielmehr wird es nötig sein, die Aufmerksamkeit zugleich auf solche Eigentümlichkeiten zu lenken, die damit in Zusammenhang stehen, und namentlich auch auf sol-

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

ches, was gemeinsam anerkannt, aber im Widerspruche mit der angeblichen Beobachtung ist. Endlich muß man suchen, nicht allein die Täuschung, sondern auch den Grund der Täuschung aufzudecken. Wenn irgendwo, so ist alles dieses auch in unserem Falle geboten; und wir werden auf solche Weise im nächsten Kapitel unsere Trennung von Vorstellung und Urteil, und in dem darauf folgenden unsere Zusammenfassung von Gefühl und Streben sorgfältig zu rechtfertigen uns bemühen.

Drittes Kapitel. Vorstellung und Urteil zwei verschiedene Grundklassen. § 1.   Wenn wir sagen, Vorstellung und Urteil seien verschiedene Grundklassen psychischer Phänomene, so meinen wir damit nach dem zuvor Bemerkten, sie seien zwei gänzlich verschiedene Weisen des Bewußtseins von einem Gegenstande. Dabei leugnen wir nicht, daß alles Urteilen ein Vorstellen zur Voraussetzung habe. Wir behaupten vielmehr, daß jeder Gegenstand, der beurteilt werde, in einer doppelten Weise im Bewußtsein aufgenommen sei, als vorgestellt und als anerkannt oder geleugnet. So wäre denn das Verhältnis ähnlich dem, welches mit Recht, wie wir sahen, von der großen Mehrzahl der Philosophen, und von Kant nicht minder als von Aristoteles, zwischen Vorstellen und Begehren angenommen wird. Nichts wird begehrt, was nicht vorgestellt wird; aber doch ist das Begehren eine zweite, ganz neue und eigentümliche Weise der Beziehung zum Objekte, eine zweite, ganz neue Art von Aufnahme desselben ins Bewußtsein. Nichts wird auch beurteilt, was nicht vorgestellt wird; aber wir behaupten, daß, indem der Gegenstand einer Vorstellung Gegenstand eines anerkennenden oder verwerfenden Urteils werde, das Bewußtsein in eine völlig neue Art von Beziehung zu ihm trete. Er ist dann doppelt im Bewußtsein aufgenommen, als vorgestellt und als für wahr gehalten oder geleugnet, wie er, wenn die Begierde auf ihn sich richtet, als vorgestellt zugleich und als begehrt ihm innewohnt. Das, sagen wir, ist, was die innere Wahrnehmung und die aufmerksame Betrachtung der Erscheinungen des Urteilens im Gedächtnisse klar erkennen lassen. § 2.   Freilich hat dies nicht verhindert, daß das wahre Verhältnis zwischen Vorstellen und Urteilen bis jetzt allgemein verkannt wurde, und ich muß deshalb darauf rechnen, daß ich, wenn ich auch nichts anderes sage, als was das Zeugnis der inneren Wahrnehmung unmittelbar bestätigt, mit meiner Aufstellung zunächst dem größten Mißtrauen begegne. Aber wenn man nicht annehmen will, daß im Urteilen zum bloßen Vorstellen eine zweite, grundverschiedene Weise der Beziehung des Bewußtseins

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zum Gegenstand hinzutrete, so leugnet man doch nicht und kann nicht leugnen, daß irgend ein Unterschied zwischen dem einen und anderen Zustande bestehe. Vielleicht wird eine nähere Erwägung darüber, worin die Verschiedenheit des Urteilens, wenn sie nicht in unserer Weise aufgefaßt wird, eigentlich liegen möge, zur Annahme unserer Behauptung geneigter machen, indem sie zeigt, daß keine einigermaßen haltbare Antwort gegeben werden kann. Käme im Urteilen nicht eine zweite und eigentümliche Weise der Beziehung zum Vorstellen hinzu; wäre also die Weise, wie der Gegenstand des Urteils im Bewußtsein ist, wesentlich dieselbe wie die, welche Gegenständen, insofern sie vorgestellt werden, zukommt: so könnte ihr Unterschied wohl nur gefunden werden entweder in einem Unterschiede des Inhalts, d. h. in einem Unterschiede zwischen den Gegenständen, auf welche sich Vorstellung und Urteil beziehen, oder in einem Unterschiede der Vollkommenheit, mit welcher derselbe Inhalt36 beim bloßen Vorstellen und beim Urteilen von uns gedacht wird. Denn zwischen dem Denken, welches wir Vorstellen, und demjenigen, welches wir Urteilen nennen, besteht ja doch ein innerer Unterschied. A. Bain allerdings hatte den unglücklichen Gedanken, den Unterschied zwischen Vorstellen und Urteilen nicht in diesen Denktätigkeiten selbst, sondern in den daran geknüpften Folgen zu suchen. Weil wir dann, wann wir etwas nicht bloß vorstellen, sondern auch für wahr halten, in besonderer Weise bei unserem Wollen und Handeln es maßgebend werden lassen, so meinte er, der Unterschied des Fürwahrhaltens von dem bloßen Vorstellen bestehe in nichts anderem als in diesem Einflusse auf den Willen. Das Vorstellen, welches einen solchen Einfluß übe, sei dadurch, daß es ihn übe, ein Glauben (belief ). Ich nannte diese Theorie eine unglückliche. Und in der Tat, woher kommt es denn, daß das eine Vorstellen des Gegenstandes jenen Einfluß auf das Handeln hat, das andere aber ihn nicht hat? – Das bloße Aufwerfen der Frage genügt, um das Versehen, dessen Bain sich schuldig 36

Die Weise, in welcher ich hier den Namen „Inhalt“ gebrauche, und welche ich, meiner Absicht getreuer Reproduktion entsprechend, auch in dieser Ausgabe beibehalte, ist kaum empfehlenswert. Sie entfernt sich von dem, was gemeinüblich ist. Denn niemand dürfte von dem Urteil „Gott ist“ sagen, daß es mit dem Urteil „Gott ist nicht“ denselben Inhalt habe, weil es mit ihm dasselbe Objekt hat. In den Bemerkungen, die ich dieser Ausgabe als Anhang beifüge, habe ich selbst das Wort „Inhalt“ nicht in diesem, hier ihm gegebenen ungewöhnlichen Sinne genommen, sondern mich an den gemeinüblichen gehalten. [Anm. 1911]

3. Kapitel. Vorstellung u. Urteil zwei verschiedene Grundklassen. 327

machte, deutlich zu zeigen. Die besonderen Folgen würden nicht sein, wenn nicht ein besonderer Grund dafür in der Beschaffenheit des Denkens gegeben wäre. Weit entfernt, daß der Unterschied in den Folgen die Annahme einer inneren Verschiedenheit zwischen der bloßen Vorstellung und dem Urteil entbehrlich machte, weist er vielmehr nachdrücklich auf eine solche innere Verschiedenheit hin. Von John Stuart Mill bekämpft37, hat darum Bain selbst die von ihm in seinem großen Werke über die Gemütsbewegungen und den Willen38, so wie in den ersten Ausgaben seines Kompendiums der Psychologie vertretene Behauptung in einer Schlußbemerkung zu dessen dritter Auflage als irrig anerkannt und zurückgenommen39. In einen ähnlichen Fehler ist der ältere Mill40 und in neuester Zeit wieder Herbert Spencer41 gefallen. Diese beiden Philosophen sind der Meinung, das Vorstellen einer Vereinigung von zwei Merkmalen sei dann mit Glauben (belief ) verbunden, wenn sich in dem Bewußtsein zwischen den beiden Merkmalen eine untrennbare Assoziation gebildet habe, d. h. wenn die Gewohnheit zwei Merkmale verbunden vorzustellen so stark geworden sei, daß die Vorstellung des einen Merkmals unausbleiblich und unwiderstehlich auch das andere ins Bewußtsein rufe und mit ihm verknüpfe. In nichts anderem als in einer solchen untrennbaren Assoziation, lehren sie, bestehe das Glauben. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob wirklich in jedem Falle, in welchem eine gewisse Verbindung von Merkmalen für wahr gehalten wird, eine untrennbare Assoziation zwischen ihnen bestehe, und ob wirklich in jedem Falle, in welchem eine solche Assoziation sich gebildet hat, die Verbindung für wahr gehalten werde. Angenommen vielmehr, beides sei richtig, so ist es doch leicht erkennbar, daß diese Bestimmung des Unterschiedes zwischen Urteil und Vorstellung nicht genügen kann, da, wenn der angegebene Unterschied allein zwischen dem Urteil und der betreffenden Vorstellung bestände, beide in sich selbst betrachtet ein völlig gleiches Denken sein würden. Die Gewohnheit zwei Merkmale vereinigt zu denken ist nicht selbst ein Denken oder die besondere Beschaffenheit eines Denkens, sondern eine 37 In einer Note zur Analysis of the Phenomena of the Human Mind von James Mill, 2. edit., I, p. 402. 38 The Emotions and the Will. 39 Mental and. Moral Science, 3. edit. London 1872. Note on the chapter on Belief, Append. p. 100. 40 Anal. of the Phenom. of the Human Mind. Chapt. XI. 41 Principles of Psychology, 2. edit. I. London and Edinburgh 1870. Sieh darüber J. St. Mill in einer Note zu dem eben zitierten Kapitel der Anal. p. 402.

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Disposition, die einzig und allein in ihren Folgen sich offenbart. Und die Unmöglichkeit von zwei Merkmalen das eine ohne das andere zu denken, ist ebenso wenig selbst ein Denken oder die besondere Beschaffenheit eines Denkens; sie ist vielmehr nach der Ansicht der genannten Philosophen nur ein besonders hoher Grad jener Disposition. Wenn sich diese Disposition nur darin offenbart, daß die Verbindung von Merkmalen ausnahmslos, aber ganz in derselben Weise wie vor ihrer Erwerbung gedacht wird, so ist es klar, daß, wie wir sagten, zwischen dem Denken vorher, welches ein bloßes Vorstellen, und dem Denken nachher, welches ein Glauben sein soll, in sich selbst kein Unterschied besteht. Wenn sich die Disposition aber noch in anderer Weise von Einfluß zeigt, so daß nach ihrer Erwerbung das Denken der Verbindung modifiziert ist und eine neue, besondere Beschaffenheit erlangt hat, so muß man sagen, daß in dieser Beschaffenheit, nicht aber in der inseparabelen Assoziation, aus welcher sie hervorgeht, der eigentliche Unterschied des Fürwahrhaltens vom bloßen Vorstellen anzuerkennen sei. Darum sagte ich, der Fehler von James Mill und Herbert Spencer sei demjenigen von Bain verwandt. Denn, wie Bain eine Besonderheit der Folgen mit der inneren Besonderheit des Fürwahrhaltens verwechselte, so haben der ältere Mill und Spencer etwas als Besonderheit dieser Weise des Denkens geltend gemacht, was sie nur etwa als Ursache seiner Besonderheit hätten bezeichnen dürfen. § 3.   So viel also steht fest, daß der Unterschied zwischen Vorstellen und Urteilen ein innerer Unterschied des einen Denkens vom anderen sein muß. Und wenn dies, so gilt, was wir oben gesagt haben, daß nämlich, wer unsere Anschauung über das Urteilen bestreitet, die Verschiedenheit, die zwischen ihm und dem bloßen Vorstellen besteht, nur in einem von beiden, entweder in einem Unterschiede der gedachten Gegenstände, oder in einem Unterschiede der Vollkommenheit, mit welcher sie gedacht werden, suchen kann. Ziehen wir von diesen zwei Annahmen zunächst die letztere in Erwägung. Wo es sich um einen Unterschied der Vollkommenheit zweier psychischer Tätigkeiten handelt, die sowohl hinsichtlich der Weise ihrer Beziehung auf das Objekt als auch hinsichtlich des Inhalts, auf welchen sie sich beziehen, übereinstimmen, da kann wohl von nichts anderem als von einem Unterschiede der Stärke des einen und anderen Aktes die Rede sein. Die Frage, die wir zu untersuchen haben, ist also keine andere als die, ob etwa darin die Besonderheit des Urteilens gegenüber dem Vorstellen bestehe, daß beim Urteilen der Inhalt mit größerer Intensität gedacht, also das Vorstellen eines

3. Kapitel. Vorstellung u. Urteil zwei verschiedene Grundklassen. 329

Objektes durch eine Zunahme seiner Intensität zum Fürwahrhalten gesteigert werde. Es leuchtet ein, daß eine solche Auffassung nicht richtig sein kann. Nach ihr wäre das Urteil eine stärkere Vorstellung, die Vorstellung ein schwächeres Urteil. Aber ein Vorgestelltsein, wenn auch noch so klar und deutlich und lebendig, ist nicht ein Beurteiltsein, und ein mit noch so geringer Zuversicht gefälltes Urteil ist nicht eine bloße Vorstellung. Allerdings mag es geschehen, daß einer etwas, was ihm mit fieberhafter Lebhaftigkeit in der Phantasie erscheint wie etwas, was er sieht, für wirklich nimmt, was er nicht tun würde, wenn es ihm in schwächerem Eindrucke erschiene; aber wenn mit der größeren Stärke einer Vorstellung in gewissen Fällen ein Fürwahrhalten gegeben ist, so ist sie deshalb nicht selbst das Fürwahrhalten. Die Illusion kann darum schwinden, während die Lebendigkeit der Vorstellung beharrt. Und in anderen Fällen hält man mit aller Zuversicht etwas für wahr, obwohl der Inhalt des Urteils nichts weniger als lebendig vorgestellt wird. Wie endlich sollte, wenn die Anerkennung eines Gegenstandes ein starkes Vorstellen wäre, die verneinende Verwerfung desselben gefaßt werden? Gewiß wäre es unnütz, wollten wir uns länger mit der Bekämpfung einer Hypothese aufhalten, bei welcher schon von vornherein nur wenige geneigt sein werden, sie zu vertreten. Sehen wir vielmehr, ob es uns ebenso gelingen wird, den anderen Weg, auf welchem man mit größerem Scheine unsere Annahme für vermeidlich halten könnte, als einen unmöglichen nachzuweisen. § 4.   In der Tat geht eine sehr gewöhnliche Meinung dahin, daß das Urteilen in einem Verbinden oder Trennen bestehe, welches in dem Bereiche unseres Vorstellens sich vollziehe, und das bejahende Urteil und, in etwas modifizierter Art, auch das verneinende werden darum im Gegensatze zur bloßen Vorstellung sehr gewöhnlich als ein zusammengesetztes oder auch beziehendes Denken bezeichnet. So gefaßt würde das, was den Unterschied des Urteilens vom bloßen Vorstellen ausmachte, wirklich nichts anderes sein als ein Unterschied des Urteilsinhaltes vom Inhalte des bloß vorstellenden Denkens. Würde eine gewisse Art von Verbindung oder Beziehung zweier Merkmale gedacht, so wäre der Gedanke ein Urteil, während jeder Gedanke, der nicht eine solche Beziehung zum Inhalte hätte, eine bloße Vorstellung genannt werden müßte. Aber auch diese Ansicht ist unhaltbar. Nehmen wir an, es sei richtig, daß immer nur eine gewisse Art von Verbindung mehrerer Merkmale den Inhalt eines Urteils bilde, so wird dies die

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Urteile zwar von einigen, keineswegs aber von allen Vorstellungen unterscheiden. Denn offenbar kommt es vor, daß ein Denkakt, welcher nichts als ein bloßes Vorstellen ist, eine vollkommen ähnliche, ja eine völlig gleiche Zusammensetzung mehrerer Merkmale zum Inhalte hat, wie diejenige, welche in einem anderen Falle den Gegenstand eines Urteils bildet. Wenn ich sage: irgend ein Baum ist grün, so bildet das Grün als Eigentümlichkeit mit einem Baume verbunden den Inhalt meines Urteils. Es könnte mich aber einer fragen: ist irgend ein Baum rot? und ich, in der Pflanzenwelt nicht genugsam erfahren und uneingedenk der herbstlichen Farbe der Blätter, könnte mich jedes Urteils über die Frage enthalten. Aber dennoch würde ich die Frage verstehen und mir infolgedessen einen roten Baum vorstellen. Das Rot, ganz ähnlich wie zuvor das Grün, als Eigentümlichkeit mit einem Baume verbunden, würde dann den Inhalt einer Vorstellung bilden, mit welcher kein Urteil gegeben wäre. Und hätte jemand nur Bäume mit roten und niemals einen mit grünen Blättern gesehen, so würde er vielleicht bei einer Frage über grüne Bäume nicht bloß eine ähnliche, sondern sogar dieselbe Verbindung von Merkmalen, die der Inhalt meines Urteils war, in bloßer Vorstellung erfassen. Offenbar hatten James Mill und Herbert Spencer dies erkannt, da sie bei der Bestimmung der Eigentümlichkeit des Urteils nicht wie die meisten anderen dabei stehen blieben, daß der Inhalt des Urteils eine gewisse Art von Verbindung vorgestellter Merkmale sei, sondern als eine weitere Bedingung hinzufügten, daß eine inseparabele Assoziation zwischen denselben bestehen müsse. Und auch A. Bain hatte darum für nötig gehalten, noch eine besondere Bestimmung hinzuzufügen, nämlich den Einfluß des Denkens auf das Handeln. Der Fehler, den sie begingen, war nur der, daß sie nicht in der Angabe einer inneren Besonderheit des urteilenden Denkens, sondern in einem Unterschiede von Dispositionen oder Folgen die Ergänzung suchten. Glücklicher war hier John Stuart Mill, der den besprochenen Punkt mit großem Nachdrucke hervorhob und überhaupt mehr als irgend ein anderer Philosoph einer richtigen Würdigung des Unterschiedes zwischen Vorstellung und Urteil nahe gekommen ist. „Es ist“, sagt er in seiner Logik, „ganz richtig, daß wir, wenn wir urteilen ‚Gold ist gelb‘, die Idee von Gold und die Idee von gelb haben, und daß beide Ideen in unserem Geiste zusammengebracht werden müssen. Es ist aber klar, daß dies nur ein Teil von dem ist, was vorgeht; denn wir können zwei Ideen zusammenstellen, ohne daß ein Glauben stattfindet, wie wenn wir etwas, z. B. einen goldenen Berg, nur erdichten, oder wenn wir geradezu

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nicht glauben; denn sogar um nicht zu glauben, daß Mohammed ein Apostel Gottes war, müssen wir die Idee von Mohammed und die eines Apostels Gottes zusammenstellen. Zu bestimmen, was im Falle von Zustimmung oder Leugnung außer dem Zusammenstellen zweier Ideen noch weiter vorgeht, ist eines der verwickeltsten metaphysischen Probleme42.“ In seinen kritischen Noten zu James Mills Analyse der Phänomene des menschlichen Geistes geht er tiefer in die Sache ein. Er bekämpft in dem Kapitel über die Aussage (Prädikation) die Ansicht, welche in ihr in ähnlicher Weise den Ausdruck für eine gewisse Ordnung von Ideen wie in dem Namen den Ausdruck für eine einzelne Idee sehen wollte. Der charakteristische Unterschied zwischen einer Aussage und einer anderen Form des Sprechens, behauptet er seinerseits, sei vielmehr der, daß sie nicht bloß ein gewisses Objekt vor den Geist bringe, sondern daß sie etwas darüber behaupte, daß sie nicht bloß zur Vorstellung einer gewissen Ordnung von Ideen, sondern zum Glauben an sie anrege, indem sie anzeige, daß diese Ordnung eine wirkliche Tatsache sei43. Wiederholt kommt er darauf zurück, sowohl bei demselben44 als bei späteren Kapiteln, wie beim Kapitel über das Gedächtnis, wo außer der Idee von dem Dinge und der Idee davon, daß ich es gesehen, nebst anderem auch noch der Glauben, daß ich es gesehen habe, hinzukommen müsse45. Besonders ausführlich handelt er aber in einer langen Anmerkung zum Kapitel „Belief“ von der eigentümlichen Natur des Urteils gegenüber der bloßen Vorstellung. Er zeigt wiederum deutlich, daß es sich nicht in bloße Vorstellungen auflösen und durch bloße Zusammensetzung von Vorstellungen bilden lasse. Vielmehr, sagt er, müsse man jeden Versuch einer Ableitung der einen aus der anderen Erscheinung als etwas Unmögliches anerkennen und den Unterschied zwischen Vorstellung und Urteil als 42 43

44 45

Ded. u. Ind. Logik Buch I, Kap. 5, § 1. The characteristic difference between a predication and any other form of speech, is that it does not merely bring to mind a certain object ...; it asserts something respecting it ... Whatever view we adopt of the psychological nature of Belief, it is necessary to distinguish between the mere suggestion to the mind of a certain order among sensations or ideas – such as takes place when we think of the alphabet, or the numeration table – and the indication that this order is an actual fact, which is occurring, or which has occurred once or oftener, or which, in certain definite circumstances, always occurs; which are the things indicated as true by an affirmative predication, and as false by a negative one. (Anal. of the Phenom. of the Human Mind 2. edit. Ch. IV, Sect. 4, Note 48, I, p. 162 s.) Ebend. Note 55, I, p. 187. Ebend. Ch. X, Note 91, I, p. 329.

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eine letzte und ursprüngliche Tatsache betrachten. „Kurzum“, fragt er am Schlusse einer längeren Erörterung, „was ist für unseren Geist der Unterschied zwischen dem Gedanken, es sei etwas wirklich, und der Vorstellung eines von der Einbildungskraft entworfenen Gemäldes? Ich gestehe, daß ich keinen Ausweg finde, auf dem man sich der Ansicht entziehen könnte, daß der Unterschied ein letzter und ursprünglicher ist46.“ Wir sehen, J. St. Mill erkennt hier einen Unterschied an, ähnlich dem, welchen Kant und andere zwischen Denken und Gefühl geltend gemacht haben. In ihrer Sprache ausgedrückt, würde die Behauptung von Mill diese sein, daß für Vorstellen und Glauben oder, wie wir sagen würden, für Vorstellen und Urteilen zwei verschiedene Urvermögen angenommen werden müssen. Nach unserer Ausdrucksweise aber ist seine Lehre die, daß Vorstellen und Urteilen zwei völlig verschiedene Arten der Beziehung auf einen Inhalt, zwei grundverschiedene Weisen des Bewußtseins von einem Gegenstande seien. Also, wie gesagt, angenommen sogar es finde wirklich bei jedem Urteilen ein Verbinden oder Trennen vorgestellter Merkmale statt – und John ­Stuart Mill war in der Tat dieser Ansicht47 –: so besteht hierin doch nicht die wesentliche Eigentümlichkeit des urteilenden im Gegensatz zu dem bloß vorstellenden Denken. Eine solche Eigentümlichkeit des Inhaltes würde die Urteile zwar von einigen, nicht aber schlechthin von allen Vorstellungen unterscheiden. Und sie würde darum die Annahme einer anderen und mehr charakteristischen Besonderheit, wie die, welche wir in dem Unterschiede der Weise des Bewußtseins anerkennen, nicht entbehrlich machen. § 5.   Aber noch mehr. Es ist nicht einmal richtig, daß bei allem Urteilen eine Verbindung oder Trennung vorgestellter Merkmale statt hat. So wenig als das Begehren oder Verabscheuen, so wenig ist auch das Anerkennen oder Verwerfen ausschließlich auf Zusammensetzungen oder Beziehungen gerichtet. Auch ein einzelnes Merkmal, das wir vorstellen, kann anerkannt oder verworfen werden. 46 47

„that the distinction is ultimate and primordial.“ (Ebend. I, p. 412.) Sowohl in seiner Logik gibt sie sich zu erkennen, wo Mill von dem Inhalte der Urteile handelt (Buch I, Kap. 5) als auch in seinen Noten zu dem genannten Werke seines Vaters. So z. B. in folgender Stelle: „I think it is true, that every assertion, every object of Belief, – everything that can be true or false – that can be an object of assent or dissent – is some order of sensations or of ideas: some coexistence or succession of sensations or ideas actually experienced, or supposed capable of being experienced.“ (a. a. O. Ch. IV, Note 48, p. 162.)

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Wenn wir sagen, „A ist“, so ist dieser Satz nicht, wie viele geglaubt haben und noch jetzt glauben, eine Prädikation, in welcher die Existenz als Prädikat mit A als Subjekt verbunden wird. Nicht die Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, sondern „A“ selbst ist der Gegenstand, den wir anerkennen. Ebenso wenn wir sagen, „A ist nicht“, so ist dies keine Prädikation der Existenz von A in entgegengesetztem Sinne, keine Leugnung der Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, sondern „A“ ist der Gegenstand, den wir leugnen. Damit dies recht deutlich werde, mache ich darauf aufmerksam, daß, wer ein Ganzes anerkennt, jeden einzelnen Teil des Ganzen einschließlich anerkennt. Wer immer daher eine Verbindung von Merkmalen anerkennt, erkennt einschließlich jedes einzelne Element der Verbindung an. Wer anerkennt, daß ein gelehrter Mann, d. h. die Verbindung eines Mannes mit dem Merkmale „Gelehrsamkeit“ sei, erkennt einschließlich an, daß ein Mann sei. Wenden wir dies an auf das Urteil „A ist“. Wäre dieses Urteil die Anerkennung der Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, so würde darin einschließlich die Anerkennung jedes einzelnen Elementes der Verbindung, also auch die Anerkennung von A liegen. Wir kämen also an der Annahme einer einschließlichen einfachen Anerkennung von A nicht vorbei. Aber wodurch würde sich diese einfache Anerkennung von A von der Anerkennung der Verbindung von A mit dem Merkmale „Existenz“, welche in dem Satze „A ist“ ausgesprochen sein soll, unterscheiden? Offenbar in gar keiner Weise. Somit sehen wir, daß vielmehr die Anerkennung von A der wahre und volle Sinn des Satzes, also nichts anderes als A Gegenstand des Urteils ist. Erwägen wir in derselben Weise den Satz „A ist nicht“; vielleicht wird seine Betrachtung die Wahrheit unserer Auffassung noch einleuchtender machen. Wenn derjenige, welcher ein Ganzes anerkannt, jeden Teil des Ganzen einschließlich anerkennt, so gilt doch nicht ebenso, daß derjenige, welcher ein Ganzes leugnet, jeden Teil des Ganzen einschließlich leugnet. Wer leugnet, daß es weiße und blaue Schwäne gibt, leugnet darum nicht einschließlich, daß es weiße Schwäne gibt. Und natürlich; da, wenn auch nur ein Teil falsch ist, das Ganze nicht wahr sein kann. Wer daher eine Verbindung von Merkmalen verwirft, verwirft dadurch keineswegs einschließlich jedes einzelne Merkmal, welches Element der Verbindung ist. Wer z. B. leugnet, daß es einen gelehrten Vogel, d. h. die Verbindung eines Vogels mit dem Merkmale „Gelehrsamkeit“ gebe, leugnet damit nicht einschließlich, daß ein Vogel, oder daß Gelehrsamkeit in Wirklichkeit bestehe. Machen wir auch hievon auf unseren Fall Anwendung. Wäre das Urteil „A ist nicht“ die Leugnung der

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Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit „A“, so würde damit keineswegs A selbst geleugnet sein. Das aber wird unmöglich jemand behaupten. Vielmehr ist klar, daß nichts anderes als eben dies der Sinn des Satzes ist. Somit ist auch nichts anderes als A der Gegenstand dieses verwerfenden Urteils. § 6.   Daß die Prädikation nicht zum Wesen eines jeden Urteils gehört, geht auch daraus recht deutlich hervor, daß jede Wahrnehmung zu den Urteilen zählt; ist sie ja eine Erkenntnis oder doch ein, wenn auch irrtümliches, Fürwahrnehmen. Wir haben dies, da wir von den verschiedenen Momenten des inneren Bewußtseins sprachen, schon berührt48. Und es wird auch von solchen Denkern nicht geleugnet, welche dafür halten, daß jedes Urteilen in einem Verbinden von Subjekt und Prädikat bestehe. So erkennt z. B. J. St. Mill es ausdrücklich an sowohl anderwärts als auch an der zuletzt von uns zitierten Stelle. Es liege, fügt er hier bei, keine größere Schwierigkeit darin, so, wie er es getan, den Unterschied zwischen dem Anerkennen einer Realität und dem Vorstellen eines imaginären Gebildes für einen letzten und ursprünglichen zu halten, als darin, den Unterschied zwischen einer Sensation und einer Idee49 für einen ursprünglichen zu erklären. Es scheine dieser kaum etwas anderes als dieselbe Differenz unter verändertem Gesichtspunkte betrachtet50. Nun dürfte es aber nicht leicht etwas geben, was offenbarer und unverkennbarer wäre, als daß eine Wahrnehmung nicht in der Verbindung eines Subjekt- und Prädikatbegriffes bestehe, oder sich auf eine solche beziehe, daß vielmehr der Gegenstand einer inneren Wahrnehmung nichts anderes als ein psychisches Phänomen, der Gegenstand einer äußeren nichts anderes als ein physisches Phänomen, Ton, Geruch oder dergleichen sei. Also haben wir hier einen recht augenscheinlichen Beleg für die Wahrheit unserer Behauptung. Oder sollte einer auch hier noch Bedenken hegen? Sollte er, weil man nicht bloß sagt, man nehme eine Farbe, einen Ton, man nehme ein Sehen, ein Hören wahr, sondern auch, man nehme wahr, daß ein Sehen, Hören exis48 Buch II, Kap. 3, § 1, ff. m. Psych. v. emp. St. 49 Im Sinne Humes, s. m. Psych. v. emp. St. Buch I, Kap. 1, § 2, S. 28. 50 Er fährt fort: There is no more difficulty in holding it to be so, than in holding the difference between a sensation and an idea to be primordial. It seems almost another aspect of the same difference. Ebenso sagt er im Verlaufe derselben Abhand­lung: The difference [between recognising something as a reality in nature, and regarding it as mere thought of our own] presents itself in its most elementary form in the distinction between a sensation and an idea. (a. a. O. p. 419.)

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tiere, sich zu dem Glauben verleiten lassen, auch die Wahrnehmung bestehe in der Anerkennung der Verbindung eines Merkmals „Existenz“ mit dem betreffenden Phänomene? Mir scheint eine solche Verkennung offen liegender Tatsachen fast undenkbar. Doch aufs neue und mit einer vorzüglichen Klarheit wird sich die Unhaltbarkeit einer solchen Meinung aus der Erörterung des Begriffes der Existenz ergeben. Manche waren der Ansicht, daß dieser Begriff nicht der Erfahrung entnommen sein könne. Wir werden darum bei der Untersuchung über die sogenannten angeborenen Ideen ihn in dieser Hinsicht zu prüfen haben. Und wir werden dann finden, daß er allerdings der Erfahrung, aber der inneren Erfahrung entstammt und nur im Hinblick auf das Urteil gewonnen wurde. So wenig daher der Begriff des Urteils in dem ersten Urteile Prädikat sein konnte, so wenig der Begriff der Existenz. Und darum erkennt man auch auf diesem Wege, daß wenigstens die erste Wahrnehmung, diejenige, welche in dem ersten psychischen Phänomene gegeben war, unmöglich in einer solchen Prädikation bestanden haben kann. J. St. Mill definiert in der letzten (achten) Ausgabe seiner Logik den Begriff „Existenz“ in folgender Weise. Sein, sagt er, heiße so viel als irgendwelche (gleichviel welche) Sinnesempfindungen oder sonstige Bewußtseinszustände erregen oder erregen können51. Obwohl ich diese Bestimmung nicht vollkommen billige, so würde doch auch sie genügen, um die Unmöglichkeit, daß bei der ersten Empfindung der Begriff „Existenz“ als Prädikat des Urteils benützt werden konnte, recht anschaulich zu machen. Denn darin stimmt sie mit derjenigen, welche wir als die richtige darzutun hoffen, überein, daß sie erst im Hinblick auf psychische Tätigkeiten gewonnen werden konnte, die in jenem Falle umgekehrt ihrerseits ihn voraussetzen und als einen schon gegebenen verwenden würden. § 7.   Daß nicht jedes Urteil auf eine Verbindung vorgestellter Merkmale sich beziehe, und die Prädikation eines Begriffes von einem anderen nicht unumgänglich dazu gehöre, ist eine Wahrheit, die zwar gewöhnlich, aber doch nicht ausnahmslos verkannt wurde. Kant hat bei seiner Kritik des ontologischen Gottesbeweises die treffende Bemerkung gemacht, in einem Existentialsatze, d. h. in einem Satze von der Formel „A ist“, sei das Sein „kein reales Prädikat, d. i. ein Begriff von etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne“. „Es ist“, sagte er, „bloß die Position eines 51

Übersetzung von Gomperz, Anhang, III, S. 373.

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Dinges oder gewisser Bestimmungen an sich selbst.“ Anstatt aber nun zu erklären, daß der Existentialsatz überhaupt kein kategorischer Satz sei, weder ein im Kantschen Sinne analytischer, d. h. ein solcher, bei welchem das Prädikat im Subjekt eingeschlossen ist, noch ein synthetischer, bei welchem das Subjekt das Prädikat nicht in sich begreift52, ließ Kant sich dazu verleiten, den Satz zu den synthetischen zu rechnen, indem er meinte, wie das „ist“ der Copula gewöhnlich zwei Begriffe zueinander in Beziehung setze, so setze das „ist“ in dem Existentialsatz „den Gegenstand in Beziehung auf meinen Begriff“. „Der Gegenstand“, sagt er, „kommt zu meinem Begriffe synthetisch hinzu53.“ Dies war eine unklare und widerspruchsvolle Halbheit. Herbart machte ihr ein Ende, indem er die Existentialsätze deutlich als eine besondere Art von den kategorischen Sätzen unterschied54. Andere Philosophen, und nicht bloß seine zahlreichen Anhänger, sondern bis zu gewissem Maße auch solche, die, wie Trendelenburg, der Herbartschen Schule gewöhnlich polemisch entgegentreten, haben sich ihm in diesem Punkte angeschlossen55. 52

Auch diese Bestimmungen gebe ich nach Kant. Daß sie eigentlich nicht auf die betreffenden Urteile passen (was aus den folgenden Untersuchungen hervorgehen wird), hindert nicht, daß sie, wegen ihrer Übereinstimmung mit der Ansicht, die man gemeiniglich von ihnen hat, sie genugsam kennzeichnen. 53 Daß Kant die Urteile der Existentialsätze noch mit zu den kategorischen Urteilen rechnete, ersieht man daraus, daß er ihrer bei der Relation der Urteile nicht besonders erwähnt. Ganz ebenso nahe wie Kant ist im Mittelalter Thomas von Aquin der Wahrheit gekommen, und merkwürdigerweise in Reflexion auf denselben Satz „Gott ist“. Auch nach ihm soll das „ist“ kein reales Prädikat, sondern ein Zeichen des Fürwahrhaltens sein. (Summ. Theol. P. I, Q. 3, A. 4 ad 2.) Aber auch er hält dennoch den Satz für kategorisch (ebend.) und glaubt, daß das Urteil einen Vergleich unserer Vorstellung mit ihrem Gegenstande enthalte, was nach ihm von jedem Urteile gelten soll. (Q. 16, A. 2.) Daß dies unmöglich ist, haben wir früher gesehen. (Vgl. Buch II, Kap. 3, § 2, S. 157 ff. d. Psych. v. emp. St.) 54 Vgl. darüber Drobisch, Logik, 3. Aufl. S. 61. 55 Logische Untersuchungen 2. Aufl., II, S. 208. Vgl. auch das Zitat aus Schleierma­ cher (ebenda S. 214, Anm. 1). Anklänge an die richtige Auffassung der Existentialsätze finden sich schon bei Aristoteles. Doch scheint er nicht zu voller Klarheit über sie gelangt zu sein. In seiner Metaphysik, Θ, 10 lehrt er, daß, da die Wahrheit des Denkens in seiner Übereinstimmung mit den Dingen bestehe, die Erkenntnis einfacher Gegenstände im Gegensatze zu anderen Erkenntnissen nicht eine Verbindung oder Trennung von Merkmalen, sondern ein einfaches Denken, ein Wahrnehmen (er nennt es Berühren, θιγεῖν) sein müsse. In der Schrift „De Interpretatione“ (Kap. 3) spricht er klar aus, daß das „Sein“ der Copula nicht etwas für

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Aber noch mehr. Wenn auch nicht alle Denker die von uns vertretene Auffassung des Existentialsatzes bereits als richtig anerkennen, so geben doch gegenwärtig alle ohne Ausnahme eine andere Wahrheit zu, aus welcher sich dieselbe mit größter Stringenz erschließen läßt. Auch diejenigen, welche die Natur des „ist“ und „ist nicht“ in dem Existentialsatze mißdeuten, beurteilen doch das „ist“ und „ist nicht“, welche als Copula zu einem Subjekt und Prädikat hinzukommen, vollkommen richtig. Wenn sie glauben, daß das „ist“ und „ist nicht“ im Existentialsatze etwas für sich allein bezeichne, daß es die Vorstellung des Prädikats „Existenz“ zu der Vorstellung des Subjekts hinzubringe, um beide miteinander zu verknüpfen: so erkennen sie dagegen hinsichtlich der Copula an, daß sie, für sich allein genommen ohne alle Bedeutung, nur den Ausdruck von Vorstellungen zum Ausdrucke eines anerkennenden oder verwerfenden Urteils ergänze. Hören wir z. B. J. St. Mill, der in der Auffassung des Existentialsatzes unser Gegner ist: „Ein Prädikat und ein Subjekt“, sagt er, „sind alles, was nötig ist, um ein Urteil zu bilden. Da wir aber aus der bloßen Zusammenstellung zweier Namen nicht ersehen können, daß sie Prädikat und Subjekt sind, d. h. daß das eine von dem anderen behauptet oder verneint werden soll, so muß ein Modus oder eine Form da sein, woraus sich das erkennen läßt, irgendein Zeichen, um eine Prädikation von jeder anderen Redeform zu unterscheiden ... Diese Funktion wird bei einer Affirmation gewöhnlich von dem Worte ‚ist‘, bei einer Negation von ,ist nicht‘ oder durch einen anderen Teil des Zeitwortes ,sein‘ übernommen. Ein solches als Zeichen der Prädikation dienendes Wort wird Copula genannt56“. Von diesem „ist“ oder „ist nicht“ der Copula unterscheidet er dann ausdrücklich dasjenige, welches den Begriff der Existenz in seiner Bedeutung einschließe. Das ist die Lehre nicht allein von Mill, son-

56

sich bedeute wie ein Name, sondern nur den Ausdruck eines Urteils ergänze, und von diesem „Sein“ der Copula hat er das „Sein“ im Existentialsatze nie als etwas wesentlich anderes, und als etwas, was schon für sich eine Bedeutung habe, unterschieden. Zeller sagt mit Recht: „Daß jeder Satz, selbst der Existentialsatz, logisch betrachtet aus drei Bestandteilen besteht, sagt Aristoteles nirgends.“ Und er macht darauf aufmerksam, wie vielmehr manches eine entgegengesetzte Ansicht bei Aristoteles erkennen lasse. (Philos. d. Griechen II, 2, S. 158, Anm. 2.) Wäre dies richtig, so würde Aristoteles hiedurch nicht hinter der Lehre der gewöhnlichen späteren Logik zurückstehen, wie Zeller zu glauben scheint, sondern im Gegenteile hier wie in manchem anderen Punkte eine richtigere Anschauung antizipiert haben. (Man vgl. auch die Reproduktion der Aristotelischen Lehre bei Thomas von Aquin, Summ. Theol. P., I, Q. 85, A. 5.) Ded. u. Indukt. Logik. Übers. v. Schiel, I, S. 93.

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dern man darf sagen von allen, welche in der Auffassung des Existentialsatzes nicht mit uns übereinstimmen. Außer von Logikern findet man sie auch von Grammatikern und Lexikographen vertreten57. Und wenn J. St. Mill erst James Mill diese Auffassung klar entwickeln läßt58, so ist er sehr im Unrecht. Er hätte sie z. B. in der Logik von Port Royal schon ganz ebenso dargelegt finden können59. Wohlan denn, – es bedarf nicht mehr als dieses Zugeständnisses, welches unsere Gegner allgemein inbetreff der Copula machen, um daraus mit Notwendigkeit zu folgern, daß auch dem „ist“ und „ist nicht“ des Existentialsatzes keine andere Funktion zugeschrieben werden könne. Denn aufs Deutlichste läßt sich zeigen, daß jeder kategorische Satz ohne irgend welche Änderung des Sinnes in einen Existentialsatz übersetzt werden kann, und daß dann das „ist“ und „ist nicht“ des Existentialsatzes an die Stelle der Copula tritt. Ich will dies an einigen Beispielen nachweisen. Der kategorische Satz „irgendein Mensch ist krank“ hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein kranker Mensch ist“ oder „es gibt einen kranken Menschen“. Der kategorische Satz „kein Stein ist lebendig“ hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein lebendiger Stein ist nicht“ oder „es gibt nicht einen lebendigen Stein“. Der kategorische Satz „alle Menschen sind sterblich“ hat denselben Sinn wie der Existentialsatz „ein unsterblicher Mensch ist nicht“ oder „es gibt nicht einen unsterblichen Menschen“60. Der kategorische Satz „irgendein Mensch ist nicht gelehrt“ hat denselben Sinn wie der Existenzialsatz „ein ungelehrter Mensch ist“ oder „es gibt einen ungelehrten Menschen“. Da in den vier Beispielen, die ich wählte, die sämtlichen vier Klassen von kategorischen Urteilen, welche die Logiker zu unterscheiden pflegen61, ver57 Vgl. z. B. Heyses Wörterbuch der Deutschen Sprache. 58 Ebend. S. 95. 59 Logique ou l’Art de Penser, II. Partie, Chap. 3. 60 Die gewöhnliche Logik erklärt, die Urteile „alle Menschen sind sterblich“ und „kein Mensch ist nicht sterblich“ für äquipollent (vgl. z. B. Ueberweg, Logik, Th. 5, § 96, 2. Aufl., S. 235); in Wahrheit sind sie identisch. 61 Die partikulär bejahenden, die allgemein verneinenden, und die irrtümlich sogenannten allgemein bejahenden und partikulär verneinenden. In Wahrheit ist, wie die obige Rückführung auf die existentiale Formel deutlich erkennen läßt, kein

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treten sind, so ist die Möglichkeit der sprachlichen Umwandlung der kategorischen Sätze in Existentialsätze dadurch allgemein erwiesen; und es ist deutlich, daß das „ist“ und „ist nicht“ des Existentialsatzes nichts als ein Äquivalent der Copula, also kein Prädikat, und für sich allein genommen gänzlich bedeutungslos ist. Doch ist die von uns gegebene Rückführung der vier kategorischen Sätze auf Existentialsätze auch wirklich richtig? Gerade von seiten Herbarts, den wir zuvor als Zeugen anriefen, würde sie vielleicht beanstandet werden. Denn seine Auffassung der kategorischen Sätze war von der unserigen völlig verschieden. Er glaubte, daß jeder kategorische Satz ein hypothetisches Urteil ausdrücke, daß das Prädikat nur unter einer gewissen Voraussetzung, nämlich unter Voraussetzung der Existenz des Subjekts, demselben zu- oder abgesprochen werde. Gerade darauf gründete er seinen Beweisversuch dafür, daß der Existentialsatz nicht als ein kategorischer Satz gefaßt werden dürfe62. Nach uns dagegen entspricht der kategorische Satz einem Urteile, das man ebensogut in der existentialen Formel aussprechen kann, und die in Wahrheit affirmativen kategorischen Sätze enthalten einschließlich die Anerkennung des Subjektes63. Allein, so sehr wir die Ansicht Herbarts über das „Sein“ des Existentialsatzes billigen, so wenig können wir mit seiner Deduktion derselben uns einverstanden erklären. Vielmehr scheint uns diese ein Beispiel, das in ausgezeichneter Weise die Bemerkung des Aristoteles bestätigt, daß irrige Prämissen zu einem richtigen Schlußsatze führen können. Es ist eine starke, ja unmögliche Zumutung, zu glauben, daß der Satz „irgendein Mensch geht spazieren“ oder auch der oben angeführte „irgendein Mensch ist krank“ die stillschweigende Voraussetzung „wenn es nämlich einen Menschen gibt“ enthalte. Und ebenso ist es nicht bloß nicht richtig, sondern es hat auch nicht den mindesten Schein für sich, daß der Satz „irgendein Mensch ist nicht gelehrt“ diese Voraussetzung mache. Bei dem Satze „kein Stein ist lebendig“ bejahendes Urteil allgemein (es müßte denn ein Urteil mit individueller Materie allgemein genannt werden) und kein verneinendes Urteil partikulär. 62 Vgl. Drobisch, Logik, 3. Aufl., S. 59 ff. 63 Die in Wahrheit affirmativen sind nach dem, was in einer vorausgehenden Note bemerkt worden ist, das sogenannte partikulär bejahende und das sogenannte partikulär verneinende. Die in Wahrheit negativen Behauptungen, zu welchen auch die allgemein bejahenden gehören, enthalten selbstverständlich nicht die Anerkennung des Subjekts, da sie ja überhaupt nicht etwas anerkennen, sondern verwerfen. Warum sie auch nicht die Verwerfung des Subjekts enthalten, zeigt eine frühere Erörterung (S. 333 f.).

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wüßte ich gar nicht, was die Beschränkung „wenn es nämlich einen Stein gibt“ für eine Bedeutung haben sollte. Wenn es keinen Stein gäbe, so wäre es ja sicher eben so richtig, daß es keinen lebendigen Stein gibt, als jetzt, da Steine existieren. Nur bei dem Beispiele „alle Menschen sind sterblich“, einem von den gewöhnlich sogenannten allgemein bejahenden Sätzen, hat es allerdings einen gewissen Schein, als ob eine beschränkende Bedingung darin enthalten sei. Er scheint die Verbindung von „Mensch“ und „sterblich“ zu behaupten. Diese Verbindung von Mensch und sterblich besteht offenbar nicht, wenn kein Mensch besteht. Und doch läßt sich aus dem Satze „alle Menschen sind sterblich“ die Existenz eines Menschen nicht erschließen. Somit scheint er die Verbindung von Mensch und sterblich nur unter der Voraussetzung der Existenz eines Menschen zu behaupten. Doch ein Blick auf den diesem kategorischen Satze äquivalenten Existentialsatz löst die ganze Schwierigkeit. Er zeigt, daß der Satz in Wahrheit keine Bejahung, sondern eine Verneinung ist, und darum gilt von ihm Ähnliches wie das, was wir soeben über den Satz „kein Stein ist lebendig“ bemerkten. Wenn ich übrigens die Lehre Herbarts, daß alle kategorischen Sätze hypothetische Sätze seien, hier bekämpfte, so tat ich es nur, um meine oben gegebenen Übersetzungen in Existentialsätze im einzelnen zu rechtfertigen, nicht aber, weil in dem Falle, daß Herbart recht hätte, eine solche Rückführung unmöglich sein würde. Im Gegenteile gilt von den hypothetischen Sätzen dasselbe, was ich von den kategorischen sagte; auch sie lassen sich sämtlich in die existentiale Formel kleiden, und es ergibt sich dann, daß sie lauter verneinende Behauptungen sind. Ein Beispiel wird genügen, um zu zeigen, wie dasselbe Urteil ohne die geringste Veränderung sowohl in der Formel eines hypothetischen als in der eines kategorischen und eines Existentialsatzes ausgesprochen werden kann. Der Satz „wenn ein Mensch schlecht handelt, schädigt er sich selbst“ ist ein hypothetischer Satz. Er ist aber dem Sinne nach derselbe wie der kategorische Satz „alle schlechthandelnden Menschen schädigen sich selbst“. Und dieser wiederum hat keine andere Bedeutung als der Existentialsatz „ein sich selbst nicht schädigender schlechthandelnder Mensch ist nicht“ oder, etwas gefälliger ausgedrückt, „es gibt keinen sich selbst nicht schädigenden schlechthandelnden Menschen“. Die schwerfällige Gestalt, die der Ausdruck des Urteils in der existentialen Formel erhält, macht es sehr begreiflich, warum die Sprache außer ihr auch andere syntaktische Einkleidungen erfunden hat, aber mehr als ein Unterschied sprachlichen Ausdruckes liegt in der Verschiedenheit der drei Sätze nicht vor, obwohl der berühmte Philosoph von Königsberg sich verleiten

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ließ, um derartiger Verschiedenheiten willen fundamentale Unterschiede der Urteile anzunehmen, und besondere apriorische Kategorien auf diese „Relation der Urteile“ zu gründen. Die Rückführbarkeit der kategorischen, ja die Rückführbarkeit aller Sätze, welche ein Urteil ausdrücken, auf Existentialsätze ist also zweifellos64. Und 64

Es gibt noch gewisse Fälle, in welchen eine solche Rückführbarkeit aus spezielleren Gründen beanstandet werden könnte. Obwohl ich ihretwegen den Gang der Untersuchung im Texte nicht aufhalten will (denn mancher wird sich von vornherein wenig daran stoßen), so scheint es mir doch anderseits gut, sie wenigstens in einer Anmerkung zu berücksichtigen. J. St. Mill, wo er in seiner Logik die verschiedene Natur des „Seins“ der Copula und des „Seins“ des Existentialsatzes, welches nach ihm den Begriff der Existenz einschließt, klar machen will, beruft sich zur Verdeutlichung auf den Satz „ein Zentaur ist eine Erfindung der Poeten“. Dieser, sagt er, könne unmöglich eine Existenz aussagen, da vielmehr im Gegenteil daraus hervorgehe, daß das Subjekt kein reales Dasein besitze. (Buch I, Kap. 4, § 1.) Ein anderes Mal führt er zu ähnlichem Zwecke den Satz an: „Jupiter ist ein Non-Ens“. In der Tat sind diese Sätze von der Art, daß bei ihnen die Rückführbarkeit auf existentiale Sätze am wenigsten möglich scheint. Im Briefwechsel mit Mill hatte ich einmal die Frage über die Existentialsätze zur Sprache gebracht, und namentlich auch die Möglichkeit der Zurückführung einer jeden Aussage auf einen Existentialsatz dagegen geltend gemacht, daß das „Sein“ desselben sich zu dem der Copula so, wie er glaubte, verhalte. In seiner Antwort beharrte Mill auf seiner alten Auffassung. Und obwohl er nicht ausdrücklich der von mir dargelegten Rückführbarkeit aller anderen Aussagen auf existentiale widersprach, so vermutete ich doch, ich möge diesen Punkt meiner Beweisführung ihm nicht genugsam einleuchtend gemacht haben. Ich kam darum nochmals auf ihn zurück und besprach auch speziell die Beispiele in seiner Logik. Da ich unter meinen Papieren gerade ein Brouillon des Briefes finde, so will ich die kleine Erörterung hier wörtlich wiederholen. „Es dürfte“, schrieb ich, „nicht undienlich sein, wenn ich die Möglichkeit einer solchen Reduktion speziell an einem Satze zeige, welchen Sie in Ihrer Logik sozusagen als ein Beispiel, an dem das Gegenteil ersichtlich sei, anführen. Der Satz ,ein Zentaur ist eine Erfindung der Poeten‘ verlangt, wie Sie mit Recht bemerken, nicht, daß ein Zentaur existiere, vielmehr das Gegenteil. Allein er verlangt, um wahr zu sein, wenigstens, daß etwas anderes existiere, nämlich eine Fiktion der Poeten, die in einer besonderen Weise Teile des menschlichen Organismus und Teile des Pferdes verbindet. Wenn es keine Fiktion der Poeten gäbe, und wenn es keinen von den Poeten fingierten Zentauren gäbe, so wäre der Satz falsch; und seine Bedeutung ist tatsächlich keine andere als die, ,es gibt eine poetische Fiktion, welche einen menschlichen Oberleib mit dem Rumpfe eines Pferdes zu einem lebenden Wesen vereinigt denkt‘, oder (was dasselbe sagt) ,es gibt einen von den Poeten fingierten Zentauren‘. Ähnliches gilt, wenn ich sage, Jupiter sei ein Non-Ens, d. h. wohl, er sei etwas, was bloß in der Einbildung, nicht aber in Wirklichkeit bestehe. Die Wahrheit des Satzes verlangt nicht, daß es einen Jupiter, wohl aber, daß es etwas anderes gebe. Gäbe es nicht etwas, was bloß in der Vorstel­ lung existierte, so wäre der Satz nicht wahr. – Der besondere Grund, warum man

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dieses dient in doppelter Weise die irrige Meinung derjenigen zu widerlegen, welche den wesentlichen Unterschied des Urteils von der Vorstellung darin finden wollten, daß es eine Verbindung von Merkmalen zum Inhalt habe. Einmal tritt bei der Rückführung des kategorischen auf den Existentialsatz das „Sein“ des Existentialsatzes an die Stelle der Copula und läßt so erkenbei Sätzen wie ,der Zentaur ist eine Fiktion‘ geneigt ist, ihre Rückführbarkeit auf Existentialsätze anzuzweifeln, liegt in einem, wie mir scheint, von den Logikern bisher übersehenen Verhältnis ihrer Prädikate zu ihren Subjekten. Ähnlich wie die Adjektiva für das ihnen beigefügte Substantiv, sind auch die Prädikate für das mit ihnen verbundene Subjekt gewöhnlich etwas, was den Begriff durch neue Bestimmengen bereichert, manchmal aber etwas, was ihn modifiziert. Das erste gilt z. B., wenn ich sage ,ein Mensch ist gelehrt‘; das zweite, wenn ich sage ,ein Mensch ist tot‘. Ein gelehrter Mensch ist ein Mensch; ein toter Mensch ist aber kein Mensch. So setzt denn der Satz ,ein toter Mensch ist‘ nicht, um wahr zu sein, die Existenz eines Menschen, sondern nur die eines toten Menschen voraus; und ähnlich fordert der Satz ,ein Zentaur ist eine Fiktion‘ nicht, daß es einen Zentauren, sondern einen fingierten Zentauren, d. i. die Fiktion eines Zentauren gebe, usf.“ Vielleicht dient diese Erklärung dazu, ein Bedenken, das in jemand entstanden sein konnte, zu beseitigen. Was Mill selbst betrifft, so zeigte es sich, daß sie bei ihm gar nicht nötig gewesen wäre, denn er antwortete mir unterm 6. Februar 1873: „You did not, as you seem to suppose fail to convince me of the invariable convertibility of all categorical affirmative propositions into predications of existence (er meint affirmative Existentialsätze, die ich natürlich nicht als „Prädikationen von Existenz“ bezeichnet hatte). The suggestion was new to me, but I at once saw its truth when pointed out. It is not on that point that our difference hinges etc.” Daß Mill trotz der zugestandenen Rückführbarkeit aller kategorischen Sätze auf Existentialsätze seine Meinung, das „ist“ und „ist nicht“ in ihnen enthalte einen Prädikationsbegriff „Existenz“ wie früher festhielt, zeigt sich schon in der mitgeteilten Stelle seines Briefes, und er sprach es in dem darauf Folgenden noch entschiedener aus. Wie er aber dabei an seiner Lehre von der Copula festhalten könne, zeigte er nicht. Konsequent hätte er sie aufgeben und überhaupt noch vieles in seiner Logik (wie z. B. Buch I, Kap. 5, § 5) wesentlich umbilden müssen. Ich hoffte, im Frühsommer seiner Einladung nach Avignon folgend, über diese wie über andere zwischen uns schwebende Fragen mündlich mich leichter mit ihm verständigen zu können, und urgierte den Punkt nicht weiter. Doch sein plötzlicher Tod vereitelte meine Hoffnungen. Nur noch eine kurze Bemerkung will ich meiner Erörterung gegen Mill beifügen. Die Sätze von der Art wie „ein Mensch ist tot“ sind im wahren Sinne des Wortes gar nicht kategorisch zu nennen, weil tot kein Attribut, sondern, wie gesagt, eine Modifikation des Subjektes enthält. Was würde einer zu dem kategorischen Schlusse sagen: „alle Menschen sind lebende Wesen; irgend ein Mensch ist tot; also ist irgend ein totes ein lebendes Wesen?“ Er wäre aber, wenn die Minor ein wahrer kategorischer Satz wäre, ein gültiger Schluß der dritten Figur. Wollten wir nun mit Kant, solchen verschiedenen Aussageformen entsprechend, verschiedene Klassen von „Relation“ der Urteile annehmen, so hätten wir hier wieder neue

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nen, daß es so wenig wie diese ein Prädikat enthält. Dann sieht man recht anschaulich, wie die Verbindung mehrerer Glieder, die man für die allgemeine und besondere Natur der Urteile so wesentlich glaubte, die Kombination von Subjekt und Prädikat, von Antezedens und Konsequens usf., in Wahrheit nichts anderes als Sache des sprachlichen Ausdruckes ist. Hätte man dies von Anfang erkannt, so wäre wohl niemand auf den Gedanken gekommen, Vorstellungen und Urteile dadurch zu unterscheiden, daß der Inhalt der ersteren ein einfacher, der Inhalt der letzteren ein zusammengesetzter Gedanke sei. Denn in Wahrheit besteht hinsichtlich des Inhaltes nicht der geringste Unterschied. Der Bejahende, der Verneinende und der ungewiß Fragende haben denselben Gegenstand im Bewußtsein; der letzte, indem er ihn bloß vorstellt, die beiden ersten, indem sie ihn zugleich vorstellen und anerkennen oder verwerfen. Und jedes Objekt, das Inhalt einer Vorstellung ist, kann unter Umständen auch Inhalt eines Urteils werden. § 8.   Überblicken wir noch einmal rasch den Gang unserer Untersuchung in seinen wesentlichsten Momenten. Wir sagten, wenn man nicht zugebe, daß zwischen Vorstellung und Urteil ein Unterschied wie zwischen Vorstellung und Begehren, d. h. ein Unterschied in der Weise der Beziehung zum Gegenstand bestehe, so leugne doch niemand, daß irgendein Unterschied zwischen beiden anerkannt werden müsse. Ein bloß äußerer Unterschied, eine bloße Verschiedenheit in den Ursachen oder Folgen könne aber dieser Unterschied offenbar nicht sein. Vielmehr sei er, wenn man die Verschiedenheit der Beziehungsweisen ausschließe, nur in zweifacher Art denkbar; entweder als ein Unterschied in dem, was gedacht wird, oder als ein Unterschied der Intensität, mit welcher es gedacht wird. Wir prüften beide Hypothesen. Die zweite erwies sich sofort als hinfällig. Aber auch die erste, zu der man zunächst eher geneigt sein konnte, zeigte sich bei näherer Betrachtung als völlig unhaltbar. Wenn eine noch immer sehr gewöhnliche Meinung dahin geht, daß die Vorstellung auf einen einfacheren, das Urteil auf einen zusammengesetzteren Gegenstand, auf eine Verbindung oder Trennung gehe, so wiesen wir dagegen nach, daß auch bloße Vorstellungen diese zusammengesetzteren Gegenstände, und andererseits auch Urteile jene einfacheren Gegen„transzendentale“ Entdeckungen zu machen. In Wahrheit ist aber die besondere Aussageformel leicht abgestreift, indem der Existentialsatz „es gibt einen toten Menschen“ ganz und gar dasselbe besagt. Und somit, hoffe ich, wird man endlich einmal aufhören, hier sprachliche Unterschiede mit Unterschieden des Denkens zu verwechseln.

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stände zum Inhalte haben. Wir zeigten, daß die Verbindung von Subjekt und Prädikat und andere derartige Kombinationen durchaus nicht zum Wesen des Urteils gehören. Wir begründeten dies durch Betrachtung des affirmativen wie negativen Existentialsatzes; wir bestätigten es durch den Hinweis auf unsere Wahrnehmungen und insbesondere unsere ersten Wahrnehmungen, und endlich durch die Rückführung der kategorischen, ja aller Arten von Aussagen auf Existentialsätze. So wenig also ein Unterschied der Intensität, so wenig kann ein Unterschied des Inhaltes es sein, was die Eigentümlichkeit des Urteils gegenüber der Vorstellung ausmacht. Somit bleibt nichts anderes übrig als, wie wir es getan, die Eigentümlichkeit des Urteils als eine Besonderheit in der Beziehung auf den immanenten Gegenstand zu begreifen. § 9.   Ich glaube, die eben beendete Erörterung ist eine kräftige Bestätigung unserer These; so zwar, daß sie jeden Zweifel daran niederschlägt. Dennoch wollen wir wegen der fundamentalen Bedeutung der Frage den Unterschied von Vorstellung und Urteil nochmals und von einer anderen Seite her beleuchten. Denn nicht bloß die Unmöglichkeit sonstwie von ihm Rechenschaft zu geben, auch vieles andere weist uns auf die Wahrheit hin, die nach unserer Behauptung unmittelbar in der inneren Erfahrung vorliegt. Vergleichen wir zu diesem Zwecke das Verhältnis von Vorstellung und Urteil mit dem Verhältnis zwischen zwei Klassen von Phänomenen, deren tiefgreifende Verschiedenheit in der Beziehung zum Objekt außer Frage steht: nämlich mit dem Verhältnis zwischen Vorstellungen und Phänomenen von Liebe oder Haß. So sicher es ist, daß ein Gegenstand, der zugleich vorgestellt und geliebt, oder zugleich vorgestellt und gehaßt wird, in zweifacher Weise intentional im Bewußtsein ist: so sicher gilt dasselbe auch in betreff eines Gegenstandes, den wir zugleich vorstellen und anerkennen, oder zugleich vorstellen und leugnen. Alle Umstände sind hier und dort analog; alle zeigen, daß, wenn in dem einen, auch in dem anderen Falle eine zweite, grundverschiedene Weise des Bewußtseins zu der ersten hinzugekommen ist. Betrachten wir dies im einzelnen. Zwischen Vorstellungen finden wir keine Gegensätze außer die der Objekte, die in ihnen aufgenommen sind. Insofern Warm und Kalt, Licht und Dunkel, hoher und tiefer Ton u. dgl. Gegensätze bilden, können wir die Vorstellung des einen und des anderen entgegengesetzte nennen; und in einem anderen Sinne findet sich überhaupt auf dem ganzen Gebiete dieser Seelentätigkeiten kein Gegensatz.

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Indem Liebe und Haß hinzutreten, tritt eine ganz andere Art von Gegensätzen auf. Ihr Gegensatz ist kein Gegensatz zwischen den Objekten, denn derselbe Gegenstand kann geliebt oder gehaßt werden: er ist ein Gegensatz zwischen den Beziehungen zum Objekt: gewiß ein deutliches Zeichen, daß wir es hier mit einer Klasse von Phänomenen zu tun haben, bei welchen der Charakter der Beziehung zum Objekt ein durchaus anderer als bei den Vorstellungen ist. Ein ganz analoger Gegensatz tritt aber unverkennbar auch dann in dem Bereiche der Seelenerscheinungen auf, wenn nicht Liebe und Haß, sondern Anerkennung und Leugnung auf die vorgestellten Gegenstände sich richten. Ferner65. In den Vorstellungen findet sich keine Intensität außer der größeren oder geringeren Schärfe und Lebhaftigkeit der Erscheinung. Indem Liebe und Haß hinzukommen, kommt eine ganz neue Gattung von Intensität hinzu, die größere oder geringere Energie, die Heftigkeit oder Mäßigung in der Gewalt dieser Gefühle. In ganz analoger Weise finden wir aber auch eine vollkommen neue Gattung von Intensität in dem zur Vorstellung hinzutretenden Urteile. Denn das größere oder geringere Maß von Gewißheit in Überzeugung oder Meinung ist offenbar nichts, was dem Unterschiede in der Stärke der Vorstellungen verwandter genannt werden könnte als der Unterschied in der Stärke der Liebe. Noch mehr. In den Vorstellungen wohnt keine Tugend und keine sittliche Schlechtigkeit, keine Erkenntnis und kein Irrtum. Das alles ist ihnen innerlich fremd, und höchstens in homonymer Weise können wir eine Vorstellung sittlich gut oder schlecht, wahr oder falsch nennen; wie z. B. eine Vorstellung schlecht genannt wird, weil, wer das Vorgestellte liebte, sündigen, und eine andere falsch, weil, wer das Vorgestellte anerkennte, irren würde; oder auch, weil in der Vorstellung eine Gefahr zu jener Liebe, eine Gefahr zu dieser Anerkennung gegeben ist66. Das Gebiet der Liebe und des Hasses zeigt uns also eine ganz neue Gattung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit, von welcher das Gebiet der Vorstellung nicht die leiseste Spur enthält. Indem Liebe und Haß zu den Vorstellungsphänomenen sich gesellen, tritt – wenigstens häufig, und da, wo 65

Zu dem hier Folgenden vgl. die Erörterungen des Anhangs und meine Untersuchungen zur Sinnespsychologie, auf welche ich in diesen verweise. [Anm. 1911] 66 Vgl. was schon Aristoteles in dieser Hinsicht bemerkt hat, in meiner Abhandlung „Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles“ S. 31 f.

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es sich um zurechnungsfähige psychische Wesen handelt – das sittlich Gute und Böse in das Reich der Seelentätigkeit ein. Doch auch hier gilt in bezug auf das Urteil Ähnliches. Denn die andere eben so neue und wichtige Gattung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit, an der, wie wir sagten, kein bloßes Vorstellen Teil hat, ist in ähnlicher Weise das Eigentum des Gebietes des Urteils wie die erstgenannte das Eigentum des Gebietes der Liebe und des Hasses ist. Wie die Liebe und der Haß Tugend oder Schlechtigkeit sind, so sind die Anerkennung oder Leugnung Erkenntnis oder Irrtum. Endlich noch eines. Obwohl von den Gesetzen des Vorstellungslaufes nicht unabhängig, unterliegen doch Liebe und Haß, als eine besondere, in der ganzen Weise des Bewußtseins grundverschiedene Gattung von Phänomenen, noch besonderen Gesetzen der Sukzession und Entwickelung, welche vornehmlich die psychologische Grundlage der Ethik ausmachen. Sehr häufig wird ein Gegenstand wegen eines anderen geliebt und gehaßt, während er an und für sich in keiner von beiden Weisen oder vielleicht nur in einer entgegengesetzten uns bewegen würde. Und oft haftet die Liebe, einmal in dieser Weise übertragen, ohne Rücksicht auf den Ursprung bleibend an dem neuen Objekte. Auch in dieser Hinsicht aber finden wir eine ganz analoge Tatsache bei den Urteilen. Auch bei ihnen kommen zu den allgemeinen Gesetzen des Vorstellungslaufes, deren Einfluß auf dem Gebiete des Urteils nicht zu verkennen ist, noch besondere Gesetze hinzu, die speziell für die Urteile Geltung haben, und in ähnlicher Beziehung zur Logik, wie die Gesetze der Liebe und des Hasses zur Ethik stehen. Wie eine Liebe aus der anderen nach besonderen Gesetzen entsteht, so wird ein Urteil aus dem anderen nach besonderen Gesetzen gefolgert. So sagt denn mit Recht J. St. Mill in seiner Logik der Geisteswissenschaften: „In betreff des Glaubens werden die Psychologen immer durch spe­ zifisches Studium nach den Regeln der Induktion zu untersuchen haben, welchen Glauben wir durch unmittelbares Bewußtsein haben, und nach welchen Gesetzen ein Glaube den anderen erzeugt; welches die Gesetze sind, kraft deren ein Ding, mit Recht oder mit Unrecht, von unserem Geiste als Beweis für ein anderes Ding angesehen wird. In bezug auf das Begehren werden sie ebenso zu untersuchen haben, welche Gegenstände wir ursprünglich begehren, und welche Ursachen uns dazu führen, Dinge zu begehren, die uns ursprünglich gleichgültig oder sogar unangenehm sind usw.“67. Dem 67

Ded. u. Ind. Logik B. VI, Kap. 4, § 3.

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entsprechend verwirft er in seinen Noten zur Analyse von James Mill nicht bloß die Ansicht des Verfassers so wie Herbert Spencers, daß der Glaube in einer untrennbar festen Assoziation von Vorstellungen bestehe, sondern er leugnet auch, daß, wie diese beiden Denker notwendig annehmen mußten, der Glaube nur nach den Gesetzen der Ideenassoziation sich bilde. „Wäre dies der Fall“, sagt er, „so würde das Fürwahrhalten eine Sache der Gewohnheit und des Zufalls und nicht der Vernunft sein. Sicher ist eine Assoziation zwischen zwei Vorstellungen, so stark sie auch sein mag, kein hinreichender Grund des Fürwahrhaltens; sie ist kein Beweis dafür, daß die betreffenden Tatsachen in der äußeren Natur verbunden sind. Die Theorie scheint jeden Unterschied aufzuheben zwischen dem Fürwahrhalten des Weisen, welches durch Beweisgründe geleitet wird und den wirklichen Sukzessionen und Coexistenzen der Tatsachen in der Welt entspricht, und dem Fürwahrhalten eines Toren, welches durch irgendwelche zufällige Assoziation, welche die Vorstellung einer Sukzession oder Co­existenz in dem Geiste hervorruft, mechanisch hervorgebracht worden ist, einem Fürwahrhalten, das treffend charakterisiert wird durch die gemeinübliche Bezeichnung ,etwas für wahr halten, weil man es sich in den Kopf gesetzt hat‘“68. Es wäre überflüssig, jetzt länger bei einem Punkte zu verweilen, der genügend klar und, mit geringen Ausnahmen, auch von allen Denkern anerkannt wird. Spätere Erörterungen werden das, was hier über die besonderen Gesetze der Urteile und der Gemütsbewegungen gesagt worden ist, noch mehr ins Licht setzen69. Unser Ergebnis ist also dieses: Aus der Analogie aller begleitenden Verhältnisse ist aufs neue ersichtlich, daß, wenn zwischen Vorstellung und Liebe, und überhaupt irgendwo zwischen zwei verschiedenen psychischen Phänomenen, auch zwischen Vorstellung und Urteil eine fundamentale Verschiedenheit der Beziehung zum Objekte angenommen werden muß. § 10.   Fassen wir die Beweisgründe für diese Wahrheit kurz zusammen, so sind es folgende: Erstens zeigt die innere Erfahrung unmittelbar die Verschiedenheit in der Beziehung auf den Inhalt, die wir für Vorstellung und Urteil behaupten. Zweitens würde, wenn nicht ein solcher, überhaupt kein Unterschied zwischen ihnen bestehen. Weder die Annahme einer verschiedenen Intensität, 68 69

a. a. O. Ch. XI, Note 108; I, p. 407. Buch IV und V. (Nicht zum Drucke gelangt).

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noch die Annahme eines verschiedenen Inhaltes für die bloße Vorstellung und das Urteil ist haltbar. Drittens endlich findet man, wenn man den Unterschied von Vorstellung und Urteil mit anderen Fällen psychischer Unterschiede vergleicht, daß von allen Eigentümlichkeiten, welche sich anderwärts zeigen, wo das Bewußtsein in völlig verschiedenen Weisen zu einem Gegenstande in Beziehung tritt, auch hier nicht eine einzige mangelt. Also, wenn nicht hier, so dürften wir wohl auch in keinem anderen Falle einen solchen Unterschied auf psychischem Gebiete anerkennen. § 11.   Es bleibt uns nun noch eine Aufgabe zu lösen. Außer dem Irrtum in der gewöhnlichen Ansicht müssen wir auch den Anlaß des Irrtums nachweisen. Die Ursachen der Täuschung waren, wie mir scheint, von doppelter Art. Der eine Grund war ein psychischer, d. h. eine psychische Tatsache, welche die Täuschung begünstigte; der andere ein sprachlicher. Der psychische Grund scheint mir vorzüglich darin zu liegen, daß in jedem Akte des Bewußtseins, so einfach er auch sein mag, wie z. B. in dem, worin ich einen Ton vorstelle, nicht bloß eine Vorstellung, sondern zugleich auch ein Urteil, eine Erkenntnis beschlossen ist. Es ist dies die Erkenntnis des psychischen Phänomens im inneren Bewußtsein, deren Allgemeinheit wir früher nachwiesen70. Dieser Umstand, der manche Denker dazu veranlaßt hat, alle psychischen Phänomene unter den Begriff des Erkennens als unter eine einheitliche Gattung zu subsumieren, hat andere bestimmt, wenigstens Vorstellung und Urteil, weil sie nie getrennt erscheinen, in eins zu fassen, indem sie nur für die Phänomene, die, wie Gefühle und Bestrebungen, in besonderen Fällen hinzukommen, besondere neue Klassen aufstellten. Ich brauche, um diese Bemerkung zu bestätigen, nur eine schon früher einmal angezogene Stelle aus Hamiltons Vorlesungen in Erinnerung zu bringen. „Es ist offenbar“, sagte er, „daß jedes psychische Phänomen entweder ein Akt der Erkenntnis oder einzig und allein durch einen Akt der Erkenntnis möglich ist, denn das innere Bewußtsein ist eine Erkenntnis; und dies ist der Grund, weshalb viele Philosophen – wie Descartes, Leibniz, Spinoza, Wolff, Platner u. a. – dazu geführt wurden, die vorstellende Fähigkeit, wie sie sie nannten, die Fähigkeit der Erkenntnis, als das Grundvermögen der Seele zu betrachten, von dem alle anderen sich ableiteten. Die Antwort darauf ist leicht. Jene 70

Buch II, Kap. 3 m. Psych. v. emp. St.

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Philosophen beachteten nicht, daß, obwohl Lust und Unlust, Begierde und Willen bloß sind, insofern sie als seiend erkannt werden, dennoch in diesen Modifikationen ein absolut neues Phänomen hinzugekommen ist, welches nie in der bloßen Fähigkeit der Erkenntnis enthalten war, und daher auch nie daraus entwickelt werden konnte. Die Fähigkeit der Erkenntnis ist sicher die erste der Ordnung nach und insofern die conditio sine qua non der übrigen usw.71.“ Wir sehen, weil kein psychisches Phänomen möglich ist, außer insofern es von innerer Erkenntnis begleitet ist, so glaubt Hamilton, ein Erkennen sei der Ordnung nach das erste in uns, und unterscheidet, indem er das Vorstellen mit ihm in eines faßt, nur noch für Gefühl und Streben besondere Klassen. In der Tat ist es aber nicht richtig, daß ein Erkennen der Ordnung nach das erste ist, da ein solches zwar in jedem und darum auch in dem ersten psychischen Akte auftritt, aber nur sekundär. Das primäre Objekt des Aktes ist nicht immer erkannt (sonst könnten wir nie etwas falsch beurteilen) und auch nicht immer beurteilt (sonst würden die Frage und Untersuchung darüber wegfallen), sondern oft und in den einfachsten Akten nur vorgestellt. Und auch hinsichtlich des sekundären Objekts bildet die Erkenntnis in gewisser Weise nur das zweite Moment, indem sie wie jedes Urteil die Vorstellung des Beurteilten zur Vorbedingung hat, also diese (wenn auch nicht zeitlich, doch der Natur nach) das Frühere ist. Auf dieselbe Weise, wie Hamilton für die Erkenntnis, könnte man auch für das Gefühl den ersten Platz in der Ordnung der Phänomene in Anspruch nehmen und infolge davon auch dieses mit Vorstellung und Urteil konfundieren. Denn, wie wir gesehen haben, kommt auch ein Gefühl als sekundäres Phänomen in jedem psychischen Akte vor72. Wenn dieses nicht oder doch nicht so häufig wie die Allgemeinheit der begleitenden inneren Wahrnehmung zu einem ähnlichen Mißgriffe veranlaßte, so erklärte sich dies nur daraus, daß einerseits die Allgegenwart der Gefühle nicht so allgemein erkannt wurde, und andererseits gewisse Vorstellungen uns wenigstens relativ gleichgültig lassen, und dieselbe Vorstellung zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen, ja entgegengesetzten Gefühlen begleitet ist73. Die innere Wahrnehmung dagegen besteht immer und wechsellos mit derselben Fülle 71 Lectures on Metaphysics I, p. 187. 72 S. Buch II, Kap. 3, § 6 m. Psych. v. emp. St. – Vgl. aber auch die Erörterungen im Anhang und meine Untersuchungen zur Sinnespsychologie, auf die sie verweisen. [Ab „Vgl.“ Anm. 1911] 73 Vgl. ebend.

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der Überzeugung, und wenn sie einem Unterschiede der Intensität unterliegt, so ist es ein solcher, der mit einer Intensität des von ihr begleiteten Phänomens in gleichem Grade steigt und fällt74. Dies also ist, was ich den psychischen Grund des Irrtums nannte. § 12.   Zu ihm kommt, wie gesagt, auch ein sprachlicher. Wir können nicht erwarten, daß Verhältnisse, die sogar scharfsinnigen Denkern der Anlaß einer Täuschung wurden, nicht auch auf die gewöhnlichen Ansichten einen Einfluß gewonnen haben sollten. Aus diesem aber erwächst die Sprache des Volkes. Und so müssen wir von vorn herein vermuten, daß unter den Namen, mit welchen das gemeine Leben die psychischen Tätigkeiten zu bezeichnen pflegt, sich einer finde, welcher auf Vorstellungen wie Urteile, aber auf kein anderes Phänomen anwendbar, beide wie zu einer einheitlichen, weiteren Klasse gehörig zusammenfaßt. Dies zeigt sich in der Tat. Wir nennen Vorstellen und Urteilen mit gleicher Ungezwungenheit ein Denken; auf ein Fühlen oder Wollen dagegen können wir den Ausdruck nicht wohl anwenden, ohne der Sprache Gewalt anzutun. Auch finden wir in fremden Sprachen, antiken wie modernen, Bezeichnungen, die in demselben Umfange gebräuchlich sind. Wer die Geschichte der wissenschaftlichen Bestrebungen kennt, wird mir nicht widersprechen, wenn ich diesem Umstand einen hindernden Einfluß zuschreibe. Wenn sehr berühmte Philosophen der Neuzeit, ein um das andere Mal, sogar dem Paralogismus der Äquivokation erlegen sind, wie sollte nicht eine Gleichheit der Benennung bei der Klassifikation eines Erscheinungsgebietes verführerisch für sie gewesen sein? Whewell in seiner Geschichte der inductiven Wissenschaften zeigt solche Versehen und andere ihnen verwandte Fehler in reichen Beispielen; denn wie zu einem Verbinden, wo keine Gleichheit, so führte die Sprache oft zu einem Unterscheiden, wo eine Verschiedenheit vorlag, und die Scholastiker waren nicht die einzigen, die Distinktionen auf bloße Worte gründeten. Es ist also sehr natürlich, wenn die Homonymie des Namens „Denken“ in unserem Falle nachteilig gewirkt hat. § 13.   Aber weit mehr ohne Zweifel hat eine andere Eigenheit des sprachlichen Ausdrucks die Erkenntnis des richtigen Verhältnisses erschwert. Die Aussage eines Urteils ist, man kann sagen, durchgehends ein Satz, eine Verbindung mehrerer Worte, was sich auch von unserem Standpunkte 74

S. ebend. § 4.

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leicht begreifen läßt. Es hängt damit zusammen, daß eine Vorstellung die Grundlage eines jeden Urteiles ist, und daß bejahende und verneinende Urteile hinsichtlich des Inhalts, auf den sie sich beziehen, übereinstimmen, indem das negative Urteil nur den Gegenstand leugnet, den das entsprechende affirmative anerkennt. Obwohl der Ausdruck des Urteils der vorzügliche Zweck sprachlicher Mitteilung war, so war es daher sehr nahe gelegt, den einfachsten sprachlichen Ausdruck, das einzelne Wort, nicht für sich allein dazu zu verwenden. Benützte man es für sich als den Ausdruck der einem Urteilspaare gemeinsam zu Grunde liegenden Vorstellung, und fügte man, um Ausdrücke für die Urteile selbst zu erhalten, eine doppelte Art von Flektion oder auch eine doppelte Art von stereotypen Wörtchen (wie „sein“ und „nicht sein“) hinzu, so ersparte man durch diesen einfachen Kunstgriff dem Gedächtnis die Hälfte der Leistung, indem dieselben Namen in den affirmativen und in den entsprechenden negativen Urteilen Verwendung fanden. Außerdem hatte man den Vorteil, bei der Weglassung jener Ergänzungszeichen den Ausdruck einer anderen Klasse von Phänomenen, der Vorstellungen, rein für sich zu besitzen, welcher, da die Vorstellungen auch für Begehren und Fühlen die Grundlage sind, in Fragen, in Ausrufungen, in Befehlen u. s. f. noch weitere treffliche Dienste leisten konnte. So konnte es nicht fehlen, daß längst vor den Anfängen eigentlich wissenschaftlicher Forschung der Ausdruck des Urteils eine Zusammensetzung aus mehreren unterscheidbaren Bestandteilen geworden war. Danach bildete man sich die Ansicht, das Urteil selbst müsse ebenfalls eine Zusammensetzung, und zwar – da die Mehrzahl der Worte Namen, Ausdrücke von Vorstellungen, sind – eine Zusammensetzung von Vorstellungen sein75. Und stand einmal dieses fest, so schien ein unterscheidendes Merkmal des Urteils von der Vorstellung gegeben, und man fühlte sich nicht aufgefordert näher zu untersuchen, ob dies der ganze Unterschied zwischen Vorstellung und Urteil sein könne, ja ob ihre Verschiedenheit nur irgendwie in dieser Weise sich begreifen lasse. Nach allem dem vermögen wir es uns recht wohl zu erklären, weshalb das wahre Verhältnis zwischen zwei fundamental verschiedenen Klassen psychischer Erscheinungen so lange Zeit verborgen blieb.

75 Man vergleiche zum Beleg das erste Kapitel der Aristotelischen Schrift De Interpretatione.

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§ 14.   Inzwischen hat natürlich die falsche Wurzel mannigfache Schösslinge des Irrtums hervorgetrieben, welche in weiter Verzweigung nicht bloß über das Gebiet der Psychologie, sondern auch über das der Metaphysik und Logik sich ausbreiteten. Das ontologische Argument für das Dasein Gottes ist nur eine ihrer Früchte. Die gewaltigen Kämpfe, welche die mittelalterlichen Schulen über essentia und esse, ja über esse essentiae und esse existentiae führten, geben von den convulsivischen Anstrengungen einer energischen Denkkraft Zeugnis, welche sich müht des unverdaulichen Elementes Herr zu werden. Thomas, Scotus, Occam, Suarez – alle beteiligen sich lebhaft an dem Kampfe; jeder hat in der Polemik, keiner in seinen positiven Aufstellungen Recht. Immer dreht sich die Frage nur darum, ob die Existenz des Wesens eine andere, oder ob sie dieselbe Realität wie das Wesen sei. Scotus, Occam, Suarez leugnen mit Recht, daß sie eine andere Realität sei (was besonders Scotus sehr hoch anzurechnen und schier bei ihm wie ein Wunder zu betrachten ist); aber sie fallen in Folge dessen in den Irrtum, die Existenz eines jeden Dinges gehöre zum Wesen des Dinges selbst, sie betrachten dieselbe als seinen allgemeinsten Begriff. Hier war nun der Widerspruch der Thomisten im Rechte, obwohl ihre Kritik den eigentlich schwachen Punkt nicht traf und sich vornehmlich auf die Grundlage gemeinsamer irriger Annahmen stützte. Wie, riefen sie, die Existenz eines jeden Dinges sein allgemeinster Begriff? – Das ist unmöglich! – Würde doch seine Existenz sich dann aus seiner Definition ergeben, und folglich die Existenz des Geschöpfes so selbstevident und von vorn herein notwendig wie die des Schöpfers selber sein. Aus der Definition eines kreatürlichen Seins ergibt sich nicht mehr, als daß es ohne Widerspruch, also möglich ist. Das Wesen einer Kreatur ist demnach ihre bloße Möglichkeit, und jede wirkliche Kreatur ist aus zwei Bestandteilen, aus einer realen Möglichkeit und einer realen Wirklichkeit zusammengesetzt, deren eine von der anderen im Existentialsatz ausgesagt wird, und die sich ähnlich wie nach Aristoteles Materie und Form in den Körpern zueinander verhalten. Die Grenzen der Möglichkeit sind natürlich auch die der in ihr aufgenommenen Wirklichkeit. Und so ist die Existenz, die an sich etwas Schrankenloses und Allumfassendes wäre, in der Kreatur eine beschränkte. Anders ist es bei Gott. Er ist das in sich selbst notwendig Seiende, auf welches alles Zufällige zurückweist. Er ist also nicht aus Möglichkeit und Wirklichkeit zusammengesetzt. Sein Wesen ist seine Existenz; die Behauptung, daß er nicht sei, ein Widerspruch. Und eben darum ist er unendlich. In keiner Möglichkeit aufgenommen, ist die Existenz bei ihm unbeschränkt; und so ist er der Inbegriff aller Realität und Vollkommenheit.

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Das sind hochfliegende Spekulationen, die aber niemanden mehr mit sich über die Wolken erheben werden. Bezeichnend ist es aber, daß ein eminenter Denker, wie Thomas von Aquin sicher einer war, wirklich mittels eines solchen Beweises die unendliche Vollkommenheit des Urgrundes der Welt dargetan zu haben glaubte. Ich brauche hienach nicht mehr auf die allbekannten Beispiele der neueren Metaphysik zu verweisen, welche den nachteiligen Einfluß irriger Anschauungen über die Urteile und das, was damit in nächstem Zusammenhange steht, nicht minder anschaulich machen können76. § 15.   Auch in der Logik hat die Verkennung des Wesens der Urteile mit Notwendigkeit weitere Irrtümer erzeugt. Ich habe den Gedanken nach dieser Seite in seine Konsequenzen verfolgt und gefunden, daß er zu nichts Geringerem als zu einem völligen Umsturz aber auch zu einem Wiederaufbau der elementaren Logik führt. Und Alles wird dann einfacher, durchsichtiger und exakter. Nur in einigen Beispielen will ich den Kontrast zwischen den Regeln dieser reformierten Logik und der althergebrachten nachweisen, indem uns hier die vollständige Durchführung und Begründung natürlich zu lange aufhalten und zu weit von unserem Thema abführen würde77. An die Stelle der früheren Regeln von den kategorischen Schlüssen treten als Hauptregeln, die eine unmittelbare Anwendung auf jede Figur gestatten, und für sich allein zur Prüfung eines jeden Syllogismus vollkommen ausreichend sind, folgende drei: 1. Jeder kategorische Syllogismus enthält vier Termini, von denen zwei einan­ der entgegengesetzt sind und die beiden anderen zweimal zu stehen kommen. 76 77

Einwirkungen auf Kants Transzendentalphilosophie wurden im vorausgehenden berührt. Zum Behuf meiner Vorlesungen über Logik, die ich im Winter 1870/71 an der Würzburger Hochschule hielt, habe ich eine auf die neue Basis gegründete logische Elementarlehre vollständig und systematisch ausgearbeitet. Da sie nicht bloß bei meinen Zuhörern, sondern auch bei Fachmännern in der Philosophie, denen ich davon Mitteilung machte, Interesse erregte, so ist es meine Absicht, sie nach vollendeter Herausgabe meiner Psychologie nochmals zu revidieren und zu veröffentlichen. Die Regeln, die ich hier im Texte beispielsweise folgen lasse, werden, mit den übrigen, in dieser Schrift jene sorgfältige Begründung finden, die man bei einem Widerspruch gegen die gesamte Tradition seit Aristoteles gewiß zu verlangen berechtigt ist. Übrigens werden viele vielleicht von selbst die notwendige Verkettung mit der dargelegten Ansicht von der Natur des Urteils erkennen. Vgl. hiezu Franz Hillebrand, Neuere Theorien von den kategorischen Schlüssen. [Ab „Vgl.“ Anm. 1911]

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2. Ist der Schlußsatz negativ, so hat jede der Prämissen die Qualität und einen Termin us mit ihm gemein. 3. Ist der Schlußsatz affirmativ, so hat die eine Prämisse die gleiche Qualität und einen gleichen Terminus, die andere die entgegengesetzte Qualität und einen entgegengesetzten Terminus. Das sind Regeln, die ein Logiker der alten Schule zunächst nicht ohne Grauen hören wird. Vier Termini soll jeder Syllogismus haben: und er hat die Quaternio terminorum immer als Paralogismus verdammt78. Negative Schlußsätze sollen lauter negative Prämissen haben: und er hat immer gelehrt, daß aus zwei negativen Prämissen nichts gefolgert werden könne. Auch unter den Prämissen des affirmativen Schlußsatzes soll sich ein negatives Urteil finden: und er hätte darauf geschworen, daß er unumgänglich zwei affirmative Prämissen verlange. Ja, für einen kategorischen Schluß aus affirmativen Prämissen ist gar kein Raum gelassen: und er hatte doziert, daß die affirmativen Prämissen die vorzüglichsten seien, indem er, wo eine negative sich dazu gesellte, diese als die „pejor pars“ bezeichnete. Von „allgemein“ und „partikulär“ endlich hört man in den neuen Regeln gar nichts: und er hatte diese Ausdrücke sozusagen immer im Munde geführt. Und haben nicht seine alten Regeln sich bei der Prüfung der Syllogismen so geeignet erwiesen, daß nun umgekehrt wieder die tausend an ihrem Maßstabe gemessenen Schlüsse für sie selbst Probe und Bewährung sind? Sollen wir den berühmten Schluß: „Alle Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, also ist Cajus sterblich“, und alle seine Begleiter nicht mehr als bündig anerkennen? – Das scheint eine unmögliche Zumutung. Doch so schlimm steht die Sache auch nicht. Da die Fehler, aus welchen die früheren Regeln der Syllogistik entsprangen, in der Verkennung der Natur der Urteile nach Inhalt und Form bestanden, so glichen sie, bei der Anwendung derselben konsequent festgehalten, meistens ihre nachtei78 In der allerneuesten Zeit hat auch ein englischer Logiker, Boole, richtig erkannt, daß manche kategorische Syllogismen vier Termini haben, von denen zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzt seien. Andere haben ihm beigepflichtet, und auch A. Bain, der in seiner Logik ausführlich über Booles Zusätze zur Syllogistik berichtet, gibt seine Zustimmung unzweideutig zu erkennen (I, p. 205). Obwohl Boole diese Syllogismen mit vier Terminis nur neben Syllogismen mit drei Terminis stellt, statt die Quaternio terminorum als allgemeine Regel anzuerkennen, und obwohl die ganze Weise seiner Ableitung mit der meinigen keine Ähnlichkeit hat: so war sie mir doch interessant als ein Zeichen, daß man auch jenseits des Kanals an dem Gesetze der Dreiheit der Termini zu zweifeln anfängt.

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lige Wirkung selber aus79. Von allen Schlüssen, die man nach den bisherigen Regeln für richtig erklärte, waren nur die nach vier Modis gefolgerten ungültig, wogegen auf der anderen Seite freilich auch eine nicht unbedeutende Zahl richtiger Modi übersehen wurde80. Schädlicher waren die Folgen in der Lehre von den so genannten unmittelbaren Schlüssen. Nicht bloß ist z. B. die richtige Regel für die Konversion, daß jeder kategorische Satz simpliciter konvertibel ist (man muß nur über das wahre Subjekt und über das wahre Prädikat im Klaren sein), sondern man erklärte nach den alten Regeln auch viele Konversionen für gültig, die in Wahrheit ungültig sind, und umgekehrt. Bei den so genannten Schlüssen durch Subalternation und Opposition ergibt sich dasselbe81. Auch stellt sich, wenn man kritisch die alten Regeln miteinander vergleicht, seltsam genug heraus, daß sie zuweilen miteinander im Widerspruch stehen, so daß, was nach der einen als gültig nach der anderen als ungültig zu bezeichnen wäre. § 16.   Doch wir überlassen es einer künftigen Revision der Logik, dies im Einzelnen auszuführen und zu bewähren82. Uns gehen hier weniger die nachteiligen Folgen an, welche die Verkennung der Natur des Urteils für Logik oder Metaphysik hatte, als diejenigen, welche für die Psychologie sich ergaben und, wegen des Verhältnisses der Psychologie zur Logik, allerdings auch für diese ein neues Hindernis fruchtbarer Entwickelung wurden. Die bisherige Psychologie hat, man kann sagen, durchwegs die Erforschung der Gesetze der Entstehung der Urteile in ungebührlicher Weise vernachlässigt; und dies kam daher, weil man immer Vorstellen und Urteilen als „Denken“ zu einer Klasse zusammenrechnete, und mit der Erforschung der Gesetze 79

Sagte man z. B. infolge des Mißverständnisses der Sätze: zum richtigen kategorischen Schlusse gehören drei Termini, so bewirkte dasselbe Mißverständnis, daß man im einzelnen Schlusse drei Termini sah, wo in Wahrheit vier gegeben waren. 80 Letzteres wurde auch von den vorerwähnten englischen Logikern bereits erkannt. Die vier ungültigen Modi, von denen ich spreche, sind in der dritten Figur Darapti und Felapton und in der vierten Bamalip und Fesapo. 81 Unzulässig ist die Konversion eines sogenannten allgemein bejahenden in einen partikulär bejahenden Satz; die gewöhnlichen Schlüsse durch Subalternation sind sämtlich ungültig, und von denen durch Opposition die Schlüsse auf die Unwahrheit der sogenannten konträren so wie die auf die Wahrheit der sogenannten subkonträren Urteile. 82 Vgl. die inzwischen erschienene Abhandlung von Franz Hillebrand, Neuere Theorien der kategorischen Schlüsse, welche bei dem, was ich hier berührte, eingehender verweilt. [Anm. 1911]

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

der Aufeinanderfolge der Vorstellungen auch für die Urteile das Wesentliche getan glaubte. So sagt selbst ein so eminenter Psychologe wie Hermann Lotze: „In bezug auf die Urteilskraft und Einbildungskraft werden wir ohne Bedenken zugeben, daß diese beiden nicht zu dem angeborenen Besitze der Seele gehören, sondern Fertigkeiten sind, die sich durch die Bildung des Lebens, die eine langsam, die andere schnell entwickeln. Wir werden zugleich zugestehen, daß zur Erklärung ihrer Entstehung nichts als die Gesetze des Vorstellungslaufes nötig sind “83. Hier zeigt sich der Grund des großen Versäumnisses unverhüllt. Er lag in der mangelhaften Klassifikation, die Lotze von Kant überkommen hatte. Richtiger hat hier J. St. Mill geurteilt. In den früher von uns zitirten Stellen sahen wir ihn mit Nachdruck eine spezifische Erforschung der Gesetze des Fürwahrhaltens als unumgängliches Bedürfnis betonen. Eine bloße Ableitung aus den Gesetzen des Vorstellungsverlaufes schien ihm in keiner Weise genügend. Aber die Vorstellungsverbindung, die Zusammensetzung von Subjekt und Prädikat, die er bei sonst sehr richtigen Ansichten über die Natur des Urteils immer noch für wesentlich hielt, ließ den Charakter desselben als einer besonderen, den andern ebenbürtigen Grundklasse nicht hinreichend hervortreten. Und so ist es gekommen, daß nicht einmal Bain, der Mill so nahe stand, die von ihm gegebenen Winke zur Ausfüllung einer weitklaffenden Lücke der Psychologie benützt hat. Das Wort, welches die Scholastik von Aristoteles ererbt hatte, „parvus error in principio maximus in fine“ hat also in unserem Falle nach jeder Seite hin sich bewährt.

83 Mikrokosmus 1. Aufl., I, S. 192.

Viertes Kapitel. Einheit der Grundklasse für Gefühl und Willen. § 1.   Nachdem Vorstellung und Urteil als verschiedene Grundklassen psychischer Phänomene festgestellt sind, haben wir uns noch in betreff unserer zweiten Abweichung von der herrschenden Klassifikation zu rechtfertigen. Wie wir Vorstellung und Urteil trennen, so vereinigen wir Gefühl und Willen. Hier sind wir nicht so sehr wie im früheren Punkte Neuerer; denn von Aristoteles bis herab auf Tetens, Mendelssohn und Kant hat man allgemein bloß eine Grundklasse für Fühlen und Streben angenommen; und unter den psychologischen Autoritäten der Gegenwart sahen wir Herbert Spencer nur zwei Seiten des Seelenlebens, eine kognitive und eine affektive, unterscheiden. Doch dies soll uns bei der Wichtigkeit der Frage nicht abhalten, mit der gleichen Sorgfalt und unter Benutzung der sämtlichen uns zu Gebote stehenden Hilfsmittel unsere Lehre zu begründen und zu sichern. Wir halten hier denselben Gang wie bei der Untersuchung über das Verhältnis von Vorstellung und Urteil ein; wir berufen uns daher vor allem auf das Zeugnis unmittelbarer Erfahrung. Die innere Wahrnehmung, sagen wir, zeigt deutlich hier den Mangel, wie dort das Vorhandensein eines fundamentalen Unterschiedes; und hier eine wesentliche Übereinstimmung, wie dort eine völlige Verschiedenheit in der Weise der Beziehung zum Objekt. Wenn wirklich der rückständige Teil der psychischen Phänomene, von welchem wir jetzt handeln, einen ähnlich tiefgreifenden Unterschied wie das vorstellende und urteilende Denken zeigte; wenn wirklich auch zwischen Fühlen und Streben von der Natur selbst eine scharfe Grenzlinie vorgezeichnet wäre: so könnten vielleicht in die Bestimmung der eigentümlichen Natur der einen und anderen Klasse Irrtümer sich einmischen; aber die Abgrenzung der Gattungen, die Angabe, welche Erscheinungen der einen und welche der anderen Gattung angehörten, würde sicher ein Leichtes sein. So wird man ohne Zögern sagen, daß „Mensch“ eine bloße Vorstellung, „es gibt Menschen“ ein Fürwahrhalten ausdrücke, auch wenn man über die Natur des Urteils völlig im unklaren ist; und Ähnliches gilt für das ganze Gebiet der einen und anderen Gattung des Denkens. Aber bei der Frage, was ein Gefühl

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

und was ein Begehren, Wollen oder Streben sei, verhält es sich ganz anders; und ich wenigstens weiß in Wahrheit nicht, wo die Grenze zwischen beiden Klassen eigentlich liegen sollte. Zwischen den Gefühlen der Lust und Unlust und dem, was man gewöhnlich Wollen oder Streben nennt, stehen andere Erscheinungen in der Mitte; und zwischen den Extremen mag der Abstand groß erscheinen. Wenn man aber die mittleren Zustände mit in Betracht zieht; wenn man immer nur das nächststehende mit dem nächststehenden Phänomene vergleicht: so zeigt sich auf dem gesamten Gebiete nirgends eine Kluft, sondern ganz allmählich finden die Übergänge statt. Betrachten wir als Beispiel die folgende Reihe: Traurigkeit – Sehnsucht nach dem vermißten Gute – Hoffnung, daß es uns zuteil werde – Verlangen, es uns zu verschaffen – Mut, den Versuch zu unternehmen – Willensentschluß zur Tat. Das eine Extrem ist ein Gefühl, das andere ein Willen; und sie scheinen weit voneinander abzustehen. Wenn man aber auf die Zwischenglieder achtet und immer nur die nächststehenden miteinander vergleicht, zeigt sich da nicht überall der innigste Anschluß und ein fast unmerklicher Übergang? – Wenn wir klassifizierend in Gefühle und Strebungen sie scheiden wollen, zu welcher von beiden Grundklassen sollen wir die einzelnen rechnen? – Wir sagen: „ich fühle Sehnsucht“, „ich fühle Hoffnung“, „ich fühle ein Verlangen, mir dieses zu verschaffen“, „ich fühle Mut, dieses zu versuchen“; – nur, daß er einen Willensentschluß fühle, wird wohl keiner sagen: ist darum vielleicht hier die Grenzmarke und gehören alle Mittelglieder noch der Grundklasse der Gefühle an? Wenn wir durch den Sprachgebrauch des Volkes uns bestimmen lassen, werden wir allerdings so urteilen; und in der Tat verhalten wenigstens die Traurigkeit über die Entbehrung und die Sehnsucht nach dem Besitze sich etwa so, wie sich die Leugnung eines Gegenstandes und die Anerkennung seines Nichtseins zueinander verhalten. Aber liegt nicht demungeachtet schon in der Sehnsucht ein Keim des Strebens? und sprießt dieser nicht auf in der Hoffnung, und entfaltet sich, bei dem Gedanken an ein etwaiges eigenes Zutun, in dem Wunsche zu handeln und in dem Mute dazu; bis endlich das Verlangen danach zugleich die Scheu vor jedem Opfer und den Wunsch jeder längeren Erwägung überwiegt und so zum Willens­ entschluß gereift ist? – Sicher, wenn wir diese Reihe von Phänomenen nun doch einmal in eine Mehrheit von Grundklassen zerteilen wollen, so dürfen wir die mittleren Glieder ebensowenig mit dem ersten Gliede dem letzten unter dem Namen Gefühl, als mit dem letzten Gliede dem ersten unter dem Namen Willen oder Strebung entgegensetzen: vielmehr wird nichts übrig bleiben, als jedes Phänomen für sich als eine besondere Klasse zu betrachten.

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Dann aber, glaube ich, ist es für jeden unverkennbar, daß die Unterschiede der Klassen hier keine so tief einschneidenden Differenzen wie die zwischen Vorstellung und Urteil, oder zwischen ihnen und alle übrigen psychischen Phänomenen sind; und so nötigt uns der Charakter unserer inneren Erscheinungen, die Einheit derselben natürlichen Grundklasse über das ganze Reich des Fühlens und Strebens auszudehnen84. 84

Es ist interessant und lehrreich, das vergebliche Bemühen der Psychologen um eine feste Grenzbestimmung zwischen Gefühl und Willen oder Streben zu beobachten. Sie widersprechen dabei dem herkömmlichen Sprachgebrauche; und der eine widerspricht dem anderen, ja nicht selten sogar sich selbst. Kant rechnet schon die hoffnungslose Sehnsucht nach anerkannt Unmöglichem zum Begehrungsvermögen, und ich zweifle kaum, daß er auch die Reue dazu gerechnet haben würde; und doch stimmt dies ebensowenig mit der gewöhnlichen Weise der Bezeichnung, da man von einem Gefühle der Sehnsucht spricht, als mit seiner Definition des Begehrungsvermögens als „Vermögens durch seine Vorstellungen Ursache von den Wirklichkeiten der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (s. o. S. 315). Hamilton wundert sich über die, wie er anerkennt, sehr häufige Konfusion von Erscheinungen der beiden Klassen, da es doch so leicht sei, die natürliche Grenzscheide zwischen ihnen zu erkennen (Lect. on Metaph. II, p. 433); aber seine wiederholten Bemühungen, eine genaue Bestimmung dafür zu geben, zeigen, daß dies keineswegs eine leichte Sache ist. Er bestimmt, wie wir schon hörten, daß die Gefühle objektlos im vollen Sinne des Wortes, daß sie „subjektivisch subjektiv“ seien (II, 432; vgl. o. S. 311 f.), während nach ihm die Strebungen alle auf ein Objekt gerichtet sind; und hierin, sollte man meinen, werde man ein einfaches und leicht anwendbares Kriterium besitzen: aber so sicher dies der Fall sein müßte, wenn die Bestimmung der Eigentümlichkeit der Erscheinungen entspräche, so wenig konnte Hamilton bei ihrer tatsächlichen Unrichtigkeit mit ihr ausreichen; selbst bei den entschiedensten Gefühlen, wie Freude und Trauer, wird eben jeder sagen, auch sie schienen ihm ein Objekt zu haben. Da macht dann Hamilton noch einen anderen Unterschied, obwohl vielleicht nicht ohne einigen Widerspruch zum ersten, geltend; er bestimmt, daß das Gefühl es bloß mit Gegenwärtigem zu tun habe, während die Strebung auf Zukünftiges sich richte. – „Lust und Unlust“, sagt er, „als Gefühle, gehören ausschließlich der Gegenwart an, während die Strebung sich einzig und allein auf die Zukunft bezieht; denn Strebung ist ein Verlangen, ein Trachten, entweder den gegenwärtigen Zustand dauernd zu erhalten, oder ihn gegen einen anderen zu vertauschen“ (II, p. 633). Diese Bestimmungen sind nicht wie die vorigen in der Art verfehlt, daß der einen von ihnen in Wahrheit kein psychisches Phänomen entspräche. Das ist aber auch ihr einziges Lob; denn die Scheidung des Gebietes nach Gegenwart und Zukunft ist sowohl unvollständig als willkürlich. Sie ist unvollständig, denn wohin sollen wir jene Gemütsbewegungen rechnen, die nicht auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges, sondern wie die Reue und das Dankgefühl auf Vergangenes sich beziehen? – Man müßte wohl für sie eine dritte Klasse bilden. Doch das wäre das geringere Übel; viel schlimmer ist die Willkürlichkeit, mit welcher, in Rücksicht auf verschiedene Zeitbestimmungen

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§ 2.   Wenn die Grundklasse für die Phänomene des Gefühls und Willens dieselbe ist, so muß, nach dem von uns angenommenen Prinzipe der Einteilung, die Weise der Beziehung des einen und anderen Bewußtseins eine wesentlich verwandte sein. Was aber sollen wir als den gemeinsamen Charakter ihrer Richtung auf die Gegenstände angeben? Auch hierauf muß, wenn unsere Ansicht richtig ist, die innere Erfahrung antworten. Sie tut dies wirklich und liefert so noch unmittelbarer den Beweis für die Einheit der höchsten Klasse. Wie die allgemeine Natur des Urteils darin besteht, daß eine Tatsache angenommen oder verworfen wird, so besteht nach dem Zeugnisse der inneren Erfahrung auch der allgemeine Charakter des Gebietes, welches uns jetzt vorliegt, in einem gewissen Annehmen oder Verwerfen; nicht in demselben, der Objekte, psychische Erscheinungen, die sich vorzüglich nahe stehen, hier in verschiedene Grundklassen zu sondern wären. So z. B. gehen die Phänomene, die man als Wünsche zu bezeichnen pflegt, teils auf Zukünftiges, teils auf Gegenwärtiges, teils auf Vergangenes. Ich wünsche dich oft zu sehen; ich möchte, ich wäre ein reicher Mann; ich wünschte, ich hätte das nicht getan; das sind Beispiele, welche die drei Zeiten vertreten; und wenn die letzten beiden Wünsche unfruchtbar und aussichtslos sind, so bleibt doch, wie Kant, Hamiltons vorzüglichste Autorität, anerkennt, der allgemeine Charakter des Wunsches dabei gewahrt. Es kann aber sogar geschehen, daß, indem einer wünscht, sein Bruder sei glücklich in Amerika angekommen, sein Wunsch sich auf Vergangenes bezieht, ohne darum auf etwas zu gehen, dessen Unmöglichkeit offenbar ist. Sollen wir nun die psychischen Zustände, welche die Sprache hier unter dem Namen der Wünsche vereinigt, als in keiner Weise enger verwandt betrachten? sollen wir sie voneinander scheiden, um einen Teil mit den Willensakten, einen anderen mit Lust und Unlust, einen dritten mit der für die Vergangenheit zu bildenden Klasse zu vereinigen? Ich glaube, keinem entgeht, wie ungerechtfertigt und widernatürlich ein solches Verfahren wäre. Es ist demnach auch dieser Versuch einer Grenzbestimmung zwischen Gefühl und Willen völlig verunglückt. Kein Wunder daher, wenn die Konfusion zwischen Gefühlen und Strebungen, die Hamilton an andern tadelte, ihm selbst in keiner Weise erspart bleibt. Hört man die Begriffsbestimmungen, die er von den spezielleren Erscheinungen gibt, so wird man oft schwerlich erraten, zu welcher von seinen zwei Grundklassen er die eine oder andere rechnen wollte. Die Eitelkeit definiert er als „den Wunsch anderen zu gefallen aus Begierde von ihnen geachtet zu werden“ und rechnet sie – zu den Gefühlen (II, p. 519); und ebendazu rechnet er die Reue und die Scham, d. i. „die Furcht und Sorge, die Mißachtung anderer sich zuzuziehen“; als ob nicht bei beiden ihre Richtung auf ein Objekt, und – bei der einen an sich schon, bei der anderen nach der Definition, die Hamilton gibt – ihre Beziehung auf etwas nicht Gegenwärtiges aufs deutlichste ersichtlich wäre. Dieser vollständige Mißerfolg eines so angesehenen Denkers bestätigt, glaube ich, in einer schlagenden Weise, was ich über den Mangel einer von der Natur selbst vorgezeichneten, deutlichen Abgrenzung zwischen den angeblichen zwei Grundklassen bemerkt habe.

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aber in einem analogen Sinne. Wenn etwas Inhalt eines Urteils werden kann, insofern es als wahr annehmlich oder als falsch verwerflich ist, so kann es Inhalt eines Phänomens der dritten Grundklasse werden, insofern es als gut genehm (im weitesten Sinne des Wortes) oder als schlecht ungenehm sein kann. Es handelt sich, wie dort um Wahrheit und Falschheit, hier um Wert und Unwert eines Gegenstandes. Ich glaube, niemand wird meine Worte so verstehen, als wollte ich sagen, die Phänomene dieser Klasse seien Erkenntnisakte, vermöge deren Güte oder Schlechtigkeit, Wert oder Unwert in gewissen Gegenständen wahrgenommen werde; doch bemerke ich ausdrücklich, um jede solche Auslegung vollends unmöglich zu machen, daß dies eine gänzliche Verkennung meiner wahren Meinung wäre. Einmal, würde ich ja sonst diese Phänomene zu den Urteilen rechnen; ich trenne sie aber von ihnen als eine besondere Klasse; und dann, würde ich die Vorstellungen von Güte und Schlechtigkeit, Wert und Unwert für diese Klasse von Phänomenen allgemein voraussetzen, während dies so wenig der Fall ist, daß ich vielmehr zeigen werde, wie alle derartigen Vorstellungen erst aus der inneren Erfahrung dieser Phänomene entspringen. Auch die Vorstellungen von Wahrheit und Falschheit werden, wie wohl niemand bezweifelt, im Hinblick auf Urteile und unter Voraussetzung ihrer uns zuteil. Wenn wir sagen, jedes anerkennende Urteil sei ein Fürwahrhalten, jedes verwerfende ein Fürfalschhalten, so bedeutet dies also nicht, daß jenes in einer Prädikation der Wahrheit von dem Fürwahrgehaltenen, dieses in einer Prädikation der Falschheit von dem Fürfalschgehaltenen bestehe; unsere früheren Erörterungen haben vielmehr dargetan, daß, was die Ausdrücke bedeuten, eine besondere Weise intentionaler Aufnahme eines Gegenstandes, eine besondere Weise der psychischen Beziehung zu einem Inhalte des Bewußtseins ist. Nur das ist richtig, daß, wer etwas für wahr hält, nicht bloß den Gegenstand anerkennt, sondern dann, auf die Frage, ob der Gegenstand anzuerkennen sei, auch das Anzuerkennensein des Gegenstandes, d. h. (denn nichts anderes bedeutet der barbarische Ausdruck) die Wahrheit des Gegenstandes ebenfalls anerkennen wird. Und damit mag der Ausdruck „Fürwahrhalten“ zusammenhängen. Der Ausdruck „Fürfalschhalten“ aber wird in analoger Weise sich erklären. Ebenso bedeuten uns denn die Ausdrücke, die wir hier in analoger Weise gebrauchen, „als gut genehm sein“, „als schlecht ungenehm sein“, nicht, daß in den Phänomenen dieser Klasse Güte einem als gut Genehmen, oder Schlechtigkeit einem als schlecht Ungenehmen zugeschrieben werde, vielmehr bedeuten auch sie eine besondere Weise der Beziehung der psychischen

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Tätigkeit auf einen Inhalt. Nur das ist auch hier richtig, daß einer, dessen Bewußtsein sich in solcher Weise auf einen Inhalt bezieht, die Frage, ob der Gegenstand von der Art sei, daß man zu ihm in die betreffende Beziehung treten könne, infolge davon bejahen wird; was dann nichts anderes heißt, als ihm Güte oder Schlechtigkeit, Wert oder Unwert zuschreiben. Ein Phänomen dieser Klasse ist nicht ein Urteil: „dies ist zu lieben“, oder „dies ist zu hassen“ (das wäre ein Urteil über Güte oder Schlechtigkeit); aber es ist ein Lieben oder Hassen. Im Sinne der gegebenen Erläuterung wiederhole ich also jetzt ohne Besorgnis mißverstanden zu werden, daß es sich analog wie bei den Urteilen um Wahrheit oder Unwahrheit bei den Phänomenen dieser Klasse um Güte und Schlechtigkeit, um Wert oder Unwert der Gegenstände handelt. Und diese charakteristische Beziehung zum Objekte ist es, die, wie ich behaupte, bei Begehren und Wollen so wie bei allem, was wir Gefühl oder Gemütsbewegung nennen, die innere Wahrnehmung in gleich unmittelbarer und evidenter Weise erkennen läßt. § 3.   Beim Streben, Begehren und Wollen darf, was ich sage, als allgemein anerkannt betrachtet werden. Hören wir darüber einen der hervorragendsten und einflußreichsten Verteidiger der fundamentalen Scheidung von Gefühl und Willen. Lotze, wo er diejenigen bekämpft, welche das Wollen als ein Wissen fassen und sagen, das „ich will“ sei gleich einem zuversichtlichen „ich werde“, setzt das Wesen des Wollens in eine Billigung oder Mißbilligung, also in ein Gutfinden oder Schlechtfinden. „Nur die Gewißheit vielleicht, daß ich han­ deln werde“, sagt er, „mag gleichgeltend sein mit dem Wissen meines Wollens; aber dann wird in dem Begriffe des Handelns jenes eigentümliche Element der Billigung, der Zulassung oder Absicht eingeschlossen sein, welches den Willen zum Willen macht.“ Und wiederum, gegen diejenigen gewendet, welche den Willen als eine gewisse Macht zum Wirken begreifen wollen, erklärt er: „Diese Billigung nun, durch welche unser Wille den Entschluß, welchen die drängenden Beweggründe des Vorstellungslaufes ihm darbieten, als den seinigen adoptiert, oder die Mißbilligung, mit welcher er ihn von sich zurückweist, beide würden denkbar sein, auch wenn keiner von beiden die geringste Macht besäße, bestimmend und verändernd in den Ablauf der inneren Ereignisse einzugreifen“85. – Was ist diese Billigung oder Mißbilli85 Mikrokosmus, 1. Aufl., I, p. 280.

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gung, von der Lotze spricht? Es ist klar, daß er nicht ein Gut- und Schlechtfinden im Sinne eines praktischen Urteils meint, da er die Urteile, wie wir sahen, zur Klasse der Vorstellungen rechnet. Was lehrt er also anderes, als daß das Wesen des Wollens in einer besonderen Beziehung der psychischen Tätigkeit auf den Gegenstand als gut oder schlecht bestehe? Ähnlich könnten wir Stellen von Kant und von Mendelssohn, den vorzüglichsten Begründern der üblichen Dreiteilung, anführen, die dafür sprechen, daß eine solche Beziehung auf den Gegenstand als gut oder schlecht den Grundcharakter eines jeden Begehrens ausmache86. Doch wir greifen lieber sogleich in das Altertum zurück, um das Zeugnis der antiken Psychologie mit dem der modernen zu verbinden. Aristoteles spricht hier mit einer Deutlichkeit, die nichts zu wünschen übrig läßt. „Gut“ und „begehrbar“ sind ihm gleichbedeutende Ausdrücke. „Der Gegenstand des Begehrens“ (τὸ ὀρεκτόν), sagt er in seinen Büchern von der Seele, „ist das Gute oder das als gut Erscheinende“; und am Anfange seiner Ethik erklärt er: „Jede Handlung und jede Wahl scheint nach einem Gute zu streben; weshalb man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt“87. Daher identifiziert er auch die Zweckursache mit dem Guten88. Dieselbe Lehre erhielt sich dann im Mittelalter. Thomas von Aquin lehrt mit aller Klarheit, daß, wie das Denken zu einem Objekt als erkennbarem, das Begehren zu ihm als gutem in Beziehung trete. So könne es geschehen, daß ein und dasselbe Gegenstand ganz heterogener psychischer Tätigkeiten sei89. Wir sehen an diesen Beispielen, wie die hervorragendsten Denker verschiedener Perioden hinsichtlich des Strebens und Wollens in der Anerkennung der von uns geltend gemachten Erfahrungstatsache einig sind, wenn sie auch vielleicht nicht alle in gleicher Weise ihre Bedeutung würdigen. § 4.   Wenden wir uns zu den andern Phänomenen, um die es sich handelt, und namentlich zu Lust und Unlust, die am meisten als Gefühle von dem Willen gesondert zu werden pflegen. Ist es richtig, daß auch hier die innere Erfahrung jene eigentümliche Weise der Beziehung zum Inhalte, jenes „als gut Genehmsein“ oder „als schlecht Ungenehmsein“ als Grundcharakter der 86 Vgl. Mendelssohn, Gesammelte Schriften IV, p. 122 ff. 87 De Anim. III, 10. Eth. Nic. I, 1. Metaph. Λ, 7. Vgl. auch Rhet. I, 6. 88 Metaph. Λ, 10 u. anderwärts. 89 Vgl. z. B. Summ. Theol. P. I. Q. 80. A. 1 ad 2.

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Erscheinungen mit Klarheit erkennen läßt? Handelt es sich auch hier deutlich in ähnlicher Weise um den Wert und Unwert, wie beim Urteile um die Wahrheit und Falschheit der Gegenstände? – Was mich betrifft, so scheint mir dies bei ihnen nicht minder einleuchtend als beim Begehren. Weil man aber glauben könnte, daß eine Voreingenommenheit hierbei im Spiele sei und mich die Erscheinungen mißdeuten lasse, so will ich mich auch hier wieder zugleich auf die Zeugnisse anderer berufen. Hören wir auch in diesem Punkte vor allem Lotze. „War es eine ursprüngliche Eigentümlichkeit des Geistes“, sagt er in seinem Mikrokosmus90, „Veränderungen nicht nur zu erfahren, sondern sie auch vorstellend wahrzunehmen, so ist es ein ebenso ursprünglicher Zug desselben, sie nicht nur vorzustellen, sondern in Lust und Unlust auch des Wertes inne zu werden, den sie für ihn haben.“ Unmittelbar darauf äußert er sich ähnlich: „Im Gefühle der Lust wird die Seele sich der Übung ihrer Kräfte als einer Steigerung in dem Werte ihres Daseins bewußt.“ So wiederholt er noch öfter den Gedanken und hält bei höheren wie niederen Gefühlen gleichmäßig ihn fest. Der eigentliche Kern des sinnlichen Triebes ist nach ihm „immer nur ein Gefühl, das in Lust und Unlust uns den Wert eines vielleicht nicht zur bewußten Einsicht kommenden körperlichen Zustandes verrät“91; und „die sittlichen Grundsätze jeder Zeit waren Aussprüche des wertempfindenden Gefühles“; sie „wurden stets von dem Gemüte in einer anderen Weise gebilligt als die Wahrheiten der Erkenntnis“92. Wie sich Lotze das Empfinden des Wertes in dem Gefühle denkt, wage ich nicht mit voller Sicherheit zu bestimmen; daß er aber das Gefühl selbst nicht als die Erkenntnis eines Wertes ansah, ist unzweifelhaft, nicht bloß wegen einzelner Äußerungen93, sondern auch schon darum, weil er es sonst 90 Mirokosmus 1. Aufl., I, p. 261. 91 Ebend. p. 277. 92 Ebend. p. 268. 93 So setzte er in der eben mitgeteilten Stelle die Billigung durch das Gefühl als eine „andere Weise der Billigung“ jeder Anerkennung einer Wahrheit entgegen. Und p. 262 sagt er, die Gefühle der Lust oder Unlust würden „immer von uns auf irgend eine unbekannte Förderung oder Störung gedeutet werden“. Die Annahme folgt also erst dem Fühlen, wenn auch vielleicht auf dem Fuße. – Fragen wir aber, warum jene Gefühle immer so gedeutet werden, so bekommen wir von Lotze, wie mir scheint, keine ganz genügende Antwort. Daß die Vorstellung einer Lust ohne eine gleichzeitige Förderung wie die, auf welche wir sie nach Lotze deuten, eine Kontradiktion enthalten würde, scheint nicht seine Ansicht; woher also jene Notwendigkeit oder unüberwindliche Neigung? – Wir, auf unserem Standpunkte,

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seiner ersten Klasse untergeordnet haben würde. Danach scheint aber der Ausdruck nur mehr in einer Weise, und zwar im Sinne unserer Anschauung sich rechtfertigen zu lassen. Es ist auch bemerkenswert, daß Lotze nicht bloß sagt, daß das Gefühl Wert und Unwert empfinde, und es so zu dem Gegenstand als gut und schlecht in Beziehung setzt, sondern bei ihm auch ganz derselben Bezeichnung „billigen“ sich bedient, die er zuvor angewandt hatte, um das „eigentümliche Element, welches den Willen zum Willen macht“, zu benennen. Umgekehrt sagt er ein anderes Mal für „Wollen“ „herzliche Teilnahme“94, ein Ausdruck, der gewöhnlich für Phänomene von Lust und Leid gebraucht wird. Wie sollte nicht in dieser Übertragung der am meisten charakteristischen Benennungen des einen Gebietes auf das andere ein unwillkürliches, aber bedeutungsvolles Zeugnis für die wesentliche Verwandtschaft in der Beziehungsweise der beiderseitigen Erscheinungen zu ihren Objekten und somit für ihre Zusammengehörigkeit zu einer Grundklasse liegen? Hamilton – denn auch diesen großen Verteidiger der Sonderstellung der Gefühle wollen wir nicht unberücksichtigt lassen – nennt mit ganz ähnlichen

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können, glaube ich, die Frage beantworten. Mit derselben Notwendigkeit, mit welcher jemand dem Objekte eines anerkennenden oder verwerfenden Urteils infolge dieses Urteils Wahrheit zuschreibt, mit derselben Notwendigkeit schreibt er bei der Ausübung einer Tätigkeit der dritten Grundklasse infolge dieser Tätigkeit ihrem Objekte einen Wert oder Unwert zu (s. o. S. 361 f.). So denn auch bei Lust und Unlust. Haben wir also eine von Lust begleitete sinnliche Empfindung, so schreiben wir der Empfindung einen Wert zu, und insoweit ist der Prozeß offenbar notwendig. Wir werden aber alsbald weiter geführt. Indem wir z. B. bemerken, daß die angenehmen Empfindungen von gewissen körperlichen Prozessen abhängen, werden uns notwendig auch diese wegen ihrer Folgen wertvoll sein; und vermöge der eigentümlichen Gesetze, welche wir später für dieses Gebiet der Seelenerscheinungen festzustellen haben, wird es dann geschehen, daß sie allmählich auch ohne Berücksichtigung der Folgen Gegenstand unserer Liebe und Wertschätzung werden. Ja es kann dazu kommen, daß wir ihnen Vorzüge beilegen, für deren Annahme wir nicht den mindesten vernünftigen Anhalt besitzen, wie wenn wir ohne jede Erfahrung, daß wohlschmeckende Speisen der Gesundheit zuträglicher seien, ihnen um ihres Wohlgeschmackes willen auch diese gute Eigenschaft zuschrieben. Hat ja der Aberglaube des Volkes in dem Golde, weil es in anderer Hinsicht sich vielfach wertvoll und nützlich erwies, infolgedessen auch ein treffliches Heilmittel vermutet. Doch gibt es in unserem Falle auch spezifische Erfahrungen, die einen sehr weitgehenden Zusammenhang von Lust und organischer Förderung erkennen lassen, und so eine vernünftigere Vermutung gestatten, es möge auch in dem einzelnen, vorliegenden Falle dasselbe gelten. Auch diese mögen, wenn nicht allgemein, doch in der Regel zu den vorher besprochenen Motiven hinzukommen und mit ihnen zusammenwirken. Ebend. p. 280.

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Ausdrücken wie Lotze „Lust und Unlust“ „eine Schätzung des relativen Wertes der Objekte“95, wobei wir es freilich ihm selbst überlassen müssen, diesen Ausspruch mit dem, wie er uns lehrte, „subjektivisch subjektiven“ Charakter der Gefühle in Einklang zu bringen. Solche Äußerungen, welche die Beziehung der Gefühlsphänomene auf die Gegenstände als gut und schlecht deutlich anerkennen, kehren bei ihm auch anderwärts, ja sehr häufig wieder96. Kant endlich, in seiner Kritik der Urteilskraft, bezeichnet gerade da, wo er Gefühl und Begehren scheiden will, beide als ein Wohlgefallen, nur das eine als uninteressiertes, das andere als praktisches. Näher untersucht, läuft dies darauf hinaus, daß man in dem Gefühle bloß an der Vorstellung eines Gegenstandes, in dem Begehren an der Existenz eines Gegenstandes ein Interesse habe; und auch dieser Unterschied würde aufgehoben, wenn es sich zeigen sollte, daß, was Kant hier Gefühl nennt, in Wahrheit auf jene Vorstellung selbst als seinen Gegenstand gerichtet ist. In einer früheren Schrift aber sagt Kant geradezu: „Man hat es in unseren Tagen allerst einzusehen angefangen, daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntnis, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei, und daß beide ja nicht miteinander müssen verwechselt werden“97. Solche Zeugnisse aus dem Munde der am meisten hervorragenden Gegner sind gewiß von unleugbarer Bedeutung. Und auch hier verbinden sich mit den modernen98 die übereinstimmenden Aussagen längst vergangener 95 Lect. on Metaph. I, p. 188. 96 Vgl. ebenda II, p. 434 ff. besonders p. 436 Nr. 3 u. 4. 97 Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (I, S. 109), eine Schrift aus dem Jahre 1763. 98 Einige andere, freilich sehr unfreiwillige neuere Zeugnisse für den übereinstimmenden Charakter von Gefühl und Willen führt Herbart an. Wenn man die Psychologen nach dem Ursprunge der Grenze zwischen Fühlen und Begehren fragt, sagt er: „drehen sich ihre Erklärungen im Zirkel ... Maaß in dem Werke über die Gefühle (S. 89 des I. T.) erklärt Fühlen durch Begehren (‚ein Gefühl ist angenehm, so fern es um seiner selbst willen begehrt wird‘), aber eben derselbe, in dem Werke über die Leidenschaften (S. 2, vgl. S. 7) sagt: es sei ein bekanntes Naturgesetz, zu begehren was als gut, zu verabscheuen, was als böse vorgestellt werde. Wobei die Frage entsteht, was denn gut, und was denn böse sei? Darauf nun erhalten wir die Antwort: die Sinnlichkeit stelle als gut vor das, wovon sie angenehm affiziert werde usw. Und hiermit sind wir im Zirkel herum geführt. – Hoffbauer, in seinem Grundrisse der Erfahrungsseelenlehre, fängt die Kapitel vom Gefühlsvermögen und Begehrungsvermögen so an: ‚Wir sind uns mancher Zustände bewußt, welche wir uns bestreben hervorzubringen, diese nennen wir angenehm; gewisse Vorstellungen erzeugen in uns das Bestreben ihren Gegenstand wirklich zu machen, dies

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Perioden. Wie wenig es richtig ist, daß man, wie Kant meinte, erst zu seiner Zeit ein besonderes Vermögen, welches sich auf etwas als gut bezieht, dem, welches auf etwas als wahr gerichtet ist, zur Seite zu stellen anfing, hat uns unser historischer Überblick gelehrt. Die ältere Psychologie, so weit und so lange Aristoteles sie beherrschte, schied ja in diesem Sinne Denken und Begehren. In dem Begehren – so sehr entschränkte sie den Ausdruck – waren auch die Gefühle von Lust und Unlust und überhaupt alles, was nicht ein vorstellendes oder urteilendes Denken ist, begriffen. Hierin lag, was uns bei unserer Frage vorzüglich interessiert, die Anerkennung, daß die Relation zu den Objekten als guten oder schlechten, die wir als den allgemeinen wesentlichen Grundcharakter der Gefühle behaupten, bei ihnen nicht minder als beim Begehren und Wollen gegeben sei. Dasselbe zeigen die Aussprüche des Aristoteles über die Beziehung der begleitenden Lust zur Vollkommenheit des Aktes, die man in der Nikomachischen Ethik findet, und die wir bei der Untersuchung über das Bewußtsein erwähnt haben, sowie einige Stellen seiner Rhetorik99. Die Peripatetische Schule des Mittelalters, insbesondere Tho­ mas von Aquin in seiner interessanten Lehre von dem Zusammenhange der Gemütsbewegungen vertritt aufs Unzweideutigste dieselbe Anschauung100. Auch die Sprache des gewöhnlichen Lebens deutet darauf hin, daß bei Lust und Unlust eine Beziehung zum Gegenstand bestehe, die derjenigen des Wollens wesentlich verwandt ist. Sie liebt es, Ausdrücke, die sie zunächst auf dem einen Gebiete anwandte, dann auf das andere zu übertragen. So nennen wir angenehm das, was uns Lust, unangenehm das, was uns Unlust gewährt, wir sprechen aber auch von einem Genehmsein und einer Genehmigung auf der Seite des Willens. Ebenso wurde das „Placet“ im Sinne einer Gutheißung offenbar aus dem Gebiete des Gefühls auf einen Willensentschluß übertragen; und nicht minder deutlich hat der deutsche Ausdruck „gefallen“ in „tue, was dir gefällt!“ oder „ist Ihnen etwas gefällig?“ u. s. f. dasselbe erfahren. Ja selbst das Wort „Lust“ wird in der Frage: „hast du Lust?“ zur unverkennbaren Bezeichnung einer Willensrichtung. Andererseits ist der „Unwillen“ kaum ein Wille zu nennen, obwohl der Ausdruck daher entnennen wir Begehren‘ usw. Hier ist einerlei Grund, das Bestreben, den Gefühlen und Begierden untergelegt.“ (Lehrbuch zur Psychologie T. 2, Abschn. 1, Kap. 4, § 96.) 99 S. Buch II, Kap. 3, § 6 m. Psych. v. emp. St. und Rhet. I, 11, besonders p. 1370, a, 16; II, 4, p. 1381, a, 6. 100 Summ. Theol. P. II, 1. Q. 26 ff.

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lehnt ist, und der „Widerwillen“ als Bezeichnung gewisser Erscheinungen des Ekels ist unverkennbar der Name eines Gefühls geworden. Die Sprache tut aber mehr als daß sie gewisse Namen von Erscheinungen des einen auf Erscheinungen des anderen Gebietes überträgt. Sie hat in den Ausdrücken „Liebe“ und „Haß“ ein Mittel der Bezeichnung, das in ganz eigentlicher Weise bei jedem Phänomen in dem gesamten Bereiche anwendbar ist. Denn, sind sie auch in dem einen oder anderen Fall minder üblich, so versteht einer doch, wenn man sie gebraucht, was damit gemeint ist, und erkennt, daß sie ihrer eigentlichen Bedeutung nicht entfremdet werden. Das Einzige, was in solchen Fällen gegen sie spricht, ist, daß der Sprachgebrauch hier spezielleren Bezeichnungen den Vorzug zu geben pflegt. Denn in Wahrheit sind sie in einem sehr gewöhnlich, obwohl nicht ausschließlich damit verbundenen Sinne Ausdrücke, welche die unserer dritten Grundklasse eigentümliche Weise der Beziehung zum Gegenstande in ihrer Allgemeinheit kennzeichnen. Die Zusammenstellungen von „Lust und Liebe“ „lieb und leid“ und dgl. zeigen den Ausdruck „Liebe“ auf die entschiedensten Gefühle angewandt. Und wenn wir sagen „lieblich“, „häßlich“, was meinen wir anderes als eine Lust oder Unlust erweckende Erscheinung? Andererseits weisen Äußerungen wie „es beliebt mir“, „tue was dir lieb ist“ deutlich auf Phänomene des Willens hin. In dem Satze „er hat eine Vorliebe für wissenschaftliche Beschäftigung“ ist etwas ausgesprochen, was vielleicht manche zu dem Gefühle rechnen, während es andere für eine habituelle Richtung des Willens erklären werden. Ebenso überlasse ich es anderen, zu entscheiden, ob bei Namen wie „mißliebig“, „unliebsam“, „Liebling“ („Lieblingspferd“ und „Lieblingsstudium“ miteinbegriffen) mehr Gründe für die Einordnung des Liebens, von dem die Rede ist, in das Gebiet, das sie Gefühle nennen, oder in das, welches sie dem Willen zuweisen, sich anführen lassen. Was mich betrifft, so glaube ich, daß es als allgemeinerer Ausdruck auch in diesem einzelnen Falle beide umspannt. Wer sich nach etwas sehnt, der liebt es zu haben; wer über etwas trauert, dem ist das unlieb, worüber er trauert; wer sich über etwas freut, liebt, daß es so ist; wer etwas tun will, liebt es zu tun (wenn nicht an und für sich, so doch in Rücksicht auf diese oder jene Folge) u. s. f., und die genannten Akte sind nicht etwas, was bloß mit einem Lieben zusammen besteht, sondern sie selbst sind Akte der Liebe. So zeigt sich, daß „gut sein“ und „irgendwie zu lieben sein“ so wie andererseits „schlecht sein“ und „irgendwie zu hassen sein“ dasselbe besagen, und wir sind gerechtfertigt, wenn wir den Ausdruck

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„Liebe“ zum Namen unserer dritten Grundklasse wählten, indem wir dabei, wie schon bemerkt, wie man bei Begehren und Wollen ähnlich zu tun pflegt, den Gegensatz miteinbegriffen. Als Ergebnis unserer Erörterung dürfen wir also aussprechen, daß die innere Erfahrung deutlich die Einheit der Grundklasse für Gefühl und Willen offenbart. Sie tut es, indem sie uns zeigt, daß nirgends zwischen ihnen eine scharf gezogene Grenze ist, und daß ein gemeinsamer Charakter ihrer Beziehung auf den Inhalt sie von den übrigen psychischen Phänomenen unterscheidet. Was die Philosophen der verschiedensten Richtung und selbst die, welche das Gebiet in zwei Grundklassen sondern, darüber äußerten, wies deutlich auf diesen gemeinsamen Charakter hin und bestätigte, ebenso wie die Sprache des Volkes, die Richtigkeit unserer Beschreibung der inneren Erscheinungen. § 5.   Verfolgen wir weiter den Plan unserer Untersuchung. Als es sich darum handelte, Vorstellung und Urteil als zwei verschiedene Grundklassen psychischer Phänomene zu erweisen, begnügten wir uns nicht damit, das direkte Zeugnis der Erfahrung anzurufen; vielmehr haben wir auch gezeigt, daß der große Unterschied, der unleugbar zwischen dem einen und anderen Phänomene besteht, gänzlich auf Rechnung der verschiedenen Weise ihrer Beziehung zum Objekte zu setzen ist. Von diesem Unterschiede abgesehen, würde jedes Urteil mit einer Vorstellung sich gedeckt haben und umgekehrt. Werfen wir jetzt in betreff der Gefühle und des Willens die gleiche Frage auf. Wäre, wer keinerlei Unterschied in der Weise des Bewußtseins zwischen einem Fühlen von Freude und Schmerz und einem Wollen anerkennte, vielleicht ebenfalls außerstande irgend etwas als unterscheidend namhaft zu machen? würde auch zwischen ihnen jede Verschiedenheit dann ausgeglichen sein? – Sicher ist dieses nicht der Fall. Wir haben früher gesehen, wie zwischen dem Fühlen einer Freude oder eines Schmerzes und dem Wollen im eigentlichsten Sinne eine Reihe von Seelenzuständen so zu sagen in der Mitte steht, von welchen man nicht recht weiß, ob sie bei einer Scheidung des Gebietes in Gefühl und Willen besser der einen oder anderen Seite zugerechnet werden. Sehnsucht, Hoffnung, Mut und andere Erscheinungen gehören hieher. Gewiß wird niemand behaupten, jede dieser Klassen sei von der Art, daß sich außer einer etwaigen Besonderheit der Beziehung zum Objekte kein Unterschied dafür angeben lasse. Eigentümlichkeiten der Vorstellungen und Eigentümlichkeiten der Urteile, die ihnen zugrunde liegen, dienen dazu, die eine von der anderen zu

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unterscheiden; und an solche Unterschiede hat man sich darum gehalten, da man in älterer wie neuerer Zeit Versuche machte, sie definierend gegeneinander abzugrenzen. Dies hat schon Aristoteles in seiner Rhetorik, so wie in der Nikomachischen Ethik getan, und andere wie z. B. Cicero im vierten Buch der Tusculanae Quaestiones sind seinem Beispiele gefolgt. Später finden wir ähnliche Versuche bei Kirchenvätern wie Gregor von Nyssa, Augustinus und anderen, und in einem vorzüglichen Maße im Mittelalter bei Thomas von Aquin in seiner Prima Secundae. Wiederum begegnen sie uns in der Neuzeit bei Descartes in seiner Abhandlung über die Leidenschaften, bei Spinoza im dritten Teile seiner Ethik, wohl dem verdienstvollsten des ganzen Werkes; ferner bei Hume, Hartley, James Mill usf. bis auf unsere Zeit. Natürlich konnten solche Definitionen, indem sie die einzelne Klasse nicht bloß gegen eine, sondern gegen jede andere abgrenzen wollten, nicht immer von dem Gegensatze absehen, welcher dieses Gebiet, wie Anerkennung und Leugnung das der Urteile durchdringt, und ebenso mußten sie auf die Unterschiede in der Stärke der Phänomene mitunter Rücksicht nehmen. Mehr aber ist in der Tat nicht nötig, und im übrigen mit den zuvor erwähnten Mitteln bei der Bestimmung eines jeden zu diesem Gebiete gehörigen Klassenbegriffes vollkommen auszureichen; womit selbstverständlich nicht gesagt sein soll, daß jeder Versuch, den man mit ihrer Hilfe gemacht hat, auch wirklich gelungen sei. Lotze, der in seiner medizinischen Psychologie hinsichtlich verschiedener Klassen, die er zu den Gefühlen rechnet, denselben Weg der Definition betritt, enthält sich dagegen in betreff der Besonderheit des Wollens eines jeden solchen Versuches, indem er ihn für notwendig erfolglos hält. „Vergeblich“, sagt er, „sucht man das Vorhandensein des Wollens zu leugnen, ebenso vergeblich, als wir uns bemühen würden, seine einfache Natur, die nur unmittelbar sich erleben läßt, durch umschreibende Erklärungen zu verdeutlichen101“. Dies ist auf seinem Standpunkt konsequent geurteilt102; richtig aber scheint es mir in keiner Weise. Jedes Wollen partizipiert an dem 101 Mikrokosmus 1. Aufl. I, S. 280. 102 Kant und Hamilton haben freilich die Konsequenz nicht gezogen; aber einerseits waren sie bei ihren Versuchen wenig glücklich, anderseits so weit sie Erfolg hatten, geben sie dadurch nur selbst gegen ihren Grundgedanken eines fundamentalen Klassenunterschiedes Zeugnis. So Kant, wenn er das Wohlgefallen des Willens, als Wohlgefallen am Sein, dem Wohlgefallen des Gefühles als dem uninteressierten Wohlgefallen, welches durch die bloße Vorstellung befriedigt ist, gegenüberstellt. (S. o. S. 365 f.)

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gemeinsamen Charakter unserer dritten Grundklasse; und wer darum das Gewollte als etwas, was jemand lieb ist, bezeichnet, hat dadurch schon einigermaßen und in äußerster Allgemeinheit die Natur der Willenstätigkeit gekennzeichnet. Fügt man dann Bestimmungen über die Besonderheit des Inhaltes, über die Eigentümlichkeit der Vorstellung und des Urteils hinzu, die dem Wollen zugrunde liegen, so ergänzt sich die erste Angabe in ähnlicher Weise zu einer genau abgrenzenden Definition, wie in anderen Fällen die einer Klasse von Gefühlen. Jedes Wollen geht auf ein Tun, von dem wir glauben, daß es in unserer Macht liege, auf ein Gut, welches als Folge des Wollens selbst erwartet wird. An diese spezialisierenden Bestimmungen hat schon Aristoteles gerührt, indem er das Wählbare als ein durch Handeln zu erreichendes Gut bezeichnete. Eingehender haben James Mill und Alexander Bain die besonderen Bedingungen des Phänomens, die in den zugrunde liegenden Vorstellungen und Urteilen gegeben sind, analysiert. Diese Analysen, selbst wenn einer das eine oder andere noch daran auszusetzen fände, werden doch, glaube ich, in jedem, der sie beachtet, die Überzeugung erwecken, daß man wirklich auch das Wollen in ähnlicher Weise und mit ähnlichen Mitteln wie die einzelnen Klassen der Gefühle definieren kann, und daß es nicht so unbeschreiblich einfach ist, wie Lotze uns lehrte103. § 6.   Wenn wir indessen sagten, daß das Wollen durch Hinzufügung von solcherlei Bestimmungen zum allgemeinen Begriffe der Liebe definierbar sei, so meinen wir damit nicht, daß jemand, der das spezielle Phänomen nie selbst in sich erfahren hätte, durch die Definition zu vollkommener Klarheit darüber gelangen könnte. Dies ist keineswegs der Fall. Es besteht in dieser Beziehung ein großer Unterschied zwischen der Definition des Wollens und der Begriffsbestimmung einer besonderen Klasse von Urteilen durch Angabe der Gattung des Inhaltes, auf welchen sie anerkennend oder verwerfend gerichtet sind. Wenn man nur irgendwelche bejahende und verneinende Urteile gefällt hat, so kann man sich jedes andere Urteil anschaulich vorstellen, sobald man weiß, worauf es bejahend oder verneinend gerichtet ist. Hätte sich dagegen jemand auch noch so häufig liebend und hassend betätigt und in mannigfachen Abstufungen der Stärke, so würde doch für ihn, wenn er nie in specie etwas gewollt hätte, aus der Angabe der Besonderheit des Wollens in den erwähnten Beziehungen das Phänomen in sei103 Im fünften Buche werden wir uns eingehend mit der Frage zu beschäftigen haben. [Nicht zum Druck gelangt.]

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ner eigentümlichen Natur nie vollkommen vorstellbar werden. Wenn Lotze nichts anderes hätte sagen wollen, so würden wir uns vollkommen mit ihm einverstanden erklären. Aber dies ist nichts, was nicht ebenso für andere spezielle Klassen, die man gewöhnlich dem Gefühle unterordnet, gelten würde; denn auch von ihnen zeigt, um mich eines Ausdruckes von Lotze selbst zu bedienen, jede eine besondere Färbung. Wer nur Gefühle der Freude und der Trauer gehabt hätte, dem würde durch eine Definition des Hoffens oder Fürchtens dessen innere Eigentümlichkeit unmöglich vollkommen anschaulich werden; ja schon hinsichtlich verschiedener Arten von Freude gilt dasselbe: die Freude des guten Gewissens und die Lust bei angenehmer Erwärmung, die Freude beim Anblick eines schönen Gemäldes und die Lust beim Wohlgeschmacke einer Speise sind nicht etwa bloß quantitativ, sie sind qualitativ voneinander verschieden, und ohne eine spezifische Erfahrung würde die Angabe des besonderen Objekts zur Erweckung einer vollkommen entsprechenden Vorstellung nicht führen können. Um dieser qualitativen Verschiedenheiten willen wird man allerdings zugeben müssen, daß innerhalb des Gebietes der Liebe noch Unterschiede in der Weise der Beziehung zum Objekte bestehen. Aber damit ist nicht gesagt, daß nicht die Einheit derselben Grundklasse alle Phänomene der Liebe umfasse. Wie vielmehr zwischen qualitativ verschiedenen Farben, so besteht auch zwischen qualitativ verschiedenen Phänomenen der Liebe eine wesentliche Verwandtschaft und Übereinstimmung. Auch der Vergleich mit dem Gebiete des Urteils macht dies deutlich. Auch hier fehlt es nicht an Unterschieden in der Weise der Beziehung zum Objekt, wie denn vor allem der Unterschied von Anerkennen und Verwerfen ganz offenbar als ein solcher zu betrachten ist104. Man nennt sie mit Recht qualitativ verschieden. Dennoch erstreckt sich, da sie in ihrem allgemeinen Charakter miteinander übereinstimmen, die Einheit derselben Grundklasse über beide, und ihre Scheidung, obwohl ebenfalls durch die Natur vorgezeichnet, ist doch keine, welche auch nur annähernd eine ähnlich fundamentale Bedeutung wie die zwischen Vorstellung und Urteil hätte. Ganz dasselbe gilt in unserem Falle. Ja, es ist womöglich noch einleuchtender, daß bei einer Grundeinteilung der psychischen Phänomene die qualitativen Unterschiede spezieller Weisen des Liebens nicht in Betracht kommen können, als daß die Unterschiede der Qualität der Urteile nicht dabei zu berück104 Auch an die Unterschiede von evident und nicht evident, apodiktisch und bloß assertorisch und noch andere mehr wäre hier zu denken. [Anm. 1911]

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sichtigen sind. Die höchsten Klassen würden außerordentlich zahlreich oder vielmehr geradezu unzählig werden, namentlich da dasjenige, was zu einem geliebten oder gehaßten Gegenstande in Beziehung tritt, selbst wieder Gegenstand einer Liebe oder eines Hasses wird, und sehr gewöhnlich mit einer veränderten Färbung des Phänomenes. Auch würde die enge Umgrenzung, die jede von diesen höchsten Klassen erhielte, dem Zwecke einer ersten und fundamentalen Einteilung entgegen sein. Darum haben auch diejenigen, welche das von uns einheitlich umschriebene Gebiet in mehrere Grundklassen zerlegten, bei ihrer Einteilung nicht allen diesen Unterschieden Rechnung getragen. Sie scheiden nur zwei Klassen, Gefühl und Willen; alle speziellen Färbungen der Phänomene der Liebe und des Hasses, welche innerhalb des Gebiets, das sie Willen nennen, und zahlreicher noch innerhalb des Bereiches der Gefühle bestehen, lassen sie dagegen unberücksichtigt. So erkennen sie durch ihr praktisches Verhalten in der bei weitem größeren Zahl der Fälle an, daß solche untergeordnete Unterschiede nicht eine Sonderung in verschiedene Grundklassen rechtfertigen, und hiermit ist, wenn unsere Auseinandersetzung richtig ist, auch die Verwerfung ihrer Unterscheidung von Gefühl und Willen als höchster Klassen im Prinzipe zugegeben. § 7.   Wir kommen zu einer dritten Reihe von Erörterungen, welche die von uns behauptete Zusammengehörigkeit von Gefühl und Willen zu einer natürlichen Grundklasse bestätigen wird. Da es sich um die Feststellung der fundamentalen Verschiedenheit von Vorstellung und Urteil handelte, zeigten wir, wie alle Umstände darauf hinweisen, daß ein grundverschiedenes Verhältnis zum Inhalte das eine von dem anderen Phänomen unterscheidet. Wo das Urteil zur Vorstellung hinzutritt, findet man eine ganz neue Gattung von Gegensätzen, eine ganz neue Gattung von Intensität, eine ganz neue Gattung von Vollkommenheit und Unvollkommenheit und eine ganz neue Gattung von Gesetzen der Entstehung und Aufeinanderfolge. Auch die Klasse der Liebe und des Hasses, als Ganzes genommen, zeigte sich uns damals der Vorstellung und dem Urteile gegenüber in derselben allseitigen Weise durch Eigentümlichkeiten ausgezeichnet. Sollte innerhalb dieser Klasse selbst noch ein fundamentaler Unterschied in der Beziehungsweise zum Objekte bestehen, so dürfen wir demnach erwarten, daß auch hier in ähnlicher Art das eine Gebiet von dem anderen in jeder der angegebenen Richtungen die Besonderheit seines Charakters offenbaren werde.

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Aber in keiner Weise ist dies der Fall. Vor allem wird man sich leicht überzeugen, daß innerhalb des ganzen Gebietes von Gefühl und Willen nirgends eine Verschiedenheit von Gegen­ sätzen auftritt, von denen das eine Paar dem anderen so heterogen wäre, wie es der Gegensatz von Liebe und Haß dem von Anerkennung und Leugnung ist. Auch wenn wir Freude und Traurigkeit mit Wollen und Nichtwollen vergleichen, erkennen wir, daß hier und dort im Grunde genommen derselbe Gegensatz von Lieb- und Unliebsein, Gefallen und Mißfallen uns entgegentritt. Allerdings erscheint er in jedem der beiden Fälle etwas modifiziert, entsprechend der verschiedenen Färbung der Phänomene; aber der Unterschied ist nicht größer als der, welcher zwischen den Gegensätzen von Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht, Mut und Verzagen, Verlangen und Fliehen und vielen anderen in der Klasse gefunden wird. Dasselbe gilt in betreff der Stärke. Die Gesamtheit der Klasse ist deutlich durch eine besondere Gattung von Intensität ausgezeichnet. Die Unterschiede der Gewißheit sind, wie schon früher bemerkt, mit den Unterschieden der Grade des Liebens und Hassens unvergleichbar; ja geradezu lächerlich würde es sein, wenn einer sagte: es ist mir dies doppelt so wahrscheinlich, als mir jenes lieb ist oder dergleichen. Aber innerhalb der Klasse selbst gilt nirgends dasselbe. Wie die verschiedenen Stufen der Überzeugung im Anerkennen und Verwerfen, so lassen auch die Gradunterschiede im Lieben und Hassen sich miteinander vergleichen. Wie ich ohne Inkonvenienz sagen kann, daß ich das eine mit größerer Gewißheit annehme, als ich das andere leugne: so kann ich auch sagen, daß ich das eine in höherem Maße liebe, als ich das andere hasse. Und nicht bloß die Stärke von Gegensätzen, sondern auch die von Freude und Verlangen und Willen und Vorsatz kann ich im Verhältnis zueinander als größer und geringer bestimmen. Ich freue mich mehr darüber, als ich nach jenem verlange; mein Verlangen ihn wieder zu sehen ist nicht so stark, als mein Vorsatz ihn meine Mißbilligung empfinden zu lassen usf. Ähnliches zeigt sich in Hinsicht auf die Vollkommenheit und Unvollkom­ menheit. Wir sahen, wie in den Vorstellungen einerseits weder Tugend noch sittliche Schlechtigkeit, anderseits weder Erkenntnis noch Irrtum liegt. Mit den Phänomenen des Urteilens kommen die letzten beiden hinzu; das erste Paar dagegen liegt, wie schon gesagt, ausschließlich in dem Gebiete der Liebe und des Hasses. Findet es sich nun vielleicht nur in der einen der beiden Klassen, in welche man das Gebiet zerlegt hat, in dem Willen, nicht aber in dem der Gefühle? – Man erkennt leicht, daß dies nicht der Fall ist; sondern daß es

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wie einen sittlich guten und sittlich schlechten Willen, auch sittlich gute und sittlich schlechte Gefühle gibt, wie z. B. Mitleid, Dankbarkeit, Heldenmut, Neid, Schadenfreude, feige Furcht usf. Wegen des besprochenen Mangels deutlicher Abgrenzung weiß ich freilich nicht, in wie weit einer einzelne von diesen Beispielen vielleicht lieber zum Gebiete des Willens rechnet; aber auch nur eines von ihnen würde zu unserem Zwecke genügen105. Auch kann man nicht behaupten, daß zwar Tugend und Schlechtigkeit beiden Gebieten gemein; aber im Willen noch eine neue besondere Klasse von Vollkommenheit und Unvollkommenheit zu ihnen hinzugekommen sei; und bis jetzt wenigstens hat, meines Wissens, niemand eine solche bezeichnet. Wenden wir uns zu dem letzten Punkte des Vergleiches, zu den Gesetzen der Sukzession der Erscheinungen. Bei den Urteilen, obwohl sie von den allgemeinen Gesetzen des Vorstellungslaufes sich keineswegs unabhängig zeigen, kommen doch noch andere, besondere Gesetze hinzu, welche aus ihnen nicht abgeleitet werden können. Wir bemerkten bereits, daß diese Gesetze die vorzügliche psychologische Grundlage der Logik ausmachen. Bei Liebe und Haß, sagten wir damals, sei etwas ähnliches der Fall; und in der Tat sind zwar diese Phänomene weder von den Gesetzen des Vorstellungslaufes noch von denen der Entstehung und Sukzession der Urteile unabhängig; aber dennoch zeigen auch sie besondere unableitbare Gesetze ihrer Aufeinanderfolge und Entwickelung, welche die psychologische Grundlage der Ethik bilden. Fragen wir nun, wie es mit diesen Gesetzen sich verhalte. Sind sie vielleicht auf die Klasse des Willens allein beschränkt? oder beherrscht wenigstens nur ein Teil von ihnen Gefühle und Willenstätigkeiten gemeinsam, während ein anderer, durch einen neuen und eigentümlichen Charakter ausgezeichnet, 105 Es ist richtig, daß die Namen Tugend und Schlechtigkeit von uns in einem zu engen Sinne gebraucht zu werden pflegen, als daß man von jedem Akte der Liebe oder des Hasses sagen könnte, er sei tugendhaft oder schlecht. Nur gewisse ausgezeichnete Akte, in welchen das wahrhaft Liebenswürdige geliebt, das wahrhaft Hassenswürdige gehaßt wird, ehren wir mit dem Namen Tugend; und ebenso legen wir nur gewissen ausgezeichneten Akten, in welchen ein entgegengesetztes Verhalten stattfindet, den Namen Schlechtigkeit bei. Akte von Liebe und Haß, bei welchen ein entsprechendes Verhalten selbstverständlich erscheint, werden wir nicht als tugendhaft bezeichnen. Wir könnten vielleicht zeigen, wie sich die Begriffe zu einer vollkommen allgemeinen Anwendbarkeit entschränken ließen. Doch genügt es uns hier, dargetan zu haben, daß sie so, wie man sie gemeiniglich anwendet, wenigstens der üblichen Unterscheidung von Gefühl und Willen keine Stütze bieten.

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für die Phänomene des Wollens ausschließlich Geltung hat? – Keines von beidem ist richtig; vielmehr gehen in ganz ähnlicher Weise in einem Falle Akte des Wollens wie in einem anderen Akte der Freude und Traurigkeit auseinander hervor. Ich freue mich oder betrübe mich über einen Gegenstand um eines anderen willen, während er sonst mich unberührt gelassen hätte; und ebenso begehre und will ich etwas wegen eines anderen, obwohl ich sonst nicht danach verlangte. Auch erzeugt die Gewohnheit des Genusses bei eingetretenem Mangel eine stärkere Begierde, wie umgekehrt ein vorausgegangenes längeres Verlangen den eingetretenen Genuß verstärkt und hebt. Doch wie? – Wir sagen, daß wesentlich dieselben Gesetze auf dem Gebiete der Gefühle und auf dem des Willens Geltung haben; und doch scheint gerade hier der größte Gegensatz zu bestehen, der überhaupt auf psychischem Gebiete sich zeigt. Denn der Wille, im Unterschiede von allen übrigen Gattungen, gilt als das Reich der Freiheit, welches, wenn nicht jeden Einfluß, doch sicher eine Herrschaft von Gesetzen, wie sie auf den anderen Gebieten besteht, von sich ausschließe. Somit scheint hier ein starker Grund für die herkömmliche Scheidung von Gefühl und Willen vorzuliegen. Die Tatsache der Willensfreiheit, auf welche sich dieser Einwand stützt, hat bekanntlich von altersher den Gegenstand eifrigen Streites gebildet, an dem wir selbst uns erst an einem späteren Orte beteiligen werden106. Aber ohne dem künftigen Ergebnis irgendwie vorzugreifen, sind wir, glaube ich, schon jetzt das Argument zurückzuweisen imstande. Angenommen, es finde sich auf dem Gebiet des Willens wirklich jene volle Freiheit, welche in demselben einzelnen Fall ein Wollen und Nichtwollen und ein entgegengesetztes Wollen als möglich erscheinen läßt: so besteht dieselbe doch sicher nicht auf dem ganzen Gebiete, sondern nur etwa da, wo entweder verschiedene Arten des Handelns oder wenigstens Handeln und Nichthandeln, jedes in seiner Weise als ein Gut in Betracht kommt. Dies wurde von den bedeutendsten Vertretern der Willensfreiheit immer und ausdrücklich anerkannt. Was aber, obwohl vielleicht minder deutlich ausgesprochen, dennoch ebenso unverkennbar als ihre Überzeugung sich zu erkennen gibt, ist, daß sich unter jenen Seelentätigkeiten, die nicht als ein Wollen bezeichnet werden können, und die man den Gefühlen zurechnet, gleichfalls freie Akte finden. So hält man den Schmerz der Reue über ein früheres Vergehen, die schadenfrohe Lust und viele andere Phänomene der Freude und Traurigkeit für nicht weniger 106 Als solcher war Buch V in Aussicht genommen. [Nicht zum Druck gelangt.]

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freie Akte, als den Vorsatz, sein Leben zu ändern und die Absicht, jemand einen Nachteil zuzufügen. Ja, die Gefühle einer kontemplativen Gottesliebe gelten vielen als verdienstlicher als die hilfreiche Betätigung des Willens im Dienste des Nächsten, obwohl sie nur bei freien Betätigungen von Verdienst und Mißverdienst sprechen wollen. Wenn man trotzdem im allgemeinen nur von Willensfreiheit sprach, so hing dies bei älteren Philosophen mit dem, wie wir sahen, erweiterten und auf Gefühl und Willen im engeren Sinne gleichmäßig ausgedehnten Gebrauche dieses Namens, bei modernen aber häufig mit anderen Unklarheiten zusammen, die sich in ihre Untersuchung einmischten. So hat selbst Locke die Unterscheidung zwischen dem Vermögen, eine Handlung, je nachdem man sie will oder nicht will, zu üben oder zu unterlassen, und der Möglichkeit, unter denselben Umständen sie zu wollen oder nicht zu wollen, niemals klar vollzogen. Es ist also sicher, daß, wenn überhaupt auf dem Gebiete der Liebe und des Hasses Freiheit besteht, dieselbe nicht auf Akte des Wollens allein, sondern ebenso auf gewisse Betätigungen der Gefühle sich erstreckt, und daß anderseits ebensowenig jeder Akt des Wollens als jeder Akt des Fühlens frei genannt werden kann. Dies genügt, um zu zeigen, wie durch die Anerkennung der Freiheit die Kluft zwischen Gefühl und Willen nicht erweitert und der hergebrachten Klasseneinteilung keine Stütze geboten wird. § 8.   Wir haben nun den vorgezeichneten Weg unserer Untersuchung auch seinem dritten Teile nach zurückgelegt. Es war wesentlich derselbe Gang, den wir jetzt einhielten, da wir das Verhältnis von Gefühl und Begehren prüften, wie früher, als es sich um den Nachweis des fundamentalen Unterschiedes zwischen Vorstellung und Urteil handelte. Aber Schritt für Schritt waren unsere Wahrnehmungen dieses Mal die entgegengesetzten. Fassen wir das Ergebnis kurz zusammen. Erstens hat uns die innere Erfahrung gezeigt, wie zwischen Gefühl und Willen nirgends eine scharfe Grenze gezogen ist. Wir haben bei allen psychischen Phänomenen, die nicht Vorstellungen oder Urteile sind, einen übereinstimmenden Charakter der Beziehung auf den Inhalt gefunden, und können sie alle in einem einheitlichen Sinne als Phänomene der Liebe und des Hasses bezeichnen. Zweitens, wenn bei Vorstellung und Urteil mit der Leugnung einer Verschiedenheit in der Weise des Bewußtseins die Angabe eines Unterschiedes überhaupt unmöglich wurde: so haben wir auf dem Gebiete von Gefühl und Willen im Gegenteile gesehen, daß unter Zuhilfenahme des Gegensatzes von Liebe

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und Haß und ihrer Gradunterschiede sich jede einzelne Klasse durch Berücksichtigung der besonderen zugrunde liegenden Phänomene definieren läßt. Drittens endlich haben wir gesehen, daß eine Variation von Umständen, wie sie bei einer Verschiedenheit der Weise des Bewußtseins anderwärts sich zu zeigen pflegt, bei Gefühl und Willen nicht gefunden wird. Somit dürfen wir wohl die Einheit unserer dritten Grundklasse als vollkommen erwiesen betrachten, und es bleibt uns nur noch übrig, wie früher bei Vorstellung und Urteil, so jetzt bei Gefühl und Willen die Gründe aufzudecken, welche eine Verkennung des wahren Verhältnisses begünstigten. § 9.   Diese Anlässe der Täuschung scheinen mir von dreifacher Art gewesen zu sein: psychische, sprachliche und, wenn wir sie so nennen wollen, histo­ rische, d. h. solche Anlässe, welche durch vorausgegangene Verirrungen der Psychologie in anderen Fragen gegeben wurden. Betrachten wir zunächst die vornehmsten psychischen Gründe. Wir haben früher gesehen, wie die Phänomene des inneren Bewußtseins in eigentümlicher Weise mit ihrem Objekt verschmolzen sind. Die innere Wahrnehmung ist in dem Akte, den sie wahrnimmt, mitbegriffen, und ebenso ist das innere Gefühl, welches einen Akt begleitet, selbst Teil seines Gegenstandes. Es lag nahe, diese besondere Weise der Verbindung mit dem Objekte mit einer besonderen Weise von intentionaler Beziehung zu ihm zu verwechseln, und so die zum inneren Bewußtsein gehörigen Phänomene der Liebe und des Hasses von allen übrigen, wie eine Grundklasse von einer anderen zu sondern. Wenn wir an die Weise zurückdenken, in welcher Kant über den Unterschied des Gefühls und Begehrens sich äußerte, so glaube ich, werden wir deutliche Spuren eines Zusammenhanges seiner Lehre mit dem eben erwähnten Unterschiede erkennen; sagte er doch, daß das Begehrungsvermögen eine „objektive Beziehung“ habe, während das Gefühl „bloß aufs Subjekt“ sich beziehe107. Bei Hamilton tritt dasselbe in dem Maße auffälliger hervor, als er sich ausführlicher über die Scheidung von Gefühl und Streben verbreitet; und Bestimmungen, die im übrigen schwer miteinander in Einklang zu bringen sind, weisen doch übereinstimmend darauf hin, daß ihm bei der Klasse des Gefühls hauptsächlich die zum inneren Bewußtsein gehörigen Gefühlsphänomene vorschwebten. Seine Bestimmung, daß das Gefühl ausschließlich 107 S. oben S. 305 Anm. 18.

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der Gegenwart angehöre, ist dann gerechtfertigt; und seine Charakteristik der Gefühle als „subjektivisch subjektiv“ wenigstens begreiflich geworden. Auch steht die Untersuchung über die Entstehung der Gefühle, wie man sie im zweiten Bande seiner Vorlesungen findet, vollkommen mit einer solchen Auffassung im Einklang108. Wie kommt es aber, daß, wenn hier die besondere Verbindung der inneren Phänomene mit ihrem Objekte zu einer Unterscheidung zweier Grundklassen führte, auf dem Gebiete der Erkenntnis nicht dasselbe der Fall war? Warum hat man nicht auch die innere Wahrnehmung von jeder anderen Erkenntnis als eine eigene, grundverschiedene Weise des Bewußtseins abgesondert? – Die Antwort hierauf ist leicht. Wir haben gesehen, wie es eine Eigentümlichkeit unserer dritten Grundklasse ist, eine Menge von Arten in sich zu schließen, die mehr als besondere Klassen von Urteilen voneinander verschieden sind. So war es denn hier überhaupt leichter, die Übereinstimmung im allgemeinen Charakter der Beziehung zum Objekte zu verkennen als bei den Phänomenen der Erkenntnis; und derselbe Umstand, der auf diesem Gebiete keinerlei Versuchung mit sich führte, konnte auf dem anderen die Täuschung veranlassen. § 10.   Zu dem angegebenen kommt aber noch ein anderer psychischer Grund. Wie wir uns erinnern, machten Kant und seine Nachfolger für die fundamentale Verschiedenheit des Wollens von dem Gefühle seine Unableitbarkeit aus den Phänomenen dieser Klasse geltend. Es ist außer Frage, daß die Erscheinungen des Willens wirklich aus anderen psychischen Phänomenen nicht abgeleitet werden können. Und ich meine hier nicht etwa dies, daß die besondere Färbung der Willensbetätigung nur durch spezifische Erfahrung erkannt werden kann; denn das ist etwas, was ebenso für andere spezielle Klassen der Liebe und des Hasses gilt. Die besondere Färbung der Hoffnung gegenüber dem besitzenden Genusse, die besondere Färbung der edlen geistigen Freude gegenüber der niederen Sinnenlust sind ebenfalls unableitbar. Ein anderer Umstand ist, der in einer ganz vorzüglichen Weise gerade das Wollen als unableitbar erscheinen und gerade bei ihm die Neigung entstehen läßt, es als Betätigung eines besonderen Urvermögens zu fassen. Jedes Wollen oder Streben im eigentlicheren Sinne bezieht sich auf ein Handeln. Es ist nicht einfach ein Begehren, daß etwas geschehe, sondern ein Verlangen, daß etwas als Folge des Verlangens selbst eintrete. Ehe jemand die 108 Lectures on Metaphysics II, p. 436 ss. Vgl. auch Lotze, Mikrokosmus 1. Aufl. I, S. 261 ff. und a. a. O.

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Erkenntnis oder wenigstens die Vermutung gewonnen hat, daß gewisse Phänomene der Liebe und des Verlangens die geliebten Gegenstände unmittelbar oder mittelbar als Folge nach sich ziehen, ist ein Wollen für ihn unmöglich. Wie soll er nun aber zu einer solchen Erkenntnis oder Vermutung gelangen? – Aus der Natur der Phänomene der Liebe, seien sie Phänomene der Lust oder Unlust, des Verlangens, der Furcht oder andere, läßt sie sich nicht schöpfen. Es bleibt also nur übrig, entweder anzunehmen, daß sie ihm angeboren sei, oder daß sie, ähnlich wie auch andere Erkenntnisse von Kraftbeziehungen, von ihm der Erfahrung entnommen werde. Das erste wäre offenbar die Annahme einer ganz außerordentlichen Tatsache, die, wenn irgend etwas, keine Ableitung zuließe. Das zweite aber, das gewiß von vornherein unvergleichlich wahrscheinlicher ist, setzt deutlich einen besonderen Kreis von Erfahrungen und die Existenz und wirkliche Betätigung einer besonderen Gattung von Kräften voraus, auf welche diese Erfahrungen sich beziehen. Somit ist die Kraft gewisser Phänomene der Liebe zur Verwirklichung der Gegenstände, auf welche sie gerichtet sind, eine Vorbedingung des Wollens, und gibt, auch wenn man nicht, wie Bain es getan hat, das Vermögen zu handeln als das Vermögen des Wollens selbst betrachtet, in gewisser Weise erst die Fähigkeit zu ihm. Da nun diese Kraft zur Äußerung und Betätigung der Liebe und des Verlangens der Fähigkeit zu diesen Phänomenen selbst völlig heterogen ist, und darum nicht mehr, ja eher noch viel weniger aus ihr, als sie aus dem Vermögen der Erkenntnis, ableitbar erscheint: so erscheint natürlich auch die Fähigkeit zum Streben und Wollen als ein in ganz vorzüglicher Weise unableitbares Vermögen, obwohl die Unmöglichkeit der Ableitung nicht darin ihren Grund hat, daß die betreffenden Phänomene selbst einen von den übrigen Phänomenen der Liebe fundamental verschiedenen Charakter zeigen. Im Gegenteile wird man bei näherer Erwägung finden, daß sich hier aufs neue ein Zug der Verwandtschaft der Willensphänomene mit anderen Erscheinungen der Liebe und des Verlangens offenbart. Wenn das Wollen die Erfahrung eines Einflusses von Phänomenen der Liebe zur Hervorbringung des geliebten Gegenstandes voraussetzt, so setzt es offenbar voraus, daß auch Phänomene der Liebe, welche kein Wollen genannt werden können, ähnlich wie das Wollen, wenn auch vielleicht in schwächerem Grade, sich wirksam erweisen. Denn würde eine solche Einwirkung sich ausschließlich an das Wollen knüpfen, so würde man in einen verhängnisvollen Zirkel verwickelt. Das Wollen würde die Erfahrung des Wollens voraussetzen, während natürlich umgekehrt auch diese das Wollen voraussetzt. Anders, wenn

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auch schon das bloße Verlangen nach gewissen Ereignissen ihr Eintreten zur Folge hat; es kann dann mit der Modifikation, welche die Kenntnis von dieser Kraftbeziehung ihm gibt, d. i. als Wollen sich wiederholen. Mögen diese Andeutungen genügen, bis wir später uns eingehend mit dem Probleme der Entstehung des Wollens beschäftigen werden. Wenn wir aus einer früher betrachteten Äußerung Kants über die Eigentümlichkeit der Gefühle den Zusammenhang seiner Klassifikation mit der Zugehörigkeit gewisser Phänomene der Liebe zum inneren Bewußtsein erkannten, so weisen andere, und nicht wenige, sehr deutlich auf die eben betrachteten Verhältnisse hin. Hat doch Kant das Begehrungsvermögen geradezu als das „Vermögen durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ definiert, und an derselben Stelle, an welcher er von einer Beziehung von Vorstellungen „bloß aufs Subjekt“ redet, hinsichtlich welcher sie „im Verhältnisse zum Gefühle der Lust betrachtet werden“, spricht er von einer anderen, „objektiven Beziehung, da sie, zugleich als Ursache der Wirklichkeit dieses Objektes betrachtet, zum Begehrungsvermögen gezählt werden“. Nun fällt aber die Abgrenzung der beiden Klassen, welche sich ergibt, wenn man die inneren Phänomene der Liebe als Gefühle zusammenfaßt und allen übrigen entgegenstellt, keineswegs mit jener zusammen, zu welcher man gelangt, wenn man das Streben nach einem Gegenstande, das die besprochene Kraftbeziehung als bekannt voraussetzt, von allen übrigen Phänomenen der Liebe scheidet. Daher finden wir bei Kant jene befremdende Behauptung, daß jeder Wunsch, und wenn es ein anerkannt unmöglicher wäre, wie z. B. der Wunsch Flügel zu haben, schon ein Bestreben sei, das Gewünschte zu erlangen, und die Vorstellung der Kausalität unserer Begehrung enthalte109. Sie ist ein verzweifelter Versuch die Grenzlinie der beiden Klassen, so wie die eine Rücksicht sie verlangt, auch mit der anderen in Einklang zu bringen. Andere haben es vorgezogen, die Klasse der Gefühle weiter und bis zur Grenze des eigentlichen Wollens auszudehnen; und wieder andere haben jeder der beiden Klassen mehr oder minder beträchtliche Teile von dem Zwischengebiete zugewiesen. Daher die Unsicherheit der Grenzscheidung, die wir gefunden haben. § 11.   Wir sagten, zu den psychischen Gründen, die in der eigentümlichen Natur der Phänomene selbst liegen, seien sprachliche Anlässe hinzugekommen. 109 Kritik der Urteilskraft, Einleitung III, Anm.

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Aristoteles, welcher die Einheit unserer dritten Grundklasse richtig erkannt hatte, bezeichnete sie, wie wir hörten, mit dem Namen Begehren (ὄρεξις). Der Ausdruck war wenig passend gewählt110; denn nichts liegt dem Sprachgebrauche des gewöhnlichen Lebens ferner, als die Freude ein Begehren zu nennen. Doch dies hinderte nicht, daß das Mittelalter sich hier wie in so mancher anderen Beziehung von der Autorität des „Philosophen“ und seiner Übersetzer leiten ließ und das Vermögen zu den sämtlichen hierher gehörigen Akten als „facultas appetendi“ bezeichnete111; und an die Ausdrücke der Scholastiker schloß sich später Wolff bei der Unterscheidung seines Erkenntnis- und Begehrungsvermögens an. Da nun der Namen Begehren im Leben eine viel zu enge Bezeichnung hat, als daß er alle psychischen Phänomene außer denen des Denkens umfassen könnte, so lag der Gedanke nahe, daß es Phänomene gebe, die in den bisher aufgestellten Klassen nicht inbegriffen seien, und daß somit diesen eine neue Klasse koordiniert werden müsse. Daß wirklich auch dieser Umstand nicht ohne Einfluß blieb, zeigt eine früher aus Hamilton angezogene Stelle112. § 12.   Wir sagten aber, die Täuschung hinsichtlich der Einheit dieser Klasse psychischer Phänomene habe auch noch eine dritte Art von Ursachen gehabt; in früheren Untersuchungen begangene Fehler haben hier nachteilig eingewirkt. Der Irrtum, den wir hier vorzüglich im Auge hatten, war der, daß man Vorstellung und Urteil als Phänomene derselben Grundklasse betrachtete. Man fand die drei Ideen (wie man sie oft mit Auszeichnung nennt) des Wahren, Guten und Schönen; und sie schienen einander koordiniert. Man glaubte, sie müßten eine Beziehung zu drei koordinierten, grundverschiedenen Seiten unseres Seelenlebens haben. Die Idee des Wahren teilte man dem Erkenntnisvermögen, die Idee des Guten dem Begehrungsvermögen 110 Aristoteles wurde auf ihn wahrscheinlich durch eine verallgemeinernde Zusammenfassung von θυμός und ἐπιθυμία geführt, die in Platons Einteilung neben dem λογισμός erscheinen; ein Zeichen mehr für die Wahrheit unserer früheren Bemerkung, daß sich die Grundeinteilungen des Aristoteles sämtlich aus der platonischen entwickelt haben. Nach anderen Seiten hin ist der Zusammenhang ohnehin unverkennbar. 111 Nur einzelne Male zeigen sich Spuren von Emanzipation, wie z. B. bei Thomas von Aquin, wenn er Summ. Theol. P. I, Q. 37, art. 1 und öfter den Ausdruck „amare“ als allgemeinsten Klassennamen gebraucht. 112 Lectures on Metaph. II, p. 420; vgl. oben Kap. 1, § 4.

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zu; da war denn das dritte Vermögen, das der Gefühle, eine willkommene Entdeckung um ihm die Idee des Schönen als seinen Anteil zuzuweisen. So ist schon bei Mendelssohn, wo er von den drei Seelenvermögen spricht, von dem Wahren, Guten und Schönen die Rede. Und Kant wird es von späteren Vertretern einer ähnlichen Dreiteilung zum Vorwurfe gemacht, daß er das Gefühl der Lust und Unlust „einseitig auf das ästhetische Geschmacksurteil“ beschränkte, und ebenso „das Begehrungsvermögen nicht als rein psychologische Kraft, sondern in Beziehung zum Ideal des Guten, dem es dienen soll, betrachtete“113. Bei einer genaueren Untersuchung, ob die Verteilung des Wahren, Guten und Schönen auf die drei Klassen des Erkenntnis-, Begehrungs- und Gefühlsvermögens wirklich zu rechtfertigen sei, wird sich freilich manches Bedenken erheben. Wir haben früher eine Stelle von Lotze angeführt, worin dieser Denker, der doch selbst Willen und Gefühl als Grundvermögen scheidet, „die sittlichen Grundsätze jeder Zeit“ als „Aussprüche eines wertempfindenden Gefühles“ bezeichnet. In der Tat hat Herbart114 die ganze Ethik, wie einen besonderen Zweig, der Ästhetik als der allgemeineren Wissenschaft zugewiesen, so daß bei ihm das Ideal des Guten ganz in dem des Schönen unterzugehen droht, oder doch als eine besondere Gestaltung dem umfassenderen Gedanken sich unterordnet. Andere haben einen entgegengesetzten Versuch gemacht; sie haben das Schöne unter den Begriff des Guten gestellt, wie z. B. Thomas von Aquin; indem er sagt, gut sei das, was gefalle, schön das, dessen Erscheinung gefalle115. Hier wird zunächst die Erscheinung des Schönen als etwas Gutes betrachtet, und dann natürlich ist auch das, was die Erscheinung hervorruft, in Rücksicht darauf ein Gut. In der Tat gehört die Schönheit in diesem Sinne ohne Zweifel unter die Güter; aber auch von der Wahrheit muß Ähnliches gesagt 113 J. B. Meyer, Kants Psychologie, S. 120. 114 Im Grunde genommen schon Adam Smith, wenn anders Kant Recht hat, indem er sagt, schön sei, was uninteressiertes Wohlgefallen errege. Ja, lange vor ihnen sagte Augustinus: „Honestum voco intelligibilem pulchritudinem, quam spiritualem nos proprie dicimus.“ (83 Q. Q. quaest. 30 nahe am Anf.) 115 De ratione boni est quod in eo quietetur appetitus. Sed ad rationem pulchri pertinet quod in ejus aspectu seu cognitione quietetur appetitus … Pulchrum addit supra bonum quendam ordinem ad vim cognoscitivam; ita quod bonum dicatur id quod simpliciter complacet appetitui; pulchrum autem dicatur id cujus ipsa apprehensio placet. (Summ. Theol. P. II, 1, Q. 27, A. 1 ad 3.)

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werden; und somit scheint der Charakter des Begehrenswerten allen dreien gemeinsam zu sein, wie es ja auch darum, weil es sich um drei Ideale handelt, nicht anders denkbar ist. Es tut also not, in einer etwas anderen Weise die Dreiheit des Schönen, Wahren und Guten zu fassen, und es wird sich dann zeigen, daß sie wirklich zu einer Dreiheit der Seiten unseres Seelenlebens in Beziehung steht; nicht aber zu Erkenntnis, Gefühl und Willen, sondern zu jener Dreiheit, die wir in den drei Grundklassen der psychischen Phänomene unterschieden haben. Jede Grundklasse von psychischen Phänomenen hat eine ihr eigentümliche Gattung von Vollkommenheit; und diese gibt sich in dem inneren Gefühle, welches, wie wir sahen, jeden Akt begleitet, zu erkennen. Den vollkommensten Akten jeder Grundklasse wohnt eine darauf bezügliche, wie wir sagen, edle Freude inne. Die höchste Vollkommenheit der vorstellenden Tätigkeit liegt in der Betrachtung des Schönen, sei diese nun durch die Einwirkung des Objektes unterstützt, oder von einer solchen unabhängig. An sie knüpft sich der höchste Genuß, welchen wir in der vorstellenden Tätigkeit als solcher finden können. Die höchste Vollkommenheit der urteilenden Tätigkeit liegt in der Erkenntnis der Wahrheit; am meisten natürlich in der Erkenntnis solcher Wahrheiten, die mehr als andere eine reiche Fülle des Seins uns offenbaren. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn wir ein Gesetz erfassen, durch welches, wie durch das Gesetz der Gravitation, mit einem Schlage ein weites Gebiet von Erscheinungen erklärt wird. Darum ist das Wissen eine Freude und ein Gut an und für sich und abgesehen von allem praktischen Nutzen, den es gewährt. „Alle Menschen verlangen von Natur nach dem Wissen“, sagt der große Denker, der mehr als viele andere die Freuden der Erkenntnis verkostet hat. Und wiederum sagt er: „die erkennende Betrachtung ist das Süßeste und Beste“116. Die höchste Vollkommenheit der liebenden Tätigkeit endlich liegt in der durch Rücksicht auf eigene Lust und eigenen Gewinn ungehemmten freien Erhebung zu höheren Gütern, in der opferwilligen Hingabe ihrer selbst an das, was um seiner Vollkommenheit willen mehr und über alles liebenswürdig ist, in der Übung der Tugend oder der Liebe des Guten um seiner selbst willen und nach dem Maße seiner Vollkommenheit. Die Freude, die der edlen Handlung und überhaupt der edlen Liebe innewohnt, ist es, die in ähnlicher Weise dieser Vollkommenheit, wie die Freuden der Erkenntnis und der Betrachtung des Schönen der Vollkommenheit der anderen beiden Seiten des Seelenlebens, entspricht. Das Ideal der Ideale besteht in der Einheit alles Wahren, Guten 116 Arist. Metaph. A, 1; Λ, 7.

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und Schönen, d. i. in einem Wesen, dessen Vorstellung die unendliche Schönheit und in ihr wie in ihrem unendlich überragenden Urbilde alle denkbare endliche Schönheit zeigt; dessen Erkenntnis die unendliche Wahrheit und in ihr wie in ihrem ersten und allgemeinen Erklärungsgrunde alle endliche Wahrheit offenbart; und dessen Liebe das unendliche, allumfassende Gut und in ihm jedes andere liebt, welches in endlicher Weise an der Vollkommenheit Teil hat. Das, sage ich, ist das Ideal der Ideale. Und die Seligkeit aller Seligkeiten bestände in dem dreifachen Genusse dieser dreifachen Einheit, indem die unendliche Schönheit angeschaut, und aus ihrer Anschauung durch sich selbst als notwendige und unendliche Wahrheit erkannt, und als unendliche Liebenswürdigkeit offenbar geworden mit gänzlicher und notwendiger Hingabe als das unendliche Gut geliebt würde. Dies ist auch die Verheißung der Seligkeit, welche in der vollkommensten der Religionen, die in der Geschichte aufgetreten sind, in dem Christentume, gegeben wird; und mit ihm stimmen die größten Denker des Heidentums und namentlich der gottbegeisterte Platon in der Hoffnung auf ein solches beseligendes Glück überein. Wir sehen, auch wenn man mit uns das Gefühl als eine Grundklasse verwirft, wenn man nur zugleich im Übrigen unsere Grundeinteilung sich eigen macht, läßt die Dreiheit der Ideale, des Schönen, Wahren und Guten, sich aus dem System der psychischen Vermögen wohl erklären. Ja sie wird dadurch erst in voller Weise verständlich gemacht; und selbst bei Kant fehlt es nicht an Äußerungen, welche dafür zeugen, daß nur durch die von uns durchgeführte Beziehung des Schönen zur vorstellenden Tätigkeit die richtige Stellung ihm gegeben wird. Unter vielen will ich hier nur die eine oder andere Stelle aus verschiedenen seiner Schriften hervorheben. In der Kritik der Urteilskraft sagt Kant: „Wessen Gegenstandes Form in der bloßen Reflexion über dieselbe als der Grund einer Lust an der Vorstellung eines solchen Objektes beurteilt wird; mit dessen Vorstellung wird diese Lust auch als notwendig verbunden geurteilt, folglich als nicht bloß für das Subjekt, welches diese Form auffaßt, sondern für jeden Urteilenden überhaupt. Der Gegenstand heißt alsdann schön; und das Vermögen durch eine solche Lust (folglich auch allgemeingültig) zu urtei­ len, der Geschmack“117. In den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre (1797) wiederholt er nochmals, daß es eine Lust gebe, welche mit gar keinem Begehren des Gegenstandes, sondern mit der bloßen Vorstellung, die man sich von einem Gegenstande macht, schon verknüpft sei, und bemerkt: „Man würde die Lust, die mit dem Begehren des Gegenstandes nicht not117 Krit. d. Urteilskr. Einl. VI.

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wendig verbunden ist, die also im Grunde nicht eine Lust an der Existenz des Objektes der Vorstellung ist, sondern bloß an der Vorstellung allein haftet, bloß kontemplative Lust oder untätiges Wohlgefallen nennen können. Das Gefühl der letzteren Art von Lust nennen wir Geschmack118.“ So bewährt sich unsere Behauptung, daß die Verkennung der fundamentalen Verschiedenheit von Vorstellung und Urteil die Annahme eines anderen fundamentalen Unterschiedes, der nicht wirklich vorhanden ist, vorbereitete; und daß so der erste in der Einteilung der psychischen Phänomene begangene Fehler zur Entstehung des zweiten wesentlich beitrug. Es scheint, als ob dieser Umstand nicht am wenigsten ein störendes Moment geworden sei. Außerdem wurde der neue Irrtum natürlich auch durch den Mangel an Klarheit über das eigentliche Prinzip der Einteilung begünstigt. Wir haben davon schon früher gesprochen und können uns darum jetzt jedes weitere Wort ersparen. Was immer sonst noch dazu beigetragen haben mag, daß man Gefühl und Willen irrtümlich für zwei verschiedene Grundklassen psychischer Erscheinungen hielt: die hauptsächlichsten Anlässe der Täuschung haben wir, glaube ich, in der vorausgegangenen Untersuchung zusammengestellt. Sie sind so mannigfach und bedeutend, daß wir uns nicht darüber verwundern können, wenn sich auch mancher hervorragende Denker dadurch verführen ließ; und so hoffe ich, wird durch ihre Darlegung das letzte Bedenken gegen die von uns verfochtene Zusammengehörigkeit von Gefühl und Willen verschwunden sein. Dann aber scheint unsere Grundeinteilung überhaupt gesichert. Wir dürfen es daher als feststehend betrachten, daß die psychischen Phänomene nicht mehr und nicht weniger als einen dreifachen fundamentalen Unterschied hinsichtlich ihrer Beziehung zum Inhalte, oder, wie wir uns ausdrücken können, hinsichtlich der Weise des Bewußtseins zeigen; und daß sie hienach in drei Grundklassen zerfallen: in die Klasse der Vorstellungen, in die der Urteile und in die der Phänomene der Liebe und des Hasses.

118 Metaph. Anfangsgr. der Rechtslehre Kap. I. – Auch Thomas von Aquin, der, wie überhaupt die Peripatetische Schule, den Fehler der Vereinigung von Vorstellung und Urteil in derselben Grundklasse mit Kant gemein hatte, gibt in der oben (S. 383 Anm. 115) mitgeteilten Stelle der Beziehung des Schönen zur Vorstellung Zeugnis. An einem anderen Orte sagt er: „Bonum proprie respicit appetitum ... Pulchrum autem respicit vim cognoscitivam: pulchra enim dicuntur, quae visa placent.“ (Summ. Theol. P. I, Q. 5, A. 4 ad 1.)

Fünftes Kapitel. Vergleich der drei Grundklassen mit dem dreifachen Phänomene des inneren Bewußtseins. Bestimmung ihrer natürlichen Ordnung. § 1.   Die drei von uns festgestellten Grundklassen der Vorstellung, des Urteils und der Liebe erinnern uns an eine früher gefundene Dreiheit von Phänomenen. In dem inneren Bewußtsein, das jede psychische Erscheinung begleitet, sahen wir eine darauf gerichtete Vorstellung, eine Erkenntnis und ein Gefühl beschlossen, und offenbar entspricht je eines dieser Momente einer der drei Klassen der Seelentätigkeiten, die sich uns jetzt ergeben haben. Hieraus ersehen wir, daß Phänomene der drei Grundklassen aufs innigste sich miteinander verflechten. Denn eine innigere Verbindung als die zwischen den drei Momenten des inneren Bewußtseins ist nicht mehr denkbar. Wir erkennen ferner, daß die drei Klassen von äußerster Allgemeinheit sind; es gibt keinen psychischen Akt, bei welchem nicht alle vertreten wären. Jeder Klasse kommt eine gewisse Allgegenwart in dem ganzen Seelenleben zu. Daraus folgt aber, wie auch früher bemerkt, nicht, daß sie auseinander ableitbar sind. Aus jedem Gesamtzustande des psychischen Lebens läßt sich erkennen, daß ein Vermögen zu jeder der drei Gattungen von Tätigkeiten vorhanden ist. Aber ohne Widerspruch ließe es sich denken, daß ein psychisches Leben bestände, dem die eine oder auch zwei von den Gattungen, sowie die Fähigkeit zu ihnen mangelte. Ebenso bleibt ein Unterschied zwischen psychischen Akten, die in einem relativen Sinne bloße Vorstellungsakte zu nennen sind, und solchen, bei welchen dies nicht der Fall ist, insofern das primäre Objekt eines Aktes bald bloß vorgestellt, bald auch anerkannt oder geleugnet, bald zugleich in irgendwelcher Weise geliebt oder gehaßt wird. Bei den letzteren werden Saiten, die in dem ersten Falle nur mitgeklungen hatten, sozusagen direkt angeschlagen. Die Tatsache gibt also nur der universellen Bedeutung jeder der drei Klassen Zeugnis; und dieses Zeugnis ist, wo es sich um die Frage nach dem fun-

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damentalen Charakter der Klasse handelt, gewiß willkommen. Die übliche Dreiteilung in Erkenntnis, Gefühl und Willen kann es nicht in gleicher Weise für sich anführen. Hamilton, wahrscheinlich weil er die Bedeutsamkeit des Umstandes begriff, hat freilich auch für die Willenstätigkeit den Anspruch vollkommener Allgemeinheit erhoben. „In unseren philosophischen Büchern“, sagt er, „da mögen allerdings Erkenntnis, Gefühl und Bestrebung, jedes von dem anderen getrennt in Büchern und Kapiteln stehen; in der Natur sind sie aber miteinander verwoben. In jeder, auch der einfachsten Modifikation des Geistes finden sich Erkenntnis, Gefühl und Willen zusammen, um den psychischen Zustand zu bilden“119, usf. Aber demjenigen, welcher den Begriff des Wollens analysiert, kann es nicht zweifelhaft bleiben, daß Hamilton für seine dritte Grundklasse Unmögliches behauptet. Wird doch ein Wollen, wie wir auch früher sagten, erst durch den Gedanken an ein eigenes Wirken möglich; ein Umstand, der, wie er überhaupt den weniger generellen Charakter dieses Klassenbegriffes anzeigt, insbesondere beweist, wie weit er davon entfernt ist, auf eine primitive Betätigung Anwendung finden zu können. So sehen wir auch nach dieser Seite hin unsere Klassifikation gegenüber der gegenwärtig üblichen im Vorteile, obwohl ich diesem Umstande nicht eine gleich entscheidende Bedeutung wie manchen Ergebnissen früherer Erörterung beilegen möchte. § 2.   Es bleibt uns jetzt nur noch eine Frage zu beantworten, und auch für sie ist die Entscheidung in den vorangegangenen Untersuchungen vorbereitet, ja gewissermaßen schon antizipiert. Es ist die Frage nach der natürlichen Reihenfolge der drei Klassen. Wie überall, so muß auch in unserem Falle die relative Unabhängigkeit, Einfachheit und Allgemeinheit der Klassen für ihre Ordnung bestimmend werden. Nach diesem Prinzipe ist es klar, daß der Vorstellung der erste Platz gebührt: denn sie ist das einfachste der drei Phänomene, indem Urteil und Liebe immer eine Vorstellung in sich schließen; sie ist ebenso das unabhängigste unter ihnen, da sie die Grundlage der übrigen ist; und ebendarum ist dieses Phänomen auch das allgemeinste. Ich sage dies nicht, als wollte ich leugnen, daß auch Urteil und Liebe in jedem psychischen Zustande 119 Lect. on Metaph. I, p. 188. Später (ebenda II, p. 433) wiederholt er nochmals denselben Gedanken, aber nicht mehr mit der gleichen Zuversicht.

5. Kapitel. Vergleich der drei Grundklassen.

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irgendwie vertreten seien; dies haben wir vielmehr soeben noch ausdrücklich hervorgehoben. Aber wir haben dennoch zugleich einen gewissen Unterschied der Allgemeinheit bemerkt, insofern das primäre Objekt notwendig und allgemein nur in der dem Vorstellen eigenen Weise der intentionalen Einwohnung im Bewußtsein gegenwärtig ist. Auch könnte man sich ohne Widerspruch ein Wesen denken, welches, ohne Vermögen für Urteil und Liebe, allein mit dem Vermögen der Vorstellung ausgestattet wäre, nicht aber umgekehrt; und die Gesetze des Vorstellungslaufes bei einer solchen psychischen Fiktion könnten einige von den Gesetzen sein, die auch jetzt in unserem psychischen Leben ihren Einfluß offenbaren. Aus ähnlichen Gründen gebührt dem Urteile die zweite Stelle. Denn das Urteil ist nächst der Vorstellung die einfachste Klasse. Es hat nur die Vorstellung zu seiner Grundlage, nicht aber die Phänomene der Liebe und des Hasses. Der Gedanke eines Wesens, das mit der Tätigkeit zum Vorstellen die zum Urteilen verbände, aber ohne Regung der Liebe oder des Hasses bliebe, enthält keinen Widerspruch; und wir sind imstande zu jenen Gesetzen des Vorstellungslaufes, von welchen wir sprachen, einen gewissen Kreis von besonderen Gesetzen des Urteiles hinzuzufügen, worin noch von allen Phänomenen der Liebe gänzlich Umgang genommen wird. Anderes gilt dagegen von diesen Erscheinungen, wenn man sie in ihrem Verhältnis zu den Urteilen betrachtet. Es ist gewiß nicht nötig, daß derjenige, welcher etwas liebt, glaubt, daß es existiere, oder auch nur existieren könne; aber dennoch ist jedes Lieben ein Lieben, daß etwas sei; und wenn eine Liebe die andere erzeugt, wenn eines um des anderen willen geliebt wird, so geschieht dies nie, ohne daß ein Glauben an gewisse Beziehungen des einen zum anderen dabei beteiligt ist. Je nach dem Urteile über das Sein oder Nichtsein, die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit dessen, was man liebt, ist der Akt der Liebe bald Freude, bald Trauer, bald Hoffnung, bald Furcht, und nimmt so noch mannigfache andere Formen an. So scheint es in der Tat undenkbar, daß ein Wesen mit dem Vermögen der Liebe und des Hasses begabt wäre, ohne an dem des Urteiles Teil zu haben. Und ebenso ist es unmöglich, irgendwelches Gesetz der Aufeinanderfolge für diese Gattung von Phänomenen aufzustellen, welches von den Phänomenen des Urteiles gänzlich absieht. In bezug auf Unabhängigkeit, in bezug auf Einfachheit, und eben darum auch in bezug auf Allgemeinheit steht also diese Klasse der des Urteiles nach; an Allgemeinheit natürlich nur in dem Sinne, in welchem allein auch bei Vorstellung und Urteil von einem Unterschiede der Allgemeinheit gesprochen werden konnte.

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Man erkennt aus dem Gesagten, wie vollständig diejenigen den wahren Zusammenhang der Tatsachen verkennen, welche, wie es gerade in unseren Tagen von mehreren Seiten geschieht, den Willen unter allen psychischen Phänomenen als das erste betrachten. Nicht bloß das Vorstellen ist offenbar eine Vorbedingung des Wollens; die eben geführten Erörterungen zeigen, daß auch das Urteilen dem Lieben und Hassen überhaupt, und um so mehr dem relativ späten Phänomene des Wollens vorgeht. Jene Philosophen verkehren also die naturgemäße Ordnung geradezu in ihr Gegenteil. Wie die gefundene natürliche Klassifikation, so werden wir auch die natürliche Ordnung ihrer Glieder den folgenden spezielleren Untersuchungen zugrunde legen. Wir werden zuerst von den Gesetzen der Vorstellungen, dann von denen der Urteile, endlich von denen der Liebe und des Hasses sprechen. Allerdings wird es unmöglich sein, bei der Betrachtung der früheren Klasse einen Blick auf die spätere völlig auszuschließen, da ihre Unabhängigkeit ja nur in einem beschränkten und relativen Sinne von uns behauptet wurde und behauptet werden konnte. Der Wille greift herrschend nicht bloß in die Außenwelt, sondern auch in das innere Gebiet der Vorstellung ein und auch die Gefühle beeinflussen ihren Lauf. Ebenso ist es bekannt, wie häufig die Menschen etwas darum für wahr halten, weil es ihrer Eitelkeit schmeichelt oder sonst ihren Wünschen entspricht. Wie die natürlichste Einteilung, so ist auch die natürlichste Ordnung ihrer Glieder immer noch etwas Künstliches. Da Comte in seiner berühmten Hierarchie der Wissenschaften alle theoretischen Disziplinen in eine Reihe ordnete, stellte ihr Herbert Spencer seine Lehre von dem „Consensus“ aller Wissenschaften entgegen, welcher es verbiete, die eine der anderen gegenüber als die frühere zu bezeichnen. Vielleicht ging diese Behauptung zu weit; aber Comte selbst hatte zugegeben, daß seine Stufenleiter keine absolute sei, und daß auch die frühere Wissenschaft vielfach durch die spätere gestützt und gehoben werde.

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen zur Erläuterung und Verteidigung, wie zur Berichtigung der Lehre. I. Die psychische Beziehung im Unterschied von der Relation im eigentlichen Sinne. Das Charakteristische für jede psychische Tätigkeit besteht, wie ich gezeigt zu haben glaube, in der Beziehung zu etwas als Objekt. Hienach scheint jede psychische Tätigkeit etwas Relatives. Und in der Tat hat Aristoteles, wo er die verschiedenen Hauptklassen seines πρός τι aufzählt, auch der psychischen Beziehung Erwähnung getan. Doch versäumt er nicht auf etwas aufmerksam zu machen, was diese Klasse von anderen unterscheide. Wenn bei anderen Relationen sowohl Fundament als Terminus real sind, sei es hier nur das Fundament. Verdeutlichen wir uns ein wenig seine Meinung! Wenn ich ein Relativ aus der weiten Klasse von Vergleichsverhältnissen nehme, z. B. ein Größeres oder Kleineres, so muß, wenn das Größere ist, auch das Kleinere sein. Ist ein Haus größer als ein anderes Haus, so muß auch das andere Haus sein und eine Größe haben. Ähnliches wie von Verhältnissen der Gleichheit und Verschiedenheit gilt auch von jedem Verhältnis von Ursache und Wirkung. Damit ein solches bestehe, muß sowohl das, was verursacht, als das, was verursacht wird, existieren. Das Wirkende wirkt nur so lange, als das Gewirkte gewirkt wird. Kein Wirken ohne zeitlichen Kontakt. Und was sich zeitlich berührt, hat die zeitliche, wie das, was sich räumlich berührt, die räumliche Grenze gemein. Dauert die Einwirkung fort, so besteht für Wirkendes und Gewirktwerdendes ebenso lange eine zeitliche Koinzidenz. Ganz anders ist es dagegen bei der psychischen Beziehung. Denkt einer etwas, so muß zwar das Denkende, keineswegs aber das Objekt seines Denkens existieren; ja, wenn er etwas leugnet, ist dies in allen Fällen, wo die Leugnung richtig ist, geradezu ausgeschlossen. So ist denn das Denkende das einzige Ding, welches die psychische Beziehung verlangt. Der Terminus der sogenannten Relation muß gar nicht in Wirklichkeit gegeben sein. Man

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könnte darum zweifeln, ob hier wirklich etwas Relatives vorliege, und nicht vielmehr etwas in gewissem Betracht einem Relativen Ähnliches, was man darum als etwas „Relativliches“ bezeichnen könnte. Die Ähnlichkeit besteht darin, daß, wie derjenige, der ein Relativ im eigentlichen Sinne denkt, auch der, welcher eine psychische Tätigkeit denkt, in gewisser Weise zugleich zwei Objekte denkt, das eine sozusagen in recto, das andere in obliquo. Denke ich einen Blumenliebenden, so ist der Blumenliebende das Objekt, das ich in recto denke, die Blumen aber sind das, was ich in obliquo denke. Das aber ist ähnlich dem Fall, wo ich einen denke, der größer ist als Cajus. Der Größere wird in recto, Cajus in obliquo gedacht. Es ist mir nicht unbekannt, daß heutzutage manche im Gegensatz zu Aristoteles leugnen, daß auch dazu, daß etwas größer oder kleiner sei als ein anderes, die Existenz des anderen gefordert werde. So sei z. B. eine Menge von drei kleiner als eine Trillion, möge es nun eine Trillion geben oder nicht. So erschiene denn jener Unterschied, von dem ich sprach, aufgehoben. Ja, wir sähen ihn geradezu ins Gegenteil verkehrt, wenn wir auch noch die weitere Behauptung, in der sich manche gefallen, gelten ließen, daß eine Menge von drei auch noch dann kleiner sei als eine Trillion, wenn wie die Trillion auch die Drei nicht existierten. Denn dazu, daß etwas in psychischer Beziehung stehe, gehört wesentlich, wenn nicht die Existenz des Objektes, doch die eines psychisch sich darauf Beziehenden. Doch wie sollte eine Menge von drei noch kleiner als eine Trillion sein, wenn sie gar nicht mehr eine Menge von drei ist? Und sie ist ja nicht länger eine Menge von drei als sie ist. Wie ein Würfel, wenn man ihn zur Kugel umgeformt hat, indem er dann aufgehört hat zu sein, auch aufgehört hat sechs quadratische Flächen zu haben und ein Würfel zu sein. Wir sehen also, daß hier eine Täuschung durch Äquivokation vorliegt. Wer sagt, drei sei kleiner als [eine] Trillion, will nicht positiv die Existenz einer Relation behaupten, vielmehr sagt er nur, daß, wenn eine Menge von drei und eine Trillion bestehen, jene Relation zwischen ihnen bestehen muß; mit anderen Worten, daß in keinem Fall drei und eine Trillion ohne jene Relation bestehen können. Ähnlich darf man sich auch nicht auf Fälle berufen, wo wir sagen, ein Enkel sei größer, als sein Großvater gewesen sei, wo dann der Großvater doch nicht ebenso wie der Enkel existiert. Auch hier besagt die Behauptung nicht soviel wie, der Enkel sei größer als der Großvater. Denn wäre dies, so würde für einen Fall, wo ein älterer Mensch von einem jüngeren überwachsen wird, in dem Augenblick, wo dieser ihn an Größe erreicht, nicht bloß gesagt werden können, daß er jetzt ihm gleich groß, sondern auch größer und kleiner als er sei.

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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Das aber ist absurd, richtig vielmehr nur, daß er, wie wir uns ausdrücken, größer ist, als jener war und kleiner ist, als er sein wird, was nicht mehr bedeutet, als daß, wenn der Jüngere noch die Größe hätte, die er früher gehabt hat oder schon die Größe hätte, die er erreichen wird, der Ältere nicht ihm an Größe gleich, sondern größer bzw. kleiner als er sein würde. Und ähnlich ist es auch, wenn ich sage: „Titus ist größer, als Cajus glaubt.“ Ein eigentliches Größenverhältnis besteht hier nicht, wenn auch eine gewisse andere Art von Vergleichsbeziehung zwischen dem, was groß ist und was ihm urteilend eine Größe zuschreibt, bei welcher, wie man leicht erkennt, der eigentümliche Charakter der psychischen Beziehung mit hereinspielt. Kant sagt einmal, daß hundert wirkliche Taler um keinen Taler mehr seien, als hundert gedachte Taler. Die Wahrheit aber ist, daß hundert gedachte Taler nicht bloß um einen, sondern um volle hundert Taler weniger sind als hundert Taler oder vielmehr, daß sie, weil sie gar keine Geldsumme sind, ja gar nicht sind, auch in gar keinem Größenverhältnis, wie es zwischen Geldsummen besteht, weder in dem von gleich zu gleich, noch von größer und kleiner oder kleiner und größer zu den wirklichen hundert Talern stehen können. Ich will diese Erörterung über die psychische Beziehung nicht schließen, ohne mit einem Worte eine Meinung berücksichtigt zu haben, welche zwischen „sein“ und „existieren“ unterscheidet. Dabei soll das eine wie andere in ganz eigentlichem Sinn genommen werden. Es könnte nämlich daraufhin einem einfallen zu sagen, wenn einer sich psychisch auf etwas als Objekt beziehe, so sei dieses immer ebenso eigentlich wie er selbst, wenn es auch nicht immer ebenso wie er selbst existiere. Vielleicht ist von den Vertretern dieser Meinung bisher keiner ganz so weit gegangen. Doch von dem Roten, Blauen, das wir sehen, von den Tönen, die wir hören und anderen Empfindungsobjekten, an deren Existenz die Wissenschaft nicht glaubt, lehren allerdings viele von ihnen, daß sie zwar nicht existierten, aber doch seien. Und wenn wir allgemeine Begriffe denken, so behaupten sie, daß die Universalien, welche unsere Objekte sind, als Universalien seien, obwohl nicht existierten. Ich bekenne, daß ich unfähig bin, dieser Unterscheidung zwischen Sein und Existenz überhaupt irgendwelchen Sinn abzugewinnen. Was die Universalien anlangt, so ist die Annahme, sie seien, jedenfalls ebenso absurd wie die, daß sie existierten, denn sie führt zu Widersprüchen. Und der Satz des Widerspruches verwirft nicht bloß, daß dasselbe zugleich existiere und nicht existiere, sondern jedenfalls ebenso, daß dasselbe zugleich sei und nicht

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sei. Was wäre unter einem für sich bestehenden Dreieck im allgemeinen zu denken? – Offenbar etwas, dem alles das zukäme, was von allen einzelnen Dreiecken gemeinsam gilt, aber nichts von dem, was von dem einen gilt und von dem anderen nicht gilt. Darum wäre von dem für sich bestehenden Dreieck im allgemeinen zu leugnen, daß es rechtwinklig sei und ebenso, daß es spitzwinklig sei und ebenso, daß es stumpfwinklig sei, woraus sich ergeben müßte, daß es weder rechtwinklig, noch spitzwinklig, noch stumpfwinklig sei. Aber gerade dies widerspricht der Natur des Dreiecks im allgemeinen, da es, allgemein gesprochen, kein einzelnes Dreieck geben kann, das weder rechtwinklig, noch spitzwinklig, noch stumpfwinklig ist. So kommt es denn auch jedem einzelnen Dreieck zu, daß es spezifizierende und individualisierende Differenzen besitzt, wenn auch diese Differenzen von Dreieck zu Dreieck wechseln. Und somit müßte es auch dem für sich bestehenden Dreieck im allgemeinen eigen sein, daß es spezifizierende und individualisierende Differenzen besäße. Das aber zugeben und noch seine Universalität und Freiheit von allen individuellen Differenzen behaupten, wäre ein Widerspruch, wie er flagranter nicht gedacht werden kann. – Doch der Nachweis, daß es untunlich ist, jene Unterscheidung zwischen Sein und Existenz, der ich keinen vernünftigen Sinn abgewinnen kann, für die psychische Beziehung allgemein zu verwerten, ergab sich ja schon genugsam aus dem oben gegebenen Hinweis auf die Fälle, wo wir ein Objekt, das wir vorstellen, zugleich zum Gegenstand einer richtigen Leugnung machen. II.   Von der psychischen Beziehung auf etwas als sekundäres Objekt. Wenn wir sagten, daß die Beziehung zu etwas als Objekt, das für die psychische Tätigkeit am meisten Charakteristische sei, so darf dies nicht so gedeutet werden, als sei unter „psychischer Tätigkeit“ und „Beziehung zu etwas als Objekt“ geradezu dasselbe zu verstehen. Das Gegenteil zeigt sich mit Klarheit schon darin, daß, wie wir sagten, jede psychische Tätigkeit  Ich habe mich in dem Vorstehenden hinsichtlich des Terminus „Relation“ an den Sprachgebrauch des Aristoteles gehalten, erkenne aber gerne an, daß dies keineswegs geboten ist. Will einer darum, weil nicht bloß das was ist, sondern auch das was war und das was sein wird, im Gegensatz zu dem, was niemals ist, in gewisser Weise zum Bereich des Tatsächlichen gehört, auch von Relationen zu Vergangenem und Zukünftigem sprechen, so wäre es töricht, sich in einen Wortstreit mit ihm einzulassen.

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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sich auf sich selbst als Objekt bezieht, aber nicht primär, sondern sekundär oder wie Aristoteles, von dem die Tatsache bereits bemerkt worden war, sich ausdrückt „nebenbei“ (ἐν παρέργῳ). Wir haben also bei einheitlicher psychischer Tätigkeit immer eine Mehrheit von Beziehungen und eine Mehrheit von Objekten. Als sekundäres Objekt der psychischen Tätigkeit hat man sich aber, wie ich schon in meiner „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ betonte, nicht eine einzelne dieser Beziehungen, wie etwa die zum primären Objekt zu denken, was leicht ersichtlich zu einer unendlichen Vervielfältigung führen würde (müßte doch eine dritte Beziehung vorhanden sein, welche die sekundäre, eine vierte, welche die so hinzukommende tertiäre Beziehung usw. usw. zum Objekt hätte), sondern die psychische Tätigkeit, genauer gesprochen das psychisch Tätige, in welchem mit der primären Beziehung auch die sekundäre selber beschlossen ist. Obwohl nun aber jene unendliche Vervielfältigung der psychischen Beziehungen ἐν παρέργῳ nicht statt hat, so folgt daraus doch nicht, daß sie als eine einzige zu denken sei. Die psychischen Beziehungen, auch wenn sie dasselbe Objekt haben, können ja noch immer mehrere sein, wenn die Modi der Beziehungen mehrere sind und so finden wir es bei den psychischen Beziehungen ἐν παρέργῳ. Wir haben drei Grundklassen von Modis unterschieden: Vorstellung, Urteil und Gemütsbeziehung. Es ist selbstverständlich, daß bei den psychischen Beziehungen ἐν παρέργῳ die der Vorstellung niemals fehlt, denn sie ist die Vorbedingung der andern. So wenig wie diese, fehlt aber auch jemals das Urteil, und zwar liegt immer eine evidente Anerkennung vor. Außerdem glaubt man auch sehr allgemein, in jeder psychischen Tätigkeit einen sogenannten „Gefühlston“ gegeben, was soviel sagen würde, als daß jede psychische Tätigkeit, wie der Gegenstand einer in ihr beschlossenen Vorstellung und eines in ihr beschlossenen, evident anerkennenden Urteils, so auch der einer in ihr beschlossenen Gemütsbeziehung sei. Ich selbst hatte mich in meiner „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ dieser Meinung angeschlossen. Seitdem aber bin ich davon zurückgekommen und glaube nun mehr, daß es sogar unter den Sensationen viele gibt, welchen diese Gemütsbeziehung, also jede in ihnen selbst beschlossene Lust und Unlust, fehlt. Ja, die ganzen weiten Klassen der Gesichts- und Gehörsempfindungen halte ich für gänzlich frei von dem Charakter eines Affekts; was nicht ausschließt, daß sehr lebhafte Affekte von Lust und Unlust sie mannigfach gesetzmäßig zu begleiten pflegen. Man vergleiche darüber meine „Untersuchungen zur Sinnes­psychologie“.

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Die Tatsache, daß das psychisch Tätige, wie immer es primär sich auf anderes als Objekt bezieht, sekundär sich selbst zum Objekte hat, ist von großer Wichtigkeit. Es gibt daraufhin keine Aussage über primäre Objekte, in welcher nicht mehrere Behauptungen enthalten sind. Sage ich z. B. „es gibt einen Gott“, so liegt darin zugleich ausgesagt, daß ich urteile, es gebe einen Gott. Oder „es gibt keinen Gott“, so liegt darin, daß ich leugne, daß es einen gebe. Dies ist bei der psychologischen Analyse der Urteile gar wohl zu beachten; denn es wird sich für sie daraufhin bei gehöriger Sorgfalt des Verfahrens sehr oft ergeben, daß die Objekte der Urteile und der ihnen zu Grunde liegenden Vorstellungen ganz andere sind, als man sich gemeiniglich einbildet, und ein guter Teil von ihnen wird sich als Gegenstand der ἐν παρέργῳ gegebenen Beziehungen erweisen, welche mit den primären Objekten in eigentümlicher Weise determinierend zusammengesetzt werden. In bezug auf das Gesagte erscheint es aber nicht überflüssig, noch einige Bemerkungen beizufügen, welche Mißverständnissen vorbeugen und gegen naheliegende Einwände schützen, die denn auch wirklich des öfteren erhoben werden. Nicht alles, was erfaßt wird, wird explizit und distinkt, manches vielmehr nur implizit und konfus erfaßt. Ich glaube so in meinen „Untersuchungen zur Sinnespsychologie“ nachgewiesen zu haben, daß die in einem Akkord vereinigten Töne und die in multiplen Farben gegebenen Farbenelemente zwar immer wirklich erfaßt, aber oft nicht unterschieden werden. Der noch heute nicht beendete Streit über die Einfachheit oder Zusammensetzung des phänomenalen Grün hängt damit zusammen. Ja, ich glaube gezeigt zu haben, daß auch die Intensitätsunterschiede der sensiblen Objekte auf Unterschiede phänomenaler Dichtigkeit zurückzuführen sind. Der Sinnesraum ist stellenweise wechselnd erfüllt und leer, die einzelnen vollen und leeren Teile aber werden nicht deutlich unterschieden. Gilt dies von den physischen Phänomenen, so Analoges auch von der darauf bezüglichen psychischen Tätigkeit. Wir haben also hier, und vielfach auch anderwärts psychische Tätigkeiten, die nicht in allen ihren Teilen explizit wahrgenommen werden. Die innere Wahrnehmung ist vielmehr konfus, und obwohl diese Unvollkommenheit die Evidenz nicht beeinträchtigt, so hat sie doch zu mannigfachen Irrungen Anlaß gegeben, welche selbst wieder gewisse Psychologen verleitet haben, die Tatsache der Evidenz, ja sogar der Richtigkeit der inneren Wahrnehmung als eine allgemein gültige zu bestreiten. Zu derselben irrigen Ansicht wurden andere geführt, indem sie jede Vorstellung und jedes Urteil, welches sich auf eigene psychische Tätigkeit

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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bezieht, ohne weiteres zur inneren Wahrnehmung rechneten. Aber mit Unrecht; nicht bloß Physisches, auch Psychisches kann primäres Objekt werden, wie z. B. ganz unverkennbar, wenn wir uns das innere Seelenleben eines andern veranschaulichen, was wir und auch die Tiere in häufigen Fällen tun. Wir erkennen oder vermuten, daß sie in einer gewissen Weise empfinden, denken und wollen, die mit unserer Weise zu empfinden, zu urteilen und zu begehren mehr oder minder übereinstimmt oder ihr widerstreitet. Ganz ähnlich stellen wir uns nun oft vor, daß wir selbst unter gegebenen Bedingungen so oder so psychisch tätig sein würden, und sind auch oft überzeugt, daß wir wirklich so empfinden und wollen werden oder empfunden und gewollt haben. Nun ist freilich auch dann immer eine innere Wahrnehmung gegeben, aber sie geht nicht auf das genannte eigene psychische Tun, sondern auf ein anderes jetzt in uns wirkliches, welches auf jenes als primäres Objekt gerichtet ist. Alle unsere Erinnerung und Erwartung, die sich auf eigne psychische Erlebnisse bezieht, hat es mit ihnen als primärem und mit sich selbst nur als sekundärem Objekt oder als Teil von diesem zu tun. Dies gibt mir das Mittel zur Verteidigung gegen einen mir gemachten Vorwurf. Man hat daran Anstoß genommen, daß ich sagte, die innere Wahrnehmung könne nicht zur inneren Beobachtung werden, wohl aber beobachteten wir oft früher innerlich Wahrgenommenes später gewissermaßen im Gedächtnis, und hat dagegen geltend gemacht, daß das Gedächtnis nur eine schwächere Wiederholung des psychischen Aktes sei, an den wir uns erinnern. Doch man erkennt leicht, daß dies nicht der Fall ist; müßte doch sonst einer, der sich eines früheren Irrtums erinnert, wieder irren und einer, der eines früheren sündigen Wollens reuig gedenkt, wieder sündigen. Die frühere eigene psychische Tätigkeit, deren ich gedenke, erscheint nicht als sekundäres Objekt ἐν παρέργῳ, sondern als primäres, ähnlich wie wenn ich einen andern vorstellend oder sonstwie psychisch tätig glaube. III.   Von den Modis des Vorstellens. Wenn ich Vorstellen, Urteilen und Gemütsbeziehung als die drei Grundklassen der psychischen Beziehungen bezeichnete, so war damit bedeutet, daß sie noch mannigfacher Untereinteilungen fähig sein mögen. In Wahrheit ist eine solche für die Grundklasse des Urteilens bereits in dem Gegensatz von Anerkennen und Verwerfen und für die Grundklasse der Gemütsbeziehung

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in dem zwischen Lieben und Hassen gegeben. Aber auch von der Grundklasse der Vorstellung gilt, daß die im allgemeinen gleiche Beziehungsweise sich in besonderen Modis differenziert. Und wie zwei Urteile, die dasselbe Objekt haben, trotzdem, wenn das eine Urteil anerkennt, was das andere verwirft, der Art nach verschieden sind, so sind es oft auch zwei Vorstellungen trotz der Gleichheit des Objektes. Als ich meine „Psychologie vom empirischen Standpunkt“ schrieb, war mir dies noch nicht oder wenigstens nicht in seinem vollen Umfang offenbar geworden, und manches bleibt mir infolge davon nicht bloß zu ergänzen, sondern auch zu berichtigen. Vor allem sind als verschiedene Modi des Vorstellens seine temporalen Differenzen zu bezeichnen. Wer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft für Differenzen der Objekte halten würde, der würde ebenso irren wie der, welcher Existenz und Nichtexistenz für reale Attribute ansähe. Wenn wir in Rede oder Melodie eine Tonfolge hören, oder wenn wir einen Körper schauen, der in Bewegung oder Farbenveränderung begriffen ist, so erscheint uns derselbe individuelle Ton, dasselbe örtlich und qualitativ individuell bestimmte Farbige zuerst als gegenwärtig, dann mehr und mehr als vergangen, während andere als gegenwärtig auftreten, deren Vorstellung dann dieselbe modale Veränderung erleidet. Wer diese Unterschiede für Unterschiede der Objekte nehmen würde, ähnlich wie die räumlichen Differenzen, wenn ich etwas mehr rechts oder mehr links im Sehfelde vorstelle, es ohne Zweifel sind, der würde dem großen Unterschied, der zwischen Raum und Zeit besteht, nicht gerecht werden können. Was den Raum anlangt, so vermögen wir ohne Absurdität anzunehmen, daß es auch unräumliche Dinge gebe: Geister ohne Länge, Breite und Tiefe und ohne eigentliches Hier und Dort; und ebenso (was der neuesten Geometrie ein sehr geläufiger Gedanke ist) Topoide von vier und mehr Dimensionen, bei welchen die vierte zu Länge, Breite und Tiefe analog wie beim Körperlichen die Tiefe zur Breite, die Breite zur Länge hinzukäme und von jeder weiteren Dimension in bezug auf die vorausgehende wieder dasselbe gelten würde. Dagegen wäre es schlechterdings absurd, wenn einer eine Hypothese aufstellte, nach welcher etwas wäre, ohne gegenwärtig und mit allem andern, was ist, zugleich zu sein, indem es entweder ohne jedes Analogon zu dem Jetzt, oder in einem Chronoid von mehr als einer Dimension dauernd oder wechselnd bestände. Wie ein Qualitätsmodus keinem Urteil fehlen kann, und wir dies zuversichtlich für alle urteilenden Wesen zu behaupten vermögen, so ist auch ein Temporalmodus schlechterdings für jedes Vorstellen erforderlich und es kann dies

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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ohne Kühnheit nicht bloß für Mensch und Tier, sondern für jedes vorstellende Wesen überhaupt gesagt werden. Es gilt mit derselben Sicherheit wie der Satz, daß es keine Vorstellung gibt ohne Objekt. Dieser Punkt ist von höchster Wichtigkeit, hat die weittragendsten Konsequenzen, und ich behalte mir vor, ein anderes Mal eingehender bei ihm zu verweilen. Dann werde ich auch auf die Frage eingehen, ob nicht vielleicht bei allem, was eine Zeit lang besteht, außer der kontinuierlichen Reihe der Temporalmodi, mit welchen es zu denken ist, auch eine kontinuierliche Sukzession realer Differenzen angenommen werden müsse, welche aber dann, als ganz transzendent, in keiner unserer Anschauungen gegeben sein würden. Dagegen will ich es nicht ganz unerwähnt lassen, daß es nicht möglich ist, mit einem verallgemeinerten Temporalmodus vorzustellen, wie, wenn etwas unbestimmt als gewesen, zukünftig oder noch unbestimmter als irgend einmal tatsächlich erschiene. Es ist dies so untunlich, wie daß einer mit einem unbestimmten qualitativen Modus urteilt, also urteilend weder anerkennt noch leugnet. Wie sich aber der Schein erkläre, als ob dem doch so sei, darauf will ich hier nicht näher eingehen. Es braucht wohl kaum ausdrücklich bemerkt zu werden, daß die Frage, was unter Zeit zu verstehen sei, mit der, was uns bei der Messung zeitlicher Größen und Abstände, sei es durch verstandesmäßige Beurteilung, sei es durch gewohnheitsmäßige oder ursprünglich instinktive Schätzung, zum Anhalt diene, keineswegs zusammenfällt. Auch die letztere ist von hohem psychologischen Interesse und führt den Forscher auf ähnlich teleologische Momente, wie sie in dem blinden Vertrauen auf das Gedächtnis, der gewohnheitsmäßigen Erwartung und manchen natürlichen Zuneigungen und Abneigungen gefunden werden. Doch nicht sie, sondern nur die erste, vor allen wichtige Frage ist es, mit der wir uns hier zu beschäftigen hatten. Ein anderer wichtiger Gesichtspunkt, unter welchem von einem Unterschied von Modis der Vorstellung zu sprechen ist, ist schon früher berührt worden. Es ist der, von welchem aus wir den Modus rectus und den Modus obliquus unterscheiden. Der erste fehlt zwar niemals, wenn wir vorstellend tätig sind; der zweite aber ist neben ihm gegeben, so oft wir ein psychisch sich Beziehendes oder auch im eigentlichen Sinn Relatives denken. Außer dem psychisch Tätigen, das ich in recto denke, wird von mir immer auch sein Objekt, außer dem Fundament der Relation, das ich in recto denke, ihr Terminus in obliquo gedacht. Und der modus obliquus selbst ist eigentlich nicht einer, vielmehr ist er mannigfach differenziert. Er ist ein anderer, wenn es sich um eine Größenbeziehung, ein anderer, wenn es sich um ein Kausal­

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verhältnis, ein anderer, wenn es sich um eine psychische Beziehung zum Objekt handelt; ja, er ist ein anderer, wenn diese psychische Beziehung ein bloßes Vorstellen oder ein Urteilen, ein anderer, wenn sie ein anerkennendes oder verwerfendes Urteilen ist usw. usw. IV.  Von der attributiven Vorstellungsverbindung in recto und in obliquo. Bekannt ist, daß wir Objekte, die nicht ganz einfach sind, bald mehr, bald minder deutlich vorstellen. So oft wir sie einigermaßen deutlich vorstellen, ist die vorstellende Beziehung eine mehrfache und mehrfach klare im car­tesianischen Sinn. Sie geht wie auf das Ganze, so auch im besonderen noch auf Teile, die dann determinierend mit einander verbunden erscheinen; so z. B. wenn ich einen roten Fleck als farbig, als rot, als räumlich, als hier befindlich, als dreieckig usw. unterscheide und ihn als durch alle diese Merkmale charakterisiert denke. Eines erscheint dann als etwas, was mit dem anderen determinierend verbunden ist. Jede Vorstellungsbeziehung zu einem Merkmal hat ein besonderes Objekt, das, indem sich die Merkmale determinieren, mit den anderen zusammen die Verdeutlichung des anschaulich vorgestellten einheitlichen Ganzen bildet. Wir vermögen nun aber daraufhin die verschiedensten Objekte identifizierend miteinander zu verbinden, gleichviel ob sie in Wirklichkeit miteinander verträglich seien oder nicht, und kommen so zu einem Objektganzen von attributiver, obwohl nicht anschaulicher Einheit; wie ich denn z. B. in solcher Weise ein rundes Viereck, einen schwarzen Schimmel und ein blaues Rotes zu denken vermag. Auch kann ich so dasselbe Merkmal mit sich selbst identifiziert vorstellen, wie z. B. ein weißes Weißes, wo dann die Identifikation zu einem Äquivalent des Merkmals selbst führt, und es ist leicht ersichtlich, daß es ähnlich geschehen kann, daß wir auch solche Merkmale, die einer anschaulichen Vereinigung fähig wären, wie z. B. eine gewisse Gestalt und eine gewisse Farbe, nicht in anschaulicher, sondern in bloß attributiver Weise vorstellend vereinigen. Daß, wer zwei Merkmale in der Vorstellung attributiv identifiziert, hiemit noch nicht ein Urteil fällt, welches eins von dem anderen aussagt, habe ich in meiner Psychologie ausführlich dargelegt. Doch soll, wie es für jeden, der an das zuvor über die sekundäre Beziehung Ausgeführte zurückdenkt, selbstverständlich ist, hiemit nicht gesagt sein, daß hier jedes Urteil überhaupt fehle. Ja, auch das dürfte sich bei genauer Untersuchung erge-

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ben, daß wir, so oft wir deutlich vorstellen, uns in gewisser Weise negativ urteilend verhalten, indem wir erkennen, daß die psychische Beziehung zum einen Teil von der psychischen Beziehung zum andern verschieden ist. Es ist klar, daß eine Verdeutlichung der Vorstellung durch eine Zergliederung des Objekts sowohl in recto als in obliquo statthaben kann. Und so sind denn auch jene freien Identifizierungen ebenso in obliquo wie in recto möglich. Und auch, was in recto gedacht wird, kann mit einem in obliquo Gedachten identifiziert werden, wie z. B. wenn ich in recto Blumen und einen nach diesen Blumen verlangenden Blumenliebhaber vorstelle, wo dann Blumen in recto und in obliquo vorgestellt und miteinander identifiziert werden. Stelle ich mir einen grünen Baum vor, so denke ich den Baum in recto und wohl auch das Grüne in recto und identifiziere beide vorstellend. Stelle ich mir dagegen, wie man sagt, einen nicht grünen Baum vor, so scheint das Verfahren ein viel komplizierteres; denn Aristoteles wenigstens leugnete, daß ein Negatives Objekt sein könne. Und wenn dies, wie ich nicht bezweifle, wirklich unmöglich ist, so bleibt wohl nichts übrig, als anzunehmen, daß wir einen Baum vorstellen, von welchem man mit Recht leugne, daß er grün sei, so daß es sich dann um eine Identifikation in obliquo handelt. Wir werden darauf später zurückkommen. Von dem Verneinenden hob schon Leibniz hervor, daß er als solcher nicht etwas Negatives sei und es besteht darum für ihn nicht dasselbe Bedenken wie für das Nichtgrüne, ihn als Objekt einer Vorstellung zu fassen. V.  Von der Modifikation der Urteile und Gemüts­bewegungen durch die  Modi des Vorstellens. Wie die Differenzen der Objekte der Vorstellungen, so haben auch die Differenzen ihrer Modi nicht bloß für sie selbst, sondern auch für die Urteilsund Gemütsbeziehungen Bedeutung, da sich ja diese auf die Vorstellungen gründen. Es gilt dies deutlich von den Temporalmodis. Wenn ich urteile, ein Baum sei, und, ein Baum sei gewesen, so erkenne ich ihn in beiden Fällen an, aber mit einem andern Modus der Anerkennung. Wie das Objekt der Vorstellung „Baum“ nicht bloß die Vorstellung, sondern auch die Anerkennung zu einer andern macht, so auch der Temporalmodus der Vorstellung; er differenziert auch die Anerkennung temporal. Und ähnlich ist es, wenn ich etwas für die

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Gegenwart oder für die Zukunft wünsche. Beides sind Akte der Liebe, aber sie sind temporal differenziert wie die Vorstellungen, auf die sie sich gründen. Man bemerkt hier leicht, daß dies ohne Vermittlung eines temporalen Urteils geschieht. Der Wunsch für die Gegenwart oder für die Zukunft schließt weder den Glauben, daß das Gewünschte sei oder sein werde, noch die ihm entgegengesetzte Leugnung ein. Und ich unterlasse nicht, dies ausdrücklich hervorzuheben, weil jemand wegen der besonderen Rücksichtnahme der Konjugation des Zeitworts auf die Zeitunterschiede zu der Meinung hinneigen könnte, daß es sich bei den Temporalmodis um Differenzen handle, die erst das Urteil, nicht aber ebenso schon die Vorstellung treffen. Denn das Zeitwort ist jene sprachliche Form, welche besonders dazu dient, den Ausdruck des Urteils zu ergänzen. In bezug auf die Differenz von Modus rectus und obliquus gilt, daß nur auf die Vorstellungen in modo recto sich Urteile und Gemütsbeziehungen gründen, nicht auf Vorstellungen in modo obliquo für sich allein, wie diese ja auch nie für sich allein gegeben sind, vielmehr nur in derselben Tätigkeit mit dem Modus rectus. Stelle ich einen vor, ja, erkenne ich einen an, der etwas leugnet, so leugne ich selbst dieses nicht in modo obliquo, so wenig als ich, wenn ich denke, daß eine Ursache etwas bewirke, dieses selbst verursache, obwohl das indirekte Objekt und der besondere Modus obliquus, mit welchem sich mein Denken darauf bezieht, für den Inhalt meines Urteils nicht gleichgültig ist; es ist ja infolge davon auf ein anderes Objekt gerichtet. Indem Meinong den Fall, wo einer sagt: „Locke lehrte, daß es keine angeborenen Ideen gebe“, einer psychologischen Analyse unterzog, erkannte er ganz richtig, daß, wer diese Behauptung ausspricht, nicht behauptet, daß es keine angeborenen Ideen gebe. Statt aber wie wir zu sagen, daß er hier in recto den die angeborenen Ideen leugnenden Locke vorstelle und anerkenne, in obliquo aber sich mit doppeltem Modus obliquus auf die angeborenen Ideen vorstellend beziehe, meint er, daß man es hier mit einer vierten Grundklasse der Beziehungen zu einem Objekt zu tun habe, die zwischen der des Vorstellens und des Urteilens in der Mitte stehe, und die dem in der Sprache traditionellen Ausdruck „annehmen“ entspreche. Es ist leicht nachweisbar, daß er hier in mehrfacher Täuschung befangen ist. Der Modus obliquus des Vorstellens ist, wenn wir einen ein Objekt Anerkennenden oder Leugnenden denken, zwar ein anderer, als wenn wir einen es Vorstellenden denken. Aber dies gilt ähnlich auch im Fall, wo wir einen das Objekt Liebenden oder Hassenden denken; und wir haben in dem ers-

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ten Fall so wenig als in dem zweiten einen Grund von einer besonderen Hauptklasse von psychischen Beziehungen zu sprechen, müßten wir doch sonst, konsequent gesprochen, es sogar auch da tun, wo wir, indem wir eine Ursache in recto, die Wirkung in obliquo vorstellen. Vielmehr handelt es sich deutlich um Unterarten der indirekten Vorstellungsweise, welche dann freilich, wie schon bemerkt, auch für das auf die Vorstellung mit dem Modus rectus gegründete Urteil Bedeutung gewinnen. Außerdem wird kein Kenner der deutschen Sprache Meinong zugestehen, daß er hier das Wort „annehmen“ in einer der bisher üblichen Bedeutungen verwende. Wie Meinong es gebraucht, würden wir oft zugleich Entgegengesetztes annehmen, wie z. B. wenn wir sagen: „Locke behauptet, daß Descartes unrecht habe, wenn er lehrt, daß es angeborene Ideen gebe“. Denn hier würden wir zugleich annehmen, daß einer unrecht habe, wenn er lehrt, daß es angeborene Ideen gebe, und auch annehmen, daß es angeborene Ideen gebe. Andernfalls hätte ja Meinong für diese indirekte Beziehung zweiter Ordnung wieder eine neue Grundklasse aufstellen müssen, die sich zu seinem „annehmen“ wie sein „annehmen“ zum Urteil verhalten würde. Manchmal wird „annehmen“ synonym mit „anerkennen“ und namentlich mit „zustimmen“ gebraucht, wenn ein anderer eine Behauptung ausgesprochen. Manchmal und in besonders häufigen Fällen bedeutet es aber ein noch komplizierteres psychisches Verhalten, nämlich das absichtliche Festhalten der Vorstellung, als ob ich etwas urteile, um zu untersuchen, zu welchen anderen Urteilen oder praktischen Entschlüssen ich also denkend vernünftigerweise geführt werden würde. Wie ich ein Objekt analysieren kann, ohne es anzuerkennen, so kann ich auch die Folgerungen, zu denen ein Urteil führen muß, mir klar machen, indem ich den Urteilenden nur vorstelle und nicht anerkenne. Der hypothetisch Verfahrende verfährt so, obwohl er etwas nicht weiß, ganz analog, als wenn er es wüßte. Man hat es also auch bei dem, was wahrhaft dem Namen „annehmen“ entspricht, nicht mit einer besonderen Grundklasse, sondern mit einer Komplikation von mehreren bereits sehr spezifizierten psychischen Tätigkeiten zu tun. (Vgl. Marty, Zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie S. 244 ff.)

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VI.  Von der Unmöglichkeit, jeder psychischen Bezie­hung eine Intensität  zuzuerkennen und insbeson­dere die Grade der Überzeugung und  Bevorzu­gung als Unterschiede der Intensität zu fassen. Als ich in meiner Psychologie es unternahm, den Nachweis zu erbringen, daß man es bei Vorstellen und Urteilen mit zwei verschiedenen Grundklassen der psychischen Beziehung zum Objekt zu tun habe, berief ich mich auch auf die Unvergleichbarkeit der Grade der Intensität dieser beiden Beziehungsweisen, indem ich dabei der herkömmlichen Meinung folgte, nach welcher die Überzeugungsgrade als Unterschiede der Intensität der Urteile zu fassen wären. Allein diese Meinung ist, wie ich jetzt erkannt habe, eine irrige. Ich verweise dafür auf meine „Untersuchungen zur Sinnespsychologie“. Hier zeigte ich auch, daß ähnlich die Grade der Bevorzugung und die Grade der Entschiedenheit des Wollens nichts den Intensitätsgraden einer Sensation Analoges sind, und daß überhaupt die Meinung, daß jede psychische Beziehung eine Intensität im eigentlichen Sinne aufweise, aufgegeben werden müsse, da auch Vorstellungen (wie z. B. die der Zahl „drei“ im allgemeinen) ohne Intensität gefunden werden. Wer im Unterschied von einem anderen, der etwas mit Ausschluß jedes Zweifels anerkennt, mit bloßer Wahrscheinlichkeit daran glaubt, der fällt nicht dasselbe Urteil wie jener, nur mit geringerer Intensität; vielmehr ein, ja mehrere inhaltlich davon verschiedene Urteile, die nur in obliquo das berühren, worauf das Urteil des andern in recto gerichtet war. Schon Laplace erkannte dies recht wohl, als er sagte, die Wahrscheinlichkeit setze sich zusammen aus einem mehrfachen Wissen: erstens dem Wissen, daß von einer Mehrheit sich ausschließender Fälle der eine oder andere gegeben sei und zweitens dem, daß ich nicht mehr Grund habe, den einen als den andern Fall für wirklich zu halten. Man darf sich nicht dadurch täuschen lassen, daß man wie von Graden der Intensität einer Sensation auch von Überzeugungsgraden spricht. Auch bei der Geschwindigkeit einer Bewegung spricht man von verschiedenen Graden; und doch hat das, was man daraufhin Intensität der Bewegung nennen möchte, keine tiefere Verwandtschaft mit der Intensität, wie sie einer Sensation zukommt. Der Naturforscher weiß, daß der Zustand der Ruhe an Realität keinem Zustand der Bewegung etwas nachgibt. Wenn der Schwerpunkt der Welt statt zu ruhen in irgend einer Richtung sich mit beliebig großer Geschwindigkeit fortbewegte, so würde dies für den inneren Zusammenhang der physikalischen, chemischen und physiologischen Prozesse vollständig gleichgültig sein. Ganz anders ist es bei der Intensität, wie sie der Sensation eignet.

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Ein laut Hörender übertrifft als solcher an Realität des Hörens einen leise Hörenden, wie einer, der nicht bloß hört, sondern auch Tastempfindungen hat und riecht und schmeckt, ceteris paribus an Realität des Empfindens einem, der nur hört, überlegen ist. Und so wäre auch ein lauter Ton, wenn er, wie phänomenal, auch in Wirklichkeit bestünde, ein Mehr von Realität als ein leiser. Dies also in Kürze zur Berichtigung eines früher begangenen Fehlers. Ich brauche kaum eigens hinzuzufügen, daß ich durch den Entfall dieses Argumentes meine Beweisführung für die Scheidung von Vorstellung und Urteil als Grundklassen im allgemeinen nicht entkräftet glaube. VII.  Von der Unmöglichkeit, Urteil und Gemütsbe­ziehung in einer  Grundklasse zu vereinigen. Ich habe in meiner Psychologie bemerkt, daß man, wenn man Urteilen und Begehren zwei verschiedenen Grundklassen zuweist, um so weniger Anstand nehmen dürfe, Vorstellung und Urteil als fundamental verschiedene Klassen von Beziehung anzuerkennen, da sich für Urteil und Gemütsbeziehung vielfache Ähnlichkeiten zeigten, die bei der Vorstellung im Vergleich mit dem Urteil nicht beständen. So finde sich unter den Gemütsbeziehungen ein Gegensatz von Liebe und Haß, wie unter den Urteilsbeziehungen ein Gegensatz von Anerkennen und Verwerfen; bei der Vorstellung aber sei ein ähnlicher Gegensatz nicht vorhanden. Damit hängen für Urteile und Gemütsbeziehungen weitere Analogien zusammen, zu welchen auf dem Gebiet der Vorstellung die Parallele fehlt. Wie die Urteile teils richtig, teils unrichtig sind, so gibt es auch ein Richtig und Unrichtig auf dem Gebiet von Liebe und Haß. Man vergleiche darüber meine Abhandlung „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis“, wo ich auch nachgewiesen habe, daß, wie manche Urteile auch manche Gemütsbeziehungen unmittelbar als richtig charakterisiert sind. Ich hätte hier bei eingehenderer Erörterung auch noch zeigen können, wie die Gemütsbeziehungen, die uns unmittelbar als richtig einleuchten, eine Ähnlichkeit mit den Urteilen haben, welche, wie man sagt, ex terminis evident sind. Sind wir uns hier bewußt, daß unser richtiges Urteil aus einer Vorstellung mit Notwendigkeit hervorgeht, mit anderen Worten, daß wir als Vorstellende uns als so Urteilende wirkend hervorbringen, so gilt Ähnliches bei der unmittelbar als richtig charakterisierten Gemütsbeziehung. Und wie wir darum dort das Urteil als allgemein und notwendig richtig erkennen, so

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gilt bei einer solchen Gemütsbeziehung das Gleiche; wie wir denn z. B. nicht als bloß für den einzelnen Fall oder wenigstens bloß für uns Menschen, sondern als allgemein und notwendig erkennen, daß ceteris paribus die Freude dem Leid, die Erkenntnis dem Irrtum vorzuziehen ist. In einer Note zur englischen Übersetzung meiner erwähnten ethischen Abhandlung, die von Marty herrührt, findet man den Gedanken noch weiter erläutert. Unter solchen Umständen darf es nicht allzusehr befremden, wenn manche, die sich durch die Ausführungen in meiner Psychologie davon überzeugt fanden, daß das Urteil von der Vorstellung der Grundklasse nach zu scheiden sei, nun auf den Gedanken gerieten, es mit den Gemütsbeziehungen in einer Grundklasse zu vereinigen und die Anerkennung wie eine Art Liebe, die Leugnung wie eine Art Haß aufzufassen. Gar manche gemeinübliche sprachliche Ausdrücke könnten als Bestätigung erscheinen, wie denn das Wort „Anerkennung“ auch im Sinne von „Hochschätzung“ gebraucht wird und für Leugnung oder Verneinung wohl auch der Ausdruck „Verwerfung“ üblich ist, welcher auch dem Schlechten, Mißfälligen gegenüber in Gebrauch ist. So erscheint es denn nicht überflüssig, mit kurzem Worte darzulegen, wie trotzdem das Urteil so wenig mit der Gemütsbeziehung als mit der Vorstellung zur selben Grundklasse zu rechnen ist. Es ist etwas ganz anderes an ein Objekt glauben und es lieben, und ebenso etwas ganz anderes ein Objekt leugnen und es hassen; sonst wäre jede Trauerbotschaft ausgeschlossen. Und es genügt hiegegen zur Abwehr nicht, darauf zu verweisen, daß, weil dasselbe unter verschiedenen Gesichtspunkten schlecht und gut gefunden, auch etwas zugleich gehaßt und glaubend geliebt werden könne. Denn, wenn einer einen Gegenstand im übrigen haßt, so ist er ihm gewiß nicht darum lieber, weil er ist, da er vielmehr wünscht, daß er nicht sei. Auch darf man nicht übersehen, daß, wenn zwischen dem Gebiet des Urteils und dem der Gemütsbeziehung vielfache Analogien bestehen, dieselben doch nicht durchgängig gefunden werden. Ich hebe hier einen Punkt als besonders bezeichnend hervor, auf den ich auch in meinem Ursprung sittlicher Erkenntnis aus besonderem Grund die Aufmerksamkeit lenken mußte. Es gibt auf dem Gebiet des Urteils ein Wahr und Falsch. Dazwischen aber gibt es kein Mittleres, so wenig als zwischen Sein und Nichtsein, nach dem bekannten Gesetz des ausgeschlossenen Dritten. Dagegen gibt es für das Gebiet der Liebe nicht bloß ein „gut“ und „schlecht“, sondern auch ein „besser“ und „weniger gut“, „schlechter“ und „weniger schlecht“. Es hängt dies mit der Eigentümlichkeit des Bevorzugens zusammen, einer besonderen

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Klasse von Gemütsbeziehungen, der, wie ich in meinem Ursprung sittlicher Erkenntnis zeige, auf dem Gebiet des Urteils nichts entspricht. Auch wird durch Hinzufügung von Gutem zu Gutem ein Besseres gewonnen; ja auch zu Schlechtem gefügt ergibt das Gute mit ihm ein Ganzes, welches wir vielleicht einem gewissen andern reinen Gut für sich allein mit Recht vorziehen, wie man in der Theodicee zu sagen pflegt, Gott habe das Schlechte in der Welt zugelassen, weil die Welt infolge dieser Zulassung alles in allem jeder von allem Schlechten freien an Vollkommenheit überlegen sei. So will man denn und wählt oft implizit das Schlechte mit, während man urteilend, bei richtigem Verfahren niemals einer Unwahrheit Zutritt gestattet, um dadurch das Ganze wahrer zu machen. Noch eins! Bei dem, was wir mit Recht lieben, unterscheiden wir solches, was an sich und solches, was nur um eines andern willen gut ist, und nennen das letztere „nützlich“. Bei dem, was wir mit Recht anerkennen, gibt es einen analogen Unterschied nicht; alles, was existiert, auch wenn es in einem andern seine wirkende Ursache hat, ist als solches (und nicht bloß in Rücksicht auf jenes) existierend. VIII.   Von der Unmöglichkeit, für Gefühl und Wille in Analogie zu   Vorstellung und Urteil verschie­dene Grundklassen anzunehmen. Haben wir eben gesehen, wie manche neuere Forscher die Zahl der von uns aufgestellten Grundklassen durch die Subsumtion des Urteils unter die Gemütsbeziehung auf zwei reduzieren wollen, so finden sich daneben andere, welche noch immer nicht zugeben, daß mit den Gefühlen von Freude und Leid auch alles das, was wir begehren, vorziehen, wünschen, wollen und wählen nennen, in einer Grundklasse vereinbar sei. Und wenn ich auf die Allmählichkeit des Übergangs zwischen dem, was man fühlen und wollen nennt, hinwies, so hörte ich namentlich einen Punkt als einen solchen namhaft machen, wo die Grenze denn doch in scharfer Zeichnung hervortrete. Unter jenen psychischen Beziehungen, welche ich als Liebe dem Haß entgegengesetzt habe, sagte man, fänden sich solche, welche, obwohl auf Unvereinbares gerichtet, nicht selbst miteinander unvereinbar seien. Das Gegenteil gelte aber von gewissen anderen Beziehungen, welche ich ebenfalls derselben Klasse zugewiesen habe. So könne einer z. B. recht wohl zugleich an dem Aufenthalt in jeder von zwei schönen Gegenden Gefallen finden, dagegen könne er nicht zugleich in der einen wie andern Gegend sich aufhalten

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wollen. Es sei dies ähnlich, wie wir zugleich Entgegengesetztes vorstellen und in mannigfacher Beziehung vergleichen können, während im Urteil die Anerkennung des einen Entgegengesetzten, die des andern ausschließt. Und so erscheine denn, wie Urteilen von Vorstellen, auch Wollen von Lieben verschieden. Es möge das Wollen das Lieben voraussetzen, wie ja auch das Urteilen das Vorstellen voraussetzt, aber doch nur, um wie eine psychische Beziehung von anderer Grundklasse sich darauf zu gründen. Doch der Vergleich mit dem Verhältnis von Vorstellen und Urteilen, wenn man ihn genauer anstellt, läßt erkennen, daß die Sache in diesem Fall wesentlich anders liegt. Kommt zum Vorstellen das Anerkennen hinzu, so liegt darin keine Addition, welche Vorstellen zu Vorstellen fügt. Hier dagegen erscheint, wenn ich von zwei unvereinbaren Dingen, die beide mir gefallen, das eine wähle, zu dem Lieben, das im Gefallen zutage trat, eine neue Betätigung der Liebe zum selben Objekt hinzuzukommen. Auch sind es keineswegs jene psychischen Beziehungen zum Objekt, die man Wollen und Wählen nennt, in welchen allein jene Ausschließlichkeit sich zeigt. Das Wollen und Wählen geht immer auf das Praktische. Und so kann denn z. B. niemand, der nicht wie ein Äolus über Wind und Wetter zu gebieten glaubt, wollen, daß in drei Tagen dies oder jenes Wetter sei. Aber doch kann es Fälle geben, wo ihm an demselben Tage aus gewissem Grunde das schöne, aus anderem das schlechte Wetter lieb ist, indem hier wie anderwärts Wohlgefallen mit Wohlgefallen sich verträgt; daß er aber doch ganz entschieden wünscht, daß das eine und nicht das andere eintrete. Sollen wir nun sagen, daß das Bevorzugen es sei, welches vor anderem, was wir Gemütsbeziehung nannten, diesen Charakter der Ausschließlichkeit besitze? – Wenn dies, so wäre es wohl unverkennbar, daß es sich um eine wahre Liebesbeziehung handelt, wie darum ja auch die gemeine Sprache von „Vorliebe“ spricht. Oder sollen wir, da, wenn mehr als zwei unvereinbare Objekte in Frage kommen, oft das, was vor einem bevorzugt, zugleich einem Dritten nachgesetzt und dann nur dieses, wie man sich ausdrückt, „gewünscht“ wird, das nicht bloß relative, sondern absolute Bevorzugen allein als ein Beispiel jener neuen Grundklasse betrachten? – Man sieht, daß dies ebensowenig Schein für sich hat. Vielleicht sagt aber einer, nicht um einen Unterschied des Bevorzugens vor anderem, was einem lieb ist, oder des Bevorzugens vor allem gegenüber dem Bevorzugen vor einigem handle es sich; es gebe Fälle, wo wir die als schön erkannte Handlungsweise vor allen anderen bevorzugen und doch, von der Leidenschaft beherrscht, entgegengesetzt wollen und handeln. Doch

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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wenn dies, so wäre es nur etwa, wie Aristoteles den Fall auffaßt, zu denken; daß nämlich die Leidenschaft die höhere Liebe und Wertschätzung nicht recht zu Wort kommen ließe; daß sie verhinderte, daß sie sich zu ihren Konsequenzen entwickelt, indem sie selbst nach innen wie außen prädominierte. Obwohl das Verlangen nach einer sinnlichen Lust nicht mit dem, was die Vernunft bevorzugen heißt, im Einklang ist, so kommen doch Vernunftüberlegungen in den Dienst der Leidenschaft, machen die Mittel ausfindig, die zur Erreichung der Lust dienen und die Liebe und Lust der Bevorzugung übertragen sich auf die Mittel und führen zur Handlung, während die entgegengesetzte edle Bevorzugung ohne Einfluß bleibt. Fassen wir die Sache so, so haben wir es also mit einer Komplikation von Beziehungen zu tun. An den Affekt knüpfen sich Vorstellungen und Urteile und daraufhin noch weitere Akte der Liebe, worin wir nach etwas als Mittel begehren, und schließlich die äußere Handlung. Man wird aber auch hier vergeblich nach einem Moment suchen, das uns zur Annahme einer neuen Grundklasse berechtigte. IX.   Von den wahren und fiktiven Objekten. Alles psychisch sich Beziehende bezieht sich auf Dinge. Die Dinge, auf welche man sich psychisch bezieht, sind in vielen Fällen nicht. Man pflegt aber zu sagen, sie seien auch dann als Objekte. Es ist dies ein uneigentlicher Gebrauch des Wortes „sein“, den man sich der Bequemlichkeit halber ebenso ungestraft erlaubt, wie den des „Auf- und Untergehens“ in seiner Anwendung auf die Sonne. Man sagt damit eben nicht mehr, als daß sich ein psychisch Tätiges darauf beziehe. Es ist nur konsequent, wenn man sich daraufhin auch Äußerungen erlaubt wie „ein Zentaur ist halb Mensch, halb Pferd“, obwohl ein Zentaur im eigentlichen Sinn nicht ist, und darum im eigentlichen Sinn kein Zentaur ist, keinen Leib hat, der zur Hälfte menschlich und zur Hälfte pferdeartig wäre. Wie die Eigentümlichkeit des psychisch Tätigen, sich auf Dinge zu beziehen, dazu geführt hat, von Objekten zu sprechen, die in dem psychisch Tätigen seien, so hat der Umstand, daß sich das psychisch Tätige verschiedentlich auf dasselbe Ding bezieht, dazu geführt, von etwas zu sprechen, was in gewisser Weise mehr als das Objekt sei, dasselbe in sich enthalte und ebenfalls in dem psychisch Tätigen sich finde. Man nannte es den „Inhalt“ der psychischen Beziehung. Namentlich bei der urteilenden psychischen

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Tätigkeit sprach man außer von einem Objekt von einem Inhalt des Urteils. Wenn ich urteile: „ein Zentaur ist nicht“, so sagte man, das Objekt sei Zentaur, der Inhalt des Urteils aber sei, daß ein Zentaur nicht sei oder auch das Nichtsein eines Zentauren. Sagt man, dieser Inhalt sei in dem psychisch Tätigen, so gebraucht man wieder das „sein“ in einem uneigentlichen Sinn und sagt nichts anderes, als was man beim Gebrauch des „seins“ im eigentlichen Sinne in den Worten ausspricht: „ein psychisch Tätiges verneint in dem Modus praesens einen Zentauren“. Man ist aber hier noch weiter geführt worden und hat in Rücksicht auf den Unterschied des richtig und unrichtig urteilend Tätigen von Inhalten gesprochen, welche in Wirklichkeit seien und solchen, die in Wirklichkeit nicht seien. So z. B. da der, welcher einen Zentauren leugnet, richtig urteilt, sagte man, das Nichtsein des Zentauren sei wirklich, während das Sein des Zentauren nicht wirklich sei. Und umgekehrt, weil es wahr ist, daß es einen Baum gibt, so sagte man nicht bloß, es sei ein Baum, sondern auch, es sei das Sein eines Baumes und es sei nicht sein Nichtsein. Man behandelte also die Inhalte analog wie die Objekte, von denen man solche unterscheidet, die nur im uneigentlichen Sinn im psychisch Tätigen und solche, die außerdem im eigentlichen Sinne sind, wo sie dann zu den wirklichen Dingen gehören. Da man aber doch Anstand nahm, das Nichtsein eines Zentauren für ein wirkliches Ding zu erklären, so glaubte man diesem Unterschied und jener Ähnlichkeit zugleich Rechnung zu tragen, indem man die Inhalte „Objektive“ nannte. Doch sicher handelt es sich hier nur um Fiktionen. Wer sagt, daß das Nichtsein eines Zentauren sei, oder auch die Frage, ob ein Zentaur nicht sei, mit einem „so ist es“ beantwortet, will nichts anderes sagen, als daß er den Zentauren mit dem Modus praesens leugne und als Folge davon auch glaube, daß jeder, der einen Zentauren leugne, richtig urteile. Aristoteles sagt darum ganz richtig, jenes „so ist es“, wodurch wir einem Urteil beipflichten, besage nichts anderes, als das Urteil sei wahr, und die Wahrheit bestehe nicht außer dem Urteilenden, mit andern Worten nur in jenem uneigentlichen Sinn, nicht aber eigentlich und in Wirklichkeit. Es würde zu den heillosesten Komplikationen führen, wenn man sich an dieser aristotelischen Lehre irr machen ließe und jene Fiktionen für etwas im eigentlichen Sinne Bestehendes nähme. Es gäbe dann außer einem Apfel auch das Sein eines Apfels, das Nichtsein des Nichtseins eines Apfels, das Sein des Nichtseins des Nichtseins eines Apfels usw. in infinitum, und unendlichfach würden sich die unendlichen Komplikationen vervielfältigen.

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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Wenn man dafür, daß das Nichtsein eines Zentauren eigentlich und in Wirklichkeit bestehe, sich auf den Satz berief: „die Wahrheit eines Urteils ist seine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit“ und sagte, daß, da diese Übereinstimmung beim negativen Urteil, wenn nicht etwas ihm Entsprechendes in Wirklichkeit sich fände, fehlen würde: so ist darauf zu erwidern, daß man hier den Sinn jener alt überlieferten Worte in unannehmbarer Weise deutet. Sie wollen nichts anderes sagen, als daß ein affirmatives Urteil wahr genannt werde, wenn das, wovon es sagt, es sei, es sei gewesen oder werde sein, ist, war oder sein wird, und ein negatives, wenn das, wovon es sagt, daß es nicht sei, nicht gewesen sei oder nicht sein werde, nicht ist, nicht war und nicht sein wird. Um eine positive Übereinstimmung mit einem Dinge handelt es sich dabei nur etwa im Falle der affirmativen Urteile im Modus praesens, während es für das negative im Modus praesens genügt, daß keine Disharmonie besteht, wie sie z. B. für die Leugnung eines Zentauren gegeben wäre, wenn ein Zentaur im eigentlichen Sinne bestände. Die Analogie zwischen Inhalten und Objekten, welche darin liegen soll, daß die einen wie die anderen nicht bloß in uneigentlichem Sinn sind, sondern auch im eigentlichen Sinn teils sind, teils nicht sind, besteht also nicht zu Rechte. Wie die Inhalte nicht im eigentlichen Sinne, so können sie auch nicht in genau demselben uneigentlichen Sinn bestehen, in welchem die Objekte sind, d. h. sie können keine Objekte werden, wie umgekehrt kein Objekt das Ganze eines Inhalts ausmachen kann. Man sieht leicht, wie dieser Satz mit dem Frühergesagten zusammenhängt; denn könnte ein Inhalt, z. B. das Sein Napoleons oder dessen Nichtsein, Objekt werden, so müßte es auch von ihm gelten, daß es entweder ist oder nicht ist, und man müßte wie von Napoleon wohl auch von dem Sein Napoleons im eigentlichen Sinn sagen können, daß es bald sei, bald nicht sei, jetzt anfange und jetzt ende. Niemals wird ein Inhalt in dem Sinne vorgestellt, daß er Objekt der Vorstellung wäre, niemals auch in dem Sinne anerkannt, wie ein Objekt anerkannt wird, auch von solchen nicht, welche ihn so anzuerkennen glauben; womit ich natürlich nicht leugnen will, daß man nach einem anderen, sogar gemeinüblicheren Gebrauch, statt zu sagen, man erkenne ein Ding an, sagen kann, man erkenne an, daß ein Ding sei. Vielmehr stellt man immer nur einen das betreffende Urteil Fällenden vor und urteilt, daß man, indem man ihn vorstelle, einen Richtigurteilenden vorstelle. Streng genommen drücken wir uns darum auch nicht ganz richtig aus, wenn wir sagen, wir leugneten, daß der Inhalt eines Urteils existiere. Wir sollten vielmehr sagen, wir leugneten, daß etwas existiere, wofür das Wort „Inhalt“

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Benennung sei, ähnlich wie bei Worten wie „von“ und „aber“, welche für sich allein keinen Sinn haben, kein Ding benennen. „Ein Von ist nicht“, „ein Aber ist nicht“ hat so wenig Sinn, wie „ein Poturi Nulongon ist nicht“. Wohl aber hat es einen Sinn zu sagen: es gibt kein Ding, welches durch die Präposition „von“ oder die Konjunktion „aber“ benannt würde. Es steht uns also fest: Man kann nicht wie einen Zentauren, so das Sein oder Nichtsein eines Zentauren zum Objekte machen, sondern nur einen den Zentauren Anerkennenden oder Leugnenden, in welchem Falle der Zentaur ebenfalls zugleich in einem besonderen Modus obliquus Objekt wird. Und so gilt denn überhaupt, daß nie etwas anderes als Dinge, welche sämtlich unter denselben Begriff des Realen fallen, für psychische Beziehungen ein Objekt abgibt. Weder Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, oder auch Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges, noch auch Existenz und Nichtexistenz, oder auch Existierendes und Nichtexistierendes, noch Notwendigkeit und Nichtnotwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit, oder auch Notwendiges und Nichtnotwendiges, Mögliches und Unmögliches, noch Wahrheit und Falschheit, oder Wahres und Falsches, noch Güte und Schlechtigkeit, noch eine sogenannte Wirklichkeit (ἐνέργεια, ἐντελέχεια) oder Form (εἴδος, λόγος, μορφή), von denen Aristoteles spricht und welchen in der Sprache die Abstrakta wie Röte, Gestalt, Natur des Menschen u. dgl. zum Ausdruck zu dienen pflegen, noch die Objekte als Objekte, wie Anerkanntes, Geleugnetes, Geliebtes, Gehaßtes, Vorgestelltes, können jemals, so wie Reales, das sein, worauf wir uns als Gegenstand psychisch beziehen. Es würde hier zu weit führen, dies in bezug auf jedes Einzelne nachzuweisen. Und so sei denn nur im allgemeinen bemerkt, daß jeder, der einen Fall genau untersucht, wo man geneigt sein könnte, das Gegenteil anzunehmen, entdecken wird, daß man dann immer auch Dinge zu Objekten hat, teils in recto, teils in obliquo; und weiter noch, daß man für jeden Satz, der etwas von dem Erwähnten zum Subjekt oder Prädikat zu haben scheint, einen äquivalenten bilden kann, bei welchem Subjekt und Prädikat durch Reales ersetzt sind. Schon Leibniz hat dies, im besonderen was die sogenannten Nomina abstracta betrifft, erkannt und in seinen „Nouveaux Essais“ Liv. II, Chap. XXIII, § 1 eine Übersetzung, wie wir sie angedeutet, gegeben*, mit * Im Text des Originals heißt es an dieser Stelle „erkannt“. Da es sich hierbei um ein offensichtliches Versehen handelt, folgen die Herausgeber der Korrektur von O. Kraus, der in seiner Ausgabe der Psychologie vom empirischen Standpunkt ­(Leipzig 1924/25) in den „Berichtigungen“ am Ende des 2. Bandes hier „erkannt“ durch „gegeben“ ersetzt.

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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welcher man dann einer Fülle von subtilen und abstrusen Erörterungen, die Metaphysik und Logik verwirrten, sich enthoben sehen werde. Dies hindert aber nicht, daß in vielen Fällen die Fiktion, als hätten wir noch anderes als Reales wie z. B. Nichtseiendes ebenso wie Seiendes zum Objekt, sich bei logischen Operationen unschädlich erweist, ja, daß diese dadurch, weil im Ausdruck und auch im Denken selbst vereinfacht, erleichtert werden können; ähnlich wie der Mathematiker sich mit Vorteil der Fiktionen von Zahlen unter Null und vieler anderer zu bedienen pflegt. Ein vielfach kompliziertes Vorstellen und Urteilen läßt sich bei solcher Methode behandeln, als wenn es ein einfaches wäre, und man ist der in gewissen Fällen nutzlosen Mühe einer genaueren Verdeutlichung eines konfus erfaßten psychischen Vorganges überhoben. So hat die gemeine Logik von altersher vielfach von Urteilen als einheitlichen und einfachen gesprochen, die es eigentlich nicht sind. Sie glaubte z. B. in den vier Klassen kategorischer Sätze, die sie mit den Buchstaben a, e, i, o bezeichnete, Klassen einfacher, einheitlicher direkter Urteile zu unterscheiden, während tatsächlich viele davon, ja gewissermaßen alle, kompliziert sind, und namentlich Urteile des innern Bewußtseins mit einbegreifen. Ich will es nicht unterlassen, etwas in ihre psychologische Analyse einzugehen. Wenn man die dadurch sich ergebende Komplikation mit der Einfachheit des Verfahrens vergleicht, zu der man durch Anwendung gewisser naheliegender Fiktionen gelangt, so wird man dieselben in ihrem Verdienst sehr wohl zu würdigen wissen. Von den genannten vier kategorischen Formeln ist die Formel i am leichtesten zu analysieren. „Ein S ist P“ ist äquivalent einem Existenzialsatz, welcher das Ganze, zu dem ich, wenn ich S mit P identifiziert vorstelle, gelange, mit dem Modus praesens anerkennt. Und drückte der Satz, wie die Logik fingiert, ein einfaches Urteil aus, so wäre er mit dem in diesem Existenzialsatz ausgedrückten Urteil geradezu identisch. Genau besehen bezeichnet er aber ein Doppelurteil, dessen einer Teil das Subjekt anerkennt und dessen anderer, nachdem das Prädikat vorstellend mit dem Subjekt identifiziert worden ist, das zunächst für sich anerkannte Subjekt nun auch noch mit dieser Zugabe anerkennt, d. h. ihm das Prädikat P zuspricht. Ähnliches finden wir bei der Formel o. Die Logiker nennen sie die partikulär verneinende, was höchst ungenau ist und wenn es als genau gesprochen betrachtet würde, etwas geradezu Unmögliches besagte. Denn es kann nicht geschehen, daß ein rein verneinendes Urteil anders als universell verneint, wie es auch umgekehrt unmöglich ist, daß, wo es sich um universelle

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Begriffe handelt, ein bejahendes Urteil anders als partikulär bejaht. Wie der Satz: „es gibt nicht einen Baum“ universell verneint, während der Satz „es gibt einen Baum“ partikulär bejaht, so gilt dasselbe ausnahmslos für „es gibt nicht ein A“ und „es gibt ein A“. Nur wo ein mit P identifiziertes S vorher durch einen Zusatz restringiert worden ist, kann darum einer, der sich verneinend auf die Verbindung eines S mit einem P bezieht, sie anders als nach dem ganzen Umfang von S verwerfen. Zu einer solchen Restriktion kommt es nun aber bei der Formel o dadurch, daß sie wie die Formel i, genau besehen, ein Doppelurteil ausdrückt. Das eine besteht, wie bei der Formel i, in der Anerkennung des Subjektes S, und dieses ist der Grundbestandteil des Doppelurteils, auf welchen dann der zweite Teil Bezug nimmt und ihn in der Art zur Voraussetzung hat, daß er davon unabtrennbar ist. Und dieser zweite Teil ist negativ; er spricht dem S, welches der erste Teil des Doppelurteils anerkannt hat, nicht wie der zweite Teil bei der Formel i ein Merkmal zu, sondern er spricht ihm eines ab. So leugnet er nicht die Verbindung von P mit S schlechtweg, sondern die Verbindung von P mit einem S, welches ich anerkenne und da jede Anerkennung partikulär ist, durch diese Anerkennung selbst partikularisiere. Es ist also, wie gesagt, nicht ein S schlechthin, dessen Verbindung mit P geleugnet wird, sondern ein in seinem Umfang restringiertes S, und so scheint denn infolge des partikulären Charakters des grundlegenden, affirmativen Teils des Doppelurteils o auch der darauf aufgebaute negative Teil desselben partikulär, ohne es eigentlich zu sein. Doch, wenn einer es vorzieht, mag er auch sagen, daß das zweite Urteil wahrhaft partikulär sei, aber nur, weil es nicht rein negativ ist, sondern eine Affirmation impliziert. Wenn wir bei der Formel i fanden, daß das Doppelurteil „S ist P“ dem einfachen Existenzialurteil „es gibt ein S P“, d. i. „ein P seiendes S“ äquivalent war, so kann nach dem Gesagten für die Formel o in bezug auf die existenziale Formel „es gibt nicht ein S P“ nicht Ähnliches gelten, denn hier, wo es an aller Bejahung fehlt, fehlt es auch an jedem restringierenden Moment, das den scheinbar partikulären Charakter des negativen Urteils erklärlich macht. Ich darf es aber nicht unterlassen, auf eine sprachliche Eigentümlichkeit der Formeln i und o, wie sie gewöhnlich ausgesprochen werden, aufmerksam zu machen. Man sagt gemeiniglich nicht einfach „ein S ist P“, „ein S ist nicht P“, sondern „irgend ein S ist P“, „irgend ein S ist nicht P“. Dieses „irgend“ ist eigentlich nur da im Gebrauch, wo es sich um eines aus einer Mehrzahl handelt. Man kann darum z. B. nicht ebenso gut sagen „es lebt irgend ein Gott“ als „es lebt ein Gott“.

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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Zu einer ähnlichen Bemerkung gibt der gemeinübliche Ausdruck für die Formeln a und e Anlaß. Man sagt „alle S sind P“ oder „jedes S ist P“, indem man das eine Mal geradezu den Plural anwendet, das andere Mal einen Singular, der aber auf eine Vielheit, zu der das Einzelne gehört, hinweist. Etwas weniger sichtlich ist die Beziehung zum Plural, wenn man die Formel e durch „kein S ist P“ ausdrückt. Doch liegt es nahe auch hier das „kein“ im Sinne von „keines unter allen“ zu fassen. Faktisch werden aber die Formeln viel allgemeiner verwendet. So gibt man als Beispiel von ihnen Sätze wie „Cajus ist ein Mensch“, „kein schlechthin vollkommenes Wesen ist ungerecht“, obwohl es sich in beiden Fällen im Subjekt um etwas handelt, was nicht in der Mehrzahl sein kann. Und ich kann auch sagen „jedes runde Viereck muß rund und viereckig zugleich sein“, obwohl es nicht einmal ein rundes Viereck, geschweige denn eine Vielheit von runden Vierecken gibt und geben kann. So sehen wir denn, daß die Formeln, wie sie jetzt gehandhabt werden, nur der Ausdrucksweise nach, nicht aber dem Sinne nach etwas mit einer Mehrheit zu tun haben. Und ich habe darum bei der eben gegebenen Analyse der Formeln i und o auch nicht auf eine solche Rücksicht genommen. Und auch bei den noch zu untersuchenden Formeln a und e will ich es nicht tun. Täte ich es aber, so würde ich den Begriff der Zahl fiktiv so erweitern müssen, daß ich auch „Eins“ und „Null“ mit darunter begriffe. Dann versteht es sich von selbst, daß es für jegliches Subjekt eine Gesamtzahl gibt. Eben darum wäre aber auch nichts damit gewonnen, daß man ausdrücklich dies geltend machte und z. B. statt „ein S ist P“ sagte „in der Gesamtzahl von S findet sich eine Einheit, welche P ist“ und statt „ein S ist nicht P“ „in der Gesamtheit von S ist ein S nicht P“. Auch in den beiden anderen Formeln wird so gut wie gar nicht auf ein Kollektiv Bezug genommen. Es macht ja nicht den geringsten Unterschied zu sagen, daß etwas sich nicht vorfinde oder daß es in der Gesamtheit der Dinge sich nicht vorfinde; und wer sagt, eine Gesamtheit sei etwas, z. B. sie sei grün, unter den Gesamtheiten aber „Eins“ und „Null“ mitbegreift, von dem ist offenbar, daß er von einem Kollektiv weder kollektiv noch, wie die Logiker meinen, distributiv etwas prädiziere, da für den Fall, daß die Gesamtheit Null ist, keine Einheiten darin gegeben sind, von welchen das Prädikat „grün“ Stück für Stück von der ersten bis zur letzten ausgesagt werden könnte. Fort also mit dem Ballast, der sich zudem als etwas darstellt, was noch vieler weiteren psychologischen Analysen bedürfen würde, um in seinem Inhalt voll verdeutlicht zu werden. Diese würden uns insbesondere mehrfach auf Vorstellungen von negativ Urteilendem führen,

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würden uns aber dann auch endgültig vor dem neu aufgetauchten Irrtum behüten, die Termini „Zahl“, „Gesamtheit“ u. dgl. seien Begriffe, die keiner Anschauung, weder einer äußeren noch inneren entnommen sind. Dies in Kürze, um einem Einwand vorzubeugen, welcher sonst leicht sowohl dem schon ausgeführten, als insbesondere dem noch rückständigen Teil unserer Analyse der vier kategorischen Formeln gemacht werden könnte. Nachdem wir die Formeln i und o untersucht, wenden wir uns jetzt zur Formel e. Wie sich die Formel i als ein Äquivalent des Existenzialsatzes „es gibt ein S P“ (d. i. ein P seiendes S) erwies, so ergibt sich der Satz „kein S ist P“ deutlich als ein Äquivalent der existenzialen Formel „es gibt nicht ein S P“. Ich sage: „als ein Äquivalent“ und gebe dadurch zu erkennen, daß er psychologisch betrachtet nicht ganz derselbe ist. Wir wollen uns dies durch eingehendere Analyse klar machen. Wer sagt „kein S ist P“ stellt einen „ein S ist P“ Urteilenden vor und erklärt, daß er, indem er ihn so urteilend vorstelle, einen irrig Urteilenden vorstelle; einen, der dem Urteil des Vorstellenden selbst kontradiktorisch Entgegengesetztes behaupte. Nun sahen wir, daß, wer urteilt „ein S ist P“ ein Doppelurteil fällt, dessen erstes Partialurteil S anerkennt und dessen zweites dem S, welches im ersten anerkannt worden, das Merkmal p als Prädikat beilegt. Somit liegt in dem Gesagten, daß er eines wenigstens der beiden Urteile für falsch hält, jedenfalls aber das zweite, da dieses das erste Partialurteil impliziert und somit, wenn dieses falsch ist, ebenfalls nicht richtig sein kann. Und darum ist denn auch die Äquivalenz des existenzialen Urteils, welches die Vereinigung der beiden Merkmale verwirft, ganz offenbar. Analog wie die Formel e zur Formel i verhält sich die Formel a zur Formel o. Bestand die Bedeutung von dieser in dem Doppelurteil „es gibt ein S und dieses ist nicht P“, so besagt der Satz „jedes S ist P“, daß, wer die beiden Urteile fällt, falsch urteilt. Ich stelle einen als ein S anerkennend und ihm P absprechend vor und erkläre, daß ich, indem ich ihn so urteilend vorstelle, einen irrig Urteilenden vorstelle; einen, der meinem eignen Urteil kontradiktorisch Entgegengesetztes behaupte; womit zutage liegt, daß ich infolge des von mir eingenommenen Standpunktes glaube, daß es einen P dem S richtig Absprechenden überhaupt nicht geben könne. Dies sind die etwas komplizierten Ergebnisse einer psychologischen Analyse der vier logischen Formeln kategorischer Sätze, die man als a, e, i, o bezeichnet, wenn man sie auf ihre allerwesentlichsten Momente reduziert. Sehen wir jetzt, mit welchem höchst einfachen Kunstgriff der Logiker sich

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hier die Operationen, die durch solche Komplikationen erschwert zu werden drohen, vereinfachen kann! Es genügt, wenn er fingiert, daß es auch Negativa als Objekte gebe. Die Fiktion ist wie viele andere dem Laien geläufig; redet er doch wie von einem Klugen so von einem Unklugen und wie von einem Lebenden von einem Leblosen. „Schönes“ und „Unschönes“, „Rotes“ und „Nichtrotes“ betrachtet er gleichmäßig als Namen, d. i. als Worte, die ein Objekt nennen und auch Aristoteles, der doch recht gut weiß, daß ein Negativum kein Objekt werden kann, fügt in dem Buch De Interpretatione zu dem „ὄνομα“, dem Worte, das etwas nennt, das „ὄνομα ἀόριστον“, welches nichts anderes als jene negativen Ausdrücke wie „Nichtweißes“, „Nichtmensch“ u. dgl. begreifen soll. Der Ausdruck „unendliches Urteil“, welchen Kant für eine dritte Klasse von Urteilen gebraucht, die er neben den affirmativen und negativen in seiner Kritik der reinen Vernunft unterscheidet, scheint mit diesem aristotelischen Terminus historisch zusammenzuhängen. Die Logik hat davon längst mannigfachen Gebrauch gemacht, und sie hätte ihn, wie ich in meiner Psychologie, und meinen Spuren folgend Hillebrand in seiner Schrift über die kategorischen Schlüsse zeigte, noch weit geschickter davon Gebrauch machen können. Man gelangt dann dazu, wie den kategorischen Satz „ein S ist P“ auf den Existenzialsatz „es gibt ein S P“ oder „es gibt ein P seiendes S“, so den kategorischen Satz „irgend ein S ist nicht P“ auf den Existenzialsatz „es gibt ein S non P“, d. i. „es gibt ein nicht P seiendes S“ und ferner wie den kategorischen Satz „kein S ist P“ auf den Existenzialsatz „es gibt nicht ein S P“, den kategorischen Satz „alle S sind P“ auf den existenzialen „es gibt nicht ein S non P“ zu reduzieren. Ich habe in meiner Psychologie die drei einfachen syllogistischen Regeln ausgesprochen, welche, wenn man diesen Kunstgriff handhabt, die ganze Verwicklung, zu welcher die kategorische Schlußlehre durch Unterscheidung von Figuren und Modis der Figuren seit Aristoteles gelangt ist, ohne dadurch auch nur in allen Fällen genügend vor Irrtum zu schützen, überflüssig machen. Zugleich tritt bei solcher Behandlung die wichtige Wahrheit in unverkennbarster Weise hervor, daß die ganze Syllogistik in nichts als in einer fortlaufenden Applikation des Satzes des Widerspruches besteht; eine Wahrheit, an welcher Alexander Bain in dem Maß irr werden konnte, daß er meinte, wir hätten für die Richtigkeit der syllogistischen Regeln keine andere Gewähr als ihre bisherige ausnahmslose Bestätigung durch die Praxis. Ein ähnlicher Kunstgriff vereinfacht auch die hypothetische und disjunktive Schlußlehre und macht, daß ihre Sätze auf den Existenzialsatz rück-

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führbar werden. Ich brauche hier nur zu der Fiktion zu greifen, daß auch die Inhalte von Urteilen Objekte werden können, auf die man sich dann anerkennend und leugnend bezieht, sowohl für sich allein, als indem man sie mit anderen identifiziert oder sonstwie in Beziehung setzt. So kann z. B. der Satz „wenn alle A B sind, ist irgend ein C nicht D“ auf den Existenzialsatz „es ist nicht das Nichtsein von A non B, ohne das Sein von C non D“ gebracht werden. Nimmt man dazu den Satz „es ist das Nichtsein von A non B“, so folgt nach dem Modus ponens „es ist das Sein von C non D“, oder nimmt man den Satz hinzu „es ist nicht das Sein von C non D“, so folgt nach dem Modus tollens, „es ist nicht das Nichtsein von A non B“. Setzt man für den Terminus „Nichtsein von A non B“ den Buchstaben α und für den Terminus „Sein von C non D“ β, so erscheinen die Schlüsse in der einfachen Gestalt: „Es ist nicht α ohne β. Nun ist α. Also ist auch β.“ „Es ist nicht α ohne β. Nun ist β aber nicht. Also ist auch α nicht.“ Freilich ist die Anwendung des Kunstgriffs hier in dem Maß von geringerem Belang, als die Lehre von den konditionalen und disjunktiven Schlüssen eine geringere Verwicklung als die von den sogenannten kategorischen Schlüssen darbietet. Das dürfte auch der Grund sein, warum Aristoteles, der sie so gut wie wir kannte, sie in seinen Analytica Priora ganz unberücksichtigt ließ. Um Mißdeutungen vorzubeugen, bemerke ich aber ausdrücklich, daß ich, auch was die kategorischen Schlüsse anlangt, hier so wenig als in meiner Psychologie alles, was für sie in Betracht kommt, berührt habe. So z. B. habe ich auf die Komplikationen, zu welchen die Berücksichtigung des Temporal­ modus sowie des apodiktischen Charakters führt, der Kürze halber keinen Blick geworfen, um zu zeigen, wie den besonderen Schwierigkeiten und Gefahren, welche sich auf Grund ihrer ergeben, am leichtesten zu begegnen ist. Der Umstand, daß solche Fiktionen in der Logik gebräuchlich sind, hat manche dazu geführt zu glauben, daß sie außer den Dingen auch Nichtdinge zum Objekt habe und somit der Begriff ihres Objektes allgemeiner als der des Realen selbst sei. Dies ist aber durchaus unrichtig, ja, nach dem Gesagten schon darum unmöglich, weil es andere als reale Objekte gar nicht geben kann, und derselbe einheitliche Begriff des Realen als schlechthin all-

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gemeinster Begriff alles, was wahrhaft Objekt ist, unter sich faßt. Auch die Termini der gemeinen Sprache sind in den häufigsten Fällen nicht psychologisch, sondern nur grammatikalisch Namen. Sie nennen nicht Dinge, aber darum bleibt es um nichts weniger wahr, daß die Rede, in die sie verflochten sind, sich mit nichts anderem als mit Dingen beschäftigt. Vielmehr ist das Objekt der Logik weit enger als der Begriff des Dinges. Sie ist eine technische Disziplin und geht darauf aus, uns in Stand zu setzen, prüfend und forschend der Erkenntnis teilhaft zu werden. Sie ist eine Kunst des Urteils. Nur insofern wir beim Urteilen Dinge aller Art zum Objekte haben, kommen auch diese s. z. s. indirekt in Betracht, während direkt die Erkenntnis (genau gesprochen der Erkennende) als ihr Objekt zu bezeichnen ist. X.  Von den Versuchen, die Logik zu mathematisieren. Ein Bedürfnis nach Reform der elementaren Logik wurde, wie von mir, auch von anderen gefühlt, und namentlich machten manche den Versuch, der Logik durchwegs einen mathematischen Charakter zu geben, in der Hoffnung, den sämtlichen Beweisführungen die Durchsichtigkeit der mathematischen Beweise zuteil werden zu lassen. Die Allgemeinheit, welche nach unserer Darlegung allen negativen Urteilen als solchen eigen ist, faßten sie bei den kategorischen Aussagen als eine Quantifikation des Subjektbegriffes, und infolge davon drängte sich ihnen der Gedanke auf, daß es besser wäre, wenn, wie das Subjekt, auch das Prädikat quantifiziert würde. Dieser Gedanke war schon dem Altertum nicht ganz fremd geblieben, so zwar, daß Aristoteles ihn berücksichtigt; aber freilich nur polemisch, indem er treffend sagt, wer, statt nur dem Subjekt das Wörtchen „alle“ oder „jeder“ beizufügen, es vor dem Prädikat wiederhole, der komme durchwegs zu falschen Behauptungen. Denn nicht einmal Sätze wie „alle Menschen sind alle Menschen“ und „jeder Mensch ist jeder Mensch“ könnten als richtig zugelassen werden. So wenig seien alle Menschen alle Menschen, daß vielmehr kein Mensch alle Menschen sei. Und so ist denn auch kein Mensch jeder Mensch; denn wäre es auch nur einer, z. B. Cajus, so würde darin liegen, daß Cajus nicht bloß Cajus, sondern auch Sempronius und Tullius usw. wäre. Es liegt hier ein gänzliches Mißverstehen der Sprachform vor. In jüngster Zeit hat Gomperz in seiner Darstellung der Philosophie des Theophrast bemerkt, daß dieser eine moderne Lehre von der Quantifikation des Prädikats antizipiert habe. Doch wenn man die Stelle genau besieht, so

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findet man das Gegenteil. Er berührt den Gedanken ganz so wie vor ihm Aristoteles nur, um ihn zu verdammen. Ein ähnliches Mißverständnis leitete die, welche meinten, daß jedes kategorische Urteil ein Gleichheitsverhältnis zwischen Subjekt und Prädikat ausdrücke. Lotze scheint auf diese Weise zu der eigentümlichen Lehre geführt worden zu sein, daß, wenn wir sagen „ein Baum ist grün“, unter „Baum“ stillschweigend ein grüner Baum, und auch unter „grün“ nicht einfach grün für sich allein, sondern ein mit einem Baum identisches Grünes, also ebenfalls ein grüner Baum gedacht werde. Da hätten wir denn die Gleichung: „ein grüner Baum = ein grüner Baum“. Allein was für einen Wert würde es haben, wenn die kategorischen Aussagen alle in Gleichungen bestünden, bei welchen dasselbe sich selber gleichgesetzt würde? Wenn alle Gleichungen des Mathematikers nichts anderes sagten, als 2 ist 2 und 10 ist 10 u. dgl., so würden sie zur Förderung der Wissenschaft wenig dienen. Wenn wirklich der Satz „ein Baum ist grün“ in den Satz „ein grüner Baum ist ein grüner Baum“ ohne wesentliche Änderung des Inhalts verwandelt wird, so erkennt man leicht, daß das Prädikat „ein grüner Baum“ ohne Nachteil ganz weggelassen werden kann, und man kommt zu dem einfachen Existenzialsatz „ein grüner Baum ist“ als Äquivalent des Satzes „ein Baum ist grün“, ganz so wie wir es lehren. Übler würde man fahren, wenn man Sätze wie „alle Menschen sind gut“ daraufhin für gleichbedeutend mit „alle guten Menschen sind gute Menschen“ erklären wollte. Ist doch der so gewiß selbstverständlich, als jener der Erfahrung widerspricht. So bin ich denn, so sehr ich im allgemeinen mit dem Streben, die Lehrsätze der elementaren Logik einleuchtender zu machen und ihre Operationen zu erleichtern, sympathisiere, doch weit entfernt, diese Versuche der Mathematisierung der Logik billigen zu können, und ich verwahre mich dagegen, daß mein Versuch der Reduktion der kategorischen Aussagen auf Existenzialsätze mit ihnen konfundiert werde. Wenn wir zuvor von solchen sprachen, welche dem Objekt der Logik eine übertriebene Allgemeinheit geben wollen, so müssen wir von denen, welche meinen, daß alle Urteile, mit welchen die Logik sich befaßt, nur von Gleichungen und anderen Größenverhältnissen handelten, sagen, daß sie in den entgegengesetzten Fehler verfallen. Sie verengen die Aufgabe der Logik zu sehr und möchten aus ihr einen Teil der Mathematik machen, während mir umgekehrt die ganze Mathematik ein Teil der Logik zu sein scheint, der uns lehrt, wie man gewisse Fragen der Erkenntnis (nämlich die der Größenmessung) am besten methodisch behandelt.

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Es gibt unter den neueren Reformversuchen der Logik auch solche, welche das Prädikat nicht quantifizieren, und die doch noch immer an dem Fehler einer verengenden Mathematisierung der logischen Operationen leiden, indem sie wenigstens das Subjekt quantifizieren, was, wie ich gezeigt zu haben glaube, keineswegs dazu erforderlich ist, um von allgemeinen und partikulären Urteilen sprechen zu können. Hierin, keineswegs aber in der Verwendung von Buchstaben als allgemeinen Zeichen für Begriffe und Begriffskomplexe, sowie für Urteile und Urteilskomplexe, nach Art der Algebra, so wie auch von anderen Zeichen analog dem + und –, =, >, < u. dgl. zur Andeutung logischer Operationen und Verhältnisse, finde ich etwas, was ich nicht zu billigen vermag. Doch halte ich es auch für bedenklich, wenn sie sich solcher Zeichen und Ausdrücke, die schon beim Mathematiker in Gebrauch sind, in verändertem Sinne bedienen; wie z. B. einen grünen Baum als eine Multiplikation von „grün“ und „Baum“ bezeichnen und eine Linie auf der dritten Potenz, nicht etwa für einen Kubus, sondern für etwas der Linie selbst Gleiches erklären, weil „eine linieseiende linieseiende Linie“ gleich „eine Linie“ ist und doch, nach der eben angeführten Weise zu sprechen, eine wiederholte Multiplikation der Linie mit sich selbst wäre. Wo der Schutz vor Äquivokationen eines der wesentlichsten Interessen ist, sollte man sich wohl hüten, neue Äquivokationen, wie die eben erwähnten zu schaffen. Und nichts als der ganz zufällige Umstand, daß die Algebra zum Ausdruck der Multiplikation zwei Buchstaben, wie der schriftliche Ausdruck der Rede Eigenschaftswort und zugehöriges Hauptwort, einfach einander folgen läßt, scheint dazu den Anlaß gegeben zu haben. Ganz besonders nachteilig könnten diese werden, wenn man, wozu die Allgemeinheit der Logik drängt, auch mathematische Probleme nach der neuen Methode behandeln wollte. Und man ist tatsächlich daran gegangen. Allein, wenn man bedenkt, daß der ganze Versuch dadurch veranlaßt wurde, daß die mathematischen Operationen eine Durchsichtigkeit besitzen, welche man auch den Argumentationen auf anderen Gebieten zu geben wünschte, so muß es doch sehr befremdlich erscheinen, wenn man die Methode der mathematischen Operationen selbst zu reformieren sucht. Ich verspreche mir hier keinen wahren Gewinn; vielmehr das Gegenteil. Und wenn ich die Freunde dieser neuen Logik in ihrem Enthusiasmus prophezeien höre, daß sie die Wissenschaft auch hier sogar zu einem ungleich rascheren Fortschritt bringen werde, so erinnert mich dies an die hohen Erwartungen, welche Raimundus Lullus an seine „Ars magna“ knüpfte. Sie ist völlig unfruchtbar geblieben. Und so finden wir denn auch jetzt nicht, daß eine der bedeu-

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tenden Entdeckungen der jüngsten Zeit der Anwendung des neuen, vielfach so absonderlichen Algorithmus zu danken wäre. Daß diese mathematisierende Logik nicht genugsam für die Sicherung der logischen Operationen, die doch mehr noch als ihre Kürzung und Vereinfachung von Interesse ist, Sorge getragen hat, dafür ist wohl noch folgendes ein Zeichen. Sie kritisiert zwar die alte und macht ihr, ähnlich wie ich, ihre Unvollständigkeit zum Vorwurf; aber nirgend, so weit ich entnehmen konnte, macht sie auf die vielen Fehler und Widersprüche in den Regeln der altüberlieferten Logik aufmerksam, die ich bei meinem Reformversuch hervorhob. So z. B. bemerkt sie nicht, daß es falsch ist, wenn man sagt, in der Behauptung, alle S seien P, sei die Behauptung, irgend ein S sei P, eingeschlossen. Wir sahen, daß die Gesamtzahl auch eins und Null sein kann; im letzteren Falle aber wird es, obwohl es noch immer wahr ist, daß alle S P sind, doch nicht mehr wahr sein, daß eine Einheit von S P ist, da vielmehr kein S P ist. Und somit ist auch die Regel falsch, daß die Wahrheit von „alle S sind P“ mit der von „kein S ist P“ inkompatibel ist, wie auch die, daß von den beiden Sätzen „irgend ein S ist P“ und „irgend ein S ist nicht P“ der eine oder andere in jedem Falle wahr sein müsse. Es gibt hier kein Mittel, die alte Logik zu verteidigen. Wollte man es tun, indem man sagte, sie setze bei allen kategorischen Aussagen die Existenz des Subjekts voraus und betrachte sie als bloß hypothetische Urteile, so würde dies, wenn man es gelten ließe, noch immer den Vorwurf des Selbstwiderspruches bestehen lassen; denn von zwei Behauptungen, die beide nur unter einer gewissen Voraussetzung gelten sollen, kann man nicht mehr sagen, daß sie nicht zusammen wahr sein könnten. Vielmehr kann man aus der Wahrheit beider dilemmatisch die Falschheit der Voraussetzung erschließen. So folgt z. B. aus der Wahrheit der beiden Sätze „alle S sind P“ und „kein S ist P“, wenn beide hypothetisch den Fall der Existenz von S ins Auge fassen, daß eben diese Hypothese falsch ist, d. h. daß es kein S gibt. Sagt man dagegen, die kategorischen Urteile seien nicht stillschweigend hypothetisch auf den Fall der Existenz des Subjekts beschränkt zu denken, sondern sie schlössen die Behauptung der Existenz des Subjekts geradezu ein, so würde auch dies nicht retten. Denn wenn die Formel a und die Formel o beide die Behauptung, S sei, einschließen, so können und müssen sie zusammen falsch sein, sobald S nicht ist. Sie sind also nicht mehr kontradiktorisch. Nur bei meinem logischen Reformversuch traten diese und andere Verirrungen in den elementarsten logischen Regeln, zu denen auch vier der üblichen kategorischen Schlußmodi gehören, sofort klar hervor. Und er

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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dankt dies dem energischen Geltendmachen des Satzes, daß jeder ein Universale Leugnende es dem ganzen Umfang des Begriffes nach leugnet, und jeder, der es anerkennt, es partikulär anerkennt; während umgekehrt jeder, der etwas anerkennt, was mehrere Merkmale unterscheiden läßt, es nach allen seinen Merkmalen, also seinem ganzen Inhalte nach, anerkennt, keiner aber, der es leugnet, auch jeden Teil, jedes einzelne darin begriffene Merkmal leugnet. Man kann darum sagen, daß das negative Urteil, wenn der Begriff nicht ganz einfach ist, ihn nie dem ganzen Inhalt, wie das affirmative, wenn der Begriff nicht ganz individuell ist, ihn nie dem ganzen Umfang nach beurteilt. Die neue mathematisierende Logik hat sich eine neue Sprache erfunden. Es scheint mir aber, daß es ein geringeres Verdienst ist, uns eine neue Sprache sprechen, als in der allen Völkern gemeinsamen Sprechweise uns richtig bewegen zu lehren. Die Menschen werden nicht aufhören, die Zeichen dieser Sprechweise mit dem Gang der Gedanken zu verknüpfen. Und so gilt es denn vor allem, die Gefahren, die hieraus entspringen können, auszuschließen; was geschieht, indem man die Funktion eines jeden Redeteiles verständlich macht, wodurch dann die so häufig bestehenden und in allen Sprachen analog wiederkehrenden und darum auch gewiß irgendwelchem Zwecke dienlichen Äquivokationen nicht beseitigt, aber unschädlich gemacht werden. Daß der Satz „A ist A“, wo er zum Ausdruck eines a priori einleuchtenden Urteils angewandt wird, nicht affirmativ sei, hatten weder Descartes, Spinoza und Leibniz, noch Kant bemerkt. Jenen wäre es sonst erspart worden, in den Paralogismus des ontologischen Arguments fürs Dasein Gottes zu fallen; dieser aber hätte sich nicht zu der falschen Definition des analytischen Urteils verleiten lassen, wonach ein affirmatives Urteil analytisch sein soll, wenn sein Prädikat im Subjektbegriff enthalten ist; ein Irrtum, mit welchem viele weitere in der Kritik der reinen Vernunft zusammenhängen, unter anderem auch der verhängnisvolle Wahn, daß bloße analytische Urteile die Erkenntnis nicht erweitern. Heute noch lebt er in vielen fort, obwohl er von Aristoteles schon zum voraus widerlegt worden ist, und Kant selbst unvermerkt einmal in auffälliger Weise dagegen Zeugnis gibt. Soll doch die Logik nach ihm rein analytisch und doch wahrhaft eine Wissenschaft, also eine Bereicherung unserer Erkenntnis sein. Albert Lange, der große Bewunderer von Kant, bemerkte den Widerspruch, und um ihm abzuhelfen, verfiel er darauf auch die Logik auf synthetischen Erkenntnissen a priori beruhen zu lassen. Da diese aber nur phänomenale Gültigkeit haben sollen, so erklärte Lange die Anschauung des Raumes als Unterlage

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

aller logischen Operationen für wesentlich. Die geometrischen Zeichnungen von ineinander oder außereinander liegenden oder sich schneidenden Kreisen, welche manche logische Lehrbücher der Darstellung der kategorischen Syllogismen beifügen, seien nicht etwas Nebensächliches, sondern es liege in ihnen geradezu der Nerv der Beweisführung. Doch sollte einer wirklich im Gegensatz zu dem, was einst Cicero sagte, glauben können, daß es im eigentlichen Sinne runde oder viereckige Begriffe von Tugend, Gerechtigkeit und anderen Universalien gebe? – Gewiß nicht. Sie räumlich ausgedehnt nennen, wäre nur eine Metapher. Aber diese Übertragung, so gewiß sie aus dem Gebiet der Raumanschauung hinaus führte, würde eine nur durch sie bedingte Anwendbarkeit von synthetischen Erkenntnissen a priori nicht weiter bestehen lassen. XI.   Vom Psychologismus. Man hat meiner Erkenntnislehre den Vorwurf des Psychologismus gemacht; ein neu aufgekommenes Wort, bei dem sich mancher fromme Philosoph, wie mancher orthodoxe Katholik bei dem Namen Modernismus, als stecke der Gottseibeiuns selbst darin, bekreuzigt. Um mich gegenüber einer so schweren Anklage zu verantworten, muß ich aber vor allem fragen, was denn eigentlich damit gemeint sei; denn man ist wieder und wieder mit dem Schrecknamen bei der Hand, auch wo es sich um sehr verschiedene Dinge handelt. Als ich bei einer freundschaftlichen Begegnung Husserl und dann gelegentlich auch andere, die den von ihm neu eingeführten Terminus im Munde führen, um eine Erklärung ersuchte, sagte man mir, man meine damit eine Lehre, welche die Allgemeingültigkeit der Erkenntnis bestreitet; eine Lehre, nach der andere Wesen als der Mensch Einsichten haben könnten, die den unsrigen geradezu entgegengesetzt sind. In diesem Sinne verstanden bin ich nun nicht bloß kein Psychologist, sondern habe einen solchen absurden Subjektivismus sogar allezeit aufs entschiedenste verworfen und bekämpft. Doch darauf höre ich erwidern, ich sei dennoch Psychologist und hebe die Einheit der Wahrheit für alle auf; denn diese bestehe nur darum, weil dem wahren Urteil etwas außerhalb des Geistes entspreche, welches für alle Urteilenden ein und dasselbe sei. Bei den negativen Urteilen und bei denen, die etwas als möglich, unmöglich, gewesen oder zukünftig bezeichnen, könne nun aber dieses Etwas kein Ding sein und somit hebe ich, indem ich neben

Anhang. Nachträgliche Bemerkungen.

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Dingen nicht auch gewisse Undinge, wie Nichtsein, Möglichkeit, Unmöglichkeit, Gewesensein, Zukünftigsein u. dgl. als etwas, was sei, gelten lasse, hier die Einheit der Wahrheit für alle auf. Ich antworte, daß, selbst wenn in der Konsequenz jener Leugnung die Aufhebung der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis läge, es noch immer nicht anginge, mich als Psychologisten zu verschreien, da ich selbst diese Konsequenz nicht ziehe. Man dürfte nur etwa sagen, ich stelle Sätze auf, die in ihren Folgerungen zum Psychologismus führen müßten. Doch nicht einmal dies ist richtig; denn warum sollte es nicht auch ohne Voraussetzung solcher Undinge einleuchten können, daß zwei Urteile, von welchen das eine in einer gewissen Weise anerkennt, was das andere in derselben Weise verwirft, ebenso wenig beide richtig sind, wenn zwei verschiedene Personen die beiden Urteile fällen, als wenn eine und dieselbe Person sie fällen würde? Es wird ja doch wohl niemand behaupten, daß, wenn selbst jene Undinge beständen, die Wahrnehmung dieser Undinge und ihr Vergleich mit den eigenen Urteilen vorausgehen müßten, um uns in der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der einen mit den anderen die Wahrheit oder Falschheit unserer Urteile erst erkennen zu lassen. Immer werden vielmehr unmittelbar evidente Wahrnehmungen von Dingen und unmittelbar evidente Leugnungen von Verbindungen, in die sie in unseren Vorstellungen eingegangen, es sein, welche uns bei der Kritik, wie eigener, so fremder Gedanken den letzten Anhalt bieten. Dies zur Abwehr eines verunglimpfenden Geredes, von dem ich kaum glauben kann, daß man es wirklich jemals aus dem Munde irgendeines meiner persönlichen Schüler vernommen habe. Müßte ich es doch sonst, um Schlimmeres auszuschließen, als Zeichen äußerster Gedächtnisschwäche deuten. Doch nein! Es bietet sich auch noch eine dritte Hypothese. Man kennt die Art der Menschen, und daß sich ihnen unvermerkt die Begriffe verschieben, wo sie dann infolge der entstandenen Äquivokationen selbst nicht recht wissen, was sie sagen. So mag denn einem, der mich Psychologist nennt, sol

Wenn wir heute noch manchen die Eigentümlichkeit der Evidenz verkennend, die logische Gültigkeit mit der genetischen Notwendigkeit eines Gedankens, sei es für den Einzelnen, sei es für die Gesamtheit des menschlichen Geschlechtes, verwechseln sehen; so habe ich wenigstens, sowohl in meinen Vorlesungen als auch in meinen Schriften, zwischen Gesetzmäßigkeit im Sinne der natürlichen Notwendigkeit und im Sinne der Korrektheit einer Betätigung immer aufs Bestimmteste unterschieden. Ja, kein Früherer und (auch Husserl nicht ausgenommen) kein Späterer hat sich hierüber deutlicher und mit mehr Nachdruck aussprechen können, als ich es getan habe.

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Von der Klassifikation der psychischen Phänomene

ches Menschliche begegnet sein. Und in der Tat, nicht bloß der Subjektivist, auch der soll des Psychologismus geziehen werden, der da glaubt, daß die Psychologie in der Erkenntnislehre und Logik irgend ein Wort mitzusprechen habe. So sehr ich aber den Subjektivismus verdamme, so wenig werde ich mich dadurch zur Verkennung dieser Wahrheit verleiten lassen. Vielmehr steht sie mir so entschieden fest, als es mir paradox, ja absurd erscheinen müßte, wenn einer leugnete, daß die Erkenntnis ein Urteil und das Urteil dem psychischen Gebiete zugehörig ist. Auch gilt darum, daß, wenn andere Wesen als wir an der Erkenntnis teilhaben, sie an solchem teilhaben müssen, was auch ins menschlich-psychische Gebiet fällt und nur hier direkt unserer Forschung zugänglich ist.

Sachregister A priori 24, 215, 317, 423

– Begriffe a p. 160 – Kategorien a p. 238, 341 – synthetisches a p. 423f. Abstrakt, Abstraktion 116, 121, 160, 200, 217, 302, 319, 412 Allgemeine Begriffe 97, 200, 217, 302f., 319, 393, 413f. Analytisch 233, 336, 423 Anerkennung (Anerkennen, Annehmen) und Verwerfen (Leugnen) als Urteilsmodi 161f., 219, 223, 227, 230ff., 235, 237, 241, 243f., 248, 256, 259, 263, 268ff., 272, 321, 325, 329, 332–335, 337, 339, 343–346, 351, 358, 361, 365, 370ff., 374, 395, 397–408, 412ff., 416, 418, 423, 425 Annehmen (Annahme) im Sinne Meinongs 402f. Apodiktisch 30, 372, 418 Assoziation von Ideen 28, 32, 56, 72, 83, 96, 128, 131f., 136, 154, 158, 182, 196, 225f., 228, 244f., 327f., 330, 347 – Gesetze der A. (Hume) 28 Astronomie 49, 64 Ausdehnung (die physischen Phänomene haben A., die Psychischen nicht) 103ff., 115, 117, 184f. Ästhetik 37, 281, 383 Äußere Wahrnehmung 20f., 44, 47, 100, 108ff., 114, 117f., 158, 184, 192, 232, 334 Äußerung (der psychischen Phänomene) 53f., 58

Begehren passim

Bewusstsein passim

– B. als gleichbedeutend mit psychischem Phänomen oder psychischem Akt 119 – B. bedeutet B. von einem Objekt (Beziehung auf einen Gegenstand, Inhalt, siehe auch Inexistenz) 119, 157 – Einheit des B. siehe Einheit – inneres B. siehe innere Wahrnehmung, inneres Bewusstsein – primäres und sekundäres B. 176, 395f. – Weisen des B. (der intentio­ nalen Inexistenz, der psychischen Beziehung, siehe auch Modi) 157, 210, 218, 223, 230, 270, 312, 320, 325, 332, 372 – drei Grundklassen der Weisen des B. (Vorstellung, Urteil und Gemütsbeziehung) 284, 386 – es gibt kein unbewusstes B. 156, 173, 247, 349 Böse (das) 243, 346

Charakter 29, 30, 52, 120

Chemie 3, 23, 29, 39, 61, 65

Deduktion (deduktive Methode)

88ff., 96, 173, 237 – umgekehrte deduktive Methode (historische Methode) 89 Ding – D. als das einzige, worauf man sich psychisch beziehen kann 409, 412 – unräumliche D. 398 – alle D. fallen unter denselben Begriff des Realen 412 – D. versus (fiktive) Undinge 425

428

Sachregister

Disposition 57, 75ff., 120, 127, 138, 166, 174, 218, 225f., 228, 320, 328, 330 Divisiv 176f., 180f., 184 Doppelurteil 413f., 416

Eigenschaft 21f., 26, 28, 67f., 181,

184 Einheit – attributive E. 400 – anschauliche E. 400 – E. des Bewusstseins 69, 114f., 119, 175, 182–186, 188–193, 196 Empfindung passim – E. als Quelle für andere psychische Phänomene 61 – E. und Reiz 28, 84–87, 138 Ethik 37, 41, 244, 273, 281, 346, 375, 383 Ethologie 30 Evidenz 36, 51, 102, 109, 111, 115, 141f., 144f., 158ff., 162f., 182, 184, 187, 189, 194, 250, 260, 352, 362, 372, 395f., 405, 425 Existenz – E. der Außenwelt 129, 195 – phänomenale E. 109, 117, 405 – mentale E. 106 – objektive versus wirkliche E. 106 – intentionale E. 218, 320 – intentionale versus wirkliche E. 109ff., 115 – E. ist kein Prädikat (und kein Attribut) 160f., 230–233, 235, 333ff., 337, 389 – E. des Subjekts ist in einer kategorischen Aussage nicht eingeschlossen 237f., 339f., 422 – E. und Wesen 250, 352 – E. der Glieder einer Relation 392

– E. versus Sein (im ontologisch neutralen Sinne) 393f. – E. (und Nichtexistenz) sind keine Objekte 412 Existenzialsatz (Existentialsatz) 161, 233–242, 250, 335–344, 352, 413f., 416ff., 420 Existenzialurteil 414, 416

Fiktionen (fiktive Objekte) 26, 125,

239f., 341f., 409f., 413, 415, 417f. Freiheit des Willens 274f., 376f. Fürfalschhalten 259, 361 Fürwahrhalten 200, 220, 224, 226f., 234, 245, 254f., 259, 303, 322, 326, 328f., 336, 347, 356f.

Gedächtnis 49–53, 58, 75, 84f.,

129–132, 145, 147, 186f., 191, 200, 214, 223, 229, 249, 302, 316, 325, 331, 351, 397, 399 – G. als die Erkenntnisquelle der Psychologie 58 Gefühl passim Gegenstand (auch Objekt) – G. eines psychischen Aktes passim – immanenter G. 141, 164, 175, 201, 218, 242, 303, 320, 344 – doppelter (primärer und sekundärer) G. 87, 146f., 150, 158, 164, 174–179, 182, 247, 286, 288, 349, 387, 389, 394–397 – Richtung auf ein O. 106 Gegenständlich immanent 106 Gegenständlichkeit (immanente) 106 Gehirn 72ff., 76ff., 80, 132, 134, 198, 300 Gemütsbewegung (Gemütsbeziehung) siehe auch Liebe und Hass 3, 54, 72, 97, 165, 167, 195, 201, 204, 219f., 225, 245, 257,

Sachregister

260, 265, 304, 306f., 321f., 327, 347, 359, 362, 367, 395, 397, 401f., 405–408 Genie 43, 74, 123 Geographie 64 Geschichte 89 Gesetze – G. der Psychologie passim – das psychophysische (Weber’sche) Grundgesetz 22ff., 84f., 138 – G. der Ideenassoziation siehe Assoziation Gott 30, 126, 228, 233f., 249f., 326, 331, 335f., 352, 396, 407, 414, 423 Gute (das) 243, 256, 261, 264, 280–283, 346, 358, 363, 366, 382–385, 407 Güte 259f., 361f., 412

Hass siehe Liebe und Hass Ideal der Ideale (die Einheit alles

Wahren, Guten und Schönen) 283, 384f. Identifizierung (identifizierende Verbindung, Vereinigung) 400, 413f., 418 – attributive I. 400 – anschauliche V. 400 – I. in recto 401 – I. in obliquo 401 Identität – begriffliche I. 180 – reale I. 180ff. Immanent siehe Gegenstand, gegenständlich, Gegenständlichkeit in recto, in obliquo 392, 399–404, 412 Induktion 59, 61, 88ff., 96, 128f., 173, 244, 346

429

Inexistenz (intentionale oder mentale I. eines Gegenstandes) 106ff., 115, 117, 119, 200, 210, 214, 303, 312, 316 – I. als Definitionsmerkmal der psychischen Phänomene 117 – Weisen der I. siehe Bewusstsein Inhalt eines psychischen Aktes pas­ sim ab 106 – I. als synonym mit dem Gegenstand eines psychischen Aktes 106 – Urteile und Vorstellungen haben den gleichen I. 241, 245, 343, 348 – Gemütsbeziehungen haben den gleichen I. wie Urteile 259, 361 – I. im Anhang (1911) 323 – I. als etwas mehr als ein Objekt (Kritik dieser Auffassung) 409ff., 418 – Beziehung auf einen I. 106 Innere Beobachtung 44–49, 58, 60, 146f., 397 – i. B. ist nur im Gedächtnis möglich 50 Innere Wahrnehmung (Erfahrung) passim – i. W. als Basis der Psychologie 44, 49, 58 – i. W. ist keine innere Beobachtung 44, 58, 60, 397 – i. W. ist unmittelbar evident 51, 102, 109, 141, 144, 159f., 162, 189 – i. W. ist untrüglich 139, 144, 156, 183 – i. W. bringt Gewissheit 158 – i. W. ist die einzige W. im eigentlichen Sinne 109 – i. W. enthält ein Existenzurteil 161, 163

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Sachregister

– i. W. geht nicht über eine reale Einheit hinaus 191 – i. W. ist oft nicht explizit, konfus 396 Inneres Bewusstsein passim, siehe auch innere Wahrnehmung – i. B. enthält eine (innere) Vorstellung, ein (inneres) Urteil und ein (inneres) Gefühl 162f., 246, 276, 286, 348, 378, 387 – i. B. gehört zu seinem eigenen Objekt 146f., 157f., 276, 378 Inneres Gefühl 163f., 167, 172ff., 282, 286, 384, 387 Intensität (der psychischen Phänomene und ihrer Inhalte) 23, 28, 83–87, 110, 120, 135f., 138f., 152f., 155f., 161f., 166f., 169, 171–174, 226, 241ff., 245, 247, 271f., 328f., 343ff., 347, 350, 373f., 396, 404

Kategorische Sätze, Urteile 233f.,

336, 420, 422 – k. S. übersetzbar in Existentialsätze 236–240, 242, 338–342, 344, 413, 416f., 419 Kollektiv 175f., 178–181, 183, 189, 415

Leben, der Begriff des L. 20f.

Liebe und Hass, siehe auch Gemütsbeziehung 106f., 182, 219f., 242–245, 260, 266f., 269–273, 275–279, 282f., 285–289, 321f., 344–347, 362, 368f., 371–375, 377–381, 384–390, 398, 402, 405–409 Logik 20, 30, 37, 43, 235f., 244, 249, 251ff., 273, 337f., 346, 352–355, 375, 413, 417f., 426

– L. von Port Royal siehe Port Royal – Mathematisierung der L. 419–423 Lust und Unlust, Gefühle der passim

Mathematik 3, 39, 43, 62, 64f.,

82f., 87f., 413, 420 Metaphysik 19f., 22, 30, 32, 34f., 81, 90, 184, 249f., 253, 352f., 355, 413 Modi siehe auch Bewusstsein – drei Grundklassen der psychischen M. (Vorstellung, Urteil und Gemütsbeziehung) 395 – M. des Vorstellens 294, 397ff. – Temporalmodi 399, 401f. – M. des Vorstellens modifizieren Urteil und Gemütsbeziehung 401f. – siehe auch in recto, in obliquo

Nationalökonomie 40f.

Naturwissenschaft – N. als Wissenschaft von den Körpern (Ursachen der psychischen Phänomene) 26 – N. als Wissenschaft von den physischen Phänomenen siehe physische Phänomene – Definition der N. 116 Neuplatonismus 106 Nerven 20, 24, 48, 66ff., 72, 100f., 113, 134f., 170f., 188ff., 215, 317

Objekt siehe Gegenstand

Objektiv (im Sinne Meinongs) 410 Objektive Existenz siehe Existenz obliquo siehe in obliquo

Sachregister

Phantasie 21, 36, 45, 49, 76, 86,

95ff., 103, 115, 117f., 141, 200, 219, 227, 302, 321, 329 Phänomen (Erscheinung) – Ph. als bloße Ph. im Gegensatz zum wirklich Seienden 25 – Ph. als kein Gegensatz zum wirklich Seienden 26 – siehe auch physische Ph., psychische Ph. Phänomenal – ph. Wahrheit 191f. – ph. Farben, Dichtigkeit 396 – ph. Gültigkeit 423 – ph. Existenz siehe Existenz – ph. Wissenschaft 30 – ph. Psychologie 30 Phrenologie 48, 63 Physik 3, 23f., 39, 59, 62, 64f. Physiologie 3, 22ff., 29, 37, 39, 48, 57, 61–77, 80f., 90, 100, 112, 134, 188 Physiologische Psychologie 22f., 77, 82 Physische Phänomene 45, 86, 95, 105 – Beispiele von ph. Ph. 97 – ph. Ph. sind ausgedehnt und räumlich lokalisiert 103, 115 – ph. Ph. involvieren keine intentionale Beziehung auf ein Objekt (keine intentionale Inexis­tenz) 107, 115 – ph. Ph. sind durch die äußere Wahrnehmung zugänglich 108, 232, 334 – ph. Ph. als Gegenstand der Naturwissenschaft 24f., 27, 35 – nur einige ph. Ph. bilden den eigentlichen Gegenstand der Naturwissenschaft 115f.

431

– ph. Ph. haben nur eine relative Wahrheit 35 – ph. Ph. haben nur eine intentio­ nale Existenz 111 Port Royal, Logik von 236, 338 Primäres Bewusstsein siehe Bewusstsein Primäres Objekt siehe Gegenstand Privation 180 Psychische Beziehung (auf ein Objekt) 391–412 – siehe auch psychische Phänomene – ps. B. als etwas Relatives 391 – ps. B. als etwas Relativliches 392 – ps. B. impliziert keine Existenz des Objektes 391f. – ps. B. kann nur etwas Reales als Objekt haben 293, 412 – ps. B. kann nur ein Ding als Objekt haben 412 Psychische Phänomene (Akte, Erscheinungen) passim – siehe auch psychische Beziehung – ps. Ph. sind dasselbe wie psychische Zustände, Vorgänge, Ereignisse 26 – ps. Ph. als Eigenschaften einer Substanz (Seele) 26 – Beispiele von ps. Ph. 96f. – ps. Ph. involvieren immer eine Vorstellung 103, 115 – ps. Ph. erscheinen als räumlich unausgedehnt 103, 105, 115 – ps. Ph. sind durch die intentio­ nale Inexistenz charakterisiert 106ff., 115, 117, 208, 310 – ps. Ph. sind nur durch innere Wahrnehmung wahrnehmbar 108f., 115, 232, 334

432

Sachregister

– nur ps. Ph. können im eigentlichen (strengen) Sinne wahrgenommen werden 109, 115 – nur ps. Ph. können mit Evidenz wahrgenommen werden 115 – ps. Ph. sind die einzigen Phänomene, denen außer inten­ tionalen auch eine wirkliche Existenz zukommt 115 – die wahrgenommenen ps. Ph. erscheinen immer als eine Einheit 114f. – Definition von ps. Ph. 107 – indirekte Erkenntnis fremder ps. Ph. 53, 58 – ps. Ph. als Gegenstand der Psychologie 24, 27, 34ff., 115, 117 – nur einige ps. Ph. bilden den eigentlichen Gegenstand der Psychologie 117 – ps. Ph. bedeutet dasselbe wie psychischer Akt oder Bewusstsein (von einem Objekt) 119 – alle ps. Ph. sind bewusst 156, 173, 247, 349 – unbewusste ps. Ph. siehe unbewusste psychische Phänomene Psychologie passim – Ps. als die Wissenschaft von den psychischen Phänomenen siehe psychische Phänomene – Ps. ohne Seele 27 – Gegenstand der Ps. siehe psychische Phänomene Psychologismus 424ff. Psychophysik 22, 24 Psychophysisches (Weber’sches) Grundgesetz siehe Gesetze

recto siehe in recto

Reiz siehe Empfindung

Reale, das 293, 412f., 418 – das R. und das Ding siehe Ding Relation 391f., 394 Relatives 391f., 399 Relativliches 392

Schlechte, das 406f.

Schlechtigkeit 243f., 259f., 272f., 345f., 361f., 374f., 412 Schluss, logischer 251ff., 353ff., 417f., 422 Scholastik, Scholastiker 106, 180, 200, 248, 254, 280, 303, 350, 356, 382 Schöne, das 280–284, 382–386 Seele – Psychologie als Wissenschaft von der S. 20, 34 – S. als substantieller Träger der psychischen Phänomene 21, 26 – Psychologie ohne S. siehe Psychologie – Unsterblichkeit der S. siehe Unsterblichkeit Sein – S. als verschieden von Existenz siehe Existenz – S. und Nichtsein eines Objekts als Inhalt 410ff., siehe auch Inhalt Sekundäres Bewusstsein siehe Bewusstsein Sekundäres Objekt siehe Gegenstand Sinne passim Skeptizismus 25, 102, 159 Substanz 26, 32, 34 – Körper als S. 26 – S. ist kein Gegenstand der Erfahrung 26 – Seele als S. der psychischen Erscheinungen siehe Seele, psychische Phänomene

Sachregister

– Seele als S. und das Problem der Unsterblichkeit 33, siehe auch Unsterblichkeit Syllogismus, Syllogistik 251f., 353f., 417, 424 Synthetisches Urteil 233f., 336 Synthetisches a priori siehe a priori

Theodicee 407

Tugend 199, 243f., 272f., 282, 301, 345f., 374f., 384, 424

Unabhängigkeit (der psychischen

Phänomene voneinander) 201, 216, 287ff., 303, 318, 388ff. – einseitige U. 177 – gegenseitige U. 177 – relative U. bestimmt die Ordnung der psychischen Phänomene 287, 388 Unbewusste psychische Phänomene, Seelentätigkeiten 119–156 passim Unsterblichkeit, Fortbestand der Seele nach dem Tod 3, 30–34, 41, 90 – die Frage nach der U. macht einen Sinn auch ohne Annahme einer substantialen Seele 33 Urteil passim – U. als Annehmen oder Verwerfen (Bejahung oder Verneinung) eines Objekts 219, 321, siehe auch Anerkennen – U. eingeschlossen im inneren Bewusstsein siehe innere Wahrnehmung, inneres Bewusstsein – U. ist keine Verbindung von Subjekt und Prädikat siehe Existenzialsatz – U. ist keine „stärkere“ Vorstellung 226f., 328f.

433

– U. ist eine psychische Beziehung sui generis 230, 332 – siehe auch Existenzialsatz, ­Existenzialurteil, kategorische Sätze, kategorische Urteile, synthetisches Urteil, analytisch, apodiktisch, Doppelurteil, Weisen des Bewusstseins, Modi

Verbum mentis 106 Vererbung, Prinzip der 74 Verifikation 82, 88ff. Vorstellung passim – Beispiele von V. 219 – Definition der V. 219 – V. als Grundlage für die anderen psychischen Phänomene 103, 115, 287, 388 – V. ist neutral gegenüber der Frage nach der Existenz und dem Wert ihres Objekts 243, 272, 345, 374 – Modi der V. siehe Modi – siehe auch innere Wahrnehmung, inneres Bewusstsein Wahre, das 264, 280–283, 382–385

Wahrheit 259f., 262, 282f., 361f., 364f., 383ff., 410f., 424f. – phänomenale W. siehe phänomenal – relative W. siehe physische Phänomene – reale W. 192 – W. nach Aristoteles 234 – Vorstellungen von W. und Falschheit 259, 361 Wahrnehmung siehe innere Wahrnehmung, äußere Wahrnehmung Wert (und Unwert) 205, 259f., 262f., 281, 308, 361f., 364ff., 383, 409

434

Sachregister

Wille, Wollen 86, 97, 120f., 133, 192f., 202, 205f., 210–214, 220, 224f., 246, 255–289 passim, 304,

308, 312–316, 322, 326, 349, 357–390 passim – Freiheit des W. siehe Freiheit

Personenregister Anaxagoras 126

Anselm von Canterbury 106, 159 Antonelli, Mauro XII, XXVIII, XL, LXXVII, LXXXf., LXXXV Aquila, Richard E. XLV, LXXXI Aristoteles VII, IX–XIII, XVIIff., XXVI–XXXI, XXXIX, XL, XLIII, LI–LIII, LVIIf., LXf., LXIII–LXV, LXXXf., LXXXV, 19ff., 30, 32, 34, 41f., 55, 70, 75, 91, 105f., 126f., 140, 143, 145, 149–151, 160, 166, 175f., 185, 199ff., 209f., 213f., 216ff., 220, 223, 234f., 237, 243, 250f., 254f., 261, 265, 268f., 280, 301–304, 311f., 315f., 318ff., 322, 325, 336f., 339, 345, 352f., 356f., 363, 367, 370f., 382, 391f., 394f., 401, 409f., 412, 417–420, 423 Augustinus 106, 268, 281, 370, 383

Bacon, Francis 59, 79, 127

Bain, Alexander XXXVI, XL, 4, 33, 61, 80, 95, 103f., 106, 110f., 118, 121, 141, 151, 164f., 167, 212ff., 217f., 224ff., 228, 252, 254, 269, 278, 314ff., 319f., 326ff., 330, 354, 356, 371, 380, 417 Baumgartner, Wilhelm XXXI, XXXIII, XLIII, LXXXIf. Beneke, Friedrich Eduard XXI, XXXIX, 120, 138, 152 Bergmann, Julius 149, 219, 321 Berkeley, George 70, 104, 217, 319 Bessel, Friedrich Wilhelm 113 Biunde, Franz Xaver 204, 306 Boole, George 252, 354 Brentano, Lujo XXXIII

Brown, Thomas 104, 201, 304 Büchner, Ludwig XXI

Cardaillac, Jean-Jacques

Severin, de 113 Carus, Carl Gustav 203, 306 Chisholm, Roderick M. XLVIIIf., L, LXI, LXVI, LXXXII, LXXXV Chrudzimski, Arkadiusz XLIX, LXXXIII, LXXXV Cicero, Marcus Tullius 268, 370, 424 Coleridge, Samuel Taylor 75, 130 Comte, Auguste X, XX, XXXIV, XLIf., LXXXI, LXXXIII, LXXXV, 46–50, 58, 63f., 69, 89, 143, 147, 289, 390

Darwin, Charles 54

Demokrit 198, 300 Descartes, René XVI, XVIII, XXXIXf., XLIII, XLVI, LXXXIIIf., 70, 72, 103, 160, 205, 217, 246, 268, 302, 307, 318f., 348, 370, 403, 423 Domrich, Otto 165, 167 Drobisch, Moritz Wilhelm XXI, LXXXIII, 98, 113, 165, 234, 237, 336, 339 Du Bois-Reymond, Emile 188 Duns Scotus, Johannes 250, 352

Ehrenfels, Christian von LXXI Eucken, Rudolf Christoph XXIX, LXXXIII Falkenberg, Richard XXXIII Fechner, Gustav Theodor XXII, XL, LXXXI, LXXXIII, 4, 22, 24, 34, 84–87, 120f., 138

436

Personenregister

Feuchtersleben, Ernst von 54 Fortlage, Carl 45, 46, 48 Freudenberger, Theodor XXXII, LXXXIff.

Gall, Franz Joseph 63

Gilson, Étienne LXX, LXXXIII Gilson, Lucie XVII, XLI, LXXXIII Goethe, Johann Wolfgang 73, 76, 123 Gomperz, Theodor 233, 335, 419 Gregor von Nyssa 268, 370 Grossmann, Reinhard XLIX, LXXXIII Grote, George 91

Hagen, Friedrich Wilhelm 22 Haller, Rudolf X, LXXXIII Hamilton, William XL, 33f., 70, 73f., 107f., 113, 120, 128, 143, 164, 167, 203f., 207–212, 246f., 257f., 264, 268, 276, 280, 287, 306f., 310–314, 348f., 359f., 365, 370, 378, 382, 388 Hartley, David 81, 104, 268, 370 Hartmann, Eduard von 121, 123–126, 129, 133 Helmholtz, Hermann von XXIf., XXIX, LIIIf., LXXXIII, 4, 120, 129, 136 Herbart, Johann Friedrich XXI, XXXIXf., LXXXVIII, 49, 83ff., 97f., 104, 119f., 140, 143, 165, 183f., 206f., 211f., 219, 234, 237f., 264, 281, 308, 310, 313, 321, 336, 339f., 366, 383 Heyse, Johann Christian August 235, 338 Hillebrand, Franz LXIX, 353, 355, 417 Hoffbauer, Johann Christoph 265, 366

Hoffmann, Franz XXXII, LXXXIII Höfler, Alois L Horwicz, Adolf XXXVIII, LXXXIII, 63–69, 71, 118, 168, 215, 317 Huemer, Wolfgang LXXXIII Hume, David XX, LXXXIV, 28, 32f., 201, 232, 268, 304, 334, 370 Husserl, Edmund LXXXVf., 424f.

Jacquette, Dale LXXXIV Kant, Immanuel XX, XXXIV, XL,

LXVIIIf., LXXXIV, 26, 48, 61, 82f., 98f., 103, 116, 120, 122, 184, 191f., 202–211, 213, 219ff., 223, 230, 233f., 240, 251, 254f., 257f., 261, 264f., 268f., 276f., 279, 281, 283f., 304–308, 310– 314, 321ff., 325, 332, 335f., 342, 353, 356f., 359f., 363, 366f., 370, 378f., 381, 383, 385f., 393, 417, 423 Kastil, Alfred XL, LXXI, LXXXIV Katkov, Georg XL, LXXXIV Kent, O. T. LXV, LXXXIV Kepler, Johannes 78 Ketteler, Wilhelm E. v. XXXI Kopernikus, Nikolaus 78 Kraus, Oskar IX, XLV, XLVIII, LI, LXXI, LXXXIf., LXXXVIf., 26, 412 Krug, Wilhelm Traugott 203, 215, 306, 317

Lange, Friedrich Albert XXI,

LXXXIV, 27, 31, 33, 45f., 48, 128, 148, 190–193, 196, 423 Laplace, Pierre Simon 404 Lazarus, Moritz XXI, LXXXIV Leibniz, Gottfried Wilhelm XVI, XLIII, LXXXVIII, 34, 73f., 120,

Personenregister

135, 183, 205, 246, 307, 348, 401, 412, 423 Lenhart, Ludwig XXXII, LXXXIV Lewes, Georg Henry 120, 130, 132, 153, 155 Locke, John XX, XL, XLVI, LXXXIV, 25, 55, 60, 70, 119, 217, 275, 319, 377, 402f. Lotze, Hermann XXII, XXVI, XXXIIIf., XXXIX, LXXIV, LXXVIIff., LXXXIV, 4, 34, 66, 98, 104, 121, 151, 167, 173, 193, 206ff., 211, 219, 253f., 260–264, 268ff., 277, 281, 308, 310, 313, 321, 356, 362–366, 370ff., 379, 383, 420 Ludwig, Carl Friedrich Wilhelm 188f., 193–196 Lullus, Raimundus 421

Maaß, Johann Gebhard Ehrenreich

264, 366 Marty, Anton XXXI, XLVIII, L, LXIIIf., LXVII, LXXI, LXXXV, 403, 406 Maudsley, Henry XXXVIII, LXXXV, 48, 51, 69–79, 120, 123, 129f., 132, 147 Mayer-Hillebrand, Franziska XI, LI, LXXXII Mazzolini, Renato G. XXIX, LXXXV McAlister, Linda L. XLV, XLIX, LXXXIII, LXXXVf. Meinong, Alexius LXXI, LXXXII, 402f. Melle, Ulrich XLV, LXXXV Mendelssohn, Moses 202, 209, 255, 261, 281, 304, 311, 357, 363, 383 Meyer, Jürgen Bona 98f., 202, 219, 281, 304, 321, 383

437

Mill, James 70, 104, 120, 128, 141, 164, 166, 224ff., 228f., 236, 244, 268f., 327f., 330f., 338, 347, 370f. Mill, John Stuart X, XXXVII, XL, LXXXV, 4, 27–30, 33f., 41, 48ff., 62, 70, 76, 80f., 89, 91, 104, 116, 119, 121, 124, 126, 128, 141ff., 147, 151, 164f., 167, 169, 208, 224f., 228, 230, 232f., 235f., 239f., 244, 254, 310, 327, 330, 332, 334f., 337f., 341f., 346, 356 Moleschott, Jacob XXI Moufang, Christoph XXXI, LXXXII Müller, Johannes XXIf., XXIX, XXXIX, LXXXV Münch, Dieter X, XXVI, LXXX, LXXXV

Nahlowsky, Josef Wilhelm 165 Newton, Isaac 68, 78, 123

Ockham, Wilhelm von 250, 352 Pascal, Blaise 43, 89

Petersen, Peter XXIX, LXXXV Philon von Alexandria 106 Platner, Ernst 104, 205, 246, 307, 348 Platon XXXIX, 30, 32, 37, 57, 70, 126, 197ff., 280, 283, 299ff., 382, 385 Plutarch 198, 300

Reid, Thomas 201, 304

Ribot, Théodule 167, 214, 316 Richardson, Robert XLV, LXXXV Runggaldier, Edmund XLIX, LXXXV

Sauer, Werner X, LXVII, LXXXV Schell, Hermann 151 Schuhmann, Karl LX, LXXXV Siebold, Carl Theodor 190

438

Personenregister

Smith, Adam 281, 383 Smith, Barry XLIX, LXXXVI Sokrates 5, 197, 199, 299, 301 Spencer, Herbert 34, 104, 112f., 121, 167, 214, 225f., 228, 244, 255, 289, 316, 327f., 330, 347, 357, 390 Spiegelberg, Herbert XLIX, LXXXVI Spinoza, Baruch 103, 205, 246, 268, 307, 348, 370, 423 Srzednicki, Jan XLIX, LXXXVI Steinthal, Hajim XXI, LXXXIV Struve, Hermann 113 Stumpf, Carl XII, XXXII, XXXIV, XLIII, LXXIX, LXXXII Suarez, Francisco 250, 352

Tetens, Johann Nicolaus 202, 209,

255, 304, 311, 357 Theophrast 419 Thomas von Aquin XLIX, LXIX, LXXXVI, 106, 120, 143ff., 147f., 150, 234f., 250, 261, 265, 268, 280f., 284, 336f., 352f., 363, 367, 370, 382f., 386 Titchener, E. B. XXII, LXXXVI Tongiorgi, Salvatore 102 Trendelenburg, Friedrich Adolf X, XXVIIIf., XXXIX, LXXXV, 184, 234, 336

Überweg, Friedrich XXXIX, 26, 99,

106, 116, 158f., 236, 338 Ulrici, Hermann XXII, LXXXVI, 121, 130–133, 135, 137, 151

Vogt, Karl [Carl] XXI, 192 Volkmann, August W. XXI, XXIX Volkmann, Wilhelm Fridolin 165 Waitz, Theodor XXI, LXXXVI, 165

Weber, Ernst Heinrich XXIf. Weiß, W. 203, 306 Werle, Josef M. XXX, LXXXVI Whewell, William 248, 350 Windelband, Wilhelm LXXI Winter, Eduard XXXIII, LXXXVI Wolff, Christian 67, 201, 205, 246, 280, 304, 307, 348, 382 Wundt, Wilhelm XXII, XXIX, XL, LXXXVI, 22ff., 82f., 87, 100, 120, 165, 168–171, 173, 189f., 219, 302, 321

Zeller, Eduard LXXXV, 199, 234f.,

301, 337 Zenon von Elea 135 Zimmermann, Robert 165 Zöllner, Johann Karl Friedrich 121, 129