Prozedurale Lebensschutzkonzepte des Medizinstrafrechts: Eine Analyse der prozeduralen Vorschriften am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes [1 ed.] 9783428580316, 9783428180318

Prozedurales Recht stellt sich als gesetzliche Regelungstechnik dar, welche sich verfahrensförmiger Abläufe bedient, um

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Prozedurale Lebensschutzkonzepte des Medizinstrafrechts: Eine Analyse der prozeduralen Vorschriften am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes [1 ed.]
 9783428580316, 9783428180318

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Schriften zum Strafrecht Band 365

Prozedurale Lebensschutzkonzepte des Medizinstrafrechts Eine Analyse der prozeduralen Vorschriften am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes

Von

Julia Ströhlein

Duncker & Humblot · Berlin

JULIA STRÖHLEIN

Prozedurale Lebensschutzkonzepte des Medizinstrafrechts

Schriften zum Strafrecht Band 365

Prozedurale Lebensschutzkonzepte des Medizinstrafrechts Eine Analyse der prozeduralen Vorschriften am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes

Von

Julia Ströhlein

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität zu München hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-18031-8 (Print) ISBN 978-3-428-58031-6 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

„Es muss auch eine Gerechtigkeit geben, die nicht von der ‚absoluten‘ Wahrheit abhängt, weil die nicht immer erreichbar ist, dennoch aber eine endgültige Entscheidung der Sache ansteht und zwingend getroffen werden muss. Der weise Salomo ist gerade deshalb so berühmt geworden, weil er es geschafft hat, als gerecht empfundene Urteile zu fällen, obwohl unklar blieb, was eigentlich stimmte und was nicht.“1

1

Volk, Die Wahrheit vor Gericht, S. 27.

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2019/2020 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten vereinzelt bis April 2020 berücksichtigt werden. Mein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Matthias Krüger, der diese Promotion ermöglicht und fortwährend begleitet hat. Ich danke ihm nicht nur für die umfassende wissenschaftliche Freiheit, welche er mir als Mitarbeiterin an seiner Professur für Strafrecht und Strafprozessrecht zuteilwerden ließ, sondern ebenso für die notwendige Förderung und Flexibilität, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Professor Dr. Ralf Kölbel danke ich sehr für die äußerst zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Meinen Freundinnen Julia Schwister, Lisa Stellner und Laura Weissenberger danke ich vielmals für das Korrekturlesen und für ihren stets motivierenden Zuspruch. Ebenso danke ich Frau Ingrid Schäfer für das mehrmalige Korrekturlesen der Arbeit und ihre unermüdliche Geduld. Besonderer Dank gebührt meinen Kolleginnen und Freundinnen Dr. Sophia Maurer und Dr. Karin Neßeler. Ohne Euch wäre dieser Lebensabschnitt in der Vet.-1 niemals so schön gewesen. Danke, dass Ihr mir zu jeglicher Zeit mit Rat und Tat zur Seite gestanden habt! Der allergrößte Dank aber gebührt meinem Freund Andreas Steiler und meiner Familie. Euch möchte ich von Herzen danken, dass Ihr mich immer ermutigt, bedingungslos unterstützt und mir den erforderlichen Rückhalt gegeben habt. Ohne meine Eltern, Dr. Peter Ströhlein und Petra Ströhlein, die meinen Lebensweg stets liebevoll begleitet und mit allen Mitteln gefördert haben, würde es diese Arbeit nicht geben. Ihnen ist diese Arbeit daher in tiefer Dankbarkeit gewidmet. München, im August 2020

Julia Ströhlein

Inhaltsübersicht 1. Kapitel Einleitung 25 A. Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Begründung der thematischen Eingrenzung auf die strafrechtlichen Schnittstellen von Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 D. Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2. Kapitel

Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte 32

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I.

Der Schwangerschaftsabbruch gem. §§ 218 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

II. Die Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 B. Die Sterbehilfe als Lebensschutzkonzept am Ende des menschlichen Lebens . . . . . . 70 I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

II. Das Selbstbestimmungsrecht als – Grenzen unterworfenes – Spiegelbild einer erlaubten Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 III. Das gesetzlich fixierte Instrument der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 IV. Der „Fall Putz“ – Ein bedeutender Umbruch im Recht der Sterbehilfe . . . . . . . 88

3. Kapitel

Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen 96

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I.

Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96

II. Rechtsphilosophischer Ursprung prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 III. Rechtssoziologischer Ansatz prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I.

Begriff und Wesen der Prozeduralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

10

Inhaltsübersicht II. Die einzelnen Charakterzüge prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 III. Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

4. Kapitel

Prozedural-affines Medizinstrafrecht 136

A. Die Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts als Fluch und Segen . . . . . . . . . . . . . 137 I.

Ethik und Moral – Recht und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

II. Die Moral im Strafrecht – ein gefürchteter Eindringling? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 B. Die Medizin als Kernelement des Medizinstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 I.

Fortwährende Dependenz vom medizintechnischen Fortschritt . . . . . . . . . . . . . 152

II. Fortwährende Dependenz von faktischen Gegebenheiten der Medizin . . . . . . . 153 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

5. Kapitel

Entwicklung einer eigenständigen Definition prozeduralen Rechts 156

6. Kapitel Verfassungsrechtliche Grenzen einer strafrechtlichen Prozeduralisierung 164



A. Das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 B. Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 C. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das ultima ratio-Prinzip im Strafrecht . . . . . 172 D. Das Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 E. Ergebnis zu den verfassungsrechtlichen Grenzen prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . 175

7. Kapitel

Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte 177

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I.

Analyse der §§ 218 ff. StGB hinsichtlich prozeduraler Elemente . . . . . . . . . . . . 177

II. Vorherrschendes Meinungsbild in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis . . . . . . . 202 IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Inhaltsübersicht

11

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I.

Analyse des § 3a ESchG hinsichtlich prozeduraler Elemente . . . . . . . . . . . . . . . 205

II. Einordnung der PID als Teil einer Prozeduralisierung in der Literatur . . . . . . . 223 III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis . . . . . . . 225 IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 I.

Analyse der §§ 1901a ff. BGB hinsichtlich prozeduraler Elemente . . . . . . . . . . 240

II. Vorherrschendes Meinungsbild in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis . . . . . . . 275 IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 D. Exkurs: Prozeduralisierungstendenzen der Sterbehilfe de lege ferenda . . . . . . . . . . . 277 I.

Die Zulassung aktiver Sterbehilfe in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

II. Prozedurale Komponenten im Bereich der sog. „Früheuthanasie“ . . . . . . . . . . . 280 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

8. Kapitel

Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge 284

A. Prozedurale Umsetzung der Präimplantationsdiagnostik de lege ferenda . . . . . . . . . . 284 B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 I.

Parallelen und Gemeinsamkeiten der medizinstrafrechtlichen Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

II. Unterschiede der medizinstrafrechtlichen Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . 290 III. Dogmatische Lösungsansätze für eine Prozeduralisierung am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 C. Festgestellte Auswirkungen einer Prozeduralisierung strafrechtlicher Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 I.

Wachsendes Erstarken der Menschenwürde unter prozeduraler Führung . . . . . . 299

II. Verfahren als Kompromiss zwischen Verrechtlichung und Rechtsunsicherheit . 302 III. Ständiges Schwanken zwischen Über- und Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . 302 D. Fazit zu den untersuchten prozeduralen Lebensschutzkonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . 304

12

Inhaltsübersicht 9. Kapitel



Fazit und Ausblick 306

A. Fazit zu Prozeduralisierungen am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 B. Ausblick de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel Einleitung 25 A. Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Ziel der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 C. Begründung der thematischen Eingrenzung auf die strafrechtlichen Schnittstellen von Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 D. Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2. Kapitel

Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte 32

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 I.

Der Schwangerschaftsabbruch gem. §§ 218 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 2. Die Entwicklung einschließlich des zweiten Schwangerschaftsabbruchs­ urteils des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs de lege lata . . . . . . . . . . . . . . 41 4. Das maßgebliche Beratungsschutzkonzept des § 219 StGB i. V. m. dem Schwangerschaftskonfliktgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5. Die umstrittene Rechtsnatur des § 218a Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

II. Die Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Der Gang der Kodifizierung der PID im Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 3. Die einzelnen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2, Abs. 3 ESchG . . . . . . . . . . . 53 4. Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 5. Das Votum der PID-Ethikkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 a) Beurteilungsspielraum der Ethikkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 aa) Literaturansichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 bb) Aktuelle Verwaltungsrechtsprechung zur Problematik . . . . . . . . . . . 63 b) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 B. Die Sterbehilfe als Lebensschutzkonzept am Ende des menschlichen Lebens . . . . . . 70 I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

14

Inhaltsverzeichnis II. Das Selbstbestimmungsrecht als – Grenzen unterworfenes – Spiegelbild einer erlaubten Sterbehilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 III. Das gesetzlich fixierte Instrument der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 1. Das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 a) Das (Nicht-)Vorliegen einer Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 b) Die Beteiligung des Betreuungsgerichts nach § 1904 BGB . . . . . . . . . . . 83 c) Adressat der Patientenverfügung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 d) Die Erforderlichkeit einer Vertreterbestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 e) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Abschließendes Fazit zu den §§ 1901a ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 IV. Der „Fall Putz“ – Ein bedeutender Umbruch im Recht der Sterbehilfe . . . . . . . 88 1. Zugrundeliegender Sachverhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Der „Fall Putz“ des Bundesgerichtshofs als Meilenstein in der Sterbehilfe­ problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3. Resonanz des Urteils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 4. Konsequenzen für das Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

3. Kapitel

Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen 96

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I.

Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Gründe für einen Grundrechtsschutz durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 2. Zusammenfassung und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

II. Rechtsphilosophischer Ursprung prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Auf der immerwährenden Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit . . . . . . . 103 a) Die Diskurstheorie nach Jürgen Habermas und ihre Kritiker . . . . . . . . . . 105 b) Bewertung und Stellungnahme zum Nutzen der Diskurstheorie . . . . . . . 108 2. Das spezifische Nichtwissen neben moralischen Unwägbarkeiten als Aus­ löser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 3. Vom materialen Naturrecht zum prozeduralen Naturrecht . . . . . . . . . . . . . . . 110 III. Rechtssoziologischer Ansatz prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 1. Das Präventionsstrafrecht in der „Risikogesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Der prozedurale Ausweg aus dieser Existenzkrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 I.

Begriff und Wesen der Prozeduralisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Die Problematik der individuellen Begriffsinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Die Rechtsnatur prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Inhaltsverzeichnis

15

3. Die dogmatische Einordnung prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 4. Prozeduralisierung in einem engeren und in einem weiteren Sinne . . . . . . . 120 II. Die einzelnen Charakterzüge prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 1. Kontrollierte Selbstbeschränkung des Strafrechts durch Verfahren . . . . . . . . 122 a) Das Schwinden materiellrechtlicher Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Akzeptanz und Gültigkeit des gewonnenen Verfahrensergebnisses . . . . . 125 2. Partizipation und Entscheidungsverantwortlichkeit Privater und Kommis­ sionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Verfahren der Wissensballung und Wissensevaluierung . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4. Sich fortentwickelnde Reflexivität und prozedurale Beobachtungsstrategien 133 III. Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

4. Kapitel

Prozedural-affines Medizinstrafrecht 136

A. Die Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts als Fluch und Segen . . . . . . . . . . . . . 137 I.

Ethik und Moral – Recht und Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Die medizinische Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Die Begriffe der Moral und der Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Ihre geschichtliche Vergangenheit und ihre zukünftige Wandelbarkeit . . 140 2. Die Zweidimensionalität der Ethik im Medizinstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Die Normgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Die Norminterpretation durch den Normadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 142

II. Die Moral im Strafrecht – ein gefürchteter Eindringling? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Das Trennungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 2. Ethische und moralische Ausstrahlungswirkungen ins Recht . . . . . . . . . . . . 147 3. Das Medizinstrafrecht im Speziellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 B. Die Medizin als Kernelement des Medizinstrafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 I.

Fortwährende Dependenz vom medizintechnischen Fortschritt . . . . . . . . . . . . . 152

II. Fortwährende Dependenz von faktischen Gegebenheiten der Medizin . . . . . . . 153 1. Erhebliche Bedeutung von Wissen in der Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Ausgleich von Wissensgefällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

16

Inhaltsverzeichnis 5. Kapitel



Entwicklung einer eigenständigen Definition prozeduralen Rechts 156

6. Kapitel Verfassungsrechtliche Grenzen einer strafrechtlichen Prozeduralisierung 164



A. Das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 B. Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 C. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das ultima ratio-Prinzip im Strafrecht . . . . . 172 D. Das Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 E. Ergebnis zu den verfassungsrechtlichen Grenzen prozeduralen Rechts . . . . . . . . . . . 175

7. Kapitel

Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte 177

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I.

Analyse der §§ 218 ff. StGB hinsichtlich prozeduraler Elemente . . . . . . . . . . . . 177 1. Das Schwinden materiellrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 2. Spezifisches Nichtwissen und / oder moralische Unwägbarkeiten . . . . . . . . . 181 3. Das Kriterium der Diskursivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4. Entscheidungsmacht Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 5. Akzeptanz der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6. Wissensakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 7. Reflexives Recht mit Beobachtungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194

II. Vorherrschendes Meinungsbild in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 1. Einordnung der §§ 218 ff. StGB als Teil einer Prozeduralisierung . . . . . . . . . 195 a) Winfried Hassemer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Frank Saliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Albin Eser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 d) Ramona Francuski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 e) Theresa Schweiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 2. Negierung der §§ 218 ff. StGB als Teil einer Prozeduralisierung . . . . . . . . . . 200 a) Günther Stratenwerth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 b) Lisa Borrmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis . . . . . . . 202 IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Inhaltsverzeichnis

17

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 I.

Analyse des § 3a ESchG hinsichtlich prozeduraler Elemente . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Nichtexistenz bzw. Schwinden materiellrechtlicher Regelungen . . . . . . . . . 206 2. Spezifisches Nichtwissen oder moralische Unwägbarkeiten . . . . . . . . . . . . . 208 3. Entscheidungsmacht Privater oder Ethikkommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . 210 4. Diskursivität und Wissensakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 a) Erhöhte Rationalität der Kommissionsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Eigene Stellungnahme zum Kriterium der erhöhten Rationalität . . . . . . . 216 5. Grundrechtsschutz durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 6. Akzeptanz der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 7. Prozedurale Beobachtungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

II. Einordnung der PID als Teil einer Prozeduralisierung in der Literatur . . . . . . . 223 1. Theresa Schweiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Ramona Francuski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis . . . . . . . 225 IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 1. Das Verhältnis von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik . . . . 226 a) Argumente der Befürworter eines Wertungswiderspruchs . . . . . . . . . . . . 231 b) Argumente der Gegner eines Wertungswiderspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Konsequenz des Wertungswiderspruchs für den Einsatz von Prozeduralisierung im Rahmen der PID . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 I.

Analyse der §§ 1901a ff. BGB hinsichtlich prozeduraler Elemente . . . . . . . . . . 240 1. Das Schwinden materiellrechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 2. Spezifisches Nichtwissen und / oder moralische Unwägbarkeiten . . . . . . . . . 242 3. Das Kriterium der Diskursivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4. Entscheidungsmacht Privater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 5. Wissensakkumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 a) Klassischer Grundrechtsschutz durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 b) Grundrechtliche Kehrseite des intendierten Verfahrensschutzes . . . . . . . 250 6. Akzeptanz der Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 a) Die Akzeptanz bei Einhaltung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 aa) Die zivilrechtlichen Verfahrensvorschriften der §§ 1901a ff. BGB als Rechtfertigungsgrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 bb) Die Berücksichtigung der Einhaltung des Verfahrens auf Fahrlässigkeitsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 b) Die Akzeptanz bei Nichteinhaltung des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

18

Inhaltsverzeichnis aa) Die Judikate des Bundesgerichtshofs zur Exklusivität der Verfahrensbeachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 bb) Gründe für eine strafrechtliche Akzessorietät zu den §§ 1901a ff. BGB 260 (1) Funktionsleerlauf des intendierten Grundrechtsschutzes durch Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 (2) Sanktionsbedürftige Verfahrensnegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 (3) Der Charakter der (Nicht-)Einwilligung des gesetzlichen Ver­ treters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 cc) Gründe gegen eine strafrechtliche Akzessorietät zu den §§ 1901a ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 (1) Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . 265 (2) Das medizin(straf-)rechtliche Primat des materiellen Willens . . 267 (3) Keine Zivilrechtsakzessorietät bei höchstpersönlichen Rechts­ gütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 (4) Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG . 268 dd) Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 7. Prozedurale Beobachtungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 II. Vorherrschendes Meinungsbild in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 1. Vertreter einer Prozeduralisierung im Rahmen der §§ 1901a ff. BGB . . . . . . 272 a) Frank Saliger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Ramona Francuski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 c) Theresa Schweiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 2. Negierung einer Prozeduralisierung durch Lisa Borrmann . . . . . . . . . . . . . . 274 III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis . . . . . . . 275 IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

D. Exkurs: Prozeduralisierungstendenzen der Sterbehilfe de lege ferenda . . . . . . . . . . . 277 I.

Die Zulassung aktiver Sterbehilfe in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 1. Prozedurales Vorbild nach niederländischem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 2. Prozedurale Vorschläge für ein deutsches aktives Sterbehilferecht . . . . . . . . 279

II. Prozedurale Komponenten im Bereich der sog. „Früheuthanasie“ . . . . . . . . . . . 280 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283

8. Kapitel

Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge 284

A. Prozedurale Umsetzung der Präimplantationsdiagnostik de lege ferenda . . . . . . . . . . 284 B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Inhaltsverzeichnis I.

19

Parallelen und Gemeinsamkeiten der medizinstrafrechtlichen Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 1. Vorliegen von normativen und empirischen Defiziten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 2. Hieraus resultierende prozedurale Bedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 4. Intention und Wirkung der Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 5. Kritik an einer Prozeduralisierung im Bereich des strafrechtlichen Lebensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 6. Unschlüssigkeit der dogmatischen Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

II. Unterschiede der medizinstrafrechtlichen Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . 290 III. Dogmatische Lösungsansätze für eine Prozeduralisierung am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Die dogmatische Umsetzung des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 1 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 2. Die dogmatische Umsetzung des straffreien Behandlungsabbruchs . . . . . . . 294 C. Festgestellte Auswirkungen einer Prozeduralisierung strafrechtlicher Lebensschutzkonzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 I.

Wachsendes Erstarken der Menschenwürde unter prozeduraler Führung . . . . . . 299

II. Verfahren als Kompromiss zwischen Verrechtlichung und Rechtsunsicherheit . 302 III. Ständiges Schwanken zwischen Über- und Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . 302 D. Fazit zu den untersuchten prozeduralen Lebensschutzkonzepten . . . . . . . . . . . . . . . . 304

9. Kapitel

Fazit und Ausblick 306

A. Fazit zu Prozeduralisierungen am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 B. Ausblick de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht abl. ablehnend Abs. Absatz AcP Archiv für die civilistische Praxis AE-StB Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung a. F. alte Fassung AG Amtsgericht allg. allgemein Alt. Alternative am Main a. M. AMG Arzneimittelgesetz Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie ARSP Art. Artikel Allgemeiner Teil AT Aufl. Auflage BÄK Bundesärztekammer BauGB Baugesetzbuch Bayerisches Ausführungsgesetz zur Präimplantationsdiagnostik-VerordBayAGPIDV nung Bayer. GVBl. Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt BayPAG Bayerisches Polizeiaufgabengesetz BayRS Bayerische Rechtssammlung BaySchwBerG Bayerisches Schwangerenberatungsgesetz Beck’scher Online-Kommentar BeckOK BeckRS Beck-Rechtsprechung bej. bejahend Beschl. Beschluss Bürgerliches Gesetzbuch BGB BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bucerius Law Journal BLJ Drucksache des Bayerischen Landtags BLT-Drs. Drucksache des Bundesrats BR-Drs. BSG Bundessozialgericht Entscheidungen des Bundessozialgerichts BSGE bspw. beispielsweise Besonderer Teil BT BT-Drs. Drucksache des Deutschen Bundestags Betreuungsrechtliche Praxis BtPrax

Abkürzungsverzeichnis

21

BuGBl. Bundesgesundheitsblatt BVerfG Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE BVerwG Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE bzw. beziehungsweise Christlich Demokratische Union CDU Christlich Soziale Union CSU Deutsches Ärzteblatt DÄBl. Deutsche Demokratische Republik DDR ders. derselbe Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht DGMR dies. dieselbe diff. differenzierend Deutsche Notar-Zeitschrift DNotZ Die Öffentliche Verwaltung DÖV Deutsches Verwaltungsblatt DVBl. Edit. Edition Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch EGStGB Einl. Einleitung EL. Ergänzungslieferung Europäische Menschenrechtskonvention EMRK ESchG Embryonenschutzgesetz Erg. Ergebnis et cetera etc. Ethik in der Medizin Ethik Med folgende Seite f. FamFG Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit Zeitschrift für das gesamte Familienrecht FamRZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ Fachdienst Sozialversicherungsrecht FD-SozVR fortfolgende Seiten ff. Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit FGG Fn. Fußnote Familie Partnerschaft Recht FPR FS Festschrift Goltdammer’s Archiv für Strafrecht GA Gemeinsamer Bundesausschuss G-BA GBl. Gesetzblatt geb. geboren gem. gemäß GenDG Gendiagnostikgesetz GesR GesundheitsRecht gest. gestorben Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GG

22

Abkürzungsverzeichnis

ggf. gegebenenfalls GO Geschäftsordnung GS Gedächtnisschrift Gesetz- und Verordnungsblatt GVBl. Handbuch der Grundrechte HGR HKaG Heilberufe-Kammergesetz herrschende Meinung h. M. Online-Zeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht HRRS Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz Handbuch des Staatsrechts HStR intrazytoplasmatische Spermieninjektion ICSI im engeren Sinne i. e. S. im Sinne des i. S. d. im Sinne von i. S. v. in vitro Fertilisation IVF in Verbindung mit i. V. m. Juristische Arbeitsblätter JA Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte JJZG Juristische Rundschau JR Journal für Rechtspolitik JRP Juristische Ausbildung Jura Juristische Schulung JuS JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel Gesetz über die freiwillige Kastration und andere Behandlungsmethoden KastrG Kritische Justiz KJ krit. kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KritV letzt. letzter LG Landgericht lit. littera Leipziger Kommentar LK Lebensmittel und Recht LMuR LS. Leitsatz (Muster-)Berufsordnung für die in Deutschland tätigen Ärztinnen und MBO-Ä Ärzte Monatsschrift für Deutsches Recht MDR MedR Medizinrecht Mitteilungen des Bayerischen Notarvereins, der Notarkasse und der LanMittBayNot desnotarkammer Bayern MPG Medizinproduktegesetz Münchener Kommentar MüKo mit weiterem Nachweis / m it weiteren Nachweisen m. w. N. Nachw. Nachweis(e) niederländisches Strafgesetzbuch ndlStGB neue Fassung n. F. Neue Justiz NJ

Abkürzungsverzeichnis

23

Neue Juristische Wochenschrift NJW Nomos Kommentar NK Nr. Nummer NS Nationalsozialismus Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ NuR Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ Neue Zeitschrift für Sozialrecht NZS Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht NZWiSt OLG Oberlandesgericht PAG Polizeiaufgabengesetz PatVG Patientenverfügungsgesetz perkutane endoskopische Gastrostomie PEG preimplantation genetic diagnosis PGD PID Präimplantationsdiagnostik PIDV Präimplantationsdiagnostikverordnung PND Pränataldiagnostik PräimpG Präimplantationsdiagnostikgesetz Rdnr. Randnummer Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen RGSt Rspr. Rechtsprechung s. siehe S. Seite SchKG Schwangerschaftskonfliktgesetz Schönke / Schröder Strafgesetzbuch Kommentar Sch / Sch-StGB Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz SFHÄndG Schwangeren- und Familienhilfegesetz SFHG SGB Sozialgesetzbuch Systematischer Kommentar SK SKIP Spezies-, Kontinuitäts-, Identitäts- und Potenzialitätsargument sog. sogenannt SSW Schwangerschaftswoche Satzger / Schluckebier / Widmaier Strafgesetzbuch Kommentar S / S/W-StGB StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozessordnung StrÄndG Strafrechtsänderungsgesetz Gesetz zur Reform des Strafrechts StrRG ständige Rechtsprechung st. Rspr. StV Strafverteidiger StVollzG Strafvollzugsgesetz StZG Stammzellgesetz Thrombocytopenia-Absent Radius Syndrome TAR-Syndrom TPG Transplantationsgesetz unter anderem u. a. Urt. Urteil United States of America USA und so weiter u.s.w. unter Umständen u. U.

24

Abkürzungsverzeichnis

vom / versus (je nach Kontext) v. vor Christus v. Chr. vern. verneinend VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleiche Vorbemerkung Vor / Vorb Verbraucher und Recht VuR Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz Z. aerztl. Fortbild. Zeitschrift für die ärztliche Fortbildung zum Beispiel z. B. Zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung ZES Zeitschrift für Lebensrecht ZfL Zeitschrift für Rechtssoziologie ZfRSoz Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik ZIS Zeitschrift für das Juristische Studium ZJS Zeitschrift für Rechtspolitik ZRP Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZStW Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht ZUM zust. zustimmend zutr. zutreffend

1. Kapitel

Einleitung A. Thematik Das menschliche Leben zählt zu den Höchstwerten der Verfassung.1 Es wird nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG grundrechtlich geschützt. Der staatliche Lebensschutz stellt eine höchst verantwortungsvolle und gleichzeitig stets herausfordernde Aufgabe aller drei Gewalten dar. Das Grundrecht auf Leben wird als „rechtliche Fundamentalmaxime“2 gehandhabt, die das „Voraussetzungsgrundrecht aller anderen grundrechtlichen Berechtigungen“3 verkörpert. Es unterscheidet sich insbesondere durch das in ihm zum Ausdruck kommende „Alles-oder-Nichts“-Prinzip von anderen Grundrechten.4 Ein Eingriff in das Lebensrecht bedeutet zwangsläufig den Tod des Menschen und damit seine irreversible Nichtexistenz. Ein Vorläufer der Norm existiert in deutschen Verfassungen nicht, weil das menschliche Lebensrecht – wie die Grausamkeiten des Dritten Reichs traurig widerlegten – als natürliche Selbstverständlichkeit aufgefasst wurde.5 Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes im Mai 19496 wurde ebenso die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft.7 Das Leben wird aber nicht nur von der Rechtswissenschaft besonders hochgehalten,8 sondern auch in anderen Bereichen – wie beispielsweise der Religion – kommt ihm eine besonders herausragende Bedeutung zu. Nach tradierter christlicher Glaubenslehre ist das Leben das höchste Gut, das auch der Mensch selbst nicht befugt ist anzutasten. Über das von Gott geschenkte Leben dürfe der Mensch daher in eigener Person nicht verfügen.9

1

BVerfGE 39, 1 (42); vgl. auch BGHSt 46, 279 (285). Picker, AcP 195 (1995), 483 (487). 3 Lang, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 2 Rdnr. 56. 4 Lang, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 2 Rdnr. 57. 5 BVerfGE 39, 1 (36); Lang, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 2 Rdnr. 55. 6 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (GG) vom 23.05.1949, BGBl. 1949 I, S. 1 ff. 7 Art. 102 GG lautet: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ 8 Nach BGHSt 46, 279 (285) stellt die Selbsttötung eine rechtswidrige Handlung dar. So auch schon BGHSt 6, 147 (153), wonach der Selbstmörder nicht befugt sei, über sein eigenes Leben zu verfügen. Vgl. zur „Heiligkeit des Lebens“ auch Landau, ZRP 2005, 50 (54). 9 Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Kompendium, Dritter Teil, Zweiter Abschnitt, Zweites Kapitel, Fünftes Gebot, S. 191 Rdnr. 2322 ff.; vgl. dazu auch Bardola, Der begleitete Freitod, S. 156; vgl. Mösgen, Selbstmord oder Freitod?, S. 73. 2

26

1. Kap.: Einleitung

Durch diesen kurzen Blick auf einige Besonderheiten des Lebensrechts zeichnet sich bereits sein erhobener Stellenwert ab. Seit einiger Zeit taucht auch in der strafrechtlichen Literatur vermehrt der Begriff der Prozeduralisierung auf. Unter ihm wird „die von der Einhaltung spezifischer Verfahrensnormen abhängende Straflosigkeit rechtsgutstangierender Handlungen“10 verstanden. Auch wenn der Begriff bereits Erwähnung in den verschiedensten Rechtsbereichen wie dem Verwaltungsrecht, dem Medienrecht, dem Umweltrecht und schließlich auch dem Europarecht findet, so hat er dennoch bisher nicht die Popularität erreicht, dass einem Juristen11 mit ihm schlagartig eine klare Vorstellung von den genauen Intentionen, Inhalten und Auswirkungen einer Prozeduralisierung vor Augen schweben würde. Besonders im Bereich des strafrechtlichen Lebensschutzes hat die Prozeduralisierung einen zwar schleichenden, gleichzeitig aber konsequenten Eingang gefunden. Sie hält als neuartige Schutztaktik Einzug in die besonders brisanten strafrechtlichen Schnittstellen zwischen Leben und Tod. Einerseits fallen dem Gesetzgeber an diesen Stellen trennscharfe gesetzliche Determinierungen wohl schwer, weil Biologie und Recht zwei unterschiedliche Disziplinen darstellen, die womöglich nicht immer deckungsgleich gehandhabt werden (können). Andererseits muss gerade an diesen wichtigen Schnittstellen rechtliche Kohärenz vorherrschen. Dem Wesen der Prozeduralisierung wird nachgesagt, es betreibe die Wahrheitssuche als etwas „Ungefähres, Ungesichertes, erst noch zu Suchendes und zu Finden­des“12. Dadurch ist ihm etwas Mysthisches eigen. Wie dieses Mysthische sich seinen Weg in rechtliche Lebensschutzkonzepte gebahnt hat und wie es de lege lata gesetzlich umgesetzt wird, soll den Gegenstand der vorliegenden Arbeit bilden. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob der überragenden Stellung des Lebensschutzes mittels einer Prozeduralisierung effektiv Rechnung getragen wird oder ob das der Prozeduralisierung mysthisch Anhaftende zu einer Einbuße an strafrechtlichem Lebensschutz und damit zu einer Einbuße an Rechtsgüterschutz führt.

10

Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdnr. 7a; vgl. auch Saliger, KritV 1998, 118 (145); vgl. Saliger, JuS 1999, 16 (20). 11 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein. 12 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das mate­ rielle Strafrecht, S. 9 (10).

B. Ziel der Arbeit

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B. Ziel der Arbeit Die vorliegende Arbeit soll einen Beitrag zur Analyse der vorherrschenden Prozeduralisierung am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes leisten. Der Bereich der medizinstrafrechtlichen Prozeduralisierung muss im Allgemeinen nach wie vor als ein solcher vieler unbeantworteter Fragen angesehen werden, nachdem seine Entwicklungen häufig nur bereichsspezifisch und sporadisch, nicht aber mit Blick auf das sich ergebende prozedurale Gesamtbild medizinstrafrechtlicher Regelungen wahrgenommen wurden.13 Dies erscheint umso überraschender, als das Medizin(straf-)recht „zu den intensivsten Anwendungsfeldern von Prozeduralisierung“14 gezählt wird. Gerade aber die Tatsache, dass es sich um eine neuartige Erscheinungsform (straf-)rechtlicher Steuerungstechniken handeln soll, deren Wirken einerseits zwar nur schwer absehbar sei,15 denen aber andererseits dennoch eine zukünftige Progression16 bzw. zumindest ein robustes Überleben in einem immer wieder anderen Gewande attestiert wird,17 legt das Bedürfnis offen, sich mit diesen ausführlicher zu beschäftigen. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die prozeduralen Strukturen des Medizinstrafrechts zunächst zu analysieren und  – falls sich Reformbedarf abzeichnen sollte  – Lösungsvorschläge zu entwickeln. Es soll im Folgenden daher sowohl die allgemeine Erscheinungsform der Prozeduralisierung als auch der ihr speziell für den medizinstrafrechtlichen Bereich abzugewinnende Nutzen analysiert werden. Daneben sollen auch die ihr gezogenen rechtsstaatlichen Grenzen beleuchtet werden, die insbesondere dann mahnend zum Vorschein treten, wenn sie sich auf strafrechtlichem Terrain bewegt.

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So Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (125) mit einem Katalog von offenen Fragen die Prozeduralisierung des Medizinrechts betreffend; vgl. ebenfalls die Stellungnahme Jakobs im Tagungsbericht von Lenz, ZStW 106 (1994), 124 (128), wonach „die Diskussion […] [über die „Legitimation durch Verfahren“ im Strafrecht] noch gar nicht richtig begonnen [hat]“. 14 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124. 15 Eser, KritV Sonderheft 2000, 43. 16 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (124 f.) nimmt anhand von Beispielen auch Bezug auf die Zunahme von Prozeduralisierung im internationalen Kontext. 17 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (750) in Bezug auf prozedurale Rechtfertigungen.

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1. Kap.: Einleitung

C. Begründung der thematischen Eingrenzung auf die strafrechtlichen Schnittstellen von Leben und Tod Eine thematische Eingrenzung der Arbeit innerhalb des Medizinstrafrechts ist mit Blick auf die Weite des zu untersuchenden Bereichs unumgänglich. Infolgedessen sollen – wie es der Titel der vorliegenden Arbeit bereits erahnen lässt – Delikte des Wirtschaftsstrafrechts keinen Teil der zu untersuchenden Materie darstellen, auch wenn sie – wie die nachfolgend dargestellten Strafvorschriften – einen Bezug zum Medizinrecht aufweisen. Es lässt sich auch im Wirtschaftsstrafrecht zunehmend ein „Prozeduralisierungs­ trend“ beobachten. Dieser Bereich ist allerdings offenkundig nicht mit den typischen – ethisch leicht entzündbaren und seit Generationen bereits entflammten – Konflikten behaftet, wie dies in den klassisch medizinstrafrechtlichen Feldern der Fall ist. Der ärztliche Abrechnungsbetrug nach § 263 Abs. 1 StGB, welcher in jüngster Zeit unter prozeduralen Gesichtspunkten wachsende Aufmerksamkeit erlangte, wird daher keiner näheren Untersuchung unterzogen.18 Gleiches gilt für die Korruption im Gesundheitswesen nach §§ 299a, 299b StGB. In diesem Bereich mag die Prozeduralisierung des Strafrechts zwar gewiss ebenfalls ein adäquates Schema sein, um den Beteiligten Straffreiheit zu eröffnen und den Weg für eine Erschließung des wissenschaftlichen Spektrums der „Criminal Compliance“ zu bereiten,19 die Arbeit soll hierzu allerdings keine Ausführungen leisten. Letztlich soll auch die Vertragsarztuntreue nach § 266 Abs. 1 StGB aus prozeduraler Sicht nicht behandelt werden, wenngleich auch die Untreue im Rahmen des Tatbestandsmerkmals der „Pflichtwidrigkeit“ verstärkte Prozeduralisierungstendenzen erkennen lässt.20 Vorliegende Arbeit teilt somit das medizinstrafrechtliche Gebiet noch feinteili­ ger in einen gesonderten, medizinwirtschaftsstrafrechtlichen Teil,21 welcher im Fortgang der Arbeit nicht analysiert werden soll. Die wirtschaftsstrafrechtlichen Aspekte einer Prozeduralisierung müssen aufgrund der Eigenheit der Materie einem gesonderten Blickwinkel unterworfen werden.22

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Vgl. hierzu ausführlich Braun, Autonomie versus Akzessorietät des Strafrechts am Beispiel des ärztlichen Abrechnungsbetruges, Baden-Baden 2016. 19 Krüger, in: Rotsch, Criminal Compliance, § 20 Rdnr. 33; Krüger, NZWiSt 2017, 129 (133 f.). 20 Vgl. Krüger, NZS 2016, 841 (845); Rönnau, StV 2011, 753 (757); krit. zum prozeduralen Lösungsansatz im Rahmen des Pflichtwidrigkeitsmerkmals bei § 266 StGB Leite, GA 2018, 580 (583 ff.). 21 Vgl. zu dieser Terminologie auch Jung, JZ 2015, 1113 (1117). 22 Zur ausführlichen Analyse einer Prozeduralisierung des Wirtschaftsstrafrechts vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 291 ff.

D. Gang der Arbeit

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Nach dieser Eingrenzung soll im verbleibenden Spektrum des Medizinstrafrechts der Schwerpunkt auf der Analyse der gesetzlichen Vorschriften zum Schutz des menschlichen Lebens liegen. Das Grundrecht auf Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG muss vom Staat in besonders hohem Maße geschützt werden. Auch wenn den Grundrechten primär die klassische Abwehrfunktion staatlicher Eingriffe innewohnt (sog. status negativus), trifft ihn darüber hinaus eine grundrechtliche Schutzpflicht (sog. status positivus) zugunsten des menschlichen Lebens.23 Dies rechtfertigt es, auf die prozedural durchdrungenen Regelungen zum Schutz des Lebens in seinen Anfangs- und in seinen Endstadien besonderes Augenmerk zu legen. Es ist davon auszugehen, dass sich das unermüdliche Gefecht des Strafrechts, in dem es immer wieder um seine Legitimation in moralisch umstrittenen Bereichen ringt, sich an den beidseitigen Grenzen des Lebens besonders eindrucksvoll darstellen lässt. Denn „es sind [gerade] Anfang und Ende des menschlichen Lebens, an denen sich derzeit gravierende ethische und rechtliche Debatten entzünden“24. Deshalb soll dem speziellen strafrechtlichen Wirken an den Übergangsphasen von Leben und Tod besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

D. Gang der Arbeit Um sich zunächst mit der geltenden Rechtslage zum Schutz des menschlichen Lebens vertraut machen zu können, soll in Kapitel 2 eine Darstellung der einzelnen strafrechtlichen Lebensschutzkonzepte erfolgen. Beginnend mit dem Regelungskomplex zum Schwangerschaftsabbruch nach den §§ 218 ff. StGB – bei welchen der Fokus auf der Regelung des § 218a Abs. 1 StGB liegt –, soll sich die damit in engem Zusammenhang stehende Präimplantationsdiagnostik (PID) nach § 3a Embryonenschutzgesetz (ESchG)25 anschließen. Zur Vollendung des strafrechtlichen Lebensschutzkreislaufs wird abschließend die geltende Rechtslage zur Sterbehilfe dargelegt. In diesem Zusammenhang werden insbesondere die maßgeblichen Regelungen der Patientenverfügung nach §§ 1901a ff. BGB erläutert. Nach der rechtlichen Erschließung der Lebensschutzkonzepte soll sich der Prozeduralisierung und ihrem Erscheinungsbild gewidmet werden. Kapitel 3 setzt sich daher inhaltlich mit den Grundlagen der Prozeduralisierung im Allgemeinen auseinander. Zunächst soll dazu ein kurzer Einblick in das Rechtsgebiet des Öffentlichen Rechts unter dem prägnanten Stichwort eines „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“ erfolgen, bevor auch die Gebiete der Rechtsphilosophie und der 23 Grundlegend dazu BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 115, 118 (152); 121, 317 (356); Isensee, in: Isensee / K irchhof, HStR, Band IX, § 191 Rdnr. 1; Schmidt, Grundrechte, Rdnr. 14 ff. 24 Hufen, NJW 2001, 849. Vgl. auch EGMR, Urt. vom 05.06.2015, Nr. 46043/14 (Lambert u. a. v. Frankreich), NJW 2015, 2715 (2721 Rdnr. 147 f.), wonach den Vertragsstaaten gerade in Bezug auf den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens ein gewisser Beurteilungsspielraum eingeräumt wird, weil hier kein Konsens erzielbar sei. 25 Gesetz zum Schutz von Embryonen (ESchG) vom 13.12.1990, BGBl. 1990 I, S. 2746 ff.

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1. Kap.: Einleitung

Rechtssoziologie im Lichte der Prozeduralisierung dargestellt werden. Diese Ursprungsadern sollen das vielfältige und gebietsübergreifende Gesamtbild der Prozeduralisierung zunächst skizzieren und im Ergebnis zur Komplettierung ihres Wesens beitragen. Durch die Abbildung der grundlegenden Wurzeln der Prozeduralisierung lässt sich auch die Intention einer strafrechtlichen Prozeduralisierung deutlich besser nachvollziehen, auf welche sich die Arbeit anschließend im Speziellen konzentriert. Dazu ist allerdings zunächst noch eine allgemeine Einordnung der Prozeduralisierung im Hinblick auf ihre Begrifflichkeit, ihre Rechtsnatur und ihre Dogmatik erforderlich. Nach der Darstellung verschiedener Strukturmerkmale, die in der Literatur idealtypisch dem prozeduralen (Straf-)Recht zugeschrieben werden, wird in Kapitel 4 im Besonderen das Medizinstrafrecht behandelt. In diesem Rahmen erfolgt eine Analyse, welche seiner spezifischen Eigenschaften dazu führen könnten, dass es sich vermehrt prozeduraler Strukturen bedient. Erst die Besonderheiten des Medizinstrafrechts geben Aufschluss darüber, welche Strukturmerkmale in der Definition eines prozeduralen Medizinstrafrechts von Bedarf sind. Der Untersuchung der vielfältigen Wesenszüge des Medizinstrafrechts nachfolgend, soll sodann in Kapitel 5 eine eigenständige Definition prozeduralen Medizinstrafrechts erarbeitet werden, die der Arbeit fortan zugrunde gelegt wird. Dazu werden die dargestellten Strukturelemente auf ihre jeweilige Berechtigung als Abgrenzungskriterium im Rahmen der Definition untersucht. Dadurch wird ein erster, wesentlicher Grundstein für die darauffolgende Analyse der Lebensschutzkonzepte gelegt. Im sich anschließenden Kapitel 6 erfolgt eine Auseinandersetzung mit den verfassungsrechtlichen Grenzen einer Prozeduralisierung. Es wird untersucht, ob einer strafrechtlichen Prozeduralisierung per se so gewichtige rechtsstaatliche Prinzipien entgegenstehen, dass ihr de lege lata und auch in Zukunft Einhalt geboten werden müsste oder ob eine Prozeduralisierung auch im Strafrecht nicht vorschnell abgelehnt und als verfassungswidrige Regelungsstrategie gebrandmarkt werden sollte. Nur in letzterem Fall könnte die zuvor entwickelte Definition eines prozeduralen Medizinstrafrechts adäquat umgesetzt werden. In Kapitel 7 erfolgt sodann die induktive Analyse der ausgewählten medizinstrafrechtlichen Rechtsgebiete zum Schutz des menschlichen Lebens, welche von der Literatur (jeweils nicht unumstritten) als Teil einer Prozeduralisierung eingeordnet werden. Dabei soll die Präimplantationsdiagnostik, die im Zusammenhang mit einer medizinstrafrechtlichen Prozeduralisierung noch keine besonders große Aufmerksamkeit erfahren hat, ebenso auf die erörterten prozeduralen Strukturelemente sowie ihre jeweils unterschiedlich starke Ausprägung hin analysiert werden wie die beiden als klassisch prozedural eingestuften Bereiche. Unter letztere fallen der Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 1 StGB sowie der auf die betreuungsrechtlichen Verfahrensregeln der §§ 1901a ff. BGB gestützte Behandlungsabbruch.

D. Gang der Arbeit

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Nach der Darstellung verschiedener Rechtsauffassungen in der Literatur bezüglich der Einordnung der dargestellten Rechtskomplexe als Teil einer Prozedura­ lisierung, soll eine Zuordnung in das eigene Prozeduralisierungskonzept erfolgen. Auch wird in diesem Zusammenhang die jeweilige Intention der Verwendung prozeduraler Merkmale erschlossen. Insgesamt soll für jedes Lebensschutzkonzept das Fazit gezogen werden, ob der Einsatz von Prozeduralisierung an dieser Stelle und in dieser Funktion de lege lata gerechtfertigt ist. Nach Analyse der maßgeblichen Prozeduralisierungskonzepte am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes erfolgt ein Exkurs zu weiteren Prozeduralisierungstendenzen an den Schnittstellen von Leben und Tod, die derzeit diskutiert werden. Sie betreffen eine mögliche Entkriminalisierung der aktiven Sterbehilfe sowie den rechtlichen Umgang mit der äußerst problematischen „Früheuthanasie“. In Kapitel 8 sollen schließlich die maßgeblichen Ergebnisse der Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte zusammengefasst werden. Durch die in diesem Rahmen aufzuzeigenden Parallelen und Unterschiede der jeweiligen Konzepte sollen Erkenntnisse für die dogmatische Umsetzung de lege ferenda gewonnen werden. Zusätzlich soll ein Fazit zu den allgemeinen Wirkungen von Prozeduralisierung im Bereich des Lebensschutzes gezogen werden. Kapitel 9 fasst abschließend die wesentlichen Erkenntnisse der gesamten Arbeit zusammen. Ein Ausblick hinsichtlich der Bedeutung prozeduraler Normen in der Zukunft soll das Bild prozeduraler Lebensschutzkonzepte insgesamt abrunden.

2. Kapitel

Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte Im Folgenden sollen die einzelnen Bereiche am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes dargestellt werden, welchen in der Literatur der Charakter einer prozeduralen Regelung zugeschrieben wird. Dadurch soll ein Grundverständnis für die unterschiedlichen Regelungskomplexe gewonnen werden, auf dem die Arbeit fortlaufend aufbaut. Neben der Gemeinsamkeit, dass die Lebensschutzkonzepte jeweils an den Schnittstellen von Leben und Tod regulierend eingreifen, offenbart sich auch eine weitere bei Betrachtung der relevanten Normen. Sämtliche Normen, die analysiert werden sollen, haben einen Buchstaben zum Bestandteil. Die Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs ergibt sich aus § 218a StGB, diejenige der PID aus § 3a ESchG und das betreuungsrechtliche Prozedere ist in den §§ 1901a ff. BGB geregelt. Es handelt sich somit um Normen, die nachträglich in den jeweiligen Normenkomplex eingefügt wurden. Eine zentrale Aufgabe des Gesetzgebers bestand somit darin, dass sich die Regelungen schlüssig in das vorhandene rechtliche Gesamtgefüge einpassen.

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens Zunächst sollen die medizinstrafrechtlichen Verfahren zum Schutz des menschlichen Lebens in seinen Anfängen dargestellt werden. Dazu wird zunächst die geltende Rechtslage zum Schwangerschaftsabbruch nach den §§ 218 ff. StGB und sodann zur Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG dargelegt.

I. Der Schwangerschaftsabbruch gem. §§ 218 ff. StGB 1. Einführung Die Diskussion um die rechtliche Ausgestaltung des Schwangerschaftsabbruchs „trifft den Nerv des gesellschaftlichen und politischen Systems“1. In kaum einer strafgesetzlichen Regelung verbirgt sich so viel an emotionaler Kontroverse, 1

Kluth, FamRZ 1993, 1382.

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens 

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ethischen Abwägungen und daraus hervorgegangenen Kompromissen wie in der Normierung des Schwangerschaftsabbruchs in den §§ 218 ff. StGB. Es verwundert daher nicht, dass der Normkomplex als einer der umstrittensten Regelungen des StGB überhaupt angesehen wird.2 Dies liegt sicherlich zum Teil darin begründet, dass es sich um existenzielle Fragen menschlichen Daseins und der rechtlichen Ausgestaltung der Lebensberechtigung zukünftiger Generationen handelt, deren Beantwortung im Einzelnen auch evident von individuellen ethischen Grundüberzeugungen abhängt.3 Eine weitere Ursache, die das Feuer des Konflikts anfacht, offenbart sich aber ebenso bei Betrachtung der zwei elementaren Rechtsgüter von Verfassungsrang, die sich scheinbar unauflösbar4 gegenüberstehen: Das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungsrechtlich geschützte5 Lebensrecht des Embryos in vivo aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt.  1 GG sowie seine Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG6 kollidieren mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Schwangeren aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG7 sowie ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG8. Ob, und wenn ja, ab wann und in welcher Schutzintensität dem Embryo in vivo ein verfassungsrechtlich verbürgtes Recht auf Leben zukommt und ob er bereits Träger der Menschenwürde ist, wird in der Literatur äußerst kontrovers beurteilt. Während teilweise eine Art Grundrechtsfähigkeitsentwicklung angenommen und dem Embryo in der Frühphase der Schwangerschaft das Lebensrecht damit nicht 2

Satzger, Jura 2008, 424; vgl. auch Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 3; vgl. Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, §§ 218, 218a Rdnr. 1; vgl. Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 1. 3 Eser, JZ 1994, 503; Hartmann, NStZ 1993, 483 (484). 4 Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, §§ 218, 218a Rdnr. 1 spricht von „unvereinbare[n] Prämissen“; Schreiber, Archives of Gynecology and Obstetrics 1995, 381: „Unvereinbares“; vgl. auch Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 1, der einen Kompromiss für nur schwer erreichbar hält. 5 Vgl. BVerfGE 39, 1 (42), wonach sich der Staat „schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen [hat]“; BVerfGE 88, 203 (251) übernimmt diese Ausführungen weitgehend. Ob dem Embryo in vivo tatsächlich bereits verfassungsrechtliche Grundrechte zustehen, ist stark umstritten. 6 Auch soll der Embryo in vivo nach dem BVerfG Träger der Menschenwürde sein, vgl. BVerfGE 39, 1 (41); BVerfGE 88, 203 (251). 7 In BVerfGE 88, 203 (254) wird im Gegensatz zu BVerfGE 39, 1 ff. erstmals die Menschenwürde der schwangeren Frau als grundrechtlich relevante Gegenposition in die Abwägung eingebracht; vgl. hierzu auch das Sondervotum der Richter Mahrenholz / Sommer, BVerfGE 88, 338 (348); Gropp, GA 1994, 147 (150); krit. Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1386). 8 Ob die körperliche Unversehrtheit auch ein Schutzgut des § 218 StGB darstellt, ist umstritten. Bej. Duttge, in: Prütting, Medizinrecht, § 218a Rdnr. 1; vgl. auch Belling, Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218a StGB haltbar?, S. 73 f.; a. A. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 2; Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 190; die Schutzwirkung als „bloßen Reflex“ bezeichnend: Rogall, in: SK-StGB, Vor §§ 218 ff. Rdnr. 58; Satzger, Jura 2008, 424 (425); zust. Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 219 StGB Rdnr. 2; vgl. ferner noch Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch, S. 267.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

vollständig zugesprochen wird,9 gehen Gegner von einer zeitlich nicht gestuft anwachsenden, sondern umfassend zu gewährenden Grundrechtsträgerschaft des Embryos zumindest ab dem Zeitpunkt der Einnistung des Embryos (sog. Nidation) aus.10 Ansichten, die eine Grundrechtsträgerschaft hingegen bereits ab Befruchtung annehmen, führen zur Begründung die sog. „SKIP-Argumente“ an.11 Entgegengesetzte Ansichten, welche dem vorgeburtlichen Leben einen grundrechtlichen Schutz versagen, ziehen zur Begründung ein mangelndes Ich-Bewusstsein des Embryos und / oder die zeitliche Zäsur der Geburt heran, durch welche das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG erst seinen Schutz entfalte.12 Einen weiteren Begründungsansatz stellt der Rückschluss vom ineffektiven und deshalb nicht vorhandenen Schutz auf fehlende verfassungsrechtliche Rechte dar.13 An dieser Stelle soll und kann der hochkomplexen grundrechtlichen Frage nicht bis ins Detail nachgegangen werden. Entsprechende Ausführungen zu Kontroversen über den Zeitpunkt des Lebensbeginns und der daraus zu folgernden recht­ lichen Konsequenzen erfolgen nur in dem Maße, wie sie für die Thematik der Arbeit, insbesondere für die Darstellung der prozeduralen Merkmale, von Bedeutung sind. An dieser Stelle ist es ausreichend festzustellen, dass eine verfassungsrechtlich zugespitzte und in diesem Ausmaß schwer mit einer anderen menschlichen Kollisionslage vergleichbare Konstellation vorliegt respektive, dass aufgrund der körperlichen Verbundenheit von Mutter und Kind der Konflikt nur auf Kosten des jeweils anderen aufgelöst werden kann.14 Seit jeher lag (und liegt) es in den Händen des Gesetzgebers, einen – zwar bestmöglichen, allerdings insgesamt wohl nicht vollkommen möglichen – Ausgleich zwischen diesen elementaren Rechtsgütern zu schaffen. Dies stellt angesichts des 9

So Dreier, JZ 2007, 261 (269); noch einschränkender Lübbe, KritV 1993, 313 (315): „Zygo­ ten oder Föten, wiewohl menschliches Leben, sind ebensowenig Menschen, wie Eier Hühner sind und Kaulquappen Frösche.“ Ein Schutzrecht des Embryos lasse sich aber auf verfassungsrechtsdogmatischem Wege herleiten. 10 Belling, Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218a StGB haltbar?, S. 70; Weiß, JR 1993, 449 (457); ferner Sachs, Verfassungsrecht II – Grundrechte, S. 260. 11 Hierunter werden das Spezies-, Kontinuitäts-, Identitäts- und Potenzialitätsargument gefasst. Nach der sog. Inklusionstheorie folgt bereits aus dem Menschsein unmittelbar auch der Besitz entsprechender, dazugehöriger Rechte, vgl. Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 50 ff.; vgl. dazu auch Lang, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 2 Rdnr. 59 sowie Lungstras, NJ 2010, 485 (487 f.). 12 So Geiger / von Lampe, Jura 1994, 20 (21 ff.), allerdings unter Annahme eines „Grundrecht[s] sui generis“, Geiger / von Lampe, Jura 1994, 20 (23); krit. zu diesem Hoerster, JuS 1995, 192 (193). Letzterer sieht aber ebenfalls in der Geburt des Menschen die maßgebliche Zäsur für den Zuspruch eines Lebensrechts, vgl. Hoerster, JuS 1989, 172 (178). 13 Jakobs, JR 2000, 404 (406); Merkel, in: NK-StGB, § 218a Rdnr. 60 ff. 14 Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (131); ebenfalls auf die Einzigartigkeit der Verbindung hinweisend Hefty, in: Michl / Potthast / Wiesing, Pluralität in der Medizin, S. 157 (159); zum Begriff der dies verdeutlichenden „Zweiheit in Einheit“ des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 88, 203 (252 f., 276); vgl. auch Otto, Jura 1996, 135 (144): „natürliche Einheit“ (Hervorhebung auch im Original).

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens 

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gesellschaftlichen Dissenses in diesem ethisch höchst sensiblen Bereich und einer dadurch bedingten Entbehrung eines konsensfähigen Nenners eine hochgradig anspruchsvolle Aufgabe dar, die einem Balanceakt gleicht. Die gesetzliche Regelung hat – nachdem die entsprechenden Vorschriften mit dem schärfsten Schwert des Rechts durchgesetzt werden – nicht nur den Anspruch, den Hauptstrom der Grundeinstellung der Bevölkerung zum Schwangerschaftsabbruch zu kodifizieren,15 sondern sie muss aus der Auslegung der Verfassung gewonnen werden.16 Dass durch die konkrete Normsetzung sämtliche Auffassungen vollends befriedigt werden, muss nicht explizit als Illusion gekennzeichnet werden. Auch wenn es gewiss Zwischenpositionen geben mag,17 stehen dem Gesetzgeber bei der Lösung der grundrechtlichen Konfliktlage als grundsätzliche Ausgangspositionen das auf einer Drittbeurteilung basierende Indikationsmodell einerseits und das der Selbstbestimmungsfreiheit mehr Gewicht einräumende Fristenmodell andererseits gegenüber. In den jeweiligen Modellen spiegeln sich auch die persönlichen Einstufungen bezüglich der Rolle und der Potenz des Strafrechts zum Schutz des embryonalen Lebensrechts wider. Während konservative Stimmen in der Literatur eine absolut geltende Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs mit nur sehr engen Indikationslagen fordern und damit in die strafrechtliche Wirkungskraft immenses Vertrauen setzen,18 plädieren Vertreter einer liberalen Theorie für ein umfassendes Selbstbestimmungsrecht der schwangeren Frau. Sie konstatieren teils sogar eine Unzuständigkeit des Strafrechts für diese höchstpersönliche Konfliktlage.19 Die variierenden rechtlichen, ethischen und medizinischen Standpunkte sind allerdings nicht nur national, sondern ebenfalls im internationalen Kontext leicht greifbar. Abgesehen von einer erheblichen Divergenz im Hinblick auf die grundsätzlichen Regelungsmodelle, herrschen auch signifikante Unterschiede in der übrigen rechtlichen Ausgestaltung des Schwangerschaftsabbruchs weltweit.20 Das reglementierende Eingreifen strafrechtlicher Gewalt divergiert in seiner Intensität länderspezifisch.21 15

Vgl. auch Rogall, in: SK-StGB, Vor §§ 218 ff. Rdnr. 59, der die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs als „Lehrstück der Kulturgeschichte“ ansieht. 16 Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1059. 17 Vgl. Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (130 f.). 18 Weiß, JR 1993, 449 (454). 19 Frommel, ZRP 1990, 351 (354); Kayßer, Abtreibung und die Grenzen des Strafrechts, S. 167 f.; in diese Richtung auch Schulz, StV 1994, 38 (46); vgl. auch Hoerster, JuS 1989, 172 (178), der ein Recht der Schwangeren auf Abtreibung in den ersten Monaten fordert, dies allerdings aufgrund der Verneinung eines embryonalen Lebenrechts; vgl. zum Ganzen auch die Theorie des „rechtsfreien Raums“, Kaufmann, in: FS Maurach, S. 327 (339 ff.); Kaufmann, JZ 1992, 981 (984 f.). 20 Vgl. zur ausführlichen Analyse der international bestehenden Unterschiede Eser / Koch, Schwangerschaftsabbruch und Recht, S. 56 ff. 21 Gropp, in: MüKo-StGB, Vor § 218 Rdnr. 89; Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, §§ 218, 218a Rdnr. 11.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Um das aktuelle nationale Konzept des Gesetzgebers nachvollziehen zu können, ist ein kurzer Blick auf die rechtliche Entwicklungsgeschichte des Schwangerschaftsabbruchs22 erforderlich,23 die, neutral ausgedrückt, zumindest als wechselvoll,24 subjektiv wertend aber auch als „leidenschaftlich bewegt“25, „emotional gefärbt“26 oder „erbittert geführt“27 charakterisiert werden kann. 2. Die Entwicklung einschließlich des zweiten Schwangerschaftsabbruchsurteils des BVerfG Im Folgenden sollen die wesentlichen Eckpunkte der strafrechtlichen Geschichte des Schwangerschaftsabbruchs dargestellt werden. Die Vorschrift des § 218 StGB stellte in ihrer ursprünglichen Form bis Ende 1974 jegliche Selbst- oder Fremdabtreibung unter Strafe.28 Diese Strafnorm lässt sich zurückverfolgen auf das Preußische Strafgesetzbuch von 1851.29 Sie wurde aufgrund ihres ausnahmslosen Verbots – lediglich eine enge medizinische Indikation wurde als „übergesetzlicher Notstand“ anerkannt30 – als zu strikt empfunden, um auch sonstigen Notlagen der Schwangeren adäquat Rechnung tragen zu können.31 Schwangere, die sich in unzumutbaren Konfliktlagen befanden, wurden daher zur Illegalität gezwungen,32 was sich letztendlich in einer Dunkelziffer von 75.000–300.000 illegalen Abtreibungen pro Jahr niederschlug.33 In Folge dieses Missstandes führte der Gesetzgeber nach erbitterten Debatten mit dem fünften Strafrechtsreformgesetz vom 18.06.197434 eine Fristenregelung ein, welche nach § 218a StGB einen beratenen Abbruch bis zum Ende der zwölften Schwangerschaftswoche (SSW) als straflos ansah und da 22 Zur ausführlichen Geschichte des § 218 StGB: von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB, Tübingen 2004. 23 Ebenso einen historischen Überblick für das Verständnis der §§ 218 ff. StGB voraussetzend Fischer, Strafgesetzbuch, § 218a Rdnr. 3; Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 7 24 Eser, JZ 1994, 503 (510). 25 Laufs, NJW 1995, 3042; ebenso Satzger, Jura 2008, 424. 26 von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB, S. 13. 27 Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 7. 28 Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, §§ 218, 218a Rdnr. 4; Satzger, Jura 2008, 424 (425). 29 Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 114. 30 RGSt 61, 242 (254 ff.) aus dem Jahr 1927; vgl. hierzu Kayßer, Abtreibung und die Grenzen des Strafrechts, S.  111 ff. 31 Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 218–219b Rdnr. 2. 32 von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB, S. 521; Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 218–219b Rdnr. 2; Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, §§ 218, 218a Rdnr. 4. 33 Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 218–219b Rdnr. 2; Satzger, Jura 2008, 424 (425 f.). 34 Fünftes Gesetz zur Reform des Strafrechts (5. StrRG) vom 18.06.1974, BGBl. 1974 I, S. 1297 ff.

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens 

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nach die Möglichkeit eines Abbruchs aufgrund einer medizinischen oder embryopathischen Indikation (bis zum Ende der 22. SSW) gewährte. Nachdem allerdings die Bundestagsfraktion der CDU / CSU und mehrere Bundesländer das Bundesverfassungsgericht angerufen hatten, konnte das Gesetz nicht in Kraft treten.35 Das Bundesverfassungsgericht erklärte mit seinem ersten Schwangerschaftsabbruchsurteil vom 25.02.197536 diese Fristenregelung für verfassungswidrig, weil sie das Lebensrecht des Embryos aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG, das grundsätzlich gegenüber den damit abzuwägenden Rechten der Schwangeren Vorrang genieße, verletze.37 Mit dem 15. Strafrechtsänderungsgesetz vom 18.05.197638 wurde sodann ein Indikationsmodell eingeführt, das eine umfassende medizinische, embryopathische und kriminologische Indikation sowie eine allgemeine Notlagenindikation vorsah. Nachdem in der ehemaligen DDR eine reine Fristenlösung39 geltendes Gesetz geworden war und dieses in den neuen Bundesländern zunächst fort galt, stand mit der Wiedervereinigung Deutschlands die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs im Wege einer Rechtsangleichung erneut zur Debatte, um das in dieser Materie zweigeteilte Recht im vereinten Deutschland zu vereinheitlichen.40 Mit dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) vom 27.07.199241 sollte ein Mittelweg zwischen Indikations- und Fristenmodell gefunden werden, indem eine „rechtfertigende Fristenregelung mit Beratungspflicht“42 statuiert wurde, die die letztgültige Entscheidung in die Hände der Frau legte. Diese Regelung, welche neben einer medizinischen und einer embryopathischen Indikation den Schwangerschaftsabbruch nach Beratung als „nicht rechtswidrig“ deklarierte und ihn – wenn nicht ethisch, so zumindest rechtlich gesehen – auf die gleiche Stufe wie die indizierten Schwangerschaftsabbrüche hob,43 wurde allerdings wiederum vom Bundesverfassungsgericht in seinem zweiten Schwangerschaftsabbruchsur-

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von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB, S. 469. BVerfGE 39, 1 ff. 37 BVerfGE 39, 1 (51 ff.). 38 15. Strafrechtsänderungsgesetz (15. StrÄndG) vom 18.05.1976, BGBl. 1976 I, S. 1213 ff. 39 Vgl. § 153 Abs. 1 StGB-DDR in der Fassung vom 14.12.1988 (GBl. DDR 1989 I, S. 33, S. 59) in Verbindung mit § 1 des Gesetzes über die Unterbrechung der Schwangerschaft vom 09.03.1972 (GBl. DDR 1972 I, S. 89 f.). Danach war der Schwangerschaftsabbruch innerhalb von zwölf Wochen straffrei. 40 Art. 31 Abs. 4 Einigungsvertragsgesetz vom 23.09.1990, BGBl. 1990 II, S. 885 (900) wies dem gesamtdeutschen Gesetzgeber die Aufgabe zu, bis zum 31.12.1992 eine von der Verfassung getragene einheitliche Regelung zu schaffen, welche das Lebensrecht des Embryos besser schützen sollte, als dies bisher in beiden Teilen Deutschlands der Fall war; vgl. dazu auch von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB, S. 505. 41 Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG) vom 27.07.1992, BGBl. 1992 I, S. 1398 ff. 42 von Behren, Die Geschichte des § 218 StGB, S. 505. 43 Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 10. 36

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

teil vom 28.05.199344 für (zum Teil) verfassungswidrig erklärt und konnte daher nicht in Kraft treten. In seinem Urteil stellt das Bundesverfassungsgericht zunächst die staatliche Schutzpflicht für das ungeborene Leben besonders in den Vordergrund, indem es vorschreibt, dass effektive rechtliche Voraussetzungen für den Schutz des Embryos zu etablieren seien. Das Lebensrecht des Ungeborenen als evident schützenswertes Rechtsgut bestehe eigenständig – gerade unabhängig von der Annahme und dem Schutz durch die Mutter.45 Diese sei deshalb grundsätzlich zur Austragung des Kindes verpflichtet.46 Nur in äußersten Ausnahmefällen, namentlich wenn das Gebären des Kindes und die mit dem Mutterdasein verbundenen Pflichten die Schwelle zur Unzumutbarkeit überschreiten würden, dürfe ihr eine solche Rechtspflicht nicht auferlegt werden.47 Im Hinblick auf das zu wählende Schutzkonzept stehe dem Gesetzgeber aller­ dings ein Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum zu, welcher in der Regelung des Beratungsschutzkonzeptes, wie es das SFHG beinhalte,48 nicht das verfassungsrechtliche Untermaßverbot49 verletze. Die Annahme, dass der Schutz des Embryos „nur mit der Mutter, aber nicht gegen sie möglich [sei]“50, könne aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht beanstandet werden. Die Schwangere müsse – anstatt verzweifelt zu einem illegalen Abbruch genötigt zu werden – letztendlich für eine Auseinandersetzung mit ihrem Konflikt und im Ergebnis infolge dessen erfolgreicher Bewältigung für die Austragung des Kindes gewonnen werden. Das Schutzkonzept, welches anstelle von Strafe mehr auf Hilfe und Unterstützung setze, büße an Schutz und Effektivität aber erheblich ein, wenn man die zu fordernde persönliche Unzumutbarkeit im Wege einer Indikation durch einen Dritten feststellen ließe.51 Die Schwangere müsse, um die zur Schwangerschaftsfortsetzung ermutigende Wirkung der Beratung nicht zu konterkarieren, selbst beurteilen dürfen, ob Gründe solchen Ausmaßes vorliegen, welche in ihrer Intensität den anderen Unzumutbarkeitsindikationen gleichen und sie daher zum Abbruch der Schwangerschaft berechtigen.52 Konkret müsse eine derartige Aufopferung an 44

BVerfGE 88, 203 ff. BVerfGE 88, 203 (252). 46 BVerfGE 88, 203 (253). 47 BVerfGE 88, 203 (255 ff.). 48 Abgesehen von der grundsätzlichen Billigung des Konzepts monierte das BVerfG aber die konkrete Ausgestaltung des Beratungsverfahrens und forderte, dass die Beratung zielorientierter, im Sinne einer Ermutigung zur Austragung des Kindes stattzufinden habe, BVerfGE 88, 203 (281 ff., 301, 306 f.). 49 Zum gegenseitigen Wechselspiel von Über- und Untermaßverbot Starck, JZ 1993, 816 (817); vgl. dazu auch Schulz, StV 1994, 38 (42). 50 BVerfGE 88, 203 (266, 281). In diesem Sinne auch Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 7: „die Schwangere als Bundesgenossin […] zu gewinnen“; krit. hierzu Dreier, JZ 2007, 261 (268). 51 BVerfGE 88, 203 (265 f.). 52 BVerfGE 88, 203 (268). 45

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens 

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eigenen Lebenswerten zu erwarten sein, welche der Schwangeren nicht mehr abverlangt werden könne.53 Die Tatsache aber, dass die Entscheidung der Schwangeren in eigener Verantwortung und unabhängig von jeglicher staatlicher Überprüfung getroffen werden müsse, ziehe die unausweichliche Konsequenz nach sich, dass der zwar beratene, allerdings nicht auf eine gegebene Indikation hin überprüfte Schwangerschaftsabbruch als rechtswidrig eingestuft werden müsse.54 Die Frau dürfe nicht selbst über Recht und Unrecht befinden.55 Das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs müsse fortbestehen.56 Auch wenn im Grundsatz von einer verantwortungsvollen Entscheidung der Schwangeren ausgegangen werden könne, müsse bedacht werden, dass ein Missbrauch der „Indikationsselbsteinschätzung“ nicht gänzlich ausgeschlossen werden könne.57 Das SFHG, welches „beratene Abbrüche“ hingegen als „nicht rechtswidrig“ einstufte, genüge den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen aufgrund der dargelegten Folgerungen nicht.58 Der Unrechtscharakter des Schwangerschaftsabbruchs müsse – zusätzlich durch ein ausdrückliches Verbot untermauert – mithilfe der Klassifizierung als rechtswidrig eine eindeutige gesetzliche Wertung aufzeigen – nicht zuletzt um das Rechtsbewusstsein in der Bevölkerung für das Lebensrecht des Embryos zu sensibilisieren und darin zu bestärken.59 Allerdings dürften die eigentlich aus dem Rechtswidrigkeitsurteil zu ziehenden Konsequenzen in den anderen Rechtsgebieten nicht vollumfänglich gezogen werden, weil sonst die Wirkung des Beratungskonzepts erheblich eingeschränkt bzw. sogar aufgehoben werden würde.60 Danach sei die strafrechtliche Nothilfe zugunsten des Embryos nach § 32 StGB, selbst in dem dann vorliegenden Falle eines rechtswidrigen Angriffs auf das Lebensrecht des Embryos, nicht möglich und zivilrechtliche Arztverträge, die einen rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruch zum Inhalt haben, müssten trotz der §§ 134, 138 BGB als rechtswirksam angesehen werden.61 Lediglich eine Ersatzpflicht der Krankenkassen müsse ausgeschlossen werden, wobei aber bedürftigen Frauen durch finanzielle Unterstützung ein Abbruch ermöglicht werden müsse.62 Auch müsse die arbeitgeberrechtliche Ver 53

BVerfGE 88, 203 (257). BVerfGE 88, 203 (270 ff.); vgl. auch Berkemann, JR 1993, 441 (444): „Figur der formellen Illegalität“. 55 BVerfGE 88, 203 (275); kritisch hierzu Wolter, GA 1996, 207 (223). 56 Krit. im Sinne einer nicht einmal symbolisch vorhandenen Wirkung Schulz, StV 1994, 38 (44). 57 BVerfGE 88, 203 (275 ff.); ebenso das Sondervotum des Richters Böckenförde, BVerfGE 88, 359. 58 BVerfGE 88, 203 (299 f.). 59 BVerfGE 88, 203 (278); a. A. Sondervotum der Richter Mahrenholz / Sommer, BVerfGE 88, 338 (354 f.); Sondervotum des Richters Böckenförde, BVerfGE 88, 359 (360 f.). 60 BVerfGE 88, 203 (280); Eser, KritV Sonderheft 1993, 132 (134): „zick-zackartige Halbherzigkeit“; Wolter, GA 1996, 207 (224): „Ein dritter, wiederum gegenläufiger ‚Ruck‘[…]“. 61 BVerfGE 88, 203 (279 f., 295); krit. Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1389). 62 BVerfGE 88, 203 (315 ff., 321 f.). 54

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

pflichtung zur Lohnfortzahlung im Falle eines rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs gegeben sein.63 Zum Schutz des Lebensrechts des Embryos müsse die Schwangere zudem mehr als bisher vor ihrem sozialen Umfeld geschützt werden, von dem nicht selten unter erheblichem psychischem Druck eine Abtreibung gefordert werde. Diese sozialen negativen Einflussnahmen müssten auch durch das Mittel strafrechtlicher Sanktionen verhindert werden.64 Schließlich, so konstatiert das Bundesverfassungsgericht, obliege dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht im Hinblick auf die Auswirkungen des Beratungskonzepts, um die zukünftige Entwicklung der rechtlichen Neuregelung absehen und notfalls reagieren zu können.65 Das Bundesverfassungsgericht traf schlussendlich nach § 35 BVerfGG eine Vollstreckungsanordnung, die bis zur gesetzgeberischen Neuregelung galt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts billigt seinen wesentlichen Aussagen und einer Gesamtbetrachtung zufolge eine rechtliche Regelung, die zumindest den schützenden Versuch unternimmt, durch verschiedenste Instrumentarien der Hilfe und Beratung auf die Entscheidung der Schwangeren Einfluss nehmen zu können, bevor das Kind faktisch ihrer alleinigen Entscheidungsgewalt überlassen werden müsse, weil die Schwangere sich ohnehin einem rechtlichen Zwang zur Austragung mit verbotenen Mitteln widersetzen könne.66 In diesem Konzept klingt die verminderte Adäquanz bzw. verminderte Wirkung eines repressiven strafrechtlichen Einsatzes bereits an. In letzter Konsequenz könne auf ihn allerdings nicht vollends verzichtet werden. Zumindest der strafrechtstheoretische Zweck einer positiven Generalprävention müsse aktiviert werden, um das Bewusstsein der Bevölkerung im Sinne eines schützenswerten, Rechte besitzenden Embryos zu animieren. Gleichzeitig wird deutlich, dass das Urteil durch ein „Wechselspiel von Grundsatz und Ausnahme“67 geprägt wird. Aus dem Gesamtkonzept des Urteils geht schließlich deutlich hervor, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber präzis detaillierte Vorgaben an die Hand geben wollte, um einen Weg zu ebnen, der durch und durch mit Prämissen gesät ist, die der gesetzlichen Regelung den verfassungsrechtlichen Geist einverleiben sollen68: „Karlsruhe locuta, causa finita.“69 63

BVerfGE 88, 203 (322 ff.). BVerfGE 88, 203 (296 ff., 308 f.). Der Gesetzgeber schuf daraufhin die Umfeldpönalisierungen des § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB n. F. sowie § 170 Abs. 2 StGB. 65 BVerfGE 88, 203 (263, 309 ff.). 66 In diese Richtung auch Gropp, GA 1994, 147 (161 f.), der den Vergleich zum „riskanten Rettungsversuch“ zieht. 67 Kluth, FamRZ 1993, 1382. 68 Vgl. Berkemann, JR 1993, 441 (442); vgl. Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 12; ausführlich hierzu Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2345); aus verfassungsrechtlicher Sicht diese (detaillierten) Vorgaben äußerst kritisch beurteilend Stahl, Bundesverfassungsgericht und Schwangerschaftsabbruch, S. 291; ebenso Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561 (568 f.); Geiger / von Lampe, Jura 1994, 20 (28); Hartmann, NStZ 1993, 483 (486); Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2339 f.). 69 Schulz, StV 1994, 38 (45). 64

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens 

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3. Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs de lege lata Der Gesetzgeber schuf daraufhin mit dem Schwangeren- und Familienhilfeände­ rungsgesetz vom 21.08.1995,70 welches im Wesentlichen71 die verfassungsrecht­ lichen Vorgaben dieses Urteils umsetzte, die aktuelle Regelung der §§ 218 ff. StGB. Der heutige § 218 Abs. 1 S. 1 StGB erklärt den Schwangerschaftsabbruch nach dem Zeitpunkt des Abschlusses der Einnistung des befruchteten Eies in die Gebärmutter (sog. „Nidation“72 bzw. „Implantation“73, § 218 Abs. 1 S. 2 StGB) für die gesamte Dauer der Schwangerschaft für strafbar. Nach § 218a Abs. 1 StGB ist allerdings „der Tatbestand des § 218 […] nicht verwirklicht, wenn 1. die Schwangere den Schwangerschaftsabbruch verlangt und dem Arzt durch eine Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 Satz 2 nachgewiesen hat, daß sie sich mindestens drei Tage vor dem Eingriff hat beraten lassen, 2. der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen wird und 3. seit der Empfängnis nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sind.“ Es handelt sich somit nach überwiegender Literaturansicht um eine „Fristenlösung mit Beratungspflicht“74, die derzeit sowohl die bedeutendste praktische Norm für vorgenommene Schwangerschaftsabbrüche,75 als auch diejenige Norm sein dürfte, die im Rahmen des Regelungskomplexes auf die größte Animosität in der Bevölkerung gestoßen ist und stößt.76 Das Beratungsschutzkonzept soll dem Lebensschutz dienen,77 indem es der Frau zwar den Weg in die Straffreiheit aufzeigt, aber gleichzeitig das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs

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Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) vom 21.08.1995, BGBl. 1995 I, S. 1050 ff. 71 Der Gesetzgeber setzte u. a. allerdings nicht die vom BVerfG geforderten Umfeldpönalisie­ rungen um. Zudem statuierte er kein ausdrückliches Verbot des Schwangerschaftsabbruchs im Rahmen des § 218a Abs. 1 StGB, wie dies in der Übergangsvorschrift der Fall war; krit. hierzu Tröndle, NJW 1995, 3009 (3018). 72 Diese soll im statistischen Durchschnittsfall mit dem 13. Tag nach der Empfängnis abgeschlossen sein, vgl. Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, §§ 218, 218a Rdnr. 13. 73 Merkel, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 295 (307). 74 Otto, Jura 1996, 135 (138); vgl. auch Dreier, JZ 2007, 261 (268); vgl. Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 218a Rdnr. 12; Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 219 StGB Rdnr. 9; Merkel, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 295 (309); Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rdnr. 1; Tröndle, NJW 1995, 3009. 75 Dreier, JZ 2007, 261 (268): „deutlich mehr als 95 %“ der vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche sollen unter die Regelung des § 218a Abs. 1 StGB fallen. Der Anteil der Abtreibungen nach der Beratungsregelung betrug im Jahr 2019 laut Bundesstatistik 96, 1 %, abrufbar unter: www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschafts​ abbrueche/_inhalt.html (zuletzt abgerufen am 05.05.2020). 76 Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 1. 77 BT-Drs. 13/1850, S. 26.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

nicht zu tangieren beabsichtigt.78 Der beratene Schwangerschaftsabbruch soll daher mit dem Makel der Rechtswidrigkeit behaftet bleiben. Nachdem ein Feststellungsverfahren für die Indikation einer sozialen Notlage nicht existiert, werden auch Abbrüche, die nach der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts an sich die „Unzumutbarkeitsschwelle“79 übersteigen und damit per se rechtfertigungsfähig wären, als rechtswidrig eingestuft. Die Beurteilung als rechtswidriges Verhalten soll allerdings in den anderen Rechtsgebieten nicht den entsprechenden Ausschlag haben, wenn das Schutzkonzept hierdurch gefährdet würde. Der Gesetzgeber hat diese Vorgaben, die das Bundesverfassungsgericht der Wirksamkeit des Beratungskonzepts wegen vorgegeben hat, dogmatisch ungelöst an die Rechtswissenschaft und die Rechtspraxis weitergeleitet.80 Dogmatische Brüche des Konzepts sind daher offenkundig. Analysiert man die Literatur zur gesetzlichen Regelung der §§ 218 Abs. 1, 218a Abs. 1 StGB, wird deutlich, dass zur Normcharakterisierung überwiegend der Begriff des „Kompromisses“ herangezogen wird.81 Dieser Versuch eines gesetzlich kodifizierten Kompromisses, der seinerseits auf widersprüchlichen Grundannahmen beruht, ist wohl als die Wurzel der – milde ausgedrückt – dogmatischen Unstimmigkeiten anzusehen. Neben dem Tatbestandsausschluss nach § 218a Abs. 1 StGB sieht § 218a StGB in den nachfolgenden Absätzen Rechtfertigungstatbestände vor. Nach überwiegender Ansicht enthält sowohl § 218a Abs. 2 StGB als auch § 218a Abs. 3 StGB Rechtfertigungsgründe, die spezielle Regelungen des allgemeinen rechtfertigenden

78

Vgl. Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, § 218a Rdnr. 3. Diese Regelungstechnik der §§ 218, 218a StGB als faktische Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses und als Verstoß gegen die strafgesetzliche Natur kritisierend Schroeder, in: FS Eser, S. 181 (187); ähnlich Otto, Jura 1996, 135 (138). 79 Das Kriterium der „Unzumutbarkeit“ als zu unbestimmt kritisierend Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1386); Weiß, JR 1993, 449 (455); vgl. zur Vorverlagerung des „Unzumutbarkeitskriteriums“ in BVerfGE 88, 203 ff. Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1384). 80 Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 22. Der Ausschluss der Nothilfe zugunsten des Ungeborenen soll z. B. durch das Entfallen der Gebotenheit der Nothilfe erfolgen, vgl. Rengier, Strafrecht BT II, § 11 Rdnr. 25; Satzger, Jura 2008, 424 (432) m. w. N. Vgl. auch Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1059, nach denen das Nothilferecht hinter der verfassungsrechtlich bestätigten Vertragspflicht zurücktreten müsse; ein Nothilferecht dennoch annehmend Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1389). 81 Die Regelung ausdrücklich als einen „Kompromiss“ bezeichnend Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr.  1059; Gropp, GA 1994, 147 (157); Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, §§ 218, 218a Rdnr. 1; Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (133); Satzger, Jura 2008, 424 (425); Schulz, StV 1994, 38; Walther / Hermes, NJW 1993, 2337; vgl. auch Hartmann, NStZ 1993, 483 (484): „jein“; abweichend Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 20, der die Kompromisshaftigkeit der Regelung nur in Bezug auf die Vertreter der unterschiedlichen Positionen anerkennt, nicht für die unmittelbar am Eingriff Beteiligten, insbesondere nicht für den Embryo im Hinblick auf sein Lebensrecht; ähnlich Laufs, NJW 1995, 3042; Tröndle, in: FS Kaiser, S. 1387 (1401).

A. Lebensschutzkonzepte am Anfang des menschlichen Lebens 

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Notstandes im Wege einer vorweggenommenen Interessenabwägung darstellen.82 Nach § 218a Abs. 2 StGB (sog. medizinisch-soziale Indikation) ist ein Schwangerschaftsabbruch, in den die Schwangere eingewilligt hat, gerechtfertigt, wenn nach ärztlicher Erkenntnis unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren ein Abbruch angezeigt ist, um ihr Leben oder eine schwerwiegende Beeinträchtigung ihres körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes abzuwenden und dies auf keinem anderen zumutbaren Wege möglich ist. Die Vorschrift des § 218a Abs. 3 StGB (sog. kriminologische Indikation) erklärt einen Schwangerschaftsabbruch ebenfalls für nicht rechtswidrig, wenn die Frau in den Abbruch einwilligt, nach ärztlicher Erkenntnis an der Frau eine Straftat nach den §§ 176–179 StGB begangen wurde und dringende Gründe dafür sprechen, dass die Schwangerschaft auf dieser rechtswidrigen Tat beruht. Seit der Empfängnis dürfen aber nicht mehr als zwölf Wochen vergangen sein. Die frühere embryopathische Indikation wurde aufgrund des Verbots einer Behindertendiskriminierung abgeschafft.83 Sie kann de lege lata allerdings unter die medizinisch-soziale Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB subsumiert werden.84 Der Gesetzgeber statuierte zusätzlich flankierende Strafvorschriften in den §§ 218b, 218c StGB, wonach spezifische ärztliche Pflichten wie die schriftliche Feststellung der Indikation oder die Möglichkeit, dass die Schwangere ihre Abbruchsgründe darlegen kann, strafrechtlich abgesichert wurden.85 Als Umfeldpönalisierungen wurden zusätzlich § 240 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 StGB und § 170 Abs. 2 StGB geschaffen.86 4. Das maßgebliche Beratungsschutzkonzept des § 219 StGB i. V. m. dem Schwangerschaftskonfliktgesetz Bereits aus der Formulierung des § 218a Abs. 1 StGB geht deutlich hervor, dass neben der Fristvorgabe und dem Verlangen der Schwangeren besonders zentral das gesetzlich vorgesehene Beratungsverfahren vor Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs im Mittelpunkt steht.87 Die Schwangerschaftskonfliktbera 82

Vgl. Duttge, in: Prütting, Medizinrecht, § 218a Rdnr. 19; vgl. Fischer, Strafgesetzbuch, § 218a Rdnr. 14; krit. Satzger, Jura 2008, 424 (430): „Rechtfertigungsgründe sui generis“ (Hervorhebung auch im Original). 83 BT-Drs. 13/1850, S. 25. 84 BT-Drs. 13/1850, S. 26. 85 Nach Schreiber, Archives of Gynecology and Obstetrics 1995, 381 (385) bringen die ärztlichen Pflichten die Regelung einer Indikationslösung näher. 86 Krit. zu den Umfeldpönalisierungen Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (613); Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (451). 87 Ebenso Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 4: „tragende Säule“; Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (737): „ […] strategisch[e] […] Spitzenposition“; Schulz, StV 1994, 38 (40); a. A. Arzt, in: GS Wolf, S. 609 (618): „Die Realität (Fristenlösung) ist prozedural versteckt“; vgl.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

tung (auch: Schwangerenkonfliktberatung) muss zwar tatsächlich in Form eines unmittelbaren räumlichen Kontakts zwischen Schwangerer und Beratungsperson stattgefunden haben, um Straffreiheit nach § 218a Abs. 1 StGB zu erlangen,88 allerdings wird eine inhaltliche Überprüfung der Beratung nahezu einhellig abgelehnt.89 Dies dürfte sich sowohl aus der Vertraulichkeit der Beratungssituation als auch aus sonst unüberbrückbar entstehenden Abgrenzungsproblemen ergeben.90 Ebenfalls muss die Schwangere dem Arzt die Bescheinigung nach § 219 Abs. 2 S. 2 StGB vorgelegt haben, welche von einer anerkannten Beratungsstelle ausgestellt sein (§ 219 Abs. 2 S. 1 StGB) und die Einhaltung der Drei-Tages-Frist (sog. Karenzfrist) bestätigen muss. Der ungewöhnlich konzipierte91 § 219 StGB enthält keine eigene Strafnorm und kann deshalb nur mittelbar über die Tatbestandsmerkmale des § 218a Abs. 1 Nr. 1 StGB strafrechtliche Relevanz für sich beanspruchen.92 Er regelt weitere inhaltliche Voraussetzungen der vorgeschriebenen Beratung. Nach der allgemein gehaltenen Zielvorgabe, dass die Beratung dem Lebensschutz dienen soll (§ 219 Abs. 1 S. 1 StGB), wird insbesondere das zentrale Anliegen der Beratung, die Schwangere zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und ihr zu helfen, eine verantwortliche und gewissenhafte Entscheidung zu treffen, nach § 219 Abs. 1 S. 2 StGB festgelegt. Dabei muss der Schwangeren bewusst gemacht werden, dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft ein eigenes Recht auf Leben auch ihr gegenüber besitzt, § 219 Abs. 1 S. 3 StGB. Die Vorschrift des § 219 Abs. 1 StGB wird teilweise als „ihrem Inhalt nach unsinnig“93 angesehen, weil eine Durchsetzung „der weithin unverbindlichen […]

auch Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch, S. 547, die das Abbruchverlangen der Schwangeren de facto als einzige Voraussetzung für die Straflosigkeit ansieht, was durch das Fordern anderer (Schein-)Voraussetzungen verhüllt werden solle. 88 Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 22. 89 Vgl. Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, § 218a Rdnr. 5, wonach eine inhaltliche Überprüfung der Beratung ausgeschlossen sein soll und „nur [eine] reine Scheinberatung, die alle wichtigen Informationen unterdrückt oder wider besseres Wissen falsch vermittelt, […] keine Beratung im Sinne der Vorschrift [ist]“; ebenso Duttge, in: Prütting, Medizinrecht, § 218a Rdnr. 15; Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 6; Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 33; Rogall, in: SK-StGB, § 219 Rdnr. 27; Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, § 219 Rdnr. 6; vgl. dazu auch noch BT-Drs. 13/1850, S. 21. 90 BT-Drs. 13/285, S. 17 f.; Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 33; vgl. ausführlicher zur Vertraulichkeit der Schwangerschaftskonfliktberatung Rudolphi, in: FS Bemmann, S. 412 ff. 91 Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, § 219 Rdnr. 1 spricht von einem „Unikat“; vgl. auch Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 1: „Fremdkörper im StGB“; vgl. Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 219 StGB Rdnr. 16, die zum Ausdruck bringen, dass § 219 StGB „als Verwaltungsrecht systemwidrig im Rahmen des Strafrechts geregelt“ ist. 92 Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 32; Rogall, in: SK-StGB, § 219 Rdnr. 1. Allerdings scheidet eine inhaltliche Überprüfung der Beratung, wie festgestellt, aus. 93 Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, § 219 Rdnr. 1.

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Programmsätze“94 nicht möglich sei.95 Dennoch kommt ihr im Hinblick auf die konkrete Zielvorgabe der Beratung, die auch das Bundesverfassungsgericht deut­ licher im Sinne einer Zielorientierung zugunsten des Lebens verstärkt wissen wollte, eine stringente Richtungsweisung zu. Die §§ 218a Abs. 1, 219 StGB müssen mit den Regelungen des Gesetzes zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG) vom 27.07.1992,96 auf das § 219 Abs. 1 S. 5 StGB verweist, zusammengelesen werden.97 Das SchKG konkretisiert die strafrechtlichen Vorgaben des StGB eingehender; insbesondere soll nach § 5 Abs. 1 S. 1 SchKG die Beratung nach § 219 StGB „ergebnisoffen“ geführt werden. Nach § 5 Abs. 1 S. 2 SchKG geht sie von der Verantwortlichkeit der Frau aus und soll nach § 5 Abs. 1 S. 3 SchKG „ermutigen und Verständnis wecken, nicht belehren oder bevormunden“. Hieran wird kritisiert, dass laut der gesetzlichen Regelung nicht das Ergebnis der Beratung als solcher ergebnisoffen sein soll, sondern, dass auch die Beratung selbst ergebnisoffen geführt werden soll,98 was zu einer Verwässerung der Zielvorgabe des Lebensschutzes führe.99 5. Die umstrittene Rechtsnatur des § 218a Abs. 1 StGB Die Vorschrift des § 218a Abs. 1 StGB stellt einen absoluten Ausnahmefall ohne historisches Vorbild in der strafrechtlichen Dogmatik dar.100 Nach ihr soll der Tatbestand des § 218 StGB bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB zwar ausgeschlossen und der Schwangerschaftsabbruch damit insgesamt

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Fischer, Strafgesetzbuch, § 219 Rdnr. 1. Harsche Kritik übt auch Rogall, in: SK-StGB, § 219 Rdnr. 1: „Tiefpunkt der deutschen Strafgesetzgebungskunst“; a. A. Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 1: „[…] ‚definitorische Herzstück‘ der Beratungsregelung“; ebenso Rudolphi, in: FS Bemmann, S. 412 (414). 96 Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (SchKG) vom 27.07.1992 (früherer Titel: Gesetz über Aufklärung, Verhütung, Familienplanung und Beratung), BGBl. 1992 I, S. 1398 ff. 97 BT-Drs. 13/1850, S. 20; Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 219 Rdnr. 1, 2; Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 3; Safferling, in: Matt / Renzikowski, StGB, § 219 Rdnr. 3. Dadurch soll vermieden werden können, dass sich ein Widerspruch zwischen den sich teils entgegengesetzten Zielrichtungen des § 219 StGB (Ausrichtung auf den Lebensschutz) einerseits und des SchKG („Ergebnisoffenheit“) andererseits etabliert, wie dies häufig angenommen wird, vgl. Rogall, in: SK-StGB, § 219 Rdnr. 1; vgl. ferner Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (132), der in den beiden Beratungszielen „die Quadratur des Kreises“ erblickt. 98 Beckmann, Der Streit um den Beratungsschein, S. 24. 99 Tröndle, NJW 1995, 3009 (3017). 100 Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 19; ebenso Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 219 StGB Rdnr. 9; Satzger, Jura 2008, 424 (426); Tettinger, in: FS Ipsen, S. 767 (768). 95

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

straffrei gestellt sein,101 er soll jedoch dennoch rechtswidrig bleiben.102 Es kann daher nicht verwundern, dass die rechtliche Konstruktion in der Literatur auf scharfe Kritik gestoßen ist.103 Insbesondere wird die Inkonsequenz einer durch das Bundesverfassungsgericht für ausgeschlossen erklärten Nothilfe nach § 32 StGB und die dennoch anzuerkennende Wirksamkeit des Arztvertrags kritisiert. Das Bundesverfassungsgericht (und damit auch der Gesetzgeber) halte „zwar die Fahne der Rechtswidrigkeit [hoch]“104, ziehe allerdings die daraus resultierenden Konsequenzen nicht.105 Für die Frau entstünden bei einem Abbruch daher keine fühlbaren Konsequenzen. Die Rechtsnatur des § 218a Abs. 1 StGB ist damit, obwohl der Wortlaut für sich betrachtet eindeutig klingt, umstritten. Die Bedeutung der dogmatischen Klassifizierung des § 218a Abs. 1 StGB wird zwar ebenfalls sehr unterschiedlich beurteilt,106 im Folgenden sollen allerdings kurz einige Hauptströme der unterschiedlichen Einordnung des § 218a Abs. 1 StGB dargestellt werden, um Erkenntnisse schöpfen zu können, die für eine nachfolgende Analyse der prozeduralen Struktur der Norm herangezogen werden können. Eine eingehende Befassung mit den dogmatischen Besonderheiten der Ansichten und ihrer jeweiligen Kritik muss allerdings an dieser Stelle unterbleiben, weil andernfalls der Rahmen der Arbeit gesprengt würde. Beim Streit um die Rechtsnatur des § 218a Abs. 1 StGB handelt es sich um die Frage, wie sich ein in einem anderen Paragraphen kodifizierter Tatbestandsausschluss auf die eigentliche Strafbegründungsnorm auswirken kann; verkürzt ausgedrückt, ist das Augenmerk auf das jeweilige Verhältnis, in welchem § 218a Abs. 1 StGB zu § 218 Abs. 1 StGB steht, zu richten.107 Seibel nimmt im Rahmen der An 101

Nach Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 12 ist die Straffreiheit im Ergebnis die einzige unbestreitbare Folge des § 218a Abs. 1 StGB. 102 Nach Gropp, in: MüKo-StGB, § 219 Rdnr. 4 resultiert die Rechtswidrigkeit des beratenen Abbruchs aus der Gesetzgebungsgeschichte der Vorschrift; Otto, Jura 1996, 135 (139) möchte sie aus einem Umkehrschluss zu § 218a Abs. 2, Abs. 3 StGB ziehen. 103 Eser, KritV Sonderheft 2000, 43 (48): „rechtliche Schizophrenie“; Gropp, in: MüKoStGB, § 218a Rdnr. 7: „Eindruck einer ‚eierlegenden Wollmilchsau‘ […]“; Satzger, Jura 2008, 424 (430) spricht von einem „Eiertanz des Gesetzgebers“; Schulz, StV 1994, 38 (44): „dogmatischer Kraftakt“; krit. auch Berkemann, JR 1993, 441 (443); Eschelbach, in: von HeintschelHeinegg, BeckOK-StGB, § 218a Rdnr. 12; Fischer, Strafgesetzbuch, § 218a Rdnr. 1; Hartmann, NStZ 1993, 483 (484); Schroeder, in: FS Eser, S. 181 (184); a. A. Schweiger, ZRP 2018, 98. 104 Gropp, GA 1994, 147 (159). 105 Vgl. Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1059; Dreier, JZ 2007, 261 (268); vgl. Hoer­ ster, JuS 1995, 192 (194): „Etikettenschwindel“; vgl. Jakobs, JR 2000, 404 (407) und Gropp, GA 1994, 147 (159): „protestatio facto contraria“; Lipp, in: Laufs / Katzenmeier / Lipp, Arztrecht, VII Rdnr. 55; Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rdnr. 2; Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2342): „bedrohliche Symbolik“. 106 Eser / Koch, Schwangerschaftsabbruch und Recht, S. 122 sieht „die Heftigkeit und Dauer dieser Auseinandersetzungen […] in der vergleichsweise hoch entwickelten deutschen Strafrechtsdogmatik“ begründet, welche zu einer „Hochstilisierung zur Verfassungsfrage“ führe. 107 Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 26 ff.

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sichten eine Differenzierung in sog. „zweistufige“ und „einstufige“ Theorien vor: Während die zweistufigen Theorien § 218 Abs. 1 StGB trotz der Existenz von § 218a Abs. 1 StGB zunächst als objektiv verwirklicht ansehen, um ihn sodann im Rahmen einer Art zweiten Wertungsstufe wieder entfallen zu lassen, sehen die einstufigen Theorien mit dem Durchlaufen des Verfahrens von § 218a Abs. 1 StGB bereits die tatbestandlich vertypte Handlung des § 218 StGB als nicht verwirklicht an.108 Während Langer als Vertreter der „zweistufigen“ Theorie bei einer Erfüllung des § 218a Abs. 1 StGB lediglich den Straf- nicht aber den Unrechtstatbestand des § 218 StGB ausschließen möchte,109 favorisiert Schulz eine Lösung, bei welcher unter Bezugnahme auf die ultima ratio-Funktion des Strafrechts der beratene Abbruch „statt ‚nicht rechtswidrig‘ […] ‚nicht strafrechtswidrig‘ […]“ zu benennen sei.110 Schlehofer hingegen erkennt in § 218a Abs. 1 StGB einen bloßen Strafunrechtsausschluss, weswegen bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB die spezifische Strafrechtswidrigkeit entfalle.111 Andere Stimmen wiederum nehmen einen fiktiven Tatbestandsausschluss an, indem sie das an den Tag gelegte Verhalten zwar unter die Begründungsnorm des § 218 Abs. 1 StGB subsumieren und davon ausgehen, dass dieses nicht mehr durch eine Beratung und die Erfüllung der übrigen Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB zurückgenommen werden könne, allerdings der Tatbestand sodann aufgrund einer Fiktion ausgeschlossen werden müsse.112 Unter den einstufigen Theorien hingegen findet sich sowohl die Ansicht des „normalen Tatbestandsausschlusses“113 als auch die Ansicht, die in § 218a Abs. 1 StGB einen „Tatbestandsausschluss sui generis“ erblickt.114 Daneben haben sich auch alternative Lösungsvorschläge herausgebildet, welche die Problematik vermehrt auf Rechtswidrigkeitsebene zu lösen versuchen. Während ein Teil hiervon zumindest die Wirkungen des § 218a Abs. 1 StGB als solche eines Rechtfertigungsgrundes ansieht,115 stufen andere Ansichten § 218a Abs. 1 108

Seibel, Straf- und zivilrechtliche Probleme des „beratenen“ Schwangerschaftsabbruchs, S. 28. 109 Langer, ZfL 1999, 47 (51 f.). Zu diesem Ergebnis gelangt er mittels teleologischer Auslegung von § 218a Abs. 1 StGB. 110 Schulz, StV 1994, 38 (44). 111 Schlehofer, in: MüKo-StGB, Vor § 32 Rdnr. 63. 112 So Wiebe, ZfL 2000, 12 (16). 113 Otto, Jura 1996, 135 (139); in diesem Sinne wohl auch Gropp, in: MüKo-StGB, § 218a Rdnr. 3 ff., der auf die dogmatische Einordnung nicht weiter eingeht; vgl. auch Schroeder, in: FS Eser, S. 181 (183): „negativ formulierte Tatbestandsmerkmale“. 114 Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 17 (Hervorhebung auch im Original); ähnlich Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 219 StGB Rdnr. 9; vgl. auch Rogall, in: SKStGB, § 218a Rdnr. 4, der sich dem Gesetzgeber bzw. dem BVerfG schlicht zu beugen scheint: „Wo positives Recht unter Berufung auf das BVerfG gesetzt wird, schweigt die Vernunft“. 115 Gropp, GA 1994, 147 (158): „kaum verhüllte Rechtfertigung“ (Hervorhebung auch im Original); ebenso Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1386).

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StGB noch weitergehender – im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts  – explizit als Rechtfertigungsgrund ein.116 Andere Ansichten plädieren wiederum für einen „Rechtswidrigkeitsausschluß sui generis“117. Die verschiedenen Ansichten verdeutlichen im Ergebnis, dass das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Zielvorgabe mit auf den Weg gegeben hat, die die strafrechtliche Dogmatik augenscheinlich überfordert und zu den vielfältigsten Lösungsvorschlägen beigetragen hat. Dies ist als erhebliches Gesetzesdefizit aufzufassen, nachdem eine klare dogmatische Lösung besonders im Strafrecht dazu beitragen soll, dass die Strafnorm in der Gesellschaft auf Akzeptanz stößt. Ein unschlüssiges Konzept lässt an der Konsistenz des dogmatischen Strafrechts­systems starke Zweifel aufkommen und hinterlässt Verunsicherung über die Grenzen von Recht und Unrecht. Nach diesem Hauch von Kritik soll es mit der Darstellung des Rechts zum Schwangerschaftsabbruch sein Bewenden haben. Im Folgenden wendet sich die Arbeit der mit dem Schwangerschaftsabbruch eng verbundenen Präimplantationsdiagnostik zu.

II. Die Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG Unter dem Blickwinkel staatlicher Lebensschutzkonzepte des Medizinstrafrechts, die teilweise als Gegenstand einer gesetzlichen Prozeduralisierungsstrategie aufgefasst werden, soll im Folgenden auch die Präimplantationsdiagnostik rechtlich dargestellt werden. 1. Das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID; englisch: preimplantation genetic diagnosis / PGD) handelt es sich um ein vorgeburtliches Untersuchungsverfahren,118 bei dem extrakorporal erzeugte Embryonen119 vor ihrem Transfer in den mütterlichen 116

Fischer, Strafgesetzbuch, § 218a Rdnr. 5 m. w. N.; Lipp, in: Laufs / Katzenmeier / Lipp, Arztrecht, VII Rdnr. 55; Merkel, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 295 (358); krit. hierzu Satzger, Jura 2008, 424 (430). 117 Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2341). 118 Ferdinand, Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik aus verfassungsrechtlicher Sicht, S. 42. Die Polkörperbiopsie, bei welcher nur die genetischen Anlagen der Eizelle, nicht die der totipotenten Zelle untersucht werden, stellt ebenfalls ein Verfahren der PID dar, vgl. Spranger, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 155; a. A. Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 56. Im Folgenden soll diese Methode allerdings außen vor bleiben. 119 Bei der „in vitro Fertilisation“ (IVF) handelt es sich um ein Verfahren, bei welchem die Eizelle der Frau mit der Samenzelle des Mannes in einem Reagenzglas befruchtet wird, vgl. Steinke / Rahner, in: Steinke / Rahner / Middel u. a., Präimplantationsdiagnostik, S. 13 (32). Bei

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Uterus auf bestimmte genetische Veränderungen hin untersucht werden.120 Die PID stellt daher eine Kombination aus Humangenetik und Reproduktionsmedizin dar.121 Bei dem dreigeteilten Verfahren werden embryonale Zellen isoliert und auf spezifische Erbkrankheiten untersucht. Unter Erbkrankheiten versteht man monogen bedingte Erkrankungen sowie numerische und strukturelle Chromosomenstörungen.122 Die seit der Befruchtung verstrichene Zeitspanne entscheidet in diesem Zusammenhang darüber, ob es sich um eine „Blastomeren-“ (auch „frühe PID“) oder „Blastozystenbiopsie“ („späte PID“) handelt.123 Werden embryonale Zellen (sog. Blastomere) im Sechs- bis Acht-Zell-Stadium entnommen, spricht man von einer Blastomerenbiopsie; erfolgt hingegen eine Entnahme von Trophektoderm­ zellen124 im sog. Blastozystenstadium, handelt es sich um eine Blastozystenbiopsie.125 Bis zum Acht-Zell-Stadium wird davon ausgegangen, dass die Zellen des Embryos noch totipotent sind, sich also unter geeigneten Umständen noch zu einem eigenen, vollständigen Organismus entwickeln können.126 Der Übergang der Totipotenz der Zellen zur Pluripotenz ist allerdings fließend127 und wird auch der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI) wird ein einzelnes Spermium unter mikro­skopischer Kontrolle direkt in die Eizelle eingebracht. Um eine PID durchführen zu können, ist ein Verfahren der künstlichen Befruchtung zwingend erforderlich. 120 Die Norm des § 3a Abs. 1 ESchG enthält eine Legaldefinition der PID; vgl. auch Khosravi, Die Strafbarkeit nach dem Embryonenschutzgesetz und Stammzellgesetz, S. 4; Weschka, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und therapeutisches Klonen: Status und Schutz des menschlichen Embryos vor den Herausforderungen der modernen Biomedizin, S. 29 f. Zu den präimplantiven Untersuchungsverfahren vgl. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 38 ff.; Montag / Toth / Strowitzki, in: Diedrich / Ludwig / Griesinger, Reproduktionsmedizin, S. 269 (277 ff.); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 9. 121 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 128. 122 Deutscher Ethikrat, Präimplantationsdiagnostik, S. 16 ff.; Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 18 ff.; Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 12; Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 39 ff.; Pelchen / Häberle, in: Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3a ESchG Rdnr. 7. 123 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 27 ff.; Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (70); Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 16 ff. 124 Die Blastozyste, wie die Zelle ca. fünf Tage nach ihrer Entstehung bezeichnet wird, unterteilt sich in eine innere Zellmasse (sog. Embryoblast), aus welcher sich der Fetus entwickelt, und eine äußere Zellmasse (sog. Trophektoderm, auch Trophoblast genannt), aus welcher sich die Plazenta bildet, Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 17 f. m. w. N. 125 Montag / Toth / Strowitzki, in: Diedrich / Ludwig / Griesinger, Reproduktionsmedizin, S.  269 (270). Zum Streit, ob die Untersuchung von Trophektodermzellen überhaupt unter das Verbot des § 3a Abs. 1 ESchG fällt vgl. Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 114 ff. Dies verneinend Frommel, JZ 2013, 488 (489 ff.). 126 Deutscher Ethikrat, Präimplantationsdiagnostik, S. 11; Weschka, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und therapeutisches Klonen: Status und Schutz des menschlichen Embryos vor den Herausforderungen der modernen Biomedizin, S. 30. 127 Vgl. Leopoldina / acatech / Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Adhoc-Stellungnahme Präimplantationsdiagnostik (PID) – Auswirkungen einer begrenzten Zulassung in Deutschland, S. 8 f.

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in medizinischen Fachkreisen als unsicher bezeichnet.128 Die Unterscheidung ist allerdings signifikant, weil die einem Embryo entnommene totipotente Zelle selbst als „Em­bryo“ i. S. d. § 8 Abs. 1 ESchG angesehen und als solche spezifisch geschützt wird.129 Nachdem für den Embryo in vitro keine therapeutischen Maßnahmen in Betracht kommen, sollen anschließend nur diejenigen Embryonen auf die Mutter übertragen werden, die einen negativen Befund aufweisen.130 Genetisch auffällige Embryonen, bei denen der befürchtete vererbte Defekt diagnostiziert wurde, werden hingegen verworfen bzw. nicht weiter kultiviert.131 Das Ziel dieses beschriebenen selektiven Verfahrens besteht somit darin, einem Paar, das einen hohen Risikofaktor für die Übertragung einer Erbkrankheit auf den Nachwuchs in sich birgt, mittels früher Diagnostik die Geburt eines gesunden Kindes zu ermöglichen respektive die Wahrscheinlichkeit für ein gesundes Kind erheblich zu steigern.132 2. Der Gang der Kodifizierung der PID im Gesetz Die PID, deren Anfänge sich in den frühen 1990er Jahren etablierten,133 war in Deutschland lange Zeit sowohl rechtlich als auch ethisch in höchstem Maße umstritten. In diesem Zusammenhang wurde vehement diskutiert, ob die künst­ liche Befruchtung zur Durchführung einer PID bzw. die anschließende genetische Untersuchung pluripotenter134 Zellen und / oder die Verwerfung des auffälligen Rest-Embryos unter eine Verbotsnorm des ESchG fällt. Dabei bestand im Besonderen Streit über die Auslegung des § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG, der die künstliche Befruchtung von Eizellen – sollten diese zu einem anderen Zweck befruch-

128

Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 34; vgl. Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 65; vgl. Ruso / T höni, MedR 2010, 74 (76). 129 Krit. hierzu Kreß, ZRP 2010, 201 (204). 130 Vgl. Beckmann, MedR 2001, 169 (174); vgl. Pelchen / Häberle, in: Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3a ESchG Rdnr. 1. 131 Beckmann, MedR 2001, 169 (171). 132 Auch bei der PID kann es naturgemäß zu Fehldiagnosen kommen und ein kranker Em­ bryo implantiert werden. Es stellen sich daher die bekannten haftungsrechtlichen Probleme des „Kindes als Schaden“, vgl. BVerfGE 96, 375 ff.; Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (92 f.); Schumann, MedR 2010, 848 (851). 133 Hübner / Pühler, MedR 2011, 789. 134 Pluripotente Zellen können sich zwar zu den 300 verschiedenen Zellarten entwickeln, besitzen im Gegensatz zu totipotenten Zellen aber nicht mehr die Fähigkeit zur Ganzheits­bildung, vgl. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 22. Sie stellen daher keinen Embryo i. S. d. § 8 Abs. 1 ESchG dar. Eine Untersuchung an totipotenten Zellen stellte bis zur Neuregelung unbestritten zumindest einen Verstoß gegen § 2 Abs. 1 ESchG, § 6 Abs. 1 ESchG jeweils i. V. m. § 8 Abs. 1 ESchG dar, vgl. nur Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (191) m. w. N.; Bögershausen, Präimplantations­diagnostik, S.  58 m. w. N.; Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 34 f.

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tet werden, als sie der Frau, von der sie stammen, zu übertragen135 – unter Strafe stellt, als auch über die Auslegung des § 2 Abs. 1 ESchG, welcher die Verwendung eines Embryos zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck verbietet.136 Diese rechtlichen Unsicherheiten führten dazu, dass die PID in Deutschland faktisch als verboten galt und praktisch nicht durchgeführt wurde,137 wodurch ein „PID-Tourismus“ entstand.138 Der fünfte Strafsenat des Bundesgerichtshofs entschied in seinem bekannten Grundsatzurteil vom 06.07.2010,139 dass eine PID an pluripotenten Zellen des ­Embryos – im Gegensatz zu einer PID an totipotenten Zellen – weder gegen § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG noch gegen § 2 Abs. 1 ESchG verstoße.140 Dem Urteil lag der Sachverhalt eines Selbstanzeige erstattenden Berliner Reproduktionsmediziners 135

Einen hinreichenden Tatverdacht nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG durch die PID bejahend: Eröffnungsbeschluss des KG Berlin NStZ 2009, 293 (294 Rdnr. 2); Beckmann, MedR 2001, 169 (170) stellt auf den einzelnen Vorgang der künstlichen Befruchtung ab. Zu diesem Zeitpunkt stehe die „Qualität“ des individuellen Embryos aber noch nicht fest, sodass das spätere „Endziel“ der Herbeiführung einer Schwangerschaft nicht berücksichtigt werden könne. Die Entscheidung für einen Transfer werde schließlich erst nach der Untersuchung gefällt; ähnlich Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem, S. 119 ff.; ­Middel, Verfassungsrechtliche Fragen der Präimplantationsdiagnostik und des therapeutischen Klonens, S. 38 ff.; Renzikowski, NJW 2001, 2753 (2755 f.). Dagegen lehnt Schneider, MedR 2000, 360 (362) einen Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG mit der Begründung ab, es werde ein einheitlicher Vorgang künstlich aufgespalten. Zudem verstoße die „Ausschließlichkeit“ der Absicht, eine Schwangerschaft herbeizuführen, gegen Art. 103 Abs. 2 GG; ähnlich Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (192); Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 47 f.; Czerner, MedR 2011, 783 (786); Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 36 ff.; Weschka, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und therapeutisches Klonen: Status und Schutz des menschlichen Em­ bryos vor den Herausforderungen der modernen Biomedizin, S. 35 ff. 136 Eine Strafbarkeit nach § 2 Abs. 1 ESchG durch die Entnahme und Untersuchung pluripotenter Zellen bzw. durch ein Verwerfen des Rest-Embryos bei positivem Befund bejahen Böcken­förde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem, S. 132 ff.; Middel, Verfassungsrechtliche Fragen der Präimplantationsdiagnostik und des therapeutischen Klonens, S. 47 f. nur in Bezug auf die Entnahme und die Untersuchung der Zelle; Renzikowski, NJW 2001, 2753 (2756 f.); Weschka, Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und therapeutisches Klonen: Status und Schutz des menschlichen Embryos vor den Herausforderungen der modernen Biomedizin, S. 45 m. w. N.; a. A. Bögershausen, Präimplantations­ diagnostik, S. 54 f.; Czerner, MedR 2011, 783 (786); Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 39 f.; Schneider, MedR 2000, 360 (364); Schroth, NStZ 2009, 233 (237 f.). 137 Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (193); Faßbender, NJW 2001, 2745 (2747); Frister / L ehmann, JZ 2012, 659; Spranger, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 155 (156). 138 Steinke / Rahner, in: Steinke / Rahner / Middel u. a., Präimplantationsdiagnostik, S. 13 (48). Eine niedrige Schwelle für medizinrechtliche Verfahren in Nachbarländern stellt jedoch bei weitem kein zureichendes Argument dar, die Vorschriften in Deutschland entsprechend anzugleichen, vgl. Krüger / Berchtold, Der Gynäkologe 2012, 65 (69); Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 109. 139 BGHSt 55, 206 ff. 140 BGHSt 55, 206 (LS.). Zuvor hatte auch schon das LG Berlin eine Strafbarkeit nach diesen Normen abgelehnt, LG Berlin, BeckRS 2010, 06423.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

zugrunde, der bei drei Paaren mit einer Veranlagung zur Vererbung schwerer Erbkrankheiten eine „in vitro Fertilisation“ (IVF) durchführte und pluripotente Zellen der Embryonen auf Defekte untersuchte, um anschließend nur diejenigen Embryonen zu transferieren, die einen negativen, Gesundheit verheißenden Befund aufwiesen. Der Bundesgerichtshof sprach den Arzt schließlich frei. Eine Strafbarkeit des Arztes könne dem ESchG nicht entnommen werden. Die Absicht, eine Schwangerschaft der Frauen herbeizuführen, dominiere bei der Befruchtungshandlung. Dass der Arzt die Übertragung der Embryonen von der objektiven Bedingung der Unauffälligkeit ihres Erbmaterials abhängig stellte oder Nebenzwecke verfolgte, sei insoweit unschädlich. Die einzelnen Handlungen müssten in ihrem Gesamtzusammenhang gesehen werden. Eine Strafbarkeit nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 ESchG sei daher nicht gegeben.141 Auch führt der Bundesgerichtshof gegen ein absolutes Verbot der PID an pluripotenten Zellen den Willen des historischen Gesetzgebers und die Wertungen des ESchG an. Dem ESchG ließe sich keine Lebenserhaltungspflicht um jeden Preis entnehmen. Die §§ 2 Abs. 2, 6 Abs. 2, 7 Abs. 2 ESchG würden primär einen anderen Zweck als den der Lebenserhaltung des Embryos verfolgen. Zudem sei auch die Wertung des § 3 S. 2 ESchG zu berücksichtigen, der die Spermienselektion bei geschlechtsgebundenen Krankheiten erlaube.142 Gegen ein Verbot spreche letztendlich, dass sich ansonsten ein Wertungswiderspruch zu den Regularien des Schwangerschaftsabbruchs ergeben würde.143 Der Bundesgerichtshof betont allerdings, dass eine PID an pluripotenten Zellen nicht vollumfänglich zugelassen werden dürfe, sondern die Untersuchung auf schwerwiegende genetische Schäden beschränkt werden müsse.144 Auch eine Strafbarkeit nach § 2 Abs. 1 ESchG sei nicht gegeben, weil keine Verwendung eines Embryos zu einem nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck vorliege. Das Tatbestandsmerkmal des „Verwendens“ müsse dem Sinn und Zweck des ESchG gemäß ausgelegt werden. Verwendet würden lediglich die zu unter­ suchenden Zellen, der Embryo hingegen werde durch die Untersuchung der Zellen nicht gefährdet. Auch an dieser Stelle argumentiert der Bundesgerichtshof mit der Wertentscheidung des § 3 S. 2 ESchG. Weder die Entnahme noch die Untersuchung der Zellen würden demnach § 2 Abs. 1 ESchG verletzen.145 Eine Tatbestandserfüllung könne des Weiteren auch nicht in dem Absterbenlassen bzw. Wegschütten der kranken Embryonen gesehen werden. Unabhängig davon, dass es sich um ein Unterlassen handele, bei welchem bereits die Garantenstellung des Arztes zweifelhaft sei, könne dem Arzt eine Übertragung der kranken Embryonen auf die Frau gegen deren Willen – nicht zuletzt auch aus rechtlicher 141

BGHSt 55, 206 (210 ff. Rdnr. 14 ff.). Krit. Reiß, HRRS 2010, 418 (419). 143 Zum Ganzen BGHSt 55, 206 (215 Rdnr. 26). 144 BGHSt 55, 206 (216 f. Rdnr. 29). 145 BGHSt 55, 206 (217 ff. Rdnr. 31 ff.). 142

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Sicht – nicht zugemutet werden. Schließlich könne dem ESchG auch keine Pflicht zur unbegrenzten Kryokonservierung entnommen werden.146 Gleichzeitig hebt das Urteil evident hervor, dass es Aufgabe des Gesetzgebers sei, eine Regelung der PID zu verabschieden, in welcher ihre Gründe und Grenzen geregelt werden, um das drängende Rechtssicherheitsbedürfnis zu stillen.147 Nach erbitterten, impulsiven Debatten148 über die Zulässigkeit der PID in Deutschland erließ der Deutsche Bundestag am 21.11.2011 das Präimplantationsdiagnostikgesetz (PräimpG)149. Dieses Gesetz, das im Wesentlichen die Ausführungen des Bundesgerichtshofs in Gesetzesform goss,150 statuiert in dem neu eingefügten § 3a Abs. 1 ESchG ein grundsätzliches Verbot der PID, regelt aber in § 3a Abs. 2 ESchG materielle und in § 3a Abs. 3 S. 1 ESchG formelle Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Durchführung der PID als sanktionslos angesehen wird. Im Folgenden sollen die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2, Abs. 3 ESchG kurz erläutert werden. 3. Die einzelnen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2, Abs. 3 ESchG Die Vorschrift des § 3a Abs. 2 ESchG enthält zwei Rechtfertigungsoptionen.151 Nach § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG ist die Durchführung einer PID an Zellen des Em­ bryos152 nicht rechtswidrig, wenn aufgrund der genetischen Disposition der Eizell­

146

BGHSt 55, 206 (219 f. Rdnr. 38). BGHSt 55, 206 (217 Rdnr. 29). 148 Es konkurrierten drei Gesetzesentwürfe des Bundestages: Flach / Hintze u. a., BT-Drs. 17/5451; Röspel / Hinz u. a., BT-Drs. 17/5452 sowie Göring-Eckardt / Kauder u. a., BT-Drs. 17/5450. 149 Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (PräimpG) vom 21.11.2011, BGBl. 2011 I, S. 2228 f. 150 Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69. 151 Zur Rechtfertigungswirkung des § 3a Abs. 2 ESchG und dem intendierten Aussagegehalt der Dogmatik Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 89. 152 Die Vorschrift des § 3a ESchG differenziert nicht zwischen einer PID an totipotenten und an pluripotenten Zellen. Einer Ansicht zufolge sei dies nicht erforderlich, weil die PID an totipotenten Zellen des Embryos nach wie vor nach §§ 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 ESchG verboten sei, vgl. Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 237; Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (660); Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 113 f.; im Erg. ebenso Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 104. Auch von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 107 f. sieht die Untersuchung totipotenter Zellen trotz fehlender gesetzlicher Konkretisierung als strafbar an; a. A. Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (88 ff.) und Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (634 f.), die § 3a ESchG als lex specialis gegenüber diesen Vorschriften ansehen. Auch Frommel, JZ 2013, 488 (490) plädiert für eine Erfassung der Blastomerenbiopsie durch § 3a ESchG, sieht jedoch die Trophektodermbiopsie als von den Restriktionen des § 3a 147

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

spenderin oder des Samenspenders oder von beiden für deren Nachkommen ein hohes Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit besteht. Weiterhin ist die schriftliche Einwilligung der Frau, von der die Eizelle stammt, erforderlich. Die genetische Untersuchung der embryonalen Zellen auf die Gefahr dieser bestimmten Krankheit, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik durchzuführen ist, muss ferner von der Absicht getragen sein, eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen. Nach § 3a Abs. 2 S. 2 ESchG handelt ebenfalls nicht rechtswidrig, wer eine PID mit schriftlicher Einwilligung der Frau, von der die Eizelle stammt, vornimmt, um eine schwerwiegende Schädigung des Embryos festzustellen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Tot- oder Fehlgeburt führen wird. Problematisch an diesem Rechtfertigungsgrund des Satzes 2 ist, dass er eine medizinische Indikation nicht explizit voraussetzt, weshalb einer Ansicht zufolge, eine Diagnostik des Embryos ohne jegliche Anhaltspunkte „[…] ‚ins Blaue hinein‘  […]“153 erfolgen könne. Die herrschende Meinung lehnt dies allerdings überzeugend mit der Intention des Gesetzgebers, eine pränidative Untersuchung embryonaler Zellen nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zu erlauben, ab.154 In diesem Zusammenhang ist allerdings an den Gesetzgeber zu appellieren, eine Einschränkung des § 3a Abs. 2 S. 2 ESchG de lege ferenda vorzunehmen.155 In der für eine strafrechtliche Norm untypischen156 Regelung des § 3a Abs. 3 S. 1 ESchG werden verfahrensrechtliche Voraussetzungen einer PID statuiert: So muss die Frau nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 1 ESchG über die medizinischen, psychischen und sozialen Folgen beraten und aufgeklärt werden, wobei die Aufklärung

ESchG nicht erfasst an. Für eine Erfassung der Trophektodermbiopsie von § 3a ESchG: VGH München, BeckRS 2015, 55128 Rdnr. 20; VGH München, BeckRS 2019, 1665 Rdnr. 49; VG München, BeckRS 2016, 54334; diff. hingegen Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 69 ff., die die „späte“ PID an pluripotenten Zellen von der Regelung des § 3a Abs. 3 ESchG ausnehmen möchte, die „frühe“ PID an totipotenten Zellen hingegen nicht. Eine explizite Bezugnahme des § 3a Abs. 1 ESchG auf das embryonale Zellstadium wäre de lege ferenda wünschenswert. 153 Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 45; ähnlich Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 68 f. 154 Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (662 f.) befürworten eine teleologische Reduktion des Rechtfertigungsgrundes des § 3a Abs. 2 S. 2 ESchG in der Weise, dass dieser eine medizinische Indikation voraussetze. Eine Strafbarkeit der sodann rechtswidrigen PID ohne Indikation im Falle des § 3a Abs. 2 S. 2 ESchG scheide allerdings aufgrund von Art. 103 Abs. 2 GG aus; vgl. auch Frister, in: Dekan der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Wissenschaftsrecht und Wissenschaftspraxis, S. 115 (122); vgl. Frommel, JZ 2013, 488 (491); vgl. Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 276; vgl. Kubiciel, NStZ 2013, 382 (385); vgl. Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 99 f. 155 Ebenso Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 16; neutral Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 256. 156 Hübner / Pühler, MedR 2011, 789 (793). An dieser Stelle wird erneut eine gewisse Skepsis der Literatur an Verfahrenskautelen im Strafrecht sichtbar.

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vor der Einholung der Einwilligung zu erfolgen hat. Nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG muss eine interdisziplinär zusammengesetzte Ethikkommission157 an den zugelassenen Zentren für Präimplantationsdiagnostik die Einhaltung der Voraussetzungen des Absatzes 2 geprüft und eine zustimmende Bewertung dazu abge­ geben haben. Dieses positive Votum ist beispielsweise im Gegensatz zum Votum der Lebendspendekommission, welche nach § 8 Abs. 3 S. 2 TPG nur beteiligt werden muss, zwingend, wodurch der Entscheidung der Ethikkommission im Rahmen des § 3a ESchG ein erhebliches Gewicht zukommt.158 In Folge dessen sind an ihre demokratische Legitimation hohe Maßstäbe anzulegen.159 Schließlich darf die PID nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 3 ESchG nur durch einen qualifizierten Arzt in für die Präimplantationsdiagnostik zugelassenen Zentren vor­genommen werden, die über spezifische, für die Durchführung der Maßnahmen der PID erforderlichen Möglichkeiten verfügen. Nähere Regelungen zur Zusammensetzung und zum Verfahren der Ethikkommission finden sich in der „Verordnung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (Präimplantationsdiagnostikverordnung – PIDV)“160 vom 21.02.2013, die auf Grundlage der Verordnungsermächtigung des § 3a Abs. 3 S. 3 ESchG erlassen wurde und am 01.02.2014 in Kraft trat. Die Vorschrift des § 4 Abs. 4 S. 1 PIDV regelt allerdings, dass Näheres „zur Zusammensetzung, zu internen Verfahrensregelungen, zur Berufung der Mitglieder der Ethikkommissionen und zur Finanzierung der Ethikkommissionen“ durch Landesrecht bestimmt wird. In Bayern erfolgte die entsprechende Umsetzung der Verordnung durch das BayAGPIDV.161

157

Hübner / Pühler, MedR 2011, 789 (795) kritisieren den Begriff der „Ethikkommission“ in diesem Zusammenhang; zust. Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 21; ähnlich auch Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 251; Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (637); Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 60; a. A. hingegen von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 119. Zur Definition der Ethikkommission im eigentlichen Sinne Deutsch, MedR 2006, 411 (412); Doppelfeld, in: Lenk / Duttge / Fangerau, Handbuch Ethik und Recht der Forschung am Menschen, S. 141; Vogeler, Ethik-Kommissionen – Grundlagen, Haftung und Standards, S. 58 ff. 158 Vgl. Kreß, in: FS Hufen, S. 43 (49): „Genehmigungskommissionen“. 159 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 251; zweifelnd im Hinblick auf die Legitimierbarkeit einer Entscheidung durch die PID-Ethikkommission: Gassner / Kersten / ​­Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 52; Hillgruber, in: Spieker / Hillgruber / Gärditz, Die Würde des Embryos, S. 57 (71 f.); Kunz-Schmidt, NJ 2011, 231 (238); Lee, Die aktuellen juris­ tischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 80; von Wieters­ heim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 288. Für einen verfassungsrechtlich legitimierten Einsatz der Ethikkommission spricht sich Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 220 ff. aus. 160 Verordnung zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik (PIDV) vom 21.02.2013, BGBl. 2013 I, S. 323 ff.; kritisch hierzu Pestalozza, MedR 2013, 343. 161 Gesetz zur Ausführung der Präimplantationsdiagnostikverordnung (BayAGPIDV) vom 17.12.2014 (Bayer. GVBl. S. 542, BayRS 453-2-G), das am 01.01.2015 in Kraft trat. Nähere Erläuterungen dazu bei Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 101 ff.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Aus der Gesetzesbegründung162 und den Voraussetzungen des § 3a Abs. 2, Abs. 3 ESchG geht deutlich der gesetzgeberische Wille hervor, die PID nur in begrenzten, engen Ausnahmefällen zu erlauben und das grundsätzliche Verbot der PID in § 3a Abs. 1 ESchG zu zementieren. Verstöße gegen die Regelung des § 3a ESchG werden allerdings unterschiedlich sanktioniert. Bei der Durchführung einer PID handelt es sich um eine Straftat gem. § 3a Abs. 1 ESchG mit einem Strafmaß von Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe, wenn die materiellen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG nicht vorliegen. Handelt es sich dagegen um formelle Verstöße, wie gegen § 3a Abs. 3 S. 1 ESchG, können diese lediglich als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu fünfzigtausend Euro geahndet werden (§ 3a Abs. 4 S. 1, 2 ESchG). 4. Ethikkommissionen in der medizinischen Forschung Bevor sich die Arbeit nachfolgend speziell der Funktion und Arbeitsweise von Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik widmet, soll zunächst kurz allgemein auf die Etablierung von Ethikkommissionen in der Medizin, besonders im Bereich der medizinischen Forschung, eingegangen werden. Dieser Einblick soll einen Gesamteindruck vermitteln, der dazu dient, die Tätigkeit der PID-Ethikkommission besser einordnen und bewerten zu können. Der Ursprung von Ethikkommissionen ist in den Vereinigten Staaten zu sehen. Dort wurden sog. „Human Subjects Protection Committees“ oder „Institutional Reviers Boards“ gegründet.163 Maßgeblich beeinflusst wurde die Bildung von Ethikkommissionen sodann durch die (1975 revidierte Fassung der) Deklaration von Helsinki.164 Im Jahr 1973 wurden zwei Ethikkommissionen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Ulm und Göttingen an Sonderforschungs­ bereichen gegründet.165 Eine  – durch die fünfte Arzneimittelgesetz-Novelle (AMG-Novelle) im Jahr 1994 erfolgte – Neufassung des § 40 Abs. 1 letzt. Unterabs. AMG stellt die erste gesetzliche Vorschrift dar, in welcher von einer grundsätzlichen Pflicht zur Beteiligung einer Ethikkommission die Rede ist.166 Nach dieser Vorschrift, die für den Beginn der klinischen Prüfung eines Arzneimittels beim Menschen eine zustimmende Bewertung einer Ethikkommission vorschrieb, durfte allerdings auch bei Nichtvorliegen der zustimmenden Bewertung mit der klinischen Prüfung be 162

BT-Drs. 17/5451, S. 3. Deutsch, NJW 1995, 3019 (3022); Deutsch, MedR 2006, 411. 164 Vogeler, Ethik-Kommissionen – Grundlagen, Haftung und Standards, S. 22 f.; vgl. auch Listl-Nörr, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 42 AMG Rdnr. 3. 165 Deutsch, MedR 2006, 411; Listl-Nörr, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 42 AMG Rdnr. 4. 166 Deutsch, MedR 2006, 411 (412); Vogeler, Ethik-Kommissionen – Grundlagen, Haftung und Standards, S. 98 f. Bereits seit 1988 folgt allerdings eine entsprechende Pflicht aus § 15 MBO-Ä. 163

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gonnen werden, wenn die zuständige Bundesoberbehörde innerhalb von 60 Tagen nach Eingang der Unterlagen nicht widersprochen hatte. Nach der geltenden Vorschrift des § 40 Abs. 1 S. 2 AMG darf der Sponsor die klinische Prüfung eines Arzneimittels beim Menschen nur beginnen, wenn die zuständige Ethikkommission diese nach Maßgabe des § 42 Abs. 1 AMG zustimmend bewertet. Nach § 42 Abs. 1 S. 7 AMG darf die Zustimmung nur versagt werden, wenn die Unterlagen trotz Fristsetzung unvollständig sind, nicht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen oder die in § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2–9, Abs. 4 AMG und § 41 AMG geregelten Anforderungen nicht erfüllt sind. Insbesondere ist von der Ethikkommission nach § 40 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 AMG eine Risiko-Nutzen-Abwägung vorzunehmen, ob die entsprechenden Risiken und Nachteile gegenüber dem Nutzen für die betreffende Person und die Bedeutung des Arzneimittels für die Heilkunde als ärztlich vertretbar anzusehen sind. Zweck der Prüfung ist es nicht nur, die Gesundheit und Autonomie der Probanden, sondern auch die Forscher vor einem übersteigerten Forschungsdrang zu schützen.167 In diesem Rahmen hat die Ethikkommission eine genuin ethische Prüfung168 in Form einer Prognose- und Risikoentscheidung zu treffen,169 bei welcher ihr ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wird170. Versagt die Ethikkommission die zustimmende Bewertung, hat die klinische Prüfung zu unterbleiben.171 Die Stellung der Ethikkommission in der Arzneimittelforschung hat sich demnach von einem beratenden Gremium zu einem genehmigenden Gremium gewandelt.172 Damit einher geht auch Rechtssicherheit für die Beteiligten.173 Vergleichbare Regelungen bestehen im Medizinproduktegesetz (MPG) mit der Vorschrift des § 20 Abs. 1 S. 1 MPG, wonach mit der klinischen Prüfung eines Medizinproduktes nur begonnen werden darf, wenn die zuständige Ethikkommission eine zustimmende Bewertung abgegeben hat. Diese richtet sich nach § 22 Abs. 3 MPG. Die Ethikkommission hat neben weiteren Voraussetzungen danach insbesondere zu prüfen, ob die Risiken für die Person, bei der die Prüfung durch 167

Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1743; Taupitz, in: Brudermüller / Hauck / Lücker u. a., Forschung am Menschen, S. 77. 168 Albers, KritV 2003, 419 (421); Seelmann, in: Brudermüller / Hauck / Lücker u. a., Forschung am Menschen, S. 107 (110 f.); Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 606; einschränkender Freund, MedR 2001, 65 (71); abl. Fateh-Moghadam / Atzeni, in: Vöneky / Hagedorn / Clados u. a., Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 115 (124, 142). Die Ethik soll hingegen „eine Art Übersetzerfunktion“ einnehmen, um einen Konsens zu erleichtern, vgl. Fateh-Moghadam / Atzeni, in: Vöneky / Hagedorn / Clados u. a., Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 115 (143). 169 Vogeler, Ethik-Kommissionen – Grundlagen, Haftung und Standards, S. 123. 170 Vogeler, Ethik-Kommissionen  – Grundlagen, Haftung und Standards, S. 185 m. w. N. Wohl ebenfalls in Bezug auf die eigentliche Abwägungsentscheidung Fateh-Moghadam  / ​ ­Atzeni, in: Vöneky / Hagedorn / Clados u. a., Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 115 (128). 171 Listl-Nörr, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 42 AMG Rdnr. 3. 172 Vogeler, Ethik-Kommissionen – Grundlagen, Haftung und Standards, S. 100 m. w. N. 173 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (153).

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geführt wird, gemessen an der voraussichtlichen Bedeutung des Medizinproduktes für die Heilkunde, ärztlich vertretbar sind (§ 22 Abs. 3 Nr. 3 MPG i. V. m. § 20 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 MPG). Unter dem Begriff der „klassischen Ethikkommission“ wird daher traditionellerweise nur eine Kommission verstanden, die als Einrichtung der wissenschaftlichen Selbstkontrolle über konkrete Forschungsvorhaben am Menschen vor ihrer Durchführung befindet.174 Angesiedelt sind Ethikkommissionen daher meist dort, wo Forschung betrieben wird, also bei den Universitäten, aber auch bei den öffentlich-rechtlichen Ärztekammern.175 Gleichwohl spricht das Gesetz auch bei der PID-Ethikkommission von einer Ethikkommission, obwohl diese nicht die ärztliche Vertretbarkeit eines konkreten Forschungsvorhabens beurteilt. Taupitz folgert daher, dass „nicht in allem, was sich Ethikkommission nennt, […] auch Ethik drin [ist].“176 Mittlerweile bestehen unüberschaubar viele „Ethikkommissionen“, die sich in Entscheidungs­ gewalt, Zusammensetzung, Verfahren und anderen Gesichtspunkten teils erheblich unterscheiden.177 Für die medizinische Forschung hervorzuheben ist noch die Zentrale Ethikkommission für Stammzellenforschung (ZES), welche nach § 9 StZG im Rahmen eines behördlichen Genehmigungsverfahrens zu beurteilen hat, ob die beabsichtigte Forschung mit embryonalen Stammzellen so hochrangig und alternativlos ist, dass ethische Bedenken dahinter zurückstehen müssen.178 5. Das Votum der PID-Ethikkommission Nach diesem kurzen Einblick in den Bereich der Ethikkommissionen bei der medizinischen Forschung soll im Speziellen die Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik sowie ihre spezifische Funktion dargestellt werden. Die interdisziplinär zusammengesetzte PID-Ethikkommission besteht nach § 4 Abs. 1 S. 3 PIDV aus vier Medizinern, jeweils einem ethischen und juristischen Sachverständigen sowie jeweils einem Vertreter von Patienten- und Behinderteninteressen. Sie hat nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG ein Votum darüber abzugeben, ob die materiellen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG erfüllt sind. Dabei sind die Mitglieder in ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung unabhängig 174

Taupitz, JZ 2003, 815 (816); Taupitz, in: Brudermüller / Hauck / Lücker u. a., Forschung am Menschen, S. 77. 175 Taupitz, JZ 2003, 815 (816). 176 Taupitz, JZ 2003, 815 (816). 177 Vgl. Kern, MedR 2008, 631 (631 f.). 178 Taupitz, JZ 2003, 815 (816); s. auch Albers, KritV 2003, 419 (425); Fateh-Moghadam  / ​ ­Atzeni, in: Vöneky / Hagedorn / Clados u. a., Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 115 (120 ff.).

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und nicht an Weisungen gebunden, § 4 Abs. 2 S. 1 PIDV. Nach § 6 Abs. 4 S. 2 PIDV ist eine Zweidrittel-Mehrheit der Stimmberechtigten erforderlich. Die Ethikkommission untersteht als staatliche Behörde gem. Art. 2 Abs. 8 S. 1 BayAGPIDV zwar der Staatsaufsicht durch das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, dieses ist jedoch auf eine Rechtmäßigkeitsüberprüfung beschränkt.179 Zentral bei der Entscheidung über ein positives Votum ist die Beurteilung der Frage, ob das gesetzlich vorgeschriebene „hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit“ gegeben ist. Anhaltspunkte für die Auslegung dieser hochgradig „unbestimmten Rechtsbegriffe“180, bei denen „die gesetzliche Wertung dünn ist“181, ergeben sich womöglich aus der Gesetzesbegründung. Ein hohes Risiko erfordert nach der Gesetzesbegründung eine „hohe Wahrscheinlichkeit, die vom üblichen Risiko der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland wesentlich abweicht“182. Es soll anzunehmen sein, wenn die Wahrscheinlichkeit, die bestimmte Krankheit weiterzuvererben, bei 25–50 Prozent liegt.183 Die Bewertung des „wesentlichen Abweichens“ wird damit der Ethikkommission überlassen.184 Erbkrankheiten sollen insbesondere dann schwerwiegend sein, „wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden“185. Die genannten Kriterien müssen dabei nicht kumulativ vorliegen, sondern können sich im Wege einer Gesamtabwägung gegenseitig in ihrer Ausprägungsstärke ausgleichen.186 Aus der Verwendung des Wortes „insbesondere“ ergibt sich, dass diese Kriterien nicht abschließend sind. Eine weitere Bewertungsunsicher-

179 Ausführlich zu der Annahme eines länderübergreifenden „ministerialfreien Raumes“ Huber / Lindner, MedR 2016, 945 (947 f.). 180 Huber / Lindner, MedR 2016, 502 (504); vgl. auch Czerner, MedR 2011, 783 (785); vgl. Hübner / Pühler, MedR 2011, 789 (792); vgl. Krüger / Gollnick, Der Gynäkologe 2010, 955 (956); vgl. Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 25; vgl. von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 111. 181 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 256. 182 BT-Drs. 17/5451, S. 8. 183 BT-Drs. 17/5451, S. 8; vgl. aber zur Abkehr von statistischen Wahrscheinlichkeiten hin zu einzelfallbezogenen Umständen Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (80). Das Auftrittsrisiko von 25 % ist bei monogenetischen Krankheiten allerdings ohnehin erfüllt, vgl. Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 30; von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 97 f. 184 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 63. 185 BT-Drs. 17/5451, S. 8. Eine Orientierung soll zudem an § 3 S. 2 ESchG möglich sein, vgl. BT-Drs. 17/5451, S. 8; ebenso Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 260 ff.; krit. hierzu Henking, ZRP 2012, 20 (21); Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (81); Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 90 f.; von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 111; Plagemann, FD-SozVR 2017, 394892 verweist hingegen auf die Auslegung des BSG zu den „schweren“ Erkrankungen in § 2 Abs. 1a SGB V. 186 Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (660).

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heit resultiert zudem aus dem Faktum, dass eine Zukunftsprognose hinsichtlich des Schweregrades der jeweiligen Krankheit nur vage getroffen werden kann.187 Eine der relevantesten Uneinigkeiten im Hinblick auf das Votum der Ethikkommission besteht in der Literatur allerdings nicht zuletzt darin, ob Belange der Eltern, insbesondere der psychische und physische Zustand der Mutter, sowie familiäre Vergangenheits- und Zukunftsentwicklungen, bei der Prüfung der Indika­tion des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG einfließen dürfen.188 Anlass zu dieser Vermutung dürfte § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV geben, der ausdrücklich davon spricht, dass die Prüfung „unter Berücksichtigung der im konkreten Einzelfall maßgeblichen psychischen, sozialen und ethischen Gesichtspunkte“ erfolgt.189 Der Bundesrat, der nur unter diesem Zusatz der Verordnung zustimmte, begründete seine Forderung damit, dass nicht die medizinische Diagnose alleine, sondern vielmehr auch der familiäre Hintergrund im Einzelfall mitentscheiden müsse, ob es sich um eine „schwerwiegende“ Erbkrankheit handelt.190 Auch verbleibe nach der Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs durch die Gesetzesbegründung jedenfalls Raum für eine interdisziplinäre Beurteilung, nachdem die BT-Drs. 17/5451 auf S. 8 eine „geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbildes und schlechte Behandelbarkeit“ anführt.191 Die Regelung des § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG legt aber als Bewertungsmaßstab einzig und alleine die Einhaltung der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG zugrunde, wodurch sich der gebundene Charakter der Entscheidung offenbart. In eine Zumutbarkeitsprüfung verpackte Belange der Frau dürften somit – anders als bei der Regelung des § 218a Abs. 2 StGB – gerade keine Berücksichtigung finden.192 Vielfach wird in der Literatur daher angeführt, die Ethikkommission habe eine reine Rechtsprüfung vorzunehmen; über das primär medizinisch zu beurteilende193

187

Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 105. 188 So Frommel, JZ 2013, 488 (491). Hierfür könnte die Gesetzesbegründung sprechen, wonach sich der Gesetzgeber des § 3a Abs. 2 ESchG ausdrücklich an § 218a Abs. 2 StGB anlehnen wollte, vgl. BT-Drs. 17/5451, S. 8. Krit. zum Einbezug mütterlicher Belange Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 134 f. 189 Hervorhebungen nicht im Original. 190 BR-Drs. 717/12 (B), S. 6; zust. Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 82, der sich für eine gesetzeskonforme Auslegung des § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV ausspricht; a. A. Frister, in: Dekan der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Wissenschaftsrecht und Wissenschaftspraxis, S. 115 (131). 191 So Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 72 mit Fn. 393 (Hervorhebungen auch im Original). 192 Frister, in: Dekan der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Wissenschaftsrecht und Wissenschaftspraxis, S. 115 (131). 193 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 74; ebenso Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 166 m. w. N. Für eine primäre Entscheidungszuständigkeit der Mediziner plädiert daher Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 134 f.

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Kriterium der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ hinaus dürften keine anderen, insbesondere keine ethischen Bewertungskriterien herangezogen werden. Die Regelung des § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV könne den Entscheidungsmaßstab der Ethikkommission mangels ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung nicht selbstherrlich „auf kaltem Wege“194 erweitern195 und sei aufgrund der eingetretenen Kollision insoweit unwirksam.196 Der Gesetzgeber habe durch die partielle Zulassung der PID bereits eine eigene – auch moralische – Wertung getroffen, die durch einen Einbezug willkürlicher ethischer Überlegungen durch die Kommissionsmitglieder nicht unterlaufen werden dürfe.197 a) Beurteilungsspielraum der Ethikkommission In dieser an Bedeutung keinesfalls zu unterschätzenden Meinungskluft liegt auch der Streit über einen etwaigen Beurteilungsspielraum der Ethikkommission begründet, der nachfolgend dargestellt werden soll. Er wird schließlich auch als Indikator für die zugesprochene Entscheidungsfreiheit der Verfahrensbeteiligten relevant. Damit liefert er womöglich Erkenntnisse darüber, in welchem Maße das Verfahren der PID mit der nötigen Flexibilität ausgestaltet wurde, um von sich behaupten zu können, ein plurales Meinungsbild zur Grundlage der hervorgegangenen Entscheidung gemacht zu haben. Grundsätzlich plädieren die Befürworter eines ethischen Entscheidungsmaßstabes im Rahmen des Ethikkommissions-Votums wohl eher für einen Beurteilungsspielraum, während die Vertreter einer reinen Rechtsprüfung im Rahmen des § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG wohl eher zur Verneinung eines solchen Beurteilungsspielraums tendieren dürften. Ein genereller Automatismus ist hier allerdings nicht zu bejahen. aa) Literaturansichten Ob der Ethikkommission bei ihrem Votum bezüglich der Auslegung des Begriffs der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ ein Beurteilungsspielraum zukommt, der vom Gericht nur eingeschränkt überprüft werden kann, ist in der Literatur

194

Frister, in: Dekan der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Wissenschaftsrecht und Wissenschaftspraxis, S. 115 (131). 195 Pestalozza, MedR 2013, 343 (347); ebenso Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 165 f. 196 Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 61; vgl. auch Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 73 m. w. N. Er hält allerdings die Berücksichtigung der von § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV genannten Kriterien zumindest im Rahmen der Subsumtion unter das auslegungsbedürftige Merkmal „schwerwiegend“ für möglich. 197 Lindner, Jura 2016, 8 (12).

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grundlegend umstritten.198 Die vom Bundesverfassungsgericht und Bundesverwaltungsgericht anerkannten klassischen Fallgruppen,199 die eine Ausnahme vom Grundsatz der umfassenden, gerichtlichen Nachprüfbarkeit behördlicher Auslegungen statuieren, sind bei der Entscheidung nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG nicht einschlägig, insbesondere nicht die Fallgruppe der gerichtlich nur beschränkt nachprüfbaren Prüfungssituation. Die für das Votum Erheblichkeit besitzenden Tatsachen erfordern für ihre Feststellung keine situative oder exklusive Besonderheit, die der Wiederholung nicht zugänglich wäre.200 Relevanz könnte insofern allerdings die „Fallgruppe der höchstpersönlichen Akte wertender Erkenntnis“ in diesem Zusammenhang für sich beanspruchen.201 Voraussetzungen dieser Fallgruppe sind, dass „der zu treffenden Entscheidung in hohem Maße wertende Elemente anhaften und das Gesetz für sie deshalb ein besonderes Verwaltungsorgan für zuständig erklärt, das weisungsfrei, mit besonderer fachlicher Legitimation und in einem besonderen Verfahren entscheidet; dies zumal dann, wenn es sich um ein Kollegialorgan handelt, das mögliche Auffassungsunterschiede bereits in sich zum Ausgleich bringt und die zu treffende Entscheidung damit zugleich versachlicht“202. Der Gesetzgeber entscheidet sich an dieser Stelle für die Maßgeblichkeit einer Gremienentscheidung, die sich aus einem höchstpersönlichen Eindruck der Gremiumsmitglieder speist, welcher nicht durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt werden soll.203 Auch besteht bei dieser Fallgruppe das Erfordernis, dass es sich um ein pluralistisch zusammengesetztes

198

Bej. Frommel, JZ 2013, 488 (492); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 22; wohl auch Hübner / Pühler, MedR 2011, 789 (792), wonach die Rechtswidrigkeitsprüfung durch die Kommissionsentscheidung „präjudiziert“ sein soll; Schulze-Fielitz, in: Klein / Menke, Menschenrechte und Bioethik, S. 203 (231); abl. hingegen Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 169; Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (661); Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 207 ff.; Huber / Lindner, MedR 2016, 502 (506); Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 137; Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 119; Pelchen / Häberle, in: Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3a ESchG Rdnr. 7; Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 62; von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 282 ff.; vgl. auch Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 262, die keinen bzw. einen nur sehr eingeschränkten Beurteilungsspielraum annimmt und Pestalozza, MedR 2013, 343 (345), der höchstens Beurteilungsspielräume, allerdings keine Ermessensspielräume anerkennt; unschlüssig insoweit Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 91 ff., der mangels „Staatsferne“ zwar eine volle gerichtliche Überprüfbarkeit annimmt, der Ethikkommission allerdings aufgrund von § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV einen Beurteilungsspielraum einräumt. 199 Zu den spezifischen Fallgruppen Brandenburg / L ammeyer, ZUM 2010, 655 (658 ff.); Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rdnr.  176 ff. 200 Huber / Lindner, MedR 2016, 502 (506). 201 Huber / Lindner, MedR 2016, 502 (505). 202 BVerwGE 130, 180 (194 f. Rdnr. 43). 203 Ramsauer, in: Kopp / Ramsauer, VwVfG, § 40 Rdnr. 102.

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Gremium handelt.204 Ob tatsächlich ein Beurteilungsspielraum eingeräumt werden sollte, muss entweder aufgrund des Wortlauts oder mittels Auslegung der jeweiligen Vorschrift festgestellt werden.205 Dabei ist dem Grundsatz der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit behördlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen.206 Gegen die Einschlägigkeit dieser Fallgruppe wird von Gegnern eines Beurteilungsspielraums der Ethikkommission insbesondere eingewandt, dass gem. § 4 Abs. 1 S. 3 PIDV nur ein Jurist in der Kommission vertreten ist und damit die Voraussetzung einer pluralistischen Zusammensetzung nicht gegeben sei.207 Die Kommission treffe primär eine rechtliche Entscheidung über die Zulässigkeit der PID, bei welcher nicht einzusehen sei, warum diese im Anschluss nicht vollumfänglich an rechtlichen Maßstäben kontrolliert werden könne.208 Darüber hinaus handele es sich bei der kommissionsrechtlichen Entscheidung um ein intensiv grundrechtstangierendes und -beschränkendes Votum.209 Eine pauschale Einräumung eines Beurteilungsspielraums aufgrund des zu Tage getretenen gesetzgeberischen Willens, eine Ethikkommission einzusetzen, verstoße gegen Art. 19 Abs. 4 GG und sei mit dem Rechtsstaats- und Gewaltenteilungsprinzip daher schwer vereinbar.210 Nachdem die Ethikkommissionen ebenso wie Richter unter gesetzliche Voraussetzungen subsumieren müssten, sei ein ethischer Beurteilungsspielraum abzulehnen.211 Die interdisziplinäre Besetzung sei nicht der Intention geschuldet, einen Beurteilungsspielraum zu eröffnen, sondern verfolge ausschließlich das Ziel, die PID unter restriktive Voraussetzungen zu stellen und einem Missbrauch vorzubeugen.212 Die Prüftätigkeit könne daher letztlich nicht mit derjenigen eines pluralistischen Gremiums verglichen werden.213 bb) Aktuelle Verwaltungsrechtsprechung zur Problematik Mit der dargelegten Problematik befasst sich eine relativ aktuelle Entscheidung des VG München vom 10.05.2017.214 Nachdem zum Streit eines etwaigen 204

Vgl. Brandenburg / L ammeyer, ZUM 2010, 655 (662) mit Verweis auf BVerwGE 91, 211 (215 f.). 205 BVerfGE 129, 1 (22); BVerwGE 81, 12 (17); 129, 27 (33 Rdnr. 26); Beaucamp, JA 2012, 193 (194) m. w. N.; Voßkuhle, JuS 2008, 117 (118). 206 Vgl. BVerfGE 129, 1 (22 f.). 207 Allg. zur fehlenden Pluralität von Ethikkommissionen Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40 Rdnr. 204 mit Fn. 973. 208 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 263 weist darauf hin, dass den Ethikkommissionen gegenüber den Gerichten keine überlegene Beurteilungskompetenz zukomme. 209 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 263. 210 Huber / Lindner, MedR 2016, 502 (506). 211 Fateh-Moghadam / Atzeni, in: Vöneky / Hagedorn / Clados u. a., Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 115 (128 f.). 212 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 208 f. 213 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 209. 214 VG München, BeckRS 2017, 118837.

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Beurteilungsspielraums der PID-Ethikkommission bis zu diesem Zeitpunkt keine Rechtsprechungsentscheidungen vorlagen, verdient die Entscheidung besondere Aufmerksamkeit. Ihr liegt der Sachverhalt einer Verpflichtungsklage gegen die Bayerische Ethikkommission auf Zustimmung zur Durchführung eines PID-Verfahrens nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG zugrunde. Der potenzielle Kindsvater und Partner der Antragstellerin ist  – molekulargenetisch unstreitig bestätigt  – Anlageträger der Erbkrankheit „myotone Distrophie Typ 1“, die von einem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf gekennzeichnet ist,215 allerdings im Regelfall erst in späteren Lebensjahren ausbricht216. Das VG München entschied in diesem Zusammenhang, dass der Ethikkommission in Bezug auf die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zustehe. Argumentativ stützt sich das VG München insbesondere auf die spezifischen Fachkenntnisse der Kommissionsmitglieder, die diese weitreichende und komplexe Entscheidung als interdisziplinäres Gremium zu treffen hätten.217 An die Stelle der Kommissionsentscheidung dürfe nach der Ratio des § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG daher nicht die gerichtliche Entscheidung gesetzt werden. Die angeordnete Interdisziplinarität und die Auffassungsunterschiede würden gerade in dem Verfahren der Kommission zum Ausgleich gebracht und das Ergebnis somit spezifisch ausloten.218 Das Gericht stoße in diesem Bereich zudem an seine Erkenntnisgrenzen; es müsse erst zahlreiche ärztliche Sachverständigengutachten einholen, um einen Vergleich zu anderen Erbkrankheiten ziehen zu können. Auch könnten relevante Abwägungen bestimmter Gesellschaftsgruppierungen wie Patienten- und Behindertenvertreter nach § 4 Abs. 1 S. 3 PIDV in einem anschließenden gerichtlichen Verfahren nur unzureichend mitberücksichtigt werden. Dies sei aber gerade die Intention des Gesetzgebers gewesen.219 Als weiteres Indiz sieht das VG München neben der gesetzlichen Bezeichnung der Kommission als Ethik-kommission220 die Norm des § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV an, nach der die Kommissionsmitglieder das Votum unter Berücksichtigung von psychischen, ethischen und sozialen Gesichtspunkten zu treffen hätten. Danach seien für die Entscheidung der Kommission explizit nicht nur rechtliche Bezugspunkte mittels juristischer Subsumtion zu beurteilen, sondern sie müsse aus vielen Standpunkten heraus pluralistische und gesellschaftliche Überzeugungen miteinbinden, die die Entscheidung in bedingten Maße zu einer solchen ethischer Art werden ließe.221 In der Vorschrift, die des Weiteren auch keine spezifischen Vorgaben für 215

VG München, BeckRS 2017, 118837 Rdnr. 3. Vgl. Deutscher Ethikrat, Präimplantationsdiagnostik, S. 17. 217 VG München, BeckRS 2017, 118837 Rdnr. 26. 218 VG München, BeckRS 2017, 118837 Rdnr. 22. 219 VG München, BeckRS 2017, 118837 Rdnr. 28. 220 VG München, BeckRS 2017, 118837 Rdnr. 23; a. A. VG Regensburg, BeckRS 2019, 4480 Rdnr. 32. 221 VG München, BeckRS 2017, 118837 Rdnr. 27. 216

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Entscheidungsmaßstäbe bereithalte, trete der Wille des Gesetzgebers hervor, die ausnahmsweise Zulässigkeit der PID restriktiv durch ein spezifisches Gremium beurteilen zu lassen.222 Am 14.03.2019 hat der VGH München die zulässige Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen. Auch wenn er damit dem VG München im Ergebnis zustimmt, dass die zu beurteilende Krankheit keine „schwerwiegende Erbkrankheit“ im Sinne des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG darstelle, so sind seine diesbezüglichen Ausführungen, insbesondere dazu, ob der PID-Ethikkommission ein Beurteilungsspielraum zusteht oder nicht, ersichtlich konträr. Zunächst stellt er fest, dass eine PID nur durchgeführt werden dürfe, wenn eine Krankheit vorliege, die den Schweregrad der Muskeldystrophie Typ Duchenne aufweist. Der Gesetzgeber habe in § 3 S. 2 ESchG eine Wertung zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ getroffen und dadurch den konkret erforderlichen Maßstab festgesetzt. An dieser schweren, lebensbedrohenden genetischen Erkrankung, die zu einem Muskelverfall, und damit in den meisten Fällen bereits im jungen Erwachsenenalter zum Tode führe, müsse sich demnach auch die Auslegung des gleichlautenden Merkmals in § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG orientieren.223 Für die Einstufung einer Krankheit als „schwerwiegende Erbkrankheit“ dürften allerdings nicht nur das konkrete Krankheitsbild und die entsprechenden Symptome herangezogen werden. In Folge der Abkehrung des Gesetzgebers von der „embryopathischen Indikation“ und in Anlehnung an den Rechtfertigungsgrund des § 218a Abs. 2 StGB müsste zur Beurteilung der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ grundsätzlich auch die familiäre Situation, insbesondere die maßgebliche psychische Belastungssituation der Eltern mit eingestellt werden. Nachdem die gesetzliche Regelung des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG hierzu aber keine normativen Anknüpfungspunkte böte, sei für die Zulässigkeit einer PID allein auf die Schwere der Erkrankung abzustellen, die sich – wie bereits dargelegt – am Schweregrad der Muskeldystrophie Typ Duchenne zu orientieren habe.224 Anschließend befasst sich das Urteil des VGH München mit der Problematik eines etwaigen Beurteilungsspielraums. Dass der Ethikkommission ein solcher einzuräumen sei, lehnt der VGH im Ergebnis nachdrücklich ab. Die Entscheidung der Ethikkommission sei gerichtlich voll überprüfbar. Zur Begründung zieht der VGH maßgeblich den Umstand heran, dass der Norm des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG kein normativer Ansatz entnommen werden könne, welcher für einen Beurteilungsspielraum spreche.225 Der Gesetzgeber habe keinerlei Kriterien benannt, welche für eine Abwägungsentscheidung der Kommission relevant werden könnten. Aus 222

VG München, BeckRS 2017, 118837 Rdnr. 27. VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 41 ff. 224 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 53 ff. 225 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 59 f. 223

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deren Fehlen könne umgekehrt aber nicht geschlossen werden, dass es die gesetzgeberische Intention war, der Kommission bezüglich der Entscheidungskriterien freie Handhabe zu verschaffen.226 Der Mangel an Entscheidungshilfen und Leit­ linien sei vielmehr als bedenkliches Regelungsdefizit einzustufen – besonders aus verfassungsrechtlicher Sicht.227 Spreche man der Ethikkommission die Befugnis zu, im Rahmen der Entscheidungsfindung eigenmächtig materielle Aspekte heran­ zuziehen und zu würdigen, würde dies nicht nur einen Verstoß gegen das Gebot effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG begründen, sondern auch mit Grundsätzen der Wesentlichkeitstheorie in Konflikt geraten.228 Zudem sei die Vorschrift des § 6 Abs. 4 PIDV, auf welche sich die Gegenansicht berufe, nichtig, weil sie von der Verordnungsermächtigung des § 3a Abs. 3 S. 3 Nr. 2 ESchG nicht gedeckt, und daher mit Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG unvereinbar sei.229 Letztendlich stoße das Gericht auch nicht an seine Funktionsgrenzen, weil es mithilfe von Sachverständigengutachten durchaus die Schwere einer Erbkrankheit sachgerecht ermitteln könne.230 Im zugrundeliegenden Fall handelte es sich um die „myotone Dystrophie Typ 1“, die als multisystemische Erkrankung in unterschiedlichen Schweregraden auftreten kann.231 Bei dieser sei nur die schwerste Form als „schwerwiegend“ im Sinne des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG anzuerkennen, bei der bereits in den ersten Lebensmonaten schwerste Beeinträchtigungen wie schwere Ateminsuffizienz und Schluckstörungen auftreten (sog. kongenitale myotone Dystrophie).232 Im Ergebnis entschied der VGH, dass für diese schwere Form, die fast ausschließlich über die mütterliche Keimbahn weitergegeben wird, kein hohes Risiko bestehe, weil in der zu beurteilenden Krankheitskonstellation der Vater vorerkrankt sei.233 Gegen die Entscheidung des VGHs wurde im Hinblick auf die grundsätzliche Bedeutung der zu klärenden Rechtsfragen die Revision zugelassen.234 In den Zeitraum zwischen den beiden erlassenen Entscheidungen fällt ein Urteil des VG Regensburg vom 24.01.2019, das eine Versagungsgegenklage zum Inhalt hatte. Die Klägerin und ihr Ehemann, welche die Anlageträgerschaft für das ­TAR-Syndrom besitzen, begehrten die Verpflichtung der Bayerischen Ethikkommission zur Zustimmung zur gewünschten PID.

226

VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 66. VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 75. 228 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 71 f. 229 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 57. 230 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 61. 231 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 100 ff. 232 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 38 sowie Rdnr. 103. 233 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 105 ff. 234 VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 113. 227

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Das TAR-Syndrom ist ein autosomal-rezessiv erbliches Fehlbildungssyndrom, welches typischerweise zu einer beidseits fehlenden Speiche (bilaterale Radiusaplasie) sowie zu einem Mangel an Blutplättchen (Thrombozytopenie) führt.235 Das VG Regensburg entschied, dass die Vorschrift des § 6 Abs. 4 PIDV durchaus als Regelung der Verfahrensweise der Ethikkommission angesehen werden könne und auf diesem Wege psychische, soziale und ethische Gesichtspunkte in die Entscheidung der PID-Ethikkommission einfließen würden.236 Darüber hinaus gesteht das VG Regensburg in seiner Entscheidung der Ethikkommission einen gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraum zu. Diesen begründet es maßgeblich damit, dass es sich um ein pluralistisches Gremium mit entsprechender Sachkunde handele, das über die Entscheidung des Merkmals der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ unter Einbezug verschiedener Disziplinen zu befinden hätte. Zudem stimmt das VG Regensburg dem VG München zu, dass das Gericht bei der Beurteilung der – zudem unbestimmten – Rechtsbegriffe an seine Funktionsgrenzen stoße.237 Es liege mithin eine Vergleichbarkeit mit der Fallgruppe eines anerkannten Beurteilungsspielraums, kurzum mit der Fallgruppe der zu treffenden Prognose- und Risikobewertungen, vor.238 Dieser zugestandene Beurteilungsspielraum sei im zugrundeliegenden Fall allerdings überschritten worden.239 Zur Begründung der Überschreitung des Beurteilungsspielraums im vorliegenden Fall führt das VG Regensburg die wohl entscheidenste Aussage des Urteils an: Sei der gewünschten PID ein Schwangerschaftsspätabbruch vorausgegangen, welcher aufgrund einer medizinisch-sozialen Indikation als rechtmäßig befunden wurde, so ergebe sich daraus eine Indiz­ wirkung im Hinblick auf die Zulässigkeit der Durchführung einer PID. Letztere sei nach der Begründung des Gesetzgebers gerade dafür zugelassen worden, um einen Wertungswiderspruch zu den Regularien des Schwangerschaftsabbruchs zu verhindern.240 In dieser Begründung ist wohl eine beabsichtigte und deutliche Anlehnung an die Regelung des § 218a Abs. 2 StGB zu sehen.

235 Pschyrembel online, Stichwort: „TAR-Syndrom“, abrufbar unter: www.pschyrembel.de/ TAR-Syndrom/K0M82/doc/ (zuletzt abgerufen am 05.05.2020). 236 VG Regensburg, BeckRS 2019, 4480 Rdnr. 32. 237 VG Regensburg, BeckRS 2019, 4480 Rdnr. 33 ff. 238 VG Regensburg, BeckRS 2019, 4480 Rdnr. 38. 239 VG Regensburg, BeckRS 2019, 4480 Rdnr. 40. 240 VG Regensburg, BeckRS 2019, 4480 Rdnr. 47 ff.

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b) Eigene Stellungnahme Die Entscheidung über den Prüfungsmaßstab und einen etwaigen Beurteilungsspielraum der Ethikkommission hat weitreichende Folgen, die nicht nur die anschließend zu untersuchende Intensität prozeduraler Merkmale betreffen. Den Gegnern eines ethischen Prüfungsmaßstabs ist im Ergebnis unverkennbar zuzugeben, dass die Vorschrift des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG ausschließlich auf die Voraussetzung der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ rekurriert. Mag im Bereich der PID ein ethisches Votum auch naheliegend und geeignet erscheinen,241 so finden ethische Belange wie die Leidensgeschichte des Paares, ihr gegenwärtiger physischer und psychischer Zustand sowie ihre zukünftigen sozialen Lebensbedingungen in der Vorschrift keinerlei Anklang. Eine ausdrückliche Orientierung an einer außerrechtlichen Disziplin wie der Ethik wird nicht explizit angeordnet, obwohl dem Gesetzgeber derartige Bezugnahmen des Strafrechts auf die Ethik, die Moral und die Sitten nicht gänzlich fremd sind.242 Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verkörpert insofern grundsätzlich eine Schranke gegenüber einer „Ethisierung des Rechts“243, damit Willkür in besonders grundrechtssensiblen Bereichen vorgebeugt wird. Eine Bezugnahme des Rechts auf außerrechtliche Maßstäbe muss daher mit Vorsicht genossen werden. Die Tatsache, dass § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV auch ethische Gesichtspunkte erwähnt, kann hieran nichts ändern, weil die Verordnung aufgrund der begrenzten Ermächtigung nur die Verfahrensweise regeln und eine inhaltliche Regelung der Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG nicht mitumfassen kann. Es ist daher zu konstatieren, dass der Entscheidungsmaßstab der Ethikkommission ein rechtlicher und kein ethischer ist.244 Wie bereits angedeutet, schließt aber die Annahme, dass die Kommission eine Rechtsentscheidung zu treffen hat, nicht zwangsläufig die Einräumung eines Beurteilungsspielraums aus. Eine am Gesetz ausgerichtete Zulässigkeitsprüfung erlangt nicht zwingend dadurch ethische Qualität, dass sie vom Gericht nur eingeschränkt überprüft werden kann.245 Beispiele für die Annahme eines Beurteilungsspielraums in Bereichen, in denen die Ethik keine ausschlaggebende Rolle

241

Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 130. Zu ethischen Einbruchstellen des Strafrechts vgl. unter 4. Kap. A. II. 2. 243 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 253. 244 Im Ergebnis ebenso Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 253; Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (665); Frommel, JZ 2013, 488 (492); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 21; vgl. auch Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (637) m. w. N., der trotz dessen befürchtet, dass aufgrund der Zusammensetzung auch ethische Maßstäbe herangezogen werden könnten; ebenfalls einen rechtlichen Maßstab annehmend von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 284. 245 So zutr. Fateh-Moghadam / Atzeni, in: Vöneky / Hagedorn / Clados u. a., Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 115 (122). 242

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spielt, ergeben sich aus der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung.246 Für einen Beurteilungsspielraum der Ethikkommission lässt sich anführen, dass die Zusammensetzung gerade darauf ausgerichtet ist, Expertenwissen und interdisziplinäre Strömungen mit zu berücksichtigen, selbst wenn der Entscheidungsmaßstab ein medizinisch-rechtlicher und kein ethischer ist. Der Begriff der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ ist höchst auslegungsbedürftig und eine abschließende Definition ohne Indikationsliste nur schwer möglich. Würde das Gericht den Rechtsbegriff vollumfänglich überprüfen, müsste es einen Aufwand betreiben, der durch das Verfahren der Ethikkommission bereits abschließend betrieben werden sollte. Das Gericht darf an dieser Stelle nicht seine eigene Interpretation an die Stelle der Interpretation der Ethikkommission setzen. In diesem Falle hätte die Prüfung der Zulässigkeit bereits von Beginn an einer staatlichen Behörde überlassen werden können, wie im Falle des § 3 S. 2 ESchG. Würde es zu einer vollen gerichtlichen Überprüfung des Merkmals kommen, würde sich im Ergebnis doch ein faktischer Indikationskatalog herausbilden, welchen zugunsten von Einzelfallgerechtigkeit und Antidiskriminierung zu vermeiden gerade Intention des Gesetzgebers war. Der Ethikkommission ist daher ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zuzugestehen, der aber gleichwohl nicht durch wahllose ethische Kriterien ausgefüllt werden darf. Das Gericht ist also auf die Prüfung beschränkt, ob die Ethikkommission die geltenden Verfahrensmaximen beachtet, ein richtiges Verständnis des Rechtsbegriffs an den Tag gelegt, den Sachverhalt zutreffend und vollständig erfasst sowie sich bei der Prüfung an allgemein gültigen Wertmaßstäben orientiert hat.247 Nach Darstellung der rechtlichen Voraussetzungen der Durchführung einer PID – insbesondere des Votums der Ethikkommission und seiner Reichweite – soll im Folgenden zum letzten darzustellenden Lebensschutzkonzept übergegangen werden. Dieses stellt gleichzeitig auch den letzten Abschnitt des menschlichen Lebens und damit des strafrechtlichen Schutzes dar.

246

BVerwG, NJW 1972, 596 (599) – jugendgefährdende Schriften; BVerwGE 129, 27 ff. – weinrechtliche Qualitätsprüfung. 247 Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 22.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

B. Die Sterbehilfe als Lebensschutzkonzept am Ende des menschlichen Lebens I. Einleitung Die Sterbehilfe gehört ebenfalls „zu den schwierigsten Problemen des Strafrechts“248 und ist gleichzeitig eines seiner umstrittensten.249 Sie hat in der Vergangenheit zahlreiche grundlegende Veränderungen erfahren, die bereits in ihrer Natur, der sich wandelnden Wertvorstellung der Gesellschaft, wurzeln.250 Ebenso wie bei der Materie des Schwangerschaftsabbruchs stehen Grenzfragen der Existenz indivi­duellen menschlichen Lebens im Zentrum – allerdings nicht solche des Beginns, sondern solche des Endes. Mit dem Sterben und dem damit verbundenen Prozess wird jeder Mensch zwangsläufig konfrontiert, sei es in eigener Person oder in der Person eines im Sterben liegenden Angehörigen. Die modernen Medizintechniken des 21. Jahrhunderts ermöglichen mit zunehmendem technischen Fortschritt,251 ein bereits erloschenes, menschliches Leben künstlich unter Einsatz von Maschinen und Medikamenten aufrechtzuerhalten und damit in den natürlichen Sterbeprozess einzugreifen: Sterben wird zusehends zu einem „manipulierbaren Prozess“252 und das individuell-naturgemäß erlebte Todesschicksal damit zu einem von Menschenhand steuerbaren Ereignis. Ein für diese Entwicklung ausschlaggebender Grund ist wohl auch darin zu sehen, dass „der Tod […] einer am Virus der Hybris leidenden Medizin des 21. Jahrhunderts als der Feind schlechthin [erscheint], den es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt“253. Aufgeworfen werden mit den medizinischen Errungenschaften aber auch neue, verfassungsrechtlich-hochkomplexe Fragestellungen, die drängend das Bedürfnis rechtlicher Regulation offenlegen. Treffend lässt sich deshalb formulieren, „dass das immer mehr an medizinisch Möglichem […] sich in die sprichwörtlichen Geister verwandelte, die man gerufen hatte und dann nicht mehr loswurde“254. Aus gesellschaftlicher Perspektive betrachtet resultiert aus dem Verdienst dieser Geister unvermittelt die Angst, an Schläuchen angeschlossen, die Kontrolle über sein 248

Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (83); zust. Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13. 249 Vgl. Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (13): „historisch stark belastet und ideologisch zersplittert“. 250 Hilgendorf, in: Arzt / Weber / Heinrich u. a., Strafrecht BT, § 3 Rdnr. 7. 251 Hervorzuheben sind an dieser Stelle insbesondere die technischen Errungenschaften der künstlichen Ernährung mittels sog. PEG-Sonde, die Aufrechterhaltung des Kreislaufs mittels Herz-Lungen-Maschine sowie die Reanimation mittels Defibrillator, vgl. Reus, JZ 2010, 80. 252 Ludyga, ZRP 2010, 266. 253 Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (572). 254 Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286. Auch Hirsch, JR 2011, 37 (39) weist darauf hin, dass (erst) die modernen Medizintechniken prekäre Rechtsfragen heraufbeschworen hätten.

B. Die Sterbehilfe als Lebensschutzkonzept 

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eigenes Dasein zu verlieren und als willen- und bewusstloses Objekt medizinischer Apparate zeitloser sowie als entwürdigend empfundener Fremdbestimmung ausgesetzt zu sein.255 Jene Entwicklungen verlangten nach einer sich ihnen anpassenden Regelung, bei welcher der Ausgleich zweier fundamentaler Rechtsgüter des Verfassungsrechts im Vordergrund stand: Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten einerseits und die staatliche sowie ärztliche Lebensschutzpflicht andererseits. Der Deutsche Bundestag verabschiedete am 29.07.2009 das Dritte Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts,256 welches am 01.09.2009 in Kraft trat. Den zentralen Gesetzeskomplex bildeten dabei die Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB.257 Der Neuregelung ging eine lange, extrem kontrovers und emotional gefärbte Debatte voraus, an der sich u. a. Juristen, Mediziner, Ethiker und Theologen beteiligten.258 Gesetz wurde – überraschend einstimmig – der sog. „Stünker“-Entwurf.259 Mit der gesetzlichen Anerkennung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen (§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB) sowie den verfahrensrechtlichen Vorschriften zur Ermittlung des (mutmaßlichen) Patientenwillens entstand ein Regelungskonstrukt, das den Willen des Patienten zum Zentrum jeglichen Handelns macht. Diesem Willen ist der Patientenvertreter (Betreuer oder Bevollmächtigter), dessen Verantwortungsposition durch das Dritte Betreuungsrechtsänderungsgesetz erheblich gestärkt wurde, strikt unterworfen. Ebenso sind alle anderen Verfahrensbeteiligten an den Willen des Patienten gebunden.

II. Das Selbstbestimmungsrecht als – Grenzen unterworfenes – Spiegelbild einer erlaubten Sterbehilfe Das verfassungsrechtlich verbürgte Selbstbestimmungsrecht des Patienten über seinen eigenen Körper ist in seiner Existenz unbestritten. Differenzen bestehen allerdings dahingehend, ob es dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art.  2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) oder dem Recht auf Leben und körperliche

255

Vgl. Albrecht / Albrecht, MittBayNot 2003, 348: „Spielball der lebensverlängernden Möglichkeiten“; so auch Hufen, NJW 2001, 849; Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (561); Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185: „Danaergeschenk“. 256 Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts vom 29.07.2009, BGBl. 2009 I, S. 2286 f. 257 Das Gesetz wird daher auch häufig als „Patientenverfügungsgesetz (PatVG)“ bezeichnet, vgl. Bergmann / Wever, MedR 2010, 635; Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 13; krit. Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13. 258 Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13; vgl. auch Albrecht / Albrecht, MittBayNot 2009, 426; Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (100). 259 BT-Drs. 16/8442. Eine Darstellung der konkurrierenden Gesetzesentwürfe Bosbach und Zöller findet sich bei Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (103).

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) entspringt.260 Ob sich der Menschenwürdegarantie insofern auch das Recht auf einen würdevollen, selbstbestimmten Tod entnehmen lässt, ist ebenso umstritten.261 Die dogmatische Einordnung des ärztlichen Heileingriffs ist zwar ohnehin höchst strittig, die vorzugswürdige Ansicht geht allerdings davon aus, dass eine Straflosigkeit nur gegeben ist, wenn der Eingriff dem (mutmaßlichen bzw. hypothetischen262) Willen des Patienten entspricht.263 Die Patientenautonomie fordert eine nach ausreichender ärztlicher Aufklärung (sog. „informed consent“) ab­gegebene Einwilligung des Patienten in den rechtfertigungsbedürftigen Heileingriff.264 Der Staat darf in diesem Bereich keine Person auf paternalistische Weise vor sich selbst schützen. Verweigert der Patient eine (weitere), auch lebensrettende ärztliche Behandlung freiverantwortlich, muss der Arzt diese Entscheidung unweigerlich respektieren, sollte sie ihm auch grob unvernünftig erscheinen.265 Aus der staatlichen Schutzpflicht für das Rechtsgut Leben lässt sich kein dem Menschen aufgedrängter Schutz entnehmen; ein solches Grundrechtsverständnis würde dadurch ins Gegenteil verkehrt.266 Für das Primat der autonomen Entscheidung steht sinnbildlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der eine Mutter von vier Kindern aus religiösen Motiven die lebensnotwendige Bluttransfusion ablehnte, die sie vor dem sicheren Tod bewahrt hätte267: „Der Wille des Patienten (voluntas aegroti), nicht mehr dessen Wohl (salus aegroti) bildet die oberste Richtschnur für ärztliches Handeln im modernen Medizinrecht.“268 Die ärztliche Gewissens 260

Seitz, ZRP 1998, 417 (420) stellt auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG ab, nach welchem der Wille eines autonomen Patienten zu berücksichtigen sei; in die gleiche Richtung Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (570 f.); Engländer, JZ 2011, 513 (516); Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1186) sieht das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 GG verwurzelt. 261 So im Ansatz BGHSt 46, 279 (285); Schmidt / Priebe, Strafrecht BT I, Rdnr. 184; a. A. Kahlo, in: FS Frisch, S. 711 (719 ff.). 262 Eine mögliche Straffreiheit aufgrund hypothetischer Einwilligung des Patienten ist allerdings im Einzelnen höchst umstritten, vgl. dazu Krüger, in: FS Beulke, S. 137 (139); ­Sowada, NStZ 2012, 1 (5 ff.). 263 Reus, JZ 2010, 80. 264 St. Rspr. seit RGSt 25, 375 (378 ff.); BGHZ 166, 336 (339 Rdnr. 6); Zahn, Der Einwilligungsunfähige in der Medizin, S. 65. 265 BGHSt 11, 111 (114); 37, 376 (378); Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (628); Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 5; Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (92 f.); Roxin, GA 2013, 313 (315); Schmidt / Priebe, Strafrecht BT I, Rdnr. 184; Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1186); bedenklich insofern noch Laufs, Arztrecht, Rdnr. 292 im Jahr 1993: „Daraus folgt, daß der Arzt den Wunsch des Moribunden nach Abbruch einer qualvollen und aussichtslosen Behandlung wenn schon nicht berücksichtigen muß, so doch jedenfalls berücksichtigen kann.“ 266 Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1186 f.). 267 BVerfGE 32, 98 ff. 268 Saliger, MedR 2004, 237. Zur Einschränkung durch eine erlaubte Zwangsernährung bei Hungerstreiks durch die Strafvollzugsbehörden nach § 101 Abs. 1 S. 1 StVollzG vgl. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 30; Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen

B. Die Sterbehilfe als Lebensschutzkonzept 

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freiheit sowie gesellschaftliche Moral- und Solidaritätsgebote können das Verbot der Zwangsbehandlung eines autonom Sterbewilligen in diesem Kontext nicht rechtfertigen.269 Ihm kommt von Verfassungs wegen ein Recht auf einen medizinisch interventionslosen, insoweit selbstbestimmten Tod, zu. Unterstrichen wird diese Dispositionsbefugnis über den eigenen Todeszeitpunkt durch die Straflosigkeit des Suizids,270 welche – geschichtlich betrachtet als nicht selbstverständlich aufzufassende Errungenschaft271 – ein fest verankertes Kernelement des deutschen Sterbehilferechts darstellt. Wird die ärztliche Behandlung trotz eines entgegenstehenden Patientenwillens fortgeführt, liegt bei Erfüllung der subjektiven Voraussetzungen eine strafbare Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB (ggf. § 224 Abs. 1 StGB) vor.272 Auch die künstliche Ernährung mittels einer PEG-Sonde stellt nach vorzugswürdiger Ansicht einen Eingriff in die körperliche Integrität dar,273 der durch eine fortdauernde (mutmaßliche) Einwilligung gedeckt sein muss. Die dem Selbstbestimmungsrecht unterworfene ärztliche Behandlungspflicht und -befugnis legt damit im Umkehrschluss zugleich die Straflosigkeit einer Sterbehilfe durch das Unterlassen (weiterer) ärztlicher Behandlung fest.274 Entbehrt eine (weitere) ärztliche Handlung der erforderlichen Legitimationsgrundlage, darf der Arzt diese also nicht vornehmen, muss eine Unterlassensstrafbarkeit nach den Tötungsdelikten zwingend ausscheiden.

im Lichte des Autonomieprinzips, S. 200. Eine Duldungspflicht körperlicher Zwangsmaßnahmen besteht auch im Rahmen der Strafrechtspflege nach § 81a StPO, § 81c StPO. 269 Hufen, NJW 2001, 849 (853); Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1191); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 354; Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 42. 270 Gemeint ist damit lediglich die Straflosigkeit des Suizidenten. Es ist umstritten, ob unterlassene Rettungshandlungen eines Garanten gegenüber einem freiverantwortlich handelnden Suizidenten eine Strafbarkeit begründen, vgl. dazu den Meinungsstand bei Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 216 StGB Rdnr. 15. 271 Vgl. Eidam, GA 2011, 232 (233). 272 Brodführer, Die Regelung der Patientenverfügung, S. 48; Engländer, JZ 2011, 513 (518); Kraatz, Arztstrafrecht, Rdnr. 181 m. w. N.; Kutzer, MedR 2010, 531; Lipp, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 437 (441); Simon, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 59 (81); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 353; Streng, in: FS Frisch, S. 739 (741); Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 110. 273 Für viele Engländer, JZ 2011, 513 (517); a. A. Tolmein, KJ 1996, 510 (517), der nur dem ursprünglichen Legen der Sonde, nicht aber der Fortführung der Ernährung Eingriffscharakter zuschreibt. Diese Ansicht widerspricht augenscheinlich dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Eibach, MedR 2002, 123 (127 f.) sieht in der Sondenlegung zwar einen Eingriff, hält den mutmaßlichen Willen allerdings nicht für ausreichend, die künstliche Ernährung als Basisversorgung des Menschen einzustellen. 274 Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (558); Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (92); Roxin, GA 2013, 313 (315); Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1188).

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Mag diese Konsequenz auch lediglich einem logischen Umkehrschluss entspringen,275 bildet sie das tragende Verständnis der Straflosigkeit der „passiven Sterbehilfe“. Mangels umfassender gesetzlicher Normierung der Sterbehilfe276 hat sich eine Terminologie gebildet,277 die die unterschiedlichen Formen in eine „passive“, eine „(direkte) aktive“ und eine „indirekte“ Sterbehilfe unterteilt.278 Für die „passive Sterbehilfe“ bestand aufgrund des anzuerkennenden Postulats der Patientenautonomie im Ergebnis Einigkeit, dass das Nichteinleiten oder der Abbruch einer ärztlichen Behandlung zumindest für den abbrechenden Arzt und das ärztliche Personal Straffreiheit zur Folge haben musste, wenn dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten entsprochen wurde. Unter „passiver Sterbehilfe“ versteht man somit „das Sterbenlassen eines Todkranken ohne eine den Tod hinauszögernde ärztliche Intervention, wenn der Patient eine Lebensverlängerung ausdrücklich oder mutmaßlich abgelehnt hat“279. Erhebliche Rechtsunsicherheit bestand allerdings hinsichtlich der Frage, ob die Krankheit des Patienten bereits einen „irreversiblen Verlauf“ angenommen, mithin „der Sterbevorgang schon begonnen“280 haben musste.281 Von der „passiven Sterbehilfe“ ist die nach deutschem Sterbehilferecht verbotene282 „aktive direkte Sterbehilfe“ zu unterscheiden, nach welcher ein Dritter eine neue, vom Krankheitsverlauf als solchem abgekoppelte Todesursache setzt. Er lässt damit nicht lediglich einem ohne ärztliche Intervention zum Tode führenden Krankheitsverlauf seinen natürlichen Lauf, sondern greift gestaltend  – beispielsweise durch die Verabreichung einer Giftspritze – in diesen ein.283 Nach § 216 Abs. 1 StGB macht sich damit strafbar, wer aufgrund eines ernsthaften und ausdrücklichen Verlangens des Opfers dasselbe tötet. Die Vorschrift enthält somit 275

Vgl. Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (558). Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (83). 277 Durch richterliche Rechtsfortbildung, auf welche unten eingegangen wird, ist diese Terminologie mittlerweile wohl überholt, vgl. Engländer, JZ 2011, 513 (516); Fateh-Moghadam  / ​ Kohake, ZJS 2012, 98 (102); Kraatz, Arztstrafrecht, Rdnr. 171; Krüger / Helm, GesR 2012, 456 (461); Verrel, NStZ 2010, 671 (673). 278 Ingelfinger, JZ 2006, 821 (822) spricht von den „vier Säulen des Sterberechts“. 279 Kutzer, MedR 2010, 531; vgl. auch die Definition bei Engländer, JZ 2011, 513; vgl. dazu auch Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 58; vgl. Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (92). 280 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (83) mit der gängigen Unterscheidung in „Sterbehilfe im engeren und im weiteren Sinne“. 281 Gegen diese Voraussetzung BGHSt 40, 257 (LS. 1, 260) im Gegensatz zu BGHZ 154, 205 (215 f.); vgl. auch Wessels / Hettinger / Engländer, Strafrecht BT 1, Rdnr. 151. 282 Teile der Literatur plädieren für eine Ausnahme vom absoluten Verbot der aktiven Sterbe­ hilfe in ganz extremen Ausnahmefällen, Engländer, JZ 2011, 513 (519); Eser / Sternberg-­ Lieben, in: Sch / Sch-StGB, § 216 Rdnr. 15a; Hirsch, in: FS Lackner, S. 597 (610) nimmt einen übergesetzlichen entschuldigenden Notstand an; vgl. auch Neumann / Saliger, HRRS 2006, 280 (285 f.); vgl. Streng, in: FS Frisch, S. 739. 283 Vgl. Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 64; Tolmein, KJ 1996, 510 (515) hingegen sieht auch im Abbrechen der Behandlung eine neu gesetzte Todesursache, weil der Patient nicht an dem apallischen Syndrom sterbe, sondern am Nahrungsentzug. 276

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eine „Sperre“ für die Einwilligung in den eigenen Tod.284 Gerechtfertigt wird dieses Tötungsverbot trotz vorliegender Einwilligung des Opfers u. a. mit dem Höchstwert des Rechtsguts Leben, welches in keiner Form durch willkürliche Bewertungen danach, welches Leben noch als „lebenswert“ erscheint, relativiert werden dürfe.285 Es sei ein „Dammbruch“ zu erwarten286 und damit eine folgenschwere Entwertung menschlichen Lebens verbunden, die mit seinem Wert, wie er im Grundgesetz zum Ausdruck komme, nicht vereinbart werden könne.287 In einer aktuellen Entscheidung hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass das menschliche Leben ein höchstrangiges Rechtsgut ist, welches „absolut erhaltungswürdig“ ist. Daher verbiete sich ein Urteil eines Dritten über seinen individuellen Wert. Das Weiterleben eines Menschen – sollte es auch mit Leiden verbunden sein – könne somit aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht als „Schaden“ qualifiziert werden.288 Ebenfalls wird zur Rechtfertigung des § 216 Abs. 1 StGB angeführt, dass der Sterbewillige nur dann einen derart festen Sterbewunsch gefasst habe, wenn er diesen letzten Schritt alleine zu gehen bereit sei und ihn „mit eigener Hand [vollziehe]“289. Auch entstünde neben gravierenden Beweisschwierigkeiten im Einzelfall290 ein sozialer Rechtfertigungsdruck auf fürsorgebedürftige Schwerstkranke, die den Todeswunsch letztlich nur äußern würden, um ihrer Familie finanziell nicht zur Last zu fallen.291 Betrachtet man die Strafvorschrift des § 216 Abs. 1 StGB und die ihr gegenüberstehende verfassungsrechtlich gewährte Autonomie des Patienten hinsichtlich eines Abwehrrechts ärztlicher Eingriffe, wird deutlich, dass das Sterbehilferecht darauf aufbaut, dass ein Sterbewilliger sich selbst zwar sowohl aktiv als auch passiv durch Nichtbehandlung dem Tod überlassen darf, eine dritte 284

BGH, NJW 2001, 1802 (1803 f.); BGH, NJW 2003, 2326 (2327); Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 212. 285 Kutzer, NStZ 1994, 110 (113); vgl. auch Schneider, in: MüKo-StGB, § 216 Rdnr. 3 m. w. N.; eine Rechtfertigung des § 216 Abs. 1 StGB durch das Rechtsgut der Allgemeinheit „Leben“ abl. Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 84. 286 Krit. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 72; Herzberg, NJW 1996, 3043 (3045). 287 Hirsch, in: FS Lackner, S. 597 (613); Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (116). 288 BGHZ 221, 352 ff. Dem Fall lag die Rechtsfrage zugrunde, ob eine lebensverlängernde Maßnahme bei einem Patienten, bei welchem eine Weiterbehandlung wohl als nicht mehr indiziert anzusehen war, einen Anspruch auf Schmerzensgeld begründet. Dieser wurde von dem Erben des verstorbenen Patienten geltend gemacht. Die entgegengesetzte Ansicht vertrat das OLG München, das dem Sohn als Erben einen Schadensersatzanspruch aus §§ 611 Abs. 1 BGB, 280 Abs. 1 BGB zusprach, OLG München, BeckRS 2017, 146433 Rdnr. 26. 289 Kindhäuser / Hilgendorf, Strafgesetzbuch, § 216 Rdnr. 2; vgl. Roxin, GA 2013, 313; Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (639) sieht aufgrund dieser Rechtfertigungsbegründung in § 216 StGB ein abstraktes Gefährdungsdelikt. 290 Hirsch, in: FS Lackner, S. 597 (613). 291 So Kutzer, NStZ 1994, 110 (113).

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Person täterschaftlich allerdings nicht auf straffreiem Wege in den Sterbeprozess durch eine neu gesetzte Ursache eingreifen darf.292 Relativiert wird letztere Grundprämisse allerdings wiederum durch die sog. „indirekte“ Sterbehilfe, bei welcher an „einem todkranken Menschen schmerzlindernde Maßnahmen vorgenommen werden, obwohl sie den Eintritt des Todes beschleunigen können“293. Die „indirekte Sterbehilfe“ wird im Ergebnis grundsätzlich als erlaubt angesehen,294 weil es bei unerträglichem Leiden eines Menschen möglich sein müsse, ihm schmerzlindernde Medikamente zu verabreichen, auch wenn in Kauf genommen werde, dass diese lebensverkürzende Wirkung entfalten.295 Die dogmatische Begründung der Straflosigkeit variiert allerdings. Überwiegend wird die Verabreichung schmerzlindernder, lebensverkürzender Medikamente mit dem Eingreifen des Rechtfertigungsgrundes des Notstands nach § 34 Abs. 1 StGB – teils kombiniert mit Einwilligungselementen – straflos gestellt.296 Anderer Auffassung zufolge stellt sich das Handeln schon tatbestandlich – seinem sozialadäquaten Sinngehalt nach – nicht als eine Tötung dar.297 Nach überholter298 Ansicht sollte auf subjektiver Ebene der Vorsatz des Arztes entfallen, weil dieser nicht töten, sondern nur Schmerzlinderung betreiben wolle.299 Der Bundesgerichtshof hat die „indirekte Sterbehilfe“ in einem Nebensatz auch als Fall einer rechtfertigenden (mutmaßlichen) Einwilligung des Patienten eingestuft.300 Dieses „obiter dictum“ zog allerdings von vielen Seiten Kritik nach sich, weil es bei der „indirekten Sterbehilfe“ nicht um den Abbruch einer Behandlung, sondern gerade um die Vornahme einer – unter Umständen auch lebensverkürzenden – Behandlung gehe.301 Die „indirekte Sterbehilfe“ wird ihrer Natur nach 292

So auch Hilgendorf, in: Arzt / Weber / Heinrich u. a., Strafrecht BT, § 3 Rdnr. 7. Roxin, GA 2013, 313 (314). 294 Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 55 m. w. N.; Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 3; Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (551); Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (86 f.); Streng, in: FS Frisch, S. 739 (740) m. w. N. 295 Streng, in: FS Frisch, S. 739 (740). 296 BGHSt 42, 301 (LS. 2, 305) m. w. N.; Brodführer, Die Regelung der Patientenverfügung, S. 40; Kutzer, NStZ 1994, 110 (115); Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (559 f.); Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (87); Streng, in: FS Frisch, S. 739 (741); krit. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 57; vgl. auch Wessels / Hettin­ ger / Engländer, Strafrecht BT 1, Rdnr. 149. 297 Herzberg, NJW 1996, 3043 (3048 f.); Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 270 ff. sieht das Rechtsgut „Leben“ als nicht verletzt an; Kraatz, Arztstrafrecht, Rdnr. 178; Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 4; wohl auch Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (551); krit. Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (87). 298 So Schneider, in: MüKo-StGB, Vor § 211 Rdnr. 105 mit Fn. 385 m. w. N. 299 Bockelmann, Strafrecht des Arztes, S. 25; in die gleiche Richtung Schmitt, JZ 1979, 462 (465). 300 BGHSt 55, 191 (204 Rdnr. 34). 301 Vgl. Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (27); Engländer, JZ 2011, 513 (519 f.); vgl. Rissingvan Saan, ZIS 2011, 544 (551); etwas gemäßigter insoweit Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (287 f.). 293

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als Unterfall der „aktiven Sterbehilfe“ angesehen302 und bietet großflächiges Angriffspotenzial, nachdem sie zu einer „von unserer Rechtsordnung an sich nicht tolerierten qualitativen Relativierung von Lebenszuständen“303 führt. Die Trennschärfe zwischen den beiden Sterbehilfeformen ist ersichtlich gering.304 Die verbotene aktive Sterbehilfe liegt aber vor, wenn an die Stelle der Intention von Leidens­ minderung die Tötung tritt.305 Nach dieser Abgrenzung der Sterbehilfeformen voneinander soll im Folgenden die „passive Sterbehilfe“ im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen. Für diese Fallgruppe besonders relevant und gleichzeitig besonders argumentativ umkämpft306 sind medizinische Schicksale, in Folge derer der Patient aufgrund eines „apal­lischen Syndroms“ irreversibel bewusstlos ist und sich im vegetativen Zustand eines sog. „Wachkomas“ befindet307 oder aber krankheitsbedingt aufgrund schwerster Demenz einwilligungsunfähig geworden ist. Nachdem diese Fälle wohl eher die Regel als die Ausnahme darstellen dürften,308 drängt sich die Frage auf, wer und auf welche Weise zur Entscheidung berufen ist. Letztere Fragestellung impliziert aber mit der Beachtlichkeit des mutmaßlichen Willens am Lebensende bereits die fundamentale Erkenntnis, dass der Patient mit dem Verlust seiner Einwilligungsfähigkeit nicht gleichzeitig sein Selbstbestimmungsrecht einbüßt.309 Nach §§ 1896, 1902 BGB ist in diesen Fällen, sollte keine Betreuungsverfügung vorhanden sein, vom Gericht ein Betreuer zu bestellen, der als gesetzlicher Vertreter agiert und die Entscheidungsunfähigkeit des Betreuten kompensieren soll. Gerade in diesen Lebenslagen, in denen der Patient seinen Willen nicht (mehr) selbst äußern kann, kommt dem Prozess der Willensermittlung des nicht (mehr) Einwilligungsfähigen besonders elementare Bedeutung zu, um einer Aushöhlung der Selbstbestimmungsfreiheit durch eigenwillige Fremdbestimmung vorzu­ beugen. Für den Betreuer ist dabei das Vorliegen einer Patientenverfügung von maßgebender Bedeutung. Im Folgenden soll daher die Patientenverfügung als

302

Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (15); Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 56: „Sie ist aktiv, direkt und vorsätzlich.“ Ebenso Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (633): „Klare Fälle aktiver Sterbehilfe“. 303 Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (551); vgl. auch Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 270; in diesem Sinne auch Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 221. 304 Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 64. 305 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (91); vgl. auch Streng, in: FS Frisch, S. 739 (740); Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 61 schlägt daher die Terminologie „Leidensminderung“ vor. 306 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (97). 307 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (98); zum Begriff des „apallischen Syndroms“ weiterführend Höfling / Rixen, JZ 2003, 884 (884 f.). 308 So Verrel, KritV 2001, 440 (443): „der bis zum letzten Atemzug im Vollbesitz seiner Entscheidungs- und Äußerungskräfte befindliche Patient [ist] ein Ausnahmefall“. 309 A. A. Tolmein, KJ 1996, 510 (520), der die mutmaßliche Einwilligung als Rechtfertigungsgrund ablehnt.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

„intradisziplinärer Regelungsgegenstand“310, ihr betreuungsrechtliches Prozedere sowie die rechtlich vorgegebene Vorgehensweise bei Fehlen einer Patientenverfügung dargestellt werden.

III. Das gesetzlich fixierte Instrument der Patientenverfügung 1. Das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB Im Folgenden soll das Verfahren der betreuungsrechtlichen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB dargestellt werden. Dieses richtet sich maßgeblich danach, ob eine wirksame sowie auf die konkrete Lebens- und Behandlungssituation zutreffende Patientenverfügung vorliegt. Nachdem auf die Konstellation des Vorliegens einer Patientenverfügung und auf die Konstellation ihres Nichtvorliegens eingegangen wurde, setzt sich die Arbeit neben der Rolle des Betreuungsgerichts auch mit Streitfragen im Rahmen der §§ 1901a ff. BGB auseinander, die sowohl die Rechtsnatur der Patientenverfügung als auch die Erforderlichkeit einer Betreuerbestellung betreffen. a) Das (Nicht-)Vorliegen einer Patientenverfügung Die in § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB legal definierte Patientenverfügung eröffnet ihrem volljährigen Verfasser die Möglichkeit, im einwilligungsfähigen Zustand schriftlich (§ 126 Abs. 1 BGB) für den Fall einer später eintretenden Einwilligungsunfähigkeit antizipiert in bestimmte,311 noch nicht unmittelbar bevorstehende ärztliche Maßnahmen einzuwilligen oder diese zu untersagen. Eine ärztliche Beratung vor Abfassung der Verfügung wurde – was zum Teil erhebliche Kritik nach sich

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Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (20). Der Streit über die Bestimmtheitsanforderungen einer Patientenverfügung hat sich durch die Einführung des § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB nicht erledigt, sondern ist vielmehr in den Fokus der Kontroversen über Patientenverfügungen geraten. Einen strengen Maßstab fordern Albrecht / Albrecht, MittBayNot 2009, 426 (428); hingegen einen niedrigeren Bestimmtheitsrahmen anlegend BGHZ 202, 226 (239 Rdnr. 29); Schneider, in: MüKo-StGB, Vor § 211 Rdnr. 146; Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (28). In einer neueren Entscheidung hat der BGH entschieden, dass die Äußerung, „keine lebenserhaltenden Maßnahmen“ zu wünschen, für sich alleine nicht den erforderlichen Bestimmtheitsgrad aufweise. Die Äußerung könne aber durch die Angabe spezifischer ärztlicher Maßnahmen oder spezifizierter Krankheiten konkretisiert werden, vgl. BGHZ 211, 67 (LS. 3, 83 Rdnr. 47). In einer darauffolgenden Entscheidung hat der BGH sodann entschieden, dass eine Patientenverfügung nur dann ausreichend bestimmt sei, wenn sich feststellen lasse, in welcher Behandlungssituation welche ärztlichen Maßnahmen durchgeführt oder unterlassen werden sollen, vgl. BGHZ 214, 62 (LS. 1, 68 Rdnr. 17 f.). 311

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zog312 – nicht zur obligatorischen Wirksamkeitsvoraussetzung der Patientenverfügung erhoben.313 Weiterhin wurde die sehr umstrittene Frage der Reichweite der Patientenverfügung geklärt; ihre Verbindlichkeit und somit die Maßgeblichkeit des zu verwirklichenden Willens hängt nicht von Art und Stadium der Erkrankung ab, § 1901a Abs. 3 BGB. Die sog. „Reichweitenbegrenzung“, die im „Entwurf Bosbach“ vorgesehen war,314 hat daher nach unermüdlichen Erörterungen keinen Eingang ins Gesetz gefunden. Diese Anerkennung unterstreicht zusätzlich das neu gewonnene Verständnis des Selbstbestimmungsrechts des Patienten in Bezug auf unerwünschte Eingriffe, welches sich „rechtsgebietsübergreifend“315 abzeichnet. Der Betreuer bzw. Bevollmächtigte hat im Fall des Vorliegens einer Patientenverfügung eine zweifache Prüfung durchzuführen. Zunächst hat er zu prüfen, ob die Wirksamkeitserfordernisse des § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB erfüllt sind und kein Widerruf der Patientenverfügung316 vorliegt, welcher nach § 1901a Abs. 1 S. 3 BGB nicht der Schriftform bedarf. Bejaht er das Vorliegen einer validen Patientenverfügung, hat er anhand der antizipiert getroffenen Verfügungen in der Patientenverfügung festzustellen, ob diese auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen. Ob auch der Arzt an der Ermittlung, ob die Verfügung auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, zu beteiligen ist, wurde vom Gesetz nicht letztgültig beantwortet.317 Der Arzt kennt häufig den Patienten nicht persönlich und wird damit nur eine Überprüfung der Interpretationen des Betreuers hinsichtlich ihrer Plausibilität vornehmen können. Der Betreuer besitzt in den meisten Fällen das umfassendere subjektive Wissen aufgrund eines Näheverhältnisses. Dennoch ist aufgrund der Ratio der Vorschrift davon auszugehen, dass der Arzt eine Befugnis zur Ermittlung sowohl des in einer Patientenverfügung zum Ausdruck kommenden als auch des mutmaßlichen Willens besitzt.318 Hierfür spricht auch der Wortlaut des § 1901b Abs. 1 BGB, der umfassend auf § 1901a BGB verweist und keine Differenzierung hinsichtlich seiner Absätze festlegt. Die Sprache des Gesetzes, dass der Betreuer als Kompetenzträger im Ergebnis die Einwilligung oder Nichteinwilligung im Außenverhältnis erteilt, darf nicht darüber hinweg­ 312

Albrecht / Albrecht, MittBayNot 2009, 426 (433); Beermann, FPR 2010, 252 (253 f.); Höfling, NJW 2009, 2849 (2852). 313 Dies befürwortend Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (101); Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (451). 314 BT-Drs. 16/11360, S. 3. 315 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 13. 316 Zu der vehementen Auseinandersetzung in der Literatur, ob der Widerruf der Patientenverfügung die Einwilligungsfähigkeit des Patienten voraussetzt oder ein „natürlicher Wille“ ausreicht vgl. Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2089 ff.); Steenbreker, NJW 2012, 3207 (3209 f.). 317 So auch Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)​Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 76; eine ärztliche Prüfungskompetenz lehnt Ihrig, DNotZ 2011, 583 (589) hingegen ab. 318 Kutzer, MedR 2010, 531 (532); Reus, JZ 2010, 80 (82); Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (49).

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täuschen, dass Betreuer und Arzt eine gegenseitige Kontrollfunktion ausüben.319 Degradiert man den Arzt zur bloßen Informationsquelle des Betreuers, beraubt man ihn seiner gleichberechtigten Ermittlungskompetenz, die eine Zentralfunktion im Rahmen der §§ 1901a ff. BGB einnimmt.320 Diese eigenständige Ermittlungskompetenz ändert aber nichts daran, dass der Betreuer primär zur Ermittlung und Umsetzung des Patientenwillens berufen ist. Die Feststellung der Einschlägigkeit einer Verfügung in der konkreten Situation soll durch Auslegung nach §§ 133, 157 BGB (Lehre vom Empfängerhorizont) er­ folgen,321 gleichwohl stellt allerdings der subjektive Wille des Verfassers bei Patientenverfügungen ein maßgebliches Auslegungskriterium dar.322 Kommt der Betreuer unter ärztlicher Beipflichtung zu der Schlussfolgerung, dass auch nach Berück­ sichtigung gewandelter medizinischer Behandlungsmöglichkeiten die Festlegungen auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffen, hat er § 1901a Abs. 1 S. 2 BGB zufolge dem Willen des Betreuten „Ausdruck und Geltung zu verschaffen“. Liegt hingegen keine (wirksame) Patientenverfügung vor oder ist diese nicht mit der vorherrschenden Lebens- und Behandlungssituation kongruent, hat der Betreuer gem. § 1901b Abs. 1 S. 1 BGB die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Betreuten in einem Gespräch zusammen mit dem Arzt zu eruieren, um sich für oder gegen eine Einwilligung in die ärztliche Maßnahme zu entscheiden (Konsultationsverfahren, § 1901b Abs. 1 BGB).323 Durch diese Vorgehensweise soll die „dialogische Struktur des Behandlungsprozesses“324 zwischen Arzt und Patient in das Verhältnis von Arzt und Betreuer transferiert werden. Behandlungswünsche stellen zwar Festlegungen für eine Lebens- und Behandlungssituation dar, sie erfüllen allerdings nicht die Anforderungen, die nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB an Patientenverfügungen gestellt werden.325 In einer neueren Entscheidung fordert der Bundesgerichtshof allerdings, dass der Bestimmtheitsgrad

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So auch BGHZ 211, 67 (80 Rdnr. 39); Grotkopp, BtPrax 2015, 39 (42). So auch Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (37); vgl. auch Krüger  / ​ Helm, GesR 2012, 456 (458), die die Kongruenzfrage der Patientenverfügung als eine solche medizinischer Art ansehen. 321 So BT-Drs. 16/11493, S. 8. 322 Kutzer, MedR 2010, 531 (532); vgl. auch Krüger / Helm, GesR 2012, 456 (458), die den Maßstab des § 1901 Abs. 2 BGB heranziehen. 323 Nach einer Entscheidung des LG München I, BeckRS 2017, 112362 Rdnr. 38 stellt es eine Pflichtverletzung des Arztes dar, wenn dieser mit dem Betreuer nicht das erforderliche Gespräch sucht, um über die Fortsetzung oder den Abbruch der künstlichen Ernährung zu diskutieren, sobald ein über die bloße Lebensverlängerung hinausgehendes Therapieziel nicht mehr erreichbar ist. 324 Lipp, MedR 2015, 762. 325 BGHZ 202, 226 (237 Rdnr. 25); 211, 67 (84 Rdnr. 53); 214, 62 (72 f. Rdnr. 32 f.); vgl. auch Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (47 f.). 320

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von Behandlungswünschen mit dem Bestimmtheitsgrad von Patientenverfügungen vergleichbar sein muss.326 Unter dem mutmaßlichen Willen, der ebenfalls Verfassungsschutz nach Art. 2 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG genießt,327 ist der Wille zu verstehen, den der Patient äußern würde, wenn er zu der konkreten Maßnahme befragt werden und eigenverantwortlich entscheiden könnte.328 Gemeinsame und primäre Voraussetzung für diesen Willensermittlungsdialog ist allerdings, dass der Arzt die medizinische Indikation329 einer oder mehrerer ärztlicher Maßnahmen geprüft und bejaht hat.330 Ist eine weitere Behandlung aus ärztlicher Sicht aussichtslos, kommt dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten keine Entscheidungsgewalt mehr zu, weil er keinen unbedingten Behandlungsanspruch hat. So wird in BGHSt 32, 379 f. formuliert, dass es „keine Rechtsverpflichtung zur Erhaltung eines erlöschenden Lebens um jeden Preis gibt. Maßnahmen zur Lebensverlängerung sind nicht schon deswegen unerlässlich, weil sie technisch möglich sind.“ Die medizinische Indikation, welche bei einem sich bereits im unmittelbaren Sterbeprozess befindenden Patienten zu verneinen ist,331 stellt demnach die erste bedeutsame Schranke einer sodann weiter erörterungsbedürftigen Verfahrensoption dar. Wird sie von ärztlicher Warte aus verneint, handelt es sich nicht mehr um einen „Behandlungsabbruch“.332 Bei dieser Feststellung können existente und auch notwendige medizinische Gestaltungsspielräume nicht geleugnet werden.333

326 BGHZ 211, 67 (85 Rdnr. 53); dies in einer Folgeentscheidung bekräftigend BGHZ 214, 62 (73 Rdnr. 33). 327 BGHSt 40, 257 (260); Hufen, NJW 2001, 849 (856). 328 Vgl. Lindner, MedR 2015, 483; Schneider, in: MüKo-BGB, § 1901a Rdnr. 46. 329 Zur Definition der „medizinischen Indikation“ als das fachliche Urteil „über den Wert oder Unwert einer medizinischen Behandlungsmethode in ihrer Anwendung auf den konkreten Fall“ Opderbecke, MedR 1985, 23 (25); diese Definition übernehmend Albrecht / Al­ brecht, MittBayNot 2003, 348 (354); vgl. auch Lipp, in: Laufs / Katzenmeier / Lipp, Arztrecht, VI Rdnr. 95; Lipp, MedR 2015, 762 (763). 330 Die Feststellung der medizinischen Indikation obliegt nach dem Gesetzeswortlaut der Alleinverantwortung des Arztes aufgrund seines medizinischen Fachwissens. Gleichwohl wird auch in diesem Verfahrensschritt vereinzelt das Hinzuziehen des Patientenvertreters oder naher Angehöriger gefordert, vgl. hierzu Kutzer, MedR 2010, 531. Auch Saliger, MedR 2004, 237 (242 f.) erblickt eine Gefahr darin, „der ärztlichen Vernunfthoheit einen weiten und unscharfen betreuungsrechtsfreien Raum zu eröffnen“. In die gleiche Richtung auch Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 295. 331 Vgl. Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2088 f.); Lipp, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 437 (440); Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (550); Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1200). 332 Krüger / Helm, GesR 2012, 456. 333 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (97); vgl. auch Lipp, MedR 2015, 762: „keine klaren Konturen“; vgl. Möller, Die medizinische Indikation lebenserhaltender Maßnahmen, S. 47 f.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Die von Betreuer und Arzt gemeinsam durchzuführende Ermittlung des mutmaßlichen Willens erfolgt nach § 1901a Abs. 2 S. 2 BGB anhand konkreter Anhaltspunkte, wobei insbesondere frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse Überzeugungen und sonstige persönliche Wertvorstellungen des Betreuten zu berücksichtigen sind. Aufgrund der nicht abschließenden Formulierung „insbesondere“ werden teilweise auch die altersbedingte Lebenserwartung und das Schmerzerleiden des Patienten als Anhaltspunkte für den mutmaßlichen Willen herangezogen.334 Zur Feststellung der zu treffenden Entscheidung sollen auch nahe Angehörige und sonstige Vertrauenspersonen des Betreuten gem. § 1901b Abs. 2 BGB hinzugezogen werden, solange der damit verbundene zusätzliche Zeitaufwand vertretbar erscheint. Lässt sich ein mutmaßlicher Wille des Betreuten nach diesem Prozedere auch trotz umfassend ausgeschöpfter Erkenntnismöglichkeiten nicht ausmachen, soll nach überwiegender, auch der Gesetzesbegründung zu entnehmender Ansicht in dieser „non-liquet-Situation“ der Grundsatz „in dubio pro vita“ zum Tragen kommen.335 Anderen Ansichten nach soll der Rückgriff im Sinne von „in dubio pro dignitate“336 auf „allgemeine Wertvorstellungen“ möglich sein,337 sodass bei eindeutiger Prognose eines irreversiblen Bewusstseinsverlustes ein Behandlungs­ abbruch durchgeführt werden müsse. Das Verfahren gilt gem. § 1901a Abs. 5 BGB für Bevollmächtigte entsprechend. Nachdem auf die Spezifika des Vollmachtverhältnisses allerdings nicht eingegangen werden soll, wird im Folgenden auf den Betreuer als den entscheidenden Kompetenzträger abgestellt.

334 Diese Kriterien zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens zog BGHSt 40, 257 (263) heran. Zuvor stellte BGHSt 35, 246 (249) auf die persönlichen Umstände und die individuellen Interessen und Wünsche des Patienten ab; vgl. auch Kraatz, Arztstrafrecht, Rdnr. 186 m. w. N.; abl. Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 22; Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (48 f.). 335 BT-Drs. 16/8442, S. 16; Kraatz, Arztstrafrecht, Rdnr. 186 m. w. N.; Kutzer, MedR 2010, 531 (533); Nickel, MedR 1998, 520 (522); Saliger, JuS 1999, 16 (20); Stoffers, Behandlungs­ abbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 221 ff.; vgl. auch Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (50), der dies zwar für die sicherste strafrechtliche Variante hält, allerdings selbst eine Mittelposition vertritt, die auch das Einfließen objektiver Gesichtspunkte zulässt. 336 Hufen, NJW 2001, 849 (856) in seinem gleichnamigen Aufsatz; in die gleiche Richtung Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (552). 337 BGHSt 40, 257 (263). Allerdings muss dabei Zurückhaltung geübt und im Zweifel dem Schutz menschlichen Lebens der Vorrang eingeräumt werden. Vgl. hierzu auch Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 68a, der davon ausgeht, dass in der Praxis „diese Grauzone“ eine große Bedeutung einnimmt; abl. Hirsch, JR 2011, 37 (38); Laufs, NJW 1998, 3399: Erlass eines „lebensgefährlichen Strafurteil[s]“; Seitz, ZRP 1998, 417 (421); Vogel, MDR 1995, 337 (338).

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b) Die Beteiligung des Betreuungsgerichts nach § 1904 BGB Durch die Regelung des § 1904 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 BGB wurde die zuvor höchst umstrittene (analoge) Anwendung des § 1904 Abs. 1 a. F. BGB338 auf einen Abbruch ärztlicher Behandlung, der die Gefahr des Todes in sich birgt, im Wege der „Konfliktlösung“ entschieden. Die nach § 1904 Abs. 1 BGB grundsätzlich erforderliche Genehmigung der Nicht-Einwilligung des Betreuers in ärztliche Maßnahmen, die den Betreuten in Todesgefahr bringen, ist dann nicht einzuholen, wenn zwischen Betreuer und Arzt Konsens darüber erzielt wurde, dass die Nichtaufnahme der Behandlung bzw. ihr Abbruch dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten entspricht (Konsensprinzip).339 Sind mehrere alleinvertretungsberechtigte Betreuer vorhanden, entfällt das Genehmigungserfordernis nicht, wenn sich diese über den (mutmaßlichen) Willen des Patienten uneinig sind. Diese Konstellation wird einem Dissens zwischen Arzt und Betreuer gleichgestellt und somit der gerichtlichen Genehmigungsentscheidung unterworfen.340 Das Betreuungsgericht (zuvor „Vormundschaftsgericht“) kann darüber hinaus jederzeit von Beteiligten oder Angehörigen angerufen werden, sollte ein Missbrauch der zugewiesenen Kompetenzen im Raum stehen.341 Ist eine Genehmigung durch das Betreuungsgericht allerdings nicht erforderlich, hat es ein Negativattest auszustellen.342 Dieses Vorgehen, das die Patientenverfügung und auch die Situation ihres Nichtvorliegens „in einen umfassenden ‚Algorithmus der Willensermittlung‘ [einbettet]“343, wirkt stark formalisiert. Es wird sich jedoch zeigen, dass es im Bereich der 338

Für eine analoge Anwendung des § 1904 Abs. 1 a. F.: BGHSt 40, 257 (261 f.); OLG Frankfurt a. M., NJW 1998, 2747 (2748 f.); Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 321 f.; Knieper, NJW 1998, 2720 (2721); Saliger, JuS 1999, 16 (18 f.); Saliger, MedR 2004, 237 (239); Schöch, NStZ 1995, 153 (156); Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 328 f.; Verrel, KritV 2001, 440 (455 f.); vgl. dazu auch BGHZ 154, 205 (219 ff.), der die Kontrolle des Vormundschaftsgerichts nicht im Wege einer Analogie, sondern aufgrund eines „unabweisbaren Bedürfnis[ses]“ des Betreuungsrechts für geboten erachtet; für eine analoge Anwendung nur in Konfliktfällen ­Brodführer, Die Regelung der Patientenverfügung, S. 113; Kutzer, NStZ 1994, 110 (114); Spickhoff, NJW 2000, 2297 (2301); abl. dagegen LG München I, NJW 1999, 1788 (1789); Bernsmann, ZRP 1996, 87 (90 f.); Deichmann, MDR 1995, 983 (984 f.); Dodegge, NJW 1997, 2425 (2432); Nickel, MedR 1998, 520 (520 f.); Seitz, ZRP 1998, 417 (419 f.); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 232 ff. 339 Der Konsens ist nach § 10 Abs. 1 MBO-Ä festzuhalten. Auch schreibt § 630f BGB die Dokumentation der Behandlung vor. Krit. zur „Konfliktlösung“ vor deren Kodifizierung bereits Saliger, MedR 2004, 237 (243 f.). 340 BGHZ 214, 62 (72 Rdnr. 30). 341 BT-Drs. 16/8442, S. 19. 342 LG Kleve, NJW 2010, 2666 (2667). 343 Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (45) mit Verweis auf die graphische Darstellung bei Sold / Schmidt, in: Salomon, Praxisbuch Ethik in der Intensivmedizin, S. 187 (189); vgl. auch Verrel, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 617.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Sterbehilfe gleichwohl zu strafrechtlichen Fragen von immenser (auch im Sinne der hier zu untersuchenden prozeduralen) Bedeutung geführt hat. c) Adressat der Patientenverfügung Auch wenn der gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung unbestreitbar zugutegehalten werden muss, dass sie bedeutsame Rechtsunklarheiten „mit einem Federstrich“ geklärt hat, besteht auch Jahre nach Einführung der Neuerung in einzelnen Verfahrensfragen Streit. Dieser dreht sich nicht zuletzt um den Adressaten der Patientenverfügung und damit auch um das maßgebliche Verfahren der §§ 1901a ff. BGB insgesamt. Einer Ansicht nach richtet sich auch die wirksam abgefasste Patientenverfügung, die die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation erfasst, an den Betreuer,344 der aufgrund einer stets vorzunehmenden Aktualisierungsentscheidung die legitimierende Einwilligung im Außenverhältnis erteile oder verweigere. Begründet wird dies mit dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten, das zur Umsetzung notwendig einer vom Betreuer noch durchzuführenden aktuellen Prüfung und Entscheidung bedürfe.345 Auch wird der Wortlaut des § 1901b Abs. 1 S. 2 BGB herangezogen, wonach mit der nach § 1901a BGB zu treffenden Entscheidung nicht nur ein Bezug zu § 1901a Abs. 2 BGB (Nichtvorliegen einer Patientenverfügung), sondern auch zu § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB (Vorliegen einer Patientenverfügung) hergestellt werde.346 Könnte der Arzt alleine aufgrund einer Patientenverfügung medizinisch agieren oder Eingriffe unterlassen, würde das Entscheidungs- und Kontrollrecht des Betreuers ausgehebelt.347 Gegen diese Ansicht spricht jedoch gerade evident das vermeintliche Argument der Gegenansicht, die intendierte Stärkung des Selbstbestimmungsrechts. Dieses würde erheblich relativiert, wenn man der Verfügung ihre Letztverbindlichkeit im Ergebnis doch wieder absprechen würde. Dem Patienten muss es möglich sein, sich antizipiert und direkt an den behandelnden Arzt wenden zu können – ohne inhaltliche Verwässerungen durch einen Patientenvertreter. In diesem höchst sensiblen Bereich muss die Fremdbestimmung möglichst gering gehalten werden. Die Vertretertätigkeit ist in diesem Fall keine zwingende Voraussetzung der Bindungswirkung der Patientenverfügung.348 Vorzugswürdig erscheint somit nach wie vor eine „janusköpfige Rechtsnatur“ der Patientenverfügung: Der Patient selbst gibt die (Nicht-)Einwilligung gegenüber dem Arzt ab und zugleich eine Handlungsanweisung an den Vertreter. Die hinreichend konkrete und zutreffende Patientenverfügung stellt damit eine eigenständige Legitimationsgrundlage für den Behand 344 Albrecht / Albrecht / Böhm u. a., Die Patientenverfügung, Rdnr. 119 ff.; Diehn / Rebhan, NJW 2010, 326 (329); Kraatz, Arztstrafrecht, Rdnr. 185 m. w. N. 345 Boemke, NJW 2013, 1412 (1414). 346 Diehn / Rebhan, NJW 2010, 326 (327). 347 Albrecht / Albrecht / Böhm u. a., Die Patientenverfügung, Rdnr. 122. 348 Verrel, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 617 (628).

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lungsabbruch dar.349 Eine Vertreterentscheidung ist dann nicht mehr zu treffen.350 Die konträre Sichtweise verletzt augenscheinlich das Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG. Einzugestehen ist dennoch, dass diese Situation aufgrund der geforderten Bestimmtheitsanforderungen und der Auslegungsbedürftigkeit einer Patientenverfügung recht selten der Fall sein dürfte. Nach hier vertretener Ansicht kann es aber dann nicht auf das Einhalten der §§ 1901a ff. BGB ankommen, also weder in einem rechtfertigenden, noch in einem strafbarkeitsbegründenden Sinne, wenn eine eindeutige, wirksame Patientenverfügung nach § 1901a Abs. 1 S. 1 BGB vorliegt.351 Die Ausführungen beziehen sich daher im Folgenden auf die Fälle, in denen keine wirksame, zutreffende Patientenverfügung vorliegt und die Beteiligten angehalten sind, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu eruieren. Fehlt eine Patientenverfügung, ist sie nicht wirksam und / oder einschlägig, trifft der Betreuer nach Durchlaufen des leitgebenden Verfahrens der §§ 1901a ff. BGB die am mutmaßlichen Willen orientierte Entscheidung über die Einwilligung bzw. Nichteinwilligung.352 Nach entgegengesetzter Ansicht sei das nicht möglich, weil eine Stellvertretung in dieser höchstpersönlichen Materie unzulässig sei, weshalb nur auf den mutmaßlichen Patientenwillen als solchen abgestellt werden könne.353 Die Regelung des § 1901a Abs. 2 BGB dürfte derartige Zweifel allerdings letztlich ausgeräumt haben. Der Betreuer gibt in dieser Situation eine inhaltlich strikt am Willen des Betreuten orientierte Entscheidung ab. Er fungiert schließlich als „Sprachrohr“ des Betreuten. d) Die Erforderlichkeit einer Vertreterbestellung Eng verbunden mit der Frage der Rechtsnatur der Patientenverfügung ist die Frage der Erforderlichkeit einer Vertreterbestellung. Ansichten, welche die Vertreterentscheidung auch bei Vorliegen einer wirksamen, einschlägigen Patientenver­ 349

Hufen, NJW 2001, 849 (854); Reus, JZ 2010, 80 (83); Sternberg-Lieben, in: FS Roxin, S. 537 (552); a. A. Arzt, in: GS Wolf, S. 609 (612), der in ihr nur ein Indiz für den mutmaßlichen Willen sieht. 350 BGHZ 214, 62 (67 Rdnr. 14); dies entspricht auch BT-Drs. 16/8442, S. 14; Bienwald, in: von Staudinger, BGB, §§ 1901a und b Rdnr. 13; Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 136; Reus, JZ 2010, 80 (82); Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (35); s. zur alten Rechtslage schon Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1196): „Vorab-Eigenentscheidung“. 351 So auch Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 136. 352 So schon zur alten Rechtslage Saliger, MedR 2004, 237 (238 f.); Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1198); a. A. wohl Coeppicus, NJW 2013, 2939 (2941). 353 So zur alten Rechtslage LG München I, NJW 1999, 1788 (1789); LG Augsburg, NJW 2000, 2363; Deichmann, MDR 1995, 983 (985); Seitz, ZRP 1998, 417 (420); Steffen, NJW 1996, 1581.

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

fügung als maßgebend betrachten, müssen dieses Erfordernis zwangsläufig bejahen. Die Bestellung eines Betreuers als Kontrollinstanz sei dieser Ansicht nach stets zwingend erforderlich, weil das Verfahren ihn in den Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB voraussetze und dieses nicht hinweggedacht werden könne, ohne enorme Missbrauchsrisiken zu begründen.354 Meinungsverschiedenheiten innerhalb dieser Ansicht können insofern nur bezüglich eilbedürftiger Maßnahmen bestehen. Die Gegenansicht argumentiert hingegen, dass im Falle einer einschlägigen Patientenverfügung kein Bedürfnis mehr für eine Betreuerbestellung bestehe, weil der Arzt den eindeutigen Willen alleine umsetzen könne.355 Nach § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB sei eine Betreuerbestellung insofern nicht mehr erforderlich.356 Zur Begründung wird auch die Regelung des § 630d Abs. 1 S. 2 BGB angeführt, wonach der Gesetzgeber den Streit um die Erforderlichkeit der Vertreterbestellung bei eindeutigen Patientenverfügungen entschieden habe.357 Auch lasse die systematische Stellung des § 1901a Abs. 1 BGB hinter § 1901 BGB erkennen, dass das Gesetz sich nur auf Situationen beziehe, in denen ein Vertreter bereits vorhanden oder erforderlich ist.358 Der Rückschluss von der eigenständigen Legitimationswirkung einer wirksamen Patientenverfügung auf das Entfallen der Vertreterbestellung ist allerdings aufgrund von Kontrollaspekten nicht zwingend.359 Eine vermittelnde Ansicht sieht deshalb zwar den vorausverfügenden Patienten als denjenigen an, welcher die Entscheidung im Außenverhältnis antizipiert abgebe, hält aber dennoch eine Vertreterbestellung für erforderlich, um diese umzusetzen.360

354

Olzen / Metzmacher, JR 2011, 318 (319); vgl. auch Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 74 f., die auf die mangelnde Kompetenz und fehlende Zeit des Arztes im Klinikalltag abstellt. 355 Bundesärztekammer, DÄBl. 2013, A 1580 (A 1582); Kutzer, MedR 2010, 531 (532). 356 Coeppicus, NJW 2011, 2085 (2087); Coeppicus, NJW 2013, 2939 (2940); Kutzer, MedR 2010, 531 (532); Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (39 f.); vgl. zur alten Rechtslage auch Deichmann, MDR 1995, 983 (985); Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1196) m. w. N.; a. A. Olzen / Metzmacher, JR 2011, 318. 357 Schwedler, MedR 2013, 652 (652 f.). 358 Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (39); vgl. auch Olzen / Metzmacher, JR 2011, 318. 359 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 74. 360 In diese Richtung BT-Drs. 16/8442, S. 14; ebenso Müller, DNotZ 2010, 169 (174 ff.).

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e) Eigene Stellungnahme Der Streit um die Erforderlichkeit und Stellung des Patientenvertreters relativiert sich ein wenig, wenn man sich vergegenwärtigt, in welchen Konstellationen er überhaupt Bedeutung erlangt. Zwingend erforderlich wird eine Vertreterbestellung immer dann, wenn mangels (wirksamer und zutreffender) Verfügung der mutmaßliche Wille zu ermitteln ist, Zweifel über die Auslegung der Verfügung bestehen oder sich der Arzt weigert, eine valide Verfügung umzusetzen. Nachdem eine Patientenverfügung in vielen Fällen zu unbestimmt bzw. zumindest in den meisten Fällen auslegungsbedürftig ist, stellt sich diese Frage in der Praxis wohl eher selten.361 In diese Richtung weist auch eine neuere Entscheidung des zwölften Zivilsenats vom 08.02.2017. Danach muss eine Patientenverfügung, um die erforderliche Bestimmtheit zu erreichen, erkennen lassen, in welcher Behandlungssituation welche ärztlichen Maßnahmen durchgeführt oder unterlassen werden sollen.362 Auch wenn dieser Entscheidung zufolge die Bestimmtheitsanforderungen nicht überspannt werden dürfen und eine nicht hinreichend konkret bezeichnete ärztliche Maßnahme durch die Bezugnahme auf ausreichend bestimmte Krankheiten und Behandlungssituationen ausgeglichen werden könne,363 dürften die Bestimmtheitsanforderungen damit doch etwas verschärft worden sein. Die wirksame, eindeutig auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutreffende Patientenverfügung, die keinerlei Auslegung bedarf, wird wohl eher die Ausnahme sein. Der Betreuer wird daher in den meisten Fällen die entscheidende Rolle im Verfahren spielen. Der Gang der Untersuchung soll aber nicht nur vor diesem Hintergrund auf Konstellationen beschränkt werden, in denen keine (wirksame und einschlägige) Patientenverfügung vorliegt. Für die Thematik der vorliegenden Arbeit ist es zudem als ausreichend anzusehen, dass lediglich diese Konstellation unter prozeduralen Aspekten analysiert wird. Nachdem nach hier vertretener Ansicht der Patient durch seine Verfügung bereits vorab seinen eindeutigen Willen bekundet, bildet dieser festgeschriebene Wille die Grundlage der Vornahme oder des Abbruchs von Handlungen. Das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB stellt sich also nur dann als relevant dar, wenn keine einschlägige Patientenverfügung als unmittelbare Legitimationsgrundlage herangezogen werden kann.

361

Zu den Anforderungen an eine wirksame Patientenverfügung aus Sicht der Rechtsprechung vgl. die beiden Entscheidungen des XII. Zivilsenats, BGHZ 211, 67 ff. sowie BGHZ 214, 62 ff. Danach reichen allgemeine Äußerungen in Patientenverfügungen, wie „keine lebens­ verlängernden Maßnahmen zu wünschen“, alleine nicht aus. Bestätigt wurde dies durch BGH, BeckRS 2018, 31892 Rdnr. 21. 362 BGHZ 214, 62 (LS. 1, 68 Rdnr. 17 f.); vgl. auch BGH, BeckRS 2018, 31892 Rdnr. 19. 363 BGHZ 214, 62 (LS. 3, 68 f. Rdnr. 18 f.); vgl. auch BGH, BeckRS 2018, 31892 Rdnr. 20 f.

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2. Abschließendes Fazit zu den §§ 1901a ff. BGB Auch wenn das Patientenverfügungsgesetz364 praktisch bedeutsame Entscheidungen bislang unbeantwortet gelassen hat, so ist ihm dennoch zugutezuhalten, dass es in weiten Teilen Rechtsunklarheit beseitigt und dringend notwendige Handlungsleitlinien geschaffen hat. Dies gilt insbesondere für das kodifizierte Stufensystem der Willensermittlung und der explizit aufgeteilten Kompetenzzuweisung an Patientenvertreter, Arzt, Angehörige und das Betreuungsgericht.365 Auslegungsspielräume, Ungewissheiten oder impulsive Meinungsdivergenzen werden gleichwohl bestehen bleiben und den klinischen sowie pflegerischen Alltag nach wie vor begleiten. Dies liegt naturgemäß an der nicht abfederbaren Schwierigkeit der Abfassung einer antizipativen Verfügung. Gleichwohl wird mit der Regelung der §§ 1901a ff. BGB das schrittweise Vorgehen in einen rechtlichen Rahmen gegossen und den Handlungsbeteiligten vergegenwärtigt, dass ihre Entscheidungsbefugnis an verfahrenserzeugte Rationalität und einen diskursiven Begründungsaufwand gekoppelt ist. Dies beugt Fremdbestimmung und drittbestimmtem Handeln intuitiv vor. Als Fazit kann mit den Worten Verrels geschlossen werden, „dass Patientenverfügungen weder Teufelszeug, noch Königsweg der Selbstbestimmung sind“366. Dabei kommen sie dem Königsweg der Selbstbestimmung aber wohl deutlich näher als der Qualifizierung als Teufelszeug.

IV. Der „Fall Putz“ – Ein bedeutender Umbruch im Recht der Sterbehilfe Der „Fall Putz“ markiert einen wesentlichen Eckpfeiler im Recht der bis dato als „passiv“ bezeichneten Sterbehilfe. Nach Erörterung des zugrundeliegenden Sachverhalts sollen die zentralen Aussagen des Falles analysiert werden. Schließlich sollen auch die Konsequenzen, die der Fall für das Strafrecht nach sich zieht, erörtert werden. 1. Zugrundeliegender Sachverhalt Der „Fall Putz“ ereignete sich Ende des Jahres 2007 und damit noch vor Inkrafttreten der §§ 1901a ff. BGB. Es ging um eine 76-jährige Patientin, die aufgrund einer Hirnblutung seit fünf Jahren an einem apallischen Syndrom (Wachkoma) litt und nicht mehr ansprechbar war. Sie wurde in einem Altenheim gepflegt und über eine PEG-Sonde künstlich ernährt. Eine Besserung ihres Zustandes war 364

Vgl. dazu 2. Kap., Fn. 257. Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (51); vgl. auch Krüger / Helm, GesR 2012, 456: „Vorschriften mit eher prozessualem Charakter“. 366 Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (51). 365

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nicht mehr zu erwarten. Sie hatte aufgrund eines Vorfalls in der Familie in einem mündlichen Gespräch ihrer Tochter gegenüber geäußert, dass sie im Falle eines irreversiblen Bewusstseinsverlustes keine lebensverlängernden Maßnahmen in Form von künstlicher Ernährung oder Beatmung wünsche. Die Tochter und der mittlerweile verstorbene Sohn wurden in der Folgezeit zu Betreuern bestellt. Im Einvernehmen mit dem Hausarzt der Patientin, der die medizinische Indikation einer künstlichen Ernährung ablehnte, entschieden sich die Kinder für eine Einstellung derselben, sodass ihre Mutter in Würde sterben könne. Die Tochter setzte diese Entscheidung schließlich um, indem sie in Absprache mit der Heimleitung auf den Kompromiss einging, dass die künstliche Ernährung eingestellt und ihre Mutter nur noch palliativ versorgt werde. Am nächsten Tag nahm die Heimleitung die künstliche Ernährung jedoch absprachewidrig wieder auf und stellte der Tochter ein Hausverbot in Aussicht, falls sie sich der Anordnung widersetzen sollte. Die Tochter schnitt sodann, aufgrund eines per Telefon erteilten Rats ihres im Medizinrecht spezialisierten Rechtsanwalts Putz, den Schlauch der Ernährungssonde knapp über der Bauchdecke durch. Der Patientin wurde allerdings anschließend auf Anordnung der Staatsanwaltschaft im Krankenhaus eine neue Sonde gelegt, nachdem die Heimleitung die Polizei eingeschaltet hatte. Die Patientin verstarb kurz darauf eines natürlichen Todes. Das Landgericht Fulda367 verurteilte den Rechtsanwalt Putz wegen eines mittäterschaftlich begangenen versuchten Totschlags gem. §§ 212 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1, 25 Abs. 2 StGB. Die Tochter wurde aufgrund des eingeholten Rechtsrats in Folge eines unvermeidbaren Verbotsirrtums gem. § 17 S. 1 StGB freigesprochen. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und sprach auch den Angeklagten Putz frei. 2. Der „Fall Putz“ des Bundesgerichtshofs als Meilenstein in der Sterbehilfeproblematik Der zweite Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in seinem Aufsehen erregenden und vielfach diskutierten Urteil vom 25.06.2010368 die strafrechtliche Bewertung der Sterbehilfe insgesamt – allerdings in besonderem Maße die Grenzen der sog. „passiven Sterbehilfe“ – grundlegend umstrukturiert. Um diesen „neuen Weg“369 der „Neujustierung der Sterbehilfe“370 zu analysieren, ist ein kurzer Blick auf die zuvor bestehende Rechtslage erforderlich.

367

LG Fulda, BeckRS 2010, 06420. BGHSt 55, 191 ff. 369 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 26. 370 Schneider, MittBayNot 2011, 102. 368

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Die „passive Sterbehilfe“ wurde grundsätzlich als zulässig erachtet, solange ärztliche Maßnahmen aufgrund eines (mutmaßlichen) Patientenwillens nicht aufgenommen oder unterlassen wurden. Eine Unterlassungsstrafbarkeit nach §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB bzw. §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB371 scheiterte in dieser Konstellation nach überwiegender Ansicht an einer nicht mehr fortbestehenden Garantenpflicht des Arztes, welche dem (mutmaßlichen) Patientenwillen entsprechend begrenzt wurde.372 Nach einhelliger Auffassung konnte aber aus strafrechtlicher Sicht im Ergebnis kein Unterschied bestehen zu Konstellationen aktiver Maßnahmen, welche, wie ein Abstellen des Respirators durch Knopfdruck oder ein Entfernen der PEG-Sonde, im Ergebnis ebenfalls einen Abbruch der Behandlung herbeiführten.373 Ein Abbruch der Behandlung konnte sich danach wertungsgemäß und strafrechtlich nicht anders beurteilen lassen als eine von Anfang an nicht eingeleitete Behandlung.374 Einer aktiv kausalen Tötungshandlung stand (bzw. steht unter entsprechenden Gegebenheiten) allerdings die Strafnorm des § 216 Abs. 1 StGB im Wege.375 Um „das Minenfeld der Sterbehilfe durch aktives Tun [nicht] betreten zu müssen“376, wurde überwiegend377 eine sich in der Außenwelt als aktives Tun manifestierende Handlung normativ betrachtet als ein Unterlassen der weiteren Behandlung gewertet, sog. „Unterlassen durch Tun“.378 Auf diesem Wege wurde (und wird zum Teil)

371 Soweit man eine Strafbarkeit nach §§ 216 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB für zulässig erachtet, bej. Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 19; vern. Eser / SternbergLieben, in: Sch / Sch-StGB, § 216 Rdnr. 10; Fischer, Strafgesetzbuch, § 216 Rdnr. 6; Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, § 216 Rdnr. 4. 372 Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (16) m. w. N.; Deichmann, MDR 1995, 983; Engländer, JZ 2011, 513 (518); Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 109 sowie S. 123; Jäger, JA 2011, 309 (310); Otto, Jura 1999, 434 (438); Schöch, NStZ 1995, 153 (154); Streng, in: FS Frisch, S. 739 (741); Verrel, NStZ 2010, 671 (672); a. A. Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (629). 373 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (645 f.) m. w. N.; Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 7; Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (95); vgl. hierzu auch instruktiv Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 23, die die Zufälligkeit eines aktiven oder passiven Handelns anhand der maßgebenden Bauart der lebensverlängernden Maschinen exemplifiziert. 374 Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (556); zur psychologischen Divergenz zwischen einer Nichtaufnahme und einem Abbruch vgl. Verrel, NStZ 2010, 671 (673). 375 Vgl. Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 8; s. dazu auch Engländer, JZ 2011, 513 (514). 376 Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (556). 377 Zur dogmatischen Begründung von Straflosigkeit trotz der Annahme eines aktiven Tuns vgl. Otto, Jura 1999, 434 (438); Samson, in: FS Welzel, S. 579 (601 ff.); Sax, JZ 1975, 137 (149 f.). 378 Grundlegend Roxin, in: FS Engisch, S. 380 (395 ff.); Roxin, NStZ 1987, 345 (349); Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (95); Roxin, GA 2013, 313 (316); vgl. auch Kindhäuser / Hilgendorf, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–222 Rdnr. 20; Streng, in: FS Frisch, S. 739 (742) m. w. N.; Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 214: „Die Maschine ist nur der technisierte ‚Arm‘ des Arztes. Wenn

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ein aktives Tun in ein Unterlassen umgedeutet, um zur Straflosigkeit der Handlung nach den Grundsätzen der „passiven Sterbehilfe“ zu gelangen. Übertragen auf BGHSt 55, 191 ff. („Fall Putz“) konnte das Handeln der eingreifenden Tochter allerdings auch nach dieser strafrechtlichen Konstruktion nicht mehr als ein „Unterlassen durch Tun“ aufgefasst werden. Zum einen brach nicht der Arzt seine eigene Behandlung ab,379 sondern ein Dritter griff in den rettenden Kausalverlauf ein,380 zum anderen überspannte das Durchschneiden der PEGSonde selbst die Leistungskraft der zuletzt genannten ergebnisorientierten Hilfskonstruktion381 und musste daher strafrechtlich als „Tun“382 und im Ergebnis als versuchter Totschlag gewertet werden.383 Der Bundesgerichtshof wandte sich in seiner grundlegenden Entscheidung sodann allerdings von der bislang maßgebenden Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen bei der Beendigung einer ärztlichen Behandlung ab.384 Letztere setze sich naturgemäß aus einer Vielzahl von aktiven und passiven Handlungen zusammen,385 was es rechtfertige, all jene Handlungen unter einen normativ-wertenden Oberbegriff des „Behandlungsabbruchs“386 zu fassen, um die Abgrenzung zwischen einer erlaubten Sterbehilfe und einer Strafbarkeit nach § 212 Abs. 1 StGB oder § 216 Abs. 1 StGB nicht von bloßen Zufälligkeiten des täglichen Lebens abhängig zu machen.387

sie ausgeschaltet wird, entspricht das dem Fall, dass ein Arzt die Behandlung abbricht“; krit. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 60; Kraatz, Arztstrafrecht, Rdnr. 182; Wessels / Hettinger / Engländer, Strafrecht BT 1, Rdnr. 153. 379 Vgl. Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (99); Streng, in: FS Frisch, S. 739 (743); gemäßigter wohl Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 214; vgl. auch Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (95 f.), der eine Ausnahme bei einem ausdrücklich und eigenverantwortlich geäußerten Willen des Patienten zum Abschalten des Geräts annimmt. 380 Engländer, JZ 2011, 513 (515) m. w. N.; Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (556) m. w. N.; Streng, in: FS Frisch, S. 739 (750 f.); Verrel, NStZ 2010, 671 (672). 381 Albrecht, DNotZ 2011, 40; Gaede, NJW 2010, 2925 (2926); a. A. Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286. 382 BGHSt 55, 191 (198 Rdnr. 22); vgl. Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (99); Krüger / Helm, GesR 2012, 456 (459). 383 BGHSt 55, 191 (201 Rdnr. 27); Gaede, NJW 2010, 2925 (2926). Auch die verfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB, die aufgrund des Konsenses der Tochter mit dem Arzt eingehalten geworden wären, waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht in Kraft. 384 BGHSt 55, 191 (LS. 2, 198 Rdnr. 22, 201 ff. Rdnr. 28 ff.); Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (21); Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 62; Krüger / Helm, GesR 2012, 456 (459); a. A. Duttge, MedR 2011, 36 (37): „Ammenmärchen“. 385 BGHSt 55, 191 (202 f. Rdnr. 30 ff.). 386 Vgl. Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 7b: „verhältnismäßig griffige Kategorie der erlaubten Sterbehilfe“; krit. Kubiciel, ZJS 2010, 656 (660); Verrel, NStZ 2010, 671 (672 f.); ­Walter, ZIS 2011, 76 (78 f.). Der Begriff des „Behandlungsabbruchs“ taucht aber schon in BGHSt 40, 257 ff. auf. 387 BGHSt 55, 191 (203 Rdnr. 31).

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Die Voraussetzungen für einen solchen straffreien Behandlungsabbruch seien bereits dem normativen Begriff des „Behandlungsabbruchs“ einerseits und dem Begriff der „Sterbehilfe“ andererseits zu entnehmen388 und darin zu sehen, dass er der Umsetzung des tatsächlichen bzw. mutmaßlichen Willens des lebensbedrohlich erkrankten389 Patienten dient und dazu führt, dass einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess sein natürlicher Lauf gelassen wird.390 Die abgebrochene medizinische Maßnahme müsse zur Lebenserhaltung oder -verlängerung schließlich geeignet sein.391 Neben dieser objektiven Behandlungsbezogenheit müsse auch eine subjektive Behandlungsbezogenheit bestehen (sog. subjektives Rechtfertigungselement392).393 Zur argumentativen Untermauerung der straflosen Figur des „Behandlungsabbruchs“ mittels rechtfertigender Einwilligung zieht der Bundesgerichtshof die zivilrechtlichen Neuregelungen der §§ 1901a ff. BGB heran.394 Diese sähen ein Verfahren vor, welches nach der Einheit der Rechtsordnung auch Wirkung für die strafrechtliche Sterbehilfe beanspruche.395 Ihre Existenz führe allerdings nicht zu einer Verschiebung der Grenze des § 216 Abs. 1 StGB, dessen Verbot weiterhin strikte Geltung beanspruche.396 Die Abgrenzung zu § 216 Abs. 1 StGB solle vielmehr durch das Kriterium der „Behandlungsbezogenheit“ erfolgen. Interventionen, die von der Behandlung abgekoppelt eine eigenständige, unmittelbare Todesursache bewirken, würden nach wie vor dem Verbot der aktiven Sterbehilfe des § 216 Abs. 1 StGB unterfallen.397 Die vorherrschende Terminologie in der Sterbehilfe wird durch das „Putz-Urteil“ des Bundesgerichtshofs damit wohl überholt und obsolet. Der Bundesgerichtshof stellt in seiner Entscheidung auch den Behandlungs­ abbruch durch Dritte (namentlich des Rechtsanwalts Putz) unter der Bedingung

388

BGHSt 55, 191 (204 Rdnr. 32); krit. Hirsch, JR 2011, 37 (38). Aufgrund der klaren Formulierung von § 1901a Abs. 3 BGB muss davon ausgegangen werden, dass der BGH mit der Lebensbedrohlichkeit der Krankheit den Behandlungsabbruch nicht an das Kriterium der Todesnähe knüpfen wollte, sondern vielmehr eine Krankheit, die ohne Behandlung zum Tode führen würde, vor Augen hatte, vgl. dazu Verrel, NStZ 2010, 671 (673); zust. Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (288). 390 BGHSt 55, 191 (204 f. Rdnr. 35). 391 BGHSt 55, 191 (204 Rdnr. 33). 392 Vgl. Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (104). 393 BGHSt 55, 191 (204 Rdnr. 34). 394 BGHSt 55, 191 (198 f. Rdnr. 23 ff., 206 Rdnr. 40); vgl. auch Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 13. Albrecht, DNotZ 2011, 40 spricht hingegen davon, dass der BGH durch die Figur „des Behandlungsabbruchs“ die Lücke zwischen Zivilrecht und Strafrecht geschlossen und hierdurch die Einheit der Rechtsordnung wiederhergestellt habe. In der Tat transformiert der BGH durch den „Behandlungsabbruch“ die zivilrechtlichen Vorschriften ins Strafrecht, um ihr wesentliches Anliegen, die Selbstbestimmung, auch in strafrechtlicher Hinsicht umsetzen zu können. 395 BGHSt 55, 191 (199 Rdnr. 24 f.). 396 BGHSt 55, 191 (205 Rdnr. 37). 397 BGHSt 55, 191 (204 Rdnr. 33). 389

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straffrei, dass diese als für die Behandlung und Betreuung hinzugezogene Hilfspersonen tätig werden.398 Diese Erweiterung des Personenkreises, welche die §§ 1901a ff. BGB nicht vorsähen, wird in der Literatur auf der einen Seite kritisiert.399 Auf der anderen Seite hingegen wird die damit verbundene Berechtigungsbeschränkung400 von anderen Stimmen kritisiert: Es dürfe nicht auf die Person als solche, sondern auf ihr willens- und damit strafrechtskonformes Verhalten abgestellt werden.401 Danach sei jede Person unabhängig von ihrer Funktion berechtigt, den Willen des Patienten umzusetzen. An dieser Stelle ergibt sich bereits eine Parallele zum Problem der strafrechtlichen Bedeutung der Vorschriften, auf das später ausführlich eingegangen werden soll. 3. Resonanz des Urteils Die „mutig[e]“402 Entscheidung des Bundesgerichtshofs stellt einen „großen, wichtigen Schritt“403 dar und wurde in der Literatur überwiegend  – häufig zumindest im Ergebnis – begrüßt. Es lässt sich keinesfalls bestreiten, dass er das Selbstbestimmungsrecht des Patienten maßgeblich gestärkt404 und den Beteiligten enorme Handlungssicherheit gebracht hat405. Vor der Entscheidung wählte man oftmals „lieber den sicheren Weg einer Weiterbehandlung“, aus Angst, sich durch ein aktives Tun möglicherweise eines Tötungsdeliktes strafbar zu machen.406 Das Urteil harmonisiert in diesem Sinne Zivilrecht und Strafrecht.407 Die Aufgabe der

398

BGHSt 55, 191 (205 f. Rdnr. 39). So Duttge, MedR 2011, 36 (38). 400 Vertreten wird allerdings auch, dass in die Entscheidung unberechtigterweise ein „nur“ gelesen werde, was dort nicht stehe, weshalb nicht auf eine Begrenzung des zum Abbruch berechtigten Personenkreises geschlossen werden könne, Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (550); zust. Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 8a. 401 Engländer, JZ 2011, 513 (519); Hirsch, JR 2011, 37 (39); Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (564); Verrel, NStZ 2010, 671 (674). 402 Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (630). 403 Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (290). 404 Duttge, MedR 2011, 36; Engländer, JZ 2011, 513 (520); Gaede, NJW 2010, 2925 (2926); Wessels / Hettinger / Engländer, Strafrecht BT 1, Rdnr. 156. 405 Bergmann / Wever, MedR 2010, 635; Hirsch, JR 2011, 37; Ihrig, DNotZ 2011, 583; Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (548); Verrel, NStZ 2010, 671 (675); Walter, ZIS 2011, 76 (82); abl. hingegen Duttge, MedR 2011, 36. 406 Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (561); vgl. auch Gaede, NJW 2010, 2925 (2926); vgl. dazu auch mit empirischen Studien Simon, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 59 (75 f.); vgl. Verrel, KritV 2001, 440 (442). Auf die vor dem Urteil bestehende Unsicherheit, ob ein aktives Handeln noch als zulässige „passive Sterbehilfe“ gewertet würde, weist auch Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (24) hin. 407 Gaede, NJW 2010, 2925 (2926). 399

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2. Kap.: Die verschiedenen Lebensschutzkonzepte

Unterscheidung von Tun und Unterlassen408 beim Behandlungsabbruch wird daher einschlägig befürwortet.409 Die Lösung des Bundesgerichtshofs wird unter dogmatischen Gesichtspunkten allerdings vehement kritisiert, weil der Bundesgerichtshof dadurch, dass er auf die (mutmaßliche) rechtfertigende Einwilligung des Patienten abstellt, einigen Literaturansichten zufolge mit der strikten, dem deutschen Sterbehilferecht immanenten Einwilligungssperre des § 216 Abs. 1 StGB in Konflikt gerate.410 Andere Ansichten in der Literatur versuchen hingegen, der Einwilligungssperre in aktive Tötungen mittels einer „verfassungskonformen […] Normreduktion“411 bzw. einer teleologischen Reduktion des § 216 Abs. 1 StGB zu begegnen,412 um auf diese Weise die Reste „des [dogmatischen] Scherbenhaufens“, die durch die Kluft zwischen dem Selbstbestimmungsrecht einerseits und § 216 Abs. 1 StGB andererseits entstanden sind,413 zu beseitigen. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Lösung des Bundesgerichtshofs in dogmatischer Hinsicht nur schwer überzeugen kann. Dass der Bundesgerichtshof keinerlei Ausführungen zu einer etwaigen Kollision mit § 216 Abs. 1 StGB macht, sondern lediglich klarstellt, dass diese Vorschrift unberührt bleibe, überzeugt daher wenig. 4. Konsequenzen für das Strafrecht Zentraler Bestandteil des richterrechtlich entwickelten „Behandlungsabbruchs“ ist wie dargelegt der (mutmaßliche)  Wille des Patienten, der eine Einwilligung in den Behandlungsabbruch darstellen und diesen rechtfertigen soll. An dieser Schnittstelle des Patientenwillens setzen die §§ 1901a ff. BGB an, indem sie vor-

408

Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (547) hingegen merkt an, dass der BGH entgegen einiger Stellungnahmen die Unterscheidung von Tun und Unterlassen nicht aufgegeben habe, sondern vielmehr die Rechtmäßigkeit des Behandlungsabbruchs von dieser Unterscheidung unabhängig gestellt habe. Auch Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (99) weisen auf die fortbestehende Relevanz der Abgrenzung in der Fallprüfung hin. 409 Kubiciel, ZJS 2010, 656 (659); Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 7b; Verrel, NStZ 2010, 671 (672); gemäßigter Gaede, NJW 2010, 2925 (2926); krit. Streng, in: FS Frisch, S. 739 (745): „Eher verwirrende Umgang des Senats mit Tun und Unterlassen“; ähnlich Joerden, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 275 (295). 410 Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (102); Joerden, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 275 (295); Kahlo, in: FS Frisch, S. 711 (731); Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (630); Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (559); gemäßigter wohl Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 8, der die Konstruktion im Ergebnis billigt, allerdings auf die Kollision mit § 216 Abs. 1 StGB verweist; vgl. zur alten Rechtslage auch Deichmann, MDR 1995, 983. 411 Gaede, NJW 2010, 2925 (2927). 412 Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (630 f.); Walter, ZIS 2011, 76 (81 f.); in die gleiche Richtung Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (27); ähnlich auch Duttge, MedR 2011, 36 (37 f.), der die Einwilligungssperre des § 216 Abs. 1 StGB für „unanwendbar“ hält. 413 Verrel, NStZ 2010, 671 (672).

B. Die Sterbehilfe als Lebensschutzkonzept 

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geben, wie der maßgebliche Patientenwille zu ermitteln ist.414 Der Bundesgerichtshof weist diesen Vorschriften insofern bereits eine zentrale Rolle zu, als er seine sterbehilferechtliche Umstrukturierung (zumindest auch) auf ihre Einführung stützt,415 wenngleich sich der „Fall Putz“ noch vor Inkrafttreten der §§ 1901a ff. BGB abspielte. Die Problematik manifestiert sich darin, dass die Patientenverfügung als zivilrechtliches Instrument des Betreuungsrechts elementar in den Sterbehilfebereich eingreift, der bisher durch das Strafrecht dominiert wurde. Die §§ 1901a ff. BGB bereiten zwar den Weg, die bislang sog. „passive Sterbehilfe“ auszuweiten, sie sollen aber dennoch keine neuen Sterbehilfeformen schaffen.416 Die §§ 1901a ff. BGB entfalten allerdings nicht nur Wirkung für den Bereich des Behandlungsabbruchs. Auch im Bereich der ärztlichen Suizidbeihilfe zeichnet sich in der Rechtsprechung aktuell die Tendenz ab, das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ernst zu nehmen. Bei einem freiverantwortlich handelnden Suizidenten soll demnach ein Unterlassen von Rettungsbemühungen des Garanten auch nach Eintritt der Bewusstlosigkeit nicht als strafbares Tötungsdelikt zu werten sein.417 Auch in diesem Bereich werden argumentativ die Regelungen der §§ 1901a ff. BGB herangezogen.418 Die §§ 1901a ff. BGB haben damit – sollte ihr maßgeblicher Anwendungsbereich auch im Bereich des (ärztlichen) Behandlungsabbruchs liegen – die Sterbehilfe im Gesamten spürbar liberalisiert. Die rechtliche Darstellung der Lebensschutzkonzepte ist damit insgesamt abgeschlossen. Im Folgenden wird daher das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen behandelt. Erst hierdurch kann der Zusammenhang zwischen den einzelnen Lebensschutzverfahren und dem Konzept einer Prozeduralisierung hergestellt werden. Insbesondere sollen im Folgenden die prozeduralen Strukturmerkmale erschlossen werden, um die dargestellten rechtlichen Lebensschutzverfahren einer anschließenden Analyse unterziehen zu können.

414 Zur Konsenslosigkeit der Vertragsstaaten in Bezug auf das Entscheidungsverfahren und der damit verbundenen Einräumung eines Beurteilungsspielraums vgl. EGMR, Urt. vom 05.06.2015, Nr. 46043/14 (Lambert u. a. v. Frankreich), NJW 2015, 2715 (2723 Rdnr. 168). 415 Vgl. erneut BGHSt 55, 191 (198 f. Rdnr. 23 ff., 206 Rdnr. 40). 416 Vgl. erneut BGHSt 55, 191 (205 Rdnr. 37). 417 LG Hamburg, NStZ 2018, 281 (282); LG Berlin, NStZ-RR 2018, 246 (248). Der 5. Strafsenat des BGH hat die Entscheidungen bestätigt, vgl. BGHSt 64, 121 ff. und BGH, BeckRS 2019, 19646. 418 LG Hamburg, NStZ 2018, 281 (282 f.); LG Berlin, NStZ-RR 2018, 246 (247 f.); jeweils bestätigt durch BGHSt 64, 121 ff. sowie BGH, BeckRS 2019, 19646 Rdnr. 30.

3. Kapitel

Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen Nachdem die einzelnen strafrechtlichen Regelungen zum Schutz des menschlichen Lebens dargestellt wurden, soll nachfolgend das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen dargelegt werden. In diesem Kapitel soll mithin ein Grundverständnis für prozedurale Strukturmerkmale erarbeitet werden.

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung Im Folgenden wird den verschiedenen Ursprungsadern von Prozeduralisierung nachgegangen. Dazu wird das spezifische Konzept der Prozeduralisierung in den jeweils unterschiedlichen Rechtsbereichen dargestellt. Neben dem im Öffent­lichen Recht bedeutsamen „Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren“ soll im Rahmen der rechtsphilosophischen Prozeduralisierungstheorien auf die Diskurstheorie von Habermas eingegangen werden. Abschließend soll auch das rechtssoziologische Verständnis einer Prozeduralisierung kurz beleuchtet werden. Auch wenn sich das jeweilige Konzept prozeduralen Rechts von Rechtsgebiet zu Rechtsgebiet naturgemäß unter einem anderen Blickwinkel darstellt, weil für die unterschiedlichen Rechtsgebiete der jeweilige Fokus auf verschiedenen Funktionen prozeduralen Rechts liegt, sind die Ursprungsadern von Prozeduralisierung in ihrer Gesamtheit extrem aufschlussreich. Sie ermöglichen eine Erschließung des vagen Begriffs der „Prozeduralisierung“.

I. Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren Bevor sich die Arbeit speziell dem strafrechtlichen Terrain im Hinblick auf eine sich möglicherweise verstärkt abzeichnende Prozeduralisierung widmet, scheint es für das Verständnis der Prozeduralisierungsidee allgemein gewinnbringend, das prägnante Schlagwort des „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“ aus öffentlichrechtlicher Perspektive kurz zu beleuchten, weil der Gedanke einer Prozeduralisierung dort offensichtlich als nicht derart befremdlich empfunden wird wie es in der strafrechtlichen Literatur gegenwärtig der Fall zu sein scheint.1 Eine Verfahrens­ 1 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (446) spricht davon, dass „prozedurales Recht hier auf sein widerständigstes Terrain stoßen dürfte“; Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (646) sieht

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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orientierung des Rechts wirkt in diesem Rechtsgebiet, insbesondere im Verwaltungsrecht, weitaus vertrauter: Verfahren und Organisationsanforderungen sind dort zwangsläufig beheimatet, weil trotz der vorherrschenden Hierarchie Kontakt mit dem betroffenen Bürger aufgenommen werden muss,2 im Idealfall eine Kooperation mit ihm eingegangen wird, die ihr Grundkonzept in verfahrensgemäß geregelten Abläufen findet.3 Es handelt sich bereits dem Wesen nach um eine deutlich formalisierungs-affinere Materie. Zudem ist das verwaltungsrechtliche Rechtsgebiet dasjenige, in welchem sich eine Expansion staatlicher Aufgaben und damit einhergehende Steuerungsdefizite des Rechts besonders eklatant und gefahrverheißend abzeichnen.4 Ein signifikantes Bedürfnis, derzeit regulierende Steuerungskonzepte zu reformieren, wird im Verwaltungsrecht folglich sehr zeitnah sichtbar.5 Auch wenn es sich um ein „weites, bis heute nicht einheitlich strukturiertes Problemfeld von Grundrechtstheorie und Grundrechtsdogmatik“6 handelt, steht „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ vereinfacht für die Erkenntnis, dass sich Grundrechtsschutz nicht mehr nur durch materielle Inhalte vollziehen kann, sondern der gebotene Schutz und die Realisierung von Grundrechten auch wesentlich von Organisation und formellen Verfahrenskautelen abhängt, die der Staat als „grundrechtseffektuierende prozedurale Apparatur zur Verfügung zu stellen hat“.7 Grundrechte bedürfen einer grundrechtsadäquaten Verfahrensausgestaltung, wenn sie einen effektiven Schutz leisten sollen.8 Die Formel des Grundrechtsschutzes durch Verfahren steht damit für einen Schutz durch den Staat und ist von allen drei Gewalten zu verwirklichen.9 Materielle Grundrechtspositionen weisen also in der strafrechtlichen Prozeduralisierung einen „Fremdkörper“; Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 180 ff. konstatiert noch weitergehender gar eine „Prozeduralisierungsfeindlichkeit des Strafrechts“. 2 Vgl. BVerfGE 45, 297 (335); vgl. Denninger, in: Isensee / K irchhof, HStR, Band IX, § 193 Rdnr. 5; vgl. Pünder, JuS 2011, 289 (291). Als Beispiele seien nur das Verwaltungsverfahren mit zahlreichen Beteiligungsrechten (§ 13 VwVfG, § 28 VwVfG und § 29 VwVfG) sowie baurechtliche Vorschriften wie u. a. § 3 Abs. 1 S. 1 BauGB genannt. Auch im öffentlichen Medienrecht und im Umweltrecht häufen sich Verfahren der Beteiligung und Anhörung. 3 Zur verwaltungsgerichtlichen Partizipation, welche auf (örtliche) Betroffenheit gestützt wird, vgl. Uebersax, Betroffenheit als Anknüpfung für Partizipation, Basel 1991. Letztere setzt zwangsläufig das Vorhandensein von Verfahrensstrukturen voraus. 4 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (130 f.). 5 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (128). 6 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (440). 7 Bethge, NJW 1982, 1 (5) im Hinblick auf das Grundrecht auf Asyl aus Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG a. F., welches „einer organisationsrechtlichen Umhegung in Gestalt eines staatlichen (exekutiven) Verfahrens bedarf, soll es andernfalls nicht ins Leere fallen“; dazu auch Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (185). 8 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 976; vgl. auch Dreier, in: Dreier, GG, Vorb Art. 1 Rdnr. 105. 9 Stern, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Einl., Rdnr. 93. Verfahren hingegen auch eine Bedeutung bei klassischen Grundrechtseingriffen beimessend Dreier, in: Dreier, GG, Vorb Art. 1 Rdnr. 105 m. w. N.; ebenso Pünder, JuS 2011, 289 (292).

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

eine „prozedural-organisatorische Schutzdimension“ auf, auch wenn sich dies dem jeweiligen Gesetzestext nicht unbedingt entnehmen lassen sollte.10 Die verfahrensrechtliche Dimension der Grundrechte bewirkt, dass die getroffene Entscheidung nicht nur materiell mit den Grundrechten im Einklang stehen muss, sondern dass sie auch aus einem verwaltungsrechtlichen Verfahren hervorgegangen ist, das seinerseits ausreichend effektive grundrechtsschützende Wirkung entfaltet hat.11 Der Gesetzgeber hat damit einen Mindeststandard an prozeduralem Grundrechtsschutz12 bis hin zur Möglichkeit einer Verfahrenspartizipation zu gewährleisten.13 Von dieser beschriebenen Schutzfunktion zu unterscheiden ist der „Grundrechtsschutz im Verfahren“. Er schützt vor Gefahren, die rechtliche Verfahren als solche in sich bergen14 und steht für eine grundrechtsfreundliche Auslegung und Anwendung der im Verfahren zu beachtenden Verfahrenskautelen.15 Als Beispiel für einen Grundrechtsschutz im Verfahren, der weniger auf das Verfahrensergebnis, als auf die Interessen eines Verfahrensbeteiligten setzt, kann die Frage nach der Unzulässigkeit eines zwangsweisen Einsatzes von Brechmittel zur Erlangung von Beweisstücken nach den Vorschriften der Strafprozessordnung angeführt werden.16 Beim Grundrechtsschutz im Verfahren wird daher eine „verfahrensinterne“ Perspektive eingenommen.17 Es geht um grundrechtsbeeinträchtigende „Gefahren, die in rechtlichen Verfahren […] lauern“18 bzw. mit ihm einhergehen. Unter die Verfahrensgrundrechte als solche fallen die Art. 101 ff. GG sowie insbesondere die Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG. Sie sichern ebenfalls die Durchsetzung materieller Grundrechtspositionen.19 Seine anfänglichen und tragenden Grundbausteine20 verdankt der Gedankenstrom eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren einer Entscheidung des Bun 10

Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 Rdnr. 4. Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 1 Rdnr. 45. Zur Frage, ob aus einem Verfahrensverstoß eine Grundrechtsverletzung resultieren kann vgl. Grimm, NVwZ 1985, 865. 12 Grimm, NVwZ 1985, 865 (867); vgl. auch Pünder, JuS 2011, 289 (292); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 956. 13 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 967 sowie S. 977. 14 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 218. 15 Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 1 Rdnr. 45; s. dazu auch Sachs, in: Sachs, GG, Vor Art. 1 Rdnr. 34; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 967. 16 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 218 f. Im Bereich strafprozessualer Sicherungen sticht insbesondere der Richtervorbehalt als grundrechtssichernder Faktor im Verfahren über Anordnung und Vornahme strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen hervor. 17 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (124). Dazu auch Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 123 ff. 18 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 218. 19 Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (184). 20 Die grundlegende Erkenntnis, dass Verfahrenskautelen eine bedeutende Aufgabe bei der Durchsetzung von Freiheitsgrundrechten einnehmen, lässt sich aber schon den HabeasCorpus-Garantien entnehmen, vgl. Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 11

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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desverfassungsgerichts, welche zum Gegenstand hatte, ob mit einer Verfassungsbeschwerde eine Grundrechtsverletzung gerügt werden kann, die sich aus der Missachtung (einfachen) Verfahrensrechts, nämlich der Nichtbeachtung einer Öffentlichkeitsbeteiligung, ergeben soll. Wenn man daher vom Grundrechtsschutz durch Verfahren spricht, spricht man insofern auch von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 1979,21 dem sog. Mülheim-Kärlich-­ Beschluss. Der Begriff des Grundrechtsschutzes durch Verfahren, der in den 1970er und 1980er Jahren eine vehemente öffentlich-rechtliche Diskussion in Gang setzte, ist vor dem geistigen Auge dadurch inhaltlich bereits in Beschlag genommen.22 Wenngleich auch schon die dem Fall zugrundeliegende Sachverhaltskonstellation für Aufsehen sorgte,23 sind es doch die zentralen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts, die die Entscheidung zu einem Meilenstein in der fortdauernden Karriere des Grundrechtsschutzes durch Verfahren werden ließen. So heißt es in der maßgeblichen Entscheidung, „daß Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken ist und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist“24. Das aufwendige atomrechtliche Genehmigungsverfahren schütze die Grundrechte auf Leben und Gesundheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mittels einer verfahrensrechtlichen Absicherung.25 Es wird auch die Hypothese aufgestellt, dass „sich nur über das Verfahrensrecht verhindern [lasse], daß der Bereich zwischen Recht und Technik zum juristischen Niemandsland wird“26. Diesen prägnanten Ausgangsgedanken lassen sich „nach ersten vorsichtigen tastenden Anfangsversuchen mittlerweile kräftige Impulse entnehmen“27.

Rdnr. 5. Auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 957 weist darauf hin, dass es schon vor BVerfGE 53, 30 ff. (wenn auch weniger deutliche) Abhandlungen zur Relevanz von Verfahren für die Grundrechtsausübung gab. Noch weitergehender Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (5): „Seit langem ein Gemeinplatz im deutschen Verfassungsrecht“. 21 BVerfGE 53, 30 ff.; s. dazu auch Stern, in: Stern / Becker, Grundrechte-Kommentar, Einl., Rdnr. 90. Im Mülheim-Kärlich-Beschluss ging es um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der friedlichen Nutzung von Atomenergie. In diesem Rahmen wurde thematisiert, inwiefern das atomrechtliche Genehmigungsverfahren auch dem Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rechnung trägt bzw. tragen muss. 22 Heidebach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung, S. 90. 23 Heidebach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung, S. 91 mit Erläuterung des Falles. 24 BVerfGE 53, 30 (65); vgl. auch Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (195). 25 BVerfGE 53, 30 (LS. 4, 65 f.); Sondervotum der Richter Simon / Heußner, BVerfGE 53, 69 (75). 26 Sondervotum der Richter Simon / Heußner, BVerfGE 53, 69 (76). 27 Bethge, NJW 1982, 1. Nach dem Mülheim-Kärlich-Beschluss folgten zahlreiche weitere Entscheidungen zur Grundrechtsrelevanz von Verfahren, vgl. BVerfGE 56, 216 (236); 57, 295 (320); 63, 131 (143); 65, 1 (44); 65, 76 (93 f.); 69, 315 (355 f.); 73, 280 (296); 82, 209 (227); 90, 60 (96); 99, 145 (157); 109, 13 (23); 113, 29 (57).

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

Mag Grundrechtsschutz durch Verfahren daher auch teilweise als eine begrifflich nebulös gebliebene Generalformel28 und die Begriffe „Organisation“ und „Verfahren“ als extrem farblose eingestuft werden,29 wird dem Grundrechtsschutz durch Verfahren letztlich doch „eine stürmische Karriere“30 bzw. ein anhaltender Siegeszug attestiert31 und von der Entdeckung einer neuartigen Ebene des Bedeutungsgehalts von Verfahren für Freiheit gesprochen, auf welcher sich die schon bekannte Freiheitsfunktion noch zuspitze.32 Dem Verfahrensaspekt materieller Grundrechte wird nicht zuletzt zugeschrieben, dass er „die juristische Phantasie beflügelt“33. Dies resultiert wohl auch daraus, dass sich der Erkenntnisgewinn nicht im Schutz eines singulären Grundrechts erschöpft, sondern vielfältig anwendbar ist.34 Diesen Aussagen lässt sich eine regelrechte Faszination für Verfahrens­ vorschriften und ihrem gewinnbringenden Beitrag zu einem effizienteren Rechtssystem entnehmen. Im Folgenden sollen daher die Gründe für einen Grundrechtsschutz durch Verfahren dargestellt werden. Sie legen einen bedeutenden Grundstein für das Verständnis der  – mit dieser Intention auch im Strafrecht betriebenen – Prozeduralisierungsstrategie. 1. Gründe für einen Grundrechtsschutz durch Verfahren Die wesentlichen Faktoren, die zu einer Hervorhebung der Bedeutung sowie Leistungskraft formeller Verfahrensinhalte führen, sollen spiegelbildlich in der sich verstärkenden Ineffizienz materiellrechtlicher Regelungen liegen, die freiheitsverbürgende sowie abwehrrechtliche Grundrechte gleichzeitig absichern müssen: Die Defizite der materiellen Schutzfunktion von Grundrechten seien miteinander verwoben und könnten sowohl normativer, kognitiver, als auch zeit­ licher Natur sein.35 Normative Defizite entständen dadurch, dass das entsprechende Grundrecht nicht bestimmt genug sei, um die erforderlichen materiellrechtlichen Vorgaben aus sich heraus ableiten zu können.36 Mit anderen Worten könne die Substanz des Grundrechts nicht in materielle Regelungen transformiert werden; 28

Vgl. Heidebach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung, S. 100. 29 So Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 959. 30 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (127). 31 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (104). 32 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (112). 33 Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 Rdnr. 8. 34 Vgl. die einzelnen Grundrechte und ihre verfahrensrechtliche Seite bei Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 Rdnr. 6 ff. 35 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (105 f.); Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (440 f.). 36 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (440) mit Verweis auf BVerfGE 90, 60 (96)  – Rundfunkgebührenurteil.

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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es mangele an einer effizienten gesetzlichen Ausgestaltung, die den Grundrechtskern verkörpert und dadurch aussagekräftigen, präsenten Schutz vermittelt. Das Grundrecht müsse durch eine Verfahrensausgestaltung erst „ausübungsreif“ gemacht werden.37 Kognitive Schwächen würden sich bei einer Betrachtung der Komplexität mancher zu fällender Gerichtsentscheidungen offenbaren: Im Bereich des Umwelt- und Technikrechts seien oftmals hoch komplexe Materien betroffen, welche für eine kompetente Entscheidung dem Betroffenen spezifisches Expertenwissen abverlangen würden, welches nur durch einen Diskurs von Fachleuten generiert werden könne.38 Dass sich die Gerichte, anstatt hochkomplexen Fragestellungen nachzugehen, auf eine reine Verfahrenskontrolle beschränken könnten, darin sei ein wesentlicher Vorteil des Verfahrens zu sehen.39 Letztendlich fehle es dem materiellen Grundrechtsschutz auch an zeitlicher Präsenz, weil er keine präventive Schutzwirkung zu gewährleisten vermöge, sondern seinem Wesen nach meist einen bereits erfolgten Grundrechtseingriff sanktioniere und damit eines effektiven Schutzes des Grundrechts entbehre.40 Verfahren würden in diesem Zusammenhang elementare, nicht substituierbare Grundrechtsschutzfunktionen gewährleisten, die häufig unterschätzt würden.41 Neben der angesprochenen Rechtsverwirklichungsfunktion als Hauptfunktion böten sie Rechtssicherheit durch eine Formalisierung und Rationalisierung des Prozesses.42 Verfahrensrecht werde dazu eingesetzt, die Prozesse der Entscheidungsfindung geordnet ablaufen zu lassen und dadurch die Qualität des verfahrensrechtlichen Ergebnisses zu maximieren.43 Letztendlich erhöhe schließlich auch die Verfahrenspartizipation der von der Entscheidung Betroffenen sowohl die Legitimität als auch die Akzeptanz der Entscheidung.44 Saliger, der die Funktionen des Grundrechtsschutzes durch Verfahren gleichsam als solche des prozeduralen Rechts wiedererkennt, sieht deshalb im Grundrechtsschutz durch Verfahren eine Verbildlichung des „dogmatischen Standbein[s] von prozeduralem Recht“45, seine 37

Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (5). Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (440 f.) mit Verweis auf BVerfGE 53, 30 (76 f.); vgl. hierzu auch die eingehende Kritik Ekardts, welcher nicht das mangelnde Wissen, sondern vielmehr die fehlende Bereitschaft, sich entsprechendes Wissen anzueignen, für Wissensdefizite im Umweltrecht verantwortlich macht Ekardt, NuR 2005, 215 (218). 39 Sondervotum der Richter Simon / Heußner, BVerfGE 53, 69 (82). 40 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (441) mit Verweis auf BVerfGE 90, 60 (96); dazu auch Pünder, JuS 2011, 289 (292). 41 Zur Ansicht der nur „dienenden Funktion“ des Verwaltungsverfahrens s. auch unter 3.  Kap.  B. I. 2. 42 Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (605). 43 Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, S. 382. 44 Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (605); Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (441). 45 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (126); zust. Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 246 f. 38

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

verfassungsrechtliche Ursprungsader.46 Auf die Auswirkungen dieses Verständnisses für die Kategorisierung prozeduralen Rechts im Strafrecht wird später noch zurückzukommen sein. 2. Zusammenfassung und Stellungnahme Durch die Darstellung der Grundidee eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren und seiner spezifischen Motive wurde deutlich, dass der Verfahrensgehalt materieller Grundrechte auch in der heutigen Zeit keinesfalls unterschätzt werden kann. Die Frage nach effektiven Grundrechtsgestaltungen stellt sich mit Blick auf neuzeitliche Entwicklungen und Gefährdungslagen mehr denn je.47 Auch in Zukunft werden daher Verfahren eine bedeutende, grundrechtsschützende Wirkung einnehmen bzw. einzunehmen haben. Gleichzeitig weisen aber nicht alle Verfahrensvorschriften zwingend einen grundrechtsschützenden Gehalt auf; dieser erschließt sich erst durch eine genaue Analyse der Verfahrensvorschrift im jeweiligen Kontext.48 Der Gedanke, aus jeglicher Verfahrensvorschrift ein grundrechtsrelevantes Substrat abschöpfen und damit eine Grundrechtsverletzung rügen zu können, erscheint befremdlich und überzogen.49 Er stellt eine der vielen „Früchte einer ausgeprägten und selbstbewußten Verfassungsgerichtsbarkeit“50 dar. Diese Vorgehensweise würde neben erheblichen Gefahren für den Gewaltenteilungsgrundsatz51 indes auch den eigentlichen Bedeutungsgehalt von Verfahrensvorschriften für die Entfaltung materieller Grundrechte abschwächen. Im Ergebnis erscheint es daher aus grundrechtsdogmatischer Sicht sinnvoll, „weder Verfahrenseuphorie noch Verfahrensskeptizismus“52 an den Tag zu legen, sondern maßvoll und mit Bedacht einzelne Verfahrensvorschriften auf die Stärke ihres grundrechtlichen Gehalts hin zu untersuchen und de lege ferenda grund 46

Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (440). 47 Ein Beispiel für die Verschärfung staatlicher Befugnisse stellt die Änderung des BayPAG dar, welches in Art. 11 Abs. 3 S. 1 BayPAG nun eine Eingriffsbefugnis bei „drohender Gefahr“ vorsieht. Krit. zu den neuen Befugnissen Weinrich, NVwZ 2018, 1680 (1681 ff.). Bei erhöhten Eingriffsbefugnissen ist wohl gleichzeitig ein entsprechender Verfahrensschutz des Betroffenen zu gewährleisten. 48 Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 Rdnr. 34. 49 Vgl. auch Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (190 f.), nach dem in jegliche Verfahrensvorschrift „auf irgendeine Weise“ Grundrechtsrelevanz hineingelesen werden könne; in die gleiche Richtung Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 956. 50 Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183. 51 Vgl. dazu Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (192 f.). Er befürchtet eine Überdehnungsgefahr des Verfassungsrechts zulasten des einfachen Rechts, Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (195). 52 Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 Rdnr. 35.

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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rechtlichen Gewährleistungen, die besonders stark gegen Grundrechtseingriffe geschützt werden müssen oder positiv im Sinne von Teilhabe- oder Schutzpflichten auszugestalten sind, verfahrensrechtliche Absicherungen mit auf den Weg zu geben. Verfahrensvorschriften sind „multivalent“ und bringen einen Ausgleich von vorverlegtem Grundrechtsschutz und objektiven Verwaltungszwecken, also einen Ausgleich von Individual- und Gemeinwohlbelangen in sich zum Ausdruck.53 Es müssen beide Komponenten des Verfahrensrechts ernst genommen werden. Für den Fortgang der Arbeit interessiert aber vorwiegend die erstere Funktion des vorverlegten verfahrensrechtlichen Grundrechtsschutzes. Dieser schlägt, wie dargelegt, in spezifischen Situationen, nämlich in Situationen eines normativen, kognitiven oder zeitlichen Mankos materiellen Rechts letzteres um Längen an Effektivität. Er muss ebenso gewürdigt werden wie der bereits verwurzelte und anerkannte materielle Grundrechtsschutz.54

II. Rechtsphilosophischer Ursprung prozeduralen Rechts Nachdem Grundrechtsschutz durch Verfahren ebenso den „grundrechtliche[n]​ Fokus“ für rechtsphilosophische und rechtssoziologische Prozeduralisierungsgedanken bildet,55 sollen im Folgenden auch die Zusammenhänge einer Prozeduralisierung im Lichte rechtsphilosophischer und rechtssoziologischer Aspekte betrachtet werden. Die Bedeutung der Prozeduralisierung im rechtsphilosophischen Kontext besteht maßgeblich darin, dass mittels Verfahren Wahrheit und Gerechtigkeit erzeugt werden sollen. In diesem Zusammenhang soll auf die Diskurstheorie von Habermas eingegangen werden. 1. Auf der immerwährenden Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit Die Rechtsphilosophie lässt sich immer wieder auf ihre schwierigste, umstrittenste aber gleichzeitig zentralste Grundfrage, hinter deren Pauschalität sich eine unfassbare Komplexität verbirgt, zurückführen: „Was ist das Recht?“56 „Diese Frage möchte wohl den Rechtsgelehrten, wenn er nicht in Tautologie verfallen, oder, statt einer allgemeinen Auflösung, auf das, was in irgend einem Lande die Gesetze

53

So Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (193 f.). Grimm, NVwZ 1985, 865 (872). 55 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (106); vgl. auch Denninger, in: Isensee / K irchhof, HStR, Band IX, § 193 Rdnr. 8. 56 Kaufmann / von der Pfordten, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 23; Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 265; Naucke / Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rdnr. 180. 54

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

zu irgend einer Zeit wollen, verweisen will, eben so in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit? den Logiker“.57

Dieses Zitat Kants verkörpert im Kern die Frage danach, wie Normen beschaffen sein müssen, um den Anspruch als „richtig“ oder „gerecht“ zu erfüllen. Es ruft zudem ins Bewusstsein, dass die geltenden Normen nicht zwangsläufig ihren Richtigkeitsanspruch in sich tragen; das normierte staatliche Recht also nicht bedingungslos kongruent mit dem richtigen Recht ist, auf dessen kontinuierlicher Suche sich Staat und Gesellschaft befinden.58 Dies ist aber die Überzeugung des „normativen Positivismus“: Er vertritt die These, dass auch eine „unvernünftige oder unsittliche Norm“ ihren Gültigkeitsanspruch nicht verliert, solange sie das Ergebnis eines ordnungsgemäßen, formalen Setzungsaktes ist.59 Der Rechtspositivismus will das Recht nicht wertend an außerrechtlichen Maßstäben des „Richtigen“ oder des „Falschen“ bemessen, sondern er sieht es als ein formales, wertfreies Normsystem an, das das gesellschaftliche Zusammenleben reglementiert und seine Gültigkeit nicht aus einer moralischen Wertung zieht.60 Neben dem verfassungsrechtlichen Zustandekommen von Normen benötigt er keinen höheren Begründungsmaßstab. Will man sich nicht alleingültig auf dieses formelle Legalitätserfordernis beschrän­ken, müssen alternative Betrachtungsweisen herangezogen werden, um Normen auf ihre Existenzberechtigung hin zu überprüfen. Das Naturrecht erkennt eine Verbindung von Recht und Moral an. Die jewei­ ligen Maßstäbe, an denen die Gerechtigkeit der Normen gemessen werden soll, sind allerdings äußerst vielfältig.61 Bei dem Versuch, Recht von Unrecht abzugrenzen, lassen sich insofern absolute und relative Normbegründungsansätze unterscheiden. Relative Normbegründungsansätze gehen im Gegensatz zu absoluten aufgrund kultureller und moralischer Divergenzen von einem ständigen Wandel der Anschauungen im Hinblick auf Recht und Unrecht aus; sie können nicht von sich behaupten, „überzeitliche und überall geltende Kriterien für Recht und Unrecht dar zu bieten“62. Wenn „Vorstellungen über Recht und Unrecht [aber] zeitlich wie räumlich einem erheblichen Wandel unterworfen […] [sind]“, sollten die „Versuche, einen absoluten Maßstab für Recht und Unrecht zu entwickeln“ verworfen 57

Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. XXXI–XXXII. Vgl. Naucke / Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rdnr. 5; Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 20 m. w. N. 59 Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 501. 60 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 3. 61 Lindner, Jura 2016, 8 (8 f.). 62 Hilgendorf, JuS 2008, 761 (764). Er verdeutlicht dies, indem er zu bedenken gibt, dass womöglich im Jahre 2300 Menschen, sollten sie auf unsere heutige Zeit zurückblicken, Verhaltensweisen als Unrecht einstufen würden, welche wir derzeit als richtig, moralisch neutral oder aber zumindest nicht derartig problematisch ansehen. Als Beispiele nennt er u. a. Haltun­gen gegenüber den Menschen der Dritten Welt, deren Leiden wir „gerne ignorieren“, den Tierschutz oder evidente Umweltverschmutzungen. Diesen Haltungen könnten „spätere Generationen möglicherweise einmal genauso fassungslos gegenüberstehen wie wir heute der Sklaverei“. 58

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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werden.63 Das Relativismusargument insistiert daher darauf, dass moralische und rechtliche Normen auf objektivem Wege nicht begründet werden können.64 Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass das richtige Recht, das als Naturrecht überpositiv und allzeit wahrhaftig existiert, sowie gleichzeitig gesellschaftlich als solches akzeptiert wird, in einer modern vernetzten Welt zunehmend schwindet und kaum noch materiell greifbar ist: „Der Pluralismus ist unduldsam geworden.“65 Oder um es noch plastischer mit den Worten Hassemers auszudrücken: „Das naturrechtliche Reservoir ist erschöpft (wenn es denn jemals wirklich gesprudelt hat).“66 Das inhaltliche und aussagekräftige richtige Recht zerfließt zunehmend, wenn man versucht, nach seiner Substanz zu greifen.67 Nachdem der Weg für inhaltlich-rechtliche Konfliktlösungen zusehends versperrt erschien, wurden Alternativen entwickelt, um dem Problem durch eine konsensuale Rechtsfindung einen Schritt näher zu kommen. Die Rede ist von prozeduralen Gerechtigkeitstheorien. a) Die Diskurstheorie nach Jürgen Habermas und ihre Kritiker „Recht ist seinem Wesen nach auf Konsens angelegt.“68

Mit der angesprochenen Problematik befassen sich die prozeduralen Gerechtigkeitstheorien. Ihre Grundidee sieht Calliess im privatrechtlichen Vertragsmodell verankert, „nach dem etwas kraft Übereinkunft (Konsens) gerecht ist, wenn diese Vereinbarung zwischen einsichtsfähigen Partnern unter Ausschluß von Irrtum, Täuschung, Drohung oder Zwang zustande gekommen ist“69. Sie gehen von der Prämisse aus, dass durch das Befolgen von Verfahrensregeln Gerechtigkeit begründet werden kann70 und erblicken somit in Bezug auf die Gerechtigkeit die fundamentale Frage nicht im „Was“, sondern im „Wie“.71 Für die weitere Analyse der medizinstrafrechtlichen Prozeduralisierung ist das Verständnis der Diskurstheorie nach J. Habermas von herausgehobener Bedeutung. Sie versucht, „den Gerechtigkeitsbegriff neu auszufüllen“72 und wird von der Prämisse geleitet, „daß nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller

63

Hilgendorf, JuS 2008, 761 (767). Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 9. 65 Röhl, ZfRSoz 1993, 1 (23). 66 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (748). 67 Vgl. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 306. 68 Engelhard, ZRP 1983, 233 (Hervorhebung auch im Original). 69 Calliess, Prozedurales Recht, S. 29. 70 Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 118; vgl. dazu auch Berdin, BLJ 2010, 39. 71 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (112); ebenso Berdin, BLJ 2010, 39; Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (6). 72 Berdin, BLJ 2010, 39. 64

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten“73: „In Argumentationen müssen die Teilnehmer davon ausgehen, daß im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommen darf.“74 Unter einem „Diskurs“75 versteht Habermas mithin „die durch Argumentation gekennzeichnete Form der Kommunikation […], in der problematisch gewordene Geltungsansprüche zum Thema gemacht und auf ihre Berechtigung hin untersucht werden“.76 Es handelt sich damit um ein Gerechtigkeitskonstrukt, dessen Kern nicht von einer materiellen Entscheidung ausgeht, sondern von einer „ideale[n] Prozedur, die darüber entscheidet, welche Normen gerechte Normen sind“77. Die Diskurstheorie stellt an sich den Anspruch, universalgültige Aussagen zu ethischen Fragestellungen treffen zu können, indem sie an die Stelle der Begründung einer Aussage entsprechende Regeln über die Begründungstätigkeit setzt.78 Sie möchte in Form einer Diskursethik beweisen, dass moralischen Urteilen ein kognitives Substrat innewohnt.79 Habermas erblickt die „Gültigkeit“ von Normen unter dem Gesichtspunkt von moralisch richtigem und kognitivem Handeln in einem Verfahren, in dem auf kommunikativer Basis vereint nach der „Wahrheit“ gesucht wird.80 Insistentes Grundverständnis ist dabei, dass die Frage nach der „Wahrheit“ zu einer Verfahrensfrage transformiert wird, wobei „Wahrheit“ wiederum nur durch einen Konsens zu Tage gefördert werden kann.81 ­Unabdingbar für die Erreichung dieses Konsenses sind allerdings bestimmte grundlegende Diskursregeln, die für eine „ideale Sprechsituation“82 sorgen und so verhindern, dass Geltungsansprüche durch Herrschaftsansprüche unterdrückt werden.83 Die Zwänge, die eine „ideale Sprechsituation“ verhindern, müssen sowohl als derartige äußerer Natur als auch als solche aus dem Kommunikationsvorgang selbst resultie­ rende ausgeschlossen werden.84 An die Stelle von nicht angezweifelten, sondern 73

Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 12; vgl. auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 138. 74 Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 13 f.; vgl. dazu auch Habermas, in: FS Schulz, S. 211 (240): „zwanglos[er] Zwang des besseren Argumentes“. 75 Zum Verhältnis der unterschiedlichen Begriffe „Kommunikation, Diskurs und Konsens“ zueinander s. Naucke / Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rdnr. 240. 76 Habermas, in: FS Schulz, S. 211 (214). 77 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 139. 78 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rdnr. 586 f.; zum Grundsatz der „Universalisierung“ vgl. Habermas, in: FS Schulz, S. 211 (251). 79 Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 13. 80 Röhl, ZfRSoz 1993, 1 (27). 81 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rdnr. 587 f.; vgl. auch Naucke / Harzer, Rechts­ philosophische Grundbegriffe, Rdnr. 240: „Besteht Konsens (= Übereinstimmung), daß etwas Recht sein soll, so wird es akzeptiert und ist verbindlich.“ 82 Zu den Voraussetzungen dieser „idealen Sprechsituation“ im Sinne einer Chancengleichheit der Teilnehmer, sich am Diskurs zu beteiligen vgl. Habermas, in: FS Schulz, S. 211 (255 f.). 83 Seelmann / Demko, Rechtsphilosophie, § 9 Rdnr. 43. 84 Habermas, in: FS Schulz, S. 211 (255).

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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schlicht als richtig angesehenen naturrechtlichen Normen treten schließlich Prozeduren, in denen gemeinsam mit gleichen und unbegrenzten Möglichkeiten von Partizipation und Kritik ein inhaltliches Ergebnis gefunden wird, das deswegen gilt, weil es aus dem „herrschaftsfreien“ Verfahren hervorgegangen ist.85 Der Schlüssel der Problemlösung wird danach in der gesellschaftlichen Kommunikation durch Argumentation gesehen. Auf sie gründet sich die Existenzberechtigung eines diskursiven Konsenses. Habermas entwickelte durch seine Theorie damit letztlich das auf Kant zurückgehende weitläufige Prüfverfahren des kategorischen Imperativs „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“86, fort, indem er es um den Blickwinkel realer, intersubjektiver Diskurse anreicherte.87 Die e­ inzig richtige Entscheidung, dies müsse man sich stets vergegenwärtigen, existiere oftmals nicht, sondern der Weg zur Lösung schlängele sich durch ein Verfahren, durch das man sich den Weg mittels Kommunikation bahnen müsse: „Relatives Recht mit Zwang durchzusetzen, ist politisch schwierig, fast unmöglich, gerät an den Rand terrorisierender Willkür. Relatives Recht unter Berufung auf Einigung, Konsens, Akzeptanz durchzusetzen, ist politisch klug und naheliegend. Konsens ist das opportune Mittel, relatives Recht verbindlich zu machen.“88 Nachdem die Diskurstheorie unter der Prämisse der „idealen Sprechsituation“ steht und deren Erreichbarkeit damit mittelbar suggeriert, gerät sie häufig in Kritik.89 Diese kritischen Stimmen sind gleichzeitig mit der Annahme verbunden, dass ihr Nutzen für die Lösung moralischer Kontroversen durch die Institutionalisierung rechtlich realer Diskurse erheblich minimiert sei.90 In der Rechtswelt real ablaufende Diskurse würden unvermeidbar durch zeitliche Begrenzungen und Fristen, faktisch unterlegene Positionen und einen unweigerlichen dringenden Handlungszwang eingeschränkt.91 Die Umsetzbarkeit der Diskurstheorie in die rechtliche Wirklichkeit wird daher stark angezweifelt. 85

Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (748). Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werkausgabe (hrsg. v. Wilhelm Weischedel), S. 51 (Hervorhebungen auch im Original). 87 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (132); vgl. dazu auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 153; Röhl, ZfRSoz 1993, 1 (26 f.). 88 Naucke / Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rdnr. 242; in die gleiche Richtung für das Medizinstrafrecht vgl. Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 19. 89 Vgl. Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rdnr. 590: „Utopisch“ bzw. „akademischer Traum“. Ausführlich zur Kritik der Diskurstheorie des Rechts Engländer, Diskurs als Rechtsquelle?, S. 88 ff.; Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 295 ff. 90 Vgl. Denninger, in: Isensee / K irchhof, HStR, Band IX, § 193 Rdnr. 9: „Man ist kein Schwarzmaler, wenn man feststellt, daß die Fülle dieser Voraussetzungen in der sozialen Wirklichkeit kaum jeweils auffindbar und auch kaum herstellbar ist.“ Vgl. dazu aber auch Berdin, BLJ 2010, 39, welche die Diskurstheorie als diejenige prozedurale Gerechtigkeitstheorie ansieht, die sich gerade durch eine Anwendungsmöglichkeit auf reale rechtliche Verfahren auszeichne. 91 Auch Habermas, in: FS Schulz, S. 211 (257) räumt diese „raumzeitlichen“ und „psychischen Belastungsgrenzen der Diskursteilnehmer“ ein. 86

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

Als weiterer Kritikpunkt wird ihr vorgeworfen, sie betreibe „Wahrheitsfindung als Insichgeschäft“, denn es bestehe durchaus die Möglichkeit, dass alle Verfahrensbeteiligten dem gleichen Irrtum unterlägen und in diesem Falle könne nicht von einer konsensgetragenen Richtigkeit die Rede sein.92 Letztendlich steht auch die Spezifizierungsmöglichkeit im Hinblick auf die Prämissen der Diskurstheorie unter Kritik, weil sie nur eine Lösung nach dem „besseren Argument“ vorgebe, hingegen aber keinerlei Prioritätsangabe.93 b) Bewertung und Stellungnahme zum Nutzen der Diskurstheorie Würdigt man die Kritikpunkte, werden die Grenzen der Diskurstheorie schnell sichtbar, welche diese trotz (oder gerade wegen) ihres Idealismus verinnerlichenden Prinzips nicht verschleiern kann. Die Vorstellung, jegliches diffizile Problem könne in einen Raum mit argumentationsbereiten und -offenen Diskursteilnehmern gesperrt werden und nach der zur Konfliktlösung benötigten Zeit stehe am Ende der Prozedur ein allseits akzeptiertes und damit „richtiges“ Ergebnis, erscheint illu­sionär. In dieser Hinsicht ist Kaufmann zuzustimmen: „Es wäre zu schön, wenn man wahre Inhalte einfach durch Denkprozesse aus der Form gewinnen könnte.“94 Dennoch hilft aber die Sichtweise der Diskurstheorie weiter, de lege lata bestehende rechtliche Verfahren nachvollziehen und ihren Kerngedanken begreifen zu können. Zwischen der Diskurstheorie und realen rechtlich verankerten Verfahren besteht demnach eine unverkennbare Verbindung.95 Die Diskurstheorie ist daher wegen der ihr vorgeworfenen Illusionshaftigkeit nicht bereits im Ausgangspunkt voreingenommen zu verwerfen, sondern für die Ausgestaltung praktischer Diskurse in der rechtlichen Lebenswelt als eine Art von Ideal vorzustellen, das es nach besten Möglichkeiten  – dennoch aber Praktikabilitäts- und Verhältnis­ mäßigkeitserfordernissen verpflichtet – umzusetzen gelten könnte. Ihr kann zudem für die Rechtspraxis die Erkenntnis entnommen werden, dass es entscheidend auf Erfahrungswerte, spezifische Situationsabläufe und sich bewährende Handlungsstrategien ankommt, in denen Entscheidungslagen simuliert, hinterfragt, ana­lysiert und bewertet werden, bevor sie Geltung in der rechtlichen Realität für sich beanspruchen können.96 Das Verdienst der Diskurstheorie, daran zu erinnern, dass kritische Verfahren durchaus die Chance mit sich bringen, eigene Ansichten als falsch zu entlarven und konträre Ansichten überhaupt wahrzunehmen, kann ihr daher im Grundsatz 92

Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 283, vgl. auch Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 18 f.; vgl. auch Naucke / Harzer, Rechtsphilosophische Grundbegriffe, Rdnr. 245, die dafür plädieren, dass dem Diskurs indiskutable Grundprämissen entzogen werden. 93 Kern, in: Kern / Müller, Gerechtigkeit, Diskurs oder Markt?, S. 83 (84, 91). 94 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 30. 95 Vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (147 f.). 96 Vgl. dazu auch Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 20 sowie S. 30.

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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nicht abgesprochen werden.97 Der Mensch und das ihn leitgebende Recht leben von Erfahrungssätzen. Diese wiederum werden in Verfahren gewonnen, die eine Plattform für rationales und reflexives Denken zur Verfügung stellen.98 Diskursive Vorgänge wirken wie ein reinigendes „Filterverfahren“, an dessen Ende eine Akzeptanz steht, die durch die Eigendynamik des Diskurses hervorgebracht wurde.99 Ein Indiz dafür, dass Wesen und Prämissen der Diskurstheorie in bioethischen Debatten nach wie vor präsent sind und in komplexen Entscheidungsvorgängen strukturierend zu Tage treten, ist, dass bioethisch relevante Beratungsgremien in den letzten Jahrzehnten sowohl an der Zahl als auch an Einfluss vehement zugenommen haben. Es existieren daher kaum noch neuartige, bioethische Fragen, die nicht in einer bioethischen Kommission oder einem Beratungsgremium erörtert und bewertet wurden.100 Auch im Jahr 2011 hat sich der Gesetzgeber im Rahmen der begrenzten Zulassung der Präimplantationsdiagnostik für ein Kommissionsmodell entschieden. Die PID-Ethikkommission soll als interdisziplinär besetztes Gremium das Vorliegen der restriktiven Voraussetzungen der PID überprüfen.101 Dennoch darf eine völlig blinde Verfahrenseuphorie nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verfahren nicht das einzige Mittel rechtlicher Problembewältigung sein kann. Dies würde der komplexen Rechtswelt nicht gerecht. Die Diskurstheorie leistet aber insofern – um es noch einmal zu betonen – ein wichtiges Verdienst, indem sie darauf aufmerksam macht, dass ein kritisches Verfahren zur Reflexion der berücksichtigungswerten Aspekte und zum Überdenken eingefahrener Lösungswege führen kann. Zusammenfassend lässt sich wiederum mit Kaufmann formulieren, dass „Wahrheit bzw. Richtigkeit im Bereich des Normativen […] nicht einzig durch Verfahren, aber doch sehr wohl im Verfahren [entsteht]“102. 2. Das spezifische Nichtwissen neben moralischen Unwägbarkeiten als Auslöser Neben der Kategorie, dass „wahrhaftige“ und „gültige“ Normen nicht mehr unmittelbar zur Hand scheinen, weil es zu viele gesellschaftliche Divergenzen bezüglich des Werteempfindens gibt, existieren spezifische Situationen, in denen Tat­ sachen und persönliche Vorstellungen schlicht ungewiss sind und auf keinem Wege in Erfahrung gebracht werden können, obgleich dies für die Rechtsanwendung unumgehbar erforderlich wäre. Plakativ wird von einem „spezifischen Nichtwissen“ gesprochen, welches verhindere, dass eine alleingültige Entscheidung getroffen

97

Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rdnr. 594. Vgl. Berdin, BLJ 2010, 39 (45); Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 98. 99 Martinsen, in: Albers, Bioethik, Biorecht, Biopolitik, S. 141 (159 ff.). 100 Schulze-Fielitz, in: Klein / Menke, Menschenrechte und Bioethik, S. 203 (232). 101 Vgl. dazu oben unter 2. Kap. A. II. 5. 102 Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 20 f. 98

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

werden kann.103 Die von Rawls – in einem anderen Zusammenhang104 – verwendete Metapher vom „Schleier des Nichtwissens“ kann auch für das hier angesprochene tatsächliche, nicht nur normativ bestehende Nichtwissen eingesetzt werden. Die Ursache solcher nicht-entscheidbarer Weggabelungen liegt in der Natur des menschlichen Seins begründet, dessen Inneres sich nicht selten vor dem äußeren Erkenntnisprozess verschließt. Die dadurch heraufbeschworene Situation der Unkenntnis ist aber keine abwendbare und wird in Zukunft immer fortbestehen, weshalb ein innovativer Ausweg aus Situationen des spezifischen Nichtwissens gesucht werden muss. Sollte man die missliche Situation negieren und sich dieser nicht annehmen, würde eine gangbare Problembewältigung durch einen „Zwang zum Nichtstun“ versperrt.105 Es entstünde rechtliche Handlungsohnmacht.106 Die Entstehungsbedingungen, das erforderliche Umfeld und auch die Konsequenzen von Prozeduralisierung sind somit in der Philosophie und im Strafrecht schließlich dieselben: Es handelt sich um die Situation eines spezifischen Nichtwissens in Bezug auf gewisse Inhalte, deren positive Kenntnis allerdings für ein bestimmtes Vorgehen elementar ist; trotz der Lückenhaftigkeit oder gar des Fehlens dieses Wissens wird auf das Vorhaben nicht verzichtet und die Wahrheit oder Gerechtigkeit wird durch Prozeduren abgesichert, sodass jedwedes prozedural ordentlich gewonnene Ergebnis akzeptiert wird.107 Der „Schleier des Nichtwissens“, der vorliegend für die tatsächlich bestehenden Ungewissheiten instrumentalisiert wird, muss durch alternative Entscheidungswege gelüftet werden. 3. Vom materialen Naturrecht zum prozeduralen Naturrecht Als Ergebnis lässt sich feststellen, dass Recht, dessen Geltung nicht angezweifelt wird, in einer modernen und auf komplexe Art und Weise vernetzten Welt häufig konsenslos bleibt. Prozeduren hingegen ermöglichen insofern eine sichtbare Vereinfachung. Nicht die direkten, anzuwendenden Normen sind zu erschaffen, sondern die Normen, welche ein effektives Verfahren ermöglichen, das seinerseits zu rationalen Ergebnissen führt.108 Prozeduralisierung gliedert somit die Rechtsfindung in mehrere Akte. Gerade das diskursive Element der Entscheidungsfindung spielt hier eine bedeutende Rolle. Bei nicht-prozeduralen Normen wird zwar auch 103

Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (749). Der „Schleier des Nichtwissens“ soll im Rahmen des Vertragsmodells über die psychischen und physischen Zustände und die soziale Rolle der Vertragsparteien geworfen werden, so dass sich diese keine eigennützigen Vorteile verschaffen können, Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 159 ff.; vgl. dazu auch Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 14. Er steht für Objektivität und Unparteilichkeit, vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 249. 105 Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdnr. 7b. 106 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (666). 107 Zum Ganzen Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (749). 108 Vgl. auch Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (5), welche die Verständigung auf Verfahrensvorschriften als „Konsensersatz“ ansieht. 104

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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ein verfahrensförmiger Diskurs durchlaufen – es ist zwingend eine Diskussion und Beratung im Bundestag vorgesehen – jedoch findet die diskursive Auseinandersetzung mit einem Rechtsproblem bei prozeduralen Normen in einem späteren, praxisangewandten Stadium statt. In diesem Prozess könnte allerdings ein wiederkehrender Kreislauf zum materialen Naturrecht gesehen werden: Durch die fortwährende Diskussion wird gewissermaßen in einem Konsens das ehemals verloren gegangene klassische Naturrecht wiedergefunden.109 Recht, das konsensual durch eine argumentative Bewältigung als natürlich richtig angenommen wird, ist in einem weiter verstandenen Sinne „prozedurales Naturrecht“,110 das, anstatt als materiales Naturrecht unweigerlich akzeptiert zu werden, erst wieder neu durch Prozeduren entwickelt werden muss.111 In diesem Sinne weist wohl auch das prozedurale Recht eine – wenn auch schwache – Parallele zum Positivismus auf: Das Ergebnis der Prozedur wird akzeptiert, solange es aus einem spezifischen Verfahren nach bestimmten Diskursregeln gewonnen wurde. Inhaltliches wird insofern vernachlässigt. Der entscheidende Unterschied liegt aber darin begründet, dass dem Positivismus eine gedankliche Starre innewohnt, die prozedurales Recht gerade zu bewältigen sucht. Verfahrensrechtliche Innovation ist der den Unterschied begründende Nährboden prozeduralen Rechts.

III. Rechtssoziologischer Ansatz prozeduralen Rechts Befasst man sich mit dem Begriff der Prozeduralisierung, stößt man auf diesen unweigerlich auch in einem weiteren Rechtsgebiet, dem der Rechtssoziologie. Letztere widmet sich gesellschaftlichen Gegebenheiten und Entwicklungsprozessen und untersucht deren spezifische Einwirkungen auf das Recht.112 Nachfolgend sollen auch unter diesem Blickwinkel kurz die Eigenheiten einer Prozeduralisierungsidee aufgeworfen werden, um ihre Brisanz und das für sie aufgebrachte Interesse auch in jenem Themenbereich beleuchten zu können. Die Ausführungen sollen jedoch nur ein Kernverständnis des rechtssoziologischen Prozeduralisierungsgedankens wiedergeben. Eine tiefergehende Auseinandersetzung ist für die Thematik der Arbeit nicht erforderlich.

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Nach Habermas, Faktizität und Geltung, S. 10 soll eine „Rekonstruktion von Teilen des klassischen Vernunftrechts im Rahmen einer Diskurstheorie des Rechts“ möglich sein. 110 Vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (147); Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (120). 111 Vgl. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, S. 148 ff.; Maus, Über Volkssouveränität, S. 120 ff.; vgl. auch Saliger, KritV 1998, 118 (147). 112 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 101.

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

1. Das Präventionsstrafrecht in der „Risikogesellschaft“ Rechtssoziologischen Erkenntnissen zufolge wird die sicherheitsrechtliche Lage europäischer Länder zunehmend durch flächendeckenden, schwer beherrschbaren Terrorismus, Umweltkatastrophen und atomare Bedrohungen gefährdet.113 Zur Beschreibung dieser multiplen Gefährdungslagen hat sich der Topos der „Risikogesellschaft“ etabliert.114 In dieser werden Gefahrenquellen als nicht durch äußere Umstände oder fremde Einwirkungen bedingt angesehen, sondern als Produkt menschlicher Handlungen und Unterlassungen, sprich als Erzeugnis der modernen Gesellschaft selbst. Diese stelle eine Bedrohung dar, verheiße aber gleichzeitig die Befreiung aus der selbst hervorgerufenen Bedrohung.115 Die Gefährdungen würden demnach nicht aus einer fehlenden, sondern aus einer zu perfektionierten Naturbeherrschung resultieren.116 Neuartige gesellschaftliche Existenzbedrohungen würden aber simultan die Erwartungen an den Staat, für Sicherheit zu sorgen, erhöhen.117 Das Magazin „Der Spiegel Classic“ diagnostizierte unter dem Titel „Sehnsucht nach Sicherheit“ der deutschen Bevölkerung jüngst, dass sie in besonderem Maße eine extrem ängstliche und schutzbedürftige Gesellschaft sei, die nach dem Staat und seiner Reglementierung rufe.118 Eine verbrechensfürchtende Gesellschaft sehe im staatlichen Strafrecht daher keine Bedrohung mehr, sondern dieses sei vielmehr ein „Hoffnungsträger und Verbündeter“, dem sie für ihr kostbares Gut Sicherheit im Gegenzug gerne ihre Freiheit opfere.119 Das Recht, das vom Staat als Regulierungsinstrument eingesetzt wird, gerate dabei an seine natürlichen Grenzen und es zeichne sich zunehmend ein Mangel am Erfolg dieser Vorgehensweise ab.120 Dies führe dazu, dass der Staat zwangsläufig seine Sicherungsmechanismen verändere und bereits im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen regulierend eingreife.121 Das Strafrecht entwickele sich durch die vermehrte Einführung abstrakter Gefährdungsdelikte und sehr vage formulierter Universalrechtsgüter zu einem Gefahrenabwehrrecht, was kritisch betrachtet werden müsse, weil Sicherheit kein primärer Zweck strafrechtlichen Handelns sein könne.122 Es entstünde damit unentwegt ein Legitimations­ 113

S. dazu auch die Gesetzesbegründung des Bayerischen Landtags zum BayPAG, wo von einer „anhaltend hohe[n] Bedrohungslage durch Terrorismus“ die Rede ist, BLT-Drs. 17/20425, S. 52. 114 Geprägt wurde der Begriff der „Risikogesellschaft“ durch den deutschen Soziologen Ulrich Beck, s. dazu grundlegend Beck, Risikogesellschaft, S. 25 ff., S. 300 ff. Vgl. zur „Risiko­ gesellschaft“ auch die Ausführungen bei Hilgendorf, NStZ 1993, 10 (10 ff.). 115 Beck, Risikogesellschaft, S. 300. 116 Beck, Risikogesellschaft, S. 300. 117 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 8. 118 Vgl. Wellershoff, in: Der Spiegel Classic Nr. 1/2017, S. 14 f. 119 Hassemer, JRP 2007, 79 (85). 120 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 8. 121 Hassemer, StV 2006, 321 (325). 122 Hassemer, JRP 2007, 79 (83 ff.).

A. Die verschiedenen Ursprungsadern der Prozeduralisierung

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defizit, wenn das moderne Strafrecht „Universalrechtsgut-Gefährdungen im Vorfeld von Individualrechtsgut-Verletzungen“ kriminalisiere.123 Das Strafrecht lebe eine „Normierungswut“ aus und nehme dadurch mehr und mehr Symbolcharakter an,124 der Geborgenheit nur suggerieren, jedoch nicht mehr überzeugend gewährleisten könne. Es sei mit der Steuerung in der sog. „Risikogesellschaft“ überfordert und gerate in eine Legitimationskrise. Aus dieser sollen prozedurale Steuerungskonzepte schließlich den Ausweg weisen.125 2. Der prozedurale Ausweg aus dieser Existenzkrise Prozedurales Recht wird nach rechtssoziologischem Verständnis als „letzte Stufe der 3-Stufen-Theorie“ nach dem Formalismus des bürgerlich-liberalen Rechtsstaats und der Materialisierung in der Industriegesellschaft angesehen.126 Nachdem das präventive Strafrechtssystem, das „dem Feind schon vor der Tat das Handwerk legen [will]“127, versagt hat, sollen in der Risikogesellschaft strafrechtliche Selbststeuerungsmechanismen aktiviert werden. Prozedurales Strafrecht soll die Steuerungs- und Vollzugskrise des modernen Strafrechts überwinden helfen.128 Die unter dem Schutz und Einfluss des modernen Staates gewachsenen Teil­ systeme – Parteien und Verbände, Kirchen, Gewerkschaften, Banken, Konzerne, Medien u.s.w – hätten an Größe und Autonomie gewonnen, so dass sie sich staatlicher Einflussnahme immer mehr entziehen könnten.129 Der Staat befinde sich deshalb bereits in der Defensive.130 Die entsprechende Reaktion darauf müsse rechtssoziologischen Prozeduralisierungstheorien zufolge sein, dass der Staat mit kooperativen Mitteln wie Kommunikation und Partizipation agiere.131 Er könne im Rahmen einer Zielvorgabe nur flexible und lernfähige Modelle von Selbststeuerung einsetzen und die jeweiligen gesellschaftlichen Teilsysteme als mit­ fungierende Partner akzeptieren.132 Das Recht müsse in entsprechenden Gebieten 123

Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 48. Ausführlich zur Verfassungs­ konformität eines Präventionsstrafrechts vgl. Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, Baden-Baden 2014. 124 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 103. 125 So Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 225 ff. 126 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (130) m. w. N.; Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (438 f.) m. w. N. 127 Kindhäuser, ZStW 129 (2017), 382 (388). 128 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (439). 129 Teubner / Willke, ZfRSoz 1984, 4 (8). 130 Teubner / Willke, ZfRSoz 1984, 4 (8). 131 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 111. 132 Vgl. Schuppert, in: Grimm, Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, S. 217 (223 ff.).

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

zu einem Steuerungsinstrument mit reflexiven Zügen umgestaltet werden. Auf diese Weise könne es entsprechend auf die moderne und plurale Gesellschaftswirklichkeit reagieren.133 Strafrecht könne im Rahmen selbstregulatorischer Prozesse teilweise nur „ein Baustein […] umfassender Regelungsstrukturen“134 sein. Rechtssoziologische Ansätze fordern daher ein Umdenken rechtlicher Steuerung in hochkomplexen gesellschaftlichen Ausgangslagen. Der Staat könne nicht mehr imperativ vorgehen, sondern müsse die Eigenarten der Teilsysteme miteinbeziehen, um überhaupt noch eine Steuerungsfunktion für sich beanspruchen zu können. Somit wird einer Prozeduralisierung im Kontext rechtssoziologischer Theorien ebenfalls eine spezifische Funktion zugewiesen. Diese hilft ebenso wie die rechtsphilosophische Strömung, das Bild der Prozeduralisierung auch für das Strafrecht zu vervollständigen. Der strafrechtlichen Prozeduralisierung widmen sich die anschließenden Ausführungen.

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht I. Begriff und Wesen der Prozeduralisierung Bevor sich die Arbeit allerdings den speziellen Gegebenheiten eines prozeduralen Strafrechts in concreto zuwendet, sollen zunächst noch grobe Einordnungsund Unterteilungsmöglichkeiten prozeduralen Rechts im Allgemeinen dargestellt werden. Hierzu soll nach einer kurzen Auseinandersetzung mit der Semantik eine Darstellung der unterschiedlichen Auffassungen im Hinblick auf die Rechtsnatur und die Dogmatik eines prozeduralen Rechts erfolgen. Diesbezügliche Ausführungen bilden die Basis für eine Analyse unter strafrechtlichen Aspekten. 1. Die Problematik der individuellen Begriffsinterpretation „Prozedural“ wird als Adjektiv definiert als „verfahrensmäßig; den äußeren Ablauf einer Sache betreffend“135. Diese Definition klingt zunächst ebenso monoton, schematisch und starr wie auch selbsterklärend. Prozedural leitet sich ab von Prozeduren, mit denen zunächst rein intuitiv Kontinuität und Standhaftigkeit assoziiert wird. Gleichzeitig haftet der Prozedur nach dem allgemeinen Sprach­

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Vgl. Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (130 f.). Kölbel, in: Tiedemann / Sieber / Satzger u. a., Die Verfassung moderner Strafrechtspflege, S. 379 (380). 135 Duden online, Stichwort „prozedural“, abrufbar unter: www.duden.de/rechtschreibung/ prozedural (zuletzt abgerufen am 05.05.2020). 134

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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verständnis aber auch pauschal etwas Negatives an.136 Sie beinhaltet einen gewissen Grad an Formalisierung, und Calliess zufolge ist auch mit dem Adjektiv formal ein „etwas schaler Beigeschmack der Inhaltsleere“137 verbunden. Prozedural-schema­ tische Abläufe – so scheint der erste Eindruck – schieben einer Innovation und Flexibilisierung eher einen Riegel vor, indem sie die automatisierte Wiederholung bestimmter eingefahrener Prozesse einfordern. Umso mehr mag es deshalb faszinieren, dass dieses Adjektiv, bringt man es in Verbindung mit dem Substantiv des Rechts, an Pluralität, Vielseitigkeit und auch Interpretationsansätzen, wie nachfolgend aufgezeigt wird, kaum zu überbieten ist. Möchte man die Zusammenhänge zwischen Prozeduralisierung und Recht analysieren, stößt man nicht nur auf das Problem einer „Multiperspektivität“ der Prozeduralisierung,138 sondern – mangels eines gesetzlich vorgegebenen Inhalts des Rechtsbegriffs – auch auf eine sehr uneinheitliche Begriffsverwendung.139 Diese erschwert es, sich der Prozeduralisierung und ihrem Kernverständnis anzunähern und sorgt fortwährend für Verwirrung und Irritation.140 So heißt es im Allgemeinen, Prozeduralität sei „ein wenig bestimmter Begriff“141 und auch der Begriff der „Prozeduralisierung“ schillere im Lichte seiner verschiedenen thematischen Eckpunkte und Bedeutungsgehalte.142 Durch die divergierenden Begriffsinterpretationen tritt eine gewisse Ironie zu Tage, indem sich der „Schleier des Nichtwissens“143, der mittels Prozeduralität gerade zu überwinden versucht wird, ebenso über den nicht greifbaren Begriff der Prozeduralität selbst legt. Durch den fluktuierenden Sprachgebrauch wird ein „zweiter Schleier des Nichtwissens“ konstruiert, der die rechtlichen Gegebenheiten noch nebulöser erscheinen lässt. Prozeduralisierung wird teilweise als Synonym für Prozeduralität verwendet,144 allerdings soll, betrachtet man den Begriff genauer, darunter eher ein Vorgang ver 136

Vgl. Duden online, Stichwort „Prozedur“, abrufbar unter: www.duden.de/rechtschreibung/ Prozedur (zuletzt abgerufen am 05.05.2020). Unter ihr wird eine „meist umständliche und für die Betroffenen unangenehme Weise, in der etwas durchgeführt wird“ verstanden. Der Begriff des „Prozederes“ ist hingegen wohl nicht derart negativ besetzt. 137 Calliess, Prozedurales Recht, S. 176. 138 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (Hervorhebung auch im Original). 139 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (434 ff.). 140 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (437); vgl. auch Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 106, der von einer Belastung des leserischen Unterscheidungsvermögens spricht. 141 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639; ebenso Rönnau, StV 2011, 753 (757) mit Fn. 36. 142 Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1. 143 Zum hier verwendeten Einsatz des „Schleiers des Nichtwissens“ von Rawls s. oben unter 3.  Kap.  A. II. 2. 144 Vgl. Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434.

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

standen werden im Gegensatz zur Prozeduralität als Festschreibung des rechtlichen Zustandes. Eicker versteht deshalb unter dem Begriff der „Prozeduralisierung des Rechts […] die additive oder substitutive Zunahme prozeduraler Strukturen […] im Recht“145. Saliger unterscheidet hingegen zwischen einer „Prozeduralisierung im Recht“, die als Indikator für die Zunahme verfahrensmäßiger Mechanismen im Recht verstanden wird, und einer „Prozeduralisierung des Rechts“, die die Prozeduralität des Rechts wiedergibt.146 Im Verlauf der Arbeit werden die Begriffe des „prozeduralen Rechts“ und der „Prozeduralisierung“ synonym gebraucht. Prozeduralisierung weist in eine rechtliche Richtung, die zwar lange nicht mehr gänzlich unbekannt ist,147 dennoch aber als Regulationstechnik oft noch als neu und auch fremdartig empfunden wird,148 weil sie das grundsätzlich hierarchische Staatsmodell der Über- und Unterordnung auf neue Bahnen leitet bzw. sogar erheblich ins Wanken bringt. Es eröffnet differenzierte Sichtweisen auf staatliche Steuerungskonzepte und erweckt den Anschein, als könne es normative Starre durch einen flexiblen Auftrieb, welcher Menschen als Individuen und die gesellschaftliche Außenwelt als einflussreiche Instanz miteinbezieht, neu beleben. Teils wird deshalb sogar von einem „Phänomen“ gesprochen, das eine zunehmend gewichtigere Rolle im Strafrecht einnehme und durch neue Weichenstellungen zu einem Umdenken anzuregen vermöge.149 Trotz des vielfältigen, uneinheitlichen Sprachgebrauchs soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, sich mit dem Wesen der Prozeduralisierung auseinanderzusetzen. 2. Die Rechtsnatur prozeduralen Rechts Durch die juristische Ausbildung wird oftmals der Eindruck erweckt, dass das Verfahrensrecht und das materielle Recht strikt nebeneinander und klar abgrenzbar stünden.150 Dieser Eindruck scheint sich zu verfestigen, wenn man die gesonderte Regelung in unterschiedlichen Gesetzestexten, sprich das im StGB geregelte materielle Strafrecht und die in der StPO normierte Prozessordnung, betrachtet.

145

Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 162 (Hervorhebung auch im Original). Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (434 f.). 147 Vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (664). 148 Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (2) spricht von einem rechtlichen „Trend“. 149 Eser, KritV Sonderheft 2000, 43; vgl. auch Krüger, LMuR 2013, 1 (5); Popp, ZStW 118 (2006), 639 (664); Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (12) möchte aufgrund bereits bestehender, vergleichbarer Strukturen zwar von keinem neuen Phänomen sprechen, allerdings auch von einem Phänomen, das zumindest immer noch verhüllt ist. 150 Heidebach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung, S. 109. 146

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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Allerdings stehen formelles und materielles Recht in einem funktionellen Wechsel­ spiel. Der Begriff der „dienenden Funktion“ des Verwaltungsverfahrens151 kann dabei sowohl in einem negativen Sinn, wie es in Deutschland überwiegend der Fall ist, oder aber in einem positiven Sinn, dann an den angloamerikanischen Begriff angelehnt, verstanden werden.152 Negativ assoziiert bedeutet er, dass das formelle Recht dem materiellen Recht lediglich eine Hilfeleistung in der Form darbietet, dass nach diesem, den eigentlichen Ausschlag gebenden Recht, eine Entscheidung gefällt werden kann. Mit einem positiven Sinngehalt versehen meint er hingegen, dass das Verfahrensrecht durchaus einen wesentlichen Beitrag für die Entstehung des materiellen Rechts leistet, indem es also einen selbständigen, bedeutenden Anteil an der Rechtsverwirklichung einnimmt.153 Die Vorstellung, dass aus reinen Form- und Verfahrensvorschriften Inhalte geschöpft werden könnten, hat seit jeher „auf viele Denker eine Faszination ausgeübt“154. Wird juristisch formellen Kautelen zumindest dem äußeren Anschein nach häufig vorgeworfen, den „eigentlichen Fragen nach dem Inhalt, nach der Substanz“ abträglich zu sein, bzw. diese sogar zu behindern,155 so sind es doch formelle Kriterien wie Zuständigkeit, Verfahren und Form, die eine immense Bedeutung für das Entscheidungsergebnis gewinnen, indem sie festlegen, welche Instanz im Rahmen welches Entscheidungsfindungsprozesses über ein Rechtsproblem zu befinden hat.156 Dadurch, dass das Recht vielfältig von subjektiven Auslegungsmöglichkeiten des Rechtsanwenders lebt, der Jurist also keinesfalls zu einem reinen „Subsumptionsautomat[en]“157 degradiert werden darf,158 nimmt das formelle Recht unbestreitbar nicht nur eine zentrale Funktion für die Durchsetzung materiellen Rechts, sondern auch für eine inhaltliche Beeinflussung desselben ein. Vergegenwärtigt man sich diesen Aspekt bewusster, verschwimmen die Grenzen zwischen formellem und materiellem Recht doch ein wenig. An dieser funktionalen Schnittstelle setzt prozedurales Recht an und macht sie sich zunutze. Auch wenn es auf den ersten, äußerlich suggerierten Eindruck

151

Vgl. dazu auch Ossenbühl, in: FS Eichenberger, S. 183 (193). Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, S. 8 f.; vgl. zum hohen Stellenwert des Verfahrensrechts in den USA auch Pünder, JuS 2011, 289 (296). 153 Quabeck, Dienende Funktion des Verwaltungsverfahrens und Prozeduralisierung, S. 9. 154 Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 267; vgl. auch Kaufmann, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 11. 155 Calliess, Prozedurales Recht, S. 176; vgl. auch Pietzcker, VVDStRL 41 (1983), 193 (194), der von „verfahrensrechtlichen ‚Stolperdrähte[n]‘ […]“ spricht. 156 Vgl. zur Auswirkung unterschiedlicher Verfahrensregularien auf das materielle Entscheidungsergebnis institutionalisierter Ethikkommissionen auch Schulze-Fielitz, in: Klein / Menke, Menschenrechte und Bioethik, S. 203 (223). 157 Drowatzky, Die Wertbegründung des Rechts innerhalb der Lebenswirklichkeit, S. 82; ebenso Calliess, Prozedurales Recht, S. 177. 158 Vgl. Heidebach, Grundrechtsschutz durch Verfahren bei gerichtlicher Freiheitsentziehung, S. 109 f. m. w. N.; vgl. Pünder, JuS 2011, 289. 152

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

Verfahrensrecht darstellen mag, kann prozedurales Recht mit diesem keinesfalls gleichgesetzt werden.159 Einer definitorisch engen Ansicht nach enthält es – indem es materielles Recht stets zu ersetzen versucht respektive zu ersetzen hat – ein prägendes Stück materiellen Rechts, weshalb es diesem zuzurechnen sei.160 Nach anderer Ansicht kann es entweder dem materiellen oder dem formellen Recht zugeordnet werden, je nachdem, an welcher funktionalen Stelle es zum Einsatz kommt.161 Proze­duralem Recht komme schließlich eine Zwischenposition innerhalb von formellem und materiellem Recht zu.162 Es soll ein „Mehr“ sowohl gegenüber formellem als auch gegenüber materiellem Recht enthalten.163 Bildlicher gesprochen sei prozedurales Recht danach nicht schwarz-weiß, sondern trage die Farbe grau. Es führe ein „Zwitterdasein“ und sei daher als „Rechtskategorie sui generis“ anzusehen.164 Auch wenn prozedurales Recht befähigt ist, formelle und materielle Aspekte gewissermaßen in sich zu vereinen, also „sowohl den Geist des formellen als auch des materiellen Rechtes atmet“165, kann es keinen Alleingültigkeitsanspruch erheben. So malt Hassemer plastisch das Bild eines großen und kleinen Bruders im Strafrecht. Der große Bruder, das materielle Strafrecht verkörpernd, werde mehr und mehr von seinem kleinen Bruder, dem prozeduralen Strafrecht, eingeholt und durch ihn in den Schatten gestellt. Der kleine Bruder dürfe jedoch den großen, klassischen Bruder nicht überlagern, weil letzterer elementare Grundsätze des Strafrechts wie das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG oder das Gesetzlichkeitsprinzip verteidige. Hassemer plädiert daher für ein Zusammenspiel dieses sich ergänzenden strafrechtlichen Geschwisterpaares.166 Es wäre unklug, einen Keil zwischen substanzielle und prozedurale Regelungen zu treiben.167 Auch Saliger weist darauf hin, dass beide miteinander in Einklang zu bringen seien, um einen optimalen Rechtsschutz zu erreichen.168 Sich diesen anschließend,

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Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 127; Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (5). 160 So Francuski. Vgl. hierzu das Schaubild bei Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 175 sowie die Ausführungen auf S. 175 f. 161 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (444 f.). 162 Braun, Autonomie versus Akzessorietät des Strafrechts am Beispiel des ärztlichen Abrechnungsbetruges, S. 260 f. 163 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 199. 164 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 207 mit Bezug auf Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (445); ebenso Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (5). 165 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 196. 166 Hassemer, in: FAZ Nr. 9/2011, S. 28. 167 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (17). 168 Vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (149); vgl. Saliger, JuS 1999, 16 (21).

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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appelliert Schweiger an das Rechtssystem, beides zu vereinen, so dass prozedurales und substanzielles Recht „Hand in Hand“ gehen könnten.169 Dieses nicht vollkommen definierbare Wesen prozeduralen Rechts lässt seine Sonderstellung im Rechtssystem bereits erahnen, auf die an späterer Stelle noch einzugehen sein wird. Nach dieser eher gröberen Analyse prozeduralen Rechts im Hinblick auf seine Rechtsnatur soll nachfolgend versucht werden, eine weitergehende, womöglich spezifischere Einordnung zu erreichen. Diese bezieht sich auf die Dogmatik prozeduralen Rechts. 3. Die dogmatische Einordnung prozeduralen Rechts Die dogmatische Einordnung prozeduralen Rechts stellt sich de lege lata als ebenso variabel dar wie die zur Rechtsnatur vertretenen Auffassungen. Prozeduralisierung ist nicht auf den Bereich eines Tatbestandsausschlusses oder die Rechtfertigungsebene beschränkt, sondern sie kann auch dafür eingesetzt werden, ein Verhalten von vornherein als nicht strafbar einzustufen.170 Aufgrund des „bunten Straußes an systematischen Verortungen“171 gibt es vielfältige, dogmatische Einsatzmöglichkeiten prozeduralen Rechts. Dies entspricht wiederum dem Wesen der Prozeduralisierung. Die Funktionseinordnung ist zwar entscheidend für die vorzunehmende materiell-strafrechtliche Prüfung in Studium und Praxis,172 allerdings für die Untersuchung des Wesens der Prozeduralisierung von sekundärer Bedeutung.173 Saliger sieht dennoch eine Verknüpfung der dogmatischen Einordnung von Prozeduralisierung mit der spezifisch eingenommenen Funktion der Prozedura­ lisierung im konkreten Fall. Je stärker die prozedurale Regelung ihrem inhaltlichen Wesen nach Bewertungsunsicherheiten einer materiellen Vorschrift ersetze, desto eher werde sie im Tatbestand des Delikts zur Erlangung von Straffreiheit ein­ gesetzt.174

169

Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 98. Braun, Autonomie versus Akzessorietät des Strafrechts am Beispiel des ärztlichen Abrechnungsbetruges, S. 263; vgl. auch Popp, ZStW 118 (2006), 639 (664). Auch auf Schuldebene lassen sich im Rahmen der Voraussetzungen für das Vorliegen eines unvermeidbaren Verbotsirrtums nach § 17 S. 1 StGB gewisse Prozeduralisierungstendenzen nicht leugnen. Gefordert werden vom Täter u. a. zuvor eingeholte Rechtsauskünfte, vgl. Sternberg-Lieben / Schuster, in: Sch / Sch-StGB, § 17 Rdnr. 18. Hierin sind ebenfalls absichernde vorverlagerte Verfahrenszüge zu erkennen. 171 Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (609). 172 Francuski, JuS 2017, 217 (220). 173 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (664). 174 Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (611). 170

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

Schweiger hingegen schlägt de lege ferenda eine einheitliche Dogmatik prozeduralen Strafrechts vor und möchte dieses generell als strafrechtlichen Anwendungsausschlussgrund kategorisieren.175 Der Begriff einer „prozeduralen Legalisierung“ wird insofern häufig aufgrund seiner Neutralität, die im Gegensatz zur „prozeduralen Rechtfertigung“ keine Festlegung auf einen spezifischen Deliktsbereich erfordert, als vorzugswürdig angesehen.176 Diese bewusst allgemein gehaltene Ausdrucksweise ist aber kritisch zu betrachten. Nicht zuletzt zwingen bereits die unterschiedlichen Irrtumsregeln evident zu einer dogmatischen Festlegung. Erst letztere ergibt, ob im Falle eines Irrtums beispielsweise ein Tatumstandsirrtum nach § 16 Abs. 1 S. 1 StGB oder ein Erlaubnistatbestandsirrtum vorliegt. Im Folgenden soll bei den entsprechenden medizinstrafrechtlichen Bereichen daher auf die jeweilige dogmatische Verortung der Prozeduralisierung im Deliktsaufbau eingegangen werden. Dadurch soll zugleich die variable Einsatzmöglichkeit prozeduralen Rechts aufgezeigt, und der gesetzestechnische Umgang des Gesetzgebers mit prozeduralen Strategien analysiert werden. In der dogmatischen Umsetzung prozeduraler Lösungsansätze ins Strafrecht zeichnet sich insbesondere die Einstellung der Strafrechtsgewalten zu Prozeduralisierungen ab. Können sie prozedurale Lösungsvarianten annehmen und schlüssig umsetzen oder verwerfen sie diese bereits in ihrem Kern bzw. sind sie mit ihrer Umsetzung überfordert? 4. Prozeduralisierung in einem engeren und in einem weiteren Sinne Abschließend sollen die unterschiedlichen Unterteilungsarten prozeduralen Rechts dargestellt werden. Als Unterteilung wird in der Literatur oftmals in prozedurales Recht in einem engeren und in einem weiteren Sinne unterteilt. Allerdings divergieren auch bezüglich dieser Einteilung prozeduralen Rechts in zuletzt genannte Kategorien die jeweiligen Ansichten erheblich. Ziel der Arbeit ist es an dieser Stelle aber nicht, einen umfassenden Überblick über die vertretenen Ansichten zu geben.177 Es soll vielmehr ein grobes Bild der verschiedenen Systematisierungsansätze projiziert werden, um erneut den Nachweis der Mannigfaltigkeit des Begriffs zu erbringen. Calliess versteht unter einem prozeduralen Recht im weiteren Sinne „alles Recht, das durch Kompetenz-, Organisations- und Verfahrensvorschriften die An 175

Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 221 ff. So Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (609). Gleichwohl stellte er zuvor im Jahre 2003 noch negativ gesinnt fest, dass die spezifische Einordnung von Prozeduralisierung „schillert und problemausklammernde Redeweisen wie […] prozedurale Legalisierung begünstigt“, Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (170). 177 Ein rechtsgebietsübergreifender Überblick über verschiedene Ansätze zur Katalogisierung von prozeduralem Recht findet sich bei Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 132 ff. 176

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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wendung und Entstehung primärer Normen regelt“.178 In einem enger verstandenen Sinne sollen seiner Ansicht nach unter prozedurales Recht nur die klassischen formellen Normen über Kompetenz, Organisation, Form und Verfahren gefasst werden, die als Regeln über die Entscheidung materieller Fragen die Rationalität dieser Entscheidung gewährleisten oder zumindest fördern.179 Nach Saliger hingegen soll prozedurales Recht in einem weiteren Sinne mit formellen bzw. formalen Regelungen deckungsgleich sein, also darunter jegliche Zuständigkeits-, Form- und Verfahrensvorschriften gefasst werden, unabhängig davon, ob mit ihnen ein diskursives Verfahren im Zusammenhang steht. In diesem Sinne sollen danach auch rein gedankliche Verfahren erfasst sein. Unter prozedurales Recht in einem engeren Sinne sollen hingegen nur solche Verfahrensvorschriften gefasst werden, welche mit einem Diskurs verbunden sind, folglich also Beratungs-, Genehmigungs- oder Zustimmungserfordernisse beinhalten.180 Stratenwerth zufolge soll in einem weiteren Sinne von Prozeduralisierung gesprochen werden können, wenn rechtlich relevante Feststellungen allein aus dem Grund Geltung beanspruchen, dass sie das Ergebnis einer bestimmten durchgeführten Prozedur sind.181 Unter Prozeduralisierung in einem engeren Sinne versteht er hingegen nur Normen, durch die eine materiale Vorschrift wenigstens teilweise vertreten wird.182 Der Fakt, dass bereits die Grobuntergliederung prozeduralen Rechts uneinheitlich determiniert wird, unterstreicht die Vielseitigkeit des von Autor zu Autor intersubjektiv geprägten Begriffs, welche einer analytischen Durchdringung der Materie Schwierigkeiten bereitet. Um diese äußerst verwirrende Terminologie abzulösen, soll im Verlauf vorliegender Arbeit eine alternative, terminologische Lösung entwickelt werden.

II. Die einzelnen Charakterzüge prozeduralen Rechts Nachdem die Vorstellungen nicht nur darüber, was unter prozeduralem Recht insgesamt, sondern bereits bezüglich der Grobunterteilung in prozedurales Recht in einem enger verstandenen Sinne und prozedurales Recht in einem weiter verstandenen Sinne zu verstehen ist, erheblich divergieren, soll im Folgenden ein Überblick über die unterschiedlichen Strukturelemente gegeben werden, die in der Literatur dem prozeduralen (Straf-)Recht als wesenseigen zugeschrieben werden.

178

Calliess, Prozedurales Recht, S. 175. Calliess, Prozedurales Recht, S. 176. 180 Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (602). 181 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639. 182 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (640). 179

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

Auf diesem Weg soll eine eigene Definition prozeduralen (Medizinstraf-)Rechts erarbeitet werden. Diese wird der weiteren Arbeit zugrunde gelegt und ist damit für die Analyse des prozeduralen Rechts im Medizinstrafrecht konstitutiv. Die verschiedenen strukturellen Merkmale stehen hierbei nicht gänzlich abgegrenzt nebeneinander, sondern beeinflussen sich wechselseitig. Dennoch sollen die Hauptkennzeichen, die in der Literatur als spezifisch prozedural begriffen werden, im Einzelnen herauskristallisiert werden. 1. Kontrollierte Selbstbeschränkung des Strafrechts durch Verfahren a) Das Schwinden materiellrechtlicher Regelungen Der Gesetzgeber fällt im materiellen Strafrecht die folgenreiche Entscheidung zwischen den termini technici des Rechts und des Unrechts im binären System von „strafbar“ und „nicht strafbar“ und nimmt dadurch eine klare, inhaltliche Position ein.183 Strafrecht wird mithin „als Ort klarer substantieller Wertungen wahrgenommen“184. Die relevante Verhaltensweise ist entweder strafbar oder sie fällt in den Bereich freiheitlicher grundrechtlicher Betätigung. Die Entscheidung zwischen „strafbar“ und „nicht strafbar“ ist damit ein „schneidiges Alles-OderNichts-Urteil“.185 Das strafrechtliche Urteil ist darüber hinaus im Gegensatz zu einer Ordnungswidrigkeitsahndung mit einem sozialethischen Tadel verbunden,186 mit dem die Gesellschaft dem Straffälligen symbolträchtig aufzeigt, dass er den sozialen Verhaltenskodex verletzt hat. Die materiellen Voraussetzungen einer Strafbarkeit müssen mithin inhaltlich strikt determiniert sein, um dem Bestimmtheitsgrundsatz aus Art. 103 Abs. 2 GG sowie dem einfachgesetzlichen Gebot des § 1 StGB Rechnung zu tragen. Prozedurales Strafrecht hingegen kennzeichnet sich strukturell durch ein inhaltliches Zurückweichen des materiellrechtlichen Gehalts: Eser spricht von einer „bewußte[n] Selbstbeschränkung des Strafrechts“187, Willke mit Blick auf komplexe Problemlagen von der „Selbstbegrenzung […] und […] Bescheidenheit der Politik aus Einsicht in die Notwendigkeit dezentraler Entscheidungsfindung“188 und 183

Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 106. Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (128); so auch Jung, JZ 2012, 926 (927). 185 Vgl. Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (749); Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (135). 186 BVerfGE 96, 245 (249); vgl. auch Frisch, NStZ 2016, 16 (17); vgl. von Hirsch, in: von Hirsch / Neumann / Seelmann, Strafe – Warum?, S. 43 (49 ff.); vgl. Hörnle, Grob anstössiges Verhalten, S. 2; vgl. Kölbel, in: FS Roxin, S. 1913 (1919); vgl. Kudlich, in: S / S/W-StGB, Vor §§ 13 ff. Rdnr. 5. 187 Eser, in: Frisch, Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, S. 9 (25); ebenso Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 116. 188 Willke, Ironie des Staates, S. 316 (Hervorhebungen auch im Original). 184

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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Schulz von „ergebnisoffene[n] Leitlinien“ anstelle „starrer und stärker substanziell regelnder Vorschriften“189. Damit verbunden ist schließlich das Stichwort der „Entmaterialisierung“.190 Das Zurückweichen des Strafrechts bzw. seiner materiellen Inhalte191 erfolgt zugunsten von Verfahrenskautelen. Formelle Vorgaben sind in der strafrechtlichen Praxis im Vordringen, um die Strafbarkeit in denjenigen Bereichen zu determinieren, in denen „Bewertungsunsicherheiten“ vorherrschen192 – sei es bei der Bestimmung der Werthaltigkeit kollidierender Güter vom Grundsätz­ lichen her oder aber bei der im Einzelfall vorzunehmenden Subsumtion, für welche ein konstitutiver Wissensbaustein fehlt.193 Es existieren damit sowohl signifikante Wissens- als auch Wertekonflikte,194 teils eine Mischung aus beiden.195 Der Ausgleich kollidierender Rechte und Interessen soll in Prozeduren erfolgen, die einen dynamischen Prozess ermöglichen und dem Pluralismus Entfaltungsraum geben.196 In derartigen Lagen erscheint es „intuitiv plausibel“, dass der Gesetzgeber anstatt materieller Determinierungen „Zuflucht in Prozeduralisierungen sucht“.197 Letztere sollen „die Steuerungs- und Vollzugsprobleme dieses modernen Strafrechts“ überwinden helfen, welche aus einem es überflutenden Pluralismus einer sich dynamisch entwickelnden Gesellschaft kausieren, der „der Zugriff auf von allen geteilten, ‚richtigen‘ Inhalten“ mehr und mehr versperrt ist.198 Prozeduralisierung knüpft daher grundsätzlich an rechtliche Krisensituationen an.199 189

Schulz, ZRP 2002, 487 (488). Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (4). 191 Zu einer Entmaterialisierung tragen u. a. unbestimmte Rechtsbegriffe oder Verweisungsklauseln bei, vgl. Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (18). 192 Nach Saliger, KritV 1998, 118 (147) kann „Prozeduralisierung auch als Kompensationsreaktion auf Unsicherheiten bei der Setzung von Recht“ verstanden werden. 193 Francuski, JuS 2017, 217 (219); vgl. auch Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (13): „empirisch dunkel“ und „ethisch unsicher“. 194 Vgl. Albers, in: Albers, Bioethik, Biorecht, Biopolitik, S. 9 (38). 195 Im Zusammenhang mit Wertekonflikten kann auch ein Wissensdefizit insofern eine Rolle spielen, als die Ausmaße oder die gesellschaftlichen Reaktionen auf ein medizinisches Verfahren ungewiss sind, Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (29). 196 Schulz, ZRP 2002, 487 (488). Zum Ausgleich divergierender Positionen im Verwaltungsrecht und praktischer Konkordanz vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 976. Der Mechanismus eines verfahrensrechtlichen Ausgleichs kollidierender Interessen kann als rechtsgebietsübergreifend bezeichnet werden. 197 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (14); ebenso Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (2); vgl. aber auch Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 39, die aufgrund der Pluralisierung eher eine Zunahme an Strafgesetzen konstatiert, weil die Gesellschaft das moralische Fragen beantwortende Strafrecht billige, um dadurch an verloren gegangener Stabilität zu gewinnen. 198 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (439) [Hervorhebung nicht im Original]. 199 Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (41). 190

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

Das Strafrecht beschränkt sich selbst in seiner Regelungsautonomie und lässt Freiraum für ein Verfahren, dessen Entscheidung nicht vorherbestimmt ist, sondern vielmehr flexible Entscheidungsalternativen gewährt.200 An die Stelle einer schneidigen Entscheidung wird ein Verfahren gesetzt, nach dessen Beachtung das Urteil „straflos“ gefällt werden kann. Dieses Vorgehen bewirkt dadurch auch eine Begünstigung der Intradisziplinarität des Rechts, indem Verfahrensvorgaben oftmals aus anderen Rechtsgebieten wie dem Öffentlichen Recht oder dem Zivilrecht akquiriert werden. Einher geht damit neben einer dadurch begründeten Verwandtschaft zum Themenkreis der Akzessorietät des Strafrechts201 allerdings auch der Einzug von zivil- und öffentlichrechtlichen Fragestellungen,202 auf die später noch einzugehen sein wird. Die Selbstbeschränkung des Rechts hat allerdings maßvoll und mit Bedacht zu erfolgen. In der Schutztechnik der Prozeduralisierung – so wird es postuliert – offenbare sich somit nicht zwangsläufig eine Schwäche des Strafrechts oder gar sein entmutigter Rückzug aus existenziellen Notsituationen; es beherrsche seine Vorfeldstrategie durchaus, indem es zum Schutz des Rechtsguts adäquate Sorgfalts-, Prüfungs- oder Beratungspflichten postuliere und diese absichere.203 Auf den Punkt gebracht lässt sich dieses Vorgehen stichwortartig als „regulierte Selbstregulierung“204 umschreiben, weil die Entscheidungsgewalt zwar bedingt delegiert wird, der Gesetzgeber allerdings die Zügel in der Hand behält und die Rahmenbedingungen dieser Entscheidungsfreiheit kontrolliert absteckt. Es wird nicht nach materiell richtigen Inhalten gesucht, sondern nach Verfahren, die ihrerseits zu Inhalten führen, die man zumindest für wahr oder gerecht halten darf.205 Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die von ihm angestrebten Ziele durch gesellschaftliche Prozesse selbst erreicht werden,206 hält „das Terrain [aber] weiterhin normativ besetzt“207. Die Selbstregulierung erfolgt daher nicht gänzlich autonom, 200

Schulz, ZRP 2002, 487 (488). Allgemein zur Akzessorietät des Strafrechts vgl. Rengier, ZStW 101 (1989), 874 ff.; Wagner, in: Bock / Harrendorf / Ladiges, Strafrecht als interdisziplinäre Wissenschaft, S. 99 ff.; zur Unterscheidung der Akzessorietät des Strafrechts vom prozeduralem Strafrecht vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 185; Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 206 f.; Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (448) sieht hingegen in der Verwaltungsakzessorietät einiger Strafvorschriften eine „alte Ausprägung von Prozeduralisierung“. 202 Saliger, KritV 1998, 118 (146). 203 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (751). 204 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 263 (Hervorhebung auch im Original); vgl. dazu auch Popp, ZStW 118 (2006), 639; Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 231 spricht an anderer Stelle auch von einer „integrierte[n] Autonomie“. Dazu auch ausführlich Schulz / Held, Regulierte Selbstregulierung als Form modernen Regierens, Hamburg 2002; vgl. auch Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 100 ff. sowie S. 173. 205 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (748). 206 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 119. 207 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (742); Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 252 spricht von „normative[n] Zwänge[n] [,] die Handlungsbereitschaft privater Akteure bewirken“. 201

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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sondern baut auf einem staatlich gesetzten Fundament auf.208 Die Gesellschaft, vertreten durch private Dritte oder speziell zusammengesetzte Gremien, baut sich im übertragenen Sinne das Recht aus den Bausteinen, die ihr der Gesetzgeber zur Verfügung stellt. Diesem Bauwerk wird als Ergebnis dann Akzeptanz und Bestand zugestanden, wenn das „baurechtliche“ Verfahren eingehalten wurde. Mithin hängt die Existenzberechtigung einer Aussage nicht von ihrem Inhalt, sondern vom Weg ihres Zustandekommens ab; im Mittelpunkt steht damit die Leistungskraft eines „bestimmten Spielregeln gehorchenden Verfahrens der Gewinnung normativer Aussagen“209. Um es mit Hassemer treffend auszudrücken, wird „die sonst immer gebotene Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit auf der substantiellen Ebene gewissermassen vorläufig [eingestellt], […] in ein Verfahren übertragen und die in der Sache (derzeit) unbeantwortbare Frage gleichsam [verflüssigt]: Frage und Antwort [werden] in Prozeduren [überführt]“210 und dadurch wird „substantielle Leere […] durch prozeduralen Eifer gefüllt“211. Dadurch kommt es einerseits zwar zu einer rechtlichen Deregulation, andererseits aber zu einem „Verrechtlichungsschub“212 durch gesetzte Verfahrensvorgaben.213 b) Akzeptanz und Gültigkeit des gewonnenen Verfahrensergebnisses Unter Prozeduralisierung wird – wie zu Beginn der Arbeit bereits dargelegt – allgemein „die von der Einhaltung spezifischer Verfahrensnormen abhängende Straflosigkeit rechtsgutstangierender Handlungen“214 verstanden. Das Ergebnis wird, soweit die Verfahrensvorgaben eingehalten wurden, rechtlich akzeptiert.215 Der „liberale Grundgedanke von Prozeduralisierung“ besteht somit darin, „straffreie Handlungsspielräume zu eröffnen“216 – das Beachten der entsprechenden Verfahrensvorgaben verkörpert einen „Indikator für Rechtstreue“217. Prozeduralisie 208

Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 120. Bauer, Die produktübergreifende Bindung des Bundesgesetzgebers an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, S. 138. 210 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (12). 211 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (14). 212 Auch Bittmann, wistra 2017, 121 (127) warnt vor einer Überregulierung mit Blick auf eine wirtschaftsstrafrechtliche Prozeduralisierung. 213 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 131 m. w. N.; nach Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (18 f.) stellt Prozeduralisierung daher „die Kehrseite der Entmaterialisierung“ dar; vgl. auch Saliger, KritV 1998, 118 (146): „Prozeduralisierung [bedeutet] nicht notwendig die Abwesenheit von Strafrecht“. 214 Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdnr. 7a; vgl. auch Saliger, KritV 1998, 118 (145); vgl. Saliger, JuS 1999, 16 (20). 215 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (665). 216 So Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (132). 217 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (26). 209

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

rung bricht somit aus dem binären Schema von Recht und Unrecht zunächst aus, indem es die Existenz dieser Differenzierung zwar nicht negiert, sie aber vorerst schlicht nicht für ihre eigene Kategorisierung heranzieht.218 Sie vernachlässigt diesen Blickwinkel auf Verhaltensweisen und richtet ihr Augenmerk primär auf die für sie ausschlaggebende Einordnung als „strafbar“ oder „straffrei“, welche für die Betroffenen ebenfalls die zentrale Einstufung sein dürfte. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verschwimmen hierdurch. Aus diesem Grund wird eine prozedurale Rechtfertigung des Handelns teilweise als nur „halbherzig“ eingestuft.219 Ursache hierfür ist die Tatsache, dass prozedurale Rechtfertigungen sich von den klassischen Rechtfertigungen dadurch abheben, dass sie weder „ein besseres Recht“ zur Verletzung des geschützten Guts vorweisen können noch müssen und die Rechtfertigungsvoraussetzungen feststehen, bevor es zur Verletzungshandlung kommt; letztere werden dadurch nicht mehr durch einen Strafrichter festgestellt.220 Es fehlt an einer Überprüfung oder Bewertung der Entscheidung durch das Strafrecht.221 Die Rechtfertigung resultiert alleine aus der Beachtung des vorgeschriebenen Verfahrens. Diese Vorgehensweise schafft für die Betroffenen in undurchsichtigen und komplexen Lagen unverzichtbare Handlungs- und Rechtssicherheit,222 indem sie die Entscheidung, die sich ex post doch falsifiziert, nicht gegen ihre Verantwortlichen wendet.223 Hassemer zieht aufgrund dieser Tatsache Parallelen zum „rechtsfreien Raum“ Arthur Kaufmanns.224 Nach der Lehre vom „rechtsfreien Raum“ soll sich das Strafrecht in extremen Notsituationen einer Wertung enthalten und sie der (Gewissens-)Entscheidung der Betroffenen225 anheimstellen.226 Gewisse Parallelen des „rechtsfreien Raums“ zur Prozeduralisierung sind durchaus vorhanden. In beiden Fällen handelt es sich grundsätzlich um schwierige Grenzsituationen, in welchen das Recht, vor allem das Strafrecht, mit seiner Leistungskraft an seine Grenzen stößt und strafrechtliche Verbotsnormen folglich keinen rigiden Alleingeltungsanspruch erheben können.

218

Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (21); vgl. auch Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (646). 219 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (671 f.), der zwischen einer „richtigen“ oder nur „recht­ mäßigen“ Handlung differenziert. 220 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (732). 221 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (741) in Bezug auf eine prozedurale Rechtfertigung. 222 Saliger, KritV 1998, 118 (146 f.); Popp, ZStW 118 (2006), 639 (667). 223 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (667); so auch schon Jung, in: Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral, S. 401 (406), der die Einrichtung einer Kommission mit der Absicht verbunden sieht, rechtliche Entlastung des Handelnden zu gewährleisten. 224 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (732). 225 In diesem Kontext wäre das Gewissen in seiner handlungsleitenden Grundform betroffen, vgl. dazu Kölbel, in: FS Roxin, S. 1913 (1914). 226 Vgl. Kaufmann, in: FS Maurach, S. 327 (338); vgl. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 227.

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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Der Unterschied zwischen prozeduralen Regelungen und dem Konstrukt des „rechtsfreien Raums“ liegt allerdings darin, dass sich letzteres einer Wertung gänzlich enthält und Prozeduren in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle spielen. Prozedurale Regelungen statuieren hingegen bestimmte Rechtsfolgen.227 Es kann daher nur die Rede von einem gemeinsamen Element der beiden sein. Von der gewährleisteten Rechtssicherheit und der (zumindest) im Ergebnis gewährten Akzeptanz des jeweiligen Verfahrensergebnisses ist jedoch die Verfahrensrichtigkeit im eigentlichen Sinne zu unterscheiden. Während teilweise das Spezifikum prozeduralen Rechts in der „Exklusivität“ der Entscheidung gesehen wird, sich also „vom Subjektiven ins Objektive“228 verschiebt, wird der Prozeduralisierung von Teilen der Literatur eine andersartige Ergebnisqualität zugesprochen: Prozeduralisierungen stünden nicht für sich selbst, sie würden keinen Selbstzweck erfüllen,229 weshalb sie nie unabhängig vom materiellen Recht Bedeutungsrelevanz erlangen könnten, sondern dieses nur ergänzen und ihm zur Durchsetzung verhelfen könnten. An dieser Stelle rückt wieder der Gedanke der „dienenden Funktion“ von Verfahrensvorschriften ins Bewusstsein. Prozeduralisierung müsse demnach zwar mit den prozeduralen Gerechtigkeitsformen J. Rawls230 durchaus im Zusammenhang gesehen, von diesen aber auch klar geschieden werden.231 Bei einer Prozeduralisierung könne es sich nicht um „reine Verfahrensgerechtigkeit“ handeln, bei welcher kein verfahrensexterner Richtigkeitsmaßstab herangezogen wird,232 sondern nur um eine „unvollkommene“, vom materiellen Recht als externe, aber gleichzeitig übergeordnete Kategorie abhängige.233 Konkret handelt es sich bei der in Aussicht gestellten Entscheidungsakzeptanz nach Verfahrensbeachtung um die Frage, ob der Handelnde objektiv (beispielsweise aufgrund eines prozeduralen Rechtfertigungsgrundes) oder aber „nur“ auf subjektiver Ebene im Wege der Irrtumslehre straffrei gestellt werden kann. Noch bildlicher gesprochen steht in Frage, ob das prozedural erlangte Ergebnis eine Art Sicherheitsbrücke auf gleicher Ebene 227 Vgl. zum Ganzen Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (448) m. w. N. 228 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (667). Man könnte auch sagen, dass die Verfahrenswirklichkeit in diesem Sinne mit der realen Wirklichkeit gleichgesetzt wird, auch wenn die Überprüfung an der materiellen Wirklichkeit möglich bleiben soll. 229 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 171; vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (149); vgl. Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (614), der prozeduralisierte Verfahren als „nicht ‚unschuldig‘ […]“ bezeichnet, weil sie materiellen Zielen oder Zwecken dienen. 230 Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 105 ff.; Kern, in: Kern / Müller, Gerechtigkeit, Diskurs oder Markt?, S. 83. 231 Nach Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (614) ist die Rawl’sche Gerechtigkeitstheorie nur bedingt für die Idee der Prozeduralisierung fruchtbar. 232 Zur „vollkommenen“, „unvollkommenen“ und „reinen“ Verfahrensgerechtigkeit nach Rawls vgl. auch Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 177 ff.; Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (604 f.); vgl. auch die verschiedenen Formen prozeduraler Gerechtigkeit bei Tschentscher, Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, S. 124 ff. 233 Vgl. dazu das Schaubild bei Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 151.

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

mit dem materiellen Recht formt (solange es das materielle Ergebnis als solches nicht vollständig überlagert und ein Abgleich daher nicht möglich ist) oder ob der einzig objektive Richtigkeitsmaßstab das materielle Recht selbst bleibt. Das prozedurale Ergebnis würde „nur“ die Sicherheitsbrücke auf zweiter Ebene bilden, nachdem der Handelnde die ausschlaggebende materiellrechtliche Richtigkeitsebene womöglich verfehlt hat. Eng verbunden mit diesen unterschiedlichen Auffassungen ist die jeweilige Einschätzung der Legitimationskraft des Verfahrens. Auf die divergierenden Ansichten bezüglich prozeduraler Autonomie wird deshalb im Laufe der Untersuchung der medizinstrafrechtlichen Gebiete einzugehen sein. Mit der Frage nach der Akzeptanz der getroffenen Entscheidung nach Einhaltung des vorgegebenen Verfahrens ist daher auch eine elementare Definitionsfrage verbunden: Muss die prozedurale Regelung an die Stelle der materiellen Regelung treten und sie substituieren bzw. objektiv gleichrangig vertreten oder kann ihre Aufgabe auch darin bestehen, die materielle Entscheidung in ihrer Richtigkeit „nur“ prozedural abzusichern, ohne dass ihr dadurch der besondere Charakter des Prozeduralen bereits abgesprochen wird? Auf dieses Kriterium wird im Rahmen der Entwicklung einer eigenen Definition zurückzukommen sein. In einer modernen Welt verleiten insbesondere Prognosen, die ein maßgebliches Instrument des Gesetzgebers darstellen, zu Prozeduralisierungen, um die prognostische Fehleranfälligkeit abzufedern und sich „unserer dynamischen, kontrollfreudigen und unübersichtlichen Welt“ anpassen und sich letztgültigen Entscheidungen versagen zu können.234 Insgesamt fordert die Vorverlegung der Entscheidung über die Straflosigkeit durch eine verfahrensgesteuerte ex ante-Perspektive das Wesen des Strafrechts, dem ein repressives System inhärent ist, deutlich heraus.235 Tradiertes Strafrecht wird mithin als „vergangenheitsgerichtet und starr“236 charakterisiert. Es „wartet ab, [und] greift erst dann ein, wenn das Kind […] schon in den Brunnen gefallen ist“237. Es müssen aus Sicht des Strafrechts daher ausschlaggebende Gründe sein, die es dennoch zu einer Prozeduralisierung motivieren: Verdacht und Prognoseeinschätzungen verkörpern neben ihrem gewöhnlichen Alltagsgebrauch auch einen spezifischen Wert in der Rechtswelt; indem sie eigene Anwendungsrationalität generieren und nach eigenen Richtigkeitsprämissen verfahren, erlangen sie gegenüber der Gewissheit eine selbständige Existenzberechtigung.238 Der

234

Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (25). 235 Vgl. auch Popp, ZStW 118 (2006), 639 (666): „Der Standpunkt jenes Beobachters zweiter Ordnung wird bevorzugt vom Strafrecht eingenommen“; vgl. auch Saliger, KritV 1998, 118 (146): „Zentrale Strukturdifferenz“. 236 Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (194); vgl. auch Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 155. 237 Kindhäuser, ZStW 129 (2017), 382 (387 f.). Dies sieht er jedoch nicht als prinzipielle Schwäche an, sondern als eine Art von selbstbewusstem „Vertrauensvorschuss“ in gesellschaftliche Selbststeuerungsprozesse. 238 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (746).

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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Gesetzgeber bedient sich ihrer in vielen Ausgangslagen, um staatliche Eingriffsbefugnisse bereits im Vorfeld eines reinen Situationswissens materiell rechtmäßig zu stellen, sollte sich auch ex post herausstellen, dass sich Verdacht oder Prognose nicht bestätigen.239 Auch mit der strafrechtlichen Figur der mutmaßlichen Einwilligung wird eine legitimierende Rechtfertigung gewährt, wenn eine Überprüfung auf hinreichender Grundlage ex ante ergeben hat, dass die Behandlung dem mutmaßlichen Willen entspricht, sollte die Mutmaßung sich im Nachhinein auch als falsch herausstellen.240 Das trotz tatsächlicher Ungewissheiten bestmöglich versuchte Bemühen um eine Kongruenz des Handelns mit dem tatsächlichen Willen führt zur objektiven Rechtmäßigkeit des Handelns. Hassemer sieht des Weiteren auch im „privilegierten Irrtum“ einen prozeduralen Vorgänger.241 Ein begrenztes Wissen soll gerade „seinen Eigenwert aus der Methode seines Erwerbs“242 schöpfen. In eben dieser Absicherung des prognostischen Entscheidungsverfahrens dürfte der Eigenwert des Verfahrens liegen, seine praktisch gewonnene Rationalität, die ihm eine eigene, keinesfalls unterschätzbare Existenz neben der tatsächlichen Wirklichkeit einräumt. 2. Partizipation und Entscheidungsverantwortlichkeit Privater und Kommissionen Der Freiraum, den der Gesetzgeber durch seine regulative Zurückhaltung hinterlässt, wird durch die Verfahrensteilhabe und Entscheidungsgewalt privater Dritter oder aber interdisziplinär zusammengesetzter Gremien ausgefüllt. Die Antwort auf das zu entscheidende Rechtsproblem wird damit nicht vom Gesetzgeber selbst durch Normen oder gar durch den Strafrichter beantwortet, sondern es wird auf 239 Als Beispiel kann u. a. die Primär- und Sekundärebene im Polizeirecht angeführt werden. Polizeirechtliche Eingriffe werden auf erster Stufe aufgrund einer ex-ante-Beurteilung eines sorgfaltsgemäß handelnden Polizisten als rechtmäßig eingestuft, auf der zweiten Ebene des Kostenrechts besteht für den Bürger allerdings ein Entschädigungsanspruch entsprechend Art. 87 Abs. 1 PAG, wenn er tatsächlich nur Anscheinsstörer war, vgl. Lindner, in: Möstl  / ​ Schwabenbauer, BeckOK-PolR Bayern, Art. 7 PAG Rdnr. 35 ff. 240 Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdnr. 7b; nach Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 276 f. kann die dogmatische Struktur der mutmaßlichen Einwilligung „als Musterbeispiel“ für weitere Prozeduralisierungen „Pate stehen“; vgl. auch Popp, ZStW 118 (2006), 639 (671): „[…] ‚prozedurale[s]‘ Element“. Zur Unterscheidung von mutmaßlicher Einwilligung und prozeduraler Rechtfertigung vgl. Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 218 ff. 241 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (744), der u. a. die fehlerlose Prognose, die Untersuchungshaft gegen einen Unschuldigen, die Pfändung durch einen Gerichtsvollzieher und die vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO als Beispiele eines „privilegierten Irrtums“ nennt; vgl. dazu auch Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 183 f. 242 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (666).

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

eine andere Ebene verlagert und dort erarbeitet.243 Prozeduralisierung schafft durch diese Vorgehensweise eine Koppelung des Rechts mit seiner gesellschaftlichen Außenwelt, dem „Nichtrecht“244, indem es dieser Entscheidungs- und Bewertungsmacht zugesteht und sie in die Problemlösung elementar miteinbindet. Sie werden zur Entscheidung berufen, wenn ein Gremium oder bestimmte Personen anstelle einer abstrakt formulierten Norm „sachnäher und / oder flexibler urteilen können“245, im Einzelfall also eine Fehleinschätzung durch einen objektiven Dritten zu besorgen ist.246 Durch dieses Vorgehen wird Entscheidungsverantwortung vom Gesetzgeber auf den Bürger rückübertragen.247 Das rechtliche System öffnet sich damit und lässt nicht nur interdisziplinäre Strömungen einfließen, sondern auch solche subjektiver Natur. Das klassisch hierarchische Staatsmodell wird dadurch brüchig – staatliche Subordination wird zur prozeduralen Kooperation.248 Die Gesellschaft bzw. ein Teil von ihr fungiert als Partner auf gleicher Ebene, der letztgültige, materielle Entscheidungen zu treffen befugt ist, solange sie das rechtliche System an dieser Stelle vorsieht und solange das Verfahren der Entscheidungsgewinnung als solches befolgt wurde. Auch wenn eine Zunahme an Entscheidungsbeteiligten nach sozialpsychologischen Erfahrungswerten dazu führen kann, dass die Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen abnimmt,249 so baut Prozeduralisierung doch auf dem Gedanken auf, dass die Akteure, die in das Verfahren involviert werden, einerseits Verantwortung übernehmen wollen – aufgrund ihrer spezifisch prädestinierten Rolle als unmittelbar Betroffene – und andererseits dazu auch befähigt sind – aufgrund ihres subjektiven Wissensstandes bzw. vorhandenen Fachwissens. Durch die Verfahrensteilhabe der Betroffenen verstärkt sich nicht nur die Transparenz des Entscheidungsvorgangs, sondern auch die letztgültig getroffene Entscheidung gewinnt an Legitimation und Akzeptanz.250 Das demokratische Element der Prozeduralisierung darf daher keinesfalls unterschätzt werden; es führt zu einer Stärkung der Rechtspositionen der individuell beteiligten Gruppen und Akteure.251

243

Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (21). 244 Martin / Renk / Sudhof, KJ 1989, 244 (252). 245 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (640 f.). 246 Eser, KritV Sonderheft 2000, 43 (45). 247 Schulz, ZRP 2002, 487 (488). 248 Vgl. Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 226 ff. 249 Jox / Marckmann, Ethik Med 2011, 137 (138); vgl. auch Baumann / Bochnik / Brauneck u. a., Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe, S. 6, nach welchen prozedurale Absicherungen „persönliche Verantwortung in Verfahrensregeln aufgehen lassen“; diesen Effekt für den Sterbehilfebereich negierend Saliger, KritV 1998, 118 (135). 250 Sondervotum der Richter Simon / Heußner, BVerfGE 53, 69 (81 f.); vgl. Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 147; Schweiger, ZRP 2018, 98 (101). Für das Umweltschutzrecht so auch Ekardt, NuR 2005, 215 (222), allerdings unter der Prämisse, dass klare, inhaltliche Vorgaben existieren und diese durch Verfahrensteilhabe nur ergänzt werden. 251 Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (10).

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

131

Hassemer stuft dieses der Prozeduralisierung zugeschlagene Strukturmerkmal jedoch nicht als absolut neuartig ein. Er erkennt bereits im „Erlanger Schwangerschaftsfall“252 sowie im „Fall Theissen“253 aufgrund der diskutierten Delegation strafrechtlicher Entscheidungsbefugnisse prozedurale Vorgänger.254 Schließlich sollte auch in diesen Fällen die Entscheidung über strafrechtlich relevantes Handeln in private Hände gelegt werden. 3. Verfahren der Wissensballung und Wissensevaluierung Durch die Partizipation der Entscheidungsträger wird nicht nur versucht, die Verantwortungsbereitschaft zu stärken, sondern auch durch die unterschiedlichen Wissensträger entscheidungserhebliches Wissen zu generieren und zu maximieren.255 Die Welt wird – progressiver Globalisierung geschuldet – zunehmend komplexer und unüberschaubarer; es kommt zu einer „funktionalen gesellschaftlichen Ausdifferenzierung in spezialisierte Teilsysteme [bei welchen] das für den Entscheidungsprozess erforderliche Wissen schwer verfügbar, (noch) nicht vorhanden, unmöglich zu erlangen oder umstritten [ist]“256. Es mangelt in vielen Bereichen schlicht an Erfahrungswerten. Die Auseinandersetzung mit dem Recht erfordert allerdings unumgänglich ein bestimmtes Wissensspektrum, das stetig ansteigt und das nur schwer akquirierbar ist, weil sich Wissen und Nichtwissen in einem derart komplexen Gefüge relativ zueinander verhalten.257 Das Recht trägt mithin auch die Verantwortung, dass Wege der Wissensakquirierung zur Verfügung stehen und diese durch normative Regelungen auch praktikabel sind.258 Prozeduralisierung will sich dieser Aufgabe 252

Im „Erlanger Schwangerschaftsfall“ sollte eine hirntote Schwangere solange intensiv­ medizinisch behandelt werden, bis ihr Fötus durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht hätte werden können. Dieser verstarb allerdings vorzeitig. Der Fall löste aufgrund seiner ethischen und rechtlichen Dimension vehemente Diskussionen aus. Zur Betreuerbestellung für die hirntote Schwangere s. AG Hersbruck, NJW 1992, 3245; zur strafrechtlichen Problematik des Falles Hilgendorf, JuS 1993, 97 ff. 253 BGHSt 38, 144 ff. In dem gesellschaftlich polarisierenden Fall ging es um den Memminger Gynäkologen Horst Theissen, welcher wegen einer Vielzahl illegaler Schwangerschaftsabbrüche angeklagt war. Das Wesentliche des Falls lag in der Auslegung des Merkmals der „ärztlichen Erkenntnis“ nach § 218a Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 StGB a. F. Der BGH urteilte, dass dieses Merkmal zwar insofern gerichtlich überprüfbar sei, als es um die Vertretbarkeit der ärztlichen Entscheidung gehe, dem Arzt aber durchaus ein gewisser ärztlicher Beurteilungsspielraum zukomme. Die Beurteilung der Indikation nach „ärztlicher Erkenntnis“ weise demnach sowohl eine objektive als auch eine subjektive Komponente auf. 254 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (741 ff.). 255 Allgemein zum strukturellen Umgang des Rechts mit „Risikowissen“ Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (16 f.). 256 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 121. 257 Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, S. 65 f. 258 Hoffmann-Riem, Innovation und Recht – Recht und Innovation, S. 66; vgl. auch Albers, in: Albers, Bioethik, Biorecht, Biopolitik, S. 9 (34): „Wissensgenerierungsinstrumentarien“.

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

annehmen. Durch ein diskursives Verfahren soll ein Kommunikationsprozess in Gang gesetzt werden, in dem sich die jeweils Beteiligten argumentativ miteinander auseinandersetzen müssen. Erstrebt wird eine Multiperspektivität des Dialoges, in welchem divergierende Ansichten erörtert und bewertet werden müssen, um so alles Gewichtige, was dem Einzelnen möglicherweise aufgrund von subjektiver Voreingenommenheit oder konvergenter Engstirnigkeit verschlossen bleiben würde, zu Tage fördern zu können. Es sollen letztendlich auf argumentativer Basis die Gewinne der partizipativen Diskursivität des Verfahrens ausgeschöpft werden. Daraus nährt sich die „kommunikativ[e] Legitimationsfunktion“ des „modernen Prozeduralisierungsschubes“, die einem rein intrapersonal-monologischen Verfahren entbehrt.259 Kollektive Entscheidungsprozesse versprechen Rationalität und Rücksicht auf Interessenvielfalt.260 Ebenso wie Gesetzesvorhaben intensiv diskutiert werden, damit alle Vor- und Nachteile ausreichend abgewogen werden können, muss ein diskursiver Vorgang auch bei der richtigen Gesetzesanwendung stattfinden können, wenn diese ein Verfahren zur Entscheidungserlangung vorsieht. Der Diskurs wird damit in ein späteres Stadium der Gesetzesanwendung und Entscheidungsfindung verlagert; er konzentriert sich nicht mehr nur auf die normative Ebene. Insgesamt kann vom Recht in spezifischen Situationen kein materielles Handeln verlangt werden, sondern nur das Einhalten einer bestimmten Prozedur, in der Wissen maximiert, Indikatoren gesammelt und bewertet sowie Faktoren unter­ schiedlich intensiv miteinbezogen werden.261 Gerade in prekären Grundrechtskollisionen wird ein Verfahrensschutz dringlich.262 Es wird versucht, die informellen Horizonte zu erweitern und aufgrund einer umfassenden Informationsbasis die verfahrensinhärenten Synergieeffekte zu akquirieren, ohne dass relevante Aspekte diffundieren können. Dass stets alle mitentscheidenden Faktoren gesammelt und eingebracht werden können, wirkt illusorisch. Gerade aber die Prozeduralisierung setzt sich mit Illusionen auseinander: „Sie tut, was möglich ist […] und […] akzeptiert, was nicht möglich war“263. Hierin ist ein prozedurales Kernverständnis zu sehen. Die Akquirierung von Wissen und seine Bewertung führt zum nächsten zu analysierenden prozeduralen Merkmal. Das Recht soll Strukturen entwickeln, um sich mit dem vorhandenen Wissen auseinandersetzen zu können. Dadurch soll es auch eine gewisse Lernfähigkeit entwickeln, die wiederum zu einer erhöhten Reflexi 259

Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (127) [Hervorhebung auch im Original]; vgl. zur Funktion der gesellschaftlichen Kommunikation und ihrem Leistungsvermögen mit Blick auf die in Ethikkomitees vorherrschende Pluralität auch Inthorn, in: Michl / Potthast / Wiesing, Pluralität in der Medizin, S. 345 (350 ff.). 260 Jung, in: Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral, S. 401 (403). 261 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (746). 262 Hufen, NJW 2001, 849 (857). 263 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (747).

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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vität des Rechts beitragen soll. In diesem Rahmen werden auch Beobachtungsstrategien ins Recht integriert, um auf eine sich abzeichnende, normative Fehlentwicklung reagieren zu können. 4. Sich fortentwickelnde Reflexivität und prozedurale Beobachtungsstrategien Prozedurales Recht wird zum Teil als ein „reflexives und innovatives Recht“ betrachtet, das lernfähig ist und sich anhand von neuen Erkenntnissen dementsprechend ausrichten und weiterentwickeln kann.264 Es soll sich fortlaufend aktualisieren können und geht mittels der realen Anwendung von Rechtsnormen durch die Gesellschaft mit dem Wertebewusstsein der jeweiligen Zeit. Der Prozeduralisierung wird zugesprochen, dass sie das vernünftigste Verfahren und das beste Klima in einer Situation böte, in welcher verständliche und von einem allgemeinen Konsens getragene Normen sich erst noch herausbilden müssen, um nicht vorschnell harte Entscheidungen in Einzelfällen treffen zu müssen.265 Besonders existenzielle Entscheidungen an der Schnittstelle von Leben und Tod können nicht vorschnell getroffen werden, weil sich Rechtsprechung und Gesetzgebung als Teil der Gesellschaft nach dem durchlaufenden Prozess gesellschaftlicher Wertung richten müssen.266 Diesen Beurteilungen zufolge wirkt Prozeduralisierung wie ein Brutkasten für Normen, die zunächst flexibel und formbar gehandhabt werden und rechtliche Entscheidungen in späteren Stadien erst vorbereiten. Es existiert jedoch häufig eine grundsätzliche Ungewissheit über die Folgen der gesetzlichen Regelung.267 Auch prozedurale Normen müssen sich erst noch unter Beweis stellen, weswegen oftmals eine Beobachtungs- oder Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers statuiert wird,268 um die Folgen einer gesetzlichen Regelung 264

Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 129 f.; vgl. auch Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (19 f.); Albers, in: Albers, Bioethik, Biorecht, Biopolitik, S. 9 (34). 265 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (750). 266 Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (289). 267 Albers, in: Albers, Bioethik, Biorecht, Biopolitik, S. 9 (34). 268 Als Beispiel für eine gesetzliche Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht im Medizinstrafrecht kann insbesondere die Vorschrift des § 3a Abs. 6 S. 1 ESchG angeführt werden. Daneben wird auch in § 13 Abs. 4 TPG das Bundesministerium für Gesundheit ermächtigt, in einer Rechtsverordnung die Meldung, Dokumentation oder Bewertung schwerwiegender Zwischenfälle zu regeln. In § 63 AMG wird die Erstellung eines Stufenplans geregelt, welcher sich als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung an die für die Beobachtung, Sammlung und Auswertung von Arzneimittelrisiken zuständigen Bundesoberbehörden richtet, vgl. Heßhaus, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 63 AMG Rdnr. 1. Die explizite Anordnung einer Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers lässt sich auch den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem zweiten Schwangerschaftsabbruchsurteil entnehmen, BVerfGE 88, 203 (309 ff.). Die Vorschrift des § 15 S. 1 SchKG ordnet daher die Durchführung einer Bundesstatistik über Schwangerschaftsabbrüche an.

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3. Kap.: Das Wesen der Prozeduralisierung im Allgemeinen

absehen und reagieren zu können.269 Es ist eine wesentliche Aufgabe moderner Gesetzgebung, unter Ungewissheiten und Prognosen getroffene legislative Entscheidungen zu beobachten und ggf. nachzufassen.270 An dieser Stelle ergibt sich eine Rückbindung an den Grundrechtsschutz durch Verfahren. Dieser erfasst auch Verfahren der Legislativen in Form von Beobachtungspflichten, wenn der Gesetzgeber Prognoseentscheidungen anzustellen hat und sich nicht im Klaren darüber ist, wie das von ihm erstellte Schutzkonzept wirken wird.271 In die Dynamik des Entscheidungsfindungsprozesses, so scheint es, wird mehr Vertrauen hinsichtlich der Bewältigung moralisch brisanter Konflikte gelegt, als in eine determinierende, legislative Grenzziehung zwischen Erlaubtem und Verbotenem, die einen allgemein gültigen Maßstab für sich in Anspruch nimmt.272

III. Zusammenfassung der bisherigen Erkenntnisse Nach Abschluss der Analyse des Wesens der Prozeduralisierung im Strafrecht sollen nachfolgend nochmals die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst werden, bevor auf die Besonderheiten des Medizinstrafrechts im Speziellen eingegangen wird. Der Begriff der Prozeduralisierung hat sich als sehr schwer zugänglich erwiesen. Es werden hierzu die vielfältigsten Kategorisierungsmöglichkeiten vertreten. Der Begriffsirritation sollte dadurch begegnet werden, dass nicht nur die Rechtsnatur, sondern auch die dogmatische Einordnung prozeduralen Rechts einer Analyse unterzogen wurden. Im Hinblick auf die Rechtsnatur hat sich ergeben, dass prozedurales Recht weder mit dem formellen noch mit dem materiellen Recht gleichgesetzt werden kann. Es setzt an der Schnittstelle zwischen beiden an und vereint sowohl Funktionen des formellen als auch des materiellen Rechts in sich. Daraus wurde seine Stellung als etwas „nicht eindeutig Kategorisierbares“ abgeleitet. In diesem Zusammenhang wurde ebenfalls festgestellt, dass prozedurales Recht trotz seiner Janusköpfigkeit keinen Alleingeltungsanspruch erheben kann. Der nächste Schritt hatte die dogmatische Einordnung prozeduralen Rechts zum Inhalt. Es wurde festgestellt, dass sich Prozeduralisierungen de lege lata nicht auf einen dogmatischen Bereich festlegen lassen, sondern variabel einsetzbar sind. Ob 269

Vgl. dazu Ladeur, in: Grimm, Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, S. 187 (210 f.). Zur Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers s. auch BVerfGE 43, 291 (321); 45, 187 (252); 56, 54 (78); 65, 1 (55 f.); 116, 69 (91); Bieback, ZfRSoz 2018, 42 (42 ff.); Hillenkamp, in: FS Eisenberg, S. 301 (301 ff.); Huster, ZfRSoz 2003, 3 (3 ff.). 270 Huster, ZfRSoz 2003, 3 (25). 271 Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 Rdnr. 21. 272 Schulz, ZRP 2002, 487 (488).

B. Zur Prozeduralisierung im Strafrecht

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eine einheitliche Dogmatik von Prozeduralisierungen de lege ferenda aber wünschenswert wäre, wie dies teilweise vertreten wird, bleibt einem späteren Kapitel vorbehalten. Um dies beurteilen zu können, ist eine spezifische Auseinandersetzung mit den einzelnen Prozeduralisierungen und ihren jeweiligen Funktionen zwingend erforderlich. Unterstrichen wurde die Vielfältigkeit der Prozeduralisierung abschließend noch durch die Darstellung der gängigen Unterteilung in eine Prozeduralisierung im „engeren Sinn“ und im „weiteren Sinn“. Nachdem selbst diese Terminologie sich als uneinheitlich gehandhabt erwies, wurde daraus eindeutiger terminologischer Reformbedarf abgeleitet. Nach der Analyse des Begriffs, der Rechtsnatur und der dogmatischen Einordnung prozeduralen Rechts wurden sodann die unterschiedlichen Strukturmerkmale im Einzelnen dargestellt, die in der Literatur als typisch prozedural eingestuft werden. Sie sollten eine Annäherung an das Wesen der Prozeduralisierung ermöglichen. Auch wenn eine begriffliche Vielfalt existiert, konnte auf diesem Weg ein griffigeres Abbild der Prozeduralisierung in ihren wesentlichen Grundzügen gezeichnet werden. Die unterschiedlichen Merkmale haben so den Grundstein für eine nachfolgende Definition prozeduralen (Medizinstraf-)Rechts gelegt.

4. Kapitel

Prozedural-affines Medizinstrafrecht Nachdem auf die unterschiedlichen Elemente prozeduralen (Straf-)Rechts eingegangen wurde, soll nun im Besonderen der Bereich des Medizinstrafrechts und seine speziellen Gründe für eine Prozeduralisierung de lege lata und Prozeduralisierungstendenzen de lege ferenda erläutert werden. Prozeduralisierung knüpft mit ihrer spezifischen Regelungstechnik an spezielle rechtliche Entscheidungssituationen an, weswegen sie nicht allgemein gewinnbringend ist,1 sondern nur in bestimmten Rechtsmaterien ihre – materielle Lücken überbrückende – Wirkungskraft entfalten kann. Das Rechtssystem muss sich stets als gesellschaftliches Teilsystem begreifen und aus diesem Blickwinkel mit Bezug auf sein gewonnenes Bild von der Gesellschaft erst seine eigene Funktion, Rolle und Struktur finden und einnehmen.2 Existiert und verstärkt sich ein gesellschaftlicher Pluralismus in moralischen Konfliktfragen, muss das Recht darauf entsprechend reagieren und sich ausgestalten.3 Prozeduralisierungen siedeln sich daher zwangsläufig in entsprechend prozeduralisierungsbedürftigen Rechtsmaterien an. Ein prozedural expandierender Bereich ist beispielsweise das Wirtschaftsstrafrecht.4 In dieser Rechtsmaterie stehen Spekulationen und Risikogeschäfte auf der Tagesordnung. Es wird aber trotz dieses spezifischen Nichtwissens im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen unausweichlich ein strafrechtliches Bekenntnis zu konkreten wirtschaftlichen Handlungen gefordert, deren vermögensrechtliche Auswirkungen nur schwer prognostizierbar sind. Die Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht5 wird teilweise als letzter Anker angesehen, um „einerseits strafrechtliche Stoppschilder überhaupt noch wirksam setzen zu können, andererseits

1 In diese Richtung aber Eicker, der laut dem Untertitel seines Werkes „Die Prozeduralisierung des Strafrechts“ von einem „Paradigmenwechsel“ des Strafrechts spricht. 2 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 105. 3 Vgl. hierzu die Stellungnahme Husters in: Berdin, MedR 2013, 433. Huster geht von einem Perspektivenwechsel aus, welcher beinhalte, dass aus originär moralischen Fragen solche der staatlichen Rechtsregulierung gemacht würden. Dem Recht würde zunehmend die Rolle zugewiesen, moralische Konflikte zu bewältigen. 4 Vgl. bspw. für die Untreue nach § 266 StGB Brammsen, wistra 2009, 85 (89): „Der BGH hat in jüngerer Zeit das Augenmerk verstärkt auf die Einhaltung von Verfahrensregeln gerichtet.“ 5 Zur ausführlichen Analyse der Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 291 ff.; Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 288 ff.

A. Die Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts 

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den Handelnden einen (relativ) sicheren Hafen der Straflosigkeit aufzuzeigen“6. Auch in diesem Bereich sind es normative, kognitive sowie zeitliche Defizite des materiellen Rechts, die zum Ausweichen auf prozedurale Steuerungsalternativen verleiten bzw. letzten Endes womöglich zwingen.7 Ein weiterer nennenswerter Bereich, der vermehrt einer Prozeduralisierung unterliegt, ist das Umwelt- und Technikrecht. Angeführt werden hierfür neben hochkomplexen technischen Entscheidungsgrundlagen – die in diesem Umfang das fachmännische Erkenntniswissen eines Juristen übersteigen – auch pluralistische Differenzen im Hinblick auf die Frage, wie mit Risiken umgegangen und auf welche Weise die Umwelt geschützt werden kann.8 Indes handelt es sich ebenfalls um ein Feld, auf dem risikoreiche Prognosen getroffen werden müssen.9 Prozeduralisierungen werden – bringt man ihnen als Novum nicht bereits von Natur aus eine gewisse Skepsis entgegen10 – auch im Medizinstrafrecht teilweise als „wünschenswert“ und als „Motor der Rechtsentwicklung“ angesehen.11 Im Folgenden soll deshalb analysiert werden, ob und warum gerade das Wesen des Medizinstrafrechts strukturell so beschaffen ist, dass es mit prozeduralen Elementen immer häufiger eine rechtliche Symbiose einzugehen scheint. Es werden daher die Besonderheiten des Medizinstrafrechts im Vergleich zum allgemeinen Strafrecht dargestellt und auf ihre spezifische Empfänglichkeit für prozedurale Strukturen eingegangen, um der tiefliegenden verfahrensrechtlichen Wurzel des Medizinstrafrechts auf den Grund zu gehen.

A. Die Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts als Fluch und Segen Die Interdisziplinarität leitet und beeinflusst das Medizinstrafrecht. Sie drückt ihm ihren existenziellen Stempel auf, verhilft ihm zum pluralen Aufblühen, bereitet ihm aber ebenso teils unüberbrückbare, intensive Kontroversen. Das Medizinstrafrecht tangiert übergreifend u. a. Experten der Medizin, Rechtswissenschaft, 6

Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (449); ebenso Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 173: „prozeduraler ‚safe harbour‘ für Wirtschaftsakteure“; vgl. dazu aktuell auch BGH, NStZ 2017, 227 (LS. 4, 230). 7 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 114 f. 8 Röhl, ZfRSoz 1993, 1 (23); vgl. dazu auch Schuppert, in: Grimm, Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, S. 217 (218 ff.); Stratenwerth, in: FS Has­ semer, S. 639 (641 f.). 9 Vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 113; Krüger, NJW 2002, 1178 (1179 f.); Schmidt-Aßmann, in: Merten / Papier, HGR, Band II, § 45 Rdnr. 75. 10 Eine solche Skepsis lässt sich wohl den Ausführungen von Leite, GA 2018, 580 (595 f.) entnehmen. Danach soll Prozeduralisierungen naturgemäß der Charakter einer unvollkommenen Notlösung zukommen. 11 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (165).

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4. Kap.: Prozedural-affines Medizinstrafrecht

Ethik, Theologie und auch Philosophie. Diese Eigenschaft stellt die prägendste des Medizinstrafrechts im Allgemeinen dar, weshalb sie als Ausgangspunkt zur Untersuchung der verschiedenen Teilgebiete angesehen wird. Jedes einzelne weist einen starken Eigencharakter, teils unterschiedliche Sichtweisen sowie konträre Begriffsverständnisse gegenüber den jeweils anderen auf. Diese Interdisziplinarität fördert zwar eine angeregte und von vielen Standpunkten aus geführte Diskussion, gestaltet jedoch einen Konsens insbesondere im Hinblick auf eine gesetzliche Normierung dadurch umso schwieriger. Die Tatsache, dass jede Disziplin eine möglichst dominante Rolle für sich beanspruchen und dem Medizinstrafrecht ihren identitätsstiftenden Charakter einverleiben möchte, entschärft vorprogrammierte Konflikte gerade nicht, sondern begünstigt eine Zerfaserung der Materie.12 Um diesem Machtkampf zwischen den Disziplinen entgegenzuwirken, wird für ein integratives Medizinrecht plädiert, das von den unterschiedlichen Sichtweisen profitiert.13 Auch unterschiedliche Kulturen, die durch die Globalisierung mehr und mehr einen gewichtigen Standpunkt einnehmen und zuvor ausschließlich national geregelte Bereiche verdrängen, tragen einerseits zu einer Bereicherung, andererseits auch zu einer Erschwerung der Findung eines gemeinsamen Nenners bezüglich medizinstrafrechtlicher Gesetzgebung bei.

I. Ethik und Moral – Recht und Medizin Die ausschlaggebende Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts ist mit Blick auf die Forschungsfrage dieser Arbeit vor allem im Zusammenspiel von Medizin, Recht, Ethik und Moral zu untersuchen. Diese Disziplinen sind evident miteinander verwoben und doch in ihren Betrachtungsweisen oft sehr konträr. Die Ethik beeinflusst das geltende Recht, dieses erweitert oder beschneidet wiederum die Möglichkeiten der Medizin. Die Ethik wirkt sich allerdings auch auf medizinische Handlungsabläufe aus, die nicht selten eine Rechtsänderung mit sich bringen. Gleichzeitig liefern sowohl die Medizin als auch das Recht der Ethik immer wieder neue Denkanstöße für Optimierungen. Die Materien stehen in einem unauflös­ lichen Wechselspiel. Eine Existenz des einen ohne Berücksichtigung der anderen ist schwer denkbar. Würde man der Medizin nicht ihre Grenzen durch Ethik und Recht aufzeigen, liefe die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG Gefahr, durch ausufernde Forschungen und Experimente fortwährend verletzt und mit zunehmender Geringschätzung behandelt zu werden. Es wäre eine Optimierung in sämtlichen medizinischen Bereichen zu befürchten; der Mensch würde perfektioniert und die menschliche Natur womöglich wahllos ausgespielt.

12 13

Vgl. Jung, JZ 2015, 1113 (1119 f.). Eser, in: Frisch, Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, S. 9 (14 f.).

A. Die Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts 

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Sähe man hingegen die Rechtswissenschaft als alleinigen Maßstab an, bestünde die Gefahr, dass es am zwischenmenschlichen Miteinander und an Empathie mangele, welche durch rechtliche Normen nicht ersetzt zu werden vermögen. Die von Über- und Unterordnung geprägte Regelungsautonomie stößt im zwischenmenschlichen Arzt-Patienten-Verhältnis – bzw. allgemeiner ausgedrückt – im Recht der Medizin zwangsläufig an ihre Grenzen.14 Auch wenn die Materie des Arztrechts mehr und mehr von rechtlicher Regulation durchdrungen werden sollte, erwartet der Patient von seinem Arzt dennoch, dass dieser ihm als objektiver Ratgeber in schwierigen Entscheidungssituationen gegenübertritt, dem er seine intimsten Geheimnisse, Sorgen und Wünsche mitteilen kann. Eine gegenseitige Vertrauens­basis und ein ausgeglichenes Klima von ärztlicher Diskretion und Verantwortungsbewusstsein sind für die Behandlung und ihren Erfolg unentbehrlich. Denn „in keinem anderen Rechtsverhältnis muss sich der Leistungsempfänger derart weit über sein geistig-seelisch-körperliches ‚Funktionieren‘ offenbaren wie im ArztPatient-Verhältnis“15. Der Arzt darf deshalb nicht zu einem emotionslosen Ins­ trument purer Gesetzesvollziehung degradiert werden. Er muss vielmehr auf den konkreten Einzelfall und die individuellen Bedürfnisse seiner Patienten adäquat und verständnisvoll reagieren können. Der Grat, ab welchem ein gesundes ArztPatienten-Verhältnis, das dennoch ausreichende, Rechtssicherheit bringende gesetzliche Pflichten und Befugnisse enthält, aufgrund von Überregulation zu einer verfehlten, der allgemeinen Gesundheit abträglichen Behandlungsautomatisierung mutiert, ist ein sehr schmaler. Betrachte man schließlich nur die Ethik als letztgültige Disziplin, würde zwangsläufig sowohl der Fortschritt in der Medizin als auch die gesetzliche Rechtssicherheit leiden. Die Medizin und die Rechtswissenschaft sind schließlich beide den unmittelbaren, humanen Bedürfnissen verpflichtet.16 Bereits deshalb gilt es, eine größtmögliche harmonische Verzahnung zu erreichen. 1. Die medizinische Ethik a) Die Begriffe der Moral und der Ethik Die Begriffe der Moral und der Ethik werden in der Alltagssprache häufig sy­ nonym verwendet. In der Fachsprache sind beide allerdings inhaltlich voneinander abgrenzbar. Moral lässt sich umschreiben als die Gesamtheit der Regeln, Werte und Normen, die eine Gesellschaft für ihr Handeln – soweit Gutes bewirkt und Negatives verhindert werden soll – als obligatorisch anerkennt. Ethik hingegen ist 14

Krit. zur „Verrechtlichung“ der Medizin: Ulsenheimer, MedR 2015, 757 (757 ff.). Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 72 f. 16 Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 1. 15

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4. Kap.: Prozedural-affines Medizinstrafrecht

eine durch die Wissenschaft kontrollierte und reflektierte Rede über Moral, welche überprüft, ob das menschliche Verhalten, das als moralisch richtig gehandhabt wird, einer normativen, intersubjektiven Überprüfung standhält. Sie ist auf diese Weise moralischen Empfindungen nachgeschaltet und eine Art höhere Instanz, die die derzeitige Existenzberechtigung moralischer Handlungsweisen überprüft.17 Somit lässt sich treffend und prägnant formulieren: „Ethik ohne Moral wäre ein leeres, Moral ohne Ethik ein blindes Unterfangen“18. b) Ihre geschichtliche Vergangenheit und ihre zukünftige Wandelbarkeit Der Begriff der „Medizinethik“ entspringt der Aufklärungsepoche, genauer gesagt der Feder des englischen Arztes Thomas Percival (1740–1804), dessen Werk aus 1803 den Titel „Medical Ethics“ trägt.19 Die Verbundenheit der Medizin und der Ethik lässt sich aber geschichtlich noch bedeutend weiter zurückverfolgen. Bereits der hippokratische Eid,20 dessen ungefährer Entstehungszeitpunkt auf den Übergang vom fünften zum vierten Jahrhundert v. Chr. datiert wird, konstatiert das medizinische Ethos, nach welchem Ärzte zu handeln haben. Er erfährt bis heute große Beachtung und Respekt. Der Eid des Hippokrates symbolisiert die erste ethisch-moralische Selbstverpflichtung von Ärzten, die seit der schriftlichen Überlieferung überhaupt bekannt ist.21 Selbst wenn er in der heutigen Zeit als anpassungsbedürftig oder gar mit technisch neuen Erkenntnissen überfordert erscheint, so sind es doch seine tiefsten Grundverständnisse, die eindringlich verdeutlichen, dass sich der Arzt unentwegt für des Menschen Wohl und größtmögliche Schadensvermeidung einzusetzen hat. Deutlich wird allerdings auch, dass eine ständige gesellschaftliche Reflexion über das hippokratische Ethos und seine Moral vonnöten ist, um eine wissenschaftlich durch anerkannte Normen und Prinzipien fundierte Basis zu begründen und reiner moralischer Intuition vorzubeugen.22 Die heutige Medizinethik, die wissenschaftlich und reflexiv moralische Fragestellungen und Konflikte analysiert und zu lösen versucht, entstand hingegen erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.23 Sie stellt „die wesentliche Keimzelle moderner Bioethik“24 dar. Letztere tangiert im Gegensatz zur Medizinethik auch kulturelle

17

Vgl. zum Ganzen Beckmann, Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 11. Beckmann, Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 12. 19 Kreß, Medizinische Ethik, S. 13; Spranger, Recht und Bioethik, S. 16 m. w. N. 20 Der Eid trägt den Namen des Hippokrates wahrscheinlich zu Unrecht, vgl. Wiesing, in: Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 38; ebenfalls zweifelnd Rütten, in: Schott, Meilensteine der Medizin, S. 57 (58). 21 Rütten, in: Schott, Meilensteine der Medizin, S. 57. 22 Beckmann, Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 16. 23 Marckmann / Bormuth / Wiesing, in: Wiesing, Ethik in der Medizin, S. 23 (31). 24 Spranger, Recht und Bioethik, S. 16. 18

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Aspekte.25 Die gewandelten Wertanschauungen und die besondere Betonung der Patientenautonomie als tragendes Grundrecht im Arzt-Patienten-Verhältnis zwingen dazu, die absoluten Aussagen des hippokratischen Eides wie das Verbot jeglicher Sterbehilfe oder das umfassende Verbot des Schwangerschaftsabbruchs zu überdenken und auch in der Zukunft die Wandelbarkeit medizinischer Ethik nicht zu negieren. Ein Verblassen des nicht angezweifelten „Prinzipiellen“ in der pluralen Medizinethik26 führt zwangsläufig auch zu einem pluralen Medizinstrafrecht, um dessen Bewältigung es geht. In den vergangenen Jahrhunderten bestand die Aufgabe der Forschung darin, die Medizin und ihre Möglichkeiten so auszubauen, dass Menschenleben gerettet werden können, was von Grund auf nicht als moralisch verwerflich angesehen werden kann. Im 21. Jahrhundert ist die Medizin jedoch über sich selbst hinausgewachsen. Sie verschafft Zugang zu ungeahnten Möglichkeiten. Der Mensch hat schließlich begonnen, „die Bausteine der Materie und die Baupläne des Lebens“ nicht nur zu begreifen, sondern diese auch manipulativ zu verschieben, wogegen sich die Natur mangels ihres Subjektstatus nicht zur Wehr setzen kann.27 Der Grundsatz, dass alles, was wissenschaftlich möglich ist, deswegen nicht bedenkenlos durchgeführt werden darf, gilt für die Medizin in besonders evidentem Maße. Einen elementaren Faktor, wie die Medizin ihre Möglichkeiten ausschöpfen darf, spielt das jeweilige Menschenbild – die Sicht, wie der Mensch sich und seine Rolle im Universum selbst versteht: Die Moralität medizinisch-ärztlichen Handelns hängt deshalb stark von der Frage ab, ob der Mensch als körperlich-geistige Einheit verstanden wird oder gespalten als „Bürger zweier Welten, einer durch Freiheit gekennzeichneten geistigen und einer durch Naturgesetze determinierten körperlichen Welt“.28 2. Die Zweidimensionalität der Ethik im Medizinstrafrecht a) Die Normgenese Die Normen eines Staates reflektieren seine liberale oder aber ablehnende Haltung bezüglich bestimmter menschlicher Verhaltensweisen. Im Medizinstrafrecht sind dies elementar existenzielle Fragen, die nicht nur den Anfang und das Ende eines Menschenlebens zeitlich oder anhand bestimmter Kriterien zu definieren versuchen, sondern auch ethische Grundsatzentscheidungen über die menschliche Identität und Individualität. Die Festlegung gesellschaftlich akzeptierter Normen stellt eine ständige Herausforderung des Gesetzgebers dar.

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Spranger, Recht und Bioethik, S. 28. Vgl. die hierzu getroffene Feststellung bei Krones, in: Michl / Potthast / Wiesing, Pluralität in der Medizin, S. 65 (65 f.). 27 Beckmann, Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 12. 28 Beckmann, Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 13. 26

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Überwiegt das allgemeine Persönlichkeitsrecht der schwangeren Frau oder der Schutz des entstehenden ungeborenen Lebens, dessen Rechte von Dritten verteidigt werden müssen? Ab welchem Zeitpunkt erlangt das heranwachsende Leben staatlichen Schutz und bis zu welchem Zeitpunkt darf es zerstört werden? Wann ist ein erlöschendes Leben, das nur noch unter künstlichen Bedingungen aufrechterhalten wird, schlicht zu ertragen, wann und auf welche Weise jedoch natürlich und menschenwürdig zu erlösen? Überwiegt der Nutzen der Forschung am Menschen, welche neue Generationen zu schützen vermag oder doch sein Schaden durch Verwässerung eines individuellen und einmaligen Daseins? Dies sind nur wenige der zahlreichen Fragen, denen sich das Medizinstrafrecht nicht zu entziehen vermag. Die unantastbare Menschenwürde, die sowohl den Ausgangspunkt eines selbstbestimmten individuellen Daseins als auch das Einfallstor für paternalistische Einschränkungen bildet, kollidiert dabei mit der innovativen Entwicklung der Menschheit und der von ihr betriebenen Forschung. Das Medizinstrafrecht ist ein sehr grundrechtssensibles und damit verfassungsrechtlich aufgeladenes Feld, weil jedes ärztliche Handeln zunächst durch eine Einwilligung, sei sie ausdrücklich oder mutmaßlich, zu rechtfertigen ist. Der Patient genießt nicht nur das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 GG, sondern sein allgemeines Persönlichkeitsrecht, abgeleitet aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG, beinhaltet ebenso das Recht auf (auch informationelle) Selbstbestimmung. Er genießt als Subjekt der Medizin weitgehend uneingeschränkte Autonomie. Letztere ist nicht nur ein grundlegendes ethisches Prinzip, sondern auch ein Rechtsgrundsatz, der in verschiedensten Normen positiv-rechtlich verankert wurde.29 Wie die verschiedenen kollidierenden Grundrechte möglichst schonend miteinander in Ausgleich zu bringen sind, ist eine anspruchsvolle gesetzgeberische Aufgabe. Das jeweilige Grundrecht darf nur so weit wie unbedingt erforderlich eingeschränkt werden, weshalb sich in der Gesetzgebung häufig ein kompromissartiger Balanceakt manifestieren lässt. Die Gesetzgebung ist damit der erste Ausdruck einer geformten Vorstellung rechtlicher und ethischer Richtigkeit in einer Kette von Wertungen und stellt deshalb als erstes Glied die entsprechenden Weichenstellungen für nachfolgende Interpretationen des Rechtsanwenders.30 b) Die Norminterpretation durch den Normadressaten Es zeigt sich, dass gerade im medizinstrafrechtlichen Bereich der Gesetzgeber die Materien nur begrenzt seiner staatlichen Regelungsautonomie unterworfen hat. Ein umfassendes medizinstrafrechtliches Gesetz existiert bislang nicht; die Normen finden sich vielmehr in verschiedenen Gesetzen wie u. a. dem StGB, TPG, AMG, ESchG oder StZG. 29 30

Magnus, Patientenautonomie im Strafrecht, S. 109. Vgl. hierzu auch Spranger, Recht und Bioethik, S. 40 f.

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Eine Besonderheit der Gesetze ist darin zu sehen, dass dem Rechtsanwender, sei er im betroffenen Fall der Arzt, Patient oder ein Angehöriger / Dritter, weitläufige Möglichkeiten an die Hand gegeben werden, die seinem Verantwortungs­bereich unterstellt werden und ihm eigene Handlungs- und Wertungsmöglichkeiten eröff­ nen. Die Regelungsautonomie stößt vermehrt an ihre Grenze. Moralische und rechtspolitische Wertungen nehmen nicht nur bei der Normschöpfung, sondern auch bei der Interpretation von Tatbestandsmerkmalen eine erhebliche Rolle ein.31 Der Gesetzgeber steckt die Rahmenbedingungen für das rechtlich Zulässige ab, der Rechtsanwender gestaltet sie sodann aus. Unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer weiteren Ausfüllung bedürfen, zwingen den Rechtsanwender dazu, eigene Wertungen bei der Übertragung des gegebenen Rechtsrahmens auf den konkret vorliegenden Sachverhalt vorzunehmen und stellen somit eine Verknüpfung von Recht und Moral dar.32 Auch gewährt das Institut des rechtfertigenden Notstands gem. § 34 StGB aufgrund einer sorgfältig durchzuführenden Pro- und Contra-Abwägung sowie einer individuellen Einschätzung möglicher Folgen die Möglichkeit, sozialethische Überzeugungen der Bevölkerung in die Einzelfallentscheidung einfließen zu lassen; es stellt damit ein wahrhaftiges und weit geöffnetes „Einfallstor“ für subjektive Eigenwertungen des Rechtsanwenders dar.33 Besonders im grundrechtssensiblen Medizinstrafrecht ist häufig eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter vorzunehmen. Nicht selten liegen in der Waagschale dabei Rechtsgüter ein und derselben Person. Der rechtfertigende Notstand nimmt folglich nicht nur bei der indirekten Sterbehilfe, sondern auch bei anderen intrapersonalen Interessenkollisionen wie der zwangsweisen Verhinderung eines Suizids oder der Abwendung einer Lebensgefahr durch eine für den Rechtsgutsinhaber ebenso lebensgefährliche Rettungsmaßnahme eine erhebliche Rolle ein.34 Die Tatsache, dass das Medizinstrafrecht durch die jeweilige gesellschaftliche Wertanschauung bestmöglich zu legitimieren ist,35 führt dazu, dass die Bevölkerung idealiter in den Normierungs- und Anwendungsprozess miteingebunden wird. Das deutsche Medizinstrafrecht gibt dem Rechtsanwender also in wesentlichen Teilen nur eine grob determinierende Richtung vor und belässt ihm somit einen großzügigen Entscheidungsspielraum, welcher in anderen Gebieten wie z. B. im Steuer- oder Sozialrecht, schlicht unvorstellbar wäre.36 Ein derartiger Entscheidungsspielraum ist Hilgendorf zufolge in der Vorschrift des § 228 StGB angelegt, nach welcher die Einwilligung in eine Körperverletzung nicht wirksam ist, wenn sie einen Verstoß gegen „die guten Sitten“ darstellt. Der 31

Hilgendorf, in: FS Beulke, S. 437 (439); vgl. auch Spranger, Recht und Bioethik, S. 41 f. Hilgendorf, in: FS Beulke, S. 437 (441). 33 Hilgendorf, in: FS Beulke, S. 437 (442). 34 S. Nachw. bei Engländer, GA 2010, 15 (16 f.), der eine Anwendung des § 34 StGB auf intrapersonale Interessenkollisionen hingegen ablehnt. 35 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 64. 36 Hilgendorf, in: FS Beulke, S. 437 (442 f.). 32

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Rechtsanwender könne zwar nicht seine individuellen Moralansichten zur Ausfüllung dieses Begriffs heranziehen, sondern müsse vielmehr die sittlichen Ansichten der Rechtsgemeinschaft zugrunde legen. Dennoch ließen sich diese nicht letztgültig ermitteln, weil keine empirischen Erhebungen bezüglich der Sozialmoral angestellt werden könnten. Selbst wenn das Urteil über die hypothetische „Ansicht aller billig und gerecht Denkenden“ also begrifflich immer noch von einer subjektiven Eigenwertung des Rechtsanwenders abgegrenzt werden könne, liege es doch nahe, dass der Rechtsanwender bei der Auslegung des Begriffs seine eigene Wertung als die der Rechtsgemeinschaft im Ganzen ausgebe.37 Neben den „guten Sitten“ in § 228 StGB als Einbruchsstelle für Eigenwertungen, führt Hilgendorf auch die Auslegung einiger Tatbestandsmerkmale im Medizinstrafrecht an. So bediene sich die Literaturansicht, die im lege artis durchgeführten Heileingriff aufgrund der Intention des Arztes keine Körperverletzung erblickt, ebenso moralischen Wertungen wie die Ansicht der Rechtsprechung, die zwar tatbestandlich eine Körperverletzung annimmt, jedoch den Qualifikationstatbestand des „gefährlichen Werkzeugs“ nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 StGB ablehnt, obwohl chirurgische Instrumente wie Skalpelle zum Einsatz kommen. Beide Interpretationsansätze würden daher nicht ohne moralische oder rechtspolitische Wertungen auskommen.38 Subjektive Eigenwertungen spielen im Medizinstrafrecht daher insgesamt eine erhebliche Rolle.39 Dies bedeutet im Gegenzug, dass der besonders im Strafrecht an sich sehr regulierfreudige Gesetzgeber sich zugunsten von praktischen Selbstgestaltungsfreiheiten des Normadressaten zurücknimmt und keine zwingende rechtliche Ausgestaltung als die richtige für sich beansprucht. Antiautoritäre Regelungen belassen dem Gesetzesunterworfenen die Möglichkeit, eigene Wertvorstellungen einzubringen.

II. Die Moral im Strafrecht – ein gefürchteter Eindringling? „Das Strafrecht ist nicht dazu da und es taugt auch nicht dafür, das Terrain, das Theologen, Moralphilosophen, Standesethiker verloren haben, wieder zurückzugewinnen.“40

Die Überschrift und das Zitat Kaufmanns verdeutlichen bereits den grundsätzlichen Argwohn, den das Strafrecht gegenüber einem Einzug von Moral in sein Territorium hegt. Eine umfassende Analyse des Verhältnisses von Ethik, Moral und Recht kann an dieser Stelle nicht erfolgen,41 ist aber insoweit für den Fortgang 37

Hilgendorf, in: FS Beulke, S. 437 (441). Hilgendorf, in: FS Beulke, S. 437 (439 f.). 39 Hilgendorf, in: FS Beulke, S. 437 (442). 40 Kaufmann, in: Flöhl, Genforschung – Fluch oder Segen?, S. 259 (266) [Hervorhebung nicht im Original]. 41 Ausgiebig zu dieser Thematik Vöneky, Recht, Moral und Ethik, Tübingen 2010. 38

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der Arbeit auch nicht erforderlich. Es soll lediglich nachgezeichnet werden, warum auch das Zusammenspiel von Ethik, Moral, Recht und Medizin für die rechtlichen Strukturen des Medizinstrafrechts relevant ist und im Ergebnis adaptionsfähig für prozedurale Strukturen wirken kann. Wäre die Moral im Strafrecht tatsächlich ein gefährlicher Eindringling, den es aus ihm strengstens zu verbannen gelte, so wären prozedurale Züge für das Medizinstrafrecht nicht weiter erstrebenswert, weil eine Pluralität an Moral- und Wertvorstellungen vom Recht ohnehin nicht mitberücksichtigt werden dürfte. Flexible Strukturen, die sich dem Pluralismus zu öffnen vermögen, wären wohl gänzlich fehl am Platz. Herrscht die Moral aber im Strafrecht doch vor, so scheint das Strafrecht besser beraten, sich im Ausnahmefall auch prozeduraler, für eigene Wertungsprozesse offener Prozesse bedienen zu können. 1. Das Trennungsgebot Eine immer wieder vorzufindende Forderung in der Rechtswissenschaft ist die grundsätzliche „Trennung von Recht und Moral“42. Das Recht sei  – so wird es gemeinhin postuliert – allgemein verbindlich und dürfe bloße Moralwidrigkeiten, die andere nicht in Rechten verletzen, nicht sanktionieren.43 Auch größtenteils akzeptierte moralische Verhaltensnormen könnten von sich alleine aus ein Strafverbot nicht rechtfertigen.44 Das Recht sorge für die äußerliche Durchsetzung verbindlicher Regeln, Moral hingegen für den inneren Antrieb, diese rechtlichen Normen auch zu beachten. Die Moral enthalte insofern ein „Mehr“ gegenüber dem Recht, indem es zusätzlich zur Beachtung des legalen Verhaltens gewisse sittliche Handlungsintentionen des Einzelnen einfordere.45 Strafbares Verhalten sei zwar demnach immer unethisch; unethisches Verhalten hingegen dürfe nicht zwingend mit strafrechtlichen Sanktionen geahndet werden.46 Der Grundsatz der Trennung ist für den „fragmentarischen Charakter“ des Strafrechts47 elementar. Das materielle Strafrecht und insbesondere das Strafprozessrecht verkörpern als „schärfstes Schwert“ die staatliche Autorität und den staatlichen Vollstreckungszwang. Strafrechtsnormen müssen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit stets als ultima ratio erlassen werden, weil ihnen das Potenzial inhärent ist, sowohl essenziell als auch existenziell in freiheitssichernde Grundrechte des Bürgers einzugreifen. Abgesehen von breiten und intensiv geführten Auseinandersetzungen über den Begriff des Rechtsguts und seinem Nutzen für 42

Braun, JJZG 2010, 3 (11); krit. Androulakis, in: FS Hassemer, S. 271 (279). Ellbogen, ZRP 2006, 190 (192); Hörnle, Grob anstössiges Verhalten, S. 1 f. m. w. N.; Kühl, JA 2009, 833 (838). 44 Hörnle, Grob anstössiges Verhalten, S. 470. 45 Kühl, JA 2009, 833; Kühl, in: FS Puppe, S. 653 (654). 46 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 107. 47 Zum fragmentarischen Charakter des Strafrechts ausführlich Kulhanek, ZIS 2014, 674 ff.; Vormbaum, ZStW 123 (2011), 660 ff. 43

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die Einschränkung staatlichen Strafens, besteht die Aufgabe des Strafrechts nach (wohl noch) herrschender Ansicht darin, Rechtsgüterschutz zu leisten.48 Würde das Strafrecht jeglicher Moralvorstellung Schutz gebühren, würde es einerseits zu einem hochgradig unverhältnismäßigen, andererseits auf Dauer zu einem ineffektiven, nicht mehr ernst genommenen Mittel der Friedenssicherung verkümmern. Primär moralische oder kulturelle Vorstellungen dürfen nach herrschender Auffassung daher kein Schutzgut des Strafrechts darstellen,49 sondern prägen die menschliche Identität durch Individualität. Andernfalls wäre eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Neutralitätsgebotes zu besorgen.50 Historische Beispiele für eine Absicherung primärer bzw. reiner Moralvorstellungen ergeben sich aus der Rechtsgeschichte: Sowohl der Ehebruch nach § 172 StGB a. F. wurde strafrechtlich sanktioniert als auch homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen nach § 175 StGB a. F.51 Beide bis dato strafrechtlich relevanten Verhaltens­ weisen wurden aufgrund gesellschaftlicher Enttabuisierungsprozesse als nicht mehr strafwürdig erachtet.52 Die Verdrängung der Moral aus dem Strafrecht ist damit aber nicht restlos erfolgt.53 De lege lata steht auch das strafrechtliche Verbot des Geschwisterinzests nach § 173 Abs. 2 S. 2 StGB unter Kritik,54 weil es, ohne ein schützenswertes Rechtsgut benennen zu können, nur moralische Ansichten der Gesellschaft absichern würde. Es lässt sich beobachten, dass ein Wandel in der Moral durchaus des Öfteren auf die Gesetzgebung durchgeschlagen und diese in entkriminalisierender Weise verändert hat.55 Die propagierte Trennung von Recht und Moral, der im Ergebnis zugestimmt werden muss, ist deshalb nicht zuletzt aufgrund von Art. 2 Abs. 1 GG, nach welchem das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit u. a. durch das „Sittengesetz“ eingeschränkt werden kann, aber zumindest begründungsbedürftig.56 48

Für viele Dubber, ZStW 117 (2005), 485 (501, 516); Hassemer, Strafrecht, S. 84; Hefendehl, GA 2007, 1 (14); Krüger, Die Entmaterialisierungstendenz beim Rechtsgutsbegriff, S. 16 m. w. N.; Kudlich, ZStW 127 (2015), 635 (652 f.). 49 Vgl. Herzog, ZRP 2001, 393 (397): „Strafrecht kann nicht die Selbstvergewisserung der Gesellschaft über ihr moralisches Grundverständnis ersetzen.“ 50 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 63. 51 § 172 StGB a. F. aufgehoben durch das erste Gesetz zur Reform des Strafrechts (1. StrRG) vom 25.06.1969, BGBl. 1969 I, S. 645 (653); § 175 StGB a. F. aufgehoben durch das 29. Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄndG) vom 31.05.1994, BGBl. 1994 I, S. 1168. 52 Ellbogen, ZRP 2006, 190 (192); vgl. auch Kühl, in: FS Puppe, S. 653 (665). 53 Bei zahlreichen Vorschriften steht ein Tabuverstoß im Vordergrund; vgl. ausführlich hierzu Hörnle, Grob anstössiges Verhalten, S. 209 ff. 54 Für die Ansicht, § 173 Abs. 2 S. 2 StGB schütze reine Moralvorstellungen vgl. das Sondervotum des Richters Hassemer, BVerfGE 120, 255 (264); Ellbogen, ZRP 2006, 190 (192); Hörnle, Grob anstössiges Verhalten, S. 452 ff.; Hörnle, NJW 2008, 2085 (2088); Ritscher, in: MüKo-StGB, § 173 Rdnr. 7. Die Verfassungswidrigkeit des § 173 Abs. 2 S. 2 StGB annehmend Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, S. 445 ff. 55 Vgl. Kreß, ZRP 2012, 28: „Recht […] als […] kulturelles Gut“. 56 Hörnle, Grob anstössiges Verhalten, S. 52. Sie sieht deshalb in eng umgrenzten Bereichen die Absicherung von wahrer Moral durch das Strafrecht als legitim an, wenn es die

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Sollte das Sittengesetz auch praktisch keine Rolle spielen, so ist es dennoch bemerkenswert, dass es im Gesetz ausdrücklich als Grundrechtsschranke genannt wird. 2. Ethische und moralische Ausstrahlungswirkungen ins Recht Indes kann eine ausnahmslose klare Trennung von Ethik, Recht und Moral nicht vollends überzeugen. Die Materien sind sichtbar miteinander verzahnt und von gegenseitiger Einflussnahme geprägt. Der Einfluss von Ethik und Moral im Strafrecht wird unterschiedlich stark beurteilt. Während das Strafrecht teils gar als „(ethisches) Flaggschiff“57 geriert wird, welches die ethischen Überzeugungen untermauern könne, wird ihm von anderer Seite nur die Festlegung des „ethische[n] Minimum[s]“ zugestanden; das „ethische Optimum“ könne nicht seiner Herrschaft unterstellt werden.58 Nicht bestritten werden kann damit zumindest, dass das Strafrecht insoweit ethische Werte verkörpert, als es bestimmte Rechtsgüter wie das Leben oder die körperliche Unversehrtheit gegen jedweden Rechtsgutsangriff schützt.59 Bereits die Gewährleistung individueller Grund- und Freiheitsrechte verleiht der Rechtsordnung einen ethisch sehr hochrangigen Status.60 Zahlreiche ethische Forderungen wurden in (straf-)rechtliche Normen umgesetzt.61 Umgekehrt belässt das Recht einen straffreien Rahmen, in dem individuellen moralischen, weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen nachgegangen werden kann.62 Grundrechte wie die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG oder die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG ermöglichen, dass über Moralvorstellungen diskutiert werden kann und sich ein Meinungsbildungsprozess in Gang setzt.63 Seit langem bestehende Normen, die befolgt werden, können wiederum ein Zeichen dafür sein, dass sie sich mit der herrschenden Moral besonders decken.64 Es lässt sich damit insgesamt festhalten, dass das Strafrecht zwar einerseits an den ultima ratio-Grundsatz strikt gebunden ist, der ihm verbietet, rein paternalistischmoralische Ansichten mittels staatlichen Eingriffs durchzusetzen. Andererseits ist die geltende Rechtsordnung aber durchaus von spürbaren moralischen und ethischen Einflüssen durchzogen. Prägnante Beispiele, bei denen das Strafrecht auf Menschenwürde verletzt, Hörnle, Grob anstössiges Verhalten, S. 60 ff.; ähnlich Androulakis, in: FS Hassemer, S. 271 (279). 57 Jung, JZ 2015, 1113 (1117); vgl. noch weitergehender Kühl, JA 2009, 833: „moralgesättigtes und gesinnungstriefendes Rechtsgebiet“. Eser, in: Frisch, Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, S. 9 (28) spricht zumindest von einer „[…] ‚sittenbildende[n] Kraft‘ […]“. 58 Laufs, Ethik Med Sonderheft 1/1999, 55 (56). 59 Vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 107; Kühl, in: FS Puppe, S. 653; Lindner, Jura 2016, 8 (11). 60 Kreß, ZRP 2012, 28 (28 f.). 61 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 101. 62 Kreß, ZRP 2012, 28 (29). 63 Lindner, Jura 2016, 8 (12). 64 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 100.

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außerrechtliche Instanzen wie die Moral rekurriert, sind der Mordtatbestand des § 211 StGB, der auf „niedrige Beweggründe“ abstellt, sowie die Vorschrift des § 228 StGB, nach der eine Körperverletzung, die gegen die „guten Sitten“ verstößt, auch dann rechtswidrig bleibt, wenn der Verletzte in sie eingewilligt hat. Moral und Recht können vereinfacht ausgedrückt „als zwei sich schneidende Kreise“ aufgefasst werden.65 3. Das Medizinstrafrecht im Speziellen Wendet man diese janusköpfige Natur des Strafrechts auf den Bereich des Medizinstrafrechts an, so verschärft sich die Problematik. Das Medizinstrafrecht ist ein fremdartiger strafrechtlicher Exot. Die Normen des Kernstrafrechts, welche von der Gesellschaft in den Grundzügen als unabdingbare Voraussetzung für ein geordnetes menschliches Zusammenleben anerkannt werden, unterscheiden sich insoweit deutlich von medizinstrafrechtlichen Normen, als bei letzteren die Legitimität – teils bedingt durch eine erhebliche Diskrepanz bezüglich der Vorstellung von moralischer Richtigkeit – angezweifelt bzw. bisweilen sogar strikt abgelehnt wird.66 Es ist nicht nur eine Vielzahl moralischer Normen, sondern gar ein Pluralismus moralischer Werte zu konstatieren, bezüglich dieser ins­gesamt kein Konsens erzielt werden kann.67 Bioethik schaffe „einen auf Dauer turbulenten und instabilen Raum […] [und] bleibe damit ein normatives Labor mit Experimentalcharakter“68. Die Menschenwürde ist ein im Medizinstrafrecht besonders häufig geschütztes Rechtsgut.69 Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich wiederum eine Verbindung zur Prozeduralisierung: Besonders die Menschenwürde erfordert medizinrechtliche Verfahren, welche ihren Schutz absichern.70 Gerade aber auch deshalb gerät das Medizinstrafrecht häufig in die Bredouille, anerkannte Rechtsgüter greifbar zu machen, deren Schutz es bedarf, um sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu sehen, nur moralische Ansichten eines zu paternalistischen Staates abzusichern.71 Nur wenn ein allgemeiner Konsens über den Schutz eines Rechtsgutes bestehe, sei 65

Braun, JJZG 2010, 3 (4). Vgl. Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 23 f. 67 Vgl. die Stellungnahme Husters in: Berdin, MedR 2013, 433; vgl. Beckmann, Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 16; auch Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 106 m. w. N. weist darauf hin, dass besonders in bioethischen Fragen moralische Argumente herangezogen werden würden. 68 So die Stellungnahme Gehrings in: Berdin, MedR 2013, 433 (435). 69 Knauer, ZStW 126 (2014), 305 (314 f.). 70 Hierzu ausführlich Saliger, in: Joerden / Hilgendorf / Thiele, Menschenwürde und Medizin, S. 265. 71 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 76 steht daher Strafgesetzen, die sich mit der Menschenwürde legitimieren, grundsätzlich kritisch gegenüber; ähnlich Haskamp, Embryo­ nenschutz in vitro, S. 156, der die „Würde der Menschheit“ nicht als schützenswertes Rechtsgut ansieht. 66

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das Strafrecht mit seinem Schutz beauftragt.72 Problematisch erscheint also, dass zwar im Kern über die Geltung der Grund- und Menschenrechte Konsens bestehen dürfte,73 dass aber insbesondere die Ausprägungen der Menschenwürdegarantie vielfältig und subjektiv interpretierbar sind. Es wird daher bezweifelt, ob das strafrechtliche Unwerturteil gegenüber biotechnologischen Handlungen die angemessene rechtliche Reaktion darstellen könne.74 Das Strafrecht habe immer einen konkreten Täter im Blick, den es aufgrund seiner Handlungen zu bestrafen gelte; bei biostrafrechtlichen Normen wolle der Gesetzgeber aber nicht täterorientiert agieren, sondern eine als problematisch angesehene Gesamtentwicklung verhindern, eindämmen oder regulieren, die als solche unvorhersehbar ist.75 Ein sich daran anschließendes Problem des Strafrechts in der Biotechnologie ergebe sich daraus, dass das Strafrecht eine konkrete, verwerfliche Handlung wie Mord oder Diebstahl pönalisiere. Im Bereich des Biostrafrechts handele es sich aber – weil die Handlungen auch positive Aspekte mit sich brächten – nicht um verwerflich intendierte einzelne Handlungen, sondern wiederum nur um eine missbilligte Gesamtentwicklung.76 Angesprochen ist damit die Befürchtung, dass die Biomedizin mit ihren ausufernden Erkenntnissen und Möglichkeiten mehr und mehr eine vermeintliche Optimierung menschlichen Lebens anstrebt und so die dem Menschen zugrundeliegende Individualität verwässert. Ein aktuelles Beispiel, das eine ethisch höchst problematische Gesamtentwicklung befürchten lässt, ist die Keimbahnintervention, bei der eine künstliche Veränderung von menschlichen Keimzellen erfolgt, um diese für die Befruchtung zu verwenden.77 Auch die Präimplantationsdiagnostik wird als erster Schritt in Richtung einer unkontrolliert fortschreitenden Aussonderung erkrankten Lebens angesehen.78 Diese beschriebenen, moralisch umstrittenen Probleme sowie die damit verbundenen Ängste würden aber „eher auf vagen Gefühlen“, als auf eindeutigen Urteilen über die Verwerflichkeit der Handlungen beruhen.79 In einem durch präzise Verbote gekennzeichneten Strafgesetz seien Ausnahmen und Kompromisse dogmatisch aber nur schwer möglich;80 das Strafrecht könne zwar ein „Nein“ für 72

Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 23 f. Lindner, Jura 2016, 8 (16). 74 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 85. 75 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 23; Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (199). 76 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 24; Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (194); vgl. auch Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 155; Kubiciel, NStZ 2013, 382 (385), der damit „Dammbruchargumente“ widerlegen möchte. 77 Vgl. Kersten, NVwZ 2018, 1248 (1254); vgl. zur Begriffsbestimmung auch Dorneck, Das Recht der Reproduktionsmedizin de lege lata und de lege ferenda, S. 176. 78 Vgl. für viele Beckmann, MedR 2001, 169 (172 f.). 79 Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (197). 80 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 82. 73

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4. Kap.: Prozedural-affines Medizinstrafrecht

gewisse Verhaltensweisen statuieren, auf das „Wie“ fehle ihm hingegen die Antwort.81 Gemeint ist damit, dass es keine Stärke des Strafrechts darstellt, Lebenssachverhalte inhaltlich zu reglementieren. Es unterteilt sie vielmehr in „strafbar“ und „nicht strafbar“. 4. Fazit Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Moral durchaus Eingang in rechtliche Strukturen findet und in ihnen präsent ist. Dies gilt für das Medizinstrafrecht in besonderem Maße. Prozedurale Strukturen im Medizinstrafrecht ermöglichen die nötige Flexibilität, um aus einem klassisch strafrechtlichen Verbot einen verfahrensrechtlichen Kompromiss bilden und moralisch-ethische Überzeugungen miteinfließen lassen zu können.82 Auf diese Weise werden Strafgesetze mit (prozeduralem) Befreiungsvorbehalt möglich,83 die zwischen den divergierenden pluralen Ansichten in der Gesellschaft zu vermitteln suchen. Durch den Einbezug der Verfahrensbeteiligten erlangt die eigene Gewissensentscheidung zudem größeres Gewicht. Die Betroffenen werden dazu angehalten, selbst Verantwortung zu übernehmen. Auch können durch Verfahrensstrukturen mehrere Akteure beteiligt werden und die dadurch gewonnene Interdisziplinarität verhilft dazu, engstirnig festgefahrene Argumentationsmuster zu überwinden und heterogene Strömungen einfließen zu lassen. Es kann auf diese Weise ein moralischer Konsens erarbeitet werden; der Entscheidungsfindungsprozess öffnet materiellrechtliche Strukturen für subjektive Empfindungen. Das Verfahren vermittelt Transparenz und scheint dadurch geeignet, die Verfahrensentscheidung auch gegenüber Nichtbeteiligten (moralisch) rechtfertigen zu können. Verfahren wirken in moralisch umstrittenen Bereichen daher beschwichtigend. Ihnen wohnt das Potenzial inne, strikt materielle Normen zu entzerren. Das Medizinstrafrecht hebt sich vom Kernstrafrecht und auch von anderen Rechtsgebieten deutlich ab. Es wird in besonderem Maße durch kulturelle und ethische Einflüsse geprägt. Als Beispiel erscheint es der Allgemeinheit wohl plausibler, Entscheidungen über eine „ethische Vertretbarkeit“ im Bereich der Bio­medizin einer Ethikkommission zu überantworten, als beispielsweise eine Prüfung der 81 Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (202); vgl. dazu auch Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (29). 82 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 80. 83 Die Vorschrift des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB statuiert das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, welches aber nicht zur Strafbarkeit führt, wenn die prozeduralen Voraussetzungen des § 218a Abs. 1 StGB erfüllt sind. Vgl. für die PID die Entscheidung des VGH München, BeckRS 2018, 30892 Rdnr. 95: „repressives Verbot mit Befreiungsvorbehalt“; vgl. für die klinische Arzneimittelprüfung beim Menschen Vogeler, Ethik-Kommissionen – Grundlagen, Haftung und Standards, S. 100 m. w. N.: „Verbot mit doppeltem Erlaubnisvorbehalt“ (Hervorhebung auch im Original).

A. Die Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts 

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„ethischen Vertretbarkeit“ im Bereich eines Baugenehmigungsvorhabens anzusiedeln.84 Retrospektives, klassisches Strafrecht wird in diesem Bereich daher deutlich schwieriger durchsetzbar. Das Recht als Steuerungsmedium verliert durch den Pluralismus und auch durch die fehlende Entscheidbarkeit ethischer Konflikte an Legitimität.85 Sehr treffend formuliert Hassemer, dass „in Situationen existentieller, der Fremdeinfühlung verschlossener Not […] die präventive Kraft des Strafrechts augenscheinlich versagt und die Bestrafungsgebote der Strafgerechtigkeit verstummen“86. Diesen Legitimitätsverlust könnte Strafrecht durch den Wegfall determinierender, materieller Strukturen und das Einführen von Prozeduren ausgleichen. Prozedurales Recht könnte in diesem Zusammenhang als ein Wegweiser zwischen bedingungsloser klassischer Strafgesetzgebung und jeglicher Absenz von Strafrecht fungieren. Es müsste der Quantensprung geschafft werden zur Erreichung eines Minimalkonsenses im Biostrafrecht,87 der von der Gesellschaft als verbindlich akzeptiert wird, gleichzeitg aber keinen moralisch und verfassungsrechtlich verkümmerten Nenner darstellt. Ein so geformtes Ergebnis aus dieser hauchdünnen Abwägungsprozedur hat schließlich ihren Preis. Dieser besteht in langjährigen und zermürbenden, teils vehement, teils emotional geführten Kontroversen und Debatten. Es muss im Ergebnis eine Moral gelten, die durch öffentlichen Diskurs aller Beteiligten vereinbart ist.88 Hierfür bieten Verfahren eine hilfreiche Plattform. Auch diese Eigenschaft des Medizinstrafrechts führt somit dazu, dass prozedurale Strukturen grundsätzlich geeignet erscheinen, seine spezifischen Besonderheiten zu berücksichtigen. Eine plurale Gesellschaft verträgt sich schwer mit einem strafrechtlichen „Ja-Nein“-Urteil. Damit ist aber lediglich festgestellt, dass das Einfließen pluraler Ansichten auf diese Weise eher gewährleistet werden könnte als im Wege eines materialen Strafrechts. Ob dies aber wünschenswert bzw. de lege lata der Fall ist, ist damit nicht gesagt. Dies wird sich erst nach der Untersuchung der einzelnen medizinstrafrechtlichen Verfahren herausstellen. Abschließend soll aber noch ein Aspekt der Interdisziplinarität des Medizinstrafrechts vertieft werden: Die Medizin als Kernelement des Medizinstrafrechts. Auch hier lassen sich prozedurale Querstränge aufzeigen, die zu Beginn des vierten Kapitels bereits angedeutet wurden. 84

Vgl. Fateh-Moghadam / Atzeni, in: Vöneky / Hagedorn / Clados u. a., Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 115 (126), die dies für „bemerkenswert“ erachten; ebenso ­Dederer, in: Vöneky / Beylage-Haarmann / Höfelmeier u. a., Ethik und Recht – Die Ethisierung des Rechts, S. 443 (445). 85 Vgl. dazu allgemein Schuppert, in: Grimm, Wachsende Staatsaufgaben – sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, S. 217 (221 ff.). 86 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (741). 87 So Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 79. 88 Beckmann, Ethische Herausforderungen der modernen Medizin, S. 16.

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4. Kap.: Prozedural-affines Medizinstrafrecht

B. Die Medizin als Kernelement des Medizinstrafrechts I. Fortwährende Dependenz vom medizintechnischen Fortschritt Das Medizinstrafrecht ist kein festgefahrenes Recht. Es ist auch kein solches, das sich über Generationen hinweg umfassend bewährt hat. Aufgrund notwendiger Flexibilität und Anpassungsfähigkeit trägt es seinen gegenwärtigen Geltungsanspruch nicht in sich und wirkt daher nicht aus sich selbst heraus. Es entwickelt sich vielmehr kontinuierlich fort – teils durch neue medizinische Forschungen und Erkenntnisse, die sodann eine neue rechtliche Rahmengesetzgebung erfordern, teils durch einen Wandel der Weltanschauungen, welche das Einfließen neuer Ethiken oder Moralvorstellungen ins Recht fordern. Die Entwicklung des Medizinstrafrechts ist somit vom jeweiligen medizinischen und technologischen Fortschritt abhängig,89 der nur sehr schwer prognostiziert werden kann. Medizinstrafrechtliche Normen strahlen den jeweiligen globalen technischen Fortschritt und die Möglichkeiten der modernen Medizin aus. Im Fokus stehen oftmals Verfahren, die aktiv in die menschliche Natur eingreifen und über deren ethische Vertretbarkeit kein Konsens mehr besteht. Die Wissensschübe in der Medizin schreiten mit einem Tempo voran, bei dem das jeweils adäquate Recht Schritt halten muss, ohne seine Prämissen auf diesem schnelllebigen und anstrengenden Weg über Bord zu werfen. Im Bereich der Bio­ technologie stößt das klassische Strafrecht besonders an seine Grenzen: Es muss zwar auf den neuesten medizinischen Erkenntnissen und Verfahren beruhen, gleichzeitig handelt es sich aber um ein Rechtsgebiet, das sich regelmäßige Veränderungen nicht unbegrenzt erlauben kann, weil seine Geltungskraft auf Kenntnis und Akzeptanz der Gesetze durch die Gesellschaft baut und strafrechtliche Analogien nach Art. 103 Abs. 2 GG ausscheiden müssen.90 Gleichzeitig ist das starre Strafrecht „immer vergangenheitsbezogen“ und damit – auch aufgrund des Bestimmtheitsgebots – weder in der Lage, neue Entwicklungen zu berücksichtigen, noch zu verhindern.91 Es tut sich in seiner Trägheit unheimlich schwer, auf den sich rasch wandelnden, zukunftsorientierten biotechnologischen Fortschritt adäquat zu reagieren.92 Nicht zuletzt stellt sich aber die Frage, ob der Einsatz von Strafrecht als schärfste Waffe überhaupt der richtige Weg ist, um die Gefahren des naturwissenschaftlichen Fortschritts einzudämmen.93 Risiken und Vorteile neuer Methoden sind noch nicht abschließend erforscht, vom Recht wird aber zeitnah eine Reaktion erwartet. Ein Totalverbot der Materie ist häufig unverhältnismäßig, 89

Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 3. Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (194). 91 Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 155 ff. 92 Beck, Stammzellforschung und Strafrecht, S. 23. 93 Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 156. 90

B. Die Medizin als Kernelement des Medizinstrafrechts

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die Risiken und Nutzen müssen erst erprobt werden. Das Medizinstrafrecht nimmt daher eine Sonderrolle im Strafrecht ein, es benötigt spezifisch neue Facetten, die es in sich aufnehmen kann. Prozedurales Recht könnte ihm dabei behilflich sein, sein starres Wesen etwas zu öffnen. Diese Eigenschaft des Medizinstrafrechts lässt sich insbesondere mit den Strukturelementen des Schwindens materieller Inhalte und der Zuständigkeit von Privatpersonen verknüpfen. Strikt determinierte Gesetzesinhalte ermöglichen nur wenig Flexibilität, welche aber gerade aufgrund des sich ständig wandelnden Gesellschaftsgefüges erforderlich ist. So sind „Prozeduralisierung und Flexibilisierung […] am ehesten geeignet, die Halbwertzeiten der Normen im Fluss wissenschaftlichen Fortschritts und des Wandels ethischer Überzeugungen zu strecken.“94 Rationale Verfahren können an den jeweils vorherrschenden medizinischen Fortschritt angepasst werden. Durch die praktische Anwendung der Verfahrensnormen werden diese durch die Gesellschaft praktiziert. Insbesondere die Bioethik fordert, dass in rechtliche Strukturen eine gewisse Lernfähigkeit eingebaut wird.95

II. Fortwährende Dependenz von faktischen Gegebenheiten der Medizin 1. Erhebliche Bedeutung von Wissen in der Medizin Nicht nur der Fortschritt in der Medizin erfordert gewisse Strukturen des Medizinstrafrechts, auch die faktischen Gegebenheiten der Medizin verlangen nach einer speziellen Ausformung des Rechts. In der Medizin spielt Wissen eine erhebliche Rolle. Es stehen existenzielle Entscheidungen an, die oft über Leben und Tod entscheiden. Besonders im Bereich medizinischer Intervention müssen Wissensquellen generiert und Fakten maximiert werden, um nicht vorschnell weitreichende (und womöglich falsche)  Entscheidungen aufgrund unzureichender Tatsachen­ kenntnis zu treffen, die zudem irreversibel sind.96 Gleichzeitig ist aber auch das Nichtwissen ebenso präsent im Medizinrecht.97 Es mag zwar sein, dass „Wissen ohne Gewissen […] zur größten Gefahr für die Menschen“98 wird. Jedoch ist Wissen zunächst ein elementarer Grundstein, um Entscheidungen überhaupt informiert und autonom treffen zu können. Gerade in der Medizin ist häufig mit Nichtwissen 94

Schulz, ZRP 2002, 487 (488). Vgl. die Stellungnahme Albers in: Berdin, MedR 2013, 433. 96 Saliger, KritV 1998, 118 (147); vgl. auch Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 30; ­Sheplyakova, in: Sheplyakova, Prozeduralisierung des Rechts, S. 1 (5). 97 Ausführlich hierzu Albers, in: Albers, Bioethik, Biorecht, Biopolitik, S. 9 (34). 98 Das Zitat stammt von Victor F. Weisskopf (geb. 1908, gest. 2002). Diese Sichtweise bringt Weisskopf auch in seiner Biografie zum Ausdruck: „Für moralische und politische Entscheidungen kann wissenschaftliche Erkenntnis überaus nützlich sein, um auf die Konsequenzen bestimmter Handlungen hinzuweisen, aber die Entscheidungen selber gründen sich immer auf nichtwissenschaftliche Argumente.“ (Weisskopf, Mein Leben, S. 376). 95

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4. Kap.: Prozedural-affines Medizinstrafrecht

umzugehen – sei es in Bezug auf den Willen eines Patienten, der unergründbar ist, sei es im Hinblick auf medizinische Prognosen, Verfahren oder ähnliche Ungewissheiten. Das Medizin(straf-)recht stellt eine äußerst risikobehaftete Materie dar. Wenn die Gefahr einer Fehlbeurteilung schon nicht ausgemerzt werden kann, so muss sie zumindest minimiert werden. Das Medizinstrafrecht benötigt daher Strukturen, um Wissen zu sammeln. 2. Ausgleich von Wissensgefällen Als weitere faktische Gegebenheit existiert in der Medizin häufig ein Wissensgefälle zwischen Arzt und Patienten. Der Arzt weist gegenüber dem Patienten einen erheblichen Wissensvorsprung auf, der ausgeglichen werden muss. Ansonsten kann der Patient, der im gewandelten Arzt-Patienten-Verhältnis eine Subjektrolle einnimmt, keine eigene autonome Entscheidung treffen. Von strafrechtlichen Verboten einmal abgesehen, die auch mithilfe des Postulats der Patientenautonomie nicht außer Kraft gesetzt werden können, entscheidet nicht mehr der Arzt, was das Beste für den Patienten ist, sondern es entscheidet der aufgeklärte Patient selbst. Wissen muss daher nicht nur so gut wie möglich gewonnen werden. Es muss zwischen den involvierten Subjekten – soweit gesetzlich zulässig – auch so gut wie möglich ausgeglichen werden. Für beide Aspekte eignen sich Verfahren. In Verfahren wird Wissen nicht nur zusammengetragen, sondern ebenso ausgetauscht. Damit sprechen nicht zuletzt die faktischen Gegebenheiten der Medizin und das von ihr geprägte Medizinstrafrecht für eine Prozeduralisierung, welche hilft, Wissen in Verfahrensvorgängen zu generieren, aufzubereiten und allen Verfahrensbeteiligten zugänglich zu machen. Schlussendlich betreffen medizinstrafrechtliche Fragestellungen häufig höchst­persönliche Entscheidungen, bei denen verallgemeinerte, abstrakt-generelle Gesetze nur wenig Erfolg versprechen.99

C. Fazit Sämtliche Elemente des Medizinstrafrechts – im Allgemeinen seine Interdisziplinarität – sprechen für verfahrensartige Kautelen, um der erforderlichen Strukturbeschaffenheit Rechnung zu tragen. Die verschiedenen aufgezeigten Facetten, die das Medizinstrafrecht ausmachen, lassen es zu einem Exoten im Strafrecht werden. Es separiert sich deutlich von den Normen des Kernstrafrechts. In Kapitel 3 ist bei den Merkmalen eines prozeduralen Strafrechts bereits angeklungen, dass auch die Prozeduralisierung im Strafrecht als ein gewisser Exot angesehen wird, der sich häufig nur schwer mit den klassischen Eigenschaften des Strafrechts 99

Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 30.

C. Fazit

155

anfreundet.100 Mit der Bezeichnung „Exot“ soll in beiden Fällen allerdings nichts Negatives zum Ausdruck gebracht werden. Es soll lediglich verdeutlicht werden, dass die Prozeduralisierung im Bereich des Strafrechts strukturell ungewohnte Eigenheiten offenbart und auch das Medizinstrafrecht gegenüber dem Kernstrafrecht zum Teil erhebliche Besonderheiten aufweist. Als Fazit lässt sich daher festhalten, dass der Exot im Strafrecht (die Proze­ duralisierung) wohl grundsätzlich das geeignete Strukturmittel für den anderen Exoten im Strafrecht (das Medizinstrafrecht) darstellt. Die Besonderheiten des Medizinstrafrechts benötigen verfahrensrechtliche Kautelen, die dem Strafrecht grundsätzlich nicht innewohnen und ihm daher fremd erscheinen. Anders gesprochen kann und muss somit Spezielles mit Speziellem behandelt werden. Zu konstatieren ist damit ein grundsätzlicher Synergieeffekt zwischen dem Medizinstrafrecht und flexiblen Verfahrensstrukturen, welcher eine Prozeduralisierung im Grundsatz unumgänglich für das Medizinstrafrecht erscheinen lässt. Diese grundsätzliche „Prozeduralisierungsfreundlichkeit“101 besagt jedoch noch nichts über die konkrete Umsetzung in den jeweiligen medizinstrafrechtlichen Gebieten. Bevor diese allerdings im Einzelnen behandelt werden, muss zunächst aus den Eigenschaften, die in der Literatur als prozedural beschrieben werden, eine eigenständige Definition prozeduralen Rechts entwickelt werden, um die einzelnen Bereiche als Prozeduralisierung nach dem Selbstverständnis dieses Begriffs einordnen zu können.

100

Vgl. dazu unter 3. Kap. B. II. 1. a). So Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 310 im Hinblick auf das Strafrecht im Allgemeinen.

101

5. Kapitel

Entwicklung einer eigenständigen Definition prozeduralen Rechts Für den weiteren Fortgang der Arbeit ist es unumgänglich, eine Definition prozeduralen Rechts zu entwickeln, weil diese als individuelles Verständnis der weiteren Arbeit zugrunde gelegt werden muss. Nachdem keine gesetzlich festgeschriebene Definition existiert und der Begriff durch Auslegungsstrategien auch nur schwer erschlossen werden kann, sollte von keiner Seite eine alleingültige Begriffsbesetzung für sich in Anspruch genommen werden. Diese Einengung würde dem vielschichtigen Wesen der Prozeduralisierung, welches variabel einsetzbar und flexibel handhabbar bleiben muss, nicht gerecht. Ausschlaggebend sollte für die jeweilige Charakterisierung vielmehr sein, welches Ziel mit der Abgrenzung einer prozeduralen Kodifikation zu anderen normativen Regelungen bezweckt werden soll.1 Das Augenmerk sollte daher auf Eigenschaften gerichtet werden, durch die sich prozedurale Regelungen gerade von allgemeinen Steuerungstechniken abheben. Diese Andersartigkeit lohnt es sich sodann zu erforschen, zu kritisieren oder womöglich den spezifischen Gewinn daraus für andere Regelungen abzuschöpfen. Gleichzeitig muss allerdings bedacht werden, dass die Vielfalt, von der Prozeduralisierung lebt, häufig zu Irritationen und Missverständnissen führt. Diesem Umstand soll dadurch begegnet werden, dass der Begriff der strafrechtlichen Prozeduralisierung konkreter kategorisiert wird. Die gängige Unterscheidung von „Prozeduralisierung in einem engen und in einem weiten Sinne“ ist dafür ungeeignet. Wie dargestellt sind die Abgrenzungskriterien auch bei dieser Unterscheidungsart sehr uneinheitlich gewählt. Aus den vorangegangenen Strukturelementen wird deutlich, dass der Eigenwert prozeduralen Rechts maßgeblich durch Argumentation, Konfrontation und gegenseitiger Bewertung geschöpft wird. Der Anker prozeduralen Rechts ist somit die gesellschaftliche Kommunikation, die auf rationalem Wege zu einem Konsens führen soll. In dieser Betrachtungsweise spiegelt sich der ursprüngliche Nährboden prozeduralen Rechts, seine rechtsphilosophischen Wurzeln, die das positive Recht fortdauernd hinterfragen, wider. Ein entscheidendes Merkmal der Definition von prozeduralem Recht soll demnach in dieser Arbeit die Diskursivität des Entschei-

1

Auch Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (445) spricht sich für eine Kategorisierung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten aus.

5. Kap: Entwicklung einer eigenständigen Definition

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dungsprozesses als solchem sein.2 Die Problemanalyse erfolgt im Idealfall argumentativ, aber dennoch kompromissbereit im Rahmen eines fruchtbaren kooperativen Klimas der Faktenermittlung und -bewertung. Gerade in der Kommunikation und einer pluralen Auseinandersetzung liegt die erhöhte Legitimität von Prozeduralität.3 Der Diskurs „ist ein notwendiger Motor ihres [der Rechtswissenschaft] Erkenntnisfortschritts im Wandel der Faktenstrukturen und Wertvorstellungen“4. Im Kriterium der Diskursivität liegt eine wichtige Gabelung auf dem Weg zur individuellen Definition. Sieht man sie nicht als zwingendes Kriterium an, öffnet sich der Begriff der Prozeduralisierung merklich und erfasst auch nicht-diskursive Verfahren, die bei ihrer Einhaltung für Straffreiheit sorgen. Letztere weisen häufig einen deutlich höheren Formalisierungsgrad auf und vereinfachen die strafrechtliche Beurteilung im Sinne einer Art „Checkliste der Straffreiheit“. Gerade auch das Medizinstrafrecht bedient sich dieser formalisierenden Regelungstaktik, um den Beteiligten zumindest einen straffreien Leitfaden an die Hand geben zu können. Diese Feststellung bedarf zur Verdeutlichung eines kurzen Exkurses in den Bereich ärztlicher Leitlinien. So soll einer Ansicht nach beispielsweise die Beachtung von Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften5 durch den Arzt regelmäßig auch zum Wegfall des strafrechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurfs bzw. des Verschuldens führen.6 Diese Leitlinien würden die Regeln der ärztlichen Kunst, auf welche als Erfahrungssätze im Rahmen der Sorgfaltswidrigkeitsprüfung rekurriert werden könne, konkretisieren.7 Werde bereits eine zivilrechtliche Haftung des Arztes infolge der Beachtung der Leitlinien ausgeschlossen, müsse aufgrund der ultima ratio-Funktion 2 Ebenso Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (614), wobei er es aber auch für vertretbar erachtet, die Einhaltung von Formvorschriften oder gedankliche Prüfverfahren als prozedural zu bezeichnen, Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (446); Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 118, S. 128 sowie S. 254 f.; a. A. hingegen Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 172. 3 Auch Kaufmann, Rechtsphilosophie, S. 300 geht davon aus, dass es bei einem pluralistischen Wertempfinden „einer Mehrzahl von Erkenntnissubjekten“ bedürfe; in die gleiche Richtung Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (31). 4 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rdnr. 594. 5 Zu den medizinischen Fachgesellschaften im Allgemeinen vgl. Spickhoff, in: Lilie  / ​ ­Bernat / Rosenau, Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, S. 119 (127 f.); Staudt, Medizinische Richt- und Leitlinien im Strafrecht, S. 118 f. 6 Krüger, in: LK-StGB, § 222 Rdnr. 32 f. jedenfalls im Hinblick auf sog. „evidenz-basierte und regelmäßig aktualisierte Konsensusleitlinien der Stufe 3“, welche gegenüber anderen Leitlinien eine deutlich erhöhte Qualitätssicherung aufweisen; vgl. zudem den durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20.02.2013 eingeführten § 630a Abs. 2 BGB (BGBl. 2013 I, S. 277), der den allgemeinen Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs. 2 BGB ergänze, Krüger, in: LK-StGB, § 222 Rdnr. 33. 7 Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 222 Rdnr. 16; für den haftungsrechtlichen Bereich s. Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 372; Hart, MedR 1998, 8 (14).

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5. Kap: Entwicklung einer eigenständigen Definition 

des Strafrechts auch eine Fahrlässigkeitsstrafbarkeit ausscheiden.8 Das Strafrecht beschränke sich dadurch auf eine „Grenzkontrolle ohne Vorgabe eigener Verhaltensanforderungen“9. Auch im bekannten Zitronensaft-Fall10 bringt der Bundesgerichtshof zum Ausdruck, dass er medizinischen Leitlinien durchaus eine gewisse Relevanz für das Strafrecht beimisst.11 Mehrheitlich wird allerdings angenommen, dass die Einhaltung der Leitlinien nur dann von einem ärztlichen Sorgfaltspflichtverstoß befreien könne, wenn die entsprechenden Leitlinien auch dem medizinischen Standard entsprechen, also nicht als wissenschaftlich bereits überholt anzusehen sind.12 Entsprächen sie ihm allerdings, könnten sie durchaus zur Bestimmung der Grenze eines erlaubten Risikos herangezogen werden.13 Nach anderer Ansicht kommt der Beachtung von medizinischen Leitlinien hingegen keine derartige – das Strafrecht konkretisierende – Wirkung zu. Die Befolgung könne den Arzt nicht per se vom strafrechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurf freistellen. Leitlinien könnten nur eine abstrakte Situation beschreiben, weshalb im Einzelfall stets noch zu prüfen sei, ob in der konkreten Situation die Befolgung der Leitlinie ausreichend und damit entlastend war, oder in dem speziellen Einzelfall von ihr abgewichen hätte werden müssen.14 Es könne im Hinblick auf den Sorgfaltspflichtverstoß demnach nur von einer grundsätzlichen Entlastungswirkung gesprochen werden.15 Auf der anderen Seite ist der Frage nach den Konsequenzen eines Verstoßes gegen medizinische Leitlinien nachzugehen. So wird angenommen, dass ein Verstoß zwar nicht per se eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung begründen, aber zumindest ein Indiz hierfür darstellen könne.16 Selbst Leitlinien, die dem jewei­ligen Standard entsprechen und somit als grundsätzlich verbindlich anzusehen seien, könnten nicht automatisch zur Annahme eines unerlaubten Verhaltens führen, 8

Krüger, in: LK-StGB, § 222 Rdnr. 33. Sternberg-Lieben / Schuster, in: Sch / Sch-StGB, § 15 Rdnr. 212. 10 BGH, NJW 2011, 1088 ff. In diesem Fall ging es um die Reichweite bzw. den Zeitpunkt einer Aufklärungspflicht bezüglich des Einsatzes von Außenseitermethoden (Wundbehandlung mittels unsteriler Zitronensaftsäure). 11 Krüger, in: LK-StGB, § 222 Rdnr. 33, der auf das OLG Dresden, StV 2015, 120 (121) verweist, das medizinischen Leitlinien insofern ebenfalls eine strafbarkeitseinschränkende Wirkung zugeschrieben hat. 12 Staudt, Medizinische Richt- und Leitlinien im Strafrecht, S. 259 f. m. w. N. 13 Staudt, Medizinische Richt- und Leitlinien im Strafrecht, S. 265. 14 Sternberg-Lieben / Schuster, in: Sch / Sch-StGB, § 15 Rdnr. 212; vgl. auch Staudt, Medizinische Richt- und Leitlinien im Strafrecht, S. 282, die eine Konkretisierungswirkung nur annimmt, wenn der Einzelfall keine Ausnahme und damit ein Abweichen von der Leitlinie erfordert. 15 Sternberg-Lieben / Schuster, in: Sch / Sch-StGB, § 15 Rdnr. 212 m. w. N. 16 Krüger, in: LK-StGB, § 222 Rdnr. 32; ebenso mit Blick auf das Vorliegen eines Behandlungsfehlers Spickhoff, in: Lilie / Bernat / Rosenau, Standardisierung in der Medizin als Rechtsproblem, S. 119 (135). 9

5. Kap: Entwicklung einer eigenständigen Definition

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weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass das erforderliche Maß an Sicherheit auf andere Art und Weise erreicht wurde.17 Noch einschränkender wird teilweise sogar vertreten, dass Leitlinien als abstrakte Regelungen lediglich Informationscharakter für Ärzte hätten.18 Die unterschiedliche Qualität, Urheberschaft und Aussagekraft der zahlreichen Leitlinien führt dazu, dass pauschale Aussagen – besonders in diesem Rahmen – nicht möglich sind. Die grundsätzliche Relevanz medizinischer Leitlinien für den strafrechtlichen Fahrlässigkeitsbereich kann allerdings trotz der im Einzelnen divergierenden Ansichten bereits nach diesem kurzen Exkurs nicht geleugnet werden. Es manifestiert sich sowohl die Bedürftigkeit als auch die Akzeptanz des Strafrechts bezüglich orientierungswürdiger Leitlinien. Diese können und dürfen zwar nicht per se die letztgültige Entscheidung über Strafbarkeit und Straflosigkeit fällen; sie geben dem Strafrecht in diesem Bereich allerdings eine gewisse Struktur bzw. Richtung vor. Ebenso wird deutlich, dass eine blinde Bezugnahme des Strafrechts auf formalisierte Standards nicht möglich ist, sondern sich an dem jeweiligen Einzelfall zu orientieren hat. Die Funktion formalisierender Regelungswerke – dargestellt an den medizinischen Leitlinien – spielt demnach eine bedeutende Rolle im (Medizin-)Strafrecht. Gleichwohl soll nach hier vertretener Ansicht der institutionalisierte Diskurs ein wesentliches Merkmal der Prozeduralisierung darstellen, weshalb formal einzuhaltende Regeln für die Definition der Prozeduralisierung alleine nicht ausreichend sind. Gerade der gemeinsame, von einem Diskurs untermauerte Prozess der Entscheidungsentwicklung stellt eine strafrechtliche Besonderheit dar, die es demnach unter die Definition der Prozeduralisierung zu fassen gilt. Auch wenn die Normanwendung in den überwiegenden Fällen keinen Kommunikationsprozess der Gesellschaft erfordert und dessen gesetzliche Normierung daher eine prozedurale Besonderheit darstellt, ist Kommunikation in einer globalisierten Welt nur eine Grundprämisse. Es sind daher zusätzliche, spezifisch prozedurale Kriterien zu definieren. Um das nächste entscheidende Kriterium herauszuarbeiten, bedarf es neben der situativen Entscheidungssituation eines Blickes auf die jeweiligen Entscheidungsträger. Beteiligte Akteure sind im Rahmen des prozeduralen Rechts persönlich involvierte Privatpersonen oder aber spezifisch interdisziplinär zusammengesetzte Gremien. Diesen wird aufgrund eines vorgegebenen Spielraums Entscheidungsgewalt eingeräumt; sie treffen folgenreiche rechtliche Entscheidungen. Auch in diesem Kriterium spiegelt sich die Eigenheit prozeduralen Rechts wider. Das Recht öffnet sich für individuelle Interpretationsansätze und gewährt einen kontrollierbaren Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Besonders im Strafrecht, 17 18

Staudt, Medizinische Richt- und Leitlinien im Strafrecht, S. 282. OLG Naumburg, MedR 2002, 471 (472) [mit Bearbeitung von Hart].

160

5. Kap: Entwicklung einer eigenständigen Definition 

über welches der Staat das Monopol innehält und dieses durch grundrechtsintensive Eingriffe ausübt, stellt es sich als grundlegend andersartige Regelungstaktik dar, dass Privatpersonen oder unabhängige Kommissionen in strafrechtliche Entscheidungen miteingebunden werden. Die Gesellschaft wird in die Aufgabe der Rechtsfriedensherstellung selbst eingebunden. Wurden die formellen Verfahrensvorgaben eingehalten, wird das rechtsgut­ verletzende Verhalten im Gegenzug als straflos eingestuft. Dass die Verfahrensvoraussetzungen bei ihrer Beachtung Straffreiheit gewähren, bedeutet im Umkehrschluss aber nicht zwingend, dass eine Straflosigkeit nur mittels der Einhaltung der Verfahrenskautelen erreicht werden kann, sondern dass diese zumindest in jenem Falle Straffreiheit gewähren. Prozedurales Strafrecht soll also im Wege einer Straffreistellung in gewisser Weise einen „fairen Deal“ für die Handlungsbeteiligten anbieten. Aus dieser Sichtweise resultiert eine ebenso wichtige weitere Konsequenz bezüglich der Definition prozeduralen Rechts. Teilweise wird vertreten, dass strafrechtliche Vorschriften, die  – wie § 218c StGB oder § 7 KastrG  – einen reinen Verfahrensverstoß pönalisieren,19 auch unter den Begriff des prozeduralen Rechts zu fassen seien. Begründet wird dies damit, dass sie mittels ihrer vorgesehenen Sanktionen die materiellen Strafdrohungen flankieren, und somit das prozedurale Strafrecht in seiner Gesamtheit gerade abrunden würden.20 Nach dieser Ansicht stehen Straffreistellung mittels Verfahrensbeachtung und Pönalisierung aufgrund eines Verfahrensverstoßes in einem äquivalenten Gleichgewicht und prägen demnach nur in ihrem Gesamtkonzept den Begriff prozeduralen Rechts. Beizustimmen ist dieser Ansicht, dass Vorschriften, die reine Verfahrensverstöße pönalisieren, einen enormen Beitrag zur Verfahrensbeachtung leisten und damit das Konzept eines prozeduralen Strafrechts nachdrücklich stützen. Würden sie nicht existieren, bestünde kein Druck zur Verfahrensbeachtung und Verfahren würden an Bedeutung erheblich einbüßen. Gleichwohl sichern sie das prozedurale Schutzkonzept – auf dem der Fokus liegen muss – nur von außen ab, indem sie Impulse zur Verfahrensbeachtung setzen. Sie sind demnach Nebenprotagonisten des prozeduralen Konzepts und auf Krimi 19

In vergleichbarer Weise pönalisiert auch die Vorschrift des § 327 StGB ein Handeln ohne die erforderliche umweltrechtliche Genehmigung und demnach einen Verstoß gegen eine verwaltungsrechtliche Pflicht. Die materielle Genehmigungsfähigkeit der Anlage steht einer Bestrafung nicht im Wege. Rechtsgut der Vorschrift ist demnach weder die Gesundheit der Allgemeinheit noch der Umweltschutz, sondern die Prüfungs- und Entscheidungskompetenz der Behörde, vgl. Witteck, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 327 Rdnr. 7 m. w. N. Gleichwohl bestraft die Vorschrift keinen „reinen Verfahrensverstoß“ nach dem oben genannten Verständnis, weil sie nicht die Einhaltung einer Norm flankiert, welche das materielle Strafunrecht zum Ausdruck bringt. 20 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (444).

5. Kap: Entwicklung einer eigenständigen Definition

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nalisierung, nicht Entkriminalisierung gerichtet. Zudem lebt das hier befürwortete Konzept eines prozeduralen Strafrechts gerade von Flexibilität und Innovation, mit welchen auf vorhandene Defizite des Rechts reagiert werden soll. Strafrechts­ vorschriften, die Verfahrensverstöße pönalisieren, weisen eine derartige Flexibilität gerade nicht auf. Sie verfahren nach dem „Wenn-Dann-Schema“ und sind lediglich bezüglich der jeweiligen Verfahrensnorm und des Strafrahmens bedingt flexibel. In ihnen kommt gerade kein flexibles Rechtsanwendungsprogramm zum Tragen. Der Gesetzgeber hat bereits vorab determinierend festgelegt, welche Verfahrensverstöße mit welcher Strafe belegt sein sollen. Daher sollen Vorschriften, die reine Verfahrensverstöße sanktionieren, nicht unter den Begriff prozeduralen Strafrechts fallen.21 Das letzte Kriterium wird darin gesehen, dass die Straffreiheit der Handlung bereits feststeht, bevor sie überhaupt vorgenommen wird. Es wird eine ex ante-Perspektive eingenommen und entgegen dem Wesen des Strafrechts eine strafrechtlich relevante Handlung nicht erst nach erfolgter Rechtsgutverletzung bewertet. Hierin liegen auch die Kriterien der Akzeptanz und der Unausweichlichkeit einer Entscheidung verborgen. Das rechtliche Ausmaß der von Privaten oder Gremien getroffenen Entscheidungen stellt sich womöglich als der schwierigste Scheideweg im Rahmen der Abgrenzung und Entwicklung einer Definition dar. Die wesentliche Differenzierung liegt darin, ob prozedurale Regelungen materielles Recht ersetzen, also die Rolle eines materiellen Kriteriums komplett übernehmen müssen,22 oder ob es für die Definition prozeduralen Rechts ausreichend sein kann, dass das prozedurale Recht das materielle Recht „nur“ ergänzt bzw. seine Durchsetzung fördert. Saliger spricht dem prozeduralen Recht sowohl eine „Rechtsbegründungs-“, als auch eine „Rechtsanwendungsfunktion“ zu.23 Danach hilft es dem materiellen Recht nicht nur als substituierender Hauptprotagonist, sondern fördert seine Durchsetzung ebenso als – dann nicht weniger bedeutsamer – Nebenprotagonist. Schweiger schließt sich dieser weiten Auffassung des prozeduralen Strafrechts an und spricht sich für eine „Stellvertreterposition“ des prozeduralen Rechts, angelehnt an das zivilrechtliche Stellvertretungsrecht der §§ 164 ff. BGB, aus.24 Diese Ansicht überzeugt in mehrfacher Hinsicht. Prozedurales Recht stellt eine Ausprägung von „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ dar und darf daher nicht nur in seiner materiell-ersetzenden Natur wahrgenommen werden. Eine derart enge Ansicht würde das ihm innewohnende 21

Im Erg. ebenso Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 194 sowie S. 201; Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 231. 22 So die Prozeduralisierungskonzepte von Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 174 f. und Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (645). 23 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (163 f.); ­Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (444 f.); zust. Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 199. 24 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 197 ff.

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5. Kap: Entwicklung einer eigenständigen Definition 

Potenzial, materielles Recht in seiner Rationalität auch zu fördern, erheblich beschneiden.25 Gleichwohl soll aber die doppelte Funktionalität prozeduralen Rechts zu Tage gefördert werden. In dieser Arbeit soll daher in ein prozedurales Recht in einem substituierenden Sinne, das materielles Recht ersetzt und in ein prozedurales Recht in einem fördernden Sinne unterschieden werden, das materielles Recht „nur“ ergänzt bzw. ihm zur Durchsetzung verhilft. Nachdem die Einordnung in die Kategorien eines „engen“ und eines „weiten“ Begriffsverständnisses mehr als irreführend wie hilfreich betrachtet werden muss,26 soll ein Vorschlag einer alternativen Benennung erfolgen. Als Kategorisierung prozeduralen Strafrechts bietet es sich daher zunächst an, die Begriffspaare „diskursiv“/„formal“ und „ersetzend“/„fördernd-ersetzend“ als einheitliche Terminologie zu verwenden. „Diskursiv“ steht dabei für ein Prozeduralisierungsverständnis, das einen Kommunikationsakt für das prozedurale Ergebnis fordert und „formal“ hingegen für ein Verständnis, das für ein prozedural ordnungsgemäß zustande gekommenes Ergebnis die Beachtung rein formaler Kriterien genügen lässt. Die Einordnung „ersetzend“ bezeichnet ein Prozeduralisierungsverständnis, nach welchem das prozedurale Ergebnis die Position materiellen Rechts einnimmt. „Fördernd-ersetzend“ soll hingegen zum Ausdruck bringen, dass prozeduralem Strafrecht sowohl eine Rechtsbegründungs- als auch eine Rechtserzeugungsfunktion zugeschrieben wird. In vorliegender Arbeit wird aufgrund der dargelegten, überzeugenden Vorzüge das Prozeduralisierungskonzept „diskursiv“ – „fördernd-ersetzend“ gewählt. Eine weitere terminologische Kategorisierung müsste sodann noch im Hinblick darauf vorgenommen werden, ob Vorschriften, die reine Verfahrensverstöße pöna­ lisieren, zum prozeduralen Recht gerechnet werden sollen oder nicht. Anders formuliert steht noch die definitorische Entscheidung an, ob prozedurales Recht (wie hier vertreten) nur eine straffreistellende Wirkung haben soll oder ob ihm auch eine kriminalisierende Eigenschaft zukommt. Für diese Unterscheidung können die Termini „eng“ und „weit“ herangezogen und dadurch inhaltlich neu besetzt werden. Unter Hinzunahme dieser Zuordnung wird das hier zugrundeliegende Prozeduralisierungskonzept als „diskursiv“-„fördernd-ersetzend“ in einem engen Sinne eingeordnet. Aufgrund dieser Zuordnungskriterien können die unterschiedlich vertretenen Konzepte eines prozeduralen Strafrechts spezifischer zugeordnet werden. Die analysierten und bewerteten Merkmale, die in der Literatur spezifisch dem prozeduralen Recht zugeordnet werden, lassen erkennen, dass sie keine neue Erscheinung im Strafrecht darstellen, sondern dass strafrechtliche Vorbilder von ihnen existieren, die dem Strafrecht als solche fremd erscheinen. Hierzu gehören private Entscheidungskompetenzen im Strafrecht, eine Verbundenheit mit dem 25

Ebenso Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 199 sowie S. 255. So auch Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 177 f., die verdeutlicht, dass ein Prozeduralisierungskonzept sowohl weite als auch enge Komponenten in sich vereinigen kann, weshalb eine Zuordnung nach diesen Kategorien nicht weiterführend ist.

26

5. Kap: Entwicklung einer eigenständigen Definition

163

Konstrukt des rechtsfreien Raums,27 aber auch strafrechtliche Prognose- und Wahrscheinlichkeitsinstrumente, derer sich der Gesetzgeber bedient.28 In ihrer spezifischen Kombination untereinander ergibt sich allerdings eine in dieser Form neuartige strafrechtliche Regelungstechnik. Aus ihnen ergibt sich zusammengesetzt folgende Definition des prozeduralen Medizinstrafrechts: Prozedurales (Medizin-)Strafrecht ist in seiner Zusammensetzung eine neuartige, wenn auch historische Vorbilder besitzende strafrechtliche Regelungstechnik, welche bei Beachtung des gesetzlich normierten Verfahrens, welches u. a. in einem diskursiven Entscheidungsfindungsprozess betroffener Privater oder interdisziplinär zusammengesetzter Gremien besteht („Diskurs“ + übrige formale „Checkliste“), trotz einer nachfolgend (durch medizinische Intervention) eintretenden Rechtsgutsverletzung den Beteiligten Rechtssicherheit und im Ergebnis Straffreiheit „als einen fairen Deal“ anbietet. Das Ergebnis des „Deals“ kann dabei sowohl an die Stelle des materiellen Rechts treten als auch seine Durchsetzung fördern.

27 28

Vgl. dazu unter 3. Kap. B. II. 1. b). Vgl. erneut Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (739 ff.).

6. Kapitel

Verfassungsrechtliche Grenzen einer strafrechtlichen Prozeduralisierung Nachdem eine eigene Definition des prozeduralen Medizinstrafrechts entwickelt wurde, sind nachfolgend die Grenzen zu untersuchen, die das Verfassungsrecht einer Prozeduralisierung womöglich zieht. Dass eine strafrechtliche Prozedura­ lisierung häufig als Gegensatz in sich verstanden wird, ging bereits deutlich aus dem Vergleich Hassemers, der die Konkurrenz des Geschwisterpaares zum Gegenstand hatte,1 hervor. Der ältere Bruder, der das klassich-repressive Strafrecht verkörpern soll, weist mit dem jüngeren Bruder, welcher die Prozeduralisierung verbildlicht, im Ausgangspunkt keine Verwandtschaft auf. Der ältere Bruder handelt repressiv, vergangenheitsbezogen und aufgrund klarer materieller Wertungen. Er tradiert das klassische Strafrecht. Der jüngere hingegen handelt präventiv, flexibel und wertungsoffen. Er zieht prozedural-formelle Kautelen starren Determinierungen vor. In der Literatur ist nicht selten das Bild eines sich gegen verfahrensrechtliche Strukturen sträubenden Strafrechts vorzufinden. Es ist durchaus ein Argwohn, wenn nicht gar eine gänzliche Antipathie gegenüber einer strafrechtlichen Prozeduralisierung zu konstatieren.2 Der Umstand, dass Prozeduralisierungen im Strafrecht noch nicht allseits auf Akzeptanz gestoßen sind, darf als solcher jedoch nicht vorschnell als Nachweis dafür gelten, dass sie für die strafrechtliche Materie prinzipiell ungeeignet sind. Entscheidend muss hingegen sein, ob zwingende rechtsstaatliche Prämissen gegen eine Prozeduralisierung und ihre Legitimation im Strafrecht sprechen. Auch wenn eine grundsätzliche Adaptionsfähigkeit und -freundlichkeit des Medizinstrafrechts für prozedurale Elemente bereits herausgearbeitet wurde, so ist das Medizinstrafrecht dennoch ein Teil des Strafrechts und seinen Prinzipien ebenso unterworfen wie das Kernstrafrecht. Die Folge einer generellen Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen wäre, prozedurale Strukturen zusehends zu verringern und einen Rückzug der Prozeduralisierung aus dem Strafrecht, auch dem Medizinstrafrecht, anzumahnen. Im Folgenden soll daher auf die tragenden, rechtsstaatlichen Grundsätze eingegangen werden, die sich gerade das Strafrecht auf die Fahnen geschrieben hat.

1 2

Vgl. erneut Hassemer, in: FAZ Nr. 9/2011, S. 28. Vgl. dazu die Nachw. in 3. Kap., Fn. 1.

A. Das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG

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A. Das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG Das Gesetzlichkeitsprinzip verkörpert eine der tragenden Säulen des Rechtsstaatsprinzips und ist in Art. 103 Abs. 2 GG normiert. Darüber hinaus ist es Regelungsbestandteil von Art. 7 Abs. 1 S. 1 EMRK. Es fordert, dass bereits im Tat­ zeitpunkt ein geschriebenes Gesetz besteht, das gerade dieses konkrete Verhalten unter Strafe stellt und statuiert daher ein strafrechtliches Rückwirkungsverbot. Auch eine analoge oder gewohnheitsrechtliche Strafbegründung wird hierdurch verboten.3 Gleichzeitig gewährleistet es auf diese Weise, dass ein als strafwürdig erachtetes Verhalten durch den Gesetzgeber selbst festgelegt und nicht im Nachhinein durch die judikative oder exekutive Gewalt bestimmt wird.4 Dadurch trägt es dem Gewaltenteilungsgrundsatz Rechnung.5 Das Gesetzlichkeitsprinzip fordert zur Wahrung des Gewaltenteilungsgrundsatzes aber nicht nur die Existenz eines geschriebenen Gesetzes (lex scripta), sondern stellt auch Anforderungen an dessen Bestimmtheitsgrad (lex certa).6 Das gesetzliche Bestimmtheitsgebot, das auch dem Rechtsstaatsgebot gem. Art. 20 Abs. 3 GG entspringt, gebietet im Strafrecht, dass die Voraussetzungen einer Straftat und die Strafanordnung so konkret umschrieben sind, dass der Rechtsunterworfene den strafbaren Anwendungsbereich und die Tragweite der Strafnorm erkennen und sein Verhalten danach ausrichten kann.7 Es erlangt insofern freiheitssichernde Wirkung, weil sich der Normadressat außerhalb der Grenzen des strafrechtlich Relevanten nicht einschränken muss.8 Im Ganzen schützt das Gesetzlichkeitsprinzip in seinen aufgeführten Ausprägungen daher vor „willkürlicher, nicht berechenbarer Bestrafung ohne Gesetz oder aufgrund eines unbestimmten oder rückwirkenden Gesetzes“9. Erst die Konnexität der verschiedenen Ausprägungen schenkt dem Gesetzlichkeitsprinzip seine volle Entfaltungskraft.10 Aufgrund der vielfältigen Lebenssituationen und Einzelfälle, denen das Gesetz gerecht werden muss, dürfen an den Bestimmtheitsgrundsatz allerdings keine überzogenen Anforderungen gestellt werden.11 Darüber hinaus wäre es wohl auch sprachlich gar nicht möglich, nur eindeutig exakte Begriffe für die Gesetzeswahl

3

St. Rspr. BVerfGE 73, 206 (234); 75, 329 (340); 92, 1 (12); 126, 170 (194 ff.). BVerfGE 47, 109 (120); 73, 206 (235); 75, 329 (341); 78, 374 (382); 92, 1 (12); 126, 170 (194); von Heintschel-Heinegg, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 1 Rdnr. 1. 5 Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1 Rdnr. 43. 6 St. Rspr. BVerfGE 14, 174 (185); 75, 329 (340); 126, 170 (194). 7 BVerfGE 48, 48 (56); 92, 1 (12); 126, 170 (195); von Heintschel-Heinegg, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 1 Rdnr. 1; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1 Rdnr. 43. 8 Kempf / Schilling, NJW 2012, 1849 (1851). 9 von Heintschel-Heinegg, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 1 Rdnr. 1. 10 Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 13. 11 BVerfGE 45, 363 (371); 48, 48 (56); 75, 329 (342); 92, 1 (19); 126, 170 (195); vgl. auch Hecker, in: Sch / Sch-StGB, § 1 Rdnr. 19; Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1 Rdnr. 44. 4

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6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen 

heranzuziehen.12 Der Gesetzgeber darf sich daher auch im Strafrecht wertausfül­ lungsbedürftiger Begriffe, Generalklauseln oder sog. unbestimmter Rechtsbegriffe bedienen, wenn eine ausreichende Grundlage für die Anwendung und Auslegung der Strafnorm besteht.13 Das Bestimmtheitsgebot erfordert angesichts der Abstrakt­ heit von Strafnormen nicht, dass der Gesetzgeber die Tatbestandsvoraussetzungen bis ins Detail deskriptiv darstellt.14 In Grenzfällen kann es dazu kommen, dass nicht vorhergesehen werden kann, ob ein bestimmtes Verhalten noch unter die Strafnorm fällt oder nicht; in diesen Einzelfällen genügt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Vorhersehbarkeit des Risikos einer Bestrafung.15 Das Bundesverfassungsgericht statuiert in diesem Zusammenhang ein Präzisierungsgebot der Rechtsprechung, die verbleibende Unklarheiten mittels Auslegung zu überwinden suchen muss.16 Insgesamt kann der normativ erforderliche Bestimmtheitsgrad nicht pauschalisierend festgesetzt werden; er ist vielmehr im Wege einer Gesamtbetrachtung festzustellen.17 Die „bestimmte Bestimmtheit“ mutiert bei genauer Betrachtung damit zu einer „[…] ‚größtmögliche[n] Bestimmtheit‘ […]“.18 Nach Erläuterung des Gesetzlichkeitsprinzips in seinen verschiedenen Aus­ prägungen kann durchaus nicht bestritten werden, dass es sich mit einer strafrechtlichen Prozeduralisierung, deren rechtliche Flexibilität bereits angeklungen sein dürfte, auf den ersten Blick wohl nur schwer anfreunden dürfte. Das Zurückweichen materiellrechtlicher Determinierungen könnte gleichfalls als ein Rückzug des Gesetzgebers aus seiner Entscheidungsverantwortlichkeit und damit als ein schmerzlicher Verlust an gesetzlicher Bestimmtheit interpretiert werden. Gerade das Gesetzlichkeitsprinzip ist Ausdruck eines formalisierten Strafrechts19 und könnte ein prozedurales Strafrecht damit schon im Ausgangspunkt ablehnen. Flexibles Strafrecht, das sich neuen Gegebenheiten anpasst, klingt seinem Wortlaut nach bereits als eine Verkehrung des Rückwirkungs-, Analogie- und Gewohnheitsrechtsverbots in ihre jeweiligen Gegenteile. Als problematisch könnte ebenfalls angesehen werden, dass der Gesetzgeber bei prozeduralem Recht womöglich bewusst auf eine bloße Rahmengesetzgebung mit Zielvorgabe setzt und damit schon gar nicht erst versuchen könnte, eine möglichst präzise Bestimmtheit in den Tatbestand und seine Rechtsfolgen zu legen. Er könnte gerade die Intention verfolgen, eine nur vage Bestimmtheit der Verfahrensstruk­ 12

Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1 Rdnr. 44; vgl. auch Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 20 m. w. N. 13 BVerfGE 45, 363 (371); 48, 48 (56); 75, 329 (341); 92, 1 (12); 126, 170 (196). 14 BVerfGE 126, 170 (196). 15 BVerfGE 47, 109 (121); BVerfG, NJW 1987, 43 (44); BVerfGE 92, 1 (12). 16 BVerfGE 126, 170 (196 f.); BVerfG, NJW 2015, 2949 (2954 Rdnr. 64); krit. dazu Kempf  / ​ Schilling, NJW 2012, 1849 (1852); Schmitz, in: MüKo-StGB, § 1 Rdnr. 52 ff. 17 BVerfGE 28, 175 (183); 126, 170 (196); vgl. auch Hecker, in: Sch / Sch-StGB, § 1 Rdnr. 20. 18 Kempf / Schilling, NJW 2012, 1849 (1851 f.). 19 Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 13.

A. Das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG

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turen zu erreichen, um sie für eine begrenzte Selbstregulierung zu nutzen und sich den normativen und empirischen Unsicherheiten zu entziehen.20 Bevor aber eine pauschale Unvereinbarkeit prozeduralen Strafrechts mit dem Gesetzlichkeitsprinzip festgestellt wird, muss man sich erneut mit dem dargestellten Wesen prozeduralen Strafrechts auseinandersetzen. Das Grundanliegen prozeduralen Strafrechts besteht in einer Entkriminalisierung, nicht in einer Kriminalisierung.21 Ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften wird nur bei Bestehen einer speziellen strafrechtlichen Norm, die diesen Verfahrensverstoß pönalisiert, sanktioniert, vorausgesetzt, die materiellen Voraussetzungen liegen im Übrigen vor.22 Insofern ist darauf hinzuweisen, dass das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot an täterbegünstigendes Recht schon nicht die gleichen, strengen Anforderungen stellt wie an täterbelastendes Recht,23 sollte prozedurales Recht im Ausgangspunkt auch einen Bestimmtheitsgrad aufweisen müssen, der es dem Normadressaten ermöglicht, sich normkonform zu verhalten.24 Dieser muss erkennen können, welches Verhalten prozedurales Strafrecht von ihm verlangt. Gerade aber die prozedurale ex ante-Vorgehensweise ermöglicht es, die Straflosigkeit einer nachfolgenden rechtsgutsverletzenden Handlung vorab zu überprüfen und dadurch Rechtssicherheit für die Betroffenen zu schaffen.25 Prozedurale Taktiken gewährleisten eine Vorhersehbarkeit strafrechtlicher Konsequenzen in größerem Maße als repressives Strafrecht. Es gleicht indes einer Fehlvorstellung, dass prozedurales Strafrecht mit einer vollkommenen strafrechtlichen Absenz verbunden ist.26 Prozedurales Strafrecht gibt zwar nur einen verfahrensrechtlichen Rahmen vor; in diesem bestehen allerdings rechtliche Handlungsanweisungen, weshalb das Adjektiv „reguliert“ im Schlagwort der „regulierten Selbstregulierung“ durchaus seine Berechtigung besitzt. Die Verfahrensregelungen sorgen für eine regulierende gesetzliche Präsenz. Besonders in Bereichen, in denen der Gesetzgeber aufgrund Bestimmungs- und Bewertungsunsicherheiten des materiellen Rechts nur zögerlich interveniert oder sich einer Regulierung vollständig enthält, leisten gesetzliche Verfahrensbestimmungen einem völligen Regelungsverdruss resistenten Widerstand. 20

Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 266 f. m. w. N. Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (450); a. A. Arzt, in: GS Wolf, S. 609 (619) mit Fn. 28: „Nicht Legalisierung, sondern Kriminalisierung ist das Ziel der Prozeduralisierung!“ Diese Aussage hat nach den beschriebenen Charakterzügen prozeduralen Rechts keinen Bestand. 22 Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (613). Dies ist nicht völlig unbestritten, vgl. dazu unter 7.  Kap.  C. I. 6. b) bb). 23 Vgl. BVerfGE 73, 206 (238 f.); Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 226 f.; Hecker, in: Sch / Sch-StGB, § 1 Rdnr. 19; Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 235 f. m. w. N.; indes skeptisch Radtke, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 103 Rdnr. 41.1; vgl. aktuell ferner VGH München, BeckRS 2019, 3721 Rdnr. 70. 24 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 235 f. 25 So auch Popp, ZStW 118 (2006), 639 (667). 26 Nochmals Saliger, KritV 1998, 118 (146). 21

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6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen 

Wie bereits erläutert, verlangt der Bestimmtheitsgrundsatz – davon abgesehen – keine Bestimmtheit um jeden Preis.27 Er duldet eine „kalkulierte Unbestimmtheit“28 und ist von einem Zusammenspiel aus „Präzision und Flexibilität“ geprägt.29 Andernfalls wären sämtliche Entscheidungsprogramme wie die Verwendung von Generalklauseln oder auch die Anwendung des Opportunitäts­prinzips verfassungswidrig.30 Der Gesetzgeber muss sich, um seinen Regelungsauftrag nicht zu verfehlen, auch durch alternative Steuerungstechniken entlasten können.31 Der Bestimmtheitsgrundsatz und die Dynamik der Sicherungsmaßnahmen dienen beide dem Grundrechtsschutz.32 Prozedurales Strafrecht enthält ebenfalls eine gewisse Flexibilität und stellt einen Rahmen der Entscheidungsfindung zur Verfügung. Es gewährt Raum für Einzelfallgerechtigkeit. Die Bestimmtheitsqualität wird gerade durch ein „Rechtsanwendungsprogramm“ gesichert.33 Eine „Programmsicherung“34, also die „Bestimmbarkeit des Verfahrens […] [durch] ehrliche Methodik, nachvollziehbare und in diesem Sinn transparente Arbeitsvorgänge“ wahrt damit das Bestimmtheitsgebot.35 Im Ergebnis ist damit festzustellen, dass das Bestimmtheitsgebot durch den Einbau flexibler strafrechtlicher Entscheidungsstrukturen nicht per se verletzt wird.36 Prozedurales Strafrecht kollidiert nicht in grundsätzlicher Weise mit dem Gesetzlichkeitsprinzip. Es fördert es sogar in gewisser Hinsicht.

B. Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie Der Vorbehalt des Gesetzes entspringt dem Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG37 und stellt eine ebenso tragende Säule wie das Gesetzlichkeitsprinzip dar. Er fordert, dass gesetzlich ausdrücklich vorgesehene Grundrechtseingriffe nur 27

Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 268; Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 19. 28 Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rdnr. 185. 29 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 268; Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 19 m. w. N. 30 Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 17a. 31 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 264. 32 Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (8). 33 Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 20; auch Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 267 erachtet eine „ausreichende Orientierungsmöglichkeit“ als mit dem Bestimmtheitsgebot vereinbar. 34 Hassemer / Kargl, in: NK-StGB, § 1 Rdnr. 20; vgl. auch Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 268. 35 Müller / Christensen, Juristische Methodik, Rdnr. 182 (Hervorhebung auch im Original). 36 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 270. 37 So BVerfGE 40, 237 (248 f.); 49, 89 (126). Den Gesetzesvorbehalt dem Demokratieprinzip entnehmend BVerfGE 85, 386 (403 f.); 95, 267 (307 f.). Nach BVerfGE 105, 279 (305) entspringt der Vorbehalt des Gesetzes sowohl dem Rechtsstaats- als auch dem Demokratieprinzip; ebenso Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 20 Rdnr. 173.

B. Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie

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durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen.38 Neben Rechtssicherheit und Transparenz wird dadurch vor allem auch dem demokratischen Rückkoppelungsgebot Rechnung getragen.39 Das Bundesverfassungsgericht hat aus dem Vorbehalt des Gesetzes einen allgemeinen Parlamentsvorbehalt dergestalt hergeleitet, dass „wesentliche“ Entscheidungen des Zusammenlebens nur durch einen Parlamentsbeschluss legitimiert werden können.40 Die Form der Parlamentsentscheidung ist zwar insofern irrelevant, das Parlament muss aber jedenfalls in verbindlicher Form entscheiden.41 Nach der sog. Wesentlichkeitstheorie ist das Parlament darüber hinaus verpflichtet, die für die Grundrechtsausübung maßgeblichen Regelungen, soweit diese staatlicher Regulierung zugänglich sind, im Wesentlichen selbst und durch Gesetz zu treffen.42 Die Wesentlichkeitstheorie stellt damit eine „Substantiierung des Parlamentsvorbehalts“43 dar. Auch in dieser Hinsicht scheint prozedurales Strafrecht in seiner charakterlichen Komponente des Einbezugs und der Entscheidungsverantwortlichkeit Privater einen natürlichen Feind des Verfassungsrechts zu symbolisieren. Prozedurales Strafrecht setzt mitunter auf Kooperation und Delegation von Entscheidungs­ befugnissen an privat involvierte Personen und impliziert damit zunächst eine Abkehr von der demokratischen Rückkoppelung durch gesetzgeberisch legitimierte Entscheidungen.44 Nachdem Strafrechtsnormen wegen ihrer ultima ratioFunktion stets den Schutz wichtiger Rechtsgüter vor Augen haben müssen, sind bei ihrem Eingreifen auch stets grundrechtliche Bereiche tangiert; selbstregulativen Verfahren im Strafrecht kann in Folge dessen nur ein enger Spielraum überlassen werden.45 Die letztgültige Entscheidung über Schuld und Strafe kann nicht prozeduralisiert werden, weil der Staat das Gewaltmonopol über die Strafe behalten muss.46 Bei einer Prozeduralisierung im Bereich des Medizinstrafrechts werden Entscheidungen zudem besonders häufig in extrem grundrechtssensiblen Bereichen gefällt; es handelt sich oftmals um die Grenzgebiete von Leben und Tod. Dass der Gesetzgeber gerade in diesen kompromisslosen Alles-Oder-Nichts-Entscheidungssituationen Privatpersonen weitreichende Entscheidungsbefugnisse zugesteht, erscheint zunächst abstrus. Prozedurale Lebensschutzkonzepte des Strafrechts, so scheint es, dürften nicht in private Hände gelegt werden, sondern müssten 38

Vgl. Germann, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 4 Rdnr. 49.1. Huster / Rux, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 20 Rdnr. 105; vgl. auch Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 214 f. 40 BVerfGE 49, 89 (126 f.); 90, 286 (363 ff.); 104, 151 (208); 121, 135 (154). 41 Schmidt, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 267. 42 BVerfGE 33, 125 (158 f.); 34, 52 (60); 34, 165 (192 f.); 41, 251 (260); 45, 400 (417 f.); 47, 46 (78 f.); 49, 89 (126 f.); 83, 130 (142, 152); 84, 212 (226); 101, 1 (34); Schmidt, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 89. 43 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 262. 44 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 253. 45 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 263. 46 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (646). Danach dürfe der Staat öffentliche Strafen „niemals aus der Hand geben“. 39

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6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen 

vom Gesetzgeber auch selbst parlamentarisch entschieden und effektiv reguliert werden.47 Andererseits ist der Einbezug Privater in Entscheidungsvorgänge dem Recht nicht per se fremd. Beispielsweise werden Privatrechtssubjekte (natürliche oder juristische Personen) als sog. Beliehene mit Verwaltungsaufgaben zur hoheitlichen Wahrnehmung im eigenen Namen betraut.48 Auch werden in bestimmten Bereichen Interessenvertreter aufgrund ihrer speziellen Sachkenntnis in den Entscheidungsvorgang miteingebunden. Wenn der Aufgabenbereich mitsamt Befugnissen ausreichend abgesteckt ist und hinreichende Kontrollen bestehen, kann insofern eine Durchbrechung des Demokratieprinzips gerechtfertigt sein.49 Interpretiert man prozedurales Strafrecht in dem Sinne, dass es das materielle Recht nur ergänzen, nicht aber ersetzen können soll, so ergeben sich im Hinblick auf die Wesentlichkeitstheorie weniger schwerwiegende Bedenken, weil prozedurales Recht materielles Recht dann nicht überlagert.50 Das jeweilige Verständnis von Prozeduralisierung hat damit auch Auswirkungen auf die Vereinbarkeit mit der Wesentlichkeitstheorie. Selbst wenn prozedurales Strafrecht aber auch an die Stelle des materiellen Rechts treten können sollte, so ist sich letztendlich wiederum die grundsätzliche Entkriminalisierungswirkung prozeduralen Strafrechts51 und auch das Konzept der „regulierten Selbstregulierung“ in Erinnerung zu rufen. Prozedurales Strafrecht soll einen „fairen Deal“ anbieten und Straffreiheit verschaffen. Der Strafgesetzgeber hat durch ein formelles Parlamentsgesetz selbst zu statuieren, welches Verhalten er als grundsätzlich strafwürdig erachtet. Er muss also die wesentlichen Beschränkungen des Grundrechts selbst bestimmen. Die Beachtung prozeduraler Vorgaben kann dann als konzipierte Ausnahme oder auch als praktischer Regelfall dazu führen, dass es sich – vereinfacht ausgedrückt – um „keinen Fall für das Strafrecht mehr handelt“. Auch bedeutet prozedurales Strafrecht als solches  – wie dargelegt  – keine gänz­liche Verantwortungsdelegation, sondern es enthält durchaus legislative Vorgaben  – sollten sich diese auch auf einen Entscheidungsrahmen beziehen. Der Gesetzgeber kann durch Parlamentsgesetze bestimmen, dass an konkrete medizinstrafrechtliche Stellen ein verfahrensrechtliches Element treten soll und wie dieses Verfahren in concreto durchzuführen ist. In diesem Rahmen kann er die wesentlichen Verfahrensschritte vorgeben und gesetzlich strukturieren.52 Er kann im Ergebnis entscheiden, welcher Entscheidungsträger nach welchen Entschei 47

Vgl. Jung, JZ 2012, 926 (930): „Der Respekt vor dem Leben […] erlaubt also so gut wie keine pluralen Sonderwege.“ 48 Ronellenfitsch, in: Bader / Ronellenfitsch, BeckOK-VwVfG, § 1 Rdnr. 70 ff.; Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 1 Rdnr.  246. 49 BVerfGE 107, 59 (91 ff.). 50 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 237. 51 Vgl. dazu die im 5. Kap. entwickelte Definition prozeduralen (Medizin-)Strafrechts. 52 Vgl. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 217, wonach zumindest Verfahrensregeln zu schaffen seien, wenn ein konditionelles Gesetzgebungsprogramm nicht möglich ist.

B. Parlamentsvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie

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dungskriterien und unter welchen Entscheidungsbedingungen eine Entscheidung trifft. Auch durch den Einsatz prozeduralen Strafrechts an einer bestimmten Stelle vertritt der Gesetzgeber die Ansicht, dass die Entscheidung durch Private oder Fachspezialisten zumindest ex ante besser getroffen werden kann. Ausschlaggebend sind in diesem Zusammenhang Bewertungsunsicherheiten des materiellen Rechts. Kann der Gesetzgeber aus ethisch-pluralen oder empirisch nicht entscheidbaren Gründen eine abstrakt-generelle Regelung „en detail“ im Vorhinein nicht verantworten, so sind es gerade die Grundrechte, die in diesen Situationen eine Verfahrens- und Entscheidungsbeteiligung der jeweils Betroffenen nahelegen. Das Recht bedient sich an dieser Stelle institutionalisiertem Einfühlungsvermögen als Korrektiv und sucht einen Ausweg aus Bereichen, die sich reiner Rechtsanwendung verschließen. Allerdings ist der Gesetzgeber verpflichtet, im Kern selbst zu entscheiden, welche Grundrechtsausübungen verboten sind und welche unter dem Vorbehalt verfahrensrechtlicher Bedingungen straffrei gestellt werden können. Indem die Wesentlichkeitstheorie fordert, dass der Gesetzgeber wesentliche grundrechtsrelevante Entscheidungen nicht aus der Hand gibt, soll sie Grundrechtseingriffe entsprechend demokratisch legitimieren. Im Parlament sollen divergierende Ansichten erkannt und zum Ausgleich gebracht werden, bevor sie in ein abstrakt-generelles Gesetz gegossen werden.53 Diese Intention ist ebenfalls eine Intention von Prozeduralisierung. Durch das prozedurale Verfahren sollen Informationen gesammelt und konträre Ansichten ausgetauscht werden, bevor eine Entscheidung für den Ernstfall getroffen wird. In diesem Sinne enthält Prozeduralisierung auch ein wichtiges demokratisches Element. Die wesentlichen Grundentscheidungen aber, die die Verwirklichung grundrechtlicher Freiheiten betreffen, müssen vom Gesetzgeber zumindest im Kern selbst getroffen werden. Dies stellt eine – wenn auch sehr unbestimmte – Schranke prozeduralen Strafrechts dar,54 schließt aber andererseits die grundsätzliche Vereinbarkeit prozeduraler Strukturen mit dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe nicht aus. Im Ergebnis lässt sich somit festhalten, dass die Wesentlichkeitstheorie einem prozeduralen Strafrecht nicht per se entgegensteht, sondern dass es für die Verfassungskonformität prozeduralen Strafrechts auch in diesem Bereich auf die konkrete gesetzliche Ausgestaltung ankommt. Dabei spielt es eine Rolle, ob die wesentlichen Entscheidungsstränge bereits durch ein Gesetz getroffen werden oder das Wesentliche der Grundrechtsbetätigung erst im anschließenden medizin­ strafrechtlichen Verfahren zu einer verbindlichen Entscheidung gelangt.

53 54

Eberle, DÖV 1984, 485 (489 f.). Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 262.

172

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen 

C. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das ultima ratio-Prinzip im Strafrecht Das Strafrecht unterliegt im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten in besonderem Maße dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, welchem auch das ultima ratio-Prinzip entnommen wird. Unter diesem versteht man eine fortwährende Überprüfung strafrechtlicher Normen auf ihre Existenzberechtigung hin. Das Strafrecht als schärfste Waffe des Staates darf nur eingesetzt werden, wenn andere Mittel keine Aussicht auf Erfolg (mehr) versprechen, ein Rückgriff auf alternative Regelungsinstrumentarien also nicht in Frage kommt.55 Werden strafrechtliche Gebote unter dieser Prämisse eingesetzt, so muss auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprochen werden. Jede Verfahrensvorgabe, welche die Betroffenen zu erfüllen haben, stellt sich neben der damit aufgebürdeten persönlichen Verfahrensverantwortlichkeit zu­ mindest als ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG dar.56 Prozedurales Strafrecht muss demnach ebenso geeignet, erforderlich und angemessen i. e. S. sein wie materielles Strafrecht.57 In diesem Zusammenhang ist sich besonders die Natur prozeduralen Strafrechts als Ausprägung eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren ins Gedächtnis zu rufen.58 Prozedurales Strafrecht soll Rechtsbegründungs- und Rechtserzeugungsdefiziten eines materiellen Strafrechts Abhilfe leisten. Der materielle Rechtsgüterschutz stellt insofern „Grund und Grenze“ eines prozeduralen Strafrechts dar.59 Geht prozedurales Strafrecht aber über die Grenze eines an dieser Stelle hypothetisch gedachten materiellen Strafrechts in puncto Verhältnismäßigkeit hinaus, handelt es sich um einen verfassungsrechtlich unzulässigen „Hyperprozeduralismus“.60 Übt prozedurales Strafrecht in seiner Form also eine grundrechtsbeeinträchtigendere Wirkung aus als an seiner Stelle gedachtes materielles Strafrecht bzw. ein Totalverbot der Handlung, so schlägt seine grundrechtsschützende Funktion in ihr Gegenteil um.61 Ebenso wie die eingangs untersuchten Verfassungs 55

Sondervotum des Richters Hassemer, BVerfGE 120, 255 (256 f.); Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, S. 245. 56 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 171. 57 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 224; Saliger, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 265 (276). 58 Vgl. dazu unter 3. Kap. A. I. sowie 5. Kap. 59 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (133 ff.); Saliger, in: FS Hassemer, S. 599 (605). 60 Saliger, in: Joerden / Hilgendorf / Thiele, Menschenwürde und Medizin, S. 265 (286); Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (451); vgl. auch Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 230 ff. 61 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (121); Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (133); Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (452).

D. Das Untermaßverbot

173

prinzipien stellt dieses Prinzip aber keinen grundsätzlichen Einwand dar, sondern kann naturgemäß erst nach einer konkreten Gesetzesbetrachtung als verletzt angesehen werden.62

D. Das Untermaßverbot Auf der Kehrseite des Verhältnismäßigkeitsprinzips stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit prozeduralen Strafrechts mit dem verfassungsrechtlichen Untermaßverbot und damit die Frage, ob Verfahrensregelungen überhaupt einen ausreichenden Rechtsgüterschutz gewährleisten können.63 Das Untermaßverbot ist in seiner Existenzberechtigung nicht unumstritten.64 Es bringt zum Ausdruck, dass Grundrechten nicht nur eine negative Abwehrfunktion gegenüber staatlichen Eingriffen innewohnt, sondern dass sie ebenso eine positive Komponente aufweisen, die eine grundrechtliche Schutzpflicht für den Staat impliziert.65 Das staatliche Gewaltmonopol, das Selbsthilfe des Bürgers grundsätzlich verbietet, führt dazu, dass der Staat für die Abwendung nichtstaatlicher, grundrechtlicher Gefahren zu sorgen hat.66 Das Prinzip des Untermaßverbots statuiert im Gegensatz zum Übermaßverbot aber keine staatlichen Unterlassungsgebote, sondern vielmehr Handlungsgebote.67 Es kann aber aufgrund seiner Abstraktheit nur eine Einzelfallkontrolle ermöglichen,68 präzise Handlungsgebote können aus ihm hingegen nicht abgeleitet werden, weil sich der Charakter in einer Zielvorgabe erschöpft.69 Auch dieses Verfassungsprinzip wird daher in seiner Anwendung stark relativiert. Dem Gesetzgeber steht ein relativ großzügiger Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage zu, wie und in welchem Maße er seiner Schutzpflicht gerecht werden will.70 Eine Verletzung des Untermaßverbotes kann erst angenommen werden, wenn der Gesetzgeber gar keine oder völlig ungeeignete Schutzmaßnahmen trifft und damit eine evidente Verletzung gegeben ist (sog. Evidenzformel).71 62

Vgl. Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (124). Vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 218. 64 Zum Teil wird angenommen, dass das Untermaßverbot neben dem Übermaßverbot keine eigenständige Bedeutung besitze (sog. Kongruenztheorie), vgl. Hain, DVBl. 1993, 982 (983); Starck, JZ 1993, 816 (817); a. A. Klein, JuS 2006, 960 (961 ff.). 65 BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 56, 54 (78 f.); 88, 203 (254 f.); 90, 145 (195); 115, 118 (152); 115, 320 (346 f.); 121, 317 (356); BVerfG, NJW 2017, 53 (55 Rdnr. 69). 66 Klein, JuS 2006, 960. 67 Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561 (567). Er bezeichnet Über- und Untermaßverbot daher auch als „Bremse […] [und] Motor legislativen Handelns“, Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561 (569). 68 Klein, JuS 2006, 960 (964). 69 Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561 (567). 70 Vgl. Klein, JuS 2006, 960 (960 f.). 71 St. Rspr. BVerfGE 46, 160 (164 f.); 56, 54 (80 f.); 77, 170 (215); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.); 92, 26 (46); 96, 56 (64); 125, 39 (78 f.); 133, 59 (76 Rdnr. 45); BVerfG, NJW 2017, 53 (55 Rdnr. 70). 63

174

6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen 

Prozedurales Strafrecht bedeutet tendenziell eine Abkehr von materiellrechtlichen Vorgaben. Damit wird nicht selten ein Verlust an strafrechtlichem Schutz und eine Einbuße an rechtsgutsschützender Effizienz verbunden. So heißt es, Strafrecht entziehe sich achtlos seiner Schutzpatronaufgabe und überlasse die Verantwortung über die Strafgewalt lapidaren und wirkungslosen Verfahren, die zudem von Privaten betrieben würden. Prozedurales Strafrecht sichere nicht mehr unmittelbar die schützenswerten Rechtsgüter selbst, sondern gewährleiste nur noch einen mittelbaren Schutz, indem es präventiv die verfahrensrechtlichen (Entscheidungs-)Bedingungen absichere.72 Durch eine Prozeduralisierung komme es damit im Ergebnis zu einer gefährlichen Verwässerung des Rechtsgüterschutzes.73 Nur eine im Kern materiell dominierte Strafvorschrift könne Rechtsgutsgefährdungen effektiv Herr werden. Hassemer stellt in diesem Zusammenhang fest, dass es sich bei einer strafrechtlichen Prozeduralisierung um ein „süßes Gift“ bzw. einen „glitzernde[n] Gegenstand“ handele.74 Zum Ausdruck gebracht wird damit, dass eine strafrechtliche Prozeduralisierung durch das Angebot nützlicher Strukturen zwar neue Effektivität suggerieren könne, dass aber der Rechtsgüterschutz in der Realität schleichend und unbemerkt verkomme. Gewarnt wird vor einer zu optimistischen und blinden Verfahrenssympathie, die das materielle Recht zu ihren Gunsten vollends verdrängen könnte. Prozeduralisierungen könnten nicht immer halten, was sie versprechen. Das Untermaßverbot müsste unter diesen Gegebenheiten speziell einer pro­ zeduralen Rechtfertigung kritisch gegenübertreten. Eine prozedurale Rechtfertigung kann kein „besseres Recht“ zur Verletzung eines Rechtsguts vorweisen.75 Sie erklärt eine Rechtsgutverletzung allein aufgrund eines eingehaltenen Verfahrens für zulässig.76 Mit der verfahrensrechtlichen Rechtfertigung eines Handelns scheidet auch eine dagegen gerichtete Nothilfehandlung mangels rechtswidrigen Angriffs zwingend aus. Besonders die Rechtfertigung eines Handelns aufgrund (bloßer) Beachtung verschiedener Verfahrensschritte könnte daher mit dem Untermaßverbot in Konflikt geraten. Das Ende des Verfahrens sei – so könnte die Kritik lauten – wichtiger als die materielle Richtigkeit. Bei der Verwirklichung von Straftatbeständen handele es sich aber nicht um eine Tätigkeit wie „Spazierengehen“ oder „Kaffeetrinken“,77 sondern um gewichtige Rechtsguteingriffe, die eines stärkeren Schutzes bedürf 72 Eser, in: Frisch, Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, S. 9 (27); in diese Richtung auch Leite, GA 2018, 580 (586), allerdings im Hinblick auf den Vermögensschutz im Rahmen des § 266 StGB. 73 Vgl. Arzt, in: GS Wolf, S. 609 (618 f.); vgl. auch Eser, in: Frisch, Gegenwartsfragen des Medizinstrafrechts, S. 9 (27): „Mediatisierung von Rechtsgütern“. Dies mindere den Wertgehalt des Strafrechts im Allgemeinen; zust. wohl Sternberg-Lieben, in: FS Roxin, S. 537 (550). 74 Hassemer, in: FAZ Nr. 9/2011, S. 28. 75 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (732). 76 Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdnr. 7a. 77 So etwas überspitzt Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (740).

E. Ergebnis 

175

ten. Im Endeffekt kann sich Prozeduralisierung wohl häufig nur schwer gegen die Aussage wehren, sie fabriziere nur „faule Kompromisse“78 und stelle „immer eine unvollständige Notlösung dar“79. Prozeduralisierungsgegner stufen die präven­ tiven, verfahrensrechtlichen Bemühungen um Rechtssicherheit als naiven Irrweg auf der Suche nach endgültigen Ergebnissen ein; der Wunsch nach klaren Trennlinien zwischen Gut und Böse sei nachvollziehbar aber eine rechtliche Illusion, mit der es sich abzufinden gelte.80 Auf der übereiferten Suche nach (Rechts-)Sicherheit gehe der materielle Schutz verloren. All diese Vorwürfe, prozedurales Recht könne die Schutzwirkung materiellen Rechts nicht erreichen, sondern gewissermaßen nur heucheln, überzeugen in dieser Pauschalität aber alleine nicht, um eine Unvereinbarkeit prozeduralen Strafrechts mit dem Untermaßverbot ausmachen zu können. Prozedurales Strafrecht soll gerade die materiellrechtlichen Defizite ausgleichen und in Situationen eines spezifischen Nichtwissens oder moralischen Unwägbarkeiten grundrechtsschützend eingreifen. Es entfaltet in diesen Konstellationen gerade überbrückende Wirkung und manifestiert ein Rechtsgutskonzept durch Verfahren.81 Auch in dieser Hinsicht ist also eine konkrete Gesetzesüberprüfung zwingend erforderlich.82 Von Be­deutung ist auch die konkrete Ausgestaltung des Verfahrens. Im Einzelfall kann womöglich eine prozedurale Strafnorm das erforderliche Schutzpflichtniveau unterschreiten. Dies dürfte aufgrund des oben angesprochenen weiten Spielraums des Gesetz­ gebers aber wohl eher die Ausnahme darstellen.

E. Ergebnis zu den verfassungsrechtlichen Grenzen prozeduralen Rechts Nach Darstellung und Analyse möglicher verfassungsrechtlicher Grenzen prozeduralen Rechts lässt sich feststellen, dass nicht nur das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wesentlichkeitstheorie, sondern auch das Über- und Untermaßverbot einer Prozeduralisierung im Strafrecht durchaus ihre Grenzen aufweisen. Nachdem prozedurales Recht schon seinem Wesen nach einem Verstoß gegen letztgenannte Verfassungsprinzipien geneigter sein könnte als klassisch repressives Strafrecht, ist einzugestehen, dass bei einer Prüfung prozeduralen Strafrechts besonderes Augenmerk auf seine Verfassungskonformität zu legen ist, weil es verfassungsrechtliche Grenzen gewissermaßen austestet. Dennoch führt die strukturelle Extravaganz prozeduralen Strafrechts nicht allgemein und per se zu einer Kollision mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen. Ein derart pauschales Ergebnis vermag – nicht zuletzt auch unter Verweis auf andere vergleichbar existierende strafrecht 78

Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (749). Leite, GA 2018, 580 (595). 80 Vgl. Arzt, in: GS Wolf, S. 609 (619 f.). 81 Vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 223. 82 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (124). 79

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6. Kap.: Verfassungsrechtliche Grenzen 

liche Regelungsalternativen – nicht zu überzeugen. Es hängt schließlich von der jeweiligen rechtlichen Ausgestaltung prozeduralen Strafrechts ab, ob dieses als verfassungsrechtlich legitim eingestuft werden kann. In diesem Kontext ist zudem Hassemer und Saliger beizupflichten, die überzeugend betonen, dass prozedurales Strafrecht nicht gänzlich im Sinne eines strafrechtlichen „Paradigmenwechsels“ an die Stelle des klassischen Strafrechts treten soll,83 sondern dass es vereinzelt und nur dann zum Einsatz kommen soll, wenn das materielle Recht seine Schutzpflicht nicht mehr in ausreichendem Maße verwirklichen kann.84 Eine prozedurale Revolutionierung des Strafrechts in sämtlichen Bereichen ist nicht erstrebenswert. Das Medizinstrafrecht weist aber durchaus erkennbare prozedurale Synapsen auf, weshalb sich im Folgenden der prozeduralen Analyse der strafrechtlichen Vorschriften zum Schutz des menschlichen Lebens zugewendet werden soll. Im nachfolgenden Kapitel wird untersucht, ob die strafrechtlichen Regelungen, die in Kapitel 2 ausführlich dargestellt wurden, unter das in Kapitel 5 erarbeitete Prozeduralisierungsverständnis gefasst werden können. Zudem soll in diesem Zusammenhang eruiert werden, ob eine Prozeduralisierung an diesen Stellen funktional gerechtfertigt ist.

83

Hassemer, in: FAZ Nr. 9/2011, S. 28; Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (439); zust. auch Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 103 mit Fn. 419. 84 Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (450).

7. Kapitel

Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte Die folgende induktive Analyse soll die Prozeduralisierung der entsprechenden Rechtsbereiche am Anfang und am Ende des Lebensschutzes rechtssoziologisch zu rekonstruieren versuchen. Die Teilmaterien werden dahingehend untersucht, ob und in welchem Maße sie prozeduralisiert wurden. Abschließend sollen zu jeder gesetzlichen Regelung die Gründe herausgearbeitet werden, die hinter dem jeweils gemeinsamen Nenner der Prozeduralisierung stehen. Daraus soll sich abschließend ein übergreifendes Bild der Prozeduralisierungsintentionen ergeben.

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB Nachfolgend soll insbesondere die Regelung des § 218a Abs. 1 StGB auf die in der Definition prozeduralen Medizinstrafrechts aufgeführten prozeduralen Charakteristika und die jeweilige Intensität ihrer Ausprägung hin untersucht werden. Im Anschluss daran soll das vorherrschende Meinungsbild in der Literatur hinsichtlich der Einordnung der Vorschrift als Prozeduralisierung abgebildet werden. Danach erfolgt eine Kategorisierung mithilfe des eigenen Begriffsverständnisses von Prozeduralisierung. In diesem Zusammenhang werden auch die möglichen prozeduralen Intentionen der Vorschrift offengelegt und das Fazit gezogen, ob der Regelungskomplex im Ergebnis – falls zuvor als Prozeduralisierung eingestuft – auch zu Recht Teil einer solchen sein sollte.

I. Analyse der §§ 218 ff. StGB hinsichtlich prozeduraler Elemente Die §§ 218 ff. StGB werden im Folgenden auf die einzelnen prozeduralen Merkmale, die in Kapitel 5 als Bestandteile der Definition eines prozeduralen Medizinstrafrechts festgelegt wurden, hin analysiert. Daraus soll die Erkenntnis gewonnen werden, in welchem Maße der Regelungskomplex von Prozeduralität geprägt ist.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

1. Das Schwinden materiellrechtlicher Normen Ohne auf Spezifika der Norm einzugehen, erweist sich bereits der verfassungsrechtliche Status des Embryos in vivo als primär fehlendes materiellrechtliches Bekenntnis. Obwohl die Rechtsprechung ihm ein Lebensrecht zuspricht, ergibt sich aus der Verfassung nicht in zwingender Weise, dass ihm ein solches zusteht. Der Verfassungsgeber schweigt bereits im Ausgangspunkt zu dieser grundlegenden Frage, die Bedeutung für viele rechtliche Anschlussnormen besitzt. Neben der Nichtexistenz einer diesbezüglichen grundsätzlichen Stellungnahme lassen sich aber weitere materiellrechtliche Rückzugstendenzen des Gesetzgebers im Bereich der Normierung des Rechts des Schwangerschaftsabbruchs ausmachen. Das geltende Recht zum Schwangerschaftsabbruch sieht seit dem SFHG keine durch Drittpersonen überprüfbare soziale Notlagenindikation1 mehr vor. Nach § 218a Abs. 2 Nr. 3 StGB a. F. wurde eine Strafbarkeit nach § 218 StGB a. F. ausgeschlossen, wenn von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abgewendet werden musste, in Folge derer es der Frau nicht zugemutet werden konnte, die Schwangerschaft fortzuführen. Das materielle Kriterium der „Notlage“ wurde allerdings sehr weitläufig gewährt und zusehends ausgehöhlt, weshalb die Notlagenindikation praktisch einer Fristenregelung ähnelte.2 An die Stelle dieser – wenn auch faktisch ausschweifend praktizierten – so zumindest inhaltlich determinierten Regelung ist das Beratungskonzept des § 218a Abs. 1 StGB getreten,3 welches anstatt einer auf kodifizierten Rechtfertigungsvoraussetzungen aufbauenden repressiven Strafdrohung primär auf eine Kooperation mit der Schwangeren setzt. Die materiellrechtliche Definitionsgewalt des Staates ist insofern gewichen: „Wo er [der Staat] nicht bestimmen kann, bleibt ihm nur, guten Rat zu geben.“4 Die fein detaillierte Ausgestaltung des gesetzgeberischen „Ratschlags“ im Sinne konkreter Vorgaben für das Beratungsverfahren verbildlicht die Kompensation materiellrechtlicher Kriterien. Letztere – so heißt es – traue sich der Gesetzgeber in einer derart existenziellen Situation nicht zu.5 Das Gesetz könne bei moralisch behafteten Gewissensentscheidungen eines Einzelnen „nicht mit unflexiblen Rechtssätzen“ reagieren, sondern müsse zur Konfliktbewältigung auch Lösungsansätze außerhalb des (Straf-)Rechts heranziehen.6 1

Generell kritisch zu dieser Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1387 f.), der zusätzlich Art. 6 Abs. 2 GG als maßgebliche Norm für die Beurteilung der „Opfergrenze“ der Schwangeren heranzieht. 2 Vgl. BVerfGE 88, 203 (326 f.); Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 4; Hoer­ ster, JuS 1995, 192 (193); Satzger, Jura 2008, 424 (426); Tröndle, NJW 1995, 3009. 3 Jakobs, JR 2000, 404 (405); vgl. Eschelbach, in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK-StGB, § 218a Rdnr. 12; vgl. Schulz, StV 1994, 38 (45): „Rückzug aus der materiellen Position“. 4 Jakobs, JR 2000, 404 (407). 5 Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 141. 6 Schweiger, ZRP 2018, 98 (100). Zur Problematik einer postdeliktischen Einflussnahme des Strafrechts auf das Gewissen des Täters s. Kölbel, in: FS Roxin, S. 1913 (1925 f.). Danach

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

179

Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Schwangere einerseits willens ist, die Hilfe und Unterstützung der Beratungsstelle anzunehmen und andererseits nach erfolgter Beratung auch im Stande ist, eine Entscheidung zu treffen, die repräsentativ und funktional an die Stelle der materiellen Regelung einer sozialen Indikationslage treten kann. Zur Unterstützung der Rationalität der Entscheidung werden vielfältige Regelungen eingesetzt, die allesamt den Entscheidungsprozess der Schwangeren absichern sollen. Hierzu zählt beispielsweise die Karenzfrist des § 218a Abs. 1 Nr. 1 StGB, die einen nochmaligen eigenen Überlegungszeitraum der Schwangeren zwischen Beratung und Schwangerschaftsabbruch garantieren und einer übereilten Entscheidung vorbeugen soll. Ebenso zählt dazu die Pflicht des abbrechenden Arztes nach § 218c Abs. 1 Nr. 1 StGB, der Schwangeren die Gelegenheit zur Darlegung ihrer Abbruchsgründe zu geben sowie die Pflicht des Arztes nach § 218c Abs. 1 Nr. 2 StGB, die Schwangere über den Eingriff und seine Folgen hinreichend zu beraten.7 Dass die Verfahrensbeachtung aber in jedem Falle die materielle Regelung gleichwertig ersetzen kann,8 in der konkreten Lage also immer eine von Dritten auch festgestellte Indikation konstatiert werden würde, daran zweifelt das Bundesverfassungsgericht und mit ihm der Gesetzgeber allerdings gerade. In Folge dieser Zweifel wurde die dogmatisch brüchige Figur des Tatbestandsausschlusses bei gleichzeitig fortbestehender Rechtswidrigkeit ins Leben gerufen, um einer prozeduralen Rechtfertigung letztendlich den Weg zu versperren. Das als prozedural zu bezeichnende Schwinden materiell-determinierender Normen durch den gleichzeitigen Einsatz verfahrensförmiger Kautelen ist vorliegend also verwirklicht, auch wenn die Zweifel, dass die materielle Regelung tatsächlich vollwertig durch die Entscheidung der Schwangeren ersetzt werden könne, zu einer dogmatisch auf weitem Flur alleinstehenden Konstruktion geführt hat. Die auch vom Gesetzgeber geäußerten Bedenken diesbezüglich beschränken sich in der Literatur allerdings nicht auf die äquivalente Funktionalität der Entscheidung der Schwangeren, sondern richten sich vor allem gegen die dadurch geänderte Schutzrichtung des Strafrechts.9 Das Strafrecht predige zwar den Lebensschutz als höchstes Verfassungsgut,10 gebe ihn dann aber mit dem wirkungslosen spielt auch in dieser retrospektiven Situation nach der strafrechtlich relevanten Handlung das staatliche Neutralitätsgebot eine erhebliche Rolle. 7 Vgl. auch Eser / Koch, Schwangerschaftsabbruch und Recht, S. 43, wonach die deutsche Abtreibungsgesetzgebung als „flankiertes Strafrechtsmodell“ eingeordnet wird (Hervorhe­ bung auch im Original). 8 Das BVerfG geht davon aus, dass eine Feststellung der sozialen Notlagenindikation durchaus durch Dritte anhand objektivierbarer Kriterien vorgenommen werden könne, BVerfGE 88, 203 (275). 9 Zur Veränderung der Aufgabe des Strafrechts von einem unmittelbaren Rechtsgüterschutz zu einem mittelbaren Rechtsgüterschutz vgl. Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (170). 10 Vgl. Berkemann, JR 1993, 441 (443), der vom Betreiben „romantischer Volksaufklärung“ spricht.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Beratungskonzept im Endergebnis praktisch preis.11 Oftmals wird – in einem überspitzten Sinne – ein Vergleich zu einer ineffektiven Beratungsregelung in anderen strafrechtlichen Bereichen gezogen.12 Kritiker des Beratungskonzeptes des § 218a Abs. 1 StGB sehen im materiellen Rückzug des Strafrechts13 eine verfassungswidrige Schutzlosstellung des Embryos,14 dessen individuelles Lebensrecht15 nur mithilfe eines klassischen Strafrechtseinsatzes geschützt werden könne.16 Die Strafandrohung werde durch einen bloßen „Appell an das Verantwortungsgefühl ersetzt“; wäre diese Strategie wirklich effektiv, so wäre ein strafrechtlicher Einsatz im Ganzen obsolet.17 Das Leben des Embryos gerate völlig aus dem Blickwinkel des Strafrechts und das an dessen Stelle getretene gesetzgeberische Konzept betreibe letztlich nur Selbstschutz.18 Die Kritik ist somit im Kern eine prozeduralisierungsfeindliche, die die Abkehr von substanziellen Vorgaben mit einer wahllosen Zurverfügungstellung des embryonalen Lebensrechts gleichsetzt. Auch in diesem Kontext wird vor einer „beratungseuphorische[n] Grundstimmung“19 durch eine „wohlklingende Lebensschutzargumentation“20 gewarnt, die der Form nach vom Inhalt ablenke. Befürworter des Hilfekonzeptes sehen umgekehrt in der Regelung die einzige Überlebenschance des Fötus, um welche dieser nicht gebracht werden dürfe.21 11

Vgl. Hoerster, JuS 1995, 192: „Verfassungslyrik“ sowie „leere Hülle“; Hoerster, NJW 1997, 773 (775): „Funktion eines Lippenbekenntnisses“; in diese Richtung auch Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch, S. 43: „Es bedürfte schon eng angelegter Scheuklappen, wollte man die geltende Rechtslage zur Tötung des ungeborenen Lebens in vivo als ein Schutzkonzept begreifen, das in Einklang mit der aktuellen Verfassungskonkretisierung und den allgemeinen Grundsätzen des Strafrechts formuliert wäre“; ebenso Laufs, NJW 1995, 3042 (3043): „Abschwächung des Lebensschutzes“; Beckmann, Der Streit um den Beratungsschein, S. 26: „Feigenblatt“; Tröndle, in: FS Kaiser, S. 1387 (1396): „Schutzphantom“. 12 Zum Vergleich mit einer „Beratungsregelung“ im Bereich der Eigentumsdelikte vgl. Beckmann, Der Streit um den Beratungsschein, S. 16 f.; zum Vergleich einer „Beratungsregelung“ im Bereich der Sexualdelikte vgl. Hoerster, JuS 1995, 192 (195); schließlich zieht auch Wiebe, ZfL 2000, 12 (19) einen Vergleich mit einer Beratungsregelung im Bereich der Tötungsdelikte. Allen Vergleichen ist gemeinsam, dass sie eine „einfache Beratung“ im Bereich des Strafrechts wohl für absolut wirkungslos erachten. 13 Vgl. Laufs, NJW 1995, 3042: „Längst war das strafrechtliche Schwert stumpf geworden und in der Scheide geblieben“. 14 Tröndle, NJW 1995, 3009 (3014); in diese Richtung auch Hartmann, NStZ 1993, 483 (485). 15 Auf das individuelle Lebensrecht stellt auch das BVerfG ausdrücklich ab, BVerfGE 88, 203 (LS. 2, 252); so auch schon BVerfGE 39, 1 (58). Krit. hierzu Beckmann, Der Streit um den Beratungsschein, S. 17; Hoerster, JuS 1995, 192 (195). 16 Starck, JZ 1993, 816 (819); vgl. Hoerster, JuS 1995, 192 (196); Tröndle, NJW 1995, 3009 (3010); vgl. Weiß, JR 1993, 449 (456). 17 So Weiß, JR 1993, 449 (456); in diese Richtung auch Tröndle, in: FS Kaiser, S. 1387 (1390). 18 von Hippel, in: FS Geerds, S. 137 (147). 19 Tröndle, NJW 1995, 3009 (3013). 20 Tröndle, in: FS Kaiser, S. 1387 (1393). 21 Vgl. Schweiger, ZRP 2018, 98 (100 f.); vgl. Starck, JZ 1993, 816 (822), wonach der Schutz des vorgeburtlichen Lebens aber maßgeblich von der konkreten Ausgestaltung der Beratung abhängen soll.

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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Eine strikte Strafdrohung und Druckausübung auf die mit ihm eine biologische Einheit bildende Frau seien in dieser Konstellation kontraproduktiv.22 Umso mehr der Schwangeren an Verantwortung übertragen werde, desto stärker werde ihr der vom Gesetz nicht selbst vollzogene Abwägungsvorgang bewusst.23 Die Frau könne die Entscheidung dann nicht mehr auf eine staatliche Instanz übertragen, die prüfe, ob die materiellen Voraussetzungen tatsächlich gegeben sind, sondern sie müsse hierdurch selbst Verantwortung tragen.24 Indes finden sich Stellungnahmen, die der Wirkungsweise des Beratungssystems unschlüssig gegenüberstehen,25 eher selten. Der dargelegte Rückzug eines regelnden Strafrechts wird damit sehr konträr beurteilt. Eng verbunden mit dem Zurückweichen materieller Vorgaben sind materiellrechtliche Defizite, die als Auslöser für den Rückzug angesehen werden. Deshalb schließt sich im Folgenden die Analyse der Motive einer Verwendung prozeduraler Merkmale an. 2. Spezifisches Nichtwissen und / oder moralische Unwägbarkeiten Im Folgenden wird untersucht, in welchem Maße ein spezifisches Nichtwissen und / oder Bewertungsunsicherheiten in der Güterabwägung Grund für die aktuelle Regelung des Schwangerschaftsabbruchs waren bzw. sind und ihr daher entnommen werden können. Ein Nichtwissen im Sinne eines fehlenden konkreten Tatsachenwissens ist im Falle des Schwangerschaftsabbruchs eher fernliegend, nachdem die Schwangere im Besitz der erforderlichen Informationen ist, die sie für ihre persönliche Entscheidung benötigt.26 Diese erhält sie schließlich im obligatorischen Beratungsgespräch – sollte sie diese auch nur passiv wahrnehmen und sollten die Informationen auch nicht individuell auf ihre persönliche Konfliktlage zugeschnitten sein. Zu bedenken ist an dieser Stelle allerdings, dass die Entscheidung der Schwangeren stets auch von – nur vage möglichen – Prognosen geleitet wird. Die soziale Lebensplanung mit oder ohne Kind ist per se zukunftsgerichtet, weshalb bezüglich

22

Vgl. Jakobs, JR 2000, 404 (405): „[W]eil man strenger scheinen will, als zu sein man sich leisten kann“; in diese Richtung auch Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2338); vgl. zudem Schulz, StV 1994, 38 (46): „ausgereizte Karte des Strafrechts“. 23 Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (131); ebenso Günther, ZStW 103 (1991), 851 (876); vgl. auch Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 139. 24 Günther, ZStW 103 (1991), 851 (876). 25 So wohl Schreiber, Archives of Gynecology and Obstetrics 1995, 381 (387 f.); ebenso Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1390). 26 Informationen erhält die Schwangere nach § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, 3 SchKG in Bezug auf die Unterstützung bei der Suche nach einer Unterkunft, Fortführung der Ausbildung etc. Krit. zur Unbestimmtheit der mitzuteilenden Informationen Beckmann, Der Streit um den Beratungsschein, S. 26.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

der aktuellen Entscheidungsgrundlage auch ein Nichtwissen in Gestalt unsicherer Zukunftsentwicklungen zu konstatieren ist. Dennoch steht beim Schwangerschaftsabbruch das tatsächlich fehlende Wissen nicht derart im Vordergrund.27 Sollte die Entwicklung gewisser Faktoren auch noch nicht absehbar sein, ist die Schwangere dennoch in der Lage, eine zukunftsgerichtete Lebensplanung zu entwerfen. Es ist gerade das Ziel der Schwangerschaftskonfliktberatung, der Schwangeren zukünftige Hilfen und Unterstützung aufzuzeigen. Dadurch kann die Unsicherheit bezüglich zukünftiger Entwicklungen deutlich abgeschwächt werden. Ein zum Entscheidungszeitpunkt nicht verfügbares Wissen, das es durch Verfahrensregeln zu überbrücken gelte, kann demnach als Begründungsansatz für eine prozedurale Vorschrift nicht herangezogen bzw. vernachlässigt werden. Man könnte zwar durchaus noch argumentieren, dass gerade Dritten der Zugriff auf dieses spezifische Wissen der Schwangeren versperrt bleibt und es damit am tatsächlichen Wissensstand der zuständigen Kontrollinstanz fehlt. Allerdings ist der Wissensmangel, von welchem im Zusammenhang mit prozeduralem Recht gesprochen wird, ein solcher, welcher generell nicht akquirierbar ist und kein solcher, welcher nur einzelnen Personen zugänglich ist. Der Schwangerschaftsabbruch stellt allerdings eine ethisch höchst sensible Materie dar, welche sich in der fortwährend wechselnden Gesetzgebungsgeschichte eindrucksvoll widerspiegelt. Die unterschiedliche Gewichtung der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter schlägt sich in der jeweiligen gesetzlichen Regelung nieder. Die Normierung adaptiert sich an gewandelte Verhältnisse des Wirtschafts- und Soziallebens.28 Die divergierenden Ansichten im Hinblick auf die Gewichtung des Lebensrechts des Embryos einerseits und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts der Schwangeren andererseits, finden in der gespaltenen geltenden Rechtslage ihren Ausdruck. Die Gewissensklausel des § 12 Abs. 1 SchKG unterstreicht an dieser Schnittstelle die besondere Berührung des Rechts mit der Ethik und der Moral. Verfechter einer liberalen Position haben durch die Tatsache, dass das Strafrecht in der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs zurückgewichen ist, und die Schwangere de facto selbst über ihre Straffreiheit befinden kann, einen sehr beträchtlichen Teilsieg errungen. Gleiches gilt für die Verfechter des Lebensrechts des Embryos, die für sich zumindest in Anspruch nehmen können, dass der Schwangerschaftsabbruch rechtlich missbilligt bleibt, auch wenn diese Errungenschaft deutlich weniger bedeutend sein dürfte als die Straffreiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat in beiden Schwangerschaftsabbruchsurteilen eindringlich zum Ausdruck gebracht, dass das Lebensrecht des Embryos als höchstes Gut zu schützen sei und dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren im 27

Ähnlich Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 199. So Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 10c: Die Widersprüchlichkeit sei „Folge, nicht Ursache der Misere“ (Hervorhebung auch im Original).

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abstrakten Rangverhältnis unbestreitbar vorgehe,29 weshalb von diesem Blickwinkel aus keine verfassungsrechtlichen oder moralischen Wogen zu glätten sein dürften. Die dennoch hochkomplexe grundrechtliche Konfliktlage tritt in Wahrheit allerdings ebenso signifikant wie erdrückend zu Tage. Das Kernproblem besteht darin, dass sich das Lebensrecht des Embryos – erkennt man dieses als absolut an – nicht abwägen lässt und damit anerkannte strafrechtliche Rechtfertigungsgründe zwangsläufig ausscheiden müssten.30 Allerdings kann wiederum nicht bestritten werden, dass in der Rechtsordnung das geborene Leben ersichtlich höheren Schutz genießt als das ungeborene Leben und damit ein Unterschied im Sinne einer Höhergewichtung des Rechtsguts des geborenen Lebens wohl nicht geleugnet werden kann.31 Dies bringen unterschiedliche Strafvorschriften deutlich zum Ausdruck. Zunächst ordnen verschiedene Normen des ESchG mittelbar die Vernichtung von entstandenen Embryonen an.32 Als weiteres Beispiel nimmt die Vorschrift des § 218 Abs. 1 S. 2 StGB Handlungen, deren Wirkung vor Abschluss der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, von der Strafdrohung des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB gänzlich aus. Auch spricht die viel höhere Sanktionierung der Tötung eines geborenen Menschens nach §§ 211 Abs. 1, 212 Abs. 1 StGB gegenüber der Strafdrohung des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218 Abs. 1 S. 1 StGB für eine Höhergewichtung geborenen Lebens.33 Würde man ungeborenem Leben den gleichen Schutz zuteilwerden lassen wie geborenem, so wäre das Leben des Ungeborenen keiner Abwägung zugänglich. Es wäre demnach auch bei Vorliegen einer Lebensgefahr für die Schwangere eine Abwägung von Leben gegen Leben grundsätzlich nicht 29 BVerfGE 39, 1 (43); BVerfGE 88, 203 (255). Dies zeigt sich auch darin, dass das BVerfG der Schwangeren den Schwangerschaftsabbruch nicht primär aufgrund ihres überwiegenden Persönlichkeitsrechts gestattet, sondern nur aufgrund der Einschätzung, dass der Embryo nur mit ihr gerettet werden kann; krit. Wolter, GA 1996, 207 (227). 30 Jakobs, JR 2000, 404 (406); vgl. auch Hoerster, JuS 1995, 192 (195); a. A. wohl Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (123), der von einer grundgesetzlichen „Relativität des Lebensschutzes“ ausgeht; vgl. hierzu auch Gropp, GA 1994, 147 (154), der eine Relativierung des Grundsatzes der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens zwar im Ergebnis begrüßt, gleichzeitig aber nach einer verfassungsrechtlichen Untermauerung dieser dogmatischen Rechtfertigung fragt. 31 Dreier, JZ 2007, 261 (267 f.); vgl. auch Lübbe, KritV 1993, 313 (317), die das vom BVerfG statuierte „Zweiklassenrecht“ kritisiert; für eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung vgl. hingegen Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (131); Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 10c plädiert dafür, zu den gewandelten Positionen bezüglich eines Schwangerschaftsabbruchs zu stehen und keine moralischen Gebote zu manifestieren. 32 Nach § 6 Abs. 2 ESchG darf ein nach § 6 Abs. 1 ESchG erzeugter Embryo nicht auf eine Frau übertragen werden. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 1a ESchG wird bestraft, wer einen Embryo, der durch eine Handlung nach § 7 Abs. 1 ESchG entstanden ist, auf eine Frau überträgt. Beide Vorschriften ordnen dadurch, dass sie eine Übertragung des Embryos bestrafen, mittelbar das Vernichten der erzeugten Embryonen an. 33 Vgl. Eser, KritV Sonderheft 2000, 43 (46); Gropp, in: MüKo-StGB, Vor § 218 Rdnr. 38.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

möglich. Die Strafvorschrift des § 218a Abs. 2 StGB sieht in diesem Fall allerdings eine Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs vor. Bezieht man die Schutzregelungen zum Embryo in vitro mit ein, ergibt sich schließlich das Bild einer „Achterbahn“34. Der strittige Dreh- und Angelpunkt liegt somit spiegelbildlich darin, wie die kollidierenden Rechtsgüter der Schwangeren in einen an sich nicht möglichen Abwägungsprozess überhaupt Eingang finden können: „Hier scheiden sich […] die Geister.“35 Gleichzeitig setzt an dieser Stelle die Einschätzung des Gesetzgebers bezüglich der Potenz des Strafrechts ein. Die Einflussmöglichkeiten des Strafrechts werden im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs teils als deutlich limitiert betrachtet.36 Nachdem das Beratungsmodell als beste Schutzmöglichkeit des Embryos verfassungsrechtlich abgesegnet wurde, ist insofern der Grundstein der Argumentation gelegt: Es wird der Intention des Bundesverfassungsgerichts zufolge versucht, das Lebensrecht auf diesem Wege mit allen Kräften und nach bestem Wissensstand zu retten. Gleichzeitig werden durch diese Möglichkeit die kollidierenden Rechtsgüter der Frau miteinbezogen. Dieser Ausweg wird allerdings durch die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, eine tatsächlich existente soziale Notlage der Schwangeren könne den Abbruch rechtfertigen, wieder teilweise versperrt. Im Ergebnis lässt sich daher feststellen, dass moralische Unwägbarkeiten37 einen zentralen Entscheidungsgrund der „Fristenlösung mit Beratungspflicht“ dar­stellen.38 Nachdem diese nicht einfach mit der neuen gesetzlichen Regelung als gelöst gelten können, weil sich konträre Ansichten dem jeweils normierten Moralempfinden nicht zeitgemäß unterwerfen, sondern vehement fortsetzen,39 befindet sich der Gesetzgeber in einem kontinuierlichen Rechtfertigungszwang. Eine „absolut richtige“, an konkreten und ebenfalls als richtig eingestuften Beurteilungskriterien gemessene Entscheidung ist im Falle des Schwangerschaftsabbruchs nicht zu fällen.40 34

Dreier, JZ 2007, 261 (270). Lübbe, KritV 1993, 313 (316). Für eine höhere Gewichtung des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren plädierend Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (133); vgl. auch Wolter, GA 1996, 207 (227); die Grundrechte der schwangeren Frau hingegen als gering bewertend Weiß, JR 1993, 449 (457). 36 Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 10; Günther, ZStW 103 (1991), 851 (875). 37 Vgl. Kayßer, Abtreibung und die Grenzen des Strafrechts, S. 167: „In dem langen Streit um den Schwangerschaftsabbruch zeigt sich das ‚Faktum der Pluralität‘ geradezu paradigmatisch.“ 38 Ebenso Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (132); vgl. Sternberg-Lieben, in: FS Roxin, S. 537 (550 f.) m. w. N.; vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (147) mit Verweis auf Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (747 ff.). 39 Vgl. hierzu die von Kim, Rechtslage und Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch, S. 145 ff. durchgeführte Studie, ob sich das gesellschaftliche Moralempfinden den Schwangerschaftsabbruch betreffend durch die jeweils geltende strafrechtliche Regelung wandelt; vgl. dazu ferner Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 218–219b Rdnr. 10b f. 40 So auch das Sondervotum der Richter Mahrenholz / Sommer, BVerfGE 88, 338; Kayßer, Abtreibung und die Grenzen des Strafrechts, S. 167 zieht daraus den Schluss, dass ein straf 35

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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Aus diesem zentralen Abwägungsproblem ist deshalb die geltende Konstruktion der §§ 218 ff. StGB, die Eser nicht zu Unrecht als „mittleren Weg“41 bezeichnet, hervorgegangen. Der Gesetzgeber muss sich damit nicht entscheiden, ob er dem Lebensrecht des Ungeborenen oder dem Persönlichkeitsrecht der Schwangeren den Vorzug gewährt, sondern er überlässt dies der durch ein Verfahren hervorgegangenen Entscheidung der Frau, die stellvertretend in das Gewand des materiellen Rechts schlüpft.42 Durch die Beratungsregelung werden sowohl die biologischevolutionären als auch die damit verstrickten (verfassungs-)rechtlichen und moralischen Konfliktlagen kaschiert. Auch wenn die Wortwahl des „Kaschierens“ in gewissem Sinne negativ besetzt ist und symbolisiert, dass der tatsächliche Konflikt fortbestehen wird, soll in diesem Sinne nicht zwangsläufig ein negatives Urteil damit verbunden sein.43 Tatsache ist, dass sich der Gesetzgeber zu einer gesetzlichen Ausgestaltungsoption bekennen muss. Gerade ein Verfahren, das aufgrund seiner Ergebnisoffenheit bei gleichzeitiger Verpflichtung zum Lebensschutz beides miteinander in Einklang zu bringen versucht, wird der verfassungsrechtlichen und moralisch diffizilen Güterkollisionslage an dieser Stelle wohl am besten gerecht. 3. Das Kriterium der Diskursivität Nachfolgend soll die Ausprägung der Diskursivität in den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch analysiert werden.44 Die Regelungen des SchKG be­ inhalten zum Inhalt und Ablauf der Beratung spezifisch prägnante Vorgaben. Es wird nach § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SchKG von der schwangeren Frau erwartet, dass sie der beratenden Person ihre Gründe mitteilt, aufgrund derer sie einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung zieht. Unter einer „Beratung“ kann nach sozialpsychologischem Verständnis „eine Interaktion zwischen zumindest zwei Beteiligten, bei der die beratende(n) Person(en) die Ratsuchende(n) – mit Einsatz von kommunikativen Mitteln – dabei unterstützen, in Bezug auf eine Frage oder auf ein Problem mehr Wissen, Orientierung oder Lösungskompetenz zu gewinnen“45, verstanden werden. Grundsätzlich wird bei einer Beratung daher davon ausgegangen, dass eine Kommunikation zwischen der beratenden und der beratenen Person zustande kommt. Das Idealziel des § 219 StGB ist der Lebensschutz des rechtliches Handlungsgebot daher nicht begründet werden dürfe; Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (130) sieht aufgrund dieser Tatsache „situationsethische Erwägungen“ als adäquatere Lösungen an (Hervorhebung auch im Original). 41 Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (132). 42 Schweiger, ZRP 2018, 98 (100). 43 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1390): „Flucht in ein offenes Verfahren“. 44 Kritisch dazu Jakobs, JR 2000, 404 (406), der nicht von einem „Diskursmodell“ sprechen möchte, nachdem die Schwangere die Letztentscheidung trifft. Allerdings ist ihm entgegenzuhalten, dass die Modalität des Verfahrens und die letztgültige Entscheidungsgewalt getrennt voneinander betrachtet werden müssen. 45 Sickendiek / Engel / Nestmann, Beratung, S. 13.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Embryos. Die Konfliktberatung soll die Hemmnisse der Schwangeren abbauen, sich zu öffnen, und sie in die Lage versetzen, eine verantwortungsvolle Entscheidung zu treffen. Die beratende Person fungiert nach der gesetzlichen Intention als Vertreter der Rechte des ungeborenen Lebens und kann ebenfalls Interessen des Erzeugers in den Diskurs miteinbringen.46 Eine individuell ausgerichtete Beratung kann allerdings nur stattfinden, wenn die beratende Person in die spezifische Konfliktsituation der Schwangeren eingeweiht wird.47 Aus der gesetzlichen Fassung geht allerdings deutlich hervor, dass die Schwangere zu einer kooperativen Mitwirkung nicht gezwungen werden kann. Die Vorschrift des § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 letzt. Hs. SchKG legt fest, dass eine Gesprächs- und Mitwirkungsbereitschaft nicht erzwungen werden kann. Selbst wenn die Schwangere jegliche Gesprächsführung ablehnt und die Beratung lediglich passiv über sich ergehen lässt, ist eine Straffreiheit nach § 218a Abs. 1 StGB nicht ausgeschlossen. Der erforderliche Beratungsschein nach § 219 Abs. 2 S. 2 StGB, § 7 Abs. 1 SchKG ist dennoch zu erteilen. Ein Folgeberatungstermin kann bei Bedürfnis nach § 7 Abs. 2 SchKG zwar anberaumt werden, dieser darf allerdings nicht dazu führen, dass die Einhaltung der Frist des § 218a Abs. 1 Nr. 3 StGB unmöglich wird, § 7 Abs. 3 SchKG. Die Tatsache, dass auf rechtlichem Wege kein problemsolvierender Diskurs erzwungen werden kann, schwächt das prozedurale Element der Kommunikation im Rahmen des § 218a Abs. 1 StGB augenscheinlich stark ab. Schwangere Frauen, die zu einem Schwangerschaftsabbruch bereits vor der Beratung felsenfest entschlossen sind und unter keinen Umständen in Erwägung ziehen, sich auch nur minimal durch die Beratung zu öffnen, geschweige denn, sich beeinflussen zu lassen, können dennoch auf dem Wege des § 218a Abs. 1 StGB Straffreiheit erlangen. Teilt sich die Frau aber nicht mit, so verliere das Konzept der individuellen Beratung seinen Sinn48 und damit seine einzige Existenzberechtigung,49 weil es zu einer unilateralen Informationsgabe verkümmere. Das Konzept schütze somit im Endeffekt „nicht einmal mehr sich selbst“50. Festzustellen ist damit, dass das diskursive Element, das der Entscheidung im prozeduralen Sinne erhöhte Legitimität verschaffen soll, indem verschiedene Posi-

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Berdin, BLJ 2010, 39 (42). Zum prozeduralen Element der Diskursivität beim Schwangerschaftsabbruch vgl. auch Schweiger, ZRP 2018, 98 (100). 47 So auch BVerfGE 88, 203 (284 f.). 48 Rogall, in: SK-StGB, § 219 Rdnr. 6; vgl. auch Beckmann, Der Streit um den Beratungsschein, S. 25, der anstatt von einer „Beratungspflicht“ nur von einer „Anwesenheitspflicht“ sprechen will (Hervorhebung auch im Original). Ohne Darlegung der Abbruchsgründe könne das Geschehen nur in einem „luftleeren Raum“ stattfinden, Beckmann, Der Streit um den Beratungsschein, S. 27; ebenso Rudolphi, in: FS Bemmann, S. 412 (414). 49 Tröndle, NJW 1995, 3009 (3017). 50 Tröndle, in: FS Kaiser, S. 1387 (1400), allerdings im Hinblick auf fehlende Umfeldpönalisierungen; vgl. auch schon Tröndle, NJW 1995, 3009 (3012).

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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tionen zur Geltung gebracht, bewertet und abgewogen werden, als rechtliches Idealziel einzustufen ist. Es kann nicht in jeder Beratungssituation realisiert werden. Der Freistaat Bayern erließ aber eine Vorschrift,51 die die Beratung in eine derartige Richtung lenken wollte. Die Schwangere sollte gezwungen werden, die Gründe, welche für sie einen Schwangerschaftsabbruch unumgänglich machen, zumindest darzulegen (sog. Bayerischer Weg).52 Die Pflicht der Schwangeren, ihre Abbruchsgründe darzulegen, könnte insofern allerdings auch als eine Schwächung des prozeduralen Elements des „Zurückweichens materiellrechtlicher Normen“ gesehen werden. Die landesrechtliche Vorschrift könnte als Zeichen in Richtung einer erneut intendierten Indikationsfeststellung gedeutet werden. Durch die Regelung sollte allerdings keine materiellrechtliche Prüfung erreicht werden, sondern es wurde versucht, den natürlichen Beratungssinn wiederherzustellen. Dieser erfordert die Darlegung der Gründe in der konkreten Lebenssituation.53 Die Regelung des § 218a Abs. 1 StGB ist damit im Ergebnis als diskursive Chance für den Lebensschutz anzusehen.54 Diesen Charakter unterstreicht auch die Bestrebung des § 6 Abs. 3 Nr. 1–3 SchKG, wonach im Einvernehmen mit der Schwangeren andere Fachkräfte oder weitere Personen, insbesondere der Erzeuger oder nahe Angehörige, zum Gespräch hinzugezogen werden können. Auch die Entscheidung, dass der Arzt der Schwangeren nur die Gelegenheit geben muss, ihre Abbruchsgründe darzulegen, anstatt der verfassungsgerichtlichen Vorgabe, dass er sich diese darlegen lassen muss,55 weist schließlich in diese Richtung.56

51 Das Bayerische Schwangerenberatungsgesetz (BaySchwBerG) vom 09.08.1996 (Bayer. GVBl. S. 320 ff., BayRS 2170-2-A) wurde mit Urteil vom 27.10.1998 vom BVerfG zum Teil für nichtig erklärt, weil dem Land Bayern schon die Gesetzgebungskompetenz fehle, BVerfGE 98, 265 ff. Art. 10 Abs. 1 S. 1 lautet: „Die Beratungsbescheinigung (§ 7 SchKG) wird der Schwangeren ausgehändigt, wenn sie die Gründe mitgeteilt hat, deretwegen sie einen Abbruch der Schwangerschaft erwägt, die beratende Person die Beratung als abgeschlossen ansieht und die Schwangere ihre Identität nachgewiesen hat.“ Auch Esers „notlagenorientiertes Diskursmodell“ sieht eine Darlegung der Abbruchsgründe gegenüber dem Arzt vor, vgl. Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (132). 52 In diese Richtung drängte auch die Vorschrift des Art. 18 Abs. 2 S. 1 HKaG a. F. vom 01.10.1996, welche ein Mitwirkungsverbot für Ärzte statuierte, die den Abbruch nicht für verantwortbar erachteten. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn die Schwangere ihre Gründe nicht dargelegt hätte; zum sog. „Bayerischen Weg“ Seckler, NJW 1996, 3049 (3049 ff.). 53 Krit. hierzu Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (132). 54 Ebenso Otto, Jura 1996, 135 (138); Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rdnr. 7. 55 BVerfGE 88, 203 (290). 56 Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 561 (571) spricht aufgrund der umfassenden normativen Pflichten des Arztes von „einer zweiten Beratungs- und Beeinflussungsinstanz“; vgl. dazu auch BT-Drs. 13/285, S. 18.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

4. Entscheidungsmacht Privater Das prozedurale Kriterium hingegen, dass die Letztentscheidung über die Verletzung des Rechtsguts in private Hände gelegt, oder der Entscheidung einer Kommission überantwortet werden soll, tritt bei der Regelung des § 218a Abs. 1 StGB umso markanter hervor.57 Die Schwangere trifft nach durchgeführter Beratung in voller eigener Verantwortung die Entscheidung, ob ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt werden soll oder nicht.58 Ihre jeweiligen Gründe für den Abbruch sind irrelevant.59 Es muss insbesondere keine tatsächliche Konflikt- oder Notlage vorliegen60 – mag die Vorschrift des § 219 Abs. 1 S. 4 StGB dies missverständlich auch suggerieren.61 Eine Überprüfung der Entscheidung der Schwangeren unterbleibt sowohl von ärztlicher als auch von gerichtlicher Warte aus. Die Entscheidungsbedingungen werden allerdings, wie oben erläutert, abgesichert.62 Die Begründung für die Übertragung der Letztverantwortung divergiert aller­ dings erheblich. Während einerseits angenommen wird, dass es sich um eine von Natur aus höchstpersönliche Konfliktlage handele, die keine andere Person als die Schwangere treffen könne und deshalb nur sie wegen der körperlichen und emotionalen Verbundenheit zur Entscheidung berufen sei,63 geht die andere Ansicht, vornehmlich auch das Bundesverfassungsgericht, davon aus, dass die Entscheidung durchaus objektiv von einem Dritten beurteilt und überprüft werden könne, dass allerdings in diesem Falle die Effizienz des Systems erheblichen Schaden nehmen würde. Der Schwangeren werde aufoktroyiert, eine möglichst plausible Notlage zu schildern, um Straffreiheit zu erlangen. Die Indikationsfeststellung werde daher mit der Verschlossenheit der Frau erkauft. Die Überlegungen, einen prozeduralen Weg zu wählen, der Privatpersonen Entscheidungsbefugnisse zugesteht, sind also nur in ihrem Ergebnis, nicht allerdings in ihren Gründen kongruent. Ob ein Dritter die Entscheidung über die Zumutbarkeit treffen kann und nur nicht treffen will, stellt einen erheblichen Unterschied zur Situation dar, ob ein Dritter die Entscheidung schon gar nicht treffen kann.

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Vgl. Starck, JZ 1993, 816 mit Bezug zum Urteil des BVerfG: Akzeptanz der Entscheidung „bis in die letzten rechtlichen Verästelungen“; krit. hierzu Jakobs, JR 2000, 404 (406). 58 Vgl. Tröndle, NJW 1995, 3009 (3011): „Die Straffreistellung [ist] nichts anderes […] als ein privater Vorgang zwischen beratenden und beratenen Personen“. 59 Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 219 StGB Rdnr. 16; Rogall, in: SK-StGB, § 218a Rdnr. 3; Tröndle, NJW 1995, 3009 (3010); hierzu vgl. auch noch Eser, JZ 1994, 503 (509). 60 Vgl. Dreier, JZ 2007, 261 (268); vgl. Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 219 StGB Rdnr. 10. 61 So Fischer, Strafgesetzbuch, § 219 Rdnr. 1. 62 Krit. Tröndle, in: FS Müller-Dietz, S. 919 (926), der die Gefahr einer „Fremdbestimmung“ der Schwangeren, die die Letztverantwortlichkeit evident gefährde, annimmt (Hervorhebung auch im Original). 63 Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (132); Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 142.

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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Um die Frage, ob die jeweilige Entscheidung einer objektiven Beurteilung durch Dritte zugänglich wäre, einer Antwort zuführen zu können, erscheint ein Vergleich mit der medizinischen Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB aufschlussreich. Für eine Gleichstellung und damit eine ärztliche Überprüfbarkeit könnte sprechen, dass die medizinisch-soziale Indikation auch die zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren berücksichtigt und damit nicht nur primär medizinisch feststellbare Umstände miteinbezogen wissen will.64 Dem Arzt steht aufgrund des Wortlauts des § 218a Abs. 2 StGB nach „ärztlicher Erkenntnis“ ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu.65 Die medizinisch-soziale Indikation bezieht sich aber dennoch auf den gesundheitlichen Zustand der Schwangeren in psychischer und physischer Hinsicht, der grundsätzlich einer ärztlichen Bewertung zugänglich ist. Daran ändert sich auch nichts, wenn zukünftige Entwicklungen miteinbezogen werden sollten. Der Arzt weist in dieser Hinsicht fachwissenschaftliche Kenntnisse auf. Die soziale Notlagenindikation speist sich demgegenüber aus inneren Einstellungen und Empfindungen der Schwangeren. Nur sie alleine kann diese höchstpersönliche Indikationslage beurteilen, die sich folgerichtig einer objektiven Einstufung von außen entzieht.66 Ein Zeichen für diese Nichteinschätzbarkeit der sozialen Lage könnte auch in der von der Praxis betriebenen faktischen Aushöhlung der drittzubeurteilenden Indikation gesehen werden. Viele Ärzte konnten oder wollten es sich womöglich nicht anmaßen, über die soziale Notlage der Frau zu befinden. Parallelen zur medizinisch-sozialen Indikation bestehen insofern, als dass der Arzt sich auch bei dieser zwangsläufig auf die Äußerungen der Frau bezüglich ihres Gesundheitsstandes verlassen muss, wodurch auch die medizinisch-soziale Indikation private Entscheidungsmomente in sich trägt, die jedoch aufgrund des ärztlichen Fachwissens eher einer Drittüberprüfung zugänglich sind als die einer sozialen Notlagenindikation. Die Durchführung der Beratung kann zwar nicht den Makel der Rechtswidrigkeit beseitigen, allerdings wird Straffreiheit gewährt, indem die Verbotsnorm des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB nicht eingreift. Die Entscheidungsmacht ist somit darin zu sehen, dass letztendlich „die Täterin selbst“ ex ante über die Straffreiheit ihres rechtsgutsverletzenden Handelns befindet.67 Das Recht gewinne durch die Entscheidungsverlagerung an Flexibilität.68 64

Krit. Tröndle, NJW 1995, 3009 (3015), der in § 218a Abs. 2 StGB eine Kombination von einer Fristenlösung mit einer weit gefassten Indikationsregelung erblickt. Es bestehe die Gefahr, dass bei einer Fristüberschreitung mittels der Vermengung von sozialen und psychiatrischen Gesichtspunkten ein Abbruch auf die medizinisch-soziale Indikation gestützt werde. Hierin wäre eine Parallele von § 218a Abs. 1 StGB und § 218a Abs. 2 StGB zu sehen. 65 Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 36; Fischer, Strafgesetzbuch, § 218a Rdnr. 19 m. w. N.; Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (661). 66 So auch schon Günther, ZStW 103 (1991), 851 (875). 67 Vgl. Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 141. 68 Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 141.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet bedeute die Letztentscheidung der Schwangeren allerdings kein Zugeständnis an Entscheidungsbefugnis, sondern die Schwangere fungiere dadurch nur als Mittel der Instrumentalisierung, sozusagen als Werkzeug des Gesetzgebers: Ihr Geltungsanspruch werde nur anerkannt, wenn und soweit sie sich im Sinne des Staates für ein Weiterleben des Kindes entscheide.69 Während eine Seite also die prozedurale Eigenverantwortung positiv auffasst, weist die andere Seite auf die Gefahr einer Instrumentalisierung der Frau hin, die nach dem Willen des Gesetzgebers nur gelenkt werden solle. 5. Akzeptanz der Entscheidung Fraglich bleibt somit weiterhin die Ausprägung des prozeduralen Elements, dass das Recht die Entscheidung nach Einhaltung des Verfahrens akzeptiert und die Konsequenzen des Verhaltens bereits vor dem Rechtsgutseingriff ex ante feststehen. Dieses Beurteilungskriterium ist durch die Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts – im Gegensatz zur zuvor bestehenden Gesetzeslage des SFHG – ein extrem zweischneidiges geworden: Akzeptanz findet die Entscheidung nur in einem weiter verstandenen Sinne, nämlich in dem der Entkriminalisierung und nicht in dem der rechtlichen Billigung. Die erfolgte Abtreibung des Embryos bleibt nach Verfahrensbeachtung straffrei. Das Recht muss die ex ante getroffene Entscheidung der Schwangeren und ihre Straffreiheit „ertragen“.70 Allerdings soll aus dem Rechtswidrigkeitsverdikt71 folgen, dass die Entscheidung von der Rechtsordnung nicht vollkommen anerkannt wird, sondern dass der „beratene Abbruch“ weiterhin mit dem Makel des Unrechts behaftet bleibt, der auch für die Bewusstseinsbildung der Bevölkerung ein deutliches Signal setzen soll.72 Aus der „alleinigen“ Beachtung des Verfahrens könne keine Rechtmäßigkeit des Verhaltens gewonnen werden. Es fehle an der Indikationsfeststellung, die wie bei § 218a Abs. 2 und Abs. 3 StGB zu einer anerkannten Rechtfertigung führen könnte. Neben der Kritik, dass das Rechtswidrigkeitsurteil mangels eines tatbestandsmäßigen Verhaltens keinen Anknüpfungspunkt haben könne,73 wird in der Literatur stark angezweifelt, dass die vorgeschriebene Rechtswidrigkeit des beratenen Abbruchs auch tatsächlich im Sinne des Bundesverfassungsgerichts auf das gesell 69

So Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2342); ähnlich Geiger / von Lampe, Jura 1994, 20 (30). 70 Schweiger, ZRP 2018, 98 (100). 71 So BVerfGE 88, 203 (274). 72 BVerfGE 88, 203 (278); krit. im Sinne einer dem BVerfG fehlenden „Macht über den Begriff der Rechtswidrigkeit“ Jakobs, JR 2000, 404 (407) [Hervorhebung auch im Original]. 73 Vgl. von Hippel, in: FS Geerds, S. 137 (155), der eine „Rechtswidrigkeit an sich oder a priori“ ausschließt; vgl. auch Tröndle, NJW 1995, 3009 (3011); ähnlich auch Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 15; a.A wohl Gropp, GA 1994, 147 (158).

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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schaftliche Empfinden wirken könne: Indem bereits der Tatbestand, der gerade als solcher die Aufgabe innehabe, das vertypte Unrecht zu umschreiben,74 entfalle, könne dadurch das Bewusstsein der Bevölkerung keinesfalls geschärft werden.75 Dem juristischen Laien sei der Unterschied zwischen einem Verhalten, das als tatbestandslos und rechtswidrig eingestuft wird, und einem Verhalten, das im Ergebnis straffrei bleibt, nicht näher zu bringen.76 Dazu komme die faktische Behandlung des beratenen Abbruchs als rechtmäßig77 und im Allgemeinen die staatliche Mitwirkung und Förderung des „rechtswidrigen“ Verfahrens.78 Schließlich minimiere auch die sprachlich harmlose Umschreibung des Tatbestands die Chancen für eine embryonal-lebensbejahende Bewusstseinsbildung in der Bevölkerung.79 Auf der anderen Seite ergebe sich ein eklatanter Widerspruch zwischen Recht und Unrecht. Werde das Verfahren auch pedantisch genau eingehalten, handele die Frau trotzdem rechtswidrig und könne sich im Falle einer tatsächlich vorliegenden sozialen Notlage nicht mit rechtfertigender Kraft entlasten. Es komme somit zu einer „unwiderlegliche[n] Vermutung“80 rechtswidrigen Handelns zu Lasten der schwangeren Frau.81 Die Regelung führe in der Bevölkerung daher im Ergebnis zu einer erheblichen Verunsicherung über die Grenze zwischen Recht und Unrecht.82 Grundsätzliche Kritik wird daran geübt, dass der Gesetzgeber eine moralische Regelung geschaffen habe, die sich praktisch nicht anwenden lasse.83

74

Kudlich, in: S / S/W-StGB, Vor §§ 13 ff. Rdnr. 7; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rdnr. 179, Rdnr. 184. Zu den unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs „Tatbestand“ vgl. Puppe, in: NK-StGB, Vor §§ 13 ff. Rdnr. 23 ff. 75 Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2344); vgl. auch Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 13; a. A. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 98 f.; den Tatbestandsausschluss hingegen gar nicht als Urteil über das Unrechtsverhalten wertend Otto, Jura 1996, 135 (139). 76 BVerfGE 39, 1 (57 f.); Schulz, StV 1994, 38 (42); vgl. auch Walther / Hermes, NJW 1993, 2337 (2342): „Wenn schon Bundesverfassungsrichter sich bei der Grenzziehung zwischen Recht und Unrecht in Aporien verstricken, weil der ‚beratene‘ Abbruch zwar materiell verboten, aber formell doch erlaubt sein soll […] wie soll dies den Bürgern, Beratern und Ärzten gleich welchen Geschlechts in der Stadt oder auf dem Land nahegebracht werden?“; in diese Richtung auch Stürner, Der straffreie Schwangerschaftsabbruch in der Gesamtrechtsordnung, S. 19. 77 Vgl. Hoerster, JuS 1995, 192 (194), nach welchem der Staat den Abbruch in keinster Weise missbillige, sondern ihn vielmehr „begrüß[e]“ (Hervorhebung auch im Original); anders in dieser Hinsicht wohl Gropp, GA 1994, 147 (157), der der Nichtübernahme der Kranken­ kassenkosten durchaus eine effektive Signalwirkung beimisst. 78 Jakobs, JR 2000, 404 (406); Tröndle, NJW 1995, 3009 (3019); Tröndle, in: FS Kaiser, S. 1387 (1403). 79 Tröndle, in: FS Kaiser, S. 1387 (1389). 80 Geiger / von Lampe, Jura 1994, 20 (30). 81 Krit. hierzu Gropp, GA 1994, 147 (163). 82 Vgl. auch Berkemann, JR 1993, 441 (442); Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 17; Hoerster, JuS 1995, 192 (197). 83 Ebenso Berkemann, JR 1993, 441 (443), der von einer Instrumentalisierung der sozialen Ungleichbehandlung i. S. d. Rechtswidrigkeitsverdikts spricht; vgl. dazu auch Geiger /  von Lampe, Jura 1994, 20 (30) im Hinblick auf die Entscheidung BVerfGE 88, 203 ff.

192

7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Das geforderte Rechtswidrigkeitsverdikt strahlt auch auf weitere Normen des StGB aus. Aktuelle Brisanz84 und erhebliche Kritik entflammt sich derzeit an der Regelung des § 219a Abs. 1 StGB, welche die Werbung für einen Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt. Intention der Regelung ist es, zu verdeutlichen, dass ein Schwangerschaftsabbruch nichts Normales darstellt, sondern die Tötung eines Lebewesens bedeutet, mit der kein bewusster Profit durch Werbemaßnahmen erzielt werden soll.85 Auch soll durch diese Regelung letztendlich wiederum das Bewusstsein der Bevölkerung für das embryonale Lebensrecht gestärkt werden.86 Im Grundsatz soll die Akzeptanz des Schwangerschaftsabbruchs als „etwas Alltägliches“ vermieden werden. Mit Gesetz vom 22.03.201987 wurde § 219a StGB um einen weiteren Absatz ergänzt.88 Die Vorschrift des § 219a Abs. 4 StGB regelt weitere Ausnahmetatbestände vom Verbot der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche. Danach machen sich Ärzte, Krankenhäuser oder Einrichtungen nicht nach § 219a Abs. 1 StGB strafbar, wenn sie auf die Tatsache hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1–3 StGB vornehmen oder auf Informationen einer insoweit zuständigen Bundes- oder Landesbehörde, einer Beratungsstelle nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz oder einer Ärztekammer über einen Schwangerschaftsabbruch hinweisen. Zusätzlich wurde § 13 SchKG ein weiterer Absatz angefügt. Nach § 13 Abs. 3 S. 1 SchKG führt die Bundesärztekammer eine Liste von Ärzten sowie Krankenhäusern und Einrichtungen, die ihr mitgeteilt haben, dass sie Schwangerschaftsabbrüche unter den Voraussetzungen des § 218a Abs. 1–3 StGB vornehmen. Diese veröffentlicht sie nach § 13 Abs. 3 S. 3 SchKG im Internet und stellt sie weiteren Bundesoberbehörden sowie den Ländern zur Verfügung. Die Vorschrift des § 13a SchKG, die ebenfalls neu eingefügt wurde, regelt die Veröffentlichung der Liste durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sowie die Auskunft durch den bundesweiten zentralen Notruf. Die Bedeutung der Norm des § 219a StGB wird im Grundsatz äußerst kontrovers beurteilt. Während Befürworter des § 219a Abs. 1 StGB dessen Funktion als Teil des gesetzgeberischen Schutzkonzepts betonen und demnach mit seiner Streichung einen schwerwiegenden Bruch des genau austarierten Konzeptes befürchten,89 sehen Kritiker der Norm in dem strafrechtlichen Verbot eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und bezweifeln folglich ihre Verfassungskonformität.90 84 Zur aktuellen Verurteilung einer Frauenärztin nach § 219a Abs. 1 StGB s. AG Gießen, NStZ 2018, 416 f. Dieses Urteil wurde durch das LG Gießen, BeckRS 2018, 30043 bestätigt. 85 BT-Drs. 7/1981, S. 17. 86 Merkel, in: NK-StGB, § 219a Rdnr. 2. 87 Gesetz zur Verbesserung der Information über einen Schwangerschaftsabbruch vom 22.03.2019, BGBl. 2019 I, S. 350. 88 Vgl. dazu BT-Drs. 19/7693. 89 Goldbeck, ZfL 2007, 14 (15 f.); Kubiciel, ZRP 2018, 13 (14). 90 Merkel, in: NK-StGB, § 219a Rdnr. 3 f.; Berghäuser, JZ 2018, 497 (502 f.) schlägt vor, de lege ferenda § 219a Abs. 2 StGB um eine ärztliche Angebotsmöglichkeit mit Klarstellungsobliegenheit zu ergänzen.

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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Von anderer Seite wird mit eher neutraler Einstellung zu § 219a Abs. 1 StGB vertreten, dass die Norm unabhängig vom Schutzkonzept des § 218a Abs. 1 stehe und weder eine Aufrechterhaltung noch ein Wegfall von § 219a Abs. 1 StGB Einfluss auf das prozedurale Verfahrenskonzept ausüben könne.91 An dieser Meinungsstreitigkeit lässt sich veranschaulichen, dass über die Weite des Schutzkonzepts und den Einbezug weiterer Normen in dieses verfahrensrechtliche Umfeld kein Konsens in Sicht ist. Obwohl die Akzeptanz der Entscheidung der Schwangeren nach dem Verfahren gegeben ist, spielt die Rechtswidrigkeit nach wie vor eine zentrale Rolle und zieht bis heute ihre Kreise. 6. Wissensakkumulation Das prozedurale Element der Wissensakkumulation im Rahmen des Verfahrens ist dahingehend einzuordnen, dass die Informationen der beratenden Person nach § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, Nr. 3 SchKG der Schwangeren Wege aufzeigen sollen, die sie unterstützen und ihr bei der Durchsetzung von Ansprüchen helfen. Die Schwangere soll ihrerseits ihre gegenwärtige Situation erläutern und dadurch der Beratungsperson die Möglichkeit geben, die Beratung an ihre konkrete Situation anzupassen. Die Kumulation von Entscheidungsfaktoren soll sicherstellen, dass die Schwangere sich nur informiert – nachdem ein Für und Wider des Schwangerschaftsabbruchs erörtert wurde – für den Abbruch der Schwangerschaft entscheidet. Der Informationsaustausch erfolgt allerdings nicht auf der Stufe gleicher Akteure, die alle ihr jeweils unterschiedliches Wissen zum Besten geben und so eine differenzierte Betrachtungsweise von allen Standpunkten aus ermöglichen. Die Schwangere soll vielmehr ihre Beweggründe für einen Abbruch darlegen und die beratende Person versucht sodann ihrerseits durch einseitige Informationen, ihr Beratungswissen zu vermitteln und der schwangeren Frau individuelle Bewältigungsoptionen aufzuzeigen. Hierauf soll die Schwangere erwidern, warum die aufgezeigten Wege für sie dennoch nicht zumutbar sind und ein Ausweg aus der Konfliktlage daher nicht möglich ist. Die Beratungssituation ist demnach zwar durchaus eine Situation der Wissenssammlung,92 allerdings keine, in der spezifisch prozedural „an einem Strang gezogen wird“, um den Konflikt zu beseitigen. Das Konzept baut auf einen zwangsläufig abwechselnden Dialog zwischen Schwangerer und Beratungsperson, welche beide auf die gegenseitigen Informationen derart angewiesen sind, dass ohne die Aussagen des Gegenübers eine kommunikativ zustande gekommene Lösung nicht denkbar ist. Gleichwohl trägt dieser Regelungskomplex, der der Schwangeren vielfältige Konfliktlösungsmöglichkeiten aufzeigen soll, das klassische Konzept eines „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“

91 92

Schweiger, ZRP 2018, 98 (100 f.). So auch Berdin, BLJ 2010, 39 (42).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

in sich.93 In dem Verfahren sollen die Rechte des Embryos geschützt werden. In der Konstellation des Schwangerschaftsabbruchs erweist sich der Grundrechtsschutz durch Verfahren gegenüber einem materiellen Schutzkonzept als erheblich effektiver.94 7. Reflexives Recht mit Beobachtungsstrategien Letztendlich spiegelt sich in der vom Bundesverfassungsgericht in Bezug auf die Wirkungsweise des Beratungskonzepts statuierten Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers95 das prozedurale Strukturelement der rationalen Lernfähigkeit des Rechts wider. Diese soll zu einer rechtlichen Flexibilisierung beitragen. Nach der hierfür eingeführten Vorschrift des § 10 Abs. 1 SchKG haben die Beratungsstellen einen jährlichen schriftlichen Bericht über ihre Arbeitsweise abzuliefern. Die beratenden Personen haben für die Erstellung dieses Berichts nach § 10 Abs. 2 S. 1 SchKG Aufzeichnungen über die von ihnen geführten Beratungen anzufertigen. Die Aufzeichnungen dienen sodann der nach §§ 15–18 SchKG an­ zufertigenden Bundesstatistik über Schwangerschaftsabbrüche. Die Schutzpflicht des Gesetzgebers erschöpft sich nicht im Erlass einer gesetzlichen Regelung, sondern diese muss durch Einholung verlässlicher Informationen und Tatsachen daraufhin überprüft werden, ob sie den angedachten Schutz auch praktisch und verfassungsgemäß umsetzen kann; dies nicht zuletzt aus dem Grund, weil ein unwirksamer Schutz zu einer geringeren Gewichtung des Rechtsguts im Allgemeinen führen kann.96 Die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs, bei der das einzig Gewisse, über das man sich einigen kann, die allzeit währende normative Umstrittenheit sein dürfte,97 hat das Bundesverfassungsgericht dazu veranlasst, bei dieser Regelung besonders die Effizienz des neuen Schutzkonzepts im Auge zu behalten, um auf eine verfassungswidrige Unterschreitung des Schutzniveaus des Embryos mittels eines Strategiewechsels reagieren zu können. Die hohe Bedeutung des Rechtguts und die Art der Gefährdung würden zu einer gesteigerten Pflicht des Gesetzgebers in diesem Bereich führen.98 Diese an das Modell der zivilrechtlichen Produktbeobachtungspflicht angenäherte Obligation

93

Saliger, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 265 (285); vgl. auch Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 130 f. 94 Schweiger, ZRP 2018, 98 (100 f.). 95 BVerfGE 88, 203 (269, 288 f., 309 ff.). 96 Starck, JZ 1993, 816 (821). 97 Vgl. auch Eser, JZ 1994, 503 (510), der vom Vorliegen eines „vielleicht nie befriedigend zu lösenden Menschheitsproblems“ spricht. 98 BVerfGE 88, 203 (310); Hillenkamp, in: FS Eisenberg, S. 301 (306) sieht daher in den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch das „prominenteste Beispiel“ für die Beobachtungsund Nachbesserungspflichten.

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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ist dem Strafrecht zwar nicht mehr fremd,99 allerdings steht die Einhaltung der Beobachtungspflicht durch den Gesetzgeber im Fall der §§ 218 ff. StGB in der Literatur unter immenser Kritik.100 Die Beobachtungspflicht könne nur mithilfe politischer Unterstützung umgesetzt werden, an welcher es mangele.101 Auch die Befürchtung einiger Autoren,102 sofort unter Rechtfertigungsdruck zu stehen, wenn sie die aktuelle Regelung der §§ 218 ff. StGB erneut einer kritischen Analyse unterziehen würden, weist darauf hin, dass die unermüdlichen Kontroversen über die normativen Gegebenheiten des Schwangerschaftsabbruchs103 zu einer (vorläufig) endgültigen Regelung geführt haben, die der Gesetzgeber nur äußerst ungern wieder in den Fluss der Meinungsströme entgleiten lassen will. Hierin liegt eine gewisse Verdrängung der Tatsache, dass es sich auch bei der aktuellen Fassung der §§ 218 ff. StGB nur um einen „Friedstand mit Zukunftsvorbehalten“104 handeln könnte.105

II. Vorherrschendes Meinungsbild in der Literatur Das Meinungsbild in der Literatur bezüglich einer Einordnung des beratenen und rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs als spezifisch prozedurale Regelung divergiert. Während einige Stimmen in der Literatur in den §§ 218 ff. StGB eine klassische Ausprägung von Prozeduralisierung im Medizinstrafrecht er­blicken, wollen andere Ansichten den Regelungskomplex aufgrund des Fehlens für sie spezifisch prozeduraler Merkmale nicht dem Phänomen der Prozeduralisierung zuschlagen. Die jeweilige Einordnung basiert zwangsläufig auf dem persönlichen Grundverständnis von Prozeduralisierung, welches sich, wie oben bereits erläutert, von Autor zu Autor extrem unterschiedlich darbietet. 1. Einordnung der §§ 218 ff. StGB als Teil einer Prozeduralisierung Die §§ 218 ff. StGB werden in der Literatur überwiegend als Teil einer Prozeduralisierung anerkannt. Im Folgenden sollen die Gründe der jeweiligen Vertreter hierfür kurz dargestellt werden. 99

Schulz, StV 1994, 38 (42). Büchner, ZfL 2007, 72 (72 ff.); Ellwanger, ZfL 2007, 86; Tettinger, in: FS Ipsen, S. 767 (778 f.); ebenso eine Nichtbeachtung der Pflicht konstatierend Huster, ZfRSoz 2003, 3 (23) mit Fn. 80; a. A. insoweit Hillenkamp, in: FS Eisenberg, S. 301 (318 ff.). 101 Tröndle, NJW 1995, 3009 (3019). 102 Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch, S. 43. 103 Laufs, NJW 1995, 3042: „qualvoller Weg“. 104 Laufs, NJW 1995, 3042 (3043); vgl. auch Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1390): „Notordnung“. 105 Vgl. auch Huster, ZfRSoz 2003, 3 (23) mit Fn. 80, der bezweifelt, ob es dem Gemeinwesen diene, dass sich der Gesetzgeber immer wieder aufs Neue mit Reformierungsgedanken beschäftigen müsse. 100

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

a) Winfried Hassemer Hassemer, der sich, soweit ersichtlich, als Erster eingehend mit dem Phänomen der Prozeduralität in der Materie des Schwangerschaftsabbruchs befasst hat, erblickt im Beratungsmodell einen „Typus von Prozeduralisierung“106. Er stellt besonders auf drei Charakterzüge der Regelung ab, die für ihn das spezifisch Prozedurale begründen: Der Gesetzgeber entlasse die Sachentscheidung als solche zwar aus seiner originären Entscheidungsgewalt, binde sie allerdings an prozedurale Kautelen und akzeptiere bei deren Einhaltung auch das gefundene Ergebnis, selbst wenn dieses bedeute, dass die Mutter sich gegen das Kind entscheide und es damit zu einer unleugbaren Rechtsgutsverletzung komme.107 Durch diese Vorgehensweise verändere sich die Schutzrichtung und auch die Aufgabe des Strafrechts erheblich, was allerdings nicht als ein Rückzug oder eine Resignation eines „quantitativ geringer[en] […] oder qualitativ milder[en]“ Strafrechts missinterpretiert werden dürfe.108 Das Strafrecht sichere weiter flankierend die Rahmenbedingungen ab; Rechtsgüterschutz werde allerdings nur noch mittelbar betrieben: Indem die Beratungs- und Entscheidungskonditionen strafrechtlich abgesichert würden, um eine Beratung sicherzustellen, die wiederum selbst unmittelbar das Lebensrecht des Embryos zu schützen vermöge.109 Das Strafrecht löse sich von der Idee eines absoluten Rechtsgüterschutzkonzepts und schicke strafrechtlichen Schutz aus dessen „Peripherie“.110 Hassemer, der die Vorzüge der Prozeduralisierung erkennt und zu ihrer Aktivierung ermutigen möchte, sieht letzten Endes in der verfahrensrechtlich abge­ sicherten und damit eigenverantwortlich getroffenen Entscheidung der Schwangeren den „nach unserem heutigen Wissen […] beste[n] Weg zum Schutz des Rechtsguts, der uns offen ist“111.

106

Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das mate­ rielle Strafrecht, S. 9 (15). 107 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das mate­ rielle Strafrecht, S. 9 (15). 108 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (737). Allerdings wird in der Literatur das Beratungskonzept häufig mit vollkommener Absenz von Strafrecht verbunden: Otto, Jura 1996, 135 (138); Tröndle, NJW 1995, 3009 (3010); Weiß, JR 1993, 449 (454). 109 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (737); krit. in diese Richtung Otto, Jura 1996, 135 (138); ebenso von Hippel, in: FS Geerds, S. 137 (155): „Auswechselung des Rechtsgutes“. 110 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (737). 111 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (751).

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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b) Frank Saliger Saliger erblickt in den Regelungen der §§ 218 ff. StGB „die bekannteste prozedurale Legalisierung von medizinischer Intervention in Deutschland“112. Nachdem er in der Prozeduralisierung das freiheitssichernde Substrat eines Grundrechtsschutzes durch Verfahren eindeutig wiedererkennt,113 fasst er unter den Begriff der Prozeduralisierung nicht nur den Tatbestandsauschluss nach § 218a Abs. 1 StGB, sondern auch die Vorschriften zur Beratung nach § 219 i. V. m. dem SchKG sowie die flankierenden Vorschriften der §§ 218c, 240 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, 170 Abs. 2 StGB.114 Neben dem prozeduralen Spezifikum einer Vorverlagerung des Grundrechtsschutzes hebt er insbesondere hervor, dass die erheblichen Bewertungsunsicherheiten beim Schwangerschaftsabbruch zu einer Prozeduralisierung geführt haben dürften: Die §§ 218 ff. StGB seien die gesetzgeberische Kompensationshandlung auf empirische und normative Probleme des Schwangerschaftsabbruchs.115 Solange niemand eine universell gültige Lösung für die Regelung des Schwangerschaftskonflikts für sich beanspruchen könne, müsse als Konsequenz hieraus die Entscheidung der Schwangeren überantwortet werden.116 Ebenso wie Hassemer, sieht auch Saliger die Tatsache als charakteristisch an, dass die konkrete Handlung zweifelsfrei strafrechtlich geschützte Güter berühre oder verletze, allerdings durch ein ex ante durchzuführendes Verfahren lega­ lisiert werden könne.117 Letztendlich sieht Saliger in der Regelung, ebenfalls wie ­Hassemer, keine strafrechtliche Eliminationstendenz, sondern einerseits eine Verlagerung der Schutzrichtung von einem direkten Schutz zu einem verfahrensrechtlichen Schutz und andererseits eine koppelungsfreudige Neigung des Strafrechts hin zu anderen Rechtsgebieten, wie im Falle der §§ 218 ff. StGB hin zu verwaltungsrechtlichen Normkomplexen, an denen Orientierung gesucht werde.118 Vehemente Kritik übt Saliger allerdings an den nur unzureichend gewichteten Grundrechtspositionen der Frau, die sich in einem Ungleichgewicht der gesetz­ lichen Regelung niederschlügen. Hier müsste die Autonomie der Frau gestärkt werden, indem ihre Grundrechte gegenüber den Rechten des Embryos als gleichwertig anerkannt würden. Durch eine Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs nach erfolgter Beratung könnten so bestehende Spannungen der gesetzlichen Regelung aufgelöst werden.119 112

Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (138). Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (170). 114 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (128 f.); Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (447). 115 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (130). 116 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (143) m. w. N. 117 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (131). 118 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (131 f.). 119 Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (133); Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (143 f.). 113

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

c) Albin Eser Esers „notlagenorientiertes Diskursmodell“120 wird nahezu einhellig als Vorbild der Rechtfertigungskonstruktion des SFHG, welches als verfassungswidrig erklärt wurde, angesehen.121 Eser stellt im Rahmen des Schwangerschaftskonflikts eine zweifach bestehende elementare Bewertungsunsicherheit fest. Diese lege auf materialer Güterabwägungsbasis einer als vollkommen anzusehenden substanziellen Regelung Steine in den Weg bzw. lasse diese wohl gar als utopisch erscheinen: Auf der einen Seite stehe in Frage, ob ein Zeitpunkt herauskristallisiert werden könne, ab welchem eine Ungleichbehandlung des Fötus mit dem geborenen Leben als ausgeschlossen gelten müsse, zum anderen bestehe die Ungewissheit, welchem Gut trotz Kollisionslage eine Höherwertigkeit zuzugestehen sei.122 Eser kritisiert zwar vehement die seit 1995 geltende Konstruktion unter dem Gesichtspunkt der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, weil der Staat das Ergebnis eines von ihm selbst kodifizierten Verfahrens nicht für rechtswidrig erachten dürfe und plädiert somit für eine Rechtfertigungskonstruktion. Dennoch geht deutlich hervor, dass er die nicht objektivierbare, sondern nur höchstpersönlich greifbare und durch eine Beratungspflicht diskursiv gebundene Entscheidungsgrundlage als prozedurale Elemente anerkennt. Zusammengefasst sieht Eser in den §§ 218 ff. StGB wohl bereits starke, prozedurale Ausprägungen, die in die richtige Richtung weisen, an deren Ende allerdings eine Rechtfertigungslösung stehen müsste, um den Weg effektiv zu Ende gehen zu können. Dies verdeutlicht sein Titel „Aufbruch zu neuem Weg, Halt auf halber Strecke“123 eindringlich. „Statt einem universalen […] Menschenbild nachzujagen“, fordert er „so weit wie möglich den […] Überzeugungen des konkreten Menschen gerecht zu werden“.124 d) Ramona Francuski Francuski ordnet die zentrale Regelung des § 218a Abs. 1 StGB nicht nur als Prozeduralisierung de lege lata ein, sondern sie sieht darin überhaupt – ihr eigenes Ausgangsverständnis von Prozeduralisierung zugrundelegend – ein „erstes gesetzlich festgeschriebenes Beispiel von Prozeduralisierung“125 und im Übrigen eines

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Eser, NJW 1992, 2913 (2913 ff.). Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (736); Schreiber, Archives of Gynecology and ­Obstetrics 1995, 381. 122 Eser, KritV Sonderheft 2000, 43 (46). 123 In diese Richtung auch Denninger, KritV Sonderheft 1993, 128: „Halb und Halb?“; Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1059: „auf halbem Wege stehen geblieben“; ­Hassemer, KritV Sonderheft 1993, 156: „Auf halber Strecke“. 124 Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (133). 125 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 192. 121

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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der „prominenteste[n] Beispiele für die Bedeutung formeller Vorgaben im materiellen Strafrecht“126. Entscheidend für ihre prozedurale Einordnung ist, dass sie eine Erscheinungsform von Prozeduralisierung nur in Regelungen erblickt, die die entsprechende materielle Regelung ersetzen.127 Dies sei bei der Regelung des § 218a Abs. 1 StGB der Fall.128 Indem die nach Beratung gefasste Entscheidung der Schwangeren vorbehaltlos an die Stelle einer vom Gesetzgeber inhaltlich vorgegebenen Determinierung trete, repräsentiere sie die absolute materielle Regelung und sei deswegen Teil einer originären Prozeduralisierung.129 Diese notwendige Substitutionsaufgabe könne die (nur) flankierende Vorschrift des § 218c StGB hingegen nicht leisten, weil sie nicht an die Stelle einer materiellen Regelung trete. Indem sie nicht die Abtreibung des Embryos, sondern (nur) die Verletzung formeller Verhaltensvorgaben pönalisiere, könne sie daher nicht unter die Kategorie der Prozeduralisierung gefasst werden.130 e) Theresa Schweiger Schweiger erkennt in den Regelungen des Beratungskonzepts ebenfalls prozedurale Merkmale und ordnet deshalb die Vorschrift des § 218a Abs. 1 StGB folglich als prozedurales Strafrecht ein. Der Gesetzgeber befinde sich in dem Dilemma, dass er das Kind als Person nicht einbeziehen, gleichzeitig aber auch die Interessen der schwangeren Frau nicht einfach übergehen könne. Die Materie des Schwangerschaftsabbruchs leide daher an normativen, kognitiven und zeitlichen Unsicherheiten, weshalb eine klassisch konditionale Strafrechtsregelung versagen müsse.131 Um nicht für eines der beiden in der Waagschale liegenden Rechtsgüter eindeutig Position beziehen zu müssen, übertrage der Gesetzgeber die Entscheidung auf die Schwangere. Diese müsse in einem diskursiven und formalisierten Verfahren ex ante über die Verletzung oder Verschonung des Lebensrechts entscheiden. Neben dem klassischen Grundrechtsschutz durch Verfahren seien somit alle spezifisch prozeduralen Merkmale verwirklicht.132 Lediglich die Vorschrift des § 218c StGB will Schweiger nicht unter das von ihr vertretene Prozeduralisierungskonzept fassen, weil sie keine Ausprägung prozeduralen Strafrechts darstelle.133

126

Francuski, JuS 2017, 217. S. dazu das Schaubild bei Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 175. 128 Vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 192. 129 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 192. 130 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 193 f.; krit. dazu Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (444). 131 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 260. 132 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 261. 133 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 261 f. 127

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

2. Negierung der §§ 218 ff. StGB als Teil einer Prozeduralisierung Neben diesen klaren Befürwortern einer Prozeduralisierung im Rahmen der §§ 218 ff. StGB existieren allerdings auch Stimmen, die den Regelungskomplex nicht als Teil einer Prozeduralisierung einordnen. Im Folgenden soll auf diese näher eingegangen werden. a) Günther Stratenwerth Stratenwerth erkennt in den §§ 218 ff. StGB nicht das typisch prozedurale Dilemma um das „spezifische Nichtwissen“, sondern das einer Bewertung der ins Feld geführten, gefährdeten Rechtsinteressen. Es gehe um einen höchstpersönlichen Konflikt der Schwangeren, den nur sie selbst „authentisch“ durch ihre individuelle Emotionslage beurteilen könne; außenstehenden Personen sei ein Urteil über die situativen Bedingungen hingegen naturgemäß verwehrt.134 Dennoch sei die Straffreistellung des beratenen Schwangerschaftsabbruchs, möge das Konzept auch „vorbildlichen Grundrechtsschutz durch Verfahren“135 gewährleisten, keine prozedurale.136 Stratenwerth möchte dies mit dem Grundverständnis seiner Prozeduralisierungsidee verdeutlichen. Dieses besteht darin, dass von Prozeduralisierung nur gesprochen werden könne, soweit das das materielle Urteil substituierende Ergebnis der Prozedur gerade deshalb respektiert werde, weil es aus ihr hervorgegangen ist.137 Die Entscheidung einer schwangeren Frau, die sich durch die Beratung nicht überzeugen hat lassen und trotz der Prozedur einen Abbruch vornehmen lässt, werde somit nicht deshalb anerkannt, weil sie gerade als solche aus der Beratung hervorgetreten ist, sondern weil es schlicht die autonome Entscheidung der Frau sei. Diese hätte sie auch ohne ein Verfahren getroffen; das Verfahren wäre nicht einmal mehr notwendig gewesen für ihre persönliche Entscheidung.138 b) Lisa Borrmann Borrmann erscheint die Einordnung des § 218a Abs. 1 StGB als prozedurale Legitimation jedenfalls „auf den ersten Blick“ einleuchtend:139 Die beratene Schwangere entscheide im Vorhinein über die Rechtmäßigkeit des Eingriffs und im Gegenzug werde auf eine materiellrechtliche Überprüfung verzichtet. Der Rechts 134

Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (644). Ebenso Starck, JZ 1993, 816 (819); sowie Schulz, StV 1994, 38 (41) im Hinblick auf die Vorgaben von BVerfGE 88, 203 ff. 136 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (646). 137 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (645 f.). 138 Stratenwerth, in: FS Hassemer, S. 639 (646). 139 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 189. 135

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

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güterschutz werde somit nur noch mittelbar aktiviert. An die Stelle einer materiellen Regelung trete aufgrund von Normierungsunsicherheiten eine prozedurale.140 Sie erkennt somit an, dass die Regelung zumindest Kennzeichen einer prozeduralen Legitimierung aufweise.141 Allerdings fehlt Borrmann auf den zweiten Blick das spezifisch legitimierende Element der Regelung. Ähnlich wie Stratenwerth, sieht sie in § 218a Abs. 1 StGB lediglich die rechtliche Umsetzung der materiellen Entscheidungsbefugnis der Schwangeren. Diese könnte sich auch schon vor der Beratung für ihre letztgültigen Wertvorstellungen und damit endgültig gegen das Kind entschieden haben. Pralle die Beratung an der reservierten Schwangeren ohne jegliche Resilienz ab, würde somit nicht das Ergebnis der Beratung anerkannt, (gerade) weil ein Verfahren durchlaufen wurde, sondern allein die Entscheidung der Frau aufgrund ihrer individuellen Prämissen.142 Die prozeduralen Elemente ergäben sich zwangsläufig aus der Natur der mate­ riellen Entscheidungsbefugnis, die der Schwangeren zugestanden werde, nicht aber aus (originär) prozedural bedingten Notwendigkeiten. Eine materiellrechtliche Richtigkeit könne schon gar nicht angestrebt werden, weil eine solche gar nicht existiere und damit keiner ex post-Überprüfung zugänglich sei. Die materielle Wahrheit sei mit der Einschätzung der schwangeren Frau deckungsgleich.143 Die Legalisierung werde also nicht auf verfahrensrechtlichem, sondern auf materiellem Wege erreicht. Daraus ergäben sich aber notwendig die prozeduralen Elemente wie u. a. die Vorverlagerung der Entscheidung. Der Arzt müsse vor dem Abbruch um die Entscheidung der Schwangeren wissen und diese müsse zuvor eine Beratung erhalten haben.144 Die Schwangere sei zudem keiner mit Risiken behafteten Entscheidungslage ausgesetzt, die durch prozedurale Regelungen abgemildert werden müsse, weil nur sie entscheiden könne.145 Zusammengefasst resultieren Borrmann zufolge die prozeduralen Elemente des § 218a Abs. 1 StGB also aus der Natur der Regelung, nicht aus einer spezifisch prozeduralen Intention.

140 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 189 m. w. N. 141 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 189. 142 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 190. 143 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 191. 144 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 191. 145 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 190.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis In der Regelung des § 218a Abs. 1 StGB spiegeln sich die Elemente, die als typisch prozedural interpretiert werden, deutlich wider. An die Stelle einer materiellen Regelung, wie das soziale Indikationsmodell eine darstellte, ist das Verfahren der Beratung getreten. Daneben existiert zwar die medizinisch-soziale Indikation, die auch gegenwärtige und zukünftige Lebensverhältnisse der Schwangeren einbezieht. Allerdings setzt diese neben einer womöglich bestehenden sozialen Misslage eine Gefahr für das Leben oder den Gesundheitszustand der Schwangeren voraus, welche sich nach ärztlicher Erkenntnis beurteilt. Mit dem Beratungsmodell wird der Schwangeren, mögen die dahinterstehenden Gründe, wie aufgezeigt, auch verschiedene sein, die letztgültige Entscheidung überantwortet. Das Strafrecht setzt auf einen Kurswechsel und schützt nicht mehr das Rechtsgut Leben unmittelbar durch materielle Vorgaben, sondern es schützt die Entscheidungsbedingungen der einer Privatperson übertragenen Entscheidung. Auch wenn die Bereitschaft der Schwangeren, sich zu äußern, aus guten Gründen nicht erzwungen werden soll, weil sonst das Beratungsverfahren alsbald wieder in Richtung eines Indikationsmodells tendieren würde, ist das System auf einen Diskurs ausgerichtet. Dieser soll eine Kumulation von entscheidungsrelevanten Informationen und in Folge dessen eine Überbrückung konsensloser moralischer, rechtlicher sowie medizinischer Entscheidungsdilemmata in der Sache ermöglichen. Ebenfalls zeigt die Regelung Ausprägungen von prozeduralen Beobachtungsstrategien. Aufgrund der analysierten Strukturen weist die Mehrzahl der mit diesem Themenbereich befassten Rechtswissenschaftler zumindest die Regelung des § 218a Abs. 1 StGB dem Phänomen der Prozeduralisierung zu, sollten dabei auch unterschiedliche Prozeduralisierungskonzepte vertreten werden. Die Vertreter der Gegenansicht führen geschlossen an, dass die Beratungsregelung keine prozedurale sei, weil die Schwangere auch ohne das entsprechende Verfahren eine Entscheidung treffen könne und ihre Entscheidung damit nicht deswegen anerkannt werde, weil gerade ein bestimmtes Verfahren sie hervorgebracht hat, sondern allein deshalb, weil ihr die materielle Entscheidungsbefugnis obliege. Ihre Entscheidung könne ex post auch nicht überprüft werden, weil sie sich nach keiner materiellen Entscheidung richten oder sich dieser bestmöglich annähern müsste. Zu einer Abtreibung fest entschlossene Schwangere ließen sich durch eine Beratung nicht von ihrem Vorhaben abhalten; die Prozedur wäre somit gänzlich ohne Einfluss auf die gefällte – und dennoch akzeptierte – Entscheidung.146 Auf den ersten Blick erscheint diese Argumentation schlüssig. Die Schwangere entscheidet – gleich ob sie das Verfahren ernst nimmt oder nicht. Ihre Entscheidung resultiert womöglich nicht aus dem Verfahren. 146

Tröndle, in: FS Müller-Dietz, S. 919 (929).

A. Analyse der §§ 218 ff. StGB

203

Allerdings verkennt dieser Einwand bei genauerer Betrachtung, dass die Schwan­ gere ohne die Beratung gerade keine straffreie Entscheidungsoption besitzt.147 Wird das Verfahren nicht durchgeführt, gewährt das Recht gerade keine Straffreiheit. In Folge dieser grundlegenden Einsicht kann auch das Institut der hypothetischen Einwilligung in dieser Situation nicht herangezogen werden, weil sonst der gesetzgeberischen Intention zutiefst zuwidergehandelt würde.148 Der verteidigende Einwand der Schwangeren, dass sie sich auch mit Beratung sicher für eine Abtreibung und gegen das Kind entschieden hätte, greift daher nicht.149 Ansichten, die vertreten, dass sich das Verhalten ohne Durchführung der Beratung – weil man dieser eigenwillig keine Chance einräumt – nicht von einer straflosen zu einer strafbaren Tötungshandlung wandeln könne,150 verkennen vehement die spezifisch prozedurale Regelungsintention des Gesetzgebers. Das Verfahren hat in diesem Sinne das Ergebnis gleichwohl hervorgebracht: Sollte die Schwangere selbst passiv die Beratung über sich ergehen lassen, so ist sie gezwungen, wenigstens die Informationen der beratenden Person wahrzunehmen und in diesem Moment über ihre Situation zu reflektieren.151 Kann die Beratung die Schwangere nicht von einem bewältigbaren Weg mit dem Kind überzeugen, so ist dies das Ergebnis, das aus der Prozedur schließlich hervorgegangen ist. Das zu enge Verständnis der Gegenansicht im Sinne einer zwingenden Konnexität von Verfahren und Ergebnis, das dazu führt, dass ohne Verfahren keine Entscheidung gefällt werden kann, entspricht zudem nicht dem Begriff der Prozeduralisierung.152 Dass sich die Entscheidung nicht an einer materiellen, in Wirklichkeit existenten Wahrheit verifizieren lassen kann, stellt keinen Einwand gegen den prozeduralen Charakter der Regelung dar, sondern gerade das stärkste Argument dafür, dass es sich bei § 218a Abs. 1 StGB um eine Prozeduralisierung im allerklassischsten Sinne handelt. Überbrückt werden soll kein fehlendes tatsächliches Wissen, das erforderlich ist, um eine dem materiellen Recht entsprechende Entscheidung treffen zu können, sondern die Entscheidung als solche, die die fehlende inhaltliche Vorgabe des Gesetzgebers ausnahmslos substituiert. Die Regelung kann nach der hier entwickelten Kategorisierung folglich als Prozeduralisierung in einem „diskursiv“-„fördernd-ersetzenden“ Sinne verstanden werden.

147

So auch Gropp, GA 1994, 147 (158), der gerade die „Gegenleistung“ der Frau darin sieht, sich einer Beratung zu unterziehen, die sodann die Strafwürdigkeit des Verhaltens entfallen lässt. 148 Böse, ZIS 2016, 495 (499). 149 Böse, ZIS 2016, 495 (498 f.). 150 So aber Otto, Jura 1996, 135 (138). 151 Vgl. Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 146; a. A. wohl Tröndle, NJW 1995, 3009 (3017). 152 So zutr. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 192.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung Analysiert man die unterschiedlichen prozeduralen Strukturmerkmale im Ganzen, so zeigt sich deutlich, dass sie allesamt in ihrem Kern verwirklicht sind. Materielle Kriterien schwinden, es wird ein diskursives Verfahren eingesetzt, in welchem versucht wird, die divergierenden Grundrechte zu einem Ausgleich zu bringen und auf diese Weise Grundrechtsschutz durch Verfahren zu betreiben. Jedwede Entscheidung der Schwangeren wird ex ante nach Durchführung des Verfahrens zumindest durch Gewährung von Straffreiheit akzeptiert. Ebenso auffällig zeigt sich allerdings die gesetzgeberische Tendenz, vom Bundesverfassungsgericht durch die Entscheidung vom 28.05.1993 vermittelt, der Idee einer Prozeduralisierung nicht vollkommen zu vertrauen. Eine Rechtfertigung des Abbruchs, nachdem das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren eingehalten wurde, soll ausdrücklich ausgeschlossen sein. Damit lehnt das Bundesverfassungsgericht die Kategorie der spezifisch rational gewonnenen, naturgemäß nicht in der klassischen Kategorie der Rechtfertigungsgründe anzusiedelnden Figur der prozeduralen Rechtfertigung ab.153 Zudem wird die Entscheidung der Schwangeren nicht als eine solche höchstpersönlicher Natur eingeschätzt, die nur sie, von Dritten unüberprüfbar, treffen könne. Auf diese Weise wird stringent versucht, die prozedurale Idee zu relativieren und ihr nicht noch mehr Potenzial im Sinne einer neuen Rechtfertigungskategorie zuzugestehen. Ein weiteres Anzeichen hierfür ist in der stiefmütterlich behandelten Beobachtungspflicht zu sehen. Der Gesetzgeber des SFHÄndG misstraut der durch das SFHG eingeführten Neukategorisierung einer prozeduralen Rechtfertigung augenscheinlich. Gleichzeitig ist er sich aber wohl bewusst, dass er auf prozedurale Instrumente und ihre vorteilhaften Effekte nicht vollends verzichten kann. Er möchte sich ihrer, insbesondere der „Legitimation durch Verfahren“, bedienen und durch den verfahrensrechtlichen Tatbestandsausschluss einen Ausweg aus seiner Misere suchen. Das Strafrecht stößt unweigerlich an seine äußersten, dehnbaren Grenzen, wenn es versucht, in der Grauzone der Regelungsfähigkeit des Schwangerschafts­abbruchs allseits befriedigende Lösungen zu schaffen. Dies versucht das Bundesverfassungsgericht zwar mit der materiellrechtlichen Vorgabe der „Unzumutbarkeit“, die auch in rechtfertigender Weise überprüft werden könne, zu überdecken. Gleichzeitig erspart es sich insgeheim eine dahinterstehende Konkretisierung und Praxis­ anwendung des Begriffs, weil es auf sie durch die Regelung des § 218a Abs. 1 StGB im Ergebnis vollends verzichten kann. Auch möchte es den tragenden Kern der Entscheidung, das absolute Lebensrecht des Embryos und die damit verbundene Gebärpflicht der Schwangeren, so gut es geht, aufrechterhalten und die bestehende Kollisionslage abschwächen. Nur in Ausnahmefällen soll das Gegenrecht der Schwangeren im Ergebnis einen straffreien Abbruch ermöglichen. 153

Vgl. allerdings Schreiber, Archives of Gynecology and Obstetrics 1995, 381, der die aktuelle Konzeption des § 218a Abs. 1 StGB dennoch als prozedurale Rechtfertigung bezeichnet; ebenso Eser, in: FS Süssmuth, S. 117 (132).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

205

Insgeheim ist der grundrechtliche Konflikt allerdings so vehement und offensichtlich, dass es sich der prozeduralen Strukturelemente kompromissartig bedienen muss, auch wenn es diese sodann unter dem Deckmantel einer letztlich – dies soll im Ergebnis nicht bestritten werden – für das Kind effektivsten Lebenschance im Beratungskonzept versteckt. Dass die Schwangere als Partnerin im Lebensschutz fungiere und alleine aus diesem Grund eine Entscheidungsmacht innehabe, verschleiert die grundrechtlich erhebliche Position der Schwangeren, welche nach dem Bundesverfassungsgericht ebenfalls aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet wird. Gleichzeitig tritt im zweiten Schwangerschaftsabbruchsurteil im Gegensatz zum ersten Schwangerschaftsabbruchsurteil die Relativität des Lebensschutzes und eine Abschwächung seiner Absolutheit gegenüber kollidierenden Rechtsgütern schon deutlicher zum Vorschein.154 Die Idee der Prozeduralisierung, an den Grenzen zu regeln, an denen strafrechtliche Gebote nicht bedingungslos durchgesetzt werden können, fruchtet hier ungemein. Aus der Verwendung der prozeduralen Strategie bei gleichzeitigem Misstrauen entsteht allerdings ein instabiles Ungleichgewicht. Aus diesem Grund ist es erforderlich, nicht nur die Vorteile zu ziehen und diese mit einer rechtlich nicht praktikablen Regelung zu erkaufen, sondern die Konstruktion im Ganzen zu billigen und umzusetzen. Im Ergebnis erscheint in diesem Regelungskomplex eine Prozeduralisierung allerdings im Grundsatz als erforderlich und gewinnbringend.

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG Nach der Analyse der §§ 218 ff. StGB schließt sich die der PID nach § 3a ESchG an. Dazu sollen ebenfalls zunächst die prozeduralen Strukturen analysiert werden, bevor auf das Meinungsbild in der Literatur eingegangen und die Einordnung in das eigene Begriffsverständnis von Prozeduralisierung vorgenommen wird. Sodann soll ebenfalls festgestellt werden, ob der Einsatz einer Prozeduralisierung in diesem Zusammenhang funktional gerechtfertigt ist.

I. Analyse des § 3a ESchG hinsichtlich prozeduraler Elemente Im Folgenden wird die Regelung der PID einer Analyse in Bezug auf prozedurale Elemente unterzogen. Dadurch soll der verwirklichte Grad an prozeduralen Strukturen herausgearbeitet werden.

154 So auch Kluth, FamRZ 1993, 1382 (1384). Damit gewinne das BVerfG an „Abwägungsund Gestaltungsspielraum“.

206

7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

1. Nichtexistenz bzw. Schwinden materiellrechtlicher Regelungen Die gesetzliche Regelung der PID wurde als längst überfällig angesehen.155 Der das ESchG erlassende Gesetzgeber von 1990 ging davon aus, dass die Untersuchung totipotenter Zellen, die zu dieser Zeit als einzig möglich erschien, strafrechtlich bereits durch die entsprechenden Verbote des ESchG verboten werde. Die Untersuchung pluripotenter Zellen, wie sie Gegenstand der Bundesgerichtshof-Entscheidung vom 06.07.2010 war, hatte er nicht vor Augen.156 Die Regelungen des ESchG waren damit vom medizinischen Fortschritt überholt worden. Dennoch blieb der Gesetzgeber lange Zeit untätig und hielt sich mit materiellrechtlichen ­Regelungen in diesem Bereich stark zurück, bis er durch das Urteil vom 06.07.2010 faktisch dazu gezwungen wurde, sich einer gesetzlichen Fundamentierung der PID anzunehmen. Für diesen materiellen Regelungsverdruss wird häufig der fehlende moralische Konsens in Diskussionen rund um die PID als Ursache identifiziert.157 Eine anfängliche und langwährende Nichtexistenz materiellrechtlicher Normen wird bei der PID damit deutlich und lässt sich als prozedurales Kennzeichen auffassen. Letztlich ist auch der verfassungsrechtliche Status des Embryos in vitro nach wie vor offen und wurde durch das zweite Schwangerschaftsabbruchsurteil nicht geklärt.158 Aber auch in der Regelung der Präimplantationsdiagnostik de lege lata spiegeln sich markante prozedurale Merkmale wider und legen das Bedürfnis offen, sich näher mit ihnen zu befassen.159 Ein Katalog im Sinne einer „Positivliste“ von „schwerwiegenden Erbkrankheiten“ ist aufgrund der Gefahr einer Stigmatisierung der von der Krankheit Betroffenen und einem damit verbundenen Lebensunwerturteil nicht existent.160 Der Gesetzgeber hat sich einer materiellen Regelung insoweit entzogen und lediglich den unbestimmten Rechtsbegriff der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ zur Voraussetzung erhoben und einer Einzelfallprüfung durch

155

Vgl. nur Reiß, HRRS 2010, 418 (423). Reiß, HRRS 2010, 418 (419). 157 Instruktiv Bahnsen / Spiewak, in: Die Zeit Nr. 43/2010, S. 37: „Nichts hatte man auf dem moralisch aufgeladenen Feld der Bioethik mehr gefürchtet [als die Notwendigkeit einer gesetz­ lichen Regulierung der PID].“ 158 BVerfGE 88, 203 (251). 159 Vgl. auch Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 196, die als prozedural charakterisiert, dass die Entscheidung der Frau über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der PID nach Beratung „an die Stelle einer inhaltlichen Leitlinie im materiellen Strafrecht“ trete. 160 Vgl. BT-Drs. 17/5451, S. 7; vgl. Pelchen / Häberle, in: Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3a ESchG Rdnr. 7; von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdia­ gnostik, S. 97; vgl. hingegen die Rechtslage in Großbritannien und die dort existierende Krankheitsliste der Human Fertilisation and Embryology Authority (HFEA), abrufbar unter: www. hfea.gov.uk/pgd-conditions/ (zuletzt abgerufen am 05.05.2020); vgl. dazu auch Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 314 f.; Duttge, ZStW 125 (2013), 647 (653). 156

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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eine Ethikkommission überlassen.161 Diese soll die Unbestimmtheit der Rechtsbegriffe ausgleichen.162 Der Vorteil eines Verzichts auf einen Indikationenkatalog wird u. a. auch darin gesehen, dass der medizinische Fortschritt ansonsten laufend eine Gesetzesaktualisierung nach sich ziehen würde, mit welcher womöglich nicht Schritt gehalten werden könne.163 Auch wird die Intention der Etablierung einer Ethikkommission darin gesehen, einen gerechten Ausgleich für die individuelle Situation der Betroffenen zu schaffen.164 Eine solche wäre im Wege einer rein materiellrechtlichen Regelung deutlich schwieriger. Harsche Kritik wird allerdings von anderer Seite geübt, dass sich nur mittels einer klaren Indikationsliste Rechtssicherheit statuieren ließe und eine Einzelfallprüfung durch eine Kommission anhand vager Orientierungskriterien eine gefährlich schleichende Ausweitungstendenz in sich berge,165 zumal die Kommission dadurch als „Ersatzparlament“ tätig werde.166 Nicht zuletzt sei auch eine einheitliche Spruchpraxis der Kommissionen zu besorgen.167 Insgesamt wird dem Gesetzgeber vorgeworfen, dass es sich beim PräimpG um ein „ungeliebtes Kind“ handele, das er materiell nur unzureichend aufziehe und umsorge.168 In dieser prozeduralen Komponente der PID spiegelt sich folglich das allgemeine Dilemma des Gesetzgebers wider, der sich zwischen einer materiellen, rechtssicheren Regelung, die allerdings gewisse rechtliche Wertungen unweigerlich mit sich bringt und diese explizit ausspricht, und einem mit Generalklauseln gespickten

161

Vgl. Huber / Lindner, MedR 2016, 945 (948); Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 80; Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 12 befürchtet allerdings, dass sich trotz der einzelfallbezogenen Einschaltung einer Ethikkommission ein faktischer „Krankheitskatalog“ heraus­ kristallisieren werde; in die gleiche Richtung aber unter einem positiven Einschlag Henking, ZRP 2012, 20 (21); a. A. hingegen Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 259 wegen der geringen Fallzahlen und mangelndem Informationsaustausch aufgrund datenschutzrechtlicher Vorgaben. 162 Kunz-Schmidt, NJ 2011, 231 (237). 163 Reiß, HRRS 2010, 418 (423); Ruso / T höni, MedR 2010, 74 (77). Zu den Nachteilen einer offenen Regelung ohne Krankheitsbeispiele vgl. Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 122. 164 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 41. 165 Henking, ZRP 2012, 20 (21); Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 105; vgl. auch Duttge, ZStW 125 (2013), 647 (653), der von einem Etikettenschwindel spricht, welcher eine enge Beschränkung der PID nur vorgebe. Ausweitungstendenzen befürchtet auch Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (83) im Hinblick auf einen zu großzügigen Umgang mit strafrechtlichen Irrtumsregeln. 166 Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 80; Pestalozza, MedR 2013, 343 (344 f.). 167 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 258 f. Zumindest wird nach § 5 Abs. 2 Nr. 6 PIDV gefordert, dass bereits erfolgte, ablehnende Voten anderer Kommissionen dem Antrag beizufügen sind. 168 Pestalozza, MedR 2013, 343 (350).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Verfahren befindet, das die materiellen Konturen umspült und einer einzelfallgerechten Entscheidung Rechnung trägt.169 2. Spezifisches Nichtwissen oder moralische Unwägbarkeiten Des Weiteren lässt sich die Regelung als Ergebnis vehementer moralischer und rechtspolitischer Debatten begreifen, die um die Zulässigkeit der PID geführt wurden. Ähnlich wie beim Schwangerschaftsabbruch nach § 218 ff. StGB treffen in dieser sensiblen Materie Extrempositionen aufeinander. Diese zu vereinigen erscheint als eine nicht bewältigbare Aufgabe des Gesetzgebers. Die jeweilige individuelle Einstellung zur PID hängt stark vom persönlichen Verständnis von Menschenwürde und dem Anfang des Lebens ab.170 „In kaum vermittelbarer Polarisation“171 führen Befürworter der PID argumentativ das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung der Eltern,172 die Minderung von Leid durch die Ermöglichung eines gesunden Kindes und einen ansonsten zu konstatierenden Wertungswiderspruch zu den geltenden Regularien des Schwangerschaftsabbruchs an.173 ­PID-​ Gegner pochen hingegen auf ein absolut bestehendes Verbot der PID,174 um das Verbot einer Behindertendiskriminierung und einer selektiv bedingten Abstufung des Lebensschutzes mittels neuer Eugenik175 nicht illusorisch werden zu lassen.176 Die Regelung ist das Ergebnis einer „Abwägung zwischen den Ängsten […] der Betroffenen und ethischen Bedenken wegen der Nichtimplantation eines […] Em­ bryos“177. Die PID wirft Grundsatzfragen nach dem Wert und der Zulässigkeit der Selektion werdenden menschlichen Lebens auf.178 Das Bestreben, Eltern die Ge 169

Im Ergebnis ebenso Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 95 f. Ruso / T höni, MedR 2010, 74 (77). 171 Hufen, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 129 (130). 172 Vgl. zu diesem die entsprechenden Nachw. in 7. Kap., Fn. 188. 173 Zu diesem s. ausführlich unter 7. Kap. B. IV. 1. 174 Hillgruber, in: Spieker / Hillgruber / Gärditz, Die Würde des Embryos, S. 57 (65); Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 109. 175 Unter Eugenik versteht man „die Verbesserung des Erbmaterials einer Person oder Gruppe durch Ausschaltung oder Eliminierung ‚schlechter‘ oder zu Krankheiten führender Erb­anlagen“, Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 152. 176 Beckmann, MedR 2001, 169 (172 f.) warnt vor der Entstehung eines „eugenischen Klimas“; Mildenberger, MedR 2002, 293 (297) erblickt in der PID ein „eugenisches Instrument“; Spieker, ZfL 2011, 80 (81) zählt die Entscheidung „zu den dunkelsten Stunden des deutschen Gesetzgebers“. 177 BT-Drs. 17/5451, S. 7. 178 Hübner / Pühler, MedR 2011, 789. Besonders eindringlich Isensee, in: Höffe / Honnefelder / ​Isensee u. a., Gentechnik und Menschenwürde, S. 37 (77): „Die Selektion läßt sich nicht dadurch rechtfertigen, daß sie erbliche Behinderungen verhüten werde. Denn nicht die Behinderung wird ausgemerzt, sondern deren Träger. Der Mensch ist keine Behinderung, er hat sie.“ (Hervorhebungen auch im Original). 170

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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burt eines gesunden Kindes ermöglichen zu können, wird mit dem Preis erkauft, Embryonen unter Vorbehalt zu erzeugen und sie erst nach einer genetischen Untersuchung als existenz- und entwicklungswürdig einzustufen.179 Eine ethisch-moralische Schwierigkeit, eine allseits zufriedenstellende Grundsatzregelung in diesem Bereich zu finden, ist daher ebenso präsent wie beim Schwangerschaftsabbruch.180 Die ethische Dimension der Thematik wird nicht zuletzt durch die Gewissensklausel des § 3a Abs. 5 ESchG deutlich, die bestimmt, dass kein Arzt verpflichtet ist, eine PID durchzuführen. Derartige absichernde Bestimmungen werden im Umfeld von medizinischen Maßnahmen erlassen, denen sowohl gesellschaftliche als auch teils ärztliche grundsätzliche Bedenken entgegengebracht werden.181 Dadurch, dass die Gewissensklausel an sich schon durch § 10 ESchG i. V. m. § 9 Nr. 2 ESchG Geltung beansprucht, kommt in der wiederholenden, deklaratorischen Natur des § 3a Abs. 5 ESchG182 das besondere Anliegen des Gesetzgebers zur ethischen Freiwilligkeit des Verfahrens zum Ausdruck.183 Die Gewissensklausel reflektiert den fehlenden gesellschaftlichen Konsens der PID.184 Die verfassungsrechtliche Problematik stellt sich mindestens so komplex wie die des Schwangerschaftsabbruchs dar: Es stehen das höchst umstrittene Lebensrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG185, die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG186 und das Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG187 des Embryos in vitro dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Eltern aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 2 179

Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 214. Vgl. auch VGH München, BeckRS 2015, 55128. 181 Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 10 ESchG Rdnr. 1 f. mit Bezug auf BT-Drs. 11/8057, S. 17. 182 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 151. 183 Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 70; krit. Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (75). 184 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 152. 185 Für ein Lebensrecht des Embryos in vitro aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 GG ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle plädieren Giwer, Rechtsfragen der Prä­ implantationsdiagnostik, S. 78 f.; Hillgruber, in: Spieker / Hillgruber / Gärditz, Die Würde des Embryos, S. 57 (61); Mildenberger, MedR 2002, 293 (298); eher abl. Hufen, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 129 (144 f.); einen abgestuften Schutz annehmend Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 231 ff.; ähnlich Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 121 ff., die eine Grundrechtsträgerschaft ablehnt, jedoch eine objektive, staatliche Schutzpflicht bejaht; Frommel, JZ 2013, 488 (493) lehnt eine Grundrechtsträgerschaft des Embryos in vitro ebenfalls ab, nimmt jedoch einen „Achtungsanspruch“ an. Ebenso nimmt Dorneck, Das Recht der Reproduktionsmedizin de lege lata und de lege ferenda, S. 61 ff. den Lebensbeginn des Em­ bryos erst ab dem Zeitpunkt der Nidation an. 186 Die Menschenwürde des Embryos in vitro bejahend Hillgruber, in: Spieker / Hillgruber / Gärditz, Die Würde des Embryos, S. 57 (61); einen abgestuften Menschenwürdeschutz annehmend Dorneck, Das Recht der Reproduktionsmedizin de lege lata und de lege ferenda, S. 64 ff.; Herdegen, JZ 2001, 773 (774); ähnlich Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 201 ff.; abl. hingegen Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 141; Hufen, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 129 (141). 187 Abl. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 239 ff. 180

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Abs. 1 GG188 sowie der Menschenwürde der Frau aus Art. 1 Abs. 1 GG189 und ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit190 gegenüber.191 Die Auflösung dieser grundrechtlichen Gemengelage ist ersichtlich höchst umstritten und verworren.192 Das Verfahren der Ethikkommission kann in diesem Zusammenhang als „Produkt des gesetzgeberischen Mittelwegs“193 zwischen Verbot und Erlaubtheit angesehen werden und daher als Mittel zur Auflösung der grundrechtlichen Kollisionslage aufgrund ethischer Unwägbarkeiten. Es zeigt sich wiederum der Charakter eines Kompromisses. 3. Entscheidungsmacht Privater oder Ethikkommissionen Die Entscheidungsgewalt wird bei der PID aber nicht wie bei dem zuvor untersuchten Gebiet des Schwangerschaftsabbruchs primär auf privat involvierte Beteiligte übertragen, die mitunter ihre eigene Straffreiheit mittels Verfahrensbeachtung erlangen können. Es entscheidet eine interdisziplinär zusammengesetzte Ethikkommission mittels Votum.194 Obwohl Ethikkommissionen auch in vielen anderen medizinrechtlichen Verfahren zum Einsatz kommen, handelt es sich bei der Kommission nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG wegen der bereits auf den ersten Blick ersichtlichen Verschiedenartigkeit der Kommissionen untereinander keinesfalls um eine „ganz bestimmte, gemeinhin bekannte und anerkannte Institution“.195 Von einigen Stimmen in der Literatur wird gerade im aufwendigen Verfahren vor der Ethikkommission die eigentliche, grundrechtsbeschneidende Wirkung

188 Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 31: „[…] ‚Grundrecht auf reproduktive Selbstbestimmung‘ […]“; auf dieses stellt auch Kersten, NVwZ 2018, 1248 (1249) ab. Eine a. A. verortet das Recht auf Fortpflanzung in Art. 6 GG, vgl. Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, Art. 6 GG Rdnr. 5. 189 So jedenfalls Hufen, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantations­ diagnostik, S. 129 (137). 190 Hufen, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 129 (135 ff.). 191 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 187 ff. 192 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 153 misst den prozeduralen Regelungen der PID das Potenzial bei, die kollidierenden Grundrechte in einen angemessenen Ausgleich zu bringen. 193 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 194; ähnl. Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 148. 194 Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (81) kritisiert, dass trotz gleichgelagerter Ausgangslage bei § 3 S. 2 ESchG eine staatliche Behörde über die Zulässigkeit der Geschlechtswahl befindet, wodurch sich eine Inkohärenz zwischen den Vorschriften der §§ 3, 3a ESchG ergebe; zust. von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 112 mit Fn. 145. 195 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 3; vgl. auch Taupitz, JZ 2003, 815 (816), der darauf hinweist, dass der Begriff der Ethikkommission nicht geschützt sei.

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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der nur begrenzten Zulassung der PID erblickt,196 weil das Paar, das häufig einen extrem langen und intensiven Leidensweg hinter sich gebracht habe, mittels persönlicher Offenbarung dazu gezwungen werde, sich gegenüber der Kommission in ein Abhängigkeitsverhältnis zu begeben. Zudem werde es in diesem Rahmen unter Umständen impliziten Vorwürfen von Behindertenvertretern und Theologen ausgesetzt.197 Die Ethikkommission erlangt durch die Regelung der PID eine zentrale und entscheidende Wirkung im Verfahren der Durchführung einer PID.198 Selbst wenn ihre Nicht-Beteiligung bei Vorliegen der restlichen Voraussetzungen „nur“ eine Ordnungswidrigkeit nach sich zieht, darf dieser Aspekt nicht über ihre faktische Machtposition hinwegtäuschen. Gibt die Ethikkommission kein positives Votum ab, wird sich aufgrund der enormen Strafbarkeitsrisiken kein Arzt bereiterklären, eine PID durchzuführen. Dass eine Kommission auf dem Gebiet des Strafrechts in einem höchst sensiblen Grundrechtsbereich derart weitreichende Eingriffsbefugnisse erhält und damit zum Hoheitsträger geriert, dies wird teils als „völlig neu und ungewöhnlich“199 interpretiert. Die prozedural charakteristische Entscheidungs- bzw. Beurteilungsverlagerung des Staates wird zum Teil allerdings nicht nur auf der Seite der Ethikkommission gesehen, sondern auch auf der Seite der Frau, die in eine PID zwingend schriftlich einwilligen muss, und daher letztendlich über die Durchführung der PID im Ausgangspunkt entscheide.200 Neben dem medizinrechtlichem Erfordernis der Aufklärung über die PID soll die nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 1 ESchG zwingende, doppelte Beratungspflicht in Form einer medizinischen und psychosozialen Beratung der Absicherung ihrer Autonomie dienen, damit sie in die Lage versetzt wird, verantwortungsbewusst über ihre Fortpflanzung entscheiden zu können.201 Nachdem § 3a Abs. 4 S. 1 ESchG aber auf § 3a Abs. 3 S. 1 ESchG und damit auf

196 Vgl. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 260 f., welche die späte PID daher teilweise aus dem Anwendungsbereich des § 3a ESchG herausnehmen möchte; Kreß, in: FS Hufen, S. 43 (50); vgl. zu den verfahrensmäßigen Anforderungen als Grundrechtseingriffe auch Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 149. 197 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 261; a. A. Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 195, der darauf hinweist, dass kein Aussagezwang für die Frau bestehe und sie durch eine Nichtaussage lediglich die Chance nicht nutze, ihrem Verlangen einen persönlichen Ausdruck zu verschaffen. 198 Vgl. bspw. die Funktion der Lebendspendekommission nach § 8 Abs. 3 TPG. Diese Regelung bringt zum Ausdruck, dass letztere nur ein Votum abgeben muss, gleich ob dieses positiv oder negativ lautet. Wenngleich auch in diesem Fall die faktische Abhängigkeit der Zulässigkeit von dem Votum der Lebendspendekommission deutlich hervortritt, so erhält die Ethikkommission nach § 3a Abs. 3 S. 3 ESchG bereits aufgrund der gesetzlichen Regelung eine deutlich gestärktere Position. 199 Frommel, JZ 2013, 488 (492). 200 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 196; Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 277. 201 BT-Drs. 17/5451, S. 7.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

jene Vorschrift Bezug nimmt, stellt es lediglich eine Ordnungswidrigkeit dar, wenn die PID ohne diese erforderliche Aufklärung und Beratung erfolgt. In der Folge wird aber, weil die fehlende schriftliche Einwilligung der Frau nach § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG zur Verwirklichung des Tatbestands des § 3a Abs. 1 ESchG führt, der medizinrechtliche Grundsatz des „informed consent“ künstlich aufgespalten.202 Im Medizinrecht allgemein, besonders aber im Bereich der Fortpflanzungsmedizin, formt sich aufgrund des gewandelten Subjektstatus des Patienten, der eigenverantwortlich selbstbestimmte Entscheidungen trifft, eine regelrechte „Beratungsgesellschaft“, die in komplexen und tiefreichend emotionalen Entscheidungslagen Hilfe leisten soll.203 In dieser Vorgehensweise offenbaren sich daher sichtbare Parallelen zu der Beratungslösung der §§ 218a Abs. 1, 219 StGB.204 Es wird vertreten, dass sich in der rechtlichen Ausgestaltung wiederum die strategische Lösung erkennen lasse, in besonders ethisch umstrittenen Bereichen, die eines moralischen Konsenses entbehren, gleichzeitig aber die höchstpersönliche Lebensgestaltung eines Individuums betreffen, diesem die autonome Entscheidung zu überlassen.205 Letztere sei grundsätzlich zunächst durch das eigene Gewissen zu rechtfertigen (sog. Gewissensethik).206 Das PID-Gesetz trage durch die selbstbestimmte Entscheidungsmöglichkeit der Betroffenen dem vorherrschenden Wertepluralismus Rechnung.207

202

Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (71). Nach Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 35 kann der medizinrechtliche Grundsatz, nach dem aus einer mangelhaften ärztlichen Aufklärung die Unwirksamkeit der Einwilligung resultiert, bei der PID aber nicht angewandt werden. Die gegenteilige Auffassung vertreten insofern Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (662). 203 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 118. 204 Vgl. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 196; vgl. auch Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 127 f., die daher den Beratungszwang bei der PID befürwortet. 205 Die Frau entscheidet zwar über die genetischen Eigenschaften und die genetische Gesundheit ihres zukünftigen Kindes und damit liegt streng betrachtet eine Fremdbestimmtheit vor, vgl. Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (202). Jedoch berührt die gesundheitliche Verfassung des Kindes auch wesentlich die physische und psychische Gesundheit der Mutter, welche ein höchstpersönliches Gut darstellt. Herdegen, JZ 2001, 773 (777) spricht daher wohl von einer Art „Treuhandverhältnis“, durch welches die Eltern Belange des Kindes in ihre Abwägung für oder gegen die PID miteinbeziehen. Auch Schulz, ZRP 2002, 487 (488) stellt fest, dass in ethisch umstrittenen Konflikten der Gesetzgeber dazu tendiert, die Entscheidung der betroffenen, autonom handelnden Person selbst zu überlassen. 206 Für eine Zulassung aufgrund der eigenen Gewissensentscheidung des Paares Kreß, BuGBl. 2012, 427; Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 169 hegt dagegen enorme Zweifel, ob die Autonomie der betroffenen Frau im Rahmen der Entscheidung über die Durchführung einer PID „als kritische Instanz gegenüber dem Normalisierungsbegehren der Gesellschaft“ Bestand haben könne. Die kritische Analyse bezieht sich allerdings auf eine Rechtslage vor Einführung des § 3a ESchG. 207 Kreß, ZRP 2012, 28 (29 f.).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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Eng damit verbunden ist auch die Schlussfolgerung, dass die PID nicht effektiv mit Mitteln des Strafrechts verboten werden könne und solle.208 In derart tiefgreifenden, persönlich erlebten Konfliktlagen könnten strafrechtliche Verbote nur wenig zu ihrer Beachtung antreiben.209 Der ethische Pluralismus fordere, dass sich Paare mit einem Wunsch nach einer PID ihrem Gewissen gemäß entscheiden könnten.210 Es sei höchst bedenklich, im Wege eines „strafrechtlichen Rigorismus“ in ethisch kontrovers beurteilten Fragen gegen „den anders Denkenden“ vorzugehen und dies auch noch mit der schärfsten staatlichen Waffe, dem Strafrecht.211 Werde bei einem ethischen Pluralismus bei der Inanspruchnahme der Reproduktions­ medizin dem Patienten ein größerer Entscheidungsraum eröffnet, so solle dieser vielmehr durch Beratungs- und Informationsmöglichkeiten gestützt werden, um eine gewissenhafte Ausschöpfung der Möglichkeiten zu gewährleisten.212 Im Falle der PID ist die Frau allerdings nicht die Letztentscheidungsbefugte, sondern die spezifisch zusammengesetzte Ethikkommission. Die Einmischung einer Kommission sei, weil es sich um eine höchstpersönliche Entscheidung handele,213 die nur im Arzt-Patienten-Verhältnis getroffen werden könne,214 daher als hochgradig paternalistisch einzustufen.215 Zudem weise die Komponente „schwere Erbkrankheit“ einen vehement subjektiven Einschlag auf, der nur von den Betroffenen selbst zutreffend beurteilt werden könne.216 Gegen derartige Aussagen wird eingewandt, dass es sich bei der PID zwar um eine höchstpersönliche Angelegenheit handele, dass diese aber durch die Erzeugung überzähliger Embryonen und der damit einhergehenden Missbrauchsgefahr

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So Beck, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 189 (194 ff.), die eine Regelung im Verwaltungsrecht vorschlägt, weil dieses kein moralisches Verwerflichkeitsurteil fälle. In die gleiche Richtung Herzog, ZRP 2001, 393 (397). 209 Herzog, ZRP 2001, 393 (397); vgl. auch Frommel, JZ 2013, 488 (492), die die juristische Schwierigkeit in der „Vermischung von ethischer Debatte und hoheitlichem Handeln“ sieht. 210 Bundesärztekammer, DÄBl. 2011, A 1701 (A 1704). 211 Kutzer, MedR 2002, 24 (25). 212 Bundesärztekammer, DÄBl. 2011, A 1701 (A 1704); Kreß, ZRP 2010, 201 (203). 213 Frommel, JZ 2013, 488; Lübbe, MedR 2003, 148 (150) zieht sogar einen Vergleich zur persönlichen Partnerwahl, die einem ebenfalls freistehe. 214 Dorneck, Das Recht der Reproduktionsmedizin de lege lata und de lege ferenda, S. 120 m. w. N.; ähnlich Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 193 ff.; vgl. Kentenich / Griesinger / Diedrich, Gynäkologische Endokrinologie 2013, 138 (139); in diese Richtung auch Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 52. 215 So Schlink, in: Der Spiegel Nr. 25/2011, S. 31: „dreist“; ebenso Kersten, NVwZ 2018, 1248 (1252). 216 In diese Richtung BT-Drs. 17/5452, S. 6; ähnlich Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 192; ebenso Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 52; auch Kreß, BuGBl. 2012, 427 (428) plädiert für eine nur beratende Funktion der Kommission.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

in erheblichem Maße auch Drittinteressen betreffe, weshalb das Mitspracherecht Dritter in dieser Angelegenheit nicht beanstandet werden könne.217 Die Entscheidungsgewalt über die Durchführung einer PID wird somit der Verantwortungsgemeinschaft aus potenzieller Mutter bzw. potenziellen Eltern, Ethikkommission und Ärzten überlassen. Im Konfliktfall entscheidet mit Letztgültigkeit das Gericht (wobei dieses an den entsprechenden Beurteilungsspielraum der Kommission gebunden ist). Bei der vorgenommenen Analyse der Entscheidungsträger zeichnet sich daher eine Parallele zu der beim sterbehilferechtlichen Behandlungsabbruch gewählten Form der Verantwortungsgemeinschaft aus Betreuer, Arzt und Betreuungsgericht ab. 4. Diskursivität und Wissensakkumulation Dem Votum liegt eine diskursive Entscheidungsfindung218 zugrunde, wodurch neben der Interdisziplinarität der Entscheidung,219 die die Beteiligung unterschiedlicher Interessenvertreter garantiert, die Rationalität und das Informationspensum derselben maximiert werden sollen.220 Nach § 6 Abs. 2 S. 1 Nr. 1–3 PIDV kann sie eigene wissenschaftliche Erkenntnisse verwerten, Sachverständige beiziehen oder Gutachten anfordern. Insbesondere gewährt ihr § 6 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 PIDV das Recht, eine mündliche Anhörung der Antragsberechtigten anzuordnen.221 Durch die spezifische Zusammensetzung soll das pluralistische Meinungsbild am

217 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 141; ebenso BöckenfördeWunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem, S. 233; noch weitergehend Hill­gruber, in: Spieker / Hillgruber / Gärditz, Die Würde des Embryos, S. 57 (63), der sogar eine Rechtspflicht der Frau, sich die erkrankten Embryonen einpflanzen zu lassen, annimmt. 218 Vgl. allerdings § 7 Abs. 1 S. 2 GO der Bayer. Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik. Danach muss die Kommission für die Antragsprüfung nicht notwendig zusammenkommen, sondern es findet ein schriftliches Verfahren statt, wenn die oder der Vorsitzende dies vorschlägt und kein Mitglied widerspricht. Dies verhindert aber nicht, dass es zu einer intensiven Antragsauseinandersetzung kommt, vgl. Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 200 f. Hierfür spricht letztlich auch § 7 Abs. 6 S. 1 der GO, wonach der Vorsitzende dafür Sorge zu tragen hat, dass eine ausreichende Erörterung aller entscheidungserheblichen Umstände erfolgt. 219 Teils krit. zum Einbezug eines Patienten- und Behindertenvertreters und dem damit intendierten Gewinn an Interdisziplinarität vgl. Pestalozza, MedR 2013, 343 (346). 220 Vgl. Czerner, MedR 2011, 783 (788); Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 62. Gegen eine erhöhte Richtigkeitsgewähr  – kollidierenden Interessen und Wertanschauungen geschuldet – spricht sich Duttge, ZStW 125 (2013), 647 (654) aus. Eine „Legitimation durch Verfahren“ finde daher nur im rein funktionalistischen Sinne statt „ohne jeden Bezug zu einer übergreifenden Vernünftigkeit und Richtigkeit“, Duttge, ZStW 125 (2013), 647 (655). Ebenfalls zweifelnd von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 286 ff. 221 Frister, in: Dekan der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Wissenschaftsrecht und Wissenschaftspraxis, S. 115 (131).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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besten konstruiert und verarbeitet werden, im Ergebnis also eine im Einzelfall auch ethisch vertretbare Entscheidung gefunden werden.222 a) Erhöhte Rationalität der Kommissionsentscheidung Der Einsatz von Ethikkommissionen und ihr rationaler Nutzen wird in der Literatur allerdings äußerst kontrovers beurteilt. Er hängt maßgeblich mit dem Ver­hältnis von Recht und Moral zusammen.223 Die Einstufung als Gewinn oder als Hindernis in Bezug auf die Erreichung der materiellen Richtigkeit der Entscheidung hängt von der jeweiligen Sichtweise ab, respektive, ob man der Ethikkommission einen  – auch durch ethische Belange ausgefüllten  – Beurteilungsspielraum zugesteht, oder ob man in der Entscheidung eine reine Rechtsprüfung erblickt. Während Befürworter eines Beurteilungsspielraums wohl eher zu der Ansicht neigen dürften, dass Ethikkommissionen ein Abbild der pluralen, in der Gesellschaft verwurzelten Moralansichten stellvertretend zum Ausdruck bringen können,224 und damit den Vorteil bieten, dass sie auf neue Gegebenheiten schnell und unbürokratisch reagieren können,225 sehen Kritiker von Ethikkommissionen die Gefahr, dass die einzelne Ethikkommission völlig überschätzt und „als deus ex machina zur Lösung von rechtlichen und ethischen Orientierungskrisen“226 eingesetzt wird. Es drohe die Gefahr der Einsetzung einer Kommission in zu vielen Fällen, um deren Verfahrensergebnis als „Feigenblatt“ für materiell nicht gelöste Probleme und damit als „Zauberhut“ zu benutzen, aus welchem jegliches erwünschte Ergebnis gezaubert werden könne.227 Nach vermittelnder Ansicht wird hingegen auch angeführt, dass die interdiszi­ plinäre Schaffung von Ethikkommissionen grundsätzlich positiv zu bewerten sei, weil allgemeingültige Antworten auf moralische Fragen durchaus angestrebt würden, dass der Gesetzgeber sich aber dennoch nicht seiner Entscheidungsgewalt in ethisch schwierigen Materien entledigen dürfe.228

222

Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 132. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 252. 224 Taupitz, JZ 2003, 815 (821); vgl. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 628. 225 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 255. 226 Freund, MedR 2001, 65. 227 Freund, MedR 2001, 65. 228 Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 129. 223

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

b) Eigene Stellungnahme zum Kriterium der erhöhten Rationalität Die spezifische Zusammensetzung von Ethikkommissionen sorgt durchaus für den Einbezug diverser Meinungen und eine Betrachtung der Problematik aus vielen verschiedenen Blickwinkeln. Es werden Fachleute miteingebunden, deren spezifische Kenntnisse einen erheblichen Beitrag zu einer objektiven, von Sachargu­ menten getragenen Entscheidung leisten können. Aus dieser Einsicht wurde bereits die Bejahung eines gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums abgeleitet.229 Gleichwohl ist die Kritik am Einsatz der Ethikkommission im Rahmen der PID nicht völlig unbegründet. Eine Art „Allgemeinmoral“, die durch die Ethikkommission als Vertreterin der Gesellschaft Eingang in die Beurteilung des materiell­rechtlichen Kriteriums der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ finden soll, ist in der Gesellschaft wohl nur sehr schwer greifbar. Wenn der Gesetzgeber sich schon dagegen sträubt, dieses materielle Kriterium weiter zu konkretisieren, so dürften die divergierenden moralischen Ansichten in der Bevölkerung wohl noch vielfältiger und noch schwerer zu vereinigen sein. Die Ansicht, die demnach die Existenz einer allgemeingültigen Moral suggeriert, entpuppt sich als Simplifizierung des Pluralismus. Die Vorstellung, dass die Ethikkommission als Filter aller gesellschaftlichen Auffassungen fungiert und ein Verfahrensergebnis fabriziert, das vom gesellschaftlichen Konsens allumfasst ist, kollidiert mit der Realität. In dieser Hinsicht wird die verfahrensrechtliche Leistungskraft überspannt und dem Verfahren eine illusionäre, nicht erfüllbare Aufgabe zugesprochen. Auch die Ethik­ kommission kann keine allgemeingültige Moral für sich in Anspruch nehmen. Dies spricht wiederum dafür, dass sie deshalb auch keine ethischen Beurteilungsmaßstäbe heranziehen dürfen sollte. Dennoch wohnt ihrer Entscheidung unter dem Aspekt der Interdisziplinarität eine erhöhte Rationalität bezüglich der Beurteilung der Schwere der Krankheit inne, der den ihr eingeräumten Beurteilungsspielraum rechtfertigt. Die Kommissionsentscheidung trägt demnach neben dem Aspekt der Diskursivität auch das prozedurale Merkmal der Wissensakkumulation und einer daraus resultierenden erhöhten Rationalität in sich. Die gesteigerte Rationalität bezieht sich allerdings auf das rechtliche Merkmal der „schwerwiegenden Erbkrankheit“, nicht auf ethische Belange.

229

Vgl. dazu unter 2. Kap. A. II. 5. b).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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5. Grundrechtsschutz durch Verfahren Wiederum tritt der im Medizinstrafrecht vorherrschende Charakterzug eines „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“ hervor.230 Durch die Voraussetzungen des § 3a Abs. 2, Abs. 3 ESchG soll die PID eine eng zugelassene Ausnahme statu­ ieren. Im Wege des Verfahrens sollen Anträge eines Paares präventiv ausgesondert werden, die nach einer Kommissionsentscheidung keine schwerwiegende Erbkrankheit darstellen und damit die Rechte des Embryos zu weitgehend beschneiden würden.231 Somit werden pränidative Untersuchungsverfahren und anschließende Verwerfungsoptionen, die die restriktiven Ausnahmebedingungen der beiden Rechtfertigungsgründe nicht erfüllen, bereits im Ausgangspunkt verboten. Dadurch sollen die Rechte des Embryos in vitro in einen angemessenen Ausgleich mit den Grundrechten der Frau bzw. des Paares gebracht werden.232 Die spezifische Kontrollfunktion, die einen ausgewogenen Grundrechtsschutz ermöglichen soll, wird aber u. a. im Hinblick auf die Gegebenheiten des Entscheidungsvorgangs angezweifelt. Die Kommission entscheide auf der Grundlage eines mit dem Antrag zusammen eingereichten ärztlich-humangenetischen Befundes, der als solcher schon das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen positiv attestiere (§ 5 Abs. 2 Nr. 1 PIDV). Damit liege die Begründungslast rein verfahrenspsychologisch betrachtet bei demjenigen, der für ein Abweichen von diesem Ergebnis stimmt, zumal nach § 6 Abs. 4 S. 1 PIDV keine Ermessensentscheidung zu treffen sei, sondern eine gebundene, die mit einem Anspruch der Frau auf Durchführung der PID korreliere.233 Dieser Sichtweise nach sei die Ethikkommission einem gewissen Ja-Sager-Automatismus ausgesetzt, sei es aufgrund der Gebundenheit an den ärztlich-humangenetischen Befund, sei es auch nur aufgrund eines unbewusst erlebten Rechtfertigungsdrucks, der zu stichhaltigen Gegenargumenten zwinge. Eine beachtliche Besonderheit des hier in Rede stehenden Grundrechtsschutzes durch Verfahren besteht allerdings darin, dass (Grund-)Rechte eines noch nicht existenten Embryos in vitro durch das Durchlaufen eines Verfahrens bereits vorab geschützt werden sollen. Zum Zeitpunkt der Entscheidung der Ethikkommission hat die künstliche Befruchtung noch nicht stattgefunden. Über ihre Zulassung und anschließende PID soll durch das Votum der Ethikkommission gerade erst entschieden werden. Vom Gesetzgeber wird ein Schutz von Rechten eines noch nicht 230 Einen verfassungsrechtlich gebotenen „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ in Form von Beratungskonzepten forderte im Zusammenhang mit der PID schon Herdegen, JZ 2001, 773 (778) sowie Middel, Verfassungsrechtliche Fragen der Präimplantationsdiagnostik und des therapeutischen Klonens, S. 193 f.; vgl. auch Kingreen / Torbohm, Jura 2013, 632 (641): „Verfahrensrechtliches Schutzkonzept“. Ebenso nimmt Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 64 einen effektiven prozeduralen Schutz des Embryos in vitro durch strenge Verfahrenskautelen an. 231 von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 286. 232 BT-Drs. 17/5451, S. 7. 233 So Duttge, ZStW 125 (2013), 647 (654).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

existenten Embryos vor Selektion angestrebt, der u. U. dazu führt, dass dieser gar nicht erst (künstlich) erzeugt wird.234 Der Embryo hat kein subjektives Recht darauf, nicht als Mensch mit schwersten Behinderungen leben zu müssen; dieser Schutz liefe auf einen „Schutz vor der eigenen Existenz“235 hinaus. Die Besonderheit des vorwirkenden Schutzes zukünftiger Individuen wird in der Literatur nicht selten übergangen, indem schlicht darauf abgestellt wird, dass die Würde des Embryos in vitro bei der Rechtfertigungsprüfung des Eingriffs in die Rechte des Paares durch eine restriktive Handhabung der PID als Schutzgut zu berücksichtigen sei.236 Abgestellt wird ebenso häufig auf den Zeitpunkt der Durchführung der PID oder der Existenzvernichtung und damit auf einen Zeitpunkt, zu welchem der Embryo bereits existiert.237 Dies greift allerdings zu kurz. Der verfahrensrechtliche Schutz besteht bereits vor seiner Existenz und führt womöglich dazu, dass er als Lebewesen nicht entstehen wird, sollte er anschließend auch aufgrund seiner genetischen Disposition verworfen werden und in diesem Sinne ohnehin keine Lebenschance erlangen. Der verfahrensrechtliche Schutz bewirkt, dass nur im Ausnahmefall defekte Embryonen erzeugt, selektiert und ausgesondert werden. Das restriktive Verfahren und die Pflichten im Rahmen der PID stehen wegen dem Zukunftsschutz deshalb teilweise unter Kritik.238 In der Literatur wird allerdings eine grundrechtliche Schutzpflicht auch für noch nicht entstandene Individuen bzw. künftige Generationen angenommen.239 Der Staat sei aufgrund der Verbürgungen aus der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 Alt. 2 GG verpflichtet, auch bei Zukunftsentscheidungen die „Subjektqualität künftiger Menschen nicht in Frage zu stellen, sondern zu schützen“240. Er habe dafür Sorge zu leisten, dass Grundrechte auch zukünftiger Menschen zum Tragen kommen.241 Es handelt sich dabei um grundrechtliche Vorwirkungen, die künftige Rechtspositionen künftiger Menschen betreffen.242

234

Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 184 f., der dies kritisch beurteilt. Herdegen, JZ 2001, 773 (777). 236 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 164. 237 So aber Kleiber, Der grundrechtliche Schutz künftiger Generationen, S. 17, der feststellt, dass es sich bei der PID, anders als beim Verbot des Klonens, nicht um die Belange künftiger Menschen handele, sondern bereits gezeugter. 238 Vgl. Henking, ZRP 2012, 20 (22), welche die Beratungspflicht als Eingriff in die Autonomie der Frau wertet, weil der Embryo zu diesem Zeitpunkt noch nicht existiere und sein Lebensrecht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folglich auch noch nicht geschützt werden könne. 239 Ausführlich hierzu Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 308 ff.; Kleiber, Der grundrechtliche Schutz künftiger Generationen, S. 285 ff.; Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 106 f. 240 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 350; vgl. auch BT-Drs. 11/1856, S. 6 ff. 241 Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 350. 242 Kleiber, Der grundrechtliche Schutz künftiger Generationen, S. 297. 235

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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Auch in anderen medizinstrafrechtlichen Normen wie dem Inzestverbot nach § 173 Abs. 1, 2 StGB oder dem Verbot der post-mortem-Befruchtung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 ESchG wird der Schutz künftiger, noch nicht gezeugter Kinder als Rechtsgut zur verfassungsrechtlichen Begründung der Strafvorschrift heran­ gezogen.243 Dass ein Rechtsgutsträger hier noch nicht existiert, schadet genauso wenig wie der Umstand, dass beim Schutz des postmortalen Persönlichkeitsrechts der Rechtsgutsträger nicht mehr existiert.244 Die staatliche Schutzpflicht beginnt nicht erst mit Feststellung der Rechtsgefährdung eines konkreten Rechtsinhabers, sondern bereits dann, wenn feststeht, dass geschützte Güter irgendeines zukünftig existierenden Rechtssubjekts geschädigt werden könnten.245 Besonders im Bereich des pränatalen Lebensschutzes sind vorgreifliche staatliche Schutzmaßnahmen erforderlich und de lege lata präsent; so verbietet § 1 Abs. 1 Nr. 3 i. V. m. Nr. 5 ESchG die Erzeugung von mehr als drei Embryonen und gewährleistet damit einen Schutz von Individuen, die noch gar nicht gezeugt worden sind.246 Im Falle des grundsätzlichen PID-Verbots mit beschränkter Zulassung durch eine Kommission ließe sich darüber hinaus argumentieren, dass der vor Zeugung zu gewährleistende Schutz noch stärker gerechtfertigt werden könne, weil die defekten Embryonen von Anfang an totgeweiht sind. Sie besitzen im Vergleich zum geklonten Menschen, einem durch Inzest oder post-mortem-Befruchtung hervorgegangenen Lebewesen keinen Nutzen des Verfahrens. Nicht einmal ihre fortbestehende Existenz würde durch eine Aufhebung des Verbots gewährleistet. Das Verfahren der Ethikkommission erweist sich mit Blick auf die oben aufgezeigten grundrechtsbeschneidenden Wirkungen im Ergebnis sowohl als „grundrechtsbeeinträchtigend“ als auch als „rechtsschützend“.247 Insbesondere handelt es sich um einen vorverlagerten Grundrechtsschutz durch Verfahren. Dieser wirkt nicht nur ex ante, vor Durchführung der Rechtsverletzung, sondern bereits vor der Existenz des zu schützenden Individuums. Wie im Rahmen des Beratungsverfahrens des § 218a Abs. 1 StGB i. V. m. § 219 StGB tritt neben einem „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ auch eine immense „Grundrechtsbeeinträchtigung durch Verfahren“ zu Tage. Mithin tritt wiederum das spezifisch Kompromisshafte medizinstrafrechtlicher Regelungen im bioethischen Bereich deutlich hervor.248

243

Krüger, Das Verbot der post-mortem-Befruchtung, S. 14. Krüger, Das Verbot der post-mortem-Befruchtung, S. 14. 245 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 107. 246 Müller-Terpitz, Der Schutz des pränatalen Lebens, S. 107. 247 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 125. 248 Dieses Fazit ziehen auch Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 2 sowie Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 155. 244

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

6. Akzeptanz der Entscheidung Neben der zu erörternden rechtlichen Akzeptanz der Entscheidung nach Durchführung des Verfahrens, insbesondere des Kommissionsverfahrens, ist zunächst kurz auf die soziale Akzeptanzwirkung des Verfahrens hinzuweisen. Es wird angenommen, dass durch das Verfahren auch eine erhöhte gesellschaftliche Akzeptanz bezüglich der Durchführung einer PID gewonnen wird. Das Paar werde im Wege der Verantwortungsteilung auch ethisch entlastet, wenn ein Gremium aus Experten bestätige, dass es sich um eine „schwerwiegende Erbkrankheit“ handele. Dadurch könnte die abgesegnete persönliche Entscheidung einfacher vor PID-Gegnern gerechtfertigt werden.249 Für das prozedurale Kriterium der Akzeptanz der Entscheidung nach Beachtung verfahrensrechtlicher Vorgaben ist zunächst die schriftliche Einwilligung der Frau, eine PID durchführen zu lassen, von Bedeutung. Die Frau entscheidet nach einem Beratungsverfahren über die Vornahme der PID. Das Strafrecht nehme somit nach diesem durchgeführten Verfahren die Einordnung der PID als rechtmäßig oder als rechtswidrig hin.250 Die Durchführung des gesamten institutionellen Verfahrens vor der Ethikkommission, an dessen Ende ein positives Votum steht, führt bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2, Abs. 3 ESchG dazu, dass eine PID im Grundsatz rechtlich nicht beanstandet werden kann. Die Durchführung des Verfahrens ermöglicht also eine präventive Überprüfung ex ante,251 die getroffene Entscheidung wird nach Beachtung des Verfahrens im Grundsatz akzeptiert. „Im Grundsatz“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass ein fälschlicherweise ergangenes Votum der Kommission die Rechtswidrigkeit der PID nicht entfallen lässt.252 Es fehlt trotz Verfahrensbeachtung an dem materiellen Kriterium der „schwerwiegenden Erbkrankheit“. Dies kommt auch durch § 3a Abs. 4 S. 1 ESchG zum Ausdruck, nach dem die Nichteinschaltung der Ethikkommission bei Vorliegen des materiellen Kriteriums des § 3a Abs. 2 ESchG lediglich eine Ordnungswidrigkeit darstellt, der Handlung aber nicht ihre Rechtmäßigkeit im Übrigen entzieht. Bei dem Verfahren der PID handelt es sich aber nicht nur um „ein entkriminali-

249

Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 141; vgl. allgemein zur entlastenden Wirkung einer kollektiven Entscheidung Jung, in: Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral, S. 401 (403). 250 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 196. 251 Nach BT-Drs. 17/5451, S. 3 bestand die gesetzgeberische Intention u. a. darin, Missbräuche zu vermeiden. Durch die Kommissionsentscheidung, die die materiellen Voraussetzungen vorab prüft, werden diese materiellen Voraussetzungen faktisch zweimal abgesichert, indem sie in eine formelle Prüfung vorverlagert werden. Diese verfahrensrechtliche Absicherung stellt sich gerade als der besondere Effekt des prozeduralen Rechts, eines intendierten Grundrechtsschutzes durch Verfahren, dar. 252 Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 44; Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr.  62.

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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sierendes Recht auf der Schnittstelle zwischen Medizinrecht und Strafrecht“253, sondern die Regelung ist ebenso Ausdruck einer Schnittstelle des Strafrechts mit dem Verwaltungsrecht. Durch den Einsatz einer spezifisch zusammengesetzten Behörde werden Problemfelder wie die Frage eines zustehenden Beurteilungsspielraums ins Strafrecht transferiert.254 Die Letztüberprüfungskompetenz – und damit die Hoheit über das Materielle – obliegt aber den Gerichten, die „das letzte Wort“ über die Rechtmäßigkeit der vorgenommenen PID haben. Der Preis für eine Umhüllung der PID-Regelung mit unbestimmten Rechtsbegriffen und einer dadurch erreichten Flexibilität des Rechts auf der einen Seite liegt in einer Rechtsunsicherheit für die Praxis auf der anderen Seite. „Durch die Einkleidung in ein Strafgesetz“, so wird moniert, spitze sich die Rechtsunsicherheit erheblich zu und begründe gefährliche Strafbarkeitsrisiken für den Arzt.255 An dieser Stelle kommt aber wiederum ein wesentlicher Vorzug der Prozedura­ lisierung zum Tragen: Sollte ein Strafgericht ex post zu dem Urteil gelangen, dass die materiellen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG objektiv nicht vorlagen, insbesondere, weil das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit tatsächlich nicht bestand, so befindet sich der Arzt, der aufgrund eines zustimmenden ­Votums der Ethikkommission eine PID durchführte, regelmäßig in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum nach § 17 S. 1 StGB.256 Dieser schließt seine strafrecht­ liche Schuld aus, sofern er kein „überlegenes Sach- oder individuelles Sonderwissen“ besitzt.257 Ein Erlaubnistatbestandsirrtum scheidet in dieser Konstellation hingegen aus, weil der Arzt nicht über den zu beurteilenden Sachverhalt irrt, sondern über die rechtliche Wertung.258 Das Zustimmungsverfahren der Ethik­ kommission nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG entlastet daher den Arzt weitgehend 253

Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 277. Krit. hierzu Frommel, JZ 2013, 488 (492). 255 So Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 96; a. A. Frommel, JZ 2013, 488 (492): „Sie [die Ärzte] können [nach einem positiven Votum] sicher sein, dass sie in kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren verwickelt werden.“ 256 Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (661): „Erlaubnisirrtum“; Hermes, Die Ethikkommissionen für Präimplantationsdiagnostik, S. 44; Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (82); Krüger / Gollnick, Der Gynäkologe 2010, 955 (956); Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 22; Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr. 21a m. w. N.; vgl. auch Henking, ZRP 2012, 20 (21), die in diesem Falle zwar auch einen Verbotsirrtum annimmt, diese Konstruktion allerdings nicht für befriedigend erachtet, weil ein gewisses Strafbarkeitsrisiko bei den Ärzten verbleibe, die die Norm „austesten“ müssten. Auch Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 123 hält die bloße Straflosigkeit des Arztes aufgrund einer Anwendung von § 17 StGB für ungenügend, zumal der Arzt auf die gerichtliche Feststellung der Unvermeidbarkeit keinesfalls vertrauen könne. Auf ein kaum kalkulierbares Risiko der Reproduktionsmediziner weist in diesem Zusammenhang auch Schumann, MedR 2010, 848 (850) hin. 257 Krüger / Berchtold, Der Gynäkologe 2012, 65 (68). 258 Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (661) mit Fn. 31. 254

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

von einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, die ihm ansonsten durch eine nachträgliche, divergierende Gerichtsfeststellung drohen würde.259 Mithin handelt es sich bei der verfahrensrechtlichen Regelung des § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG um eine solche, die das materielle Kriterium der „schwer­ wiegenden Erbkrankheit“ zwar objektiv nicht als prozedurales Produkt erstellen und dadurch ersetzen kann. Sie stellt aber immerhin ein „strafrechtliches Sicherheitsnetz“ für den die PID durchführenden Arzt bereit, sodass dieser de facto von der Verantwortung freigestellt wird, die zu untersuchende Krankheit hinsichtlich ihrer Schwere im Einzelfall zu bewerten. Mit anderen Worten ergibt sich aus dem Verfahren, respektive der Entscheidung der Ethikkommission, nicht das materiellobjektive Kriterium der schwerwiegenden Krankheit als in der Wirklichkeit auch zutreffendes, sondern nur auf einer Art zweiten Ebene, indem die Verfahrenseinhaltung faktische Straffreiheit verschafft.260 Für die Kommissionsmitglieder dürfte ebenfalls ein eher niedriges Strafbarkeitsrisiko bestehen, weil eine Strafbarkeit nach § 3a Abs. 1 ESchG einen vorsätzlichen Verstoß voraussetzt (§ 15 StGB, Art. 1 Abs. 1 EGStGB), an dem es mangele, wenn das objektiv geringe Risiko zu Unrecht als hohes Risiko eingestuft wird.261 Im Falle der fälschlichen Einstufung einer Krankheit als „schwerwiegende Erbkrankheit“, sprich bei fehlerhafter Subsumtion, unterlägen die Kommissionsmitglieder jedenfalls solange einem unvermeidbaren Irrtum nach § 17 StGB, solange keine leitgebende Rechtsprechung zu entsprechenden Rechtsfragen des § 3a ESchG vorliege.262 Nachdem diese – Irrtümer begünstigende und strafrechtliche Sanktionen vermeidende – Vorgehensweise aber eine allmähliche Aushöhlung der strengen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG befürchten lasse, sei de lege ferenda die Pönalisierung eines fahrlässigen oder leichtfertigen Verstoßes gegen § 3a ESchG anzudenken.263 Abschließend ist zur Problematik des strafrechtlichen Risikos einer nachträglich divergierenden Gerichtsentscheidung noch festzuhalten, dass deren Ausmaß auch von der jeweiligen Entscheidung abhängen dürfte, ob man der Ethikkommission im Rahmen des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG einen Beurteilungsspielraum zugesteht oder nicht. Nimmt man – wie in vorliegender Arbeit – einen solchen an, dürfte sich das Risiko etwas relativieren. Lehnt man einen Beurteilungsspielraum hingegen ab, dürfte die dargestellte Problematik an Schärfe gewinnen. Gleichwohl mildert aber 259

Allg. krit. zur Anwendung des § 17 StGB in Folge einer Kommissionsentscheidung Jung, in: Jung / Müller-Dietz / Neumann, Recht und Moral, S. 401 (408). 260 Am ehesten für eine Rechtfertigung aufgrund Verfahrensbeachtung wohl Hübner / Pühler, MedR 2011, 789 (792). 261 Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (82). 262 Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (82 f.); ebenso Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (661). 263 So der Vorschlag von Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (83).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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auch in letzterem Fall – wie oben dargestellt – das Eingreifen der Irrtumsregeln sodann das strafrechtliche Risiko der Beteiligten sichtlich ab. 7. Prozedurale Beobachtungsstrategien Nicht zuletzt tritt auch in der Regelung des § 3a Abs. 6 S. 1 ESchG, nach der die Bundesregierung alle vier Jahre einen Bericht zur Präimplantationsdiagnostik zu erstellen hat, ein prozeduraler Wesenszug zu Tage. Gem. § 3a Abs. 3 S. 2 ESchG, § 8 Abs. 2 PIDV liefern die PID-Zentren der Zentralstelle die Daten der durchgeführten Präimplantationsdiagnostiken, die diese gem. § 9 PIDV sammelt.264 So werden nicht nur die Öffentlichkeit und der Bundestag über die Entwicklung der PID regelmäßig informiert,265 es wird auch dem Parlament eine Eingriffsmöglichkeit gewährt, sollten sich Missbräuche abzeichnen.266 Die Beobachtung des Verlaufs eines neuen medizinischen Verfahrens, das auch erhebliche Risiken in sich birgt, stellt eine enorm wichtige staatliche Aufgabe dar. Insbesondere bei der PID, bei der eine nach und nach ausufernde Indikationserweiterung befürchtet wird, die in ein standardisiertes und allgemein akzeptiertes Verfahren der PID münden könnte, ist der Gesetzgeber zu handlungsbereiter Wachsamkeit aufgerufen.267 Die Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht verhindere auf diese Weise insgesamt ein Totalverbot der PID.268

II. Einordnung der PID als Teil einer Prozeduralisierung in der Literatur In der Literatur wird im Zusammenhang mit der Prozeduralisierung des Medizinstrafrechts die PID häufig nur am Rande erwähnt.269 Intensivere Auseinandersetzungen finden eher selten statt und konzentrieren sich häufiger auf die Ein­setzung der Kommission als solcher, als auf das prozedurale Gesamterscheinungsbild des PID-Verfahrens. Die einschlägige Literatur zur PID weist daher nur in Facetten einen Link zur Prozeduralisierung auf. Das Stichwort der Prozeduralisierung im Zusammenhang mit der PID taucht bisweilen selten bis gar nicht auf. Es besteht an dieser Stelle daher durchaus noch wissenschaftlicher Vertiefungsbedarf. Wird der spezifische Charakter der PID-Regelung allerdings unter prozeduralen 264

Krit. hierzu die Aussage des CDU-Abgeordneten Hubert Hüppes, Nachw. bei Klinkhammer, DÄBl. 2014, A 290. 265 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 149. 266 Taupitz, in: Günther / Taupitz / Kaiser, ESchG, § 3a Rdnr.  69. 267 Vgl. hierzu auch Kingreen / Torbohm, Jura 2013, 632 (642). 268 Kingreen / Torbohm, Jura 2013, 632 (642). 269 Herzog, ZRP 2001, 393 (396) möchte unter Zuhilfenahme von Kants „Kategorischem Imperativ“ eine rechtliche Lösung für die PID entwickeln. Er misst im Regelungskomplex der PID prozeduralen Strategien folglich das Potenzial bei, Normen zu begründen.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Erscheinungsmerkmalen analysiert, so wird er im Ergebnis weitgehend unbestritten als Teil einer Prozeduralisierung eingeordnet.270 1. Theresa Schweiger Schweiger sieht – ihrem Begriffsverständnis folgend – in der PID einen Anwendungsfall strafrechtlicher Prozeduralisierung. Die gesetzgeberische Motivation, ein prozedurales Konzept im Rahmen der PID anzuwenden, erblickt sie in einem normativen Regelungsdefizit des materiellen Rechts. Dieses soll durch die Übertragung der Entscheidung auf die Frau kompensiert werden.271 Die adäquate Lösung solle danach darin bestehen, dass das Strafrecht die Entscheidung der unmittelbar Betroffenen akzeptiert. Dem materiellrechtlichen Gehalt des § 3a Abs. 2 ESchG, der das Vorliegen einer schwerwiegenden Erbkrankheit fordert, solle durch die prozeduralen Vorgaben in § 3a Abs. 3 zur Durchsetzung verholfen werden.272 Gleichzeitig hebt Schweiger neben den diskursiven und formalisierten Regelungsbestandteilen der Zulassung einer PID das prozedurale Element des Wechsels von einer ex post zu einer ex ante-Betrachtung hervor.273 Die Vorschrift des § 3a Abs. 4 ESchG, die ähnlich der Regelung des § 218c StGB Verfahrensverstöße pönalisiert, sieht sie hingegen nicht als Teil einer Prozeduralisierung an, weil diese, abgesehen davon, dass sie eine Ordnungswidrigkeit und keine Straftat pönalisiere, nicht unter das von ihr vertretene Prozeduralisierungsverständnis falle.274 2. Ramona Francuski Francuski hingegen differenziert zwischen den einzelnen Verfahrensregelungen des § 3a ESchG. Sie ordnet die höchstpersönliche Entscheidung der Frau, sich nach einer Beratung für eine PID zu entscheiden, als Prozeduralisierung ein, das Votum der Ethikkommission nach § 3a Abs. 3 ESchG hingegen nicht. Diese abweichende Charakterisierung hängt zwangsläufig von ihrem eigenen Prozeduralisierungsverständnis ab. Francuski will nur solche Regelungen als Teil einer Prozeduralisierung verstanden wissen, die eine materielle Regelung gänzlich ersetzen. Daher liegt es nahe, dass sie im kontrollierenden Votum der Ethikkommission, das ihr zufolge lediglich 270

Saliger, in: Hassemer / Neumann / Saliger, Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 434 (448) ordnet insbesondere die Zulässigkeitsprüfung der Ethikkommission nach § 3a Abs. 3 S. 1 Nr. 2 ESchG und die Dokumentationen (§ 3a Abs. 3 S. 2 ESchG) als Prozeduralisierungen ein. 271 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 277. 272 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 277. 273 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 277. 274 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 278.

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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die materiellrechtlichen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG bestätigt oder verneint, keinen materiellen Ersetzungsakt erblickt. Die Ethikkommission überprüft ihrer Ansicht nach lediglich die gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen, ohne dass die Entscheidung dabei an die Stelle einer materiellen Regelung treten könne.275 Etwas anderes würde sich dieser Ansicht zufolge aber wahrscheinlich ergeben, wenn man der Ethikkommission – wie nach hier vertretener Meinung – bei der Beurteilung der unbestimmten Rechtsbegriffe einen Beurteilungsspielraum zukommen ließe. Die in Form einer schriftlichen Einwilligung erfolgende Entscheidung der Frau stelle im Gegensatz dazu eine prozedurale Regelung dar, weil durch das Verfahren versucht werde, Einfluss auf die Entscheidung der Frau zu nehmen,276 letztere aber nach Durchlaufen des Verfahrens bedingungslos akzeptiert werde.277 Nach einer Absicherung der maßgeblichen Entscheidungsbedingungen werde die Letztentscheidungsbefugnis somit den Betroffenen übertragen und dadurch eine inhaltliche, gesetzgeberische Positionierung substituiert; das Strafrecht gewinne hierdurch auch in diesem Bereich an Flexibilität.278

III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis Nach der Analyse der prozeduralen Merkmale der PID-Regelung lässt sich feststellen, dass sämtliche typisch prozeduralen Merkmale verwirklicht werden. Der Gesetzgeber zieht sich aus seiner materiellen Regelungsbefugnis zurück; er konkretisiert nicht näher, was unter einer „schwerwiegenden Erbkrankheit“ zu verstehen ist und entzieht sich einer Determinierung. Er setzt an diese Stelle vielmehr das Votum einer Ethikkommission, die spezifisch besetzt über das primär medizinische Kriterium zu befinden hat. Der Kommission wird daher eine entscheidende Befugnis übertragen. Ebenso wird auch die Frau bzw. das Paar, das eine PID durchführen lassen möchte, eingebunden, indem zumindest die Frau ihre schriftliche Einwilligung erteilen und sich einer Beratung unterziehen muss, die sie in die Lage versetzen soll, eigenverantwortlich über die Durchführung zu entscheiden. Wird das – auch diskursive und faktensammelnde – Prozedere des § 3a Abs. 3 ESchG eingehalten, so besteht ex ante zwar keine vollkommene Akzeptanz des Verfahrensergebnisses, weil das materielle Kriterium der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ nicht zwangsläufig dem Kommissionsverfahren entspringt. Ein Strafgericht kann als Letztinstanz ein davon abweichendes Urteil fällen. Allerdings werden die Beteiligten faktisch zumindest nach den Irrtumsregeln strafrechtlich entlastet. Der Gesetzgeber wählt an dieser Stelle eine Prozeduralisierung, um einerseits nicht das 275

Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 196. Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 195. 277 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 196. 278 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 196. 276

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

materielle Kriterium selbst bestimmen zu müssen, andererseits aber dennoch den Entscheidenden eine strafrechtliche Entlastungsmöglichkeit an die Hand zu geben. Nach der gewählten Unterscheidung von „diskursiv“ / „formal“ und „ersetzend“ / ​ „fördernd-ersetzend“ liegt demnach eine Prozeduralisierung im „diskursiv“„fördernd-ersetzenden“ Sinne vor.

IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung Die PID nutzt – wie aufgezeigt – prozedurale Strukturen in jeglicher Hinsicht. Sie wurde demnach unter das eigene Begriffsverständnis von Prozeduralisierung eingeordnet. Eine Prozeduralisierung ist an dieser Stelle grundsätzlich gewinnbringend. Sie kann allerdings nur befürwortet werden, wenn sie sich auch schlüssig in das Gesamtkonzept des Lebensschutzes einfügt. Im Anschluss ist daher das Verhältnis der PID zur Pränataldiagnostik darzustellen. Nachdem beide Verfahren in einem engen Zusammenhang stehen, müssen sie stimmig miteinander in Einklang gebracht werden können. Andernfalls ist die Verhältnismäßigkeit der Prozeduralisierung an dieser Stelle zu bezweifeln. 1. Das Verhältnis von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik Für die Bewertung des vom Gesetzgeber gewählten prozeduralen Konzepts im Rahmen der PID ist ein Vergleich zur Regelung der Pränataldiagnostik heranzuziehen, weil diese zur PID unverkennbare Parallelen aufweist. In beiden Fällen steht die Zulässigkeit der Vernichtung von individuellem Leben zur Debatte, das an einer Erbkrankheit leidet. Sollte sich ergeben, dass sich das prozedurale Konzept der PID nicht in das Gesamtgefüge des Lebensschutzes einpasst, wäre de lege ferenda eine Gesetzesänderung anzustreben und die Aspekte, die eine prozedurale Regelung nahelegen, müssten sich ebensogut in die vorgeschlagene Regelungsalternative integrieren lassen. Die Pränataldiagnostik (kurz: PND), die sich Mitte der 60er Jahre etablierte,279 stellt ein diagnostisches Verfahren ab dem Zeitpunkt der Nidation dar, welches es ermöglicht, den sich im Mutterleib befindenden Embryo in vivo sowohl mittels nichtinvasiver Verfahren (wie Ultraschall) als auch invasiver Verfahren (wie Nabel­schnurpunktion, Fruchtwasseruntersuchung etc.) zu untersuchen.280 Sie 279

Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 14. Vgl. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 31; Scherrer, Das Gendiagnostik­ gesetz, S. 14. Bei der Bezeichnung „Pränataldiagnostik“ handelt es sich zwar um einen Ober­ begriff, unter welchen die Präimplantationsdiagnostik in einem weiteren Sinne ebenfalls fällt, im Folgenden wird aber von der Pränataldiagnostik in einem engeren Sinne ausgegangen, vgl. von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 75.

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B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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gehört mittlerweile zum medizinischen Standard.281 Ihre gesetzliche Grundlage ergibt sich aus § 3 Nr. 3 GenDG i. V. m. § 15 GenDG. Mit dem Verfahren soll das Vorliegen bestimmter genetischer Eigenschaften mit Bedeutung für eine Erkrankung oder gesundheitliche Störung des Embryos ermittelt werden. Die Untersuchung ist nach § 15 Abs. 1 S. 1 GenDG auf medizinische Zwecke begrenzt. Stellt sich dabei heraus, dass der Embryo in vivo einen genetisch ungünstigen Befund aufweist, der auf eine Behinderung schließen lässt, ist mit dieser Diagnose die Folgefrage verbunden, ob die Schwangerschaft abgebrochen werden soll und darf. Die Präimplantationsdiagnostik und die Pränataldiagnostik stehen daher in Bezug auf ihren Zweck, den Embryo einer genetischen Untersuchung zu unterziehen, in einem unverkennbaren Zusammenhang.282 Ebenso besteht ein Zweck der Unter­ suchungsverfahren darin, die mit einem behinderten Kind verbundenen Belastungen zu vermeiden; die grundsätzlich gleichläufige Intention beider Verfahren ist daher nicht bestreitbar.283 Es stellen sich im Rahmen beider Diagnostikverfahren daher auch ähnlich prekäre Verfassungsfragen.284 Eine häufige Forderung ist somit ein Gleichlauf der anzuwendenden Vorschriften und Voraussetzungen, um rechtliche Kohärenz zu ermöglichen.285 Zeitlich erfolgt die PID allerdings in einem früheren, extrauterinen Stadium. Auch existiert bei der PID kein expliziter Ausschluss der Diagnose von spät manifestierenden Krankheiten, die erst nach dem 18. Lebensjahr eintreten, wie dies mit der umstrittenen286 Regelung des § 15 Abs. 2 GenDG bei der Pränataldiagnostik 281

Frister, in: Dekan der Juristischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Wissenschaftsrecht und Wissenschaftspraxis, S. 115; Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 26; vgl. auch Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 165 f. m. w. N., wonach der unterlassene Hinweis auf die Möglichkeit einer PND haftungsrechtliche Folgen für den Arzt habe. Schroth, JZ 2002, 170 (174) spricht sogar von einem ärztlichen Kunstfehler, ab einem gewissen Alter der Frau keine PND vorzunehmen. 282 Czerner, MedR 2011, 783 (787). 283 Birnbacher, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 755 (757). 284 Birnbacher, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 755 (756). Zur mit der Menschenwürde des Embryos aus Art. 1 Abs. 1 GG vereinbarenden PND vgl. Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 233 ff. Nach Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 357 ff. steht die Regelung des § 15 GenDG auch in einem angemessenen Ausgleich mit dem Lebensrecht des Embryos aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. 285 Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1117; Dorneck, Das Recht der Reproduktionsmedizin de lege lata und de lege ferenda, S. 122; Giwer, Rechtsfragen der Präimplantations­ diagnostik, S. 111 hält dies verfassungsrechtlich unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten zumindest für möglich; Schroth, NStZ 2009, 233 (238); Spranger, Recht und Bioethik, S. 290 f.; Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 262 f.; a. A. Haskamp, Embryonenschutz in vitro, S. 202 f. 286 Kersten, NVwZ 2018, 1248 (1252) hält die Regelung des § 15 Abs. 2 GenDG für verfassungswidrig; ebenfalls zweifelnd Reuner, in: Kern, Das Gendiagnostikgesetz – Rechtsfragen der Humangenetik, S. 61 (66), die nach der Ermöglichung einer Einzelfallentscheidung durch eine Kommission fragt. Die Vorschrift hingegen rechtfertigend Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 243 f.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

der Fall ist. Indem die genetischen Untersuchungen bei spätmanifesten Krankheiten mangels anstehender therapeutischer Entscheidungen erst später erfolgen, und der Betroffene auf diese Weise zu gegebener Zeit eine eigene Entscheidung treffen kann,287 wird sein Recht auf Nichtwissen geschützt.288 Es ist umstritten, ob der Rechtsgedanke des § 15 Abs. 2 GenDG auf die PID zu übertragen ist.289 Um einen eventuellen Wertungswiderspruch zwischen PND und PID feststellen zu können, ist das Verständnis der geltenden Indikationslagen von Bedeutung. Eine PND kann Erkrankungen des Embryos zutage fördern, die einen Schwangerschaftsabbruch nach sich ziehen. Abtreibungen infolge embryonaler Erkrankungen werden grundsätzlich unter den Begriff der sog. „embryopathischen Indikation“ gefasst. Die „embryopathische Indikation“, welche bis 1995 Behinderungen des Embryos gem. § 218a Abs. 3 StGB a. F. als Rechtfertigungsgrund für eine Abtreibung zuließ, wurde durch das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz abgeschafft. Allerdings ist sie nach der Gesetzesbegründung und der herrschenden Meinung in der medizinisch-sozialen Indikation des § 218a Abs. 2 StGB aufgegangen und in diese folglich „hineinzulesen“.290 Die medizinisch-soziale Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB statuiert einen Rechtfertigungsgrund, der eingreift, wenn für das Leben oder die Gesundheit der Mutter eine Gefahrenlage besteht. Die schwangere Frau muss nachweisen, dass der embryopathische Befund ernstlich ihr Leben beeinträchtigt und / oder für dieses mithin auf physischer oder psychischer Ebene eine (zukünftige) Gefahr darstellt. Dem Arzt steht aufgrund des Wortlauts des § 218a Abs. 2 StGB „nach ärztlicher Erkenntnis“ ein gerichtlich nur beschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu.291 In der rechtlichen Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs aufgrund eines embryopathischen Befundes, welcher sich auf die Gesundheit der Schwangeren auswirkt, wurzelt zugleich die Zulässigkeit der Vornahme einer PND, um Informationen über die genetischen Eigenschaften des Embryos zu gewinnen.292 Auch in dieser Hinsicht weisen die Regelungstechniken der PND und der PID Parallelen auf, indem sie zwar ein grundsätzliches

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Kern, in: Kern, Das Gendiagnostikgesetz – Rechtsfragen der Humangenetik, S. 29 (56). Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 15 GenDG Rdnr. 2. 289 Bej. Kubiciel, NStZ 2013, 382 (385); Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 75 ff.; Müller-Terpitz, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 3a ESchG Rdnr. 12; Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (636) de lege ferenda; von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 280 f.; dies zumindest als möglich erachtend Henking, ZRP 2012, 20 (22); vern. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 62 mit Fn. 204, die mit der Ratio des § 15 Abs. 2 GenDG argumentiert; Frister / L ehmann, JZ 2012, 659 (660); Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 55; Kreß, BuGBl. 2012, 427 (429); Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 93 f.; Pelchen / Häberle, in: Erbs / Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, § 3a ESchG Rdnr. 7; diff. Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 298. 290 BT-Drs. 13/1850, S. 26; Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 38; Fischer, Strafgesetzbuch, § 218a Rdnr. 21. 291 Vgl. dazu die Nachw. in 7. Kap., Fn. 65. 292 Nationaler Ethikrat, Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, S. 66. 288

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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Verbot des Schwangerschaftsabbruchs bzw. der PID statuieren, allerdings Rechtfertigungsgründe gewähren („nicht rechtswidrig“), wenn eine Indikation rechtlich festgestellt werden kann.293 Nachdem für die medizinisch-sozial motivierte Abtreibung keine gesetzliche Frist vorgesehen ist, besteht folglich auch für eine Abtreibung aufgrund einer „an sich embryopathischen Indikation“294 keine zeitliche Grenze, wodurch sich die äußerst problematische Möglichkeit von Spätabbrüchen295 (behinderter) Föten ergibt, die bis zum Beginn der Eröffnungswehen rechtlich straffrei bleiben.296 Über die Zulässigkeit der Durchführung einer PID, die in der frühesten Anfangsphase menschlicher Existenz nach Konjugation beider Keimzellen erfolgt und derartige Spätabtreibungen daher in einem früheren Stadium verhindern könnte, muss hingegen eine Ethikkommission unter eng auszulegenden Voraussetzungen („schwerwiegende Erbkrankheit“) befinden. Es existiert nach §§ 15 Abs. 1 S. 1, 23 Abs. 2 ­ endiagnostik-​KomNr. 1 lit. d GenDG zwar auch eine gesetzeskonkretisierende G mission, welche für die PND bestimmte Richtlinien erlässt. Diese Ethikkommission besitzt aber keine entscheidende Position wie die Ethikkommission im Rahmen der PID. Im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 2 StGB entscheidet alleine ein Arzt, ob die medizinisch-soziale Indikation gegeben ist. Dabei kann und muss er sich auf die Äußerungen der Schwangeren verlassen. Das äußerst restriktiv gehandhabte Regel-Ausnahme-Konstrukt der PID in § 3a ESchG ist daher „wesentlich strenger als die (vergleichsweise liberalen) Regularien zum Schwangerschaftsabbruch“297. Insbesondere die Informationsgewinnung ist bei der PND deutlich einfacher und in einem größeren Umfang möglich, weil § 15 GenDG die Untersuchung sämtlicher gesundheitsrelevanter Eigenschaften und dadurch die Kenntnisnahme jeglicher genetischer Krankheitsbilder unabhängig von ihrer Schwere erlaubt.298 Ein Krankheitsbild, das signifikant die beiden unterschiedlichen Rechtfertigungsanforderungen des § 218a Abs. 2 StGB einerseits und des § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG andererseits 293

Vgl. BT-Drs. 17/5451, S. 8; Henking, ZRP 2012, 20 (21); Hübner / Pühler, MedR 2011, 789 (792); Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (94). 294 Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 164 kritisiert die Vermischung und plädiert daher für die Wiedereinführung einer embryopathischen Indikation, die auf die maternale Konfliktsituation abstellt. 295 Zur Vereinbarkeit von Spätabbrüchen mit der Menschenwürde ausführlich Dolderer, Menschenwürde und Spätabbruch, S. 176 ff.; vgl. auch Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 157 ff. 296 Vgl. dazu auch Wolf, in: FAZ Nr. 297/2010, S. 7. 297 Czerner, MedR 2011, 783 (788); vgl. hierzu auch Birnbacher, in: Joerden / H ilgendorf / Thiele, Menschenwürde und Medizin, S. 755 (757); vgl. Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 159; ebenso Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 112. 298 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 158.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

darstellt, ist die Trisomie 21.299 Sie stellt eine der häufigsten Ursachen eines medizinisch-sozial indizierten Schwangerschaftsabbruchs dar, kann allerdings, weil sie nach dem klassischen Verlauf keine Erbkrankheit i. S. v. § 3a Abs. 2 S. 1 ESchG, und der Embryo trotz Trisomie 21 auch extrauterin lebensfähig ist (§ 3a Abs. 2 S. 2 ESchG), keine Durchführung einer PID rechtfertigen.300 Diese bestehende Divergenz zwischen zulässiger Informationsgewinnung über den Embryo in vivo einerseits und den Embryo in vitro andererseits dürfte sich in den letzten Jahren noch verstärkt haben. Mit dem sog. „PraenaTest“, mit dem durch eine Analyse des mütterlichen Blutes festgestellt werden kann, ob der Embryo an einer Trisomie 13, 18 oder 21 erkrankt ist, hat sich zudem eine neue nichtinvasive Methode entwickelt,301 die zu einer neuen Diskussion über die Zulässigkeit pränataler Diagnostikverfahren im Allgemeinen geführt hat.302 Der Test stellt dadurch, dass er bereits ab der neunten SSW Anwendung finden kann,303 im Vergleich zu invasiven Verfahren, welchen zudem ein Fehlgeburtsrisiko inhärent ist, ein deutlich schonenderes Diagnostikverfahren dar.304 Er wird seit 2012 in Deutschland angeboten305 und erzielt relativ sichere Ergebnisse.306 Gewarnt wird allerdings vor weiteren eugenischen Impulsen.307 Zwar offenbare der Test keine zusätzlichen Informationen im Vergleich zu einer nachfolgenden invasiven PND, allerdings habe die mit invasiven Diagnostikverfahren verbundene Gefahr bislang dazu beigetragen, dass diese nicht als Standarduntersuchungen durchgeführt wurden.308 Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat kürzlich beschlossen, dass die Kosten des Tests in begründeten Ausnahmefällen von den gesetzlichen Kranken-

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Henking, ZRP 2012, 20 (22); vgl. auch Ollech, Die strafrechtlichen Risiken des Mediziners im Rahmen von Präimplantationsdiagnostik und Pränataldiagnostik, S. 127. 300 Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 43 ff.; von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 114; a. A. Frommel, JZ 2013, 488 (492), die de lege lata in dem Begriff „Erbkrankheit“ nur ein Beispiel für einen beachtlichen Konflikt der Frau erblickt. Diese Auslegung ist allerdings contra legem, weil das Gesetz explizit auf die Krankheit des Embryos, nicht auf die Konfliktsituation der Frau abstellt. Ein Gleichlauf ergibt sich allerdings dann, wenn man die Mitteilung von Zufallsbefunden der PID an die Frau nicht als verboten ansieht, vgl. Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 300; vgl. Frister, in: Dekan der Juristischen Fakultät der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf, Wissenschaftsrecht und Wissenschaftspraxis, S. 115 (122 f.). 301 Huster, MedR 2017, 282. 302 Heinrichs / Spranger / Tambornino, MedR 2012, 625 (627). 303 Huster, MedR 2017, 282. 304 Vgl. Huster, MedR 2017, 282 (283); vgl. auch Heinrichs / Spranger / Tambornino, MedR 2012, 625. 305 Huster, MedR 2017, 282 (283); vgl. auch Heinrichs / Spranger / Tambornino, MedR 2012, 625 (627). 306 Vgl. Heinrichs / Spranger / Tambornino, MedR 2012, 625 (626). 307 Erhebliche Kritik üben Kiworr / Bauer / Cullen, DÄBl. 2017, A 255 (A 257). 308 Heinrichs / Spranger / Tambornino, MedR 2012, 625 (626 ff.).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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versicherungen übernommen werden müssen.309 Unter diesem Blickwinkel dürfte sich die Aussage, dass die PND erheblich einfachere Zugangsmöglichkeiten zu embryonalen Erbinformationen eröffnet als die PID, nochmals bestätigt sehen. Ob damit im Ergebnis tatsächlich ein Wertungswiderspruch einher geht, soll nachfolgend analysiert werden. a) Argumente der Befürworter eines Wertungswiderspruchs Es wird daher häufig kritisiert, dass der Embryo in vitro stärkeren strafrechtlichen Schutz erfahre als der Embryo in vivo. Es wird angeführt, dass die Tötung des womöglich weit entwickelten Embryos im Bauch, der u. U. schon schmerz- und empfindungsfähig sei, weder rechtlich noch moralisch verglichen werden könne mit dem „Absterbenlassen“ eines sehr frühen Embryos.310 Dadurch ergäben sich – neben besagten moralisch schwerwiegenden Gesichtspunkten – signifikante Wertungswidersprüche, die das Lebensschutzkonzept des Gesetzgebers gefährlich brüchig werden ließen.311 Der Embryo werde – provokant formuliert – „nur solange geschützt, bis er abgetrieben werden kann“312. Die Befürworter einer (liberaleren) Zulassung der PID argumentieren somit, dass ein Verbot bzw. eine striktere Regelung313 derselben im Vergleich zu den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs nicht tragbar sei. Die vom Gesetz im Wege des § 218a Abs. 2 StGB anerkannten und geschützten Interessen der Frau, kein behindertes Kind unter gesundheitsgefährdenden Lebenseinschränkungen aufziehen zu müssen, lägen ebenso schon im früheren Stadium der PID vor und müssten daher auch in diesem Berücksichtigung finden.314 In beiden Fällen handele es sich um antizipierte künftige Konflikte.315 Es könne der Frau nicht zugemutet werden, zunächst schwanger zu werden, um dann anschließend im Wege einer Pränataldiagnostik und einer medizinisch-sozialen Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB eine Abtreibung aufgrund des mitgeteilten

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Vgl. den noch nicht in Kraft getretenen Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 19.09.2019, abrufbar unter: www.g-ba.de/beschluesse/3955/ (zuletzt abgerufen am 05.05.2020). Vgl. ausführlich dazu auch Huster, MedR 2017, 282 (284 f.). Die Kosten werden voraussichtlich ab Ende 2020 übernommen werden, vgl. dazu BT-Drs. 19/13806, S. 1 f. 310 Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (639 f.); Sendler, NJW 2001, 2148 (2149 f.). 311 Schroth, NStZ 2009, 233 (236); Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 164 nimmt einen Wertungswiderspruch hingegen nur aufgrund des aufwendigeren Verfahrens bei der PID an. Bezüglich des unterschiedlich strengen Indikationsspektrums verneint sie einen Wertungswiderspruch. 312 Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1116. 313 von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 128 stellt zutreffend fest, dass sich das Argument des Wertungswiderspruchs, mit welchem für eine Zulassung der PID im Generellen argumentiert wurde, nach Erlass des § 3a ESchG maßgeblich auf die Ebene der konkreten – strengeren – Voraussetzungen für die Durchführung einer PID verlagert hat. 314 Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1116. 315 Kubiciel, NStZ 2013, 382 (383).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Befundes vornehmen zu müssen.316 Die genetischen Informationen über einen in vitro erzeugten Embryo müssten ihr vorab zugänglich gemacht werden; das sonst zugemutete Risiko verstoße gegen ihre Menschenwürde.317 Durch die Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs wäre es ihr faktisch ohnehin möglich, die Geburt eines gesunden Kindes zu erzwingen, indem sie so oft einen Abbruch vornehmen lasse, bis ein gesundes Kind im Wege der PND festgestellt werden und auf die Welt kommen würde.318 Eine „PID auf Probe“ sei ein weitaus milderes, die Frau zumindest seelisch weniger intensiv beeinträchtigendes Mittel als eine „Schwangerschaft auf Probe“319, weshalb die PID sich mit analoger Konfliktlage wie die PND320 als „lediglich zeitlich vorgezogene PND“321 darstellen lasse. Die Befunde, die einen Schwangerschaftsabbruch nach PND rechtfertigen könnten, müssten daher ebenso bereits die Durchführung einer PID rechtfertigen.322 Laut Gesetzesbegründung sollte § 218a 316

Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1116; Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 51 f.; Kersten, NVwZ 2018, 1248 (1252); Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (644). 317 Kutzer, MedR 2002, 24 (25). 318 Faßbender, NJW 2001, 2745 (2752); Schroth, NStZ 2009, 233 (236); vgl. hierzu auch den sog. „Lübecker Fall“, an welchem sich der Wertungswiderspruch exemplifizieren lassen soll, Renzikowski, NJW 2001, 2753 (2754). 319 Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 110; Hufen, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 129 (147); ausführlich dazu schon Schroth, JZ 2002, 170 (174). 320 Schroth, NStZ 2009, 233 (236); Schroth, NJW 2010, 2676; auch Middel, Verfassungsrechtliche Fragen der Präimplantationsdiagnostik und des therapeutischen Klonens, S. 171 ff. spricht von einem vergleichbaren, antizipierten Konflikt, weil die postnatalen Belastungen zu berücksichtigen seien; a. A. Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 60 f. 321 Kreß, BuGBl. 2012, 427 (428); a. A. Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 211; Mildenberger, MedR 2002, 293 (300). 322 Aus dem Vergleich mit den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch nach einer PND hat der EGMR die Unzulässigkeit eines absoluten Verbots der PID gezogen, EGMR, Urt. vom 28.08.2012 – 54270/10, (Costa and Pavan v. Italy), vgl. bei Makoski, GesR 2012, 736; vgl. auch Deutsch / Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 1117; vgl. Dorneck, Das Recht der Reproduktionsmedizin de lege lata und de lege ferenda, S. 301; Frommel, JZ 2013, 488 (491) nimmt diesen Gleichlauf wohl schon de lege lata an, indem sie die Ethikkommission verpflichtet sieht, dieselben normativen Maßstäbe wie bei der PND anzulegen; vgl. Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 54; vgl. Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 111; Kersten, NVwZ 2018, 1248 (1252); von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 288 ff.; s. auch zur alten Rechtslage Schroth, NStZ 2009, 233 (238), der für eine analoge Anwendung des Rechtfertigungsgrundes des § 218a Abs. 2 StGB plädiert; in die gleiche Richtung Ruso / T höni, MedR 2010, 74 (77); a. A. insoweit Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem, S. 144 f.; Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 59, die in einer solchen „Vollharmonisierung des § 3a Abs. 2 ESchG zu § 218a Abs. 2 StGB“ eine gefährliche „Verwässerung des begrenzten Indikationsbereichs“ erblickt; eine Analogie zu § 218a Abs. 2 StGB ebenfalls ablehnend Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 244 sowie Reiß, HRRS 2010, 418 (422).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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Abs. 2 StGB ohnehin als Orientierung für § 3a ESchG herangezogen werden.323 Letztendlich wird angeführt, dass das ESchG das absolute Lebensschutzkonzept – auf jeden einzelnen Embryo bezogen – selbst nicht konsequent durchhalte, weil das embryonale Lebensrecht in mehreren Vorschriften des ESchG fremdnützigen Interessen weichen müsse.324 Es kann nach der oben dargestellten, unterschiedlichen Indikationsanforderung und dem aufwendigeren Verfahren vor der Ethikkommission im Ausgangspunkt nicht bestritten werden, dass der Embryo in vitro ein höheres Schutzniveau genießt als der Embryo in vivo. Die Entscheidungsfreiheiten sind bei der PND und PID in gewisser Weise vertauscht. Der Zugang zu Informationen im Rahmen der PND ist für die Schwangere relativ problemlos möglich, die rechtfertigende Wirkung tritt aber nur im Wege der medizinisch-sozialen Indikation ein, die ein Arzt feststellen muss. Bei der PID hingegen ist der Zugang zu den Informationen zwar durch die Kommissionsentscheidung sehr viel deutlicher begrenzt, liegt diese allerdings in positivem Sinne vor, steht es der Frau nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 ESchG gänzlich frei, sich nur gesunde Embryonen einsetzen zu lassen. Die entscheidende Frage ist allerdings, ob dem unausgeglichenen Schutzkonzept überzeugende Argumente zugrundeliegen. Gerade aufgrund der Tatsache, dass die jeweiligen Verfahren für die Zulässigkeit einer PID und einer PND unterschiedlich strengen Anforderungen unterworfen wurden, ist diese Frage für die aktuelle prozedurale Ausgestaltung der PID von Bedeutung. Es soll der Frage nachgegangen werden, ob der gesetzgeberische Einsatz von Prozeduralisierung, wie er oben nachgewiesen wurde, im Vergleich zu den Regularien des § 218a Abs. 2 StGB gerechtfertigt ist, bei denen lediglich ein Arzt nach seiner subjektiven Erkenntnis zu entscheiden hat. Wäre ein derartiger Wertungswiderspruch tatsächlich zu konstatieren, der Einsatz einer zur Entscheidung berufenen Kommission, der ein klassisch prozedurales Kennzeichen darstellt, daher nicht gerechtfertigt, wäre das prozedurale Lebensschutzkonzept der PID in diesem Bereich angreifbar und reformbedürftig. b) Argumente der Gegner eines Wertungswiderspruchs Für eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung des Embryos in vitro im Vergleich zum Embryo in vivo wird zum Teil angeführt, dass der Embryo in vitro schutzbedürftiger sei, weil er extrakorporal verfügbar und damit frei zugänglich sei.325 Er sei gewissermaßen „forschungsanfälliger“ und damit einem größeren Miss 323

BT-Drs. 17/5451, S. 8. So Kutzer, MedR 2002, 24 (25) nach alter Rechtslage; ebenso Schroth, NJW 2010, 2676 (2677). 325 Vgl. Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 111. Zur Besonderheit der Extrakorporalität des Embryos in vitro und seiner Verfügbarkeit Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 29. 324

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

brauchspotenzial ausgesetzt.326 Das ESchG schütze seinem Zweck nach nicht nur das Lebensrecht des Embryos in vitro,327 sondern gerade auch die menschliche Natur und Würde als der Forschung entzogene unantastbare Bereiche. Das schützenswerte Rechtsgut könne demnach nicht nur, wie beim Embryo in vivo, in seinen Grundrechten gesehen werden, sondern ebenso in einem übergeordneten Rechtsgut der Allgemeinheit, das eine Instrumentalisierung menschlichen Lebens zu Forschungszwecken ausschließe.328 Diese Gegebenheiten könnten eine differenzierte Wertung im Rahmen des im Ganzen zu betrachtenden vorgeburtlichen Lebensschutzes ermöglichen.329 Des Weiteren wird argumentiert, dass eine PID unter diskriminierenden Gesichtspunkten gefährlicher sei als ein nach PND durchzuführender Schwangerschaftsabbruch und daher verboten bzw. zumindest restriktiver gehandhabt werden müsse. Bei der PND bestehe bereits eine real eingetroffene Konfliktsituation der schwangeren Frau, die sich, von Mehrlingsschwangerschaften abgesehen, auf einen einzelnen Embryo beschränke, der mit ihr körperlich eine Einheit bilde. Bei der PID hingegen werde diese Konfliktsituation bewusst-provozierend und auf künstliche Weise erst heraufbeschworen, indem man mehrere Embryonen durch künstliche Befruchtung produziere, anschließend unter ihnen nach Erbveranlagungen selektiere und die kranken Embryonen im mütterlichen Einvernehmen vernichte.330 Im Falle des Schwangerschaftsabbruchs aufgrund medizinischer Indikation wisse die Frau vor der Schwangerschaft noch nicht, ob es sich tatsächlich um einen genetisch erkrankten Embryo handelt, und ob sie bereit ist, die damit verbundenen eigenen Lebenseinschränkungen auf sich zu nehmen; im Falle der PID wisse sie bereits sicher, dass sie sich nur gesunde Embryonen einsetzen lassen werde.331 In diesem Rahmen trete die Selektion gendefekten menschlichen Lebens deutlich 326 Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 213. Zum Gegenargument des „abusus non tollit usum“: Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 163 m. w. N.; Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 271. 327 Vgl. auch Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 40. 328 Vgl. Kubiciel, NStZ 2013, 382 (384), der sich eher kritisch äußert. 329 Giwer, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 112 f.; Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 58 nimmt zwar an, dass beide Verfahren unter gleichheitsrechtlichen Aspekten grundsätzlich nicht unterschiedlich behandelt werden könnten, plädiert aber gleichwohl für strengere prozedurale Maßstäbe der PID im Vergleich zu § 218a Abs. 2 StGB, weil der Embryo in vitro größerem Gefährdungspotenzial ausgesetzt sei. 330 Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 160 m. w. N.; Henking, ZRP 2012, 20 (22); Isensee, in: Höffe / Honnefelder / Isensee u. a., Gentechnik und Menschenwürde, S. 37 (76); Lee, Die aktuellen juristischen Entwicklungen in der PID und Stammzellforschung in Deutschland, S. 61; Mildenberger, MedR 2002, 293 (298); Reiß, HRRS 2010, 418 (422). Auch Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 208 stellt darauf ab, dass bei der PND ein ungewünschter Zustand abgewehrt und bei der PID hingegen ein erwünschter Zustand hergestellt werde; a. A.: Renzikowski, NJW 2001, 2753 (2757); Schroth, NStZ 2009, 233 (236); Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (632), der von einer vergleichbaren, psychischen Konfliktlage der Frau spricht. 331 Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 40; Reiß, HRRS 2010, 418 (422).

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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stärker hervor332 als bei einem Konflikt mit einem singulären, geschädigten Embryo in vivo.333 Im Gegensatz zur konkreten „Ja-Oder-Nein-Entscheidung“ im Rahmen einer PND werde bei der PID keine „Wahl, sondern eine Auswahl“334 getroffen. Menschliches Leben werde bewusst erschaffen und unmittelbar danach ebenso bewusst einem frühen Tod ausgesetzt.335 Ein menschlicher Konflikt bestehe aber „in der Laborsituation“ nicht.336 Die PID führe die „embryopathische Indikation“, die aus Diskriminierungsgründen gerade nicht mehr existieren sollte, durch die Hintertüre wieder ein.337 Selbst wenn im Rahmen der PND mit einem anschließenden Schwangerschaftsabbruch de facto eine Selektionsmöglichkeit eröffnet werde, müsse immer noch beachtet werden, dass eine Rechtfertigung nicht aus der embryopathischen Indikation, sondern aus dem Gesundheitszustand und den zukünftigen Verhältnissen der schwangeren Frau nach § 218a Abs. 2 StGB folge.338 Die Konfliktsituation, die aus der Verbundenheit des Embryos in vivo mit seiner Mutter resultiere, schütze ihn auf diese Weise aber gleichzeitig.339 Die Hemmschwelle, einen Embryo in vitro zu vernichten, sei deutlich herabgesetzt, weil die PID, anders als die PND, nicht unmittelbar am Körper der Schwangeren ansetze, sondern „in der Unpersönlichkeit einer Petrischale“, zu der „die gefühlsmäßige Resonanz“ noch fehle.340 Eine Schwangerschaft werde daher nicht so schnell aufgegeben wie ein „[w]enigzellige[s] Gebilde“341. Auch sei ein Schwangerschaftsabbruch mit erheblichen körperlichen und psychischen Leiden verbunden und stelle 332

A. A. insoweit Gutmann, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 61 (88); Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (639). 333 Mildenberger, MedR 2002, 293 (300). 334 So Birnbacher, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 755 (760) [Hervorhebung auch im Original], der auch darauf hinweist, dass die PID im Gegensatz zur PND nicht nur zur Diagnostik von Krankheiten, sondern auch zur Auswahl anderer präferierter Merkmale erfolgen könne, wodurch sich die Gefahr eines „Designerbabys“ ergebe; in die gleiche Richtung Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 160 m. w. N.; Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 231; a. A. insofern Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 150, der in der PID im Gegensatz zum Schwangerschaftsabbruch gerade eine lebensbejahende Einstellung erkennt. 335 Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 29 m. w. N. 336 Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 229. 337 BT-Drs. 17/5210, S. 39; Henking, ZRP 2012, 20 (21); vgl. dazu auch Schroth, ZStW 125 (2013), 627 (641), der aber davon ausgeht, dass in der persönlichen Konfliktlage und dem Wunsch nach der Implantation eines gesunden Embryos gerade keine generelle (Ab-)Wertung über das Leben behinderter Menschen zum Ausdruck komme; ebenso Landwehr, Rechtsfragen der Präimplantationsdiagnostik, S. 80; a. A. Faßbender, NJW 2001, 2745 (2752). 338 Mildenberger, MedR 2002, 293 (300). 339 Mildenberger, MedR 2002, 293 (298). 340 Birnbacher, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 755 (758); ähnlich Bögershausen, Präimplantationsdiagnostik, S. 164; Herzog, ZRP 2001, 393 (394). 341 Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 210; vgl. auch Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 41; a. A. Middel, Verfassungsrechtliche Fragen der Präimplantationsdiagnostik und des therapeutischen Klonens, S. 173 f.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

daher eine größere Barriere für die Vernichtung des Embryos dar als eine IVF und eine sich daran anschließende Verwerfung. Teilweise wird bei dem Verfahren der PID im Vergleich zu einem Schwangerschaftsabbruch nach PND zusätzlich die Rolle der Frau als geschwächt angesehen. Bei letzterer sei sie autonomer, weil ein Schwangerschaftsabbruch zwingend einen Eingriff in ihre körperliche Integrität darstelle und ihrer Entscheidung unterliege. Bei der PID hingegen werde die Entscheidung über das Vorgehen mit den entstandenen Embryonen zwar auch im Ergebnis der Frau anheimgegeben, allerdings sei die Entscheidung deutlich geöffneter für Interventionen seitens des Partners, Ärzten und Wissenschaftlern und damit in einem „viel höherem Maße von Experten beeinflußt“342. Der Embryo in vitro werde somit weder durch eine äußere Schutzhülle noch durch eine emotionale Nähe zur Mutter geschützt und sei daher für einen Missbrauch deutlich anfälliger.343 Daraus ließe sich ein ungleiches strafrechtliches Schutzniveau rechtfertigen. Zudem werden verfassungsrechtlich entgegenstehende Rechte der Mutter angeführt, die dazu führen würden, dass der Embryo in vitro höheren Schutz genießen könne als der Embryo in vivo. Letzterer bilde mit der schwangeren Frau eine natürliche Einheit und kollidiere daher mit Grundrechten der Schwangeren, die die Schutzmöglichkeiten des Staates beschränken würden.344 Der sich extrakorporal entwickelnde Embryo in vitro sei solchen Gegengrundrechten (noch) nicht ausgesetzt, seine Grundrechtspositionen müssten in seinem Stadium nicht gegen die grundrechtlichen Positionen der Mutter abgewogen werden. Den Rechten des Embryos in vitro müsse gegenüber Drittrechten somit der Vorrang eingeräumt werden, die Rechte des Embryos in vivo könnten hingegen nicht gegen die Schwangere und ihre körperliche Integrität durchgesetzt werden.345 Eine „Schwangerschaft auf Probe“ könne aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht verboten werden, eine künstliche Befruchtung mit anschließender Selektion hingegen schon.346 Fühle sich die Frau trotz Beratung nicht in der Lage, das Kind anzunehmen, müsse man ihr den Schwangerschaftsabbruch im Wege der Konfliktlösung erlauben, weil ein Gebärzwang gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoße. Bei der PID hingegen liege eine derartige Unzumutbarkeitssituation der Frau, aus welcher ihr geholfen werden müsse, nicht vor.347 Der Embryo in vivo müsse vielmehr dadurch geschützt werden, dass die Diagnose seines Befundes und das Wissen über seine Gene nicht zwangsläufig mit einer 342

So Kollek, Präimplantationsdiagnostik, S. 165. Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 230. 344 Renzikowski, NJW 2001, 2753 (2757); Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 362 ff.; vgl. auch Torbohm, Genetische Informationen im Familienverbund, S. 260. 345 Mildenberger, MedR 2002, 293 (299). 346 Renzikowski, NJW 2001, 2753 (2757); vgl. dazu auch von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 318. 347 Mildenberger, MedR 2002, 293 (298). 343

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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Abbruchsentscheidung korreliert. Die Schwangere müsse im Wege der Beratung vor und nach der Diagnostik vielmehr aufgeklärt werden, um die Möglichkeiten eines Lebens mit einem behinderten Kind in Betracht ziehen zu können.348 Die Eltern sollen sich auch frühzeitig mit einer etwaigen Behinderung ihres Kindes psychisch und institutionell auseinandersetzen können. Eine PND müsse auch deshalb rechtlich einfacher möglich sein als eine PID, weil sie nicht nur genetische Defekte aufspüre, die dann eine Abtreibung rechtfertigen würden, sondern die Diagnostik könne auch der Gesundheit der Schwangeren und des Embryos dienen und frühzeitig schützende Therapiemöglichkeiten aufzeigen.349 Es bestehe kein absoluter Automatismus zwischen einem negativen Befund im Wege einer PND und einer Abtreibung.350 Der Befund statuiere keine vollendeten Tatsachen, sondern schaffe für die schwangere Frau zunächst einmal die Entscheidungsgrundlage, ob sie sich im Stande fühle, das behinderte Kind aufzuziehen.351 Bei der PID hingegen würden genetisch belastete Embryonen in einem unbestreitbaren Automatismus selektiert, weil dies gerade dem Sinn und Zweck der PID entspreche. Die Entscheidung gegen den auffälligen Embryo stehe von vornherein eindeutig fest.352 Als Argument gegen die Zulässigkeit der PID bzw. den Gleichlauf der PID mit der PND wird ebenfalls angeführt, dass ein bereits eingetretenes, niedriges Schutzniveau des Embryos nicht als Vorbild für die PID gelten dürfe; es komme dadurch zu einer gefährlichen Abwärtsspirale des Lebensschutzes. Einmal getroffene, verfassungsrechtliche Schutzregularien, die einen zu schwachen Schutz böten, müssten revidiert353 und nicht als Ausgangsbasis einer ohnehin niedrigen Schutzpflicht angesehen werden, die Orientierung für weitere, immer noch niedrigere Maßstäbe der staatlichen Lebensschutzpflicht setze.354

348

Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 367 ff. Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 227; Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 359; vgl. zur Therapierbarkeit einer Rhesusunverträglichkeit Fenger, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 15 GenDG Rdnr. 1. 350 Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 229; Mildenberger, MedR 2002, 293 (299); a. A. im Sinne einer klaren Korrelation zwischen Behinderung und Abtreibung Faßbender, NJW 2001, 2745 (2747) mit Bezug auf Abtreibungsstatistiken. 351 Scherrer, Das Gendiagnostikgesetz, S. 238. 352 Mildenberger, MedR 2002, 293 (296). 353 Cramer, ZRP 1992, 136 (136 f.) plädiert daher nach alter Rechtslage dafür, eine strenge embryopathische Indikationsregelung einzuführen. 354 So Hillgruber, ZfL 2011, 47; Hillgruber, in: Spieker / Hillgruber / Gärditz, Die Würde des Embryos, S. 57 (69 f.); vgl. auch Scheffer, ZfL 2011, 9 (15); vgl. ferner Duttge, ZStW 125 (2013), 647 (658). Auch Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem, S. 230 ff. spricht in diesem Zusammenhang von einer Kluft zwischen Verfassungsrecht und Rechtswirklichkeit. 349

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

c) Eigene Stellungnahme Der Meinungsstreit über einen etwaig bestehenden Wertungswiderspruch zwischen dem Schutz des Embryos in vitro und dem Schutz des Embryos in vivo stellt einen Streit besonderen Ausmaßes dar, weil er das Gesamtgefüge des embryonalen Lebensschutzes ins Wanken bringt. Den Gegnern eines Wertungswiderspruchs ist insoweit zuzustimmen, dass zwischen dem Embryo in vitro und dem Embryo in vivo durchaus Unterschiede im Hinblick auf das Missbrauchspotenzial bestehen. Der Embryo in vitro ist hierfür anfälliger als der vom Körper der Schwangeren umgebene Embryo in vivo. Dies nicht zuletzt auch in emotionaler Hinsicht. Entscheidende Kraft kommt aber letztlich dem Argument zu, dass sich die Belastungslage für das Paar bei einer PID mit derjenigen bei der PND als vergleichbar darstellt. Es mag sein, dass der konkrete Embryo zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Durchführung einer PID noch nicht existiert und die Belastungslage demnach keine gegenwärtige im Sinne eines „Ja’s“ oder „Nein’s“ gegenüber einem ausgewählten Embryo ist. Dies stellt aber den falschen Bezugspunkt für die Konfliktlage dar. Das Paar unterliegt bereits vor der Zeugung des Embryos dem Konflikt, dass es sich ein Kind wünscht und sich den Belastungen, die mit der Aufziehung eines schwer erbkranken Kindes verbunden sind, nicht gewachsen sieht. Nachdem beide Ausgangslagen insoweit vergleichbar sind, der Embryo in vitro aber aufgrund seiner körperlichen Verfügbarkeit in dieser Hinsicht als schutzwürdiger anzusehen ist, wäre ein Wertungswiderspruch abzulehnen. Diese Schlussfolgerung kann aber nur gezogen werden, wenn sowohl dem Embryo in vitro als auch dem Embryo in vivo das gleiche volle Lebensrecht zustünde und dieses auch im strafrechtlichen Schutz seinen Niederschlag fände. Die hier vertretene Ansicht folgt allerdings dem Konzept eines abgestuften Lebensschutzes. Die Rechtsordnung gewährt dem geborenen Leben einen deutlich stärkeren Schutz als dem ungeborenen. Danach nimmt mit der zunehmenden Entwicklung des Individuums auch sein strafrechtlicher Schutz zu. Hieraus wiederum folgt, dass der Embryo in vivo grundsätzlich größeren Schutz genießen muss als der Embryo in vitro. Nachdem letzterer allerdings spezifischen Gefährdungslagen ausgesetzt ist, nivelliert sich der jeweilige Schutz der Embryonen in den unterschiedlichen Entwicklungsstadien.355 Den Befürwortern des Wertungswiderspruchs ist daher im Ergebnis zuzustimmen. Es stellt einen Wertungswiderspruch dar, dass der Embryo in vitro durch das Votum einer Ethikkommission größeren prozeduralen Schutz genießt als der Embryo in vivo. Mit der PID existiert ein verhältnismäßigeres Mittel. Spätabtreibungen könnten dadurch erheblich eingeschränkt und Leid gemildert werden.

355

Die gleichen Prämissen – sprich ein abgestuftes Lebensschutzkonzept und eine gesteigerte Schutzbedürftigkeit des Embryos in vitro – vertritt Böckenförde-Wunderlich, Präimplantationsdiagnostik als Rechtsproblem, S. 227 ff.

B. Analyse der Präimplantationsdiagnostik nach § 3a ESchG 

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Auch das maßgebliche Kriterium der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ überzeugt insoweit nicht. Die embryopathische Indikation wurde aufgrund von Diskriminierungsgründen abgeschafft. Auch wenn sie in der medizinischen Indikation nach § 218a Abs. 2 StGB aufgegangen ist, stellt die Behinderung des Embryos nicht den maßgeblichen Bezugspunkt für den Rechtfertigungsgrund dar, sondern die dadurch bedingten Auswirkungen auf die Gesundheit der Schwangeren. Auch bei der strafrechtlichen Regelung der PID sollte deshalb auf die Auswirkungen für die Gesundheit der Frau, und nicht auf die objektive Erkrankung des Embryos abgestellt werden.356 Die gesundheitlichen Belastungen für die schwangere Frau müssten ebenso von ihrem behandelnden Arzt festgestellt werden können. Dadurch kann ein Gleichlauf mit der Regelung der PND hergestellt, und ein Wertungswiderspruch beseitigt werden. 2. Konsequenz des Wertungswiderspruchs für den Einsatz von Prozeduralisierung im Rahmen der PID Zwischen der Regelung der PID und den Regularien zum Schwangerschafts­ abbruch infolge einer festgestellten Behinderung des Kindes wurde ein Wertungswiderspruch konstatiert. Die Einsetzung einer Ethikkommission, die das Kriterium der „schwerwiegenden Erbkrankheit“ zu bestimmen hat, ist an dieser Stelle daher unverhältnismäßig. Einer derart strengen Prozeduralisierung bedarf es nicht. Letztendlich spricht ein weiteres Argument dafür, das prozedurale Konzept bei der PID de lege ferenda zu reformieren. Mit der Regelung des § 218a Abs. 2 StGB trifft der Gesetzgeber eine entscheidende Wertung im System des Lebensschutzes. Die Gefahr für die Gesundheit der Schwangeren – auch auf die Zukunft bezogen – stellt ein derart schützenswertes Rechtsgut der Verfassung dar, das dazu führt, dass der Schwangerschaftsabbruch gerechtfertigt wird. Die gesundheitliche Gefährdung der Frau wird damit als besonders gewichtiges Gegengut zur Leibesfrucht anerkannt. Insoweit lässt sich konstatieren, dass eine gesetzliche Vorabwägung besteht, die der Gesundheit der Frau den Vorrang gegenüber dem Lebensrecht des Embryos einräumt. Akzeptiert man die parallele Konfliktlage der PND und der PID, ergibt sich auch hier, dass grundsätzlich der Gesundheit der Frau der Vorrang einzuräumen ist. Das Argument, das Paar könne schlicht auf Kinder verzichten oder Kinder adoptieren, wenn sie das Risiko eines erkrankten Kindes nicht eingehen wollten oder könnten, wird evident den Grundrechten des Paares auf reproduktive Selbstbestimmung aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 2 GG nicht gerecht. Daraus lässt sich insgesamt das Fazit ziehen, dass moralische Unwägbarkeiten im System der PID durchaus vorhanden sind, dass sich der Regelung des § 218a Abs. 2 StGB aber insofern eine gesetzgeberische Wertung entnehmen lässt, 356

Ebenso Gassner / Kersten / Krüger u. a., Fortpflanzungsmedizingesetz, S. 51; zust. von Wietersheim, Strafbarkeit der Präimplantationsdiagnostik, S. 307.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

die für den grundsätzlichen Vorrang der Gesundheit der Frau streitet. Aus dem Vergleich der PND zur PID lässt sich damit als Fazit ziehen, dass das prozedurale Merkmal der moralischen Unwägbarkeiten unter diesem Aspekt neu bewertet werden muss. Unter diesem Gesichtspunkt besitzt ein prozedurales Verfahren, das konkurrierende Rechtsgüter auszugleichen versucht, nicht derartige Relevanz wie die prozedurale Beratungsregelung des § 218a Abs. 1 StGB, in welcher die Rechte der Schwangeren mit den Rechten des Embryos in vivo zum Ausgleich gebracht werden. Eine Prozeduralisierung in dieser Form wird daher im Ergebnis abgelehnt.

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB Im Anschluss an die Analyse der PID erfolgt die Untersuchung der §§ 1901a ff. BGB hinsichtlich ihrer Prozeduralität. Diese Vorschriften sollen – nach Darstellung der hierzu vertretenen Literaturansichten – ebenfalls in das eigene Begriffsverständnis von Prozeduralisierung eingeordnet werden. Die Analyse soll auch in diesem Zusammenhang wiederum ergeben, welche prozedurale Intention hinter dem Regelungskomplex steht und ob eine Prozeduralisierung an dieser Stelle vertretbar bzw. sogar erforderlich ist.

I. Analyse der §§ 1901a ff. BGB hinsichtlich prozeduraler Elemente Im Folgenden sollen die §§ 1901a ff. BGB auf prozedurale Strukturen hin untersucht werden. In diesem Zusammenhang wird insbesondere auch auf das Ausmaß des oben bereits beschriebenen Ineinandergreifens der §§ 1901a ff. BGB mit den strafrechtlichen Tötungsdelikten eingegangen. 1. Das Schwinden materiellrechtlicher Normen Betrachtet man die kodifizierten Regelungen zur Sterbehilfe, besteht die erste signifikante Auffälligkeit darin, dass es an einer umfassenden gesetzlichen Regelung dieser Rechtsmaterie fehlt. In diesem Falle muss also anstatt eines „Schwindens“ von einem bereits anfänglichen Fehlen materieller Regelungen die Rede sein. Die einschlägigen Tötungsdelikte des StGB sind augenscheinlich nicht auf die Sterbehilfe im Speziellen ausgerichtet und auch die Strafvorschrift des § 216 Abs. 1 StGB, welche als Kernregelung der Sterbehilfe angesehen wird, regelt nur ein Segment der problembehafteten Materie.357 Der Ende 2015 eingeführte § 217 StGB, 357 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (83); Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 59; vgl. auch Wessels / Hettinger / Engländer, Strafrecht BT 1, Rdnr. 146 m. w. N.

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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der u. a. wegen seiner Weite unter erheblicher Kritik steht,358 regelt ebenfalls nur einen Ausschnitt in Form des Verbots des geschäftsmäßig assistierten Suizids. Eine allgemeine Scheu des Gesetzgebers vor materiellrechtlichen Regelungen in diesem Bereich, zu denen er sich trotz zahlreicher Aufforderungen359 und Gesetzesvorschläge360 nicht durchringen konnte, wird hier bereits im Ausgangspunkt deutlich. Die Wurzel des Absehens von einer materiellrechtlichen  – und damit bedingt abstrakten – Regulierung liegt zum Teil womöglich in der Nichtregulierbarkeit „der individuellen Einmaligkeit des Sterbevorgangs“ begründet.361 Teils wird sogar konstatiert, dass „Sterben […] nicht normierbar [sei]“362 und daher vor einer „weiteren normativen Überblähung dieses Bereichs“363 gewarnt. Verkompliziert wird das Ganze nicht nur durch die Interdisziplinarität der Sterbehilfe, sondern auch durch ihre intradisziplinäre Natur, die eine konsentierte Normierung verhindere.364 Diese Gegebenheiten stellen in Frage, ob es je eine befriedigende Normierung geben könne.365

358

Vgl. nur Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (588 f.); Eidam, medstra 2016, 17; Gaede, medstra 2016, 65; Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 57 f.; Taupitz, medstra 2016, 323. Das BVerfG hat mit Urteil vom 26.02.2020 die Straf­ vorschrift der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig erklärt, vgl. BVerfG, BeckRS 2020, 2216. 359 Vgl. nur Kahlo, in: FS Frisch, S. 711 (738); Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (121); Schreiber, NStZ 2006, 473 (479); Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 57; Verrel, NStZ 2010, 671; Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (289); eine gesetzliche Regelung abl. Hirsch, in: FS Lackner, S. 597 (619); Seitz, ZRP 1998, 417 (421). 360 Vgl. nur Baumann / Bochnik / Brauneck u. a., Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-Sterbehilfe), Stuttgart 1986; Schöch / Verrel, GA 2005, 553 (584 ff.) [AE-StB]; Bericht der Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ vom 10.06.2004, Patientenautonomie am Lebensende; Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 23.04.2004, Sterbehilfe und Sterbebegleitung; gesetzliche Änderungsempfehlungen sprechen auch Strätling / Lipp / May u. a., MedR 2003, 483 ff. aus. 361 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (84); umgekehrt weist Seitz, ZRP 1998, 417 (421) hingegen auf das Problem einer möglichen Verfestigung durch eine gesetzliche Normierung hin, welche dem medizinischen Fortschritt nicht gerecht werden könne. Vgl. ebenfalls Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 217: „Die Entscheidung über den Abbruch einer Behandlung bei äußerungsunfähigen Patienten wird also weiterhin eine schwierige moralische Entscheidung bleiben, für die es kaum befriedigende Kriterien gibt.“ In die gleiche Richtung Zahn, Der Einwilligungsunfähige in der Medizin, S. 116. 362 Hoppe / Hübner, ZRP 2008, 225 (226) [Hervorhebung auch im Original]. 363 Hoppe / Hübner, ZRP 2008, 225; krit. Verrel, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 617 (618 f.). 364 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (84); ebenfalls auf die Interdisziplinarität der Sterbehilfe hinweisend Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (28). 365 Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (120 f.) verneint diese Fragestellung; auch Zahn, Der Einwilligungsunfähige in der Medizin, S. 120 konstatiert, dass ein Gesetz den am Einzelfall auszurichtenden Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen nicht zu reglementieren vermöge.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Nicht materiell normierbar ist gewiss die Übergangsphase zwischen Leben und Tod. An dieser Stelle stößt die Rechtsordnung zwangsläufig auf allgemeine Wertvorstellungen über die Würde eines Menschen und sein Leben. Das Problem besteht darin, dass sich derartige allgemeine Wertvorstellungen im Hinblick auf das Verbot einer Lebensqualitätsabstufung an sich verbieten. Es darf grundsätzlich keine Definition darüber existieren, ab welchem Zeitpunkt ein Leben noch lebenswert erscheint und ab welchem Zeitpunkt es in ein lebensunwertes umschlägt.366 Es entscheidet der Patient bzw. sein mutmaßlicher Wille über die Fortsetzung einer Behandlung. Eine Relativierung des absoluten Willenspostulats ergibt sich aber durch die medizinische Indikation, bei welcher ein ähnliches Problem besteht, weil auch in diesem Bereich nicht normierbare, ärztliche Einschätzungsfreiräume eine Rolle spielen, die notwendigerweise mit Wertvorstellungen korrelieren.367 Auch in der Pattsituation eines nicht eruierbaren mutmaßlichen Willens ohne Anhaltspunkte ergibt sich die Schwierigkeit materiellrechtlich zu regulieren, ob nun „in dubio pro vita“ oder „in dubio pro dignitate“ zu entscheiden ist. Gleichgelagerte Schwierigkeiten ergeben sich ebenso am letzten Abschnitt des Endes eines menschlichen Lebens mit dem umstrittenen Kriterium des Hirn­ todes.368 Derartige materiellrechtliche Festlegungen kann das Strafrecht nicht leisten und entzieht sich folglich einer Normierung. Zu schließen ist diesbezüglich mit Saliger, demzufolge „Prozeduralisierung […] die begrifflichen Trennlinien [entschärft], indem sie sie verfahrensmäßig relativiert“369. 2. Spezifisches Nichtwissen und / oder moralische Unwägbarkeiten Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit ein spezifisches Nichtwissen und / oder moralische Unwägbarkeiten zur Regelung der §§ 1901a ff. BGB beigetragen haben. Aus dem Blickwinkel der Güterabwägung erscheint, ebenso wie beim Schwangerschaftsabbruch nach §§ 218 ff. StGB, höchst problematisch, dass auf der abzuwägenden Gegenseite das Lebensrecht als Höchstwert der Verfassung steht. Moralische und ethische Argumentationsstränge versperren im Bereich der Sterbehilfe häufig die nach Verfassungsrecht aufzulösenden und auch auflösbaren 366 Vgl. erneut BGH, BeckRS 2019, 6883 Rdnr. 14. Zum Sachverhalt der Entscheidung s. in 2. Kap., Fn. 288. 367 Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?, A 24. 368 Die h. M. nimmt den Tod des Menschen mit dem Eintritt des Hirntods (Ausfall von Groß-, Klein- und Stammhirn) an, vgl. Eser / Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 211 ff. Rdnr. 19 m. w. N.; Heun, JZ 1996, 213 (215); Neumann, in: NK-StGB, Vor § 211 Rdnr. 27 ff.; Oduncu, in: Schroth / König / Gutmann / Oduncu, TPG, Einl. Rdnr. 109. Nach a. A. ist der hirntote Mensch kein Toter, sondern ein sich im Sterben befindender Mensch, Grewel, ZRP 1995, 217 (218); Rixen, ZRP 1995, 461 (464). 369 Saliger, KritV 1998, 118 (149); krit. hierzu Laufs, NJW 1998, 3399 (3400).

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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Grundrechtskollisionen.370 Im Konfliktfall eines in Rede stehenden Behandlungsabbruchs ist nach einem langwierigen gesellschaftlichen und rechtlichen Wandel371 weitgehend anerkannt, dass der Autonomie des Patienten, mithin seinem Selbstbestimmungsrecht als Abwehrrecht, der grundsätzliche Vorrang gegenüber einer Lebensaufrechterhaltungspflicht um jeden Preis gebührt.372 Das Verweigerungsrecht bezüglich medizinischer Eingriffe gewährleistet, dass der Patient nicht gegen seinen Willen am Leben gehalten werden darf. Dies verkörpern gerade auch die Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB, welche dem Willen des Patienten und dem mit ihm verbundenen Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen zur Durchsetzung verhelfen sollen. Spezifisch prozedural auszugleichende Unwägbarkeiten bei der Abwägung der kollidierenden Güter zeigen sich demnach im Rahmen des Behandlungsabbruchs nicht in einer derartigen Offensichtlichkeit wie in anderen verfassungsrechtlich umstrittenen Grundrechtskollisionen. Saliger sieht gleichwohl den Grund sterbehilferechtlicher Prozeduralisierungstendenzen in „Normierungsunsicherheiten“ begründet:373 Nachdem die medizinische Technik voranschreite, im Gegenzug aber nicht ihr Horizont, sondern die Autonomie des Patienten gesellschaftlich und rechtlich stärkere Berücksichtigung erfahre, bröckele das Fundament der „allgemeinverbindlichen Ausdeutung der ‚Heiligkeit des Lebens‘ […]“374. Diese Entwicklungen würden zur Notwendigkeit grundrechtlicher Sicherung durch Verfahren führen.375 Diese Aussagen implizieren die These, dass bei einem sich abzeichnenden Wertewandel zunächst prozedurale Sicherungen eingebaut werden, solange der Gesetzgeber sich nicht im Klaren über die absolute Richtigkeit und das Ausmaß dieser geänderten verfassungsrechtlichen Abwägungsvorgänge ist.376 Prozedurales Recht fungiert danach mit anderen Worten als kompensatorischer Schutzmechanismus für sich im Umbruch befindliche rechtliche Überzeugungen. Zuzugeben ist dieser – Prozeduralisierung im Bereich des Behandlungsabbruchs mit Normierungsunsicherheiten begründenden – Argumentation, dass moralische Unwägbarkeiten insofern bestehen, als dass entschieden werden muss, in welchem Maße eine tatsächliche Ungewissheit rechtlich angemessen ausgelotet werden kann, ohne die staatliche Schutzpflicht zu unterschreiten. Schwer regulierbar und 370

Hufen, NJW 2001, 849 (850). Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (289). 372 Hufen, NJW 2001, 849 (851); Hufen, ZRP 2003, 248 (252); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 363; Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?, A 13; Verrel, Patien­ tenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 72. 373 Saliger, KritV 1998, 118 (147). 374 Saliger, KritV 1998, 118 (147). 375 Saliger, KritV 1998, 118 (147). 376 Vgl. dazu auch EGMR, Urt. vom 05.06.2015, Nr. 46043/14 (Lambert u. a. v. Frankreich), NJW 2015, 2715 (2721 Rdnr. 148), wonach den Staaten ein Beurteilungsspielraum einzuräumen sei, welcher Mittel sie sich bedienen wollen, um die Abwägung zwischen Lebensschutz und Autonomie zu vollziehen. 371

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

mit Normierungsbedenken versehen ist damit die normative Ausgestaltung des Verfahrens als solche, namentlich welche verfahrensrechtliche Sicherungsprozedur als ausreichend angesehen werden kann, um einem (nur) mutmaßlich ermittelten Willen den Vorrang gegenüber dem Lebensrecht vertretbar einräumen zu können. In dieser Abwägung sind insofern zwar normative Reglementierungsunsicherheiten feststellbar. Sie beruhen aber bei genauer Betrachtung auf tatsächlichen Ungewissheiten, nämlich dem wirklichen Willen des Patienten. Wäre dieser, wie im Falle eines Einwilligungsfähigen unproblematisch feststellbar, würden sich normative Abwägungsschwierigkeiten zwischen Selbstbestimmungsschutz und Lebensschutz relativieren. Wenn auch neuzeitliche Entscheidungen vereinzelt noch von einer gewissen Skepsis bezüglich der Umsetzung eines mutmaßlichen Patientenwillens zeugen,377 ist die Bedeutung des verfassungsrechtlich verankerten Selbstbestimmungsrechts umso dringlicher hervorzuheben. Es stellt eine wesentliche Ausprägung der Menschenwürde dar, dass der Mensch nicht als Objekt der Medizin sämtliche, ihm vermeintliches Heil versprechende Eingriffe über sich ergehen lassen muss, sondern dass er als Subjekt Entscheidungen trifft oder, falls er hierzu nicht mehr im Stande ist, Personen Entscheidungen treffen, die seinem Willen entsprechen. Auch der mutmaßliche Wille des Patienten muss sich gegen einen bis zuletzt ausgeschöpften absoluten Lebensschutz durchsetzen. Umgekehrt liegt es de lege lata bei der strafrechtlichen Beurteilung der „aktiven Tötung“: Das Lebensrecht des Patienten setzt sich hier gegen sein Selbstbestimmungsrecht durch. Die normativen Abwägungsschwierigkeiten (normative Defizite des materiellen Rechts) liegen daher beim sterbehilferechtlichen Behandlungsabbruch (und der „aktiven Sterbehilfe“) nicht in gleichem Maße vor wie bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nach den §§ 218 ff. StGB. Im Rahmen des Behandlungsabbruchs spielt deshalb bei einwilligungsunfähigen Patienten „das spezifische Nichtwissen“ eine, wenn nicht sogar die zentrale Rolle. Selbst im Falle einer Patientenverfügung ergeben sich aufgrund ihrer Auslegungsbedürftigkeit und der Möglichkeit ihres formlosen Widerrufs immense Wissensdefizite. Diese verstärken sich, wenn der später Einwilligungsunfähige keine wirksame und zugleich den Bestimmtheitsanforderungen entsprechende Patientenverfügung errichtet hat.378 Es herrscht eine allseitige Situation der Unkenntnis über den wirklichen Willen des Patienten bezüglich eines Abbruchs lebensverlängernder Maßnahmen. Der Behandlungsabbruch bei einem Einwilligungsunfähigen erfordert und erlaubt damit gleichzeitig eine viel stärkere prozedurale Bindung als 377

In BSGE 118, 18 ff. wurde entschieden, dass die Hinterbliebenenrente des Betreuers durch eine Mitwirkung an einem nach den Grundsätzen des BGH vom 25.06.2010 gerechtfertigten Behandlungsabbruch nicht ausgeschlossen wird. Dass es dieser Entscheidung bedurfte, zeigt, dass die neue Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts zwar weitgehend angenommen, aber wohl noch nicht gänzlich verinnerlicht wurde, vgl. Verrel, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 617 (633). 378 Zu den Bestimmtheitsanforderungen an eine Patientenverfügung und die hierzu ergangene Entscheidung des XII. Zivilsenats vom 08.02.2017 s. unter 2. Kap., Fn. 362.

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in der Situation eines Einwilligungsfähigen, dessen Autonomie gewahrt werden muss und nicht durch übermäßige Verfahrensschritte beschnitten werden darf.379 Die Beteiligten haben in dieser Ausgangslage nach § 1901a Abs. 2 BGB den mutmaßlichen Willen380 des Patienten zu erforschen. Dieser ist zwar nach § 1901a Abs. 2 S. 2 BGB anhand konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, allerdings kann er aufgrund der Unergründbarkeit der seelischen Gedankenwelt eines Menschen, die oftmals komplexe Augenblicksentscheidungen beinhaltet, gewiss nie mit letzter Sicherheit festgestellt werden.381 Das Konstrukt des mutmaßlichen Willens steht gerade aufgrund der anzustellenden Prognosen und bedingten Wahrscheinlichkeitsurteile unter erheblicher Kritik.382 Der Fakt, dass der höchstpersönliche Wille, auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt der Patient aus dem Leben scheiden möchte, ohne dessen Äußerungen nicht letztgültig eruiert werden kann, stellt das Hauptdilemma beim Behandlungsabbruch bei einwilligungsunfähigen Patienten dar. Dadurch, dass mit dem medizinischen Abbruch das Leben irreversibel beendet wird, stellt das Dilemma wohl eines der größten im Rahmen des „spezifischen Nichtwissens“ dar. Das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB stellt die entsprechende Reaktion auf diese existenziellen Ungewissheiten dar. 3. Das Kriterium der Diskursivität Die §§ 1901a ff. BGB institutionalisieren ein Verfahren des bewussten Dialoges. Wurde dieser vor der gesetzlichen Regelung zwar praktisch schon betrieben, so ist er durch die Kodifikation des § 1901b Abs. 1 S. 2 BGB zur „gesetzlich abgesicherten ‚Standardprozedur‘ [geworden]“383. Danach haben Betreuer und Arzt ein Gespräch über den mutmaßlichen Patientenwillen zu führen, welches eine Entscheidung des Betreuers über die (Nicht-) Einwilligung in die ärztliche Maßnahme zur Folge haben soll. Das Kriterium des – auch streitigen384 – Diskurses ist im Rahmen der Ermittlung des mutmaßlichen Willens daher fest verankert. Zum Diskurs sollen nach § 1901b Abs. 2 BGB auch nahe Angehörige und Vertrauens-

379

Saliger, KritV 1998, 118 (149). Dennoch sieht er für den kompletten Sterbehilfebereich eine Prozeduralisierungsmöglichkeit, Saliger, KritV 1998, 118 (149). 380 Zur begrifflichen Kritik der Verwendung des Wortes „Wille“ im Konstrukt des „mutmaßlichen Willens“ vgl. Beckmann, FPR 2010, 278 (279). 381 Vgl. auch Beckmann, FPR 2010, 278 (279); Breidenstein, jM 2016, 222 (226); Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (582); Popp, ZStW 118 (2006), 639 (670); gänzlich abl. Tolmein, KJ 1996, 510 (518). 382 Beckmann, FPR 2010, 278 (281): „Unter dem Deckmantel des angeblichen (mutmaß­ lichen) Willens des Patienten“; Seitz, ZRP 1998, 417 (421); auf die Schwierigkeit der Feststellung hinweisend, aber deutlich gemäßigter Saliger, JuS 1999, 16 (20): „[Nicht] unmöglich oder per se Fremdbestimmung“; vgl. hingegen Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 89: „dogmatisch tragfähige Grundlage“; Verrel, NStZ 2010, 671 (673). 383 Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (38). 384 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (662 f.).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

personen hinzugezogen werden.385 Einzubeziehen sind daher Ehegatten, Lebenspartner, Eltern, Kinder sowie auch Lebensgefährten, enge Freunde und weitläufigere Angehörige, solange ein tatsächliches Näheverhältnis zu ihnen besteht.386 In diesem aufgrund der Vielfalt möglicher Konstellationen unbestimmt gehaltenen Rahmen387 steht dem Betreuer ein Ermessensspielraum zu, welchen er pflichtgemäß – dem jeweiligen Einzelfall entsprechend – auszuschöpfen hat.388 Kriterien der Ermittlungsdichte sind allerdings die eigene Vertrautheit des Betreuers mit dem Betreuten und die Existenz und Genauigkeit einer bestehenden Verfügung.389 Nach der Ratio einer fundierten Informationsgrundlage sollte aber nur in Ausnahmefällen auf die Beteiligung dieser Personengruppe am Diskurs verzichtet werden, wenngleich der Wortlaut den Charakter einer Sollvorschrift vorgibt. Ausschlaggebend hierfür dürfte die grundrechtliche Position des Art. 6 GG sein, die den Angehörigen eine Beteiligung an einer derart existenziellen Lebensentscheidung über einen nahen Verwandten gewährt.390 Nachdem die Erzielung eines Konsenses leitgebend ist und bei Nichtvorliegen ein solcher jedenfalls zu erzielen versucht werden musste, wird abgesichert, dass sich die Beteiligten über die gegenwärtige Situation und „ihr ganz eigenes Bild vom Betreuten“391 ausgetauscht haben. Tritt der Konfliktfall ein, findet der Dialog ausgeweitet im Rahmen eines gerichtlichen Urteils statt. In diesem Verfahren wird nach § 12 FGG von Amts wegen ermittelt, nach § 298 Abs. 2 FamFG ein Verfahrenspfleger bestellt und es erfolgt eine persönliche Anhörung des Betroffenen sowie sonstiger Beteiligter nach § 298 Abs. 1 S. 1, 2 FamFG. Auch erfolgt vor der Genehmigung die Einholung eines Sachverständigengutachtens, § 298 Abs. 3 S. 1 FamFG.392 Der Dialog wird damit im Zweifelsfalle auf eine zweite Ebene gehoben, auf der neutrale Dritte mit der – ebenfalls notwendigen – Distanz, aber gleichzeitig mit vorhandenem Fachwissen in den Diskurs miteinbezogen werden.393 Dies 385

Spickhoff, NJW 2000, 2297 (2301) plädierte schon nach alter Rechtslage für die Erzielung eines Konsenses mit den Angehörigen; Beermann, FPR 2010, 252 (254) kritisiert, dass das Pflegepersonal nicht in den Willensermittlungsprozess eingebunden werde, obwohl dieses oft eine innige(re) Beziehung zum Patienten habe; vgl. aber Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (36), der ein Hinzuziehen der Pflegekräfte trotz gesetzlicher Nichterwähnung für möglich hält. Zu in Aussicht gestellten Schwierigkeiten dieses Dialoges in der Praxis Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 78. 386 BT-Drs. 16/8442, S. 16. 387 Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (36). 388 Ihrig, DNotZ 2011, 583 (588 f.). 389 Ihrig, DNotZ 2011, 583 (588); Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (36). 390 Hufen, NJW 2001, 849 (852 f.). 391 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (663). 392 Zur Verschärfung dieses Tatsachen absichernden Verfahrens im Vergleich zum Verfahren des FGG Saliger, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 265 (281) m. w. N. 393 Vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (134); vgl. Ihrig, DNotZ 2011, 583 (589); vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (662 f.); vgl. Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 284 f.; vgl. ebenfalls Nickel, MedR 1998, 520 (522), der statt der Präventivkontrolle

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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ermöglicht eine differenzierte Sichtweise, die im Ergebnis zu einer „strukturell höheren Entscheidungsrationalität des Genehmigungsverfahrens […] im Vergleich zur Alleinzuständigkeit von Betreuer und Arzt“394 führt. Gleichzeitig steuert der durch die Prozeduralisierung vorgegebene Dialog der „Tabuisierung und Verdrängung der Entscheidungsprobleme im Grenzbereich von Leben und Tod“ entschieden entgegen.395 Die Gerichtsentscheidung wird nach § 287 Abs. 3 FamFG erst zwei Wochen nach Bekanntgabe wirksam. Dies sichert einen Interimszeitraum, welcher es den Beteiligten ermöglicht, ggf. noch effektiven Rechtsschutz zu erlangen und erneut ihre Argumente gegen eine Abbruchsentscheidung und für einen mutmaßlichen Lebenserhaltungswillen des Betroffenen darzulegen. Gleichzeitig kann in ihm aber eine „staatlich verordnete Zwangsbehandlung“ gesehen werden, weil in dieser Zeit die Weiterbehandlung dem festgestellten mutmaßlichen Patientenwillen widerspricht.396 Neben der diskursiven Entscheidungsfindung im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens existiert insbesondere bei der Sterbehilfe auch die Möglichkeit der Hinzuziehung Klinischer Ethikkomitees. Sie fungieren mitunter als Mediatoren und Ratgeber in ethischen Entscheidungsfindungsprozessen und sollen die Kommunikation fördern, gleichzeitig aber die letztgültige Verantwortung bei den Behandlungspersonen belassen.397 Sie können für immer wiederkehrende ethische Konflikte Leitlinien entwerfen oder ethische Einzelfallberatungen vornehmen.398 4. Entscheidungsmacht Privater Die Entscheidungsmacht Privater manifestiert sich ebenfalls deutlich im Regelungskomplex der §§ 1901a ff. BGB. Betreuer und Arzt verantworten die Entscheidung über den mutmaßlichen Willen und damit über den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen im Ergebnis gemeinsam und eigenverantwortlich.399 Besteht aber Uneinigkeit über den zu mutmaßenden Willen, wird die Entscheidungskompetenz auf das Betreuungsgericht als eine Art höhere Instanz verlagert. Aufgrund der spezifischen Vorgaben der zu untersuchenden zivilrechtlichen Vorschriften ergeben sich allerdings Besonderheiten für das Kriterium der Entdurch das Betreuungsgericht eine Entscheidung durch eine interdisziplinär besetzte Kommission für schutzeffizienter hält. Krit. zum Einsatz einer Ethikkommission hingegen Spickhoff, NJW 2000, 2297 (2299); ihm zust. Verrel, KritV 2001, 440 (456). 394 Saliger, KritV 1998, 118 (134); vgl. auch Saliger, JuS 1999, 16 (18); Schöch, NStZ 1995, 153 (156). 395 Saliger, KritV 1998, 118 (149); vgl. auch Hufen, NJW 2001, 849. 396 Simon, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 59 (98 f.). 397 Bundesärztekammer, DÄBl. 2006, A 1703 (A 1705 f.). 398 Bundesärztekammer, DÄBl. 2006, A 1703 (A 1704 f.). 399 Krit. Arzt, in: GS Wolf, S. 609 (614): Verfolgen einer „kuriosen Idee“.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

scheidungsmacht. Die primäre Entscheidungsmacht obliegt nach dem Willen des Gesetzgebers dem Betreuer als gesetzlichen Vertreter des Betreuten, welcher letztendlich die Entscheidung für oder gegen einen Behandlungsabbruch im Außenverhältnis gegenüber dem Arzt abgibt. Der Arzt muss mit dieser Betreuerentscheidung allerdings konform gehen. Durch sein prinzipielles Vetorecht kann er nicht nur seine eigene Entscheidungskompetenz, sondern auch die des Betreuungsgerichts ins Spiel bringen. Die Entscheidungsmacht des Betreuers ist allerdings nicht mit einer  – freier Verfügungsgewalt unterliegenden  – Befugnis gleichzusetzen,400 sondern sie hat sich strikt am mutmaßlichen Willen des Betreuten auszurichten. Gleiches gilt für das Betreuungsgericht. Die Äußerung, der „Vormundschaftsrichter […] [schwinge sich zum] Herrn über Leben und Tod [auf]“401, impliziert, dass der Richter frei über das Leben des Patienten und seinen verbleibenden Restwert urteilen könne.402 Dies erweist sich als Fehlschluss. Festgestellt wird nach § 1904 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 BGB der mutmaßliche Patientenwille.403 Vergleiche mit dem Euthanasie-Programm der NS-Zeit404 gehen daher grundlegend fehl.405 Dass die Entscheidung im praktischen Ergebnis zum (Nicht-)Abbruch der medizinischen Behandlung führen wird, ist aus rechtlicher Sicht davon getrennt zu betrachten. Entscheidungsgegenstand ist die Deutung des mutmaßlichen Willens des Patienten, wie sie auch Arzt und Betreuer vorzunehmen haben,406 keine selbstherrliche Richterentscheidung, die darüber hinaus auch keinen Vollzugszwang auslöst.407 Die prozedurale Ent 400

Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 280 f.; so aber wohl Seitz, ZRP 1998, 417 (420): „Fremdentscheidung“. Zu den Ansichten, die eine Vertretbarkeit der Sterbehilfeentscheidung gänzlich ablehnen vgl. die Nachw. in 2. Kap., Fn. 353. 401 So allerdings Deichmann, MDR 1995, 983 (984); zust. Bernsmann, ZRP 1996, 87 (92); Dodegge, NJW 1997, 2425 (2432); Nickel, MedR 1998, 520 (521). 402 Verrel, KritV 2001, 440 (452). 403 Vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (662), der von einer Auswahl der jeweils unterschiedlichen Interpretation des mutmaßlichen Willens durch das Gericht ausgeht; Deichmann, MDR 1995, 983 (985) weist hingegen auf bestehende Strafbarkeitsrisiken des Vormundschaftsrichters hin, welcher sich „ohne weiteres in die Kette von Arzt und Betreuer einreihen lass[e], die […] eines Tötungsdelikts verdächtig sein können“. Im Vergleich dieser beiden Aussagen lässt sich jeweils ein völlig anderes Bild von der Entscheidungsmacht des Betreuungsrichters herausarbeiten. 404 In diese Richtung AG Hanau, BtPrax 1997, 82 (83); vgl. auch Nickel, MedR 1998, 520 (522). Zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ vgl. Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (120). 405 OLG Frankfurt a. M., NJW 1998, 2747 (2748) mit Verweis auf die Intention der Genehmigungsbedürftigkeit, den bestmöglichen Schutz der Autonomie des Patienten zu gewährleisten; vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (133 f.); vgl. Saliger, JuS 1999, 16 (19); vgl. Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 281. 406 Etwas provokativ insoweit Verrel, KritV 2001, 440 (456): „Will man nicht in das Kellergeschoß zu den Angehörigen und Ärzten hinabsteigen, die täglich (anrüchige?) Behandlungsentscheidungen treffen müssen […]?“ 407 Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 351 f.; Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (43).

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scheidungsmacht liegt beim Betreuer, dem die Ersteinschätzung des mutmaßlichen Willens des Betreuten obliegt. Das Gericht übt sodann eine Entscheidungsmacht dahingehend aus, dass es überprüft, welcher Deutungsvariante des mutmaßlichen Willens sich letztendlich im vorliegenden Konfliktfall anzuschließen ist. In diesem Sinne ist es daher vorzugswürdig, nicht von einer „Entscheidungs- sondern […] [von einer] Ermittlungskompetenz“ zu sprechen.408 5. Wissensakkumulation a) Klassischer Grundrechtsschutz durch Verfahren Das Element einer umfassenden Wissensschöpfung durch Verfahren zeigt sich in dem mit den §§ 1901a ff. BGB intendierten „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ geradezu klassisch. Bevor eine irreversible Entscheidung über Leben und Tod des Patienten umgesetzt wird, schaffen die Diskursregeln einen Austausch an Informationen, um nach dem bestmöglichen Wissensstand entscheiden zu können. Sowohl dem Lebensrecht als auch dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten soll effizient Rechnung im Wege eines Verfahrens getragen werden.409 Dass die Entscheidung mit der materiellen Rechtslage tatsächlich übereinstimmt, dies kann das Verfahren zwar nicht garantieren,410 es kann aber zumindest die rationale Ergebnisqualität erhöhen. An die Feststellung des mutmaßlichen Willens sind nach der Rechtsprechung besonders hohe Anforderungen zu stellen.411 Das Leck des Nichtwissens im Bereich eines Behandlungsabbruchs bei Einwilligungsunfähigen wird durch eine Ansammlung von Informationen bestmöglich zu füllen gesucht. Der „Einbezug der unmittelbar Handelnden […] sowie einer ‚internen Öffentlichkeit‘ […]“412 soll damit alle kommunikativen Ermittlungsmöglichkeiten ausschöpfen „und ‚einsame‘ Entscheidungen verhindern“413. Insbesondere kann das gerichtliche Verfahren im

408

Hufen, NJW 2001, 849 (855) [Hervorhebung auch im Original]. So BGHZ 154, 205 (227) m. w. N. im Hinblick auf die analoge Anwendung des § 1904 BGB a. F. 410 Vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (669), dessen Aussage sich allerdings auf die §§ 218 ff. StGB bezieht. 411 BGHSt 40, 257 (263); 55, 191 (205 Rdnr. 38); vgl. auch Albrecht, DNotZ 2011, 40 (41); Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 67; Nickel, MedR 1998, 520 (522); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 545; krit. Knauer / Brose, in: Spickhoff, Medizinrecht, § 216 StGB Rdnr. 22; auf die durch den strengen Beweismaßstab entstehenden Strafbarkeitsrisiken der Beteiligten weist auch Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (25) hin. Indes besteht Streit, ob an den mutmaßlichen Willen umso höhere Anforderungen zu stellen sind, je entfernter die Todesnähe des Patienten ist. Dies bej. BGHSt 40, 257 (260); LG Chemnitz, BeckRS 2014, 19023; Lindner, MedR 2015, 483 (484); vern. BGHZ 202, 226 (241 Rdnr. 37 f.). 412 Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 224. 413 Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (36). 409

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Konfliktfall die Motivation des Betreuers, der Angehörigen und des Arztes in Bezug auf den Behandlungsabbruch erforschen, um einem „erbenbestimmten Behandlungsabbruch“414 vorzubeugen. b) Grundrechtliche Kehrseite des intendierten Verfahrensschutzes Der durch das Verfahren der Wissensakkumulation bezweckte Grundrechtsschutz darf allerdings nicht zu einseitig respektive zu positiv betrachtet werden. Er muss auch in seinem grundrechtsbeschneidenden Lichte gesehen werden.415 Das betreuungsrechtliche Verfahren beansprucht durchaus seine Zeit, in welcher womöglich Zustände aufrechterhalten werden, die dem Willen des Patienten nicht entsprechen. Aufgrund dieser Umstände weist insbesondere Arzt darauf hin, dass das betreuungsrechtliche Verfahren (wenn überhaupt) nicht nur grundrechtsschützende Wirkung, sondern auch mit einem „Rechtsverlust durch Verfahren“416 verbunden sei. Der Unterschied bei der Umsetzung einer Patientenverfügung oder der Ermittlung des mutmaßlichen Willens durch die Beteiligten sei im Vergleich zu anderen Prozeduralisierungen im Medizinstrafrecht darin zu sehen, dass es um ein gebotenes Unterlassen, nicht um eine gebotene Handlung gehe. Bei letzterer bestehe u. U. mehr Zeit. Ein paternalistisches Prüfverfahren zwinge den Patienten aber zu einem Aufrechterhalten des willenswidrigen Zustandes und greife dadurch vehement und irreversibel in die Rechtsgüter des Patienten ein.417 Der Preis für eine „prozedurale Optimierung des Rechtsgüterschutzes“ bestehe in einem fatalen materiellrechtlichen Verlust.418 Arzt interpretiert daher den verfahrensrechtlich angesinnten Rechtsgüterschutz insgesamt als eine Bevormundung, die in das Gegenteil eines effektiven Rechtsgüterschutzes umschlage. Zur Rechtfertigung des Zeitbedarfs kann darauf abgestellt werden, dass der mutmaßliche Patientenwille dahingehend zu interpretieren ist, dass kein vorschneller Behandlungsabbruch erfolgen, sondern das Verfahren ordnungsgemäß in der Weise durchgeführt werden soll, dass es eine sorgfältige Ermittlung des Patientenwillens 414

So schon zur alten Rechtslage Knieper, NJW 1998, 2720 (2721); ähnlich Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 329, die die Einschränkung der privaten Entscheidungsbefugnis als den „Preis der Objektivität“ ansieht. 415 Vgl. LG Kleve, NJW 2010, 2666 (2667 f.), wonach ein Gerichtsverfahren bei einem Konsens zwischen Betreuer und Arzt nicht durchgeführt werden dürfe, weil die Durchsetzung des Patientenwillens erheblich verzögert und in das Selbstbestimmungsrecht des Patienten eingegriffen werde; ebenso Hufen, ZRP 2003, 248 (250); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 286 f.; Holzhauer, FamRZ 2003, 991 sieht in der Gerichtsgenehmigung einen aufgedrängten Schutz sowohl für den Patienten als auch für den Betreuer. 416 So der Titel des Beitrags von Arzt, in: GS Wolf, S. 609 ff.; ebenso Sternberg-Lieben, in: FS Eser, S. 1185 (1200) m. w. N. in Fn. 75. 417 Arzt, in: GS Wolf, S. 609 (616 ff.). 418 Arzt, in: GS Wolf, S. 609.

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garantiert.419 Diese Argumentation kann folglich nicht herangezogen werden, wenn der Patientenwille aufgrund einer einschlägigen, wirksamen Patientenverfügung klar erkennbar und auch kein Widerruf derselben zu verzeichnen ist. Unter diesen Umständen ist eine Aufrechterhaltung des dem Willen entgegenstehenden Zustands durch Verfahren nicht gerechtfertigt.420 Nach hier vertretener Ansicht421 spielt das betreuungsrechtliche Verfahren dann aber ohnehin keine Rolle, weshalb wiederum die Brisanz auf der Ermittlung des mutmaßlichen Willens liegt. Dieser ist nach verständiger Würdigung darin zu sehen, dass der Patient mit der Durchführung des Verfahrens einverstanden ist, welches seinem Schutz dienen soll. Hierfür spricht evident, dass das Gerichtsverfahren ohnehin nur in Konfliktfällen durchzuführen ist, in denen, sollte es sich nicht um einen „Scheindissens“ handeln, erhebliche zusätzliche Sicherungsmaßnahmen angebracht sind. In der Regelung des § 1904 Abs. 2, 4 BGB zeigt sich wiederum die Kompromissartigkeit der gesetzgeberischen Intention, die der Willensermittlung durch Betreuer und Arzt nach dem Vier-Augen-Prinzip im Grundsatz Vertrauen schenkt, bei Uneinigkeit aber auf den länger andauernden Gerichtsweg verweist. Der Ausgleich der grundrechtlichen Positionen des Patienten, in welche durch Kontrolle einerseits und schnellstmögliche Willensdurchsetzung andererseits womöglich eingegriffen wird, wird durch die Konfliktlösung des § 1904 BGB adäquat gelöst. „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ und „Rechtsverlust durch Verfahren“ werden verfassungskonform miteinander in Ausgleich gebracht. Durch die Rechtsprechung wird diese gesetzliche Balance allerdings derzeit in gefährlicher Weise gestört. Nach ihr soll es im Ergebnis doch von dem rechtlichen Absicherungsbedürfnis der Beteiligten abhängen, ob das Betreuungsgericht eingeschaltet wird oder nicht. Wegen der erhöhten Legitimationswirkung des Gerichtsurteils seien die Anforderungen an die Eröffnung der gerichtlichen Prüfungskompetenz nicht zu hoch anzusetzen.422 Trotz Konsens zwischen Arzt und Betreuer sei diesen ein Negativattest auszustellen, das zum Ausdruck bringt, dass eine Gerichtsentscheidung nicht (mehr) erforderlich ist. Das angerufene Gericht müsse aber auch in diesem konsensualen Fall überprüfen können, ob die Betreuerentscheidung zumindest vertretbar erscheint, um Missbrauch vorzubeugen.423 Dieser Entwicklung ist entschieden entgegenzutreten. Besteht ein Konsens, so hat das Gericht nicht mehr zu überprüfen, ob die jeweilige Entscheidung vertret­bar erscheint. Dies würde einen nicht zumutbaren Eingriff in die Rechte des Patienten darstellen, weil das Gericht nahezu in jedem Fall wegen des Absicherungsbedürf 419

Vgl. auch Hufen, ZRP 2003, 248 (251 f.), der primär auf die staatliche Lebensschutzpflicht als Rechtfertigung abstellt; zust. Lipp, FamRZ 2004, 317 (323); Popp, ZStW 118 (2006), 639 (680) rechtfertigt den Zeitbedarf hingegen mit dem Rechtssicherheitsbedürfnis der Beteiligten, denen eine folgenreiche Entscheidung ohne absicherndes Verfahren nicht zumutbar sei. 420 Hufen, ZRP 2003, 248 (251 f.). 421 Vgl. unter 2. Kap. B. III. 1. e). 422 BGHZ 202, 226 (234 Rdnr. 19). 423 So schon LG Kleve, NJW 2010, 2666 (2667); zust. BGHZ 202, 226 (234 Rdnr. 20).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

nisses der Beteiligten angerufen werden könnte und im Zweifel auch angerufen werden würde.424 Dadurch würde das gesetzgeberisch intendierte Regel-Ausnahme-​ Verhältnis bis aufs Äußerste konterkariert. Etwas anderes darf nur gelten, wenn ein Missbrauch tatsächlich im Raum steht und das Betreuungsgericht gerade deshalb angerufen wird. 6. Akzeptanz der Entscheidung Im Rahmen des Strukturmerkmals der „Akzeptanz der Entscheidung“ ist bei den §§ 1901a ff. BGB zu differenzieren. Es wird daher nachfolgend sowohl auf die jeweilige Akzeptanz des Verfahrensergebnisses bei Einhaltung des Verfahrens als auch auf die jeweilige Akzeptanz des Handelns bei Nichteinhaltung des Verfahrens eingegangen. a) Die Akzeptanz bei Einhaltung des Verfahrens Ein weiteres, für den Charakter der §§ 1901a ff. BGB elementare Bedeutung besitzendes Strukturmerkmal stellt das der „Akzeptanz der Entscheidung“ dar. Neben der Möglichkeit, das durch ein formalisiertes Verfahren gefundene Ergebnis womöglich auf gesellschaftlicher Ebene gegenüber anderen Betroffenen besser rechtfertigen zu können,425 wird mit dieser Untersuchung maßgeblich die Frage aufgeworfen, in welchem Grad die Entscheidung der Betroffenen vom Recht akzeptiert wird, wenn sie das prozedurale Verfahren der §§ 1901a ff. BGB eingehalten haben. Eng verwurzelt hiermit ist die den §§ 1901a ff. BGB zugeschriebene Rechtsnatur, um die ein Streit rankt. Grundsätzliche Einigkeit besteht zwar häufig insofern, als dass von der Straflosigkeit der gutgläubigen und nur nach bestem Wissen und Wollen handelnden Beteiligten ausgegangen wird, solange sie das Verfahren der zivilrechtlichen Vorschriften beachtet haben.426 Simultane Begründung der Ansichten ist dabei neben 424

Ebenso Grotkopp, BtPrax 2015, 39 (44). Vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (661). In diesem Zusammenhang zeigen sich Parallelen zur verwaltungsrechtlichen Prozeduralisierung, mit welcher Verfahrenstransparenz für die Betroffenen erreicht werden soll. 426 Für diese nahezu einhellig angenommene Wirkung der Verfahrensbeachtung Albrecht / Albrecht, MittBayNot 2003, 348 (351) noch im Hinblick auf die analoge Anwendung des § 1904 BGB; Albrecht, DNotZ 2011, 40 (41 f.); Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (25); Eidam, GA 2011, 232 (237); Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (102); Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 21; Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 330; Verrel, NStZ 2010, 671 (675); a. A. wohl LG München I, NJW 1999, 1788 (1789), wonach das strafrechtliche Risiko der Fehleinschätzung des mutmaßlichen Willens bei Angehörigen und Ärzten liege; ebenso Strafbarkeitsrisiken trotz Verfahrensbeachtung annehmend Deichmann, MDR 1995, 983 (984); Ihrig, DNotZ 2011, 583 (588); Seitz, 425

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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dem Gedanken der „Einheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“427 das nicht zu leugnende, dringende Bedürfnis nach Rechtssicherheit der Beteiligten. Letzteren müsse in dieser ohnehin emotional aufgeladenen Situation das erhebliche strafrechtliche Risiko einer Fehlbeurteilung des mutmaßlichen Willens abgenommen werden.428 Das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB ermöglicht eine Überprüfung der zukünftigen Rechtsgutsverletzung bzw. der jeweils strafrechtlich relevanten Handlung ex ante. An dieser Fähigkeit mangelt es dem Strafrecht, das Sachverhaltsaufklärung grundsätzlich nur durch ein dem Eingriff nachfolgendes und sodann Rechtsklarheit verschaffendes Strafverfahren betreibt.429 Es bedient sich deshalb dieser zivilrechtlichen Vorschriften, die in ihrem Kernverständnis, und besonders mit Blick auf die Sterbehilfe „freiheitsfreundlicher“ sind:430 Sie sehen in der Materie der Sterbehilfe das Selbstbestimmungsrecht des Patienten als Drehund Angelpunkt an, das Strafrecht hingegen erblickt in jedem Akt der Sterbehilfe eine schmerzende Verkürzung des Lebensschutzes.431 Die Absicherung der Straffreiheit der Sterbehilfehandlung wird damit aus der intradisziplinären Verzahnung des Strafrechts sowohl mit dem Zivilrecht als auch mit dem Öffentlichen Recht gewonnen.432 Aus diesem Zusammenspiel schöpft sich auch die Potenz der einzelnen Rechtsgebiete als solche: Die Revisionsbedürftigkeit des Strafrechts hängt demnach auch mit der Leistungskraft „vorgelagerter bzw. flankierender Regulierungsmechanismen“433 zusammen. Relevant wird die straffreistellend-entlastende Wirkung der Verfahrensvorschrif­ ten allerdings nur, wenn der Wille des Einwilligungsunfähigen materiell verfehlt ZRP 1998, 417 (420): „Es ist und bleibt das strafrechtliche Risiko des Betreuers, wenn er einen Willen des Betroffenen durchsetzt.“ Zuck / Gokel, in: Quaas / Zuck / Clemens u. a., Medizinrecht, § 73 Rdnr. 19 sehen das strafrechtliche Risiko hingegen alleine beim Arzt. Diehn / Rebhan, NJW 2010, 326 (328) differenzieren hingegen zwischen der Strafbarkeit des Arztes und des Betreuers. Nach der gesetzlichen Konzeption konzentriere sich das Strafbarkeitsrisiko schließlich beim Betreuer. Vogel / Hocke, Jura 2005, 709 (714) sprechen nur der Gerichtsentscheidung, nicht aber dem Konsens zwischen Arzt und Patient straffreistellende Wirkung zu. 427 Vgl. Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (102); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 538; Walter, ZIS 2011, 76 (81). 428 So BT-Drs. 16/8442, S. 3; BGHZ 154, 205 (227); Verrel, KritV 2001, 440 (452); den Nutzen einer ex ante-Prüfung im Hinblick auf eine diesbezügliche staatliche Mitwirkung abl. Seitz, ZRP 1998, 417 (421): „Eine Beteiligung des Staates kann nur in Form einer strafrechtlichen Würdigung von bereits Geschehenem akzeptiert werden.“ 429 Ein Verfahren ex post wird in dieser Existenzsituation allerdings weder dem Patienten noch anderen Beteiligten gerecht; vgl. dazu Eicker, Die Prozeduralisierung des Strafrechts, S. 206 f.; Knieper, NJW 1998, 2720. 430 Saliger, KritV 2001, 382 (390) m. w. N.; vgl. auch Krüger / Helm, GesR 2012, 456 (461), die eine „Liberalisierung“ des Strafrechts durch die Einführung der betreuungsrechtlichen Regelungen konstatieren. 431 Saliger, KritV 2001, 382 (390). 432 Vgl. auch Verrel, KritV 2001, 440 (456): „Rechtssicherheit […], die das retrospektive Strafrecht niemals geben kann“; zur elementaren Bedeutung des Öffentlichen Rechts für die Sterbehilfe Hufen, NJW 2001, 849 (849 f.). 433 Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 35.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

wurde. Handeln die Beteiligten materiell in Übereinstimmung mit ihm, entspringt die Straffreiheit nicht der Verfahrensbeachtung als solcher, sondern der materiellen Wirklichkeit.434 Die „prozedurale Rückendeckung“435, die die §§ 1901a ff. BGB verleihen sollen, wird in dogmatischer Hinsicht von der Literatur allerdings häufig nicht beleuchtet.436 Wird sie im strafrechtlichen Sinne näher spezifiziert, lassen sich zwei Lager von Begründungswegen erkennen, wenn die Rechtfertigungslösung des Bundesgerichtshofs zugrunde gelegt wird.437 Auch wenn die Problematik in der Praxis aufgrund erheblich minimierter Beweismöglichkeiten in Bezug auf ein Verfehlen des Willens des Patienten einen geringen Stellenwert einnehmen dürfte, tritt in ihr wiederum markant der divergierende, Verfahren zugestandene Bedeutungsgehalt hervor. Deshalb sollen im Folgenden die unterschiedlichen Begründungsansätze für die Straflosigkeit mittels Verfahrensbeachtung dargestellt werden. aa) Die zivilrechtlichen Verfahrensvorschriften der §§ 1901a ff. BGB als Rechtfertigungsgrund Die Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB werden bei ihrer gutgläubigen Beachtung von einigen Stimmen in der Literatur als zivilrechtlicher, prozeduraler Rechtfertigungsgrund anerkannt.438 Bemühen sich die Beteiligten um die Einhaltung des Verfahrens, indem sie einen Behandlungsabbruch nur nach gegenseitigem Kon 434

Popp, ZStW 118 (2006), 639 (678). Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 8b. 436 Es werden insbesondere weite Formulierungen eingesetzt, um eine dogmatische Zuordnung zu umschiffen, vgl. Gaede, NJW 2010, 2925 (2927 f.): „Kein Fall für das Strafrecht“ oder „[das Verfahren führt zu] strafrechtlich […] belastbaren Ergebnissen“. 437 Verortet man den willensgemäßen „Behandlungsabbruch“ nicht auf Rechtfertigungsebene, entfalten die §§ 1901a ff. BGB ihre straffreistellende Wirkung auf Tatbestandsebene, vgl. Reus, JZ 2010, 80 (83). 438 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 199 f.; nicht abgeneigt auch Sternberg-Lieben, in: FS Roxin, S. 537 (552); zur Rechtslage vor Einführung der §§ 1901a ff. BGB vgl. auch Saliger, KritV 1998, 118 (139 f.), der aus dem Einhalten des betreuungsrechtlichen Prozederes, insbesondere der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, einen betreuungsrechtlichen Rechtfertigungsgrund zieht; ähnlich Popp, ZStW 118 (2006), 639 (670 ff.), der in der Einhaltung des Prozederes allerdings einen „Fall prozeduralisierter mutmaßlicher Einwilligung im Sinne des Strafrechts“ (Hervorhebung nicht im Original) als Rechtfertigungsgrund erblickt, Popp, ZStW 118 (2006), 639 (678); einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung im Erst-Recht-Schluss ebenfalls Rechtfertigungswirkung zusprechend Vogel / Hocke, Jura 2005, 709 (712); die Prozedur der §§ 1901a ff. BGB alleine als Rechtfertigungsgrund ablehnend Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-)Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 166 ff.; Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 53a; Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 200 f.; Ihrig, DNotZ 2011, 583 (588); Joerden, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 275 (291); Lipp, in: Laufs / Katzenmeier / Lipp, Arztrecht, VI Rdnr.  139; Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 371 f.; noch zur alten Rechtslage Deichmann, MDR 1995, 983 (984); zumindest zweifelnd auch Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 330. 435

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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sens zwischen Betreuer und Arzt vornehmen bzw. bei einem Dissens die Entscheidung des Betreuungsgerichts herbeiführen, würden sie dadurch gerechtfertigt handeln. Strafrechtliche Rechtfertigungsgründe seien nicht abschließend normiert und aus diesem Grunde seien die geschaffenen Regelungen der §§ 1901a ff. BGB als Rechtfertigungsgrund anzusehen, welcher seine spezifische Rationalität, und damit seine Existenzberechtigung aus der Beachtung des Verfahrens schöpfe.439 Mit dieser werde eine bestmögliche Optimierung der Richtigkeitsgewähr der Entscheidung angestrebt. Popp hält eine nachträgliche Überprüfung der Entscheidung zwar prinzipiell für möglich. Sollten sich die Mutmaßungen ex post allerdings als falsch herausstellen, hätten die Beteiligten zwar „nicht immer ‚richtig‘, aber stets rechtmäßig“ gehandelt.440 Dem Verfahrensergebnis dürfe ein spezifischer Eigenwert („Eigenwert der ersten Stufe“) nicht abgesprochen werden; er beanspruche eigene Rechtfertigungskraft, die substanziell aus prozeduralen Absicherungen gewonnen werde.441 Die in diesem Zusammenhang vorliegende klassische „Rechtfertigung durch Verfahren“442 bzw. prozedurale Rechtfertigung stellt für die Verfahrensbeteiligten bildlich gesprochen ein gleichwertiges „Abfangnetz“ auf Rechtswidrigkeitsebene bereit, welches sie auffängt, wenn sie durch das Netz der ex post festgestellten mutmaßlichen Einwilligung des Patienten, also durch die materiell rechtliche Rechtfertigungsebene gefallen sind. Die Auffassung der prozeduralen Rechtfertigungslösung stellt in diesem Sinne primär auf die am mutmaßlichen Willen des Patienten ausgerichtete Einwilligung durch den Vertreter ab. Trägt diese die Verfahrenselemente der §§ 1901a ff. BGB in sich, wird der Behandlungsabbruch unabhängig von der materiellen Wirklichkeit, und damit unabhängig von einem ex post festgestellten Willen gerechtfertigt. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sie die materiell festzustellende Einwilligung des Patienten ersetzen muss. Sie steht zumindest gleichberechtigt neben ihr. Eine besondere Rolle könnte insofern auch die Rechtsnatur der Genehmigung der Einwilligungsverweigerung seitens des Betreuungsgerichts einnehmen. Spricht man ihr Außenwirkung zu,443 zeigt sich eine Parallele zur „Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts“444. Vertritt man die Rechtfertigungswirkung also unabhängig von der materiellen Wirklichkeit, ist fraglich, ob diese Wirkung nur durch die Genehmigung des Betreuungsgerichts oder auch durch einen Konsensfall eintreten kann. Bestritten wird dies wohl zwangsläufig von einer Ansicht, die der Verant 439

Vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (670). Popp, ZStW 118 (2006), 639 (672). 441 Vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (666, 674). 442 Auf diese nehmen schon Amelung / Brauer, JR 1985, 474 Bezug. 443 So Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 327. Gleichwohl spricht er ihr keine legalisierende Wirkung im Sinne einer „Verwaltungsakzessorietät des Strafrechts“ zu, Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 370. 444 Vgl. dazu 3. Kap., Fn. 201. 440

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

wortungsgesellschaft aus Arzt und Betreuer nahelegt, einen „künstlichen Dissens“ zu produzieren, um eine vor Strafe schützende Sicherheit zu erlangen.445 Diese Auffassung schreibt der Gerichtsgenehmigung damit eine höhere Legitimationswirkung zu als dem Konsens der Beteiligten. Sie widerspricht jedoch der Intention des Gesetzgebers. Er hat bewusst das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB konzipiert. Befürwortet man im Grundsatz den Gedanken der prozeduralen Rechtfertigung durch Verfahren im Zusammenhang mit dem Abbruch einer lebenserhaltenden Behandlung, so ist davon auszugehen, dass die Rechtfertigungswirkung auch bei der Willensermittlung auf erster Stufe zwischen Betreuer und Arzt eintritt. Im Vergleich zur mutmaßlichen Einwilligung, die eine Rechtfertigung des vertretbaren ex ante-Handelns bewirkt, sind die Anforderungen an die Willensermittlung in den §§ 1901a ff. BGB niedergelegt und damit strukturierter. Daraus könnte geschlossen werden, dass die strengere Ermittlungsvorgabe des Betreuungsrechts im Erst-Recht-Schluss eine Rechtfertigung nach sich ziehen müsste. Gegen die Einstufung der §§ 1901a ff. BGB als prozeduraler Rechtfertigungsgrund spricht hingegen die Tatsache, dass eine Nothilfehandlung eines Außenstehenden zugunsten des Patienten mangels Vorliegens eines rechtswidrigen Angriffs zwingend ausscheiden müsste. Erklärt man den Behandlungsabbruch allein aufgrund der Befolgung des betreuungsrechtlichen Prozederes für gerechtfertigt, kann ein Außenstehender, der den Willen des Patienten kennt, keine Nothilfe dagegen leisten. Dies verdeutlicht das Ausmaß der rechtlichen Wirkung einer Rechtfertigung, der man sich bei Erklärung eines Verhaltens als gerechtfertigt stets bewusst sein muss. Als eine Art Unterfall der zivilrechtlich-prozeduralen Rechtfertigung, die alleine auf die Verfahrensbeachtung abstellt, wird teils eine „gemischt-materiell-prozedurale“ Rechtfertigungslösung vertreten, nach welcher sich der Rechtfertigungsgrund nicht alleine aus der Einhaltung des Verfahrens ergebe, sondern daneben zwingend auch das tatsächliche Vorliegen des mutmaßlichen Willens des Patienten erfordere.446 Diese Rechtfertigungskonstruktion enthält das Verfahren als zusätzliche Voraussetzung neben dem mutmaßlichen Patientenwillen, wie er sich (auch) ex post darstellen würde. Diese gemischte Konstruktion weist dem Verfahren daher eine weitaus geringere Bedeutung zu als die zivilrechtlich-prozedurale Rechtfertigungslösung. Sie stellt demnach eine sehr strenge Rechtfertigungshürde auf. 445

So Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 371 ff. So Kolb, Neue Entwicklungen bei der Sterbehilfe, S. 80 ff., der in der Einhaltung der §§ 1901a ff. BGB einen einheitlichen, außerstrafrechtlichen Rechtfertigungsgrund erblickt; ebenso wohl Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 527 f. zur alten Rechtslage, der in der vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung zwar einen zivilrechtlichen Rechtfertigungsgrund sieht, der auch im Strafrecht Anerkennung finde, der aber gleichwohl nicht vor einer ex post-Betrachtung schütze, weil er auch das Vorliegen des mutmaßlichen Willens erfordere, Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 537. 446

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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bb) Die Berücksichtigung der Einhaltung des Verfahrens auf Fahrlässigkeitsebene Stuft man die Verfahrensregelungen nicht als Rechtfertigungsgrund auf Ebene der Rechtswidrigkeit ein, erlangen sie – wenn überhaupt – „nur“ auf subjektiver Ebene Bedeutung. Sollte sich ex post, beispielsweise aufgrund einer nachträglich aufgetauchten Verfügung des Patienten, herausstellen, dass die Beteiligten den mutmaßlichen Willen des Patienten trotz der gewalteten Sorgfalt doch verfehlt haben, obgleich sie das Verfahren zur Willensermittlung beachtet haben, könnte es sich damit um einen strafrechtlich relevanten Irrtum handeln. Verortet man mit dem Bundesgerichtshof das Problem des straflosen Behandlungsabbruchs auf Rechtswidrigkeitsebene, ist das Vorliegen eines Erlaubnistatbestandsirrtums in Betracht zu ziehen.447 Gehen die Beteiligten von einem auf Behandlungsbegrenzung gerichteten mutmaßlichen Willen aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte – und damit von einer sie rechtfertigenden Wirkung – nur irrtümlich aus, stellen sie sich fälschlicherweise Tatsachen vor, die, wenn sie der Wirklichkeit entsprächen, rechtfertigende Wirkung entfalten würden.448 Der in seinen Rechtsfolgen höchst umstrittene Erlaubnistatbestandsirrtum lässt nach hier vertretener Ansicht die Vorsatzschuld mittels einer Heranziehung der Rechtsfolgen des § 16 Abs. 1 S. 1 StGB entfallen (sog. rechtsfolgenverweisende, eingeschränkte Schuldtheorie).449 Der nach § 16 Abs. 1 S. 2 StGB sodann relevant werdende Fahrlässigkeitsvorwurf soll allerdings aufgrund der beachteten Verfahrensschritte entfallen.450 Die Verfahrensvorschriften werden in diesem Sinne nur als Mindestanforderung zur Ermittlung des Willens, und damit als gesetzlich vorgegebener Maßstab eines zu fällenden Fahrlässigkeitsurteils gebraucht. Die subjektiv-situative Einschätzung des Willens wird nicht – wie bei der prozeduralen Rechtfertigungslösung – in einem übertragenen Sinne zur objektiven Rechtswirklichkeit geformt, sondern sie bleibt die subjektive ex ante-Einschätzung der Privatperson bzw. des Gerichts.

447

So Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 543 f. Vgl. auch BGHSt 35, 246 (250 f.); a. A. Schöch, NStZ 1995, 153 (156), der einen Verbotsirrtum annimmt. 449 Zu den unterschiedlichen Ansichten bezüglich der Rechtsfolgen eines Erlaubnistatbestandsirrtums vgl. Kühl, in: Lackner / Kühl, StGB, § 17 Rdnr. 9 ff.; Rosenau, in: S / S/W-StGB, Vor §§ 32 ff. Rdnr. 17 ff.; Wessels / Beulke / Satzger, Strafrecht AT, Rdnr. 742 ff. 450 Lipp, in: Laufs / Katzenmeier / Lipp, Arztrecht, VI Rdnr. 139 m. w. N.; in diese Richtung wohl auch Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (548); vgl. zur alten Rechtslage insofern auch Seitz, ZRP 1998, 417 (420); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 542 ff.: „Bejahung mittelbarer Bedeutung“; Verrel, KritV 2001, 440 (451): „Denn wenn sich sogar ein Vormundschaftsgericht irrte, kann dem Betreuer schwerlich der Vorwurf eines vermeidbaren Einschätzungsfehlers gemacht werden“; nach Irrtümern der Beteiligten diff. Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 357 ff. Auf die grundlegende Bedeutung prozeduraler Vorschriften für die strafrechtliche Fahrlässigkeitsdogmatik weist auch Krüger, in: LK-StGB, § 222 Rdnr. 33 hin; vgl. dazu auch Krüger, in: Rotsch, Criminal Compliance, § 20 Rdnr. 33. 448

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Sie entspricht ex post schlicht nicht der Realität und kann damit (nur) aufgrund des Vorliegens eines Irrtums Straffreiheit verschaffen. b) Die Akzeptanz bei Nichteinhaltung des Verfahrens Auf der Kehrseite stellt sich die ebenfalls bedeutsame Frage nach der strafrechtlichen Akzeptanz der Entscheidung bzw. der strafrechtlichen Handlung bei Nichteinhaltung des Verfahrens. Sowohl eine prozedurale als auch eine gemischtprozedurale Rechtfertigung scheiden in dieser Konstellation zwingend aus. Besondere Relevanz im Zusammenhang mit den §§ 1901a ff. BGB erlangen somit Fälle, in denen die Beteiligten „nur“ materielles Unrecht verwirklicht haben, indem sie zwar die Verfahrensvorgaben eingehalten, und dennoch den Patientenwillen verfehlt haben sowie Fallkonstellationen eines „nur“ formell verwirklichten Unrechts, bei welchem die Beteiligten unter Missachtung der Verfahrensvorgaben den Willen des Patienten zutreffend umgesetzt haben.451 Die dogmatische Ausgestaltung des bestehenden Konkurrenzverhältnisses hängt maßgeblich von der dogmatischen Einordnung des Behandlungsabbruchs ab. Folgt man der „Rechtfertigungslösung des Bundesgerichtshofs“ und erkennt eine prozedurale Rechtfertigung an, stellt sich die Frage als solche einer Konkurrenz zwischen Rechtfertigung durch mutmaßliche Einwilligung des Patienten und prozedural gewonnener Rechtfertigung (unabhängig davon, ob letztere spezifisch dem zivilrechtlichen oder dem strafrechtlichen Terrain zugeordnet wird). Vertritt man hingegen die „Tatbestandslösung“ und sieht im willensgemäßen Abbruch der Behandlung schon keine rechtfertigungsbedürftige Tötungshandlung, stellt sich die Konkurrenzfrage im Ausgangspunkt ebenso – nur in einem abgewandelten dogmatischen Gewande. Es handelt sich dann um eine Konkurrenz in dem Sinne, ob nur der verfahrensgetreu festgestellte, gemutmaßte Wille den objektiven Tatbestand der Tötungsdelikte auszuschließen vermag oder ob auch ein  – vom Verfahren losgelöst gemutmaßter – Patientenwillen die strafrechtliche Wirkungskraft eines objektiven Tatbestandsausschlusses entfalten kann. Bereits an dieser Ausformulierung des prozedural dogmatischen Gedankengangs zeichnet sich die Tendenz einer gesteigerten Empfänglichkeit der Rechtfertigungslösung für die Integration prozeduraler Strukturen ab, auf die nachfolgend noch eingegangen wird. In beiden Fällen steht jedoch die Frage nach der ausschließenden Verfahrensspezialität und damit nach den strafrechtlichen Folgen eines Verstoßes gegen die verfahrensrechtlichen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB im Mittelpunkt. Halten die Verfahrensbeteiligten das Prozedere nach bestem Willen ein, sind sie, wie oben aufgezeigt, grundsätzlich straffrei. Damit lautet die kurze, aber prägnante 451 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 100.

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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Kernfrage der strafrechtlichen Relevanz der betreuungsrechtlichen Vorschriften: „[…] ‚Nur‘ – oder ‚jedenfalls dann‘?“452 Zur Beantwortung dieser Frage sollen zunächst die maßgeblichen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs dargestellt, und sodann einer argumentativen Überprüfung unterzogen werden. aa) Die Judikate des Bundesgerichtshofs zur Exklusivität der Verfahrensbeachtung Für die Beantwortung der grundlegenden Frage, inwieweit die zivilrechtlichen Verfahrensregelungen sich auch auf das Strafrecht auswirken und dieses im Bereich der Sterbehilfe zu einem akzessorisch-prozeduralen Strafrecht transformieren, stehen zunächst zwei direkt aufeinander folgende Entscheidungen des zweiten Strafsenats aus dem Jahre 2010 im Mittelpunkt der Betrachtungen. In welchem Maße der Bundesgerichtshof im Wege seiner Rechtsfortbildung den §§ 1901a ff. BGB grundsätzliche strafrechtliche Relevanz zuspricht, erläutert er im „Fall Putz“ eher zurückhaltend und auch teils widersprüchlich, indem er verlautbaren lässt, dass die §§ 1901a ff. BGB zwar Wirkung für das Strafrecht entfalten würden, indem sie bei der Festlegung der Grenze einer möglichen Rechtfertigung von lebensbeendenden Handlungen Berücksichtigung finden müssten.453 Die Frage einer strafrechtlichen Rechtfertigung von kausal tödlichen Handlungen könne sich aber „nicht nur als zivilrechtsakzessorisches Problem“ darstellen, sondern der Bereich strafbarer Tötung auf Verlangen sei autonom nach materiell strafrechtlichen Gesichtspunkten abzugrenzen.454 Es handele sich um eine „strafrechtsspezifische Frage“.455 Diesen Aussagen lässt sich keine Antwort auf die Frage entnehmen, ob die Nichteinhaltung des betreuungsrechtlichen Verfahrens eine Rechtfertigungsmöglichkeit für den Handelnden zwingend ausschließt.456 Sie offenbaren allerdings eine gewisse Unschlüssigkeit des Bundesgerichtshofs, der einerseits strukturierende Verfahrensnormen in das Strafrecht integrieren möchte, um mehr Rechtssicherheit zu schaffen, andererseits aber um die Autonomie des Strafrechts und seine Definitionsgewalt bangt. In einem Folgeurteil (sog. Kölner Fall457) findet der Bundesgerichtshof dann allerdings deutlichere Worte. In dem zugrundeliegenden Fall schaltete der Schwiegersohn der Patientin eigenmächtig die lebenserhaltenden Geräte ab und setzte sich dadurch über den in der Patientenverfügung zum Ausdruck kommenden Willen 452

Popp, ZStW 118 (2006), 639 (679). BGHSt 55, 191 (199 f. Rdnr. 25). 454 BGHSt 55, 191 (200 Rdnr. 25). 455 BGHSt 55, 191 (200 Rdnr. 25). 456 Im Erg. ebenso Albrecht, DNotZ 2011, 40 (42). 457 BGH, NJW 2011, 161 ff. 453

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

hinweg. Der Bundesgerichtshof urteilte hier, dass bei der Beurteilung der Zulässigkeit eines Behandlungsabbruchs nach den Grundsätzen des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 25.06.2010 die §§ 1901a ff. BGB zu beachten seien. Sie böten ein stringentes Verfahren der Willensermittlung, das Missbrauch vorbeuge und gerade in Situationen einer vorschnellen Lebensbeendigungsabsicht seine Relevanz beanspruche.458 Diesem obiter dictum459 lässt sich eine strafbarkeitsmitbestimmende Wirkung der §§ 1901a ff. BGB schon klarer entnehmen. Eine diesbezügliche Begründung oder weitere Ausführungen sind dem Urteil allerdings ebenfalls nicht zu entnehmen. Im Folgenden sollen deshalb die Gründe für und gegen eine strafrechtliche, respektive strafbarkeitsbegründende Bedeutung der §§ 1901a ff. BGB dargelegt werden. bb) Gründe für eine strafrechtliche Akzessorietät zu den §§ 1901a ff. BGB (1) Funktionsleerlauf des intendierten Grundrechtsschutzes durch Verfahren Die Funktion der §§ 1901a ff. BGB erschöpft sich, wie dargelegt, gerade nicht in der Handlungssicherheit für die Beteiligten. Vielmehr ist mit dem Verfahren primär die klassische Funktion eines „Grundrechtsschutzes durch Verfahren“ bezweckt, welcher in gleichem Maße sowohl das Grundrecht auf Leben als auch das Grundrecht auf Selbstbestimmung des Patienten durch eine schrittweise, abgestufte Willensermittlungsprozedur absichern soll.460 Dieses – von größter Bedeutung, sowie irreversibel gefährdete – „Rechtsgutsubstrat“461 verlange unweigerlich nach einem strafrechtlichen Schutz, der bei sanktionsloser Verfahrensignoranz hinsichtlich der §§ 1901a ff. BGB nicht gewährleistet sei.462 Die Patientenautono 458

BGH, NJW 2011, 161 (162). In diesem Fall spielte die Nichtbeachtung der §§ 1901a ff. BGB an sich keine bedeutende Rolle, weil der Schwiegersohn des Opfers schon nicht den mutmaßlichen Willen der Patientin durchsetzen, sondern seiner Familie vielmehr die Pflegekosten ersparen wollte, vgl. BGH, NJW 2011, 161 (162). 460 BT-Drs. 16/8442, S. 9; vgl. auch OLG Karlsruhe / Freiburg, NJW 2002, 685 (686) m. w. N.; Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105); Olzen / Metzmacher, JR 2011, 318 (319); Saliger, in: Joerden / Hilgendorf / T hiele, Menschenwürde und Medizin, S. 265 (282); Stoffers, Behandlungsabbruch zwischen Betreuungsrecht und Strafrecht, S. 284 bezieht auch den Schutz der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG in das Verfahren mit ein. 461 Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (563). 462 Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 352 f.; Ihrig, DNotZ 2011, 583 (586); zur alten Rechtslage so auch Weißauer / Opderbecke, MedR 1995, 456 (459 f.); vgl. im Übrigen auch EGMR, Urt. vom 05.06.2015, Nr. 46043/14 (Lambert u. a. v. Frankreich), NJW 2015, 2715 (2723 Rdnr. 168). Danach sei die staatliche Schutzpflicht gegenüber dem menschlichen Leben gemäß Art. 2 EMRK jedenfalls dann nicht verletzt, wenn ein Behandlungsabbruch durchgeführt wird, sobald der mutmaßliche Wille des Patienten sorgfältig in einem Verfahren ermittelt wurde. Darin zeigt sich wiederum die erhebliche Bedeutung des 459

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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mie habe mit den §§ 1901a ff. BGB über das Betreuungsrecht hinaus wesentliches Gewicht erlangt, indem sie in die Beurteilung strafrechtlich relevanten Verhaltens integriert worden sei.463 Würde man die prozedurale Einhaltung nicht als zwingende Rechtfertigungsvoraussetzung betrachten, sei das Verfahren „rechtlich wie generalpräventiv ein stumpfes Schwert“464 und der signifikante Schutzmechanismus straffrei ausschaltbar. Dies scheine aber mit dem Gedanken der grundrechtlichen, staatlichen Schutzpflicht und der gesteigerten Missbrauchsgefahr nur sehr schwer vereinbar. Werden an das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Sterbewilligen im Rahmen des § 216 Abs. 1 StGB hohe Anforderungen gestellt, so müsse dies in einem Erst-Recht-Schluss für die Willensermittlung eines Patienten gelten, der selbst äußerungs- bzw. einwilligungsunfähig und auf die Mitwirkung anderer Personen als Sprachrohr angewiesen ist.465 Eine wirksame Absicherung der Grundrechte könne mangels anderer Tatbestände daher nur durch das Strafrecht erreicht werden.466 Sowohl das Leben als auch das Selbstbestimmungsrecht des Patienten würden anderenfalls schutzlos preisgegeben. Die zwingende verfahrensrechtliche Absicherung sei zudem als eine Art Gegenpol zur Fallgruppe der „passiven Sterbehilfe“467 und ihrer mit dem „Putz-Urteil“ verbundenen Ausweitung zu verstehen. Das schon im Wesen umstrittene ­Konstrukt der mutmaßlichen Einwilligung, das so weitreichende Folgen auf nur dürftiger Grundlage rechtfertigen könne,468 fordere unausweichlich die stärkst möglichen Kontrollprozeduren. Indem die „passive Sterbehilfe“ auch durch die Möglichkeit eines aktiven, straflosen Behandlungsabbruchs durch Nicht-Ärzte liberalisiert wurde, fordere das Lebensrecht der Patienten umso dringlicher eine wirksame Absicherung.469 Durch die „Putz-Entscheidung“ sei das Tor zur straflosen, aktiven Sterbehilfe um einen weiteren, deutlichen Spalt geöffnet worden.470 Würden also schon diskussionswürdige, weitläufigere Möglichkeiten für einen straflosen Behandlungsabbruch im Hinblick auf Personen und Begehungsformen eröffnet, liege es nahe, dass im Gegenzug die Willensermittlung in jedem Fall an sorgfälVerfahrensschutzes, den auch der EGMR – gewährt er den Staaten auch bezüglich der konkreten Ausgestaltung gesetzlichen Freiraum – im Kern als die zentrale Institution erachtet. 463 Olzen / Metzmacher, JR 2011, 318 (319); in die gleiche Richtung Gaede, NJW 2010, 2925 (2926). 464 Kuhlmann, Einwilligung in die Heilbehandlung alter Menschen, S. 193. 465 Diese Argumentation lässt sich den Ausführungen von Walter, ZIS 2011, 76 (78) entnehmen. 466 Walter, ZIS 2011, 76 (81). 467 So Walter, ZIS 2011, 76 (81). 468 So Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (583); Lindner, MedR 2015, 483; vgl. dazu auch schon die Nachw. in 7. Kap., Fn. 382. 469 Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105); Bartsch, in: FS Achenbach, S. 13 (26) weist allerdings darauf hin, dass die Missbrauchsgefahr sowohl bei einem Tun als auch bei einem Unterlassen gleichermaßen bestehe. 470 Für viele Pawlik, in: FS Wolter, S. 627 (632).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

tig zu beachtende Feststellungskriterien gebunden werde. Es bestehe anderenfalls die Gefahr, dass „selbstberufene Patientenrechtsaktivisten“ den nur vermeintlich festgestellten Willen bei noch bestehendem Auslegungsbedürfnis eigenmächtig durchsetzen würden.471 Dies hätte einen unzumutbaren Eingriff in den Krankenhaus- oder Pflegebetrieb zur Konsequenz.472 Es würde im Wege eines „Faustrechts am Krankenbett“ eine Entscheidung gefällt, die der Stärkere ohne sorgfaltsgemäße Willensprüfung durchsetzen könne.473 Der umständlichere und zeitintensive Weg eines Gerichtsverfahrens müsste nicht einmal mehr im Konfliktfall beschritten werden. Für scharfe Konsequenzen bei einer Verletzung der Verfahrensregeln könnte ebenfalls sprechen, dass die Reichweitenbeschränkung keinen Eingang ins Gesetz gefunden hat und eine zeitlich begrenzte Validität der Patientenverfügung nicht vorgesehen ist, weshalb an die Willensermittlung proportional umso höhere Maßstäbe anzulegen sein könnten. Individuelle Erwartungen, die eine todgeweihte Person mit ihrem Leben noch verbinde, könnten stark von denjenigen abweichen, die sie im gesunden Zustand kundgegeben hat; es könne zu einem zuvor nicht für möglich gehaltenen Erstarken des Lebenswillens kommen.474 Auch wenn der Patient mit dem Abfassen der Verfügung bewusst das Risiko eingegangen sei, dass es zu einer von der Umwelt nicht mehr wahrnehmbaren Willensänderung kommen könne, hätten die §§ 1901a ff. BGB „ein fein austariertes System von checks and balances“475 eingeführt, nach dem es fern liege, auch eine Sterbehilfehandlung straflos zu stellen, die nach dem Betreuungsrecht verboten ist.476 (2) Sanktionsbedürftige Verfahrensnegation Des Weiteren wird die Notwendigkeit der Bestrafung desjenigen, der das Verfahren missachtet, angeführt. Durch das eigenmächtige Hinwegsetzen über das gesetzliche Verfahren verwirkliche der Agierende kein geringes Handlungsunrecht, selbst wenn ein Erfolgsunrecht durch das Abschalten der Geräte im Ergebnis unterbleibe. Würden die §§ 1901a ff. BGB ignoriert, schaffe der Handelnde die unvertretbare Gefahr, dass die Behandlung des Patienten willenswidrig unterlassen bzw. abgebrochen werde.477 Damit erscheine es dem Unrechtsgehalt nach angemessen, die gerichtliche Genehmigung im Konfliktfall nicht lediglich als Ordnungsvorschrift, sondern als materielle Wirksamkeitsvoraussetzung einer Rechtfertigung 471

Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105). Schneider, MittBayNot 2011, 102 (106). 473 Dölling, ZIS 2011, 345 (348); vgl. auch Tolmein, in: FAZ Nr. 190/2010, S. 31. 474 Ludyga, ZRP 2010, 266 (269). 475 Albrecht / Albrecht / Böhm u. a., Die Patientenverfügung, Rdnr. 322; ebenso Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (576). 476 Walter, ZIS 2011, 76 (82). 477 Vgl. Dölling, ZIS 2011, 345 (348); vgl. Walter, ZIS 2011, 76 (81). 472

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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anzusehen.478 Der Handelnde könne sich sonst auf den vermeintlich festgestellt geglaubten Willen des Betroffenen berufen, welcher naturgemäß unergründbar sei; er wäre nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ in den häufigeren Fällen wohl frei zu sprechen.479 Der nachvollziehbaren Furcht des Bundesgerichtshofs vor einer unklaren Beweislage480 und damit vor Strafbarkeitslücken sei dadurch entgegenzukommen, dass der Behandlungsabbruch ohne erforderliche gerichtliche Genehmigung bzw. ohne Verfahrenseinhaltung faktisch dem Behandlungsabbruch ohne erforderliche Einwilligung gleichgesetzt werden müsse.481 Anzudenken sei im Falle eines am Willen des Patienten orientierten Behandlungsabbruchs aber eventuell eine Strafmilderung nach § 213 Alt. 2 StGB.482 (3) Der Charakter der (Nicht-)Einwilligung des gesetzlichen Vertreters Für ein zwingendes Einhaltungserfordernis der §§ 1901a ff. BGB wird auch die Systematik des Betreuungsrechts angeführt. Der Betreuer gebe als gesetzlicher Vertreter des Betreuten die Einwilligung oder Nichteinwilligung in die konkrete medizinische Behandlung ab und stelle auf diese Weise die Handlungsfähigkeit des Betreuten wieder her. Im Verhältnis gegenüber dem Arzt stelle sich die Erklärung daher als „vollgültige und strikt respektpflichtige Patientenerklärung“483 dar. Die Vertretungsmacht bestehe allerdings nur im Rahmen der umschriebenen gesetzlichen Vorschriften. Würden diese nicht beachtet, fehle also die erforderliche Genehmigung des Gerichts, liege im Außenverhältnis eine unwirksame Einwilligung seitens des Betreuers in den Behandlungsabbruch vor.484 Ein Behandlungsabbruch, der betreuungswidrig vorgenommen werde, entbehre somit einer strafrechtlich erforderlichen Einwilligung durch den Betreuer.485 Nachdem diese nach Sinn und Zweck des Betreuungsrechts gerade an die Stelle der (Nicht-)Einwilligung des Patienten trete und diese substituiere, könne der Behandlungsabbruch daneben nicht mehr durch eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werden. Es sei vielmehr von der Subsidiarität der mutmaßlichen Einwilligung auszugehen.486 Die betreuungsrechtlich substituierende Einwilligung stelle einen spezialgesetz-

478

Vgl. zum Ganzen Kuhlmann, Einwilligung in die Heilbehandlung alter Menschen, S. 193. Verrel, NStZ 2011, 276 (277). Auf „zu große Freiheiten im strafrechtlichen Irrtums­ bereich“ weist auch Seitz, ZRP 1998, 417 (421) hin; a. A. noch Verrel, NStZ 2010, 671 (675). 480 Jäger, JA 2011, 309 (312). 481 Vgl. Diehn / Rebhan, NJW 2010, 326 (329). 482 Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 343 ff.; Kolb, Neue Entwicklungen bei der Sterbehilfe, S. 129 f. 483 Zum Ganzen Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (581). 484 So Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 331 (noch in Bezug auf die analoge Anwendung des § 1904 a. F. BGB). 485 Diehn / Rebhan, NJW 2010, 326 (329). 486 In diese Richtung argumentiert Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 244; Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 28. 479

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lichen Rechtfertigungsgrund dar, der die Anwendung der Hilfskonstruktion der mutmaßlichen Einwilligung ausschließe.487 Aus diesem Argumentationsstrang dürfte sich auch die Ansicht von Popp speisen, der zwischen den Anforderungen, die die am Behandlungsabbruch Beteiligten erbringen müssen, um Straffreiheit zu erlangen, differenzieren möchte. Er nimmt an, dass für den Betreuer neben der prozeduralisierten Einwilligung durch Verfahren auch die Rechtfertigungsmöglichkeit über die mutmaßliche Einwilligung bestehe. Halte ein Betreuer das Verfahren nicht ein, entspreche der Abbruch der Behandlung aber dennoch dem Willen des Patienten, sei er straffrei. Ärzte, Pflegepersonal oder sonstige Dritte seien hingegen strikt an die Erklärungen des Betreuers gebunden, die nur nach der vorgesehenen Kontrolle ihre Wirksamkeit entfalten könnten. Für diese Personen komme deshalb im Gegensatz zum Betreuer keine Berufung auf den mutmaßlichen Willen des Patienten in Betracht. Nur für den Betreuer existiere ein zweispuriger Rechtfertigungsweg, weil dieser auch alleine zu einer bestandskräftigen Einschätzung des Patientenwillens gelangen könne.488 cc) Gründe gegen eine strafrechtliche Akzessorietät zu den §§ 1901a ff. BGB Nach der entgegengesetzten Meinung weisen die §§ 1901a ff. BGB zwar einen markanten Bezug zum Strafrecht auf, allerdings nur einen in dem Sinne begrenzten, dass sie Vorschriften für eine sorgfältige Ermittlung des strafrechtlich relevant werdenden Willens statuieren.489 Sie würden aber die Möglichkeit einer Berufung auf den strafrechtlichen, mutmaßlichen Patientenwillen ex post, und damit die Möglichkeit eines gerechtfertigten Behandlungsabbruchs bei ihrer Verletzung nicht kategorisch ausschließen.490 Vertreten wird damit im Ergebnis, dass das Verfahren zwar zu beachten sei, daraus aber kein zwingendes, strafrechtlich sanktioniertes Handlungsgebot abgeleitet werden könne bzw. dürfe. In diesem Sinne stellen sich die Regelungen lediglich als entlastendes „Handlungsangebot“ an die Verfahrensbeteiligten dar.

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So Kolb, Neue Entwicklungen bei der Sterbehilfe, S. 123 ff.; vgl. auch zur alten Rechtslage Tolmein, KJ 1996, 510 (524), der zwar von der Spezialität der betreuungsrechtlichen Regelung ausgeht, einen Behandlungsabbruch allerdings auch auf diesem Wege für ausgeschlossen hält. 488 Popp, ZStW 118 (2006), 639 (679 f.). 489 Für viele Hirsch, JR 2011, 37 (39). 490 Für viele Engländer, JZ 2011, 513 (520); Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (548); Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (563).

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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(1) Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip Gegen eine ausnahmslose strafrechtliche Ahndung von entsprechenden Verfah­ rensverletzungen wird in der Literatur überwiegend angeführt, dass der Verstoß gegen formelle, zivilrechtliche Betreuungsregeln nicht mit einer materiellen Strafbarkeit nach den Tötungsdelikten im Sinne der §§ 211, 212 StGB geahndet werden könne. Er verkörpere nicht ein derart „gewichtiges und strafwürdiges Fehlverhalten“491. Die berechtigte „Legitimation durch Verfahren“ dürfe auf der Kehrseite den Vorschriften nicht den Unrechtsgehalt der §§ 211 ff. StGB beimessen. Komme ein Betreuer oder ein Arzt dem mutmaßlichen Willen, den er zutreffend ermittelt hat, nach, ohne sich an das Verfahren gehalten zu haben, gelange er zwar auf falschem Wege zum richtigen Ergebnis, es fehle damit aber am Erfolgsunrecht.492 Man müsse ihn nach den Tötungsdelikten bestrafen, obwohl er sich lediglich dem natürlichen, interventionslosen Sterbewunsch eines Einwilligungsunfähigen angenommen habe, den das Gericht ex post ebenso festgestellt hätte. Es existiere damit kein greifbares Rechtsgut mehr,493 das strafrechtlichen Schutz für sich beanspruchen könne; geschützt würde nur noch das formelle Verfahren als materielllose Hülle.494 Der Unrechtsgehalt erschöpfe sich zusammengefasst in einer Kompetenzanmaßung.495 Insoweit könne auch keine Parallele zur Strafbarkeit nach § 216 Abs. 1 StGB gezogen werden unter dem Hinweis, auch dort verwirkliche der Täter lediglich den Patientenwunsch und damit kein Erfolgsunrecht. Der schmale Grat zwischen erlaubter und strafbarer Sterbehilfe liege gerade darin begründet, dass der Mensch die „Freiheit zum Sterben“, aber „kein Recht auf Tötung“ habe.496 Diesbezüglich verbiete sich ein Vergleich des Erfolgsunrechts von einem gerechtfertigten Behandlungsabbruch mit einer aktiven Sterbehilfe nach § 216 Abs. 1 StGB.497 Unterstrichen werde diese Ansicht auch durch folgenden Umkehrschluss: Ebenso wenig wie alleine die bösgläubige Einhaltung des Verfahrens mittels Manipulation, Drohung etc. bereits zu einer Vereinbarkeit des Abbruchs mit den §§ 211 ff. StGB führe, könnten umgekehrt Verfahrensverstöße als solche die Strafbarkeit 491

Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (548); zust. Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105); in diese Richtung auch Kubiciel, ZJS 2010, 656 (661); vgl. auch BT-Drs. V/3702, S. 22, wonach eine bloße Umgehung von Kontrollinstanzen nicht den Unrechtsgehalt einer Körperverletzung nach § 223 StGB verbürge; vgl. allgemein auch Amelung / Brauer, JR 1985, 474 (475 ff.), die sich im Rahmen des § 239 StGB ebenfalls mit den strafrechtlichen Konsequenzen eines fehlerhaften Verfahrens beschäftigen, das zu vertretbaren Erfolgen geführt hat; a. A. zum Unrechtsgehalt des betreuungsrechtlichen Verfahrensverstoßes Walter, ZIS 2011, 76 (81). 492 Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (288); vgl. auch Engländer, JZ 2011, 513 (519). 493 Hirsch, JR 2011, 37 (39). Etwas anderes ergebe sich aber dann, wenn durch die medizinische Inkompetenz der handelnden Personen eine Schädigung eintrete. 494 Vgl. Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 8b m. w. N.; Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (563); Verrel, NStZ 2010, 671 (675). 495 Hirsch, JR 2011, 37 (39). 496 So der gleichnamige Aufsatz von Eser, JZ 1986, 786 ff. Vgl. dazu auch Castillo Montt, Die strafrechtliche Behandlung der Sterbehilfe im deutschen und chilenischen Recht, S. 105 f. 497 In diese Richtung aber Walter, ZIS 2011, 76 (78).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

selbstherrlich aus sich heraus begründen.498 Einen Verstoß gegen die §§ 1901a ff. BGB mit den Tötungsdelikten zu ahnden, verstoße evident gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip, weil dem Strafrecht nur eine ultima ratio-Funktion zukomme. Für ein derart schneidiges, strafrechtliches Vorgehen bestehe aber zudem kein Bedürfnis, weil die §§ 1901a ff. BGB in der Praxis von sich aus faktischen Beachtungszwang auslösen würden. Die Nichteinhaltung des Verfahrens würde mit größter Wahrscheinlichkeit zu einem Ermittlungsverfahren gegen Angehörige oder den Betreuer führen,499 weil ein Verstoß gegen das Betreuungsrecht regelmäßig den Anfangsverdacht eines Tötungsdeliktes begründe.500 Hat der Täter das Verfahren missachtet, werde er sich im Falle einer Fehleinschätzung auch nicht auf einen unvermeidbaren Irrtum berufen können.501 Der Erlaubnistatbestandsirrtum setze eine ausreichende Tatsachengrundlage voraus, für welche vage und haltlose Begründungen nicht ausreichen würden.502 In der Praxis werde demnach kein Arzt oder Betreuer, dem das entlastende Verfahren der §§ 1901a ff. BGB zur Seite gestellt werde, sich diesem widersetzen und blind darauf vertrauen, dass in einem späteren Strafverfahren die Übereinstimmung seines Handelns mit dem mutmaßlichen Patientenwillen festgestellt wird.503 Die empfindlichen haftungs- und auch standesrechtlichen Folgen würden des Weiteren enormen Druck ausüben.504 Das fatale Risiko einer divergierenden ex post-Betrachtung sei abschreckend genug und erzeuge die notwendige präventive Wirkung.505 Zudem müsse „nicht nur das grundsätzliche Ob“ des Behandlungsabbruchs, sondern auch seine konkrete Durchführungsweise vom Patientenwillen gedeckt sein, weshalb zumindest eine Körperverletzungsstrafbarkeit in Betracht komme.506 Um eine Selbstjustiz zu unterbinden, würden die Tötungsdelikte nicht das richtige „Instrumentarium“ darstellen.507 Das Zivilrecht bediene sich bereits eigener Steuerungsmechanismen. Sich rückbesinnend auf den Leitsatz, „dass nicht alles strafbar ist, was zivilrechtlich verboten 498

Verrel, NStZ 2011, 276 (277). Wolfslast / Weinrich, StV 2011, 286 (288). 500 Verrel, NStZ 2011, 276 (277). 501 Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (548) m. w. N.; Verrel, NStZ 2003, 449 (452 f.): „[Man wird sich wohl] kaum auf einen unvermeidbaren Erlaubnistatbestandsirrtum berufen können“; zust. im Hinblick auf einen Erlaubnisirrtum Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (563). 502 Verrel, NStZ 2010, 671 (675). 503 Thias, Möglichkeiten und Grenzen eines selbstbestimmten Sterbens durch Einschränkung und Abbruch medizinischer Behandlung, S. 281. 504 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (162); vgl. Ulsenheimer, MedR 2015, 757 (758). Die Nichtbeachtung der §§ 1901a ff. BGB und die Tatsache, dass der Patient keinen derartigen Willen zu Lebzeiten geäußert hat, begründet nach BGHZ 204, 258 (263 f. Rdnr. 12 ff.) zudem die Erbunwürdigkeit desjenigen, der trotzdessen den Behandlungsabbruch herbeiführt. 505 Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105). Auch Verrel, NStZ 2010, 671 (675) weist auf die hohe „Rechtfertigungshürde der Feststellung eines entsprechenden (mutmaßlichen) Patientenwillens“ hin. 506 Verrel, NStZ 2010, 671 (675). 507 Engländer, JZ 2011, 513 (519). 499

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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ist“508, wird damit ein Plädoyer für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der ultima ratio-Funktion des Strafrechts gehalten. (2) Das medizin(straf-)rechtliche Primat des materiellen Willens Gegen die Ansicht, die die Verfahrensbeachtung als exklusive Straflosigkeitsvoraussetzung des Behandlungsabbruchs ansieht, wird das medizinrechtliche Kernverständnis, die Maßgeblichkeit des Patientenwillens vorgebracht. Im Medizin(straf-)recht gelte der allgemein anerkannte Grundsatz, dass eine medizinische Maßnahme dann rechtmäßig sei, wenn sie dem tatsächlichen Willen des Patienten entspreche. Ob der Täter das Unrecht einer Tötung verwirklicht hat oder nach dem Grundsatz „volenti non fit iniuria“ beim Behandlungsabbruch gerechtfertigt ist, könne daher nur davon abhängen, ob er objektiv und subjektiv in Übereinstimmung mit dem antizipierten oder mutmaßlichen Willen des Patienten gehandelt habe.509 Die Maßgeblichkeit des Willens brächten auch die §§ 1901a ff. BGB zum Ausdruck; ihnen könne ihrer Konzeption nach daher nur eine strafbarkeitseinschränkende, keine strafbarkeitsbegründende Wirkung entnommen werden.510 Die Rechtsprechung mache auch in anderen Fällen die Wirksamkeit eines Einverständnisses nicht von der Einhaltung der Form abhängig.511 Schenke man daneben weiteren formellen Kriterien strafrechtliche Relevanz, läge eine Rechtsgutsvertauschung vor, weil nicht der materielle Wille als Schutzobjekt im Vordergrund stehe, sondern das Verfahren seiner Durchsetzung.512 Dadurch würde auch das Gebot der materiellen Einzelfallgerechtigkeit Schaden nehmen.513 (3) Keine Zivilrechtsakzessorietät bei höchstpersönlichen Rechtsgütern Gegen eine unmittelbare Geltung der Verfahrensvorschriften im Strafrecht wird auch eingewandt, dass eine strenge Zivilrechtsakzessorietät im Bereich der Sterbehilfe nicht nachzuvollziehen sei. Das Strafrecht verhalte sich nur dann zu Vorschriften anderer Rechtsgebiete akzessorisch, wenn einem Rechtsgut Schutz gewährt werden solle, welches strukturell außerhalb des Strafrechts anzusiedeln sei, wie beispielsweise beim Eigentums- oder Vermögensschutz (§§ 242, 263 StGB). 508

Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (22). Vgl. Engländer, JZ 2011, 513 (519); Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105); Hilgendorf, in: Arzt / Weber / Heinrich u. a., Strafrecht BT, § 3 Rdnr. 10; Lipp, in: Laufs / Katzenmeier / Lipp, Arztrecht, VI Rdnr. 139; Rengier, Strafrecht BT II, § 7 Rdnr. 8b; Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (548). 510 Eidam, GA 2011, 232 (237). 511 So Jäger, JA 2011, 309 (312) unter Bezugnahme auf BGHSt 35, 333 (337). 512 Jäger, JA 2011, 309 (312). 513 Thias, Möglichkeiten und Grenzen eines selbstbestimmten Sterbens durch Einschränkung und Abbruch medizinischer Behandlung, S. 282.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Das Zivilrecht gebe hier die auszufüllende Schutzrichtung für das Strafrecht vor. Die §§ 212, 223 StGB und §§ 1901a ff. BGB würden jedoch allesamt dem Schutz höchstpersönlicher Rechtsgüter dienen, weshalb in diesem Zusammenhang nicht von einer absichernden Anbindung des Strafrechts an eine primär maßgebliche Normenordnung gesprochen werden könne.514 Das Strafrecht könne in seiner Eigenständigkeit vielmehr autonom nach materiellen Kriterien und dogmatischen Ansätzen beurteilen, wann eine strafbare Tötung bzw. Körperverletzung durch Weiterbehandlung gegeben sei und wann nicht. Es sei in diesem Bereich auf keine für sie maßgebende zivilrechtliche Vorprägung angewiesen.515 Eine Akzessorietät in diesem Bereich würde es „zu einem bloßen zivilverfahrensrechtlichen Vollstreckungshelfer […] degradieren“516. In diesen Aussagen schwingt auch eine gewisse Angst mit, dass das Zivilrecht dem Strafrecht allzu viele Vorschriften machen könne.517 (4) Verstoß gegen das Gesetzlichkeitsprinzip, Art. 103 Abs. 2 GG Weiterhin wird argumentativ ins Feld geführt, dass durch das strafrechtliche Vorgehen, dem Behandlungsabbruch seine rechtfertigende Wirkung aufgrund einer Verfahrensverletzung abzusprechen, grundlegend gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Gesetzlichkeitsprinzip verstoßen werde.518 Es werde eine Strafbarkeit mittelbar aufgrund zivilrechtlicher Vorschriften begründet. Wolle der Gesetzgeber ein Verhalten, das er für strafbar erachtet, pönalisieren, so müsse er dementsprechend einen eigenen Straftatbestand schaffen.519 Dieser auf das formelle Handlungsunrecht zugeschnittene Straftatbestand müsse gegenüber §§ 211 ff. StGB speziell sein und alleine die Nichteinhaltung der §§ 1901a ff. BGB sanktionieren, weshalb seine Strafdrohung deutlich unter derjenigen der Tötungsdelikte liegen müsse.520 Nur so könne das vom Gesetzgeber mithilfe der §§ 1901a ff. BGB bereits errichtete grundrechtliche Schutzkonzept ausgebaut und fortgeführt werden. Für derartige Sanktionsvorschriften gebe es bereits Vorbilder im Medizinstraf­ recht.521 Die Normen des § 218b Abs. 1 S. 1 StGB, § 7 KastrG sowie § 19 Abs. 2, Abs. 5 TPG würden beispielsweise allesamt die Nichteinhaltung formeller K ­ autelen 514

Zum Ganzen Sternberg-Lieben, in: FS Roxin, S. 537 (554 f.). A. A. Walter, ZIS 2011, 76 (80): „Das Strafrecht ist zu hundert Prozent sekundäres Recht“. 516 Jäger, JA 2011, 309 (312). 517 Walter, ZIS 2011, 76 (80); eine derartige Angst lässt sich auch im wirtschaftsstrafrechtlichen Bereich konstatieren, vgl. Leite, GA 2018, 580 (583). 518 Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105); Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (548). 519 Engländer, JZ 2011, 513 (519); Hirsch, JR 2011, 37 (39); Verrel, in: Verrel / Simon, Patientenverfügungen, S. 13 (22); Verrel, NStZ 2010, 671 (675). 520 Vgl. auch Rosenau, in: FS Rissing-van Saan, S. 547 (563): „Allenfalls bußgeldwürdig“. Kubiciel, ZJS 2010, 656 (661) plädiert hingegen für Verfahrensvorschriften, welche den „Behandlungsabbruch“ ausschließlich ärztlichem Personal gestatten. 521 Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, S. 325. 515

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

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sanktionieren. Ein derartiger strafrechtlicher Tatbestand zur Absicherung der §§ 1901a ff. BGB fehle jedoch gänzlich. Eine Kompensation der Nichtexistenz durch einen Rückgriff auf die §§ 211 ff. StGB verbiete sich jedoch vehement.522 Auch nach der historischen Auslegung sei daher eine Akzessorietät des Strafrechts zu den §§ 1901a ff. BGB nicht intendiert gewesen.523 Werde das Verfahren dennoch zur Straflosigkeitsbedingung gemacht, würde das Erfolgsdelikt des § 211 Abs. 1 StGB bzw. § 212 Abs. 1 StGB contra legem in ein Gefährdungsdelikt transformiert.524 dd) Eigene Stellungnahme Die Diskussion über die strafrechtliche Bedeutung der §§ 1901a ff. BGB stellt sich nicht nur deshalb als eine besonders schwierige dar, weil Existenzentscheidungen sowohl auf der Seite des Patienten als auch – strafrechtlich betrachtet – auf der des Handelnden auf dem Spiel stehen und letztgültig gefällt werden müssen. Die Entscheidungen bergen auch deshalb enorme Komplexität in sich, weil man beiden Sichtweisen ein für sich jeweils einnehmendes und durchaus greifbares Argumentationssubstrat entnehmen kann. Am besten beschreibt daher in diesem Zusammenhang wohl der ärztliche Handlungsgrundsatz „Voluntas aegroti suprema lex“ die Problematik der Relevanz der §§ 1901a ff. BGB im Strafrecht: Der Wille des Patienten ist höchstes Gesetz. Einerseits spricht dieses Gebot elementar für eine strafrechtliche Absicherung der Verfahrensvorschriften, um den Willen in einem prozeduralen Verfahren möglichst rational eruieren zu können. Andererseits muss, wenn der Wille höchstes Gesetz ist, allein dieser tatsächliche materielle Wille (der „nackte Wille“ ohne prozedural eingekleidete Verpackung), genügen und letztendlich über die Rechtfertigung entscheiden, gleich ob er nur gemutmaßt ist und gleich, ob das leitgebende Verfahren der §§ 1901a ff. BGB eingehalten wurde oder nicht. Auch wenn die Idee eines maximalen Grundrechtsschutzes durch Verfahren jedenfalls de lege lata in der Theorie straflos leerzulaufen drohe, so überquert die Begründung einer Strafbarkeit über die §§ 1901a ff. BGB deutlich ihre rechtlichen Grenzen. Ein derartiger Verstoß gegen die zentralen rechtsstaatlichen Grundsätze wie Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit, denen sich im Besonderen das Strafrecht verpflichtet sieht, wiegt besonders schwer. Die verfahrensrechtlichen Vorgaben können dem Strafrecht nicht die eigene dominierende Sichtweise auf die Sterbehilfe einverleiben und zivilrechtlich mitprägen. Sobald das Zivilrecht den prozeduralen Verfahrensschutz eigenmächtig absichert, ohne dass hierfür strafrechtliche Normen existieren, wird dem Strafrecht durch eine zivilrechtliche Überlagerung seine Kernsubstanz abgesprochen. Maßgebend muss im und für das Strafrecht bleiben, dass dem tatsächlichen Willen 522

Hirsch, JR 2011, 37 (39). Jäger, JA 2011, 309 (312). 524 Fateh-Moghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (105). 523

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

des Patienten Rechtfertigungswirkung zukommt, dass der Handelnde sich also ex post auch auf den Rechtfertigungsgrund der mutmaßlichen Einwilligung berufen kann. Das Strafrecht hat in diesem Gebiet Herr über die Definitionsgewalt und damit über die Voraussetzungen einer straflosen Sterbehilfe zu bleiben und kann sich nicht zivilrechtlichen Wertungen beugen. Letztere können zwar entlastende Weichenstellungen vorgeben, aber nicht über die Strafbarkeit entscheiden. Sie dienen lediglich einer möglichst irrtumsfreien Feststellung des Willens.525 Eine reine Formalisierung kann einem  – an materieller Gerechtigkeit orientiertem  – Strafrecht nicht gerecht werden. Der von prozeduralen Kautelen losgelöste „bloße Wille“ rechtfertigt die Handlung. Letztendlich stellen sowohl Betreuer und Arzt als auch das Betreuungsgericht Mutmaßungen auf. Wenn diese im Ergebnis übereinstimmen, gibt es keine Berechtigung zum Eingreifen der Tötungsdelikte. Daher sind auch differenzierende Ansichten wie die von Popp526 abzulehnen. Entscheidend ist der Wille des Patienten, weswegen nicht danach unterschieden werden kann, ob dieser vom Betreuer, Arzt oder dem Pflegepersonal ermittelt wurde. Die Ansicht von Popp stellt insofern eine unbillige Privilegierung des Betreuers dar, für die keinerlei berechtigte Veranlassung besteht. Als Ausdruck der intradisziplinären Sterbehilfe kann somit zwar nichts strafbar sein, was zivilrechtlich erlaubt ist, aber umgekehrt muss nicht alles strafbar sein, was zivilrechtlich verboten ist. Prozeduralisierung soll ein Verfahren der Orientierung und Freistellung von Strafe begründen, nicht umgekehrt über außer­ strafrechtliche Normen eine Strafbarkeit begründen. Auch wenn ein faktischer Zwang zur Einhaltung bestehen mag, wäre de lege ferenda dennoch eine Strafrechtsnorm wünschenswert, die die Nichteinhaltung der §§ 1901a ff. BGB sanktioniert. Aufgrund des Rangs der gefährdeten Rechtsgüter von Leben, Würde und Selbstbestimmung scheint eine derartige Strafrechtsnorm nicht unverhältnismäßig.527 Es könnte ein adäquater Weg zwischen den beiden Extremen der ausnahmslosen Strafbarkeit und der Straflosigkeit im Wege der Unschuldsvermutung gefunden werden. Der schon bestehende Druck zur Einhaltung würde zudem immens erhöht und die Existenz der §§ 1901a ff. BGB sowie ihre Bedeutung ins Bewusstsein gerufen – allerdings auf eine verhältnismäßige Weise mittels eines abgesenkten Strafmaßes, das das lediglich formell verwirklichte Unrecht pönalisiert. Erst mittels einer derartigen Sanktionierung kann der Charakter eines Kompromisses, wie er dem Medizinstrafrecht eigen ist, entstehen. Ohne Sanktion wird kein ausreichender Handlungszwang erzeugt. Die Gefahr eines erbenbestimmten Geräteabschaltens wird nicht hinreichend gebannt. Natürlich steht dem Gesetzgeber hierbei ein Gestaltungsspielraum zu, jedoch sollte im Hinblick 525

Vgl. Fischer, Strafgesetzbuch, Vor §§ 211–217 Rdnr. 53a. Vgl. dazu den Nachw. in 7. Kap., Fn. 488. 527 Ebenso Hörr, Passive Sterbehilfe und betreuungsgerichtliche Kontrolle, S. 354 f.; eher abl. Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (162); neutral Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 269. 526

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

271

auf die überragenden Rechtsgüter, die auf dem Spiel stehen, die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten einer Pönalisierung dieses Handlungsunrechts ausfallen. Die §§ 1901a ff. BGB dürfen jedenfalls nicht derart ins Strafrecht eingegossen werden, dass sie eigenmächtig ein neues, prozedurales Tötungsdelikt erschaffen. Zieht man einen Vergleich zu anderen medizinstrafrechtlichen Bereichen wie der fahrlässigen Tötung im medizinischen Metier, zeigt sich auch hier, dass beispielsweise die Nichtbeachtung von medizinischen Leitlinien der Fachgesellschaften zwar ein Indiz für einen Sorgfaltsverstoß darstellen, diesen aber nicht per se begründen kann.528 Das Strafrecht lehnt sich zwar bevorzugt an andere, außerstrafrechtliche Rechtsgebiete an, um sich detailliertere Orientierung zu verschaffen und als ultima ratio von Strafe freizustellen – das strafrechtliche Letzturteil gebührt aber im Ergebnis ihm selbst. Letztendlich lässt sich mit der Problematik der strafrechtlichen Bedeutung der betreuungsrechtlichen Verfahrensregeln der §§ 1901a ff. BGB ein Vergleich zur Regelung des § 45 VwVfG ziehen, nach welchem formelle Verstöße als geheilt angesehen werden, solange sie keinen Einfluss auf das materielle Ergebnis gehabt haben. Im Fall der §§ 1901a ff. BGB müsste für diese Parallele ergänzt werden, dass trotz formeller Verstöße ein materielles Ergebnis erzielt wurde, das ex post zumindest als vertretbar eingeordnet werden kann. 7. Prozedurale Beobachtungsstrategien Nachdem ein prozedurales, rechtliches Sterbehilfekonzept mit Ausnahme der zivilrechtlichen §§ 1901a ff. BGB bislang nicht normiert wurde, kann der Aspekt prozeduraler Beobachtungsstrategien des Gesetzgebers in diesem Bereich vernachlässigt werden. Bei den §§ 1901a ff. BGB wurde eine Beobachtungspflicht im Gesetzestext nicht explizit statuiert.529 Der Gesetzesvorschlag Höflings über die Regelung einer Patientenverfügung, der in § 6 Patientenautonomie- und Integritätsschutzgesetz eine derartige Berichtspflicht über die Erfahrungen mit dem Gesetz (Patientenverfügungsbericht) vorsieht,530 wurde insofern nicht eingearbeitet. Dies erstaunt angesichts der Tatsache, dass es sich um ein Gesetz mit einem bedeutenden Rechtsgutsbezug handelt, das der schnelllebigen Dynamik des Medizin(straf-)rechts unterliegt. Zudem entsprach eine derartige Gesetzesstrategie wohl bereits im Jahr 2006 „den Standards neuerer Gesetzgebungspraxis“531.

528

Vgl. hierzu nochmals Krüger, in: LK-StGB, § 222 Rdnr. 32. Krit. zur mangelhaften Beobachtungspflicht bezüglich der praktischen Auswirkungen der Patientenverfügungsregelung Albers, in: Albers, Risikoregulierung im Bio-, Gesundheits- und Medizinrecht, S. 9 (31 f.). 530 Höfling, MedR 2006, 25 (27). 531 Höfling, MedR 2006, 25 (31). 529

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

II. Vorherrschendes Meinungsbild in der Literatur Auch bezüglich der §§ 1901a ff. BGB soll eine Darstellung der unterschiedlichen Literaturansichten erfolgen. Wiederum gibt es solche, die die §§ 1901a ff. BGB als Teil einer Prozeduralisierung einordnen und solche, die eine derartige Katego­ risierung ablehnen. 1. Vertreter einer Prozeduralisierung im Rahmen der §§ 1901a ff. BGB a) Frank Saliger Saliger zufolge weist der Bereich der Sterbehilfe erhebliche empirische und normative Unsicherheiten auf, die zum Einsatz prozeduraler Elemente führen würden.532 Im Angesicht der Irreversibilität der zu treffenden, existenziellen Entscheidung könne schließlich nur ein prozeduraler, vorverlagerter Grundrechtsschutz durch Verfahren das adäquate Mittel darstellen.533 Auf der anderen Seite gewährleiste die Möglichkeit zur Verfahrensbeachtung die strafrechtliche Freistellung der Verfahrensbeteiligten und damit die notwendige Rechtssicherheit.534 Saliger sieht daher die Sterbehilfe insgesamt als einen von prozeduralen Mechanismen lebenden und durch sie gesteuerten Bereich an. Aus dogmatischer Sicht betrachtet, vertritt Saliger das Konzept einer prozeduralen Rechtfertigung im Recht der passiven Sterbehilfe. Genehmige das Gericht den Abbruch der Behandlung, würden die Betroffenen hierdurch auf betreuungsrechtlichem Wege die Rechtfertigung ihres Handelns erlangen.535 Dies ergebe sich aus der erhöhten Rationalität und Legitimationskraft des Gerichtsverfahrens.536 Der alleinige Konsens zwischen Betreuer und Arzt könne hingegen nicht die gleiche Legitimationskraft aufbringen wie eine objektive Entscheidung durch ein unabhängiges Gericht, weshalb sich Saliger schon vor Einführung der §§ 1901a ff. BGB für eine gerichtliche Überprüfung von passiven Sterbehilfehandlungen aussprach.537 Diese sollte allerdings nicht – wie es de lege lata nach § 1904 Abs. 4 BGB der Fall ist – auf Konfliktfälle beschränkt sein, weil der Gewinn an Rationalität und die

532

Saliger, in: ARSP-Beiheft 75 (2000), S. 101 (140); Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (159). 533 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (159). 534 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (160). 535 Vgl. Saliger, KritV 1998, 118 (140); Saliger, JuS 1999, 16 (20); Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (160); Saliger, in: Joerden / Hilgendorf / ​ Thiele, Menschenwürde und Medizin, S. 265 (282) mit Fn. 103. 536 Saliger, KritV 1998, 118 (134); Saliger, JuS 1999, 16 (19). 537 Saliger, KritV 1998, 118 (134).

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

273

Möglichkeit einer Missbrauchskontrolle mittels eines ex ante-Verfahrens auch bei vermeintlichen Konsensfällen wünschenswert bzw. geboten seien.538 Saliger lehnt allerdings eine Strafbarkeit der Beteiligten, die einzig auf die Nichtbeachtung des betreuungsrechtlichen Verfahrens gestützt wird, ab. Für den Betreuer sei neben der zivilrechtlichen Rechtfertigung auch eine strafrechtliche Rechtfertigung möglich, wenn der Wille des Patienten umgesetzt, das Verfahren aber nicht eingehalten wurde. Für den Arzt bestehe neben der prozedural geformten Einwilligung durch den Betreuer als gesetzlichen Vertreter parallel die Möglichkeit der Rechtfertigung über eine mutmaßliche Einwilligung des Patienten.539 b) Ramona Francuski Francuski sieht in den zivilrechtlichen Regelungen zur Ermittlung des (mutmaß­ lichen) Patientenwillens eine Prozeduralisierung nach dem von ihr vertretenen Prozeduralisierungskonzept. Nachdem der mutmaßliche Wille des Patienten nicht mit letzter Sicherheit eruiert werden könne und dem Gesetzgeber folglich in materiellrechtlicher Hinsicht die Hände gebunden seien, müsse bereits die Bemühung um die bestmögliche Ermittlung des mutmaßlichen Patientenwillens für die Beteiligten über den folgenreichen Ausspruch der Strafbarkeit oder Straflosigkeit entscheiden.540 Die Strafnorm des § 216 Abs. 1 StGB werde folglich durch das materielle und prozedurale Rechtfertigungssubstrat, das die §§ 1901a ff. BGB enthalten würden, eingeschränkt. Durch die Verfahrensbeachtung würden die Beteiligten vom Strafbarkeitsvorwurf der Tötung befreit.541 Mit der durch die §§ 1901a ff. BGB erreichten Synchronisierung könnten somit „Strafrecht und Betreuungsrecht Hand in Hand“542 gehen. Francuski schließt sich daher der Auffassung an, welche die verfahrensrechtlichen Regelungen als „prozedurale Rechtfertigung“ ansieht, und macht von ihrer Befolgung das materielle Strafurteil abhängig.543 c) Theresa Schweiger Schweiger sieht in den §§ 1901a ff. BGB deutliche prozedurale Strukturen verwirklicht, wenngleich die Zuordnung der §§ 1901a ff. BGB noch nicht zufriedenstellend gelöst, und eine Einordnung in den Bereich des prozeduralen Strafrechts daher schwierig sei.544 Insbesondere im Vorliegen kognitiver, zeitlicher und nor 538

Saliger, MedR 2004, 237 (243). Saliger, KritV 1998, 118 (139 ff.). 540 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 199. 541 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 198 f. 542 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 198. 543 Francuski, Prozeduralisierung im Wirtschaftsstrafrecht, S. 199 f. 544 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 268. 539

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

mativer Defizite in diesem Regelungskomplex sieht sie das Bedürfnis nach prozeduralen Strukturen begründet.545 Von der Frage abgesehen, ob man der Verfahrensbeachtung eine prozedurale Rechtfertigungskraft zusprechen, oder aber eine Entlastung nur aufgrund von Irrtumsregeln gewähren sollte, sei den §§ 1901a ff. BGB eine erkennbare Prozeduralität zu entnehmen. Den unmittelbar Betroffenen würde mittels eines ex ante durchzuführenden, diskursiven Verfahrens Bewertungsmacht zugesprochen und damit für Rechtssicherheit gesorgt. Auf der anderen Seite würden die Rechtsgüter des Patienten in einen angemessenen Ausgleich gebracht.546 Sie schlägt de lege ferenda daher einen § 216a StGB vor, nach dem die §§ 211–217 StGB nicht zur Anwendung gelangen sollen, wenn die Beteiligten neben weiteren Voraussetzungen des Behandlungsabbruchs das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB ordnungsgemäß eingehalten haben.547 2. Negierung einer Prozeduralisierung durch Lisa Borrmann Borrmann sieht in den §§ 1901a ff. BGB mit der Übertragung der Kompetenz auf Private und der Überprüfung der Voraussetzungen einer straflosen Sterbehilfe ex ante, die Rechtssicherheit in ungewissen Lagen verschaffen soll, zwar durchaus prozedurale Elemente bzw. Ansätze einer prozeduralen Rechtfertigung verwirklicht.548 Gleichwohl möchte sie die verfahrensrechtlichen Regelungen der §§ 1901a ff. BGB nicht als prozedurale Legalisierung im eigentlichen Sinne ansehen. Die Ausprägung der Diskursivität im Rahmen der Hinzuziehung von Angehörigen nach § 1901b Abs. 2 BGB und die Regulierung des Verfahrens zur Ermittlung des Patientenwillens im Allgemeinen seien in ihrer Qualität bzw. Rationalität nicht ausreichend reguliert, um den §§ 1901a ff. BGB eine legalisierende Wirkung zukommen zu lassen.549 Im Vergleich mit anderen Prozeduralisierungen im Medizinstrafrecht seien die §§ 1901a ff. BGB nur spärlich und in einer oberflächlichen Art und Weise geregelt.550 Aus dieser Gegenüberstellung zieht Borrmann schließlich ihren Erst-Recht-Schluss: Könnten die anderen Prozeduralisierungsformen schon schwerlich bis kaum eine Legitimationswirkung erzeugen, könnte das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB diese erst recht nicht für sich beanspruchen. Dessen Formalisierungsgrad bleibe hinter den verglichenen Prozeduralisierungserscheinungen ersichtlich zurück.551 Die strafrechtliche Beurteilung richte sich daher al 545

Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 263. Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 266. 547 Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 268 f. 548 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 171 ff. 549 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 205 ff. 550 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 206 ff. 551 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 208. 546

(Verfahrens-) (Verfahrens-) (Verfahrens-) (Verfahrens-)

C. Analyse der §§ 1901a ff. BGB

275

lein nach dem materiellen Recht. Auch de lege ferenda sieht sie die Möglichkeit einer prozeduralen Legitimation durch die betreuungsrechtlichen Vorschriften als erheblich limitiert an.552

III. Zusammenfassung und Einordnung in das eigene Begriffsverständnis Nach Analyse der prozeduralen Merkmale der §§ 1901a ff. BGB zeigt sich deutlich, dass bis auf das Element prozeduraler Beobachtungsstrategien sämtliche Merkmale, die einer Prozeduralisierung nach hier vertretenem Verständnis zugeschrieben werden, vollumfänglich verwirklicht sind. Im Rahmen eines vorzunehmenden Behandlungsabbruchs liegen im Fall eines einwilligungsunfähigen Patienten erhebliche Wissensdefizite bezüglich seines Willens bzw. seines mutmaßlichen Willens vor. Das Verfassungsrecht hat die grundlegende Weichenstellung getroffen, dass auch der mutmaßliche Wille eines einwilligungsunfähigen Patienten in dieser Beziehung Ausschlag gibt und einen Abbruch der Behandlungsmaßnahmen rechtfertigen kann. Im Rahmen des diskursiven Dialoges zwischen Arzt und Patienten­vertreter, in den auch Angehörige miteinbezogen werden sollen, wird versucht, möglichst viele Informationen zu erlangen, um eine Entscheidung zu treffen, die dem Willen des Patienten entspricht bzw. ihm am nächsten kommt. Sollten sich Meinungsverschiedenheiten abzeichnen, wird der Dialog auf der nächsten Ebene vor dem Betreuungsgericht fortgesetzt (§ 1904 Abs. 2 BGB). Auch wenn von der überwiegenden Literaturansicht der Verfahrensbeachtung keine prozedurale Rechtfertigungswirkung zugesprochen wird, erreichen die Verfahrensbeteiligten zumindest im Ergebnis faktische Straffreiheit durch die Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums sowie den Wegfall des Fahrlässigkeitsvorwurfs, wenn sie das Verfahren der Willensermittlung pflichtbewusst eingehalten haben. Eine Überprüfung der Rechtsgutsverletzung erfolgt damit ebenfalls ex ante. Die Nichtbeachtung des Verfahrens führt aber nicht zwingend dazu, dass eine Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs ausscheidet. Auch durch diese Einordnung zeigt sich die (nur) straffreistellende Wirkung der §§ 1901a ff. BGB. Werden die §§ 1901a ff. BGB nicht als Prozeduralisierung angesehen, liegt dies überwiegend an dem jeweiligen Prozeduralisierungsverständnis, nach dem das Verfahren die materielle Regelung ersetzen müsse. Überzeugend erscheint jedenfalls nicht die Ansicht, dass die §§ 1901a ff. BGB nur deswegen nicht als Prozeduralisierung angesehen werden könnten, weil sie Defizite im Verfahren der Willensermittlung aufweisen würden. Von dem „Sollen“ der Ausgestaltung des Verfahrens kann nicht auf das „Sein“ der Charakterisierung als Prozeduralisierung geschlossen 552 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 210 ff.

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

werden. Der dogmatische Einsatz von Prozeduralisierung ist vielfältig und beschränkt sich nicht auf den Bereich der prozeduralen Rechtfertigung. Es kommt auf die Wirkungsweise der Prozeduralisierung an, nicht auf die optimale verfahrensrechtliche Ausgestaltung und ihr subjektiv empfundenes Schutzniveau. Bei den betreuungsrechtlichen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB handelt es sich demnach um eine Prozeduralisierung im hier verstandenen Sinne. Sie kann als „diskursiv“-​ „fördernd-ersetzend“ charakterisiert werden.

IV. Analyse der prozeduralen Intention und Schlussfolgerung Der Gesetzgeber bedient sich der prozeduralen Elemente, um eine möglichst weitreichende Wissensgrundlage ex ante zu gewährleisten, bevor eine derart weitreichende Entscheidung über Leben und Tod getroffen wird. Gleichzeitig sichert er den Beteiligten (zumindest) praktische Straffreiheit zu, indem er ihnen das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB an die Hand gibt und damit für Rechtssicherheit sorgt. Er zieht somit weitläufigen Nutzen aus der Prozeduralisierung. Einer der größten Nutznießer der Prozeduralisierung dürfte jedoch nicht zuletzt die Patientenautonomie und damit das verfassungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG sein. Das Kon­ strukt der Willensermittlung bei einem Einwilligungsunfähigen stellt gerade das notwendige Instrument dar, um überhaupt eine Rechtfertigung durch den mutmaßlichen Willen eines Patienten durchsetzen zu können. Es ermöglicht erst, dass die Rechtfertigungsfigur der mutmaßlichen Einwilligung beim Behandlungsabbruch Geltungsrelevanz für sich beanspruchen kann. Die Auswirkungen, die die Prozeduralisierung im Bereich des Behandlungsabbruchs auf die „aktive Sterbehilfe“ hat, werden aber weiterhin kontrovers beurteilt. Während ein Teil der Literatur den tätigen Behandlungsabbruch, der auf die §§ 1901a ff. BGB gestützt wird, als Einfallstor für eine Zulassung weiterer Formen von „aktiver Sterbehilfe“ ansieht,553 sieht die andere Auffassung die Regelung der §§ 1901a ff. BGB gerade als Voraussetzung dafür an, dass das Verbot des § 216 Abs. 1 StGB überhaupt weiterhin aufrecht erhalten werden könne. Das Verbot der Tötung auf Verlangen könne nur Bestand haben, wenn dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten ein angemessener und rechtlich abgesicherter Entfaltungsraum gegeben werde.554 Insgesamt sorgt das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB für eine Liberalisierung des Instituts des Behandlungsabbruchs. Der Grund hierfür könnte darin zu sehen sein, dass sich die Wertung des § 216 Abs. 1 StGB in vielen Fällen nicht mehr mit dem moralischen Empfinden deckt. Hierfür könnte sprechen, dass das Strafrecht 553 554

Vgl. dazu den Nachw. in 7. Kap., Fn. 470. Verrel, Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebegleitung, C 63.

D. Exkurs

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in vielen Konstellationen dogmatische Brüche in Bezug auf das Konzept der Sterbehilfe hinnimmt oder sogar für diese eintritt.555 Gleichzeitig wird durch eine Prozeduralisierung ähnlich wie bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs verdeckt, dass das materielle Kriterium des Willens nicht letztgültig feststellbar ist. Auch das Strafgericht kann nur einen mutmaß­ lichen Willen feststellen, welcher nicht zwangsläufig der Wirklichkeit entsprechen muss. Es geht daher eher darum, wer die letztgültige Entscheidungsbefugnis über das Kriterium des mutmaßlichen Willens innehält. Es handelt sich somit um einen „Wettlauf um die Deutungshoheit“556 der mutmaßlichen Einwilligung. Hier wird teilweise überspielt, dass das materielle Kriterium des Willens nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden kann. Ebenso wie bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs steht die Literatur einer Prozeduralisierung aber auch eher kritisch gegenüber. Der Regelungskomplex der Sterbehilfe benötigt allerdings im Ergebnis die prozeduralen Vorteile. Eine Prozeduralisierung ist in diesem Rechtsbereich dringend erforderlich. Im Ergebnis hat der Gesetzgeber sie aber nicht vollends angenommen. Eine Normierung der prozeduralen Freistellung ist im Strafrecht bislang unterblieben.

D. Exkurs: Prozeduralisierungstendenzen der Sterbehilfe de lege ferenda Im Anschluss an die Analyse der prozeduralen Gegebenheiten bei der Sterbehilfe soll ein Exkurs zu Prozeduralisierungstendenzen der Sterbehilfe de lege ferenda erfolgen. Dieser umfasst neben prozeduralen Vorschlägen zur Entkriminalisierung aktiver Sterbehilfe in Deutschland auch die Problematik der „Früheuthanasie“. Für diese werden ebenfalls prozedurale Regelungsmuster vorgeschlagen.

I. Die Zulassung aktiver Sterbehilfe in Deutschland Bevor auf die unterschiedlichen Vorschläge in der Literatur im Hinblick auf die Ermöglichung einer straflosen aktiven Sterbehilfe in Deutschland eingegangen wird, soll zunächst die geltende Rechtslage in den Niederlanden dargestellt werden, um zu verdeutlichen, dass sich europäische Nachbarländer von der Starre eines absoluten Tötungsverbots bereits abgewandt haben.

555

Tenthoff, Die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen im Lichte des Autonomieprinzips, S. 214. 556 Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (584).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

1. Prozedurales Vorbild nach niederländischem Recht Die Niederlande haben im Jahre 2002 ihr Sterbehilferecht grundlegend reformiert und Art. 293 ndlStGB dahingehend geändert, dass dieser begrenzt und in einem gesetzlich abgesteckten Rahmen eine aktiv durchgeführte Sterbehilfe straflos stellt. Zuvor wurde die gewandelte Rechtsauffassung bezüglich aktiver Sterbehilfe bereits durch juristische Behelfskonstruktionen und eine Einschränkung des Legalitätsprinzips erreicht.557 In der sodann kodifizierten Regelung, die weltweites Aufsehen erregt(e) und teilweise Nachahmung erfahren hat,558 tritt in charismatischer Weise der verfahrensrechtliche Gehalt und der mit ihm in Aussicht gestellte Aspekt einer grundrechtlichen Sicherung durch Verfahren hervor. Die Tötung eines anderen Menschen bleibt trotz dessen ausdrücklichem und ernsthaftem Verlangen nach Art. 293 Abs. 1 ndlStGB grundsätzlich strafbar. Nach Art. 293 Abs. 2 ndlStGB wird aber nicht bestraft, wer sich als Arzt an die von Art. 2 des „Gesetzes zur Überprüfung von Lebensbeendigungen auf Verlangen und Hilfe bei der Selbsttötung“ gestellten Voraussetzungen gehalten und den Leichenbeschauer nach Art. 7 Abs. 2 des „Gesetzes über das Leichen- und Bestattungswesen“ informiert hat. Die Sorgfaltskriterien des genannten Art. 2 umfassen u. a. die Straflosigkeitsvoraussetzung, dass der Arzt sich überzeugt, dass sowohl ein freiverantwortliches und reiflich überlegtes Verlangen des Patienten auf der einen Seite als auch dessen aussichtsloses, unerträgliches Leiden auf der anderen Seite vorliegt. Der Arzt muss den Patienten über seine Diagnose und Prognose aufklären und mit ihm gemeinsam zu dem Schluss gelangen, dass kein anderer angemessener Ausweg mehr für ihn besteht. Als weitere Voraussetzung muss mindestens ein zweiter, unabhängiger Arzt hinzugezogen werden, der nach einer Untersuchung des Patienten ebenfalls die Sorgfaltskriterien des Art. 2 schriftlich bestätigt. Nach der medizinisch sorgfältig durchgeführten aktiven Sterbehilfe muss der Arzt mittels eines vorgefertigten Formulars den Vorfall an den kommunalen Leichenbeschauer melden, der sodann die Einhaltung der Sorgfaltskriterien überprüft. Stellt er fest, dass er aufgrund einer Missachtung der Sorgfaltsanforderungen keinen Totenschein ausstellen darf, hat er mittels eines vorgesehenen Formulars die Staatsanwaltschaft zu informieren. Zusätzlich ist der ganze Vorgang vom Leichenbeschauer unverzüglich einer regionalen Kontrollkommission zu melden,

557

Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 50; Hochgrebe, Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in der Bundesrepublik Deutschland?, S. 84; Reuter, Die gesetzliche Regelung der aktiven ärztlichen Sterbehilfe des Königreichs der Niederlande – ein Modell für die Bundesrepublik Deutschland?, S. 15. 558 Belgien und Luxemburg schlossen sich den Niederlanden in der Zulassung einer aktiven Sterbehilfe an und führten ähnliche Regelungsmodelle ein, vgl. Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 51. Auffällig ist insbesondere die zwingend notwendige Hinzuziehung eines weiteren Arztes, die in beiden Gesetzen unabdingbare Voraussetzung einer straflosen Sterbehilfe geworden ist.

D. Exkurs

279

die sämtliche Fälle aktiver Tötung auf die Beachtung der Sorgfaltskriterien hin überprüft.559 Die begrenzte Zulassung aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden dürfte auch der in Deutschland nie ganz verstummten Diskussion neuen Auftrieb verliehen haben. Im Folgenden werden daher Vorschläge dargestellt, die eine begrenzte Zulassung aktiver Sterbehilfe in Deutschland zum Inhalt haben. 2. Prozedurale Vorschläge für ein deutsches aktives Sterbehilferecht Lehnt man eine begrenzte Zulassung der aktiven Sterbehilfe in Deutschland aufgrund des Arguments der „Unverfügbarkeit des Lebens“ oder dem allseits bekannten „Dammbruch“- bzw. Missbrauchsargument nicht grundsätzlich ab, sondern befürwortet eine Lockerung des als nicht mehr zeitgemäß empfundenen § 216 Abs. 1 StGB, finden sich in der Literatur insbesondere prozedural geprägte Lösungsansätze. Mithilfe dieser wird versucht, die Gefahren, aus denen sich die Existenzberechtigung des § 216 Abs. 1 StGB im Kern speist, aufzufangen und zu kompensieren. Während Joerden ein an die Regelung des § 218a Abs. 1 StGB angelehntes Verfahren vorschlägt, in dem der Sterbewillige sich einer Beratung „pro vita“ unterziehen müsse, bevor er dann eine selbstverantwortliche Entscheidung für die aktive Sterbehilfe treffen dürfe,560 spricht sich auch Hoerster für eine Absicherung der Freiverantwortlichkeit des Sterbewillens durch prozedurale Kautelen wie eine schriftliche Dokumentation aus.561 Andere Ansichten schlagen für eine Regelung aktiver Sterbehilfe de lege ferenda die prozedurale Hinzuziehung eines beurkundenden Notars oder eines Gerichts vor.562 Daneben wird der Einsatz einer Ethikkommission als prozedurale Lösung vorgeschlagen, um eine aktive Sterbehilfe in Deutschland ermöglichen zu können.563 Auch Saliger sieht nicht nur beim Behandlungsabbruch nach den §§ 1901a ff. BGB eine Prozeduralisierungsmöglichkeit, sondern hält diese in allen Bereichen der Sterbehilfe für möglich und gewinnbringend.564

559

Vgl. hierzu Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 50 f.; Hochgrebe, Legalisierung der aktiven Sterbehilfe in der Bundesrepublik Deutschland?, S. 80 ff.; Schreiber, in: FS Rudolphi, S. 543 (546 f.). 560 Joerden, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 275 (289 f.). 561 Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, S. 169 f. Ebenso Castillo Montt, Die strafrechtliche Behandlung der Sterbehilfe im deutschen und chilenischen Recht, S. 192 f. 562 Vgl. Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 51 f. m. w. N. 563 Rosenau, in: FS Roxin, S. 577 (590). 564 Vgl. den Nachw. in 7. Kap., Fn. 379.

280

7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Prozedurale Vorschläge beschränken sich aber indes nicht auf den Bereich der Zulassung einer aktiven Sterbehilfe de lege ferenda, sondern waren auch bei § 217 StGB, der mit Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 für verfassungswidrig erklärt wurde, in den Reformvorschlägen deutlich präsent.565 Letztendlich wurde auch mit dem „Fuldaer Fall“, in welchem die „indirekte Sterbehilfe“ als Fall einer (mutmaßlichen) Einwilligung des Patienten kategorisiert wurde,566 diese zum Teil in eine prozedurale Form gegossen, auch wenn man über die Richtigkeit dieses „obiter dictum“ durchaus streiten kann.567

II. Prozedurale Komponenten im Bereich der sog. „Früheuthanasie“ Tendenzen einer Prozeduralisierung im Sterbehilfebereich lassen sich jedoch nicht nur bei Behandlungsabbrüchen und -nichtaufnahmen volljähriger Patienten, sondern auch bei der Begrenzung bzw. Nichtaufnahme medizinischer Intensivbehandlungen bei Neugeborenen feststellen. Bei diesen fällt die Grenze zwischen Lebensbeginn und möglichem Lebensende zeitlich besonders eng zusammen, und es handelt sich damit um äußerst diffizile und emotional durchdrungene Entscheidungslagen.568 Bei „schwerstgeschädigten“569 oder extrem unreifen Neugebo­ renen570 stellt sich die strafrechtlich relevante Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen medizinische Intensivmaßnahmen unterlassen werden dürfen, das Neugeborene also nicht mit allem medizinisch Machbaren am Leben erhalten werden muss.571 Bei der sog. „Früheuthanasie“572 stellt sich als besonders problematisch dar, dass nicht auf das Selbstbestimmungsrecht des Neugeborenen abgestellt werden kann, weil es nicht fähig ist, einen (mutmaßlichen) Willen zu bilden.573 565

Vgl. die Darstellung der unterschiedlichen prozeduralen Reformentwürfe des § 217 StGB bei Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 269 ff. Castillo Montt, Die strafrechtliche Behandlung der Sterbehilfe im deutschen und chilenischen Recht, S. 192 f. schlägt de lege ferenda eine weitere Prozeduralisierung im Bereich der Sterbehilfe – auch im Bereich der ärztlichen Suizidbeihilfe – vor. Das BVerfG erklärte mit Urteil vom 26.02.2020 die Strafvorschrift des § 217 StGB für verfassungswidrig. 566 BGHSt 55, 191 (204 Rdnr. 34). 567 Vgl. die Nachw. in 2. Kap., Fn. 301. 568 Nagel, Die ärztliche Behandlung Neugeborener – Früheuthanasie, S. 17 f. verdeutlicht die Tragik der Materie anhand von Fallbeispielen. 569 Zum Begriff des „schwerstgeschädigten Neugeborenen“ vgl. Glöckner, Ärztliche Handlungen bei extrem unreifen Frühgeborenen, S. 26 ff. 570 Zur Terminologie und möglichen Ursachen einer Frühgeburt Glöckner, Ärztliche Handlungen bei extrem unreifen Frühgeborenen, S. 10 ff. 571 Glöckner, VuR 2008, 458; Schneider, in: MüKo-StGB, Vor § 211 Rdnr. 181. 572 Zu diesem Begriff Laber, MedR 1990, 182 (182 f.). 573 Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 49; Laber, MedR 1990, 182 (185 f.); Roxin, in: Roxin / Schroth, Handbuch des Medizinstrafrechts, S. 75 (119) stellt daher auf den rechtfertigenden Notstand ab; a. A. Glöckner, VuR 2008, 458 (463), der den mutmaßlichen Willen des Neugeborenen anhand objektiver Kriterien bestimmen will; in die gleiche Rich-

D. Exkurs

281

Ein „spezifisches Nichtwissen“ bezüglich des mutmaßlichen Willens des Neugeborenen kann vorliegend schon im Kern nicht rational durch eine Wissens­ akkumulation überbrückt werden. Allerdings ergeben sich aus der Warte des „Nichtwissens“ erhebliche Prognoseunsicherheiten im Hinblick auf den zukünftigen Verlauf des gesundheitlichen Zustands des Neugeborenen,574 weshalb kognitive Unsicherheiten auch hier eine erhebliche Rolle spielen. Eine Rechtssicherheit spendende Regelung liegt auch in diesem Bereich nicht vor, weshalb die intrikaten Fragen als weitgehend ungeklärt575 und als bislang keinen befriedigenden Antworten zugeführt angesehen werden.576 Auf der anderen Seite wird aber ebenso in Zweifel gezogen, ob es überhaupt eine richtige gesetzliche Regelung dieser Materie geben könne.577 Mit den „Einbecker Empfehlungen“578 und den Grundsätzen der Bundesärzte­ kammer zur Sterbebegleitung von 2011579 liegen jedoch zumindest ärztliche Orientierungshilfen vor. Nach den „Einbecker Empfehlungen“ werden Fälle anerkannt, in denen der Arzt nicht verpflichtet ist, die Intensivmedizin vollkommen auszuschöpfen. Nach Ziffer V dieser Empfehlungen liegt diese Ausnahmesituation vor, wenn nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erfahrungen und menschlichem Ermessen das Leben des Neugeborenen nicht auf Dauer erhalten werden kann, sondern ein in Kürze zu erwartender Tod nur hinausgezögert wird. Ziffer VI. besagt, dass für den Arzt ein Beurteilungsspielraum für die Indikation von medizinischen Behandlungsmaßnahmen besteht, insbesondere wenn diese dem Neugeborenen nur ein Leben mit äußerst schweren Schädigungen ermöglichen würden, für die keine Besserungschancen bestehen. Nach Ziffer VII.1. sind die Eltern durch Beratung und Information in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen. Gegen ihren Willen darf eine Behandlung nicht unterlassen oder abgebrochen werden.

tung Neumann, in: NK-StGB, Vor § 211 Rdnr. 137. Im Ergebnis führen beide Ansichten wohl zu ähnlichen Ergebnissen, nachdem zwangsläufig objektive Kriterien herangezogen werden (müssen). 574 Glöckner, VuR 2008, 458 (464); Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 316. 575 Neumann, in: NK-StGB, Vor § 211 Rdnr. 136. Insbesondere stehen die Entscheidungsträger und ihr jeweiliges Verhältnis zueinander in Frage, vgl. Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 315 ff. 576 Eser / Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 211 ff. Rdnr. 32a. 577 Glöckner, VuR 2008, 458 (464); ähnlich Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 316. 578 Einbecker Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) vom 29.06.1986, abgedruckt in MedR 1986, 281 f.; MedR 1992, 206 f. (Revidierte Fassung 1992). 579 Bundesärztekammer, DÄBl. 2011, A 346 (A 348). Als weitere Orientierungshilfe existiert die Gemeinsame Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe / Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin / Deutschen Gesellschaft für Perinatale Medizin u. a., Frühgeborene an der Grenze der Lebensfähigkeit (derzeit ist die Leitlinie allerdings noch nicht wieder aktualisiert).

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7. Kap.: Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte

Nach den oben genannten Grundsätzen der BÄK können bei „Neugeborenen mit schwersten Beeinträchtigungen durch Fehlbildungen oder Stoffwechselstörungen, bei denen keine Aussicht auf Heilung oder Besserung besteht“, im elterlichen Einvernehmen lebenserhaltende Maßnahmen unterlassen oder beendet werden. Das Gleiche soll für „extrem unreife Kinder, deren unausweichliches Sterben abzusehen ist“ und für Neugeborene, die „schwerste zerebrale Schädigungen erlitten haben“, gelten. Es zeigen sich in den Regelungen, die dem Arzt und den Eltern Entscheidungsbefugnisse zusprechen und im Konfliktfall eine gerichtliche Einschaltung statuieren, bereits grundsätzliche Parallelen zum konsensual beratenden Konsil der §§ 1901a ff. BGB.580 Es verwundert daher nicht, dass auch in diesem Bereich prozedural absichernde Verfahrensmaßnahmen wie die Einschaltung überregionaler Ethikkommissionen581 oder die Beratungshilfe durch interdisziplinäre Gremien582 als Lösungsvorschläge dargeboten werden, um einerseits die Rationalität der Entscheidung zu steigern und andererseits die alleinige Last der Entscheidungsverantwortlichen abzuschwächen.583 Nachdem ein Wille des Neugeborenen nicht gemutmaßt werden kann, müssen – von der Grenze des ärztlichen Behandlungsauftrags abgesehen – zwangsläufig objektivierte Kriterien herangezogen werden. Dies stellt sich unter dem qualitativ nicht abstufbaren Lebensrecht, das jedem – unabhängig von seiner körperlichen oder geistigen Verfassung – zusteht, als verfassungsrechtlich höchst problematisch dar.584 Dennoch muss das Strafrecht – auch vor dem Hintergrund, dass Frühgeburten angesichts der Zunahme Spätgebärender und durch „In-vitro-Fertilisation“ (IVF) erzeugter Mehrlingsschwangerschaften eher zunehmen werden585 – für Rechtssicherheit sorgen. Im Gegensatz zum geregelten Verfahren der §§ 1901a ff. BGB besteht über die Entscheidungsgewalt der Betroffenen hinsichtlich eines Behandlungsabbruchs bzw. -verzichts bei einem Neugeborenen Uneinigkeit.586 Neben den aufgezeigten prozedural-empfänglichen Parallelen bestehen daher auch schwerwiegende mo 580 Vgl. dazu Nagel, Die ärztliche Behandlung Neugeborener – Früheuthanasie, S. 88 f. Danach sollen Arzt und Eltern zwingend aufeinander angewiesen sein, weil der Arzt die Einwilligung der Eltern in die Behandlung des Neugeborenen benötige und die Eltern auf ein Behandlungsangebot des Arztes angewiesen seien. Die Indikation soll aber im Rahmen eines Indikationsgesprächs von den Eltern mitbeeinflusst werden können; vgl. auch Tag, Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis, S. 317. 581 So der Vorschlag von Everschor, Probleme der Neugeboreneneuthanasie und der Behandlungsgrenzen bei schwerstgeschädigten Kindern und ultrakleinen Frühgeborenen aus rechtlicher und ethischer Sicht, S. 86 ff. sowie S. 103 f. 582 Ulsenheimer, Z. aerztl. Fortbild. 1993, 875 (880). 583 Glöckner, VuR 2008, 458 (464); Saliger, KritV 1998, 118 (150 f.). 584 Vgl. Eser / Sternberg-Lieben, in: Sch / Sch-StGB, Vor §§ 211 ff. Rdnr. 32a m. w. N. 585 Nagel, Die ärztliche Behandlung Neugeborener – Früheuthanasie, S. 19 m. w. N. 586 Vgl. aber OLG Brandenburg, NJW 2000, 2361 (2362), wonach eine elterliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch eines Minderjährigen keiner Gerichtsentscheidung nach § 1904 BGB a. F. analog bedarf; im Erg. zust. Nagel, Die ärztliche Behandlung Neugeborener – Früheuthanasie, S. 140 ff.

D. Exkurs

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ralische Unwägbarkeiten, die ein Kennzeichen prozeduraler Regelungen darstellen. Sollte sich der Gesetzgeber zu einer Regelung der Materie letztendlich doch durchringen, werden auch hier spezifische Verfahrensschritte zu beachten sein müssen, bevor eine derart existenzielle Entscheidung getroffen wird, die einen irreversiblen Verlauf in Gang setzt.

III. Fazit Der Exkurs lässt erkennen, dass nicht nur im Bereich der Zulassung aktiver Sterbehilfe de lege ferenda die Umsetzung prozeduraler Lösungsansätze diskutiert und teilweise begrüßt wird, sondern dass diese das gesamte Sterbehilferecht durchziehen. Prozedurale Schutzmechanismen und ihr Vorteil gegenüber strafrechtlichen ex post-Beurteilungen werden gerade in diesem Bereich emotionaler, existenzieller und nicht wiederholbarer Entscheidungen besonders wertgeschätzt. Ihr Verdienst geht jedoch über eine bloße Wertschätzung hinaus. Es zeigt sich, dass „prozedurale Helfer“ im Bereich der Sterbehilfe unabdingbare Voraussetzung eines angemessenen grundrechtlichen Schutzniveaus sind. Unabhängig von der nicht zu entscheidenden Grundsatzfrage, ob im Ergebnis eine Einschränkung der Verbotsnorm des § 216 Abs. 1 StGB mit Blick auf das verfassungsrechtlich gewährleistete Selbstbestimmungsrecht de lege ferenda geboten ist oder nicht, sollte es bereits eine Vorzeichnung in der Frage geben, wie diese in Gesetz gegossene Einschränkung auszusehen hätte: Bei einer derart weitreichenden, das Sterbehilferecht grundlegend umstrukturierenden und die gesellschaftspolitische Debatte neu entfachenden Reform wäre es ein fataler Fehler des Gesetzgebers, sich nicht der antizipativen Sicherungen prozeduralen Rechts zu bedienen, die bereits im Rahmen der ehemals „passiven Sterbehilfe“ als Vorläufer im Sterbehilferecht implementiert wurden. Gleiches gilt für eine gesetzliche Regelung anderer Sterbehilfeformen, mithin auch der „Früheuthanasie“ de lege ferenda. Weil teils die Gefahr bestehen könnte, dass die Betroffenen sich nach dem Durchlaufen des Verfahrens gezwungen fühlen, dieses nach der ganzen formellen Tortur schließlich auch zu Ende bringen zu müssen587, muss folglich darauf geachtet werden, dass das Verfahren und seine Anforderungen zum Zweck stets in einem ausgewogenen Verhältnis stehen und die Betroffenen immer wieder auf die Eigenverantwortlichkeit der Entscheidung hingewiesen werden. Mögen Verfahren als Durchlaufen einer „Checkliste“ auch vieles absichern können, das zwischenmenschliche Gefüge und die interpersonelle Intuition aber können und dürfen sie nicht überdecken.

587

Vgl. Hilgendorf, Einführung in das Medizinstrafrecht, S. 52.

8. Kapitel

Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge A. Prozedurale Umsetzung der Präimplantationsdiagnostik de lege ferenda Die Analyse der prozeduralen Regelung der PID nach § 3a ESchG hat ergeben, dass diese im Vergleich zu den Regularien des Schwangerschaftsabbruchs unverhältnismäßig ausfällt und zu einem Wertungswiderspruch führt. Eine Prozeduralisierung wird in dieser Ausgestaltung im Ergebnis daher abgelehnt. Nachdem allerdings festgestellt wurde, dass sich die PID für prozedurale Strukturen grundsätzlich eignet bzw. diese durchaus auch benötigt, könnte im Rahmen einer Regelung, die sich an § 218a Abs. 2 StGB orientiert, über zusätzlich sichernde, prozedurale Strukturmerkmale nachgedacht werden. Beispielsweise könnte die Hinzuziehung eines zweiten Arztes angedacht werden, welcher unabhängig vom behandelnden Arzt feststellt, dass eine Gefahr für das physische oder psychische Wohlergehen der Frau besteht. Hierdurch könnte auch der prozedurale Diskurs in eine Neuregelung teilweise integriert werden.

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte Bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 1 StGB und dem sterbehilferechtlichen Behandlungsabbruch wurde die grundsätzliche Konformität eines Einsatzes von Prozeduralisierung bestätigt, respektive letzterer als unumgänglich für einen effektiven Rechtsgüterschutz erachtet. Auch das Rechtssicherheitsbedürfnis der Beteiligten lässt eine Prozeduralisierung in diesen Bereichen als notwendig erscheinen. Im Anschluss sollen die beiden prozeduralen Regelungskonstrukte miteinander verglichen werden, um Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede herausarbeiten zu können. Daraus soll sich schließlich eine dogmatisch schlüssige Umsetzungsmöglichkeit für beide Lebensschutzkonzepte ergeben. Die jeweils vorgeschlagene dogmatische Einordnung erfolgt vor dem spezifisch prozeduralen Hintergrund der einzelnen Lebensschutzbereiche. Sie stützt sich daher auf die erarbeiteten prozeduralen Erkenntnisse der Arbeit. Prozeduralisierung und Strafrecht müssen aufeinander abgestimmt werden, um dogmatisch schlüssige

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte 

285

Ergebnisse zu erzielen. Letztere sind ohne Auseinandersetzung mit dem jeweils prozeduralen Hintergrund beider Lebensschutzkonzepte nur schwer erreichbar.

I. Parallelen und Gemeinsamkeiten der medizinstrafrechtlichen Lebensschutzkonzepte 1. Vorliegen von normativen und empirischen Defiziten Die Regelungsmaterien weisen nach eingehender Analyse enorme materielle Defizite auf, denen mittels inhaltlicher Determinierung nicht abgeholfen werden kann. Während im Recht des Schwangerschaftsabbruchs normative Unsicherheiten bezüglich der Regelung einer sozialen Notlagenindikation bestehen, für die der grundrechtliche Ausgleich in einem Verfahren mit Letztentscheidung der Schwangeren gesucht wird, bestehen im Rahmen des Behandlungsabbruchs Wissens­ defizite im Hinblick auf das materielle Kriterium des Willens des Patienten. Bei beiden Regelungskomplexen tritt deutlich zu Tage, dass der Gesetzgeber sich materiell nicht festlegen konnte oder wollte. Am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes bestehen demnach besondere Defizite im Normativen und im Tatsächlichen. Gerade an diesen beiden existenziellen Anfangs- und Endpunkten menschlichen Lebens bestehen Unsicherheiten – nicht zuletzt aufgrund der fehlenden unumstrittenen Definitionsgewalt des Gesetzgebers über den Beginn und das Ende des einzelnen Lebens. Beim Schwangerschaftsabbruch entgeht der Gesetzgeber durch die Übertragung der Entscheidung auf die Frau schwierigen Abgrenzungsfragen bezüglich der biologischen und verfassungsrechtlichen Stellung des Embryos. Im Rahmen des Behandlungsabbruchs überträgt er die Entscheidungs­befugnis über den mutmaßlichen Willen des Einwilligungsunfähigen einem Konsulat aus Betreuer, Arzt und Betreuungsgericht. Sobald ein „nur“ mutmaßlicher Wille erkennbar ist, wird auf diesen abgestellt und es erübrigt sich damit die diffizile und verfassungsrechtlich höchst problematische Frage, inwieweit das Leben des schwerstkranken Einwilligungsunfähigen noch als objektiv lebenswert aufgefasst wird. Durch die prozedurale Ausgestaltung wird damit in beiden Fällen eine Festlegung im Hinblick auf materielle Kriterien, die mit dem Leben in Verbindung stehen, umgangen.

286

8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

2. Hieraus resultierende prozedurale Bedürftigkeit Die gerade am Anfang und am Ende des menschlichen Lebens festzustellende Prozeduralisierung im Strafrecht kann daher nicht als Zufall angesehen werden. Gerade in diesen höchst schützenswerten und sensiblen Bereichen werden prozedurale Sicherungen eingebaut, um eine Entscheidung zu treffen, die den – gerade hier häufig zu überbrückenden – materiellrechtlichen Kriterien am nächsten kommt. Besonders in den Grenzsituationen des Lebens besteht ein strafrechtlicher Bedarf an prozeduralen Komponenten, um die genannten Unsicherheiten abfangen, aber dennoch Grenzen statuieren zu können. Auch sollen dabei keine Legitimationseinbußen erlitten werden, die mit einer absoluten, strikten Normierung zu befürchten wären. Die dargelegte, auf vielfältigen Gründen basierende Prozeduralisierungsempfänglichkeit des Medizinstrafrechts zeigt sich an den Schnittstellen des strafrechtlichen Lebensschutzes daher besonders signifikant. 3. Umsetzung Sowohl der Gesetzgeber als auch die judikative Gewalt (im Fall des Behandlungsabbruchs) haben die medizinstrafrechtliche Angewiesenheit auf prozedurale Strukturen erkannt und sich ihrer bedient. Beide Lebensschutzkomplexe ziehen sämtliche prozeduralen Merkmale heran, wobei ihre jeweilige Intensität den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Beim Schwangerschaftsabbruch spielt trotz eines Verbots des Redezwangs das Kriterium der Diskursivität im Beratungsgespräch eine herausgehobene Rolle. Auch bei der Regelung der §§ 1901a ff. BGB tritt das diskursive Element der Beratung zwischen Betreuer und Arzt deutlich in den Vordergrund. Die jeweilige Beachtung der beiden medizinstrafrechtlichen Verfahren führt im Ergebnis praktisch zur Straffreiheit der Beteiligten, wobei eine vollkommene Akzeptanz durch das Strafrecht in beiden Fällen vorenthalten wird. Bei der Regelung des Schwangerschaftsabbruchs entfällt nach Beachtung des Beratungsverfahrens zwar der Tatbestand des § 218 StGB nach § 218a Abs. 1 StGB, der Abbruch bleibt jedoch rechtswidrig. Im Fall des Behandlungsabbruchs wird nach Einhaltung des Prozederes der §§ 1901a ff. BGB zwar auch im Ergebnis faktische Straffreiheit angenommen, jedoch nach überwiegender Ansicht nur durch die Annahme eines Erlaubnistatbestandsirrtums, verbunden mit einem Wegfall des Fahrlässigkeitsvorwurfs. Eine prozedurale Rechtfertigungskraft des Verfahrens der §§ 1901a ff. BGB wird von der Literatur weitestgehend abgelehnt. Dadurch manifestiert sich in beiden strafrechtlichen Regelungskomplexen noch eine deutliche Skepsis in Bezug auf die bedingungslose Annahme prozeduraler Elemente im Medizinstrafrecht. Bei beiden Regelungskomplexen tritt ebenso

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte 

287

evident die ex ante-Sicht hervor. Bevor ein Schwangerschaftsabbruch durchgeführt wird oder bevor lebenserhaltende Geräte endgültig abgestellt werden, soll in einem Verfahren die Strafbarkeit des Verhaltens vorab festgestellt werden. Es herrscht damit eine durchaus vergleichbare Struktur in beiden Lebensschutzkonzepten vor. 4. Intention und Wirkung der Umsetzung Eine weitere Gemeinsamkeit der Lebensschutzkomplexe kann darin gesehen werden, dass beide strafrechtlichen Regelungen zunächst ein Exempel zugunsten des Lebensschutzes statuieren. Die Regelung des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB bringt als Grundnorm die Strafbarkeit und die Strafwürdigkeit des Schwangerschafts­ abbruchs zum Ausdruck. Im Recht der Sterbehilfe exemplifiziert die Strafnorm des § 216 Abs. 1 StGB die Absolutheit des Lebensschutzes, die im Falle einer aktiven Tötung durch Dritte dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten vorgeht. In beiden Fällen ermöglichen aber prozedurale Verfahren eine Abweichung von diesen normativen Lebensschutzpostulaten. Der Tatbestand des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB entfällt nach § 218a Abs. 1 StGB bei Verfahrensbeachtung, ebenso wie die Strafnorm des § 216 Abs. 1 StGB nicht verwirklicht wird, wenn ein willensgemäßer, tätiger Behandlungsabbruch nach den §§ 1901a ff. BGB erfolgt. Es wird folglich ein Exempel zugunsten des strafrechtlichen Lebensschutzes statuiert, aber die Handhabung dahinter durch prozedurale Vorkehrungen abgeschwächt. Eine straflose Abweichungsmöglichkeit von der Strafnorm wird durch die Einhaltung eines Verfahrens vereinfacht. Der Grund hierfür könnte darin liegen, dass das Strafrecht in beiden rechtlichen Materien auf erhebliche Legitimationsprobleme trifft. Im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs geht es – auch wenn das Lebensrecht des Embryos auf dem Spiel steht – um eine höchstpersönliche Entscheidung der Schwangeren mit dem Umgang einer elementaren Konflikt- und Notsituation, die ihren eigenen Körper betrifft. In dieser Lage erscheint der Einsatz strafrechtlicher Instrumente zumindest legitimierungsbedürftiger als in anderen Bereichen, in welchen die Notwendigkeit eines strafrechtlichen Einsatzes im Grundsatz nicht bestritten wird. In einer derartigen, emotionalen Konfliktlage mit einer unbedingten Strafdrohung aufzuwarten, erscheint nicht zielführend. Bei einem angesinnten Behandlungsabbruch besteht die unausweichliche Situation, eine Entscheidung treffen zu müssen. Diese Notwendigkeit resultiert aus der Feststellung, dass der mutmaßliche Wille eines Einwilligungsunfähigen einen Behandlungsabbruch rechtfertigen kann und dieser folglich ermittelt werden muss. Die Alternative wäre eine bedingungslose, maschinelle Lebensverlängerung, die mit Blick auf die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht als wirkliche Alternative bestehen kann.

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

In dieser Situation stellt sich sodann die Frage, wer die Entscheidung treffen darf bzw. muss. An dieser Stelle zeigt sich ebenfalls die Schwierigkeit des Strafrechts, sich in einer derart emotional belastenden Lage zu behaupten. Folgendes ist sich aber zu vergegenwärtigen: Es war eine Entscheidung zu treffen „und niemand in der Lage des Entscheidenden hätte sie richtiger treffen können“1. Würde das Strafrecht an dieser Stelle bedingungslos eingreifen und die Strafbarkeit der Beteiligten von der letztgültigen Entscheidung des Strafgerichts, ob dieses der Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten folgt oder nicht, abhängig machen, würde sich kein Konzil bereit erklären, die Willensermittlung des Patienten in die Hand zu nehmen. Es würde in Zukunft an prozeduralen Entscheidungsträgern mangeln. Das verfassungsrechtlich verbürgte Konstrukt des mutmaßlichen Willens könnte nicht umgesetzt werden. Das Strafrecht stößt daher sowohl am Anfang als auch am Ende des mensch­ lichen Daseins auf erhebliche Legitimationsschwierigkeiten, aus denen prozedurales Strafrecht einen mittleren Ausweg weist. Prozedurales Strafrecht hält strafrecht­liche Gebote in diesen Bereichen durchaus präsent, gibt aber eher Zielvorgaben als determinierte Bestimmungen vor. Es vertraut auf das Verantwortungsbewusstsein der Verfahrensbeteiligten und verlagert die Strafrechtsgewalt auf die Entscheidungsbedingungen der Handelnden. In beiden Bereichen werden dadurch Vorschriften anderer Rechtsgebiete relevant. Beim Schwangerschaftsabbruch sind es die öffentlichrechtlichen Regelungen des SchKG, beim Behandlungsabbruch die zivilrechtlichen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB. Prozedurales Medizinstrafrecht trägt damit zu einer verstärkten intradisziplinären Verwachsung der Rechtsgebiete bei. 5. Kritik an einer Prozeduralisierung im Bereich des strafrechtlichen Lebensschutzes Eine weitere Gemeinsamkeit der Prozeduralisierung am Lebensanfang mit der Prozeduralisierung am Lebensende ist die jeweilige Kritik und das Misstrauen, das ihnen entgegengebracht wird. Die Kritik bezieht sich auf die Wirkungskraft verfahrensrechtlicher Vorschriften im Allgemeinen und ist im Ursprung auch mit der Kritik an prozeduralen Gerechtigkeitstheorien der Rechtsphilosophie verwandt. Bloße Verfahren seien unzulänglich, sie könnten weder Wahrheit noch Gerechtigkeit produzieren. Verfahren würden nur sich selbst schützen; das schützenswerte Rechtsgut gerate dadurch aus dem Blickwinkel des Strafrechts.

1

Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (744).

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte 

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Während es beim prozedural geregelten Schwangerschaftsabbruch heißt, „das Kind [gehe im Verfahren] verloren“2, heißt es auch bei der prozedural geregelten Ermittlung des Willens des Einwilligungsunfähigen, dass dem Konzept der §§ 1901a ff. BGB „ein arg simplifizierendes, reduktionistisches Verständnis von ‚Selbstbestimmung‘ […]“3 zugrundeliege, das einem „Autonomieplacebo“4 gleiche. Die Regelungen der §§ 1901a ff. BGB seien zu inhaltsleer, um eine effiziente Gewähr für die Ermittlung des Willens bieten zu können.5 Insgesamt wird den beiden strafrechtlichen Lebensschutzkonzepten vorgeworfen, dass der absolute Lebensschutz unter ihrer Führung leide. Dass dies im Ergebnis nicht der Fall ist, wird im Folgenden zu zeigen sein. 6. Unschlüssigkeit der dogmatischen Umsetzung Betrachtet man die praktische Umsetzung der prozeduralen Merkmale in die legislativen und judikativen Lebensschutzkonzepte, lässt sich auch hier eine weitere Gemeinsamkeit feststellen. Weder die prozedurale Regelung des § 218a Abs. 1 StGB noch die prozedurale Umsetzung der Willensermittlung im Rahmen der §§ 1901a ff. BGB stellt eine tragbare dogmatische Konstruktion dar. Die Regelung des § 218a Abs. 1 StGB stellt eine dogmatische Ausnahmskons­ truktion dar, die sich in das deutsche Strafrechtssystem nicht einpasst. Sie führt zu Verwirrung und Verunsicherung, indem sie versucht, ein ethisches Fundament in die strafrechtliche Regelung des § 218a Abs. 1 StGB zu zementieren. Beim Behandlungsabbruch entstehen ebenfalls dogmatische Schwierigkeiten. Die mutmaßliche Einwilligung des nicht äußerungsfähigen Patienten wird als Einwilligung in den (auch tätigen) Behandlungsabbruch gesehen und soll diesen strafrechtlich rechtfertigen. Hierdurch entsteht ein Konflikt mit der Einwilligungssperre des § 216 Abs. 1 StGB, der nur durch sprachliche Feinheiten im Wege der Auslegung des Begriffs des Behandlungsabbruchs gelöst werden kann. Beide strafrechtlichen Lebensschutzkonzepte weisen daher deutliche Schwierigkeiten auf, eine Prozeduralisierung überzeugend umzusetzen. Dies könnte daran liegen, dass sie die prozeduralen Vorteile einerseits abschöpfen und sich zunutze machen wollen, dass sie andererseits aber nicht bereit sind, die daraus resultierenden dogmatischen Bedingungen als Gesamtkonstrukt vollends zu akzeptieren und umzusetzen. Es handelt sich bei beiden Regelungskomplexen daher um ein „Rosinenpicken“, das dogmatische Brüche im Konzept des Lebensschutzes nach 2

von Hippel, in: FS Geerds, S. 137 (147) mit Fn. 37. Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (579). 4 Duttge, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 569 (593). 5 Borrmann, Akzessorietät des Strafrechts zu den betreuungsrechtlichen (Verfahrens-) Regelungen die Patientenverfügung betreffend (§§ 1901a ff. BGB), S. 205 ff. 3

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

sich zieht. Dies stellt sich als besonders schwerwiegender Mangel dar, weil das Strafrecht auf klare dogmatische Wertungen bauen muss, um von der Gesellschaft die notwendige Akzeptanz zu erhalten.

II. Unterschiede der medizinstrafrechtlichen Lebensschutzkonzepte Neben den genannten Gemeinsamkeiten der Prozeduralisierungskonzepte am Anfang und am Ende des menschlichen Daseins bestehen aber auch gravierende Unterschiede, die es für die dogmatische Umsetzung zu berücksichtigen gilt. Beiden Prozeduralisierungskonzepten liegen unterschiedliche Ausgangslagen zugrunde, die man sich im Folgenden bewusst zu machen hat. Beim Schwangerschaftsabbruch existiert die strafrechtliche Ausnahmesituation, dass nur die Schwangere selbst in der Lage ist zu beurteilen, ob die Geburt eines Kindes für sie nach ihren Lebensverhältnissen eine unzumutbare Beeinträchtigung darstellt, die von der Rechtsordnung als materieller Rechtfertigungsgrund anerkannt würde. Beim Schwangerschaftsabbruch existiert keine Möglichkeit, die Rechtfertigung durch Dritte überprüfen zu lassen.6 Außenstehende können diese höchstpersönliche Konfiktlage der Schwangeren nicht nachvollziehen, geschweige denn bewerten. Die Resilienz der Schwangeren ist individuell und keiner rechtlichen Prüfung zugänglich. Es besteht durch die körperliche Verbindung die Besonderheit, dass eine Entscheidung immer nur zulasten des einen Rechtsguts erfolgen kann und ein wirklicher Kompromiss in diesem Sinne nicht herstellbar ist. Beim Abbruch der Schwangerschaft gibt es materiellrechtlich nicht „die richtige“ Entscheidung durch das Strafrecht. Sie gibt es auch aus einer ex post-Perspektive nicht. Nur die Schwangere selbst kann diese Entscheidung treffen. Das materielle Recht hat letztere nach Verfahrensbeachtung zu übernehmen. Die Entscheidung soll durch das Verfahren der materiell richtigen Entscheidung nicht möglichst nahekommen, sie tritt vielmehr an die Stelle der materiell „richtigen“ Entscheidung, weil letztere in der Rechtswirklichkeit nicht vorhanden ist. Ein objektiv rechtlicher Beurteilungsmaßstab der getroffenen Entscheidung existiert nicht. Es gibt in dieser Situation keinen verfahrensexternen Maßstab, nach welchem sich das Verfahren zu richten hätte. Das Verfahren soll vielmehr dazu führen, dass die Schwangere in die Lage versetzt wird, eine gewissenhafte und informierte Entscheidung zu treffen. Beim Behandlungsabbruch stellt sich der verfahrensexterne Maßstab hingegen als ein anderer dar. Bei der Sterbehilfe besteht das Defizit in einer fehlenden Wissenskenntnis. Es fehlt schlicht an empirischem, tatsächlichem Wissen. Es gibt die eine materiellrechtlich richtige Entscheidung. Es ist einzig diese, die dem wirk 6 So aber BVerfGE 88, 203 (275). Es wird dadurch überspielt, dass es in dieser besonderen strafrechtlichen Ausnahmekonstellation an einem objektiven materiellrechtlichen Kriterium fehlt.

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte 

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lichen Willen des Patienten entspricht. Materiellrechtlich straflos kann nach dem Strafrecht nur ein Behandlungsabbruch gestellt werden, der vom Willen des Patienten umfasst ist. Daneben besteht die Möglichkeit über die Rechtfertigung nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten. Bei letzterem Rechtfertigungskonstrukt handelt es sich zwar auch um eine Mutmaßung, die das Gericht ex post nicht mit letzter Gewissheit feststellen kann. Es besteht zur Konstellation des Schwangerschaftsabbruchs jedoch der signifikante Unterschied, dass eine Überprüfung auf die Vertretbarkeit der Entscheidungsgrundlagen immerhin grundsätzlich möglich ist. Der Entscheidungsträger ist in dieser Situation grundsätzlich austauschbar, Dritte müssen eine Feststellung anhand der gesetzlich genannten Kriterien treffen. Diese stellt jedoch im Vergleich zur Entscheidung über den Schwangerschaftsabbruch keine individuelle und höchstpersönliche Entscheidung dar. Diesen gravierenden Unterschied zwischen den beiden prozeduralen Lebensschutzkonzepten gilt es dogmatisch überzeugend umzusetzen.

III. Dogmatische Lösungsansätze für eine Prozeduralisierung am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes Als Gemeinsamkeit der lebensschützenden Prozeduralisierungskonzepte wurde ihre jeweils unschlüssig umgesetzte Dogmatik herausgearbeitet. Als wesentlicher Unterschied ergab sich die differente Fähigkeit der Entscheidungsträger, in der konkreten Lage eine „richtige“ Entscheidung treffen zu können. Nach hier vertretener Ansicht ist nur die Schwangere selbst in der Lage, über ihre konkrete Notlage zu befinden. Es gibt keine materielle Wirklichkeit, an der sich die Entscheidung objektiv überprüfen ließe, auch wenn das Bundesverfassungsgericht dies anders beurteilt. Die Entscheidung der Frau nach Beratung tritt im Ergebnis an die Stelle einer Beurteilung der materiellen Indikationslage durch Dritte und ersetzt diese somit vollumfänglich.7 Bei der Entscheidung über den mutmaßlichen Willen des Patienten und damit im Ergebnis über den Behandlungsabbruch stellt sich die Lage anders dar. Die Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten kann durchaus einer Vertretbarkeitsentscheidung unterzogen werden. Dem Gericht steht die Letztbeurteilungskompetenz über die Deutung des mutmaßlichen Willens zu. Auch besteht ein Unterschied in den verschiedenen Ebenen der Ungewissheit. Beim Schwangerschaftsabbruch liegt die Ungewissheit in der Ebene des Normati­ ven, beim Behandlungsabbruch in der Ebene des Empirischen. Diese Unterschiede müssen sich folglich auch auf die strafrechtliche Dogmatik auswirken. Eine einheitliche Dogmatik für Prozeduralisierungen, beispielsweise in der Form eines 7

Vgl. Frommel, JZ 2013, 488 (493): „Wer eine Entscheidungsfreiheit hat, missbraucht sie nicht, wenn er oder sie sich entscheidet.“

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

strafrechtlichen Anwendungsausschlussgrundes,8 ist daher abzulehnen. Sie wird mangels Differenzierung den prozeduralen Unterschieden nicht gerecht. Die Besonderheiten der jeweiligen Prozeduralisierungsart und -intention müssen in der rechtlichen Ausgestaltung ihren Niederschlag finden. Nur eine dogmatische Spezifikation kann eine Prozeduralisierung überzeugend umsetzen. Durch eine Rechtsänderung in beiden Bereichen kann sie angenommen werden, ohne dass – wie de lege lata der Fall – lediglich die prozeduralen Komponenten, die als hilfreich eingeschätzt werden, einzeln aus dem Gesamtkonzept herausgerissen werden. 1. Die dogmatische Umsetzung des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 1 StGB Für die Regelung des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 1 StGB ergibt sich aufgrund vorstehender Erkenntnisse, dass das SFHG, das eine Rechtfertigung der Schwangeren nach Beratung vorsah, eine durchaus schlüssige Umsetzung der Prozeduralisierungsidee darstellte.9 Durch sie wurden die prozeduralen Vorzüge des Umgangs mit der Ungewissheit über die Gewichtung der kollidierenden Rechtsgüter genutzt, gleichzeitig der Schwangeren bei Ausübung ihrer Entscheidungs­ befugnisse aber im Gegenzug die Rechtmäßigkeit ihrer Handlung zugestanden. Kann nur die Schwangere alleine eine Entscheidung treffen, die der materiellen Wirklichkeit entspricht, weil es keinen verfahrensexternen Beurteilungsmaßstab gibt, so muss die Einhaltung des gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens die Rechtfertigung des Abbruchs zum Ergebnis haben. Der Staat kann kein Verfahren zur Verfügung stellen, nach dessen Beachtung dennoch eine Missbilligung ausgesprochen wird. Einer Schwangeren wird auf dem Pfad der aktuellen Beratungs­ lösung jeglicher Weg versperrt, sich normkonform verhalten zu können. Wie gravierend ihre soziale Notlage auch tatsächlich sein mag, sie wird vom Gesetzgeber nicht als rechtfertigend anerkannt.10 Dies stellt eine Verkennung der grundrechtlichen Positionen der schwangeren Frau dar. Im Ergebnis muss ihr daher eine prozedurale Rechtfertigung gewährt werden, wenn sie sämtliche gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen beachtet hat.11

8

So Schweiger, Prozedurales Strafrecht, S. 221 ff. A. A. Hoerster, JuS 1995, 192 (196): Vorliegen „einer offenen Farce“ (Hervorhebung auch im Original). 10 Vorausgesetzt die soziale Notlage wirkt sich nicht auf die körperliche oder psychische Gesundheit der Schwangeren aus. In diesem Fall würde eine Rechtfertigung aufgrund medizinisch-sozialer Indikation in Betracht kommen. 11 Im Erg. ebenso das Sondervotum der Richter Mahrenholz / Sommer, BVerfGE 88, 338 (348 ff., 356); Eser, KritV Sonderheft 1993, 132 (139); Eser, KritV Sonderheft 2000, 43 (46); Gropp, GA 1994, 147 (161 f.); Hartmann, NStZ 1993, 483 (484 f.); Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (750 f.); Henking, Wertungswidersprüche zwischen Embryonenschutzgesetz und den Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs?, S. 131 mit Fn. 527; Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (143); Wolter, GA 1996, 207 (227) spricht 9

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte 

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Für die Wahl einer prozeduralen Rechtfertigung spricht auch die zweite, aufge­ zeigte Differenz zur Regelung des Behandlungsabbruchs. Beim Schwangerschaftsabbruch besteht das Grundproblem nicht in einem empirischen Wissensdefizit, sondern in einer Ungewissheit über die Gewichtung der Rechtsgüter. An dieser Stelle zeigen sich auch erhebliche, moralische Divergenzen. Gebietet das Verfassungsrecht keine zwingende rechtliche Ausgestaltung, so kann sich der Gesetzgeber für einen Ausgleich der Rechtsgüter in einem Verfahren entscheiden. Am Ende dieses Verfahrens muss aber eine prozedurale Rechtfertigung als Ausweg aus einer Kollision gewährt werden, aus welcher es an sich keinen letztgültigen Ausweg gab. Die Gebote des Strafrechts verstummen an dieser Stelle, an der es selbst nicht über die Gewichtung der Rechtsgüter entscheiden konnte und wollte. Mit dieser Lösung kann auch das Bewusstsein für das gleichwohl verwirklichte Unrecht in der Bevölkerung besser gestärkt werden. Der Tatbestand des § 218 StGB ist weiterhin erfüllt und bringt das verwirklichte Unrecht zum Ausdruck. Es wird verdeutlicht, dass das Leben des Ungeborenen ein schützenswertes Rechtsgut darstellt, das durch den Schwangerschaftsabbruch unwiderbringlich zerstört wird. Durch die Regelung de lege lata kommt eine derartige grundsätzliche Missbilligung nicht im gleichen Maße zum Ausdruck. Schon das Entfallen des Tatbestands erweckt den Eindruck, dass die Handlung mit einer solchen gleichgesetzt wird, die schon gar kein nennenswertes, vertyptes Unrecht verwirklicht. Auch durch das Rechtswidrigkeitsurteil als solches kann eine Missbilligungswirkung nicht erreicht werden, weil das Rechtswidrigkeitsverdikt gesetzlich lose in der Luft hängt und in der Praxis ins Gegenteil verkehrt wird. Bei der prozeduralen Rechtfertigung ist allerdings besonders darauf hinzuweisen, dass eine solche in ihren Auswirkungen nicht mit denen einer klassischen, strafrechtlichen Rechtfertigung gleichgesetzt werden kann. Ihr fehlt das Element der Billigung des Handelns.12 Der Abbruch wird im Ergebnis prozedural gerechtfertigt, aber damit ist keine moralische Billigung verbunden. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die prozedurale Rechtfertigung im Strafrecht eine Ausnahme verkörpert und auch in Zukunft verkörpern soll. Die klassische Rechtfertigung, die das „bessere Recht“ zur Verletzung und eine materiellrechtliche Überprüfung der Rechtfertigungsvoraussetzungen durch Dritte ins Feld führen kann, muss die Regel bleiben.

sich für einen „verfassungsrechtlichen (prozeduralen) Unrechtsausschließungsgrund“ aus (Hervorhebung auch im Original); Zschiegner, Die dogmatische Einordnung der beratungsgebundenen Fristenlösung gem. § 218a Abs. 1 StGB, S. 227 f. 12 Vgl. Eser, NJW 1992, 2913 (2925); vgl. Eser, KritV Sonderheft 2000, 43 (49); vgl. Eser / Weißer, in: Sch / Sch-StGB, § 218a Rdnr. 18; vgl. Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (740); vgl. Popp, ZStW 118 (2006), 639 (672); vgl. Roxin, JuS 1988, 425 (431); vgl. Zschiegner, Die dogmatische Einordnung der beratungsgebundenen Fristenlösung gem. § 218a Abs. 1 StGB, S. 233 m. w. N.

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

Im Recht des Schwangerschaftsabbruchs sollte durch die Ausführungen jedoch klar geworden sein, dass durch die untrennbare natürliche Verbindung von Mutter und Kind eine derartige einmalige Ausgangssituation besteht, die es rechtfertigt, das Konstrukt der prozeduralen Rechtfertigung auch im Bereich des strafrechtlichen Lebensschutzes anzuerkennen. Die Angst vor einer ausartenden Übernahme der prozeduralen Rechtfertigung zulasten der klassischen im Strafrecht ist von dieser Warte aus völlig unberechtigt. 2. Die dogmatische Umsetzung des straffreien Behandlungsabbruchs Beim Behandlungsabbruch stellt der Bundesgerichtshof auf die (mutmaßliche) Einwilligung des Patienten ab, die sowohl ein aktives Tun als auch ein Unterlassen umfasse, solange die objektive und subjektive Behandlungsbezogenheit des Behandlungsabbruchs gegeben sei. Dieser judikativen Rechtfertigungskonstruktion wird in der Literatur teilweise gefolgt, größtenteils wird ihr aber der Einwand der Kollision mit § 216 Abs. 1 StGB entgegengebracht. Dogmatisch überzeugender ist allerdings an dieser Stelle die Umkehrung des Rechtfertigungsbedürftigen beim Behandlungsabbruch. Lehnt der Patient jede weitere Behandlung (mutmaßlich) ab, so hat diese in der Folge zu unterbleiben. Die Rechtfertigungskonstruktion des Bundesgerichtshofs betrachtet die strafrechtliche Relevanz des Geschehens vom falschen Blickwinkel aus. Nicht der Abbruch der Behandlung als solcher muss von einer wirksamen Einwilligung des Patienten gedeckt sein, sondern vielmehr die Weiterbehandlung des Patienten. Entfällt diese Einwilligung, muss die Behandlung unterbrochen werden – sei es durch aktives Tun oder durch Unterlassen. Der gewünschte Behandlungsabbruch bedarf demnach keiner Rechtfertigung mehr. Er beendet vielmehr einen rechtswidrigen Zustand. Entspricht der Behandlungsabbruch dem (mutmaßlichen) Willen des Patienten, kann der Erfolg des § 212 Abs. 1 StGB dem handelnden Arzt nicht zugerechnet werden, der Schutzzweck der Norm ist nicht erfüllt.13 Für die Untermauerung der Tatbestandslösung des Behandlungsabbruchs soll auch die Art und Intention der Prozeduralisierung an dieser Stelle herangezogen werden. Arzt und Betreuer haben im Gegensatz zur Konstellation des Schwangerschaftsabbruchs keine individuell-höchstpersönliche Entscheidungskompetenz, sondern sie agieren für und im Sinne des Patienten. Die Ermittlung des mutmaß 13 Im Erg. ebenso den Tatbestand der Tötungsdelikte verneinend: Engländer, JZ 2011, 513 (517 f.) schließt die objektive Zurechenbarkeit (bei aktiven Handlungen) aus; ebenso FatehMoghadam / Kohake, ZJS 2012, 98 (102); ähnlich auch Gaede, NJW 2010, 2925 (2927); Kahlo, in: FS Frisch, S. 711 (737) nimmt ein „tatbestandsloses Sterbenlassen“ an (Hervorhebung auch im Original); ähnlich Kubiciel, ZJS 2010, 656 (660); Lipp, MedR 2015, 762 (765) sieht in dem Behandlungsabbruch „keine Tötung“; Rissing-van Saan, ZIS 2011, 544 (550) schließt die Zurechenbarkeit des Todeserfolges aus; Wessels / Hettinger / Engländer, Strafrecht BT 1, Rdnr. 156 sehen den Behandlungsabbruch ebenfalls als nicht rechtfertigungsbedürftig an.

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte 

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lichen Willens kann auch durch Dritte anhand von Indizien erfolgen, sollten sich auch nahe Angehörige naturgemäß am besten für diese Ermittlung eignen. Das zu überbrückende Wissen stellt beim Behandlungsabbruch aber ein tatsächlich fehlendes in Bezug auf den Willen des Patienten dar. Die prozedurale Rechtfertigung soll nach hier vertretener Ansicht aber zum Einsatz gelangen, wenn eine elementare gesetzgeberische Unsicherheit über die Gewichtung der Rechtsgüter besteht und das Ergebnis der verfahrensrechtlichen Auslotung dann zur Rechtfertigung führt. Das fehlende tatsächliche Wissen soll bei der Entscheidung über einen Behandlungsabbruch durch eine Maximierung von Fakten im Verfahren soweit wie möglich hergestellt werden. Das Verfahren soll sodann möglichst nahe an das materiell richtige Ergebnis kommen. Dass es dieses herbeiführt, ist aber nicht gesichert. Alleine der (mutmaßlich feststellbare) Wille als solcher führt zur Straflosigkeit. Das Verfahren alleine liefert keinen Ersatz für die materielle Wirklichkeit. Dem Strafgericht muss infolge dessen die Letztentscheidung zustehen und eine prozedurale Rechtfertigung ausscheiden. Neben der dogmatischen Überzeugungskraft spricht daher auch die prozedurale Natur des Behandlungsabbruchs für eine dogmatische Verortung der Straffreiheit im Tatbestand der Tötungsdelikte. Dem Bundesgerichtshof ist insoweit allerdings zuzugestehen, dass die Rechtfertigungskonstruktion in der Thematik des Behandlungsabbruchs wohl am greifbarsten war. Die Entscheidung über die Einordnung „strafbar“ oder „nicht strafbar“ hängt zentral vom Kriterium des Willens des Patienten ab. Deshalb erscheint es insofern naheliegend, auf eine Rechtfertigung abzustellen, weil diese das Willenselement bereits in sich trägt.14 Der über die Strafbarkeit entscheidende Wille des Patienten kann in der Rechtfertigungskonstruktion dogmatisch am einfachsten „eingebaut“ werden. Die Konstruktion über die Tatbestandslösung erweist sich diesbezüglich nicht als derart leicht umsetzbar. Dennoch ist der Wille als solcher auch in diese Lösung dogmatisch integrierbar. Wenn der (mutmaßliche) Wille des Patienten auf einen Behandlungsabbruch gerichtet ist, willigt er in diesen zwar ein, dies ist strafrechtlich jedoch nicht als rechtfertigende Einwilligung in das strafrechtlich Relevante aufzufassen, sondern als eine natürliche Form der Einwilligung. In dieser natürlichen Einwilligung liegt auf der Kehrseite gleichzeitig das geäußerte Abbruchsverlangen. Man kann den Willen damit auch als Rückzug der Einwilligung in die fortbestehend rechtfertigungsbedürftige Behandlung verstehen. Damit fügt sich die Lösung auch in das Gesamtgefüge der §§ 1901a ff. BGB ein, nach welchen der Betreuer die Einwilligung oder Nichteinwilligung in den Behandlungsabbruch erteilt. Diese substituiert die natürliche Einwilligung in den Behandlungsabbruch und damit die Gegenseite der Medaille – die Verweigerung der Einwilligung für die Zukunft. Die willensgemäße Entsprechung führt somit dazu, dass der tatbestandliche Erfolg dem Abbrechenden nicht zugerechnet werden kann, weil er lediglich den rechtmäßigen Zustand herbeiführt. 14

In diese Richtung auch Gaede, NJW 2010, 2925 (2927).

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

Wenn man den Gedanken der Prozeduralisierung nun auf diese dogmatisch weitaus schlüssigere Lösung überträgt, mag das Ergebnis zunächst etwas befremdlich und vielleicht auch etwas schwerfällig erscheinen. Die Einhaltung des Verfahrens der §§ 1901a ff. BGB durch die Beteiligten führt dazu, dass ein prozedural korrekt ermittelter Wille existiert, der als Abbruchsverlangen auf die Beendigung der Behandlung gerichtet ist und somit den strafrechtlichen Tatbestand ausschließen soll. Wörtlich kommt diese Konstruktion somit nicht gegen die Rechtfertigungslösung des Bundesgerichtshofs an, nach welcher die Einhaltung des Prozederes zur wirksamen Einwilligung des Betreuers und damit zur Rechtfertigung des Behandlungsabbruchs führen soll. Dieser Vorteil der sprachlichen Gereimtheit besteht jedoch nur, solange keine gesetzliche Kodifikation erfolgt ist, in welcher dieser tatbestandliche Gedankengang umgesetzt wird. Für die prozedurale Tatbestandslösung spricht zudem ein Argument, das mit der strafrechtlichen Bedeutung der §§ 1901a ff. BGB im Zusammenhang steht, also mit der Frage, ob die Einhaltung der §§ 1901a ff. BGB zwingende Voraussetzung für die Straffreiheit der Handlung ist. Dies wurde abgelehnt. Nicht die Einhaltung des Verfahrens, sondern die Übereinstimmung mit dem mutmaßlichen Willen des Patienten ist für die Strafbarkeit entscheidend.15 Dies stellt jedoch ein wesentliches Argument für die Tatbestandslösung dar, weil die Ansicht, dass das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB zwingend eingehalten werden muss, für die Rechtfertigungslösung des Bundesgerichtshofs spricht. Die Einwilligung des Betreuers wird dieser Ansicht nach prozedural genehmigt und rechtfertigt den Behandlungsabbruch, welcher ohne eine Einwilligung nicht straflos bleiben kann. Dieser Ansicht zufolge wird die Einwilligung des Betreuers erst durch das Verfahren wirksam und hierdurch prozeduralisiert. Bei der Tatbestandslösung gibt es jedoch nichts „zu Prozeduralisierendes“ wie die Einwilligung bei der Rechtfertigungslösung. Es ist der Wille des Patienten alleine, der dazu führt, dass der Behandlungsabbruch straflos ist, weil er einen rechtmäßigen Zustand wieder herbeiführt. Auch diese Betrachtungsweise spricht daher für die Tatbestandslösung des Behandlungsabbruchs. Vertritt man aber die Tatbestandslösung beim Behandlungsabbruch, müssen im Hinblick auf eine Prozeduralisierung einige Weichenstellungen abgeändert werden. Haben die Beteiligten das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB nicht eingehalten, so führt dies nicht zwingend zu ihrer Strafbarkeit nach den Tötungsdelikten. Es liegt vielmehr in der Entscheidungsmacht des Strafgerichts, ob dieses zu dem Ergebnis kommt, dass der Behandlungsabbruch dem Willen des Patienten entsprach und somit der Erfolg des § 212 Abs. 1 StGB dem Handelnden nicht zugerechnet werden kann oder ob dies nicht der Fall war und der Straftatbestand des § 212 Abs. 1 StGB verwirklicht wurde. Nicht nur der prozedural korrekt ermittelte Wille lässt 15

Vgl. hierzu die Ausführungen unter 7. Kap. C. I. 6. b) dd).

B. Prozedurale Umsetzung der anderen Lebensschutzkonzepte 

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nach der Tatbestandslösung den Zurechnungserfolg entfallen, sondern auch der ex post durch das Gericht festgestellte Wille des Patienten. Diese Sichtweise spricht evident für die Tatbestands- und nicht die Rechtfertigungslösung des Bundesgerichtshofs, um ein kohärentes Konzept des Behandlungsabbruchs zu entwickeln. Bei der gesetzlichen Kodifizierung der Tatbestandslösung muss jedoch besonders das strafrechtliche Absicherungsbedürfnis der Entscheidungsträger beachtet werden. Setzen sie sich durch ihre Entscheidung gravierenden Strafbarkeitsrisiken aus, wird die Zahl bereitwilliger Betreuer wohl einbrechen; stagnierende Handlungsohnmacht und die praktische Verkümmerung des Rechtsguts der Selbstbestimmung wären die Folge. In diesem Punkt ist daher Verrel zuzustimmen, nach welchem sich jegliche Bemühung, die „Wertung [des Strafrechts] […] auch mit den Mitteln des Zivilrechts kalkulierbar und transparent zu machen“16, lohnt. Den Handelnden muss ausreichende Rechtssicherheit gewährt werden. Fraglich ist allerdings insoweit, in welchem Maße die Rechtssicherheit normativ zum Ausdruck kommen soll. Aufgeworfen wird damit die Frage, wie die Strafbarkeit der Beteiligten zu beurteilen ist, wenn sie das betreuungsrechtliche Verfahren der §§ 1901a ff. BGB eingehalten, den Willen des Patienten aber dennoch verfehlt haben. Eine dogmatisch denkbare Möglichkeit wäre, dass die gesetzliche Regelung insoweit das verfahrensrechtliche Ergebnis auf die gleiche Stufe mit der materiellen Wirklichkeit hebt und somit regelt, dass bei gutgläubiger Beachtung der §§ 1901a ff. BGB der objektive Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB (bzw. der Tatbestand des § 222 Abs. 1 StGB) entfällt, weil der Todeserfolg nicht zugerechnet werden kann. Die jeweilige Gefahrschaffung würde sich nach dieser Lösung im Bereich des erlaubten Risikos bewegen. Die prozedurale Lösung würde demnach – unabhängig davon, ob der Behandlungsabbruch dem Willen des Patienten entsprochen hat oder nicht – zum selben strafrechtlichen Ergebnis gelangen. Diese tatbestandliche Lösung würde somit das Pendant zur prozeduralen Rechtfertigung darstellen und ebenso für erhebliche Rechtssicherheit sorgen. Dennoch erscheint diese dogmatische Umsetzung im Strafrecht eher ungewohnt.17 Die andere dogmatische Möglichkeit wäre hingegen, dass die Verfahrens­ beachtung der §§ 1901a ff. BGB im Ergebnis nicht darüber hinweghelfen kann, dass das Gericht den mutmaßlichen Willen anders beurteilt und der objektive Tatbestand des § 212 Abs. 1 StGB folglich verwirklicht bleibt. Die Beteiligten unterlägen dann aber nach der Irrtumslehre einem Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 16

Verrel, in: Bormann, Lebensbeendende Handlungen, S. 617 (619). Sie käme wohl einer solchen des § 218a Abs. 1 StGB gleich, bei welcher die Erfüllung prozeduraler Kriterien den Tatbestand des § 218 StGB entfallen lässt. Diese dogmatische Kon­ struktion wird allerdings auch als eine solche angesehen, die dem StGB fremd ist, auch wenn sich die Kritik maßgeblich auf die fortbestehende Rechtswidrigkeit des beratenen Abbruchs beziehen sollte, vgl. dazu unter 2. Kap. A. I. 5. 17

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

S. 1 StGB und würden demnach nicht vorsätzlich handeln. Die nach § 16 Abs. 1 S. 2 StGB sodann relevant werdende Strafbarkeit nach § 222 StGB bzw. §§ 222, 13 StGB würde demnach „nur“ aufgrund des Wegfalls des objektiven Sorgfaltswidrigkeitsverstoßes entfallen, weil die Beteiligten das Verfahren der §§ 1901a ff. BGB beachtet haben.18 Auch letztere Vorgehensweise würde eine Prozeduralisierung darstellen, weil die Straflosigkeit zumindest auf verfahrensrechtlichem Wege faktisch erreicht wird. Prozeduralisierung beschränkt sich nicht auf den Bereich einer prozeduralen Rechtfertigung oder eines Tatbestandsausschlusses, sondern sie ist vielfältig einsetzbar.19 In diesem Zusammenhang würde sie folglich den Fahrlässigkeitsvorwurf entfallen lassen. An dieser Lösung könnte zwar problematisch sein, dass das Vorliegen eines entsprechenden Irrtums stets mit Beweisproblemen verbunden ist. Dennoch erscheint diese Lösung vorzugswürdig, weil sie trotz des Einsatzes von Prozeduralisierung anerkennt, dass eine materiell richtige Lösung neben dem Verfahrensergebnis existiert. Neben dem prozedural ermittelten Willen existiert der materielle Wille des Patienten. Beide müssen nicht deckungsgleich sein. Wünschenswert wäre eine gesetzliche Kodifizierung des Behandlungsabbruchs und der Folgen der Einhaltung der §§ 1901a ff. BGB, um den Handelnden die nötige Rechtssicherheit zu verschaffen und dadurch das Konzept der Prozeduralisierung insgesamt auch anzunehmen. In diesem Zusammenhang sollte über einen verstärkten Einsatz von Dokumentationspflichten nachgedacht werden, um etwaigen Beweisschwierigkeiten vorzubeugen. Kann der Betroffene ein sorgfältiges Vorgehen nach den Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB – insbesondere den erzielten Konsens – beweisen, so muss eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung ausscheiden. Die Rechtssicherheit muss in diesem Maße zwingend gewährleistet werden, weil anderenfalls die Anzahl von Patientenvertretern, die sich verantwortungsbewusst für den Willen des Patienten einsetzen, wohl mehr und mehr abnehmen würde. Ein vom Patienten mutmaßlich gewünschter Behandlungsabbruch würde aus Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen nicht mehr durchgesetzt, sondern eine Weiterbehandlung des Patienten angeordnet. Dadurch würde – wie bereits dargelegt – das verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 1 GG erheblichen Schaden nehmen.

18

In diese Richtung Deichmann, MDR 1995, 983 (983 f.), der eine Strafbarkeit nach §§ 222, 13 StGB mangels eines Fahrlässigkeitsvorwurfs verneint. Er lässt jedoch offen, ob das Rechtsmittelgericht eingeschaltet werden müsste. 19 Vgl. dazu nochmal unter 3. Kap. B. I. 3.

C. Festgestellte Auswirkungen 

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C. Festgestellte Auswirkungen einer Prozeduralisierung strafrechtlicher Lebensschutzkonzepte Abschließend soll eine Analyse der prozeduralen Lebensschutzkonzepte im Allgemeinen erfolgen, die Rückschlüsse auf grundsätzliche Auswirkungen und Konsequenzen von Prozeduralisierung am Anfang und am Ende des mensch­ lichen Daseins zulässt.

I. Wachsendes Erstarken der Menschenwürde unter prozeduraler Führung Nach der Analyse der beiden prozeduralen Lebensschutzkonzepte ist zu kon­ statieren, dass eine Prozeduralisierung am Anfang und Ende des menschlichen Lebensschutzes grundsätzlich zu einem Bedeutungszuwachs der Menschenwürde­ garantie des Art. 1 Abs. 1 GG geführt hat. Mögen Lebensschutz einerseits und Menschenwürde andererseits auch teilweise als „diskurserstickende Killervokabeln“20 missbraucht werden können, um der Gegenansicht sofort jegliche Argumentationsbasis zu entziehen, so kann dennoch die Bedeutung der Menschenwürde als verfassungsrechtliches Dach der Grundrechte dadurch nicht geschmälert werden. Der Gehalt der Menschenwürde ist umstritten; es existiert für sie keine allgemeingültige Definition. Die allseits bekannte Formel, dass der Mensch allein aufgrund seines „Menschseins“ nicht zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen herabgewürdigt werden dürfe,21 führt in ihrer Allgemeinheit zwar kaum zu konkreteren Inhaltsbestimmungen. Dennoch umschreibt die „Objektformel“ die grundlegende Kernaussage der Menschenwürdegarantie. Durch die prozeduralen Verfahren tritt diese stärker in den Mittelpunkt. Gleichzeitig wird durch ihr Erstarken aber das Dogma vom absoluten Lebensschutz brüchig. Das Postulat der „Heiligkeit des Lebens“ gerät von Seiten der Gesellschaft zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Dies zeigt sich sowohl beim Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 1 StGB als auch beim Behandlungsabbruch, der u. a. auf die Einhaltung der §§ 1901a ff. BGB gestützt wird. In BVerfGE 88, 203 ff. wird im Gegensatz zum ersten Schwangerschaftsabbruchsurteil erstmals die Menschenwürde der schwangeren Frau als Gegenposi-

20 So Steffen, NJW 1996, 1581; vgl. im Hinblick auf die Menschenwürde auch Lungstras, NJ 2010, 485 (492): „Totschlagargument“ und Quante, in: Gethmann / Huster, Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, S. 35 (58), der von „kategorische[n] Verbotsschilder[n]“ spricht, die die Menschenwürde postulieren könne. In die gleiche Richtung auch Dücker, Die Regelung der Präimplantationsdiagnostik in Deutschland und in England, S. 107 m. w. N. 21 St. Rspr. BVerfGE 27, 1 (6); 45, 187 (228); 57, 250 (275); 96, 375 (399); 115, 118 (153); 122, 248 (271); BVerfG, NJW 2015, 1083 Rdnr. 30; BVerfGE 144, 20 (207 Rdnr. 539).

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

tion zum Lebensrecht des Embryos herangezogen.22 Durch das prozedurale Beratungsverfahren verbleibt die eigenverantwortliche Letztentscheidung bei ihr. Im Vordergrund steht nicht die sanktionierende Strafnorm des § 218 StGB, sondern § 218a Abs. 1 StGB, der sie als Partnerin für den Schutz des Kindes gewinnen soll. Die Schwangere wird dadurch nicht zum Austragungsobjekt herabgewürdigt, sondern sie soll sich bewusst werden, dass sie eine Rechtspflicht gegenüber dem heranwachsenden Leben besitzt. Durch das Beratungsverfahren soll sie in die Lage versetzt werden, eine informierte und autonome Entscheidung zu treffen. Mittels des prozeduralen Konzepts wird ihre Menschenwürde in den Fokus gestellt, sollte das Rechtswidrigkeitsverdikt diese Wirkung auch wieder einschränken. Gleichzeitig werden Menschenwürde und Lebensrecht des Embryos als hohe verfassungsrechtliche Güter geschützt, letztendlich aber auch deutlich ausgedrückt, dass die grundsätzliche Austragungspflicht der Schwangeren in Ausnahmefällen zurücktreten muss. Damit wird der Grundsatz des absoluten Lebensschutzes in Bezug auf den Embryo in vivo erheblich relativiert. Es wird akzeptiert, dass dem embryonalen Lebensrecht und seiner Menschenwürde so erhebliche Rechtspositionen entgegenstehen können, die dazu führen, dass diese zurücktreten müssen. Im Ergebnis stehen damit im Zentrum der grundrechtlichen Rechtspositionen die Menschenwürde der Schwangeren und die Menschenwürde des Embryos, welche ihm vom Bundesverfassungsgericht zugestanden wird. Das Dilemma besteht darin, dass die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG keiner Abwägung zuführbar ist. Wird sie verletzt, kann der Eingriff nicht gerechtfertigt werden. Genau darin könnte aber die Hilfskraft von prozeduralen Verfahren liegen. Sie versuchen, einen Ausgleich zwischen Rechten zu schaffen, die beide eine an sich nicht abwägbare Position für sich in Anspruch nehmen können. Die Letztentscheidung kommt im Ergebnis aber der Menschenwürde der Schwangeren zu, die in Verbindung mit ihrem Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper steht und nicht der Menschenwürde des Embryos, die mit seinem Lebensrecht zusammenhängt23. Beim Behandlungsabbruch stellen sich die Erkenntnisse sehr ähnlich dar. Bei der Sterbehilfe wäre eine Alternative zur Prozeduralisierung die, dass ein Behandlungsabbruch nur dann in Betracht käme, wenn über den Willen des Patienten absolute Gewissheit herrscht. Folglich könnte das Kriterium des mutmaßlichen Willens unter keinen Umständen als Bezugspunkt für die Straflosigkeit herangezogen werden. Prozeduralisierung ermöglicht in diesem Zusammenhang ein Verfahren der bestmöglichen Kompensation von Ungewissheiten. Durch sie wird im Ergebnis der Gefahr einer Fehleinschätzung des Willens der prinzipielle Vorrang gegenüber

22 23

dar.

Vgl. den Nachw. in 2. Kap., Fn. 7. Nach BVerfGE 39, 1 (42) stellt das Lebensrecht „die vitale Basis der Menschenwürde“

C. Festgestellte Auswirkungen 

301

einer Lebenserhaltung um jeden Preis gegeben. Das prozedurale Konzept ermöglicht damit erst die Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten und signalisiert besonders evident den Menschenwürdegehalt, der gebietet, dass der Patient nicht zum willenlosen Objekt der Gerätemedizin gemacht und um jeden Preis am Leben gehalten wird. Auch hierdurch wird verdeutlicht, dass es einen absoluten Lebensschutz nicht gibt; er muss Freiraum gewähren für eine auch „nur“ gemutmaßte autonome Willensentscheidung. Damit stehen sich in einer Person die Menschenwürde eines selbstbestimmten und würdevollen Sterbens, die mit dem Selbstbestimmungsrecht zusammenhängt, und die Menschenwürde des Patienten gegenüber, die für sein Lebensrecht streitet. Wiederum zeigt sich hierdurch der grundsätzliche Sieg der Menschenwürde in Form der Autonomiekomponente gegen die Menschenwürde in Form der Lebensschutzkomponente. Im Ergebnis führen Prozeduralisierungen am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes somit zu einer Höhergewichtung der Menschenwürde gegenüber einem absolut bestehenden Lebensschutz. Die Prozeduralisierungen fungieren hier als gesetzgeberisches Mittel zur Durchsetzung dieses gewandelten Rechtsgüterkonflikts. Das Recht passt sich dadurch der gesellschaftlichen Überzeugung an, die zunehmend von einem autonomen Individuum ausgeht, das selbstbestimmt entscheidet und nicht über sich entscheiden lässt. Der mit einer Prozeduralisierung verbundene Diskurs macht die Menschenwürde in diesen Punkten „diskursiver“. Der Gesetzgeber kann sich in diesen Kollisionslagen einer Entscheidung nicht entziehen. Steht letzten Endes Menschenwürde gegen Menschenwürde, bedient er sich spezifisch diskursiven Verfahren. Eine weitere, damit einhergehende Konsequenz der Prozeduralisierung ist die Abstufung im strafrechtlichen Lebensschutzkonzept. Dem ungeborenen Leben kommt nicht der gleiche strafrechtliche Schutz zu wie dem geborenen Leben. Auch bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens lässt sich nicht komplett ausschließen, dass persönliche Wertvorstellungen der Beteiligten mit in den Ermittlungsprozess einfließen. Die letzte Sicherheit wird es an diesen Grenzen nie geben. Die Verfahren verweichlichen in diesem Sinne aber die scharfen Schnittstellen. Dadurch wird der Versuch unternommen, den brüchig gewordenen Schein des absoluten Lebensschutzes doch ein wenig aufrecht zu halten. Die Strafnormen des § 216 Abs. 1 StGB und des § 218 Abs. 1 S. 1 StGB postulieren jeweils den grundsätzlichen Vorrang des Lebensschutzes – die Straflosigkeit verschaffenden Verfahren relativieren dieses Gebot aber wieder. Es erfolgt insgesamt aber keine Abwertung des Lebensschutzes durch eine schleichende Aushöhlung der Konsequenzen. Beide gesetzlich regulierte Verfahren dienen dem Lebensschutz mittels eines effektiven Grundrechtsschutzes durch Verfahren. Das ändert allerdings im Ergebnis nichts daran, dass grundsätzlich zunächst einer Position das Vorrecht eingeräumt wird, eine Entscheidung zu treffen. Der Lebensschutz erhält somit im Wege des Grundrechtsschutzes durch Verfahren sozusagen eine Art „zweite Chance“. Die Würfel sind aber primär zugunsten der Autonomie und Selbstbestimmung des

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8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

Individuums gefallen. Dieses „leichtere Verlieren eines Grundrechts“ mag durch Verfahren etwas überdeckt werden, woraus letztlich auch die Kritik an einer Abkehr von determinierenden Vorschriften resultieren dürfte. Prozeduralisierungen entwerten den Lebensschutz aber nicht, sie ermöglichen lediglich eine freiheitsfreundlichere Handhabung. In das Lebensrecht darf nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG aufgrund eines Gesetzes eingegriffen werden. In die nach Art. 1 Abs. 1 GG gewähr­ leistete Menschenwürdegarantie hingegen nicht. Dies verkennen Vertreter eines absolut bestehenden Lebensrechtes.

II. Verfahren als Kompromiss zwischen Verrechtlichung und Rechtsunsicherheit Ein klarer Gewinn der Prozeduralisierung ist in der konstanten Vermittlung zwischen einer unübersichtlichen Verrechtlichung und einer mangels Regelung bestehender Rechtsunsicherheit zu erblicken. Verfahren ermöglichen einerseits ein strikt gebundenes Entscheidungsverfahren, andererseits Flexibilität. Eine zu starke Verrechtlichung führt im Medizinstrafrecht zu einer Starre, die dem Einzelfall nur schwer gerecht werden kann. Das Medizinstrafrecht ist aber gerade eine stark einzelfallorientierte Materie.24 Eine  – zu weite Spielräume eröffnende  – Regelung schafft hingegen aber Rechtsunsicherheit. Prozeduralisierungen schlagen zwischen beiden Regelungstaktiken einen Mittelweg ein. Sie sorgen bei moralischen Unwägbarkeiten oder einem spezifischen Nichtwissen ex ante durch eine Normierung von Verfahrensvorschriften für Rechtssicherheit, belassen aber auf der anderen Seite Raum für eine flexible Einzelfallgerechtigkeit und eine bestmögliche Bewahrung von Grundrechten. Sie tragen daher in jeglicher Hinsicht die Form eines Kompromisses in sich.

III. Ständiges Schwanken zwischen Über- und Untermaßverbot Es zeigt sich nach der Analyse der Prozeduralisierungen ebenso deutlich, dass medizinstrafrechtliche Verfahren bereits in ihren Auswirkungen sehr konträr aufgefasst werden. Während Befürworter in ihnen die einzige Chance zur Regelung der Materie, und damit zum Rechtsgüterschutz erblicken,25 empfinden Gegner die Verfahren entweder als Vernachlässigung des Rechtsgüterschutzes26 oder umgekehrt als eine zu stark paternalistische Einschränkung desjenigen, der sich an dem

24 Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (80). 25 Für den Schutz des Embryos in vivo vgl. insbesondere die Nachw. in 7. Kap., Fn. 21; für den Schutz des Einwilligungsunfähigen vgl. insbesondere die Ausführungen unter 7. Kap. C. I. 5. a). 26 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen und Nachw. unter 8. Kap. B. I. 5.

C. Festgestellte Auswirkungen 

303

Verfahren zu beteiligen hat.27 Der Gesetzgeber schwankt mit prozeduralen Vorgaben daher immer zwischen dem Über- und dem Untermaßverbot. Einerseits besteht die Gefahr, dass die Verfahren und damit in concreto die Prozeduralisierung eine zu starke Überhand gewinnt und über die tatsächliche, materielle Rechtslage herrscht. Ein Beispiel hierfür bildet die Ansicht, welche die Beachtung der §§ 1901a ff. BGB zur zwingenden Straflosigkeitsbedingung eines Behandlungsabbruchs erhebt. Andererseits besteht aber auch die Gefahr, dass das Verfahren zu wenig Schutz bietet und die verfahrensrechtlichen Schutzmechanismen zu einfach umgangen werden könnten. Daher ist de lege ferenda eine Sanktionsnorm für die Nichtbeachtung der §§ 1901a ff. BGB anzudenken.28 Erst dadurch kann der zulässige Behandlungsabbruch die Eigenschaft eines Kompromisses annehmen. Das prozedural einzuhaltende Gleichgewicht stellt insofern keine Besonderheit dar, sondern ist Ausdruck des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die materiellrechtlich gewichtete Ausgangsposition der Grundrechte schlägt sich in diesem Maße in der jeweiligen Prozeduralisierung nieder; wenn also die materiellen Grundrechtspositionen unverhältnismäßig gewichtet werden, fällt auch die Prozeduralisierung unverhältnismäßig aus.29 Eine mangelnde Auslotung der materiellen Rechtspositionen hat damit erhebliche Auswirkungen auf das prozedurale Gleichgewicht. Die Analyse der Vorschriften hat gezeigt, dass die Verfahren keinesfalls nur in ihrer grundrechtsschützenden Wirkung betrachtet werden dürfen, sondern dass verfahrensrechtliche Vorschriften durchaus auch in einem grundrechtsbeeinträchtigenden Lichte gesehen werden müssen. Verfahrensbeteiligung heißt gleichzeitig Verfahrensverantwortung – nicht zuletzt in einem strafrechtlichen Sinne. Daneben ist auch die zeitliche Verfahrenskomponente nicht zu unterschätzen: Prozedurale Regelungen „verzögern die endgültigen Antworten […] [und] verlangen Geduld und langen Atem“30. Insgesamt überwiegen allerdings die Vorteile einer Prozeduralisierung in diesen Bereichen. Eine verhältnismäßige Anwendung von Prozeduralisierung ist erforderlich und möglich.

27 Im Hinblick auf die Schwangere, die sich dem Verfahren zu stellen hat und an dessen Ende – sollte sie sich nicht im Sinne des Kindes entscheiden – dennoch die Rechtswidrigkeit ihres Handelns steht, vgl. insbesondere die Nachw. in 7. Kap., Fn. 69. Auch in der Situation eines in Frage stehenden Behandlungsabbruchs ergäben sich erhebliche Strafbarkeitsrisiken für die Beteiligten, vgl. dazu die Nachw. in 7. Kap., Fn. 426. Daneben wird auch das Verfahren vor der PID-Ethikkommission als äußerst belastend gewertet, vgl. dazu die Nachw. in 7. Kap., Fn. 196. All jenen Aussagen ist gemeinsam, dass sie die Belastung der Beteiligten durch das Verfahren in den Vordergrund stellen. 28 Vgl. dazu unter 7. Kap. C. I. 6. b) dd). 29 Saliger, in: Bernat / K röll, Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, S. 124 (167). 30 Hassemer, in: Pieth / Seelmann, Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, S. 9 (30).

304

8. Kap.: Ergebnisse der Analyse und Lösungsvorschläge

D. Fazit zu den untersuchten prozeduralen Lebensschutzkonzepten In Regelungskomplexen, die derart ethisch behaftet sind, aber gleichzeitig höchstindividuelle Belange betreffen, fällt es schwer, stringente strafrechtliche Verbote zu statuieren und durchzusetzen. Gerade an diesen Stellen setzt Prozeduralisierung als ein Vermittler an. Sie überführt Wissenslücken, Unsicherheiten, gewagte Prognosen, aber auch Konflikte und divergierende Meinungen in ein Verfahren, um in diesem diskursiv zu einer Lösung zu kommen, die letztendlich strafrechtlich und gesellschaftlich akzeptiert wird. Als prozedurale Umsetzung wird in allen drei untersuchten Themenbereichen ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt statuiert. Es wird ein Exempel zugunsten des Lebens statuiert – durch ein Verfahren allerdings eine straffreie Abweichung davon ermöglicht. Prozeduralisierung nimmt im Konzept des strafrechtlichen Lebensschutzes eine bedeutende – keinesfalls zu unterschätzende – Rolle ein. Sie statuiert einen regelrechten prozeduralen Kreislauf vom Anfang bis zum Ende des Lebensschutzes. Über den Schutz eines winzigen „Zellhaufens“ vor Selektion, über die prozedurale Beratungsregelung des § 218a Abs. 1 StGB hin zum letzten Lebensabschnitt eines kranken Menschen, der sich ebenfalls als prozedural gesäumt erweist. Neben diesem prozeduralen Kreislauf de lege lata gibt es de lege ferenda Vorschläge, den prozeduralen Kreislauf um das Problem der Früheuthanasie und / oder um eine begrenzte Zulassung der aktiven Sterbehilfe zu erweitern. Unter Betrachtung dieser vielfältigen prozeduralen Aspekte im strafrechtlichen Lebensschutz erscheint es umso erstaunlicher, dass die Erscheinungen von Prozeduralisierung in der Literatur häufig nur randläufig erwähnt werden, eine spezifische Auseinandersetzung mit ihnen aber weitläufig unterbleibt. Dies gilt insbesondere für die Dogmatik der straffreistellenden Wirkung von prozeduralen Vorschriften. Diese besitzt aber erhebliche Bedeutung für die Beteiligten; im prozeduralen Lebensschutz geht es nicht nur um das mithöchste Rechtsgut Leben, sondern für die Beteiligten auch um enorm hohe Strafbarkeitsrisiken. Die Prozeduralisierung hat daher insgesamt noch nicht die Aufmerksamkeit erfahren, die sie verdient. Es lässt sich feststellen, dass in den analysierten Bereichen Prozeduralisierungen nur schwer hinweggedacht werden können. Sie werden benötigt, um Defizite des materiellen Rechts bestmöglich auszugleichen. Der Gesetzgeber bedient sich ihrer, weil er um ihrer aushelfenden Schutzwirkungen weiß und diese nutzen möchte. Bei der dogmatischen Umsetzung der Prozeduralisierungsidee ins Strafrecht muss allerdings auf die spezifischen Besonderheiten der Prozeduralisierung geachtet werden. Nur eine schlüssige strafrechtliche Dogmatik ergibt auch eine schlüssige Umsetzung von Prozeduralisierung. Nur auf diese Weise kann Prozeduralisierung in ihrem Gesamtgefüge angenommen werden.

D. Fazit 

305

Die Regelung der PID weist im Ergebnis deutliche Parallelen zu den Prozeduralisierungen im Recht des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218a Abs. 1 StGB und im Recht des sterberechtlichen Behandlungsabbruchs auf. Besonders deutlich zeigt sich die Gemeinsamkeit darin, dass das Strafrecht hier notgedrungen an seine Grenzen stößt. Ein Vergleich mit der Problematik der PND hat allerdings ergeben, dass eine Prozeduralisierung in Form des entscheidenden Votums einer Ethikkommission kein überzeugendes prozedurales Schutzkonzept darstellt und de lege ferenda einer Rechtsänderung durch eine Angleichung an die Regelung des § 218a Abs. 2 StGB unterzogen werden sollte. Das prozedurale Konzept ist an dieser Stelle nicht verhältnismäßig. Selbst wenn die PID prozedurale Strukturen benötigen sollte, so müssen diese de lege ferenda auf einem anderen Wege in die Regelung des § 3a ESchG integriert werden. Die Analyse der beiden anderen Lebensschutzkonzepte hat zu dem Ergebnis geführt, dass an diesen Stellen eine Prozeduralisierung gewinnbringend ist und verhältnismäßig umgesetzt werden kann. Die unterschiedlichen Intentionen von Prozeduralisierung haben ergeben, dass bei der Beratungsregelung des § 218a Abs. 1 StGB eine Lösung über die prozedurale Rechtfertigung erfolgen, während beim Behandlungsabbruch, der sich auf die §§ 1901a ff. BGB stützt und diese in die Tatbestandslösung integrieren soll, der Fahrlässigkeitsvorwurf für die Handelnden entfallen soll, wenn sie das Verfahren eingehalten haben. Hierfür wäre eine gesetzliche Regelung wünschenswert.

9. Kapitel

Fazit und Ausblick A. Fazit zu Prozeduralisierungen am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes Der Einsatz von Prozeduralisierungen am Anfang und am Ende des menschlichen Daseins stellt nach den Erkenntnissen der Arbeit gewiss keine Zufälligkeit dar. Gerade am Anfang und am Ende des Lebens zieht der Gesetzgeber Verfahren zu Rate und betreibt auf diese Weise verfahrensrechtlichen Grundrechtsschutz, weil gerade an den Schnittstellen von Leben und Tod materiellrechtliche Festlegungen nur schwer möglich sind. Gerade an diesen Stellen hat aber Rechtsklarheit und Stimmigkeit vorzuherrschen. Medizinstrafrechtliche Verfahren – wie sie in Kapitel 2 dargestellt wurden – werden genutzt, um eine Absicherung, einen strafrechtlichen Halt zu geben, der vergleichbar nur auf materiellrechtlichem Wege möglich erscheint. Letzterer erweist sich aber häufig durch zu viele steinige Kontroversen als mühsam bzw. nicht begehbar. Die Darstellung der Begrifflichkeiten in Kapitel 3 hat ergeben, dass unter Prozeduralisierung nicht nur von Bereich zu Bereich, sondern auch innerhalb der Strafrechtswissenschaft erhebliche Divergenzen bezüglich des Begriffsverständnisses vorzufinden sind. Um die verschiedenen Ansichten kategorisieren zu können, wurden die Begriffspaare „diskursiv“/„formal“ und „ersetzend“/„fördernd-ersetzend“ gewählt. Durch diese einheitliche Terminologie könnten in Zukunft Begriffsklarheit gestiftet und Irritationen vermieden werden. Die Auseinandersetzung mit dem Wesen des Medizinstrafrechts in Kapitel 4 hat gezeigt, dass dieses aufgrund seiner zahlreichen Facetten in besonderem Maße für prozedurale Strukturen empfänglich ist. Belege hierfür sind die medizinstrafrechtliche Inter- und Intradisziplinarität, der Hang zur Moralisierung, die Abhängigkeit vom technischen Fortschritt sowie die elementare Bedeutung von tatsächlichem Wissen, das gesammelt und ausgeglichen werden muss. Einzig das prozedurale Element der normativen Revision ist in gewissem Umfang zu relativieren. Im Rahmen des § 218a Abs. 1 StGB und des § 3a ESchG wurden zwar Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten geregelt. Diese Pflichten wurden in der Praxis allerdings eher nachlässig behandelt. Dies dürfte daran liegen, dass die Bereiche schlicht nicht als schnelllebige anzusehen sind, die sich zeitnah gewandelten Rechtsauffassungen anpassen können. Es ist anzunehmen, „dass vom Ge-

A. Fazit 

307

setzgeber einmal geschnürte Pakete in ethischen Angelegenheiten ungern schnell wieder aufgeschnürt werden“1. Im Ergebnis ist daher von einer grundsätzlichen Symbiose zwischen dem Medizinstrafrecht und einer Prozeduralisierung auszugehen. In Kapitel 5 wurde schließlich eine eigene Definition prozeduralen Medizinstrafrechts aus den zuvor erörterten Strukturelementen entwickelt. An dieser wurden die prozeduralen Lebensschutzkonzepte sodann gemessen und entsprechend eingeordnet. Die Definition lautet: Prozedurales (Medizin-)Strafrecht ist in seiner Zusammensetzung eine neuartige, wenn auch historische Vorbilder besitzende strafrechtliche Regelungstechnik, welche bei Beachtung des gesetzlich normierten Verfahrens, welches u. a. in einem diskursiven Entscheidungsfindungsprozess betroffener Privater oder interdisziplinär zusammengesetzter Gremien besteht („Diskurs“ + übrige formale „Checkliste“), trotz einer nachfolgend (durch medizinische Intervention) eintretenden Rechtsgutsverletzung den Beteiligten Rechtssicherheit und im Ergebnis Straffreiheit „als einen fairen Deal“ anbietet. Das Ergebnis des „Deals“ kann dabei sowohl an die Stelle des materiellen Rechts treten als auch seine Durchsetzung fördern. Ein roter Faden der Prozeduralisierung im Medizinstrafrecht kann indes im Begriff des Kompromisses gesehen werden. Daraus resultieren aber gleichzeitig oft die Bedenken gegen Prozeduralisierungen. Ein strafrechtlicher Kompromiss scheint nur schwer akzeptierbar und könnte einem Oxymoron gleichen. Es wurde aber in Kapitel 6 gezeigt, dass verfassungsrechtliche Prinzipien einer Prozeduralisierung nicht per se entgegenstehen; es kommt vielmehr auf die Ausgestaltung der prozeduralen Regelung im Einzelfall an. Zudem hat sich ergeben, dass es zu einem durch Prozeduralisierung erreichten Kompromiss nur schwer alternative Regelungskonzepte gibt, die verfassungskonform sind und Erfolg erzielen. Sämtliche Regelungskomplexe tragen prozedurale Strukturen in sich und sind auf sie auch angewiesen, wie Kapitel 7 ergeben hat. Würde ein Schwangerschaftsabbruch ausnahmslos unter Strafe gestellt, so geriete die Schwangere dennoch in eine Konfliktsituation und würde in verzweifelten Fällen wohl nicht nur das Leben des Embryos beenden, sondern auch sich selbst einer erheblichen Gefahr aussetzen. Eine materiellrechtliche Indikation, die durch Dritte festgestellt würde, wäre ebenso kontraproduktiv. Das Beratungskonzept stellt demnach de lege lata die beste Möglichkeit für den Lebensschutz dar. Statt Druck auf die Schwangere auszuüben und diese in die Enge zu treiben, sollen ihr Hilfe und Unterstützung angeboten werden, um sie doch noch zur Austragung des Kindes zu ermutigen. 1 Krüger, in: Rosenau, Ein zeitgemäßes Fortpflanzungsmedizingesetz für Deutschland, S. 69 (95).

308

9. Kap.: Fazit und Ausblick

Beim Behandlungsabbruch nach den betreuungsrechtlichen Vorschriften der §§ 1901a ff. BGB besteht neben einem Kompromiss ebenso schwer eine vertretbare Handlungsalternative. Es gilt an dieser Stelle den mutmaßlichen Willen bestmöglich zu ermitteln. Dafür soll das Konzept der §§ 1901a ff. BGB eine Gewähr bieten. Ein bestmöglich ermittelter mutmaßlicher Wille des Patienten stellt de lege lata die verhältnismäßigste und zugleich effektivste Möglichkeit der Bewahrung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten dar. Die Nichtzulassung des mutmaßlichen Willens als Grundlage eines straflosen Behandlungsabbruchs stellt aus verfassungsrechtlicher Perspektive keine ernsthafte Alternative dar. In den untersuchten Rechtsbereichen hängt die Akzeptanz von Verfahren zur Regelung der Materie – anders als in anderen strafrechtlichen Rechtsmaterien – auch stark von der eigenen liberalen oder eher konservativen Rechtsauffassung ab. Gleichwohl zeigen die vorgenannten verfassungsrechtlichen Alternativen, dass medizinstrafrechtliche Verfahren an diesen Stellen einen effektiveren Grundrechtsschutz ermöglichen. Die propagierte Verfahrensakzeptanz wird somit auch durch das Verfassungsrecht bekräftigt, nicht nur durch ein individuelles liberales Werteverständnis. Es wurde gezeigt, dass eine medizinstrafrechtliche Prozeduralisierung an den Grenzen des Lebens aber grundsätzlich auch zu einer Liberalisierung der Rechtsmaterie beiträgt. Das Strafrecht muss gerade im Bereich des Lebensschutzes präsent bleiben und darf sich nicht zu weit zurückziehen. Kon­ strukte wie der „rechtsfreie Raum“ gewährleisten daher nicht die notwendige, strafrechtliche Präsenz. Prozeduralisierungen stellen in ihrer Gesamtschau in gewisser Hinsicht „eine Art von Opium“ für die Gesellschaft und ihre pluralistischen Auffassungen dar. Es gibt nicht mehr nur „die eine richtige Lösung“. Die Pluralität der Gesellschaft wird durch mehrere prozedurale Handlungsoptionen befriedigt. Die Wirkungsweise der Prozeduralisierung, einem Opium ähnlich, ist des Weiteren, wie folgt, zu begründen: Auf der einen Seite werden strafrechtliche Konsequenzen statuiert und gezogen, auf der anderen Seite werden sie gleichzeitig mittels eines verfahrensrechtlichen Charakters milder abgestimmt. Die Bezeichnung als Opium darf allerdings nicht zu negativ gewertet werden. Der Gewinn einer Prozeduralisierung ist von der jeweiligen Dosis abhängig. Nach Untersuchung der einzelnen Lebensschutzkonzepte erweist sich die Angst, Verfahren könnten über die materielle Rechtswirklichkeit die Oberhand gewinnen und das verfahrensrechtliche Ergebnis über die tatsächliche strafrechtliche Wirklichkeit stellen, als unbegründet. Der – in einem übertragenen Sinne gezogene – Vergleich ermöglicht eine plastische Darstellung der beiden verschiedenen Funktionen von Prozeduralisierung im Medizinstrafrecht. Im Hinblick auf die beschriebene Befürchtung, Verfahren könnten die materielle Wirklichkeit nach und nach überlagern, wurde festgestellt, dass zwar deutliche Pa-

A. Fazit 

309

rallelen zu den rechtsphilosophischen Prozeduralisierungstheorien, nach welchen das Verfahren den Richtigkeitsmaßstab für das Ergebnis bildet, existieren. Dies gilt insbesondere für die Diskurstheorie von Habermas. Es kommt de lege lata jedoch zu keiner Überlagerung der materiellrechtlichen Wirklichkeit durch eine verfahrensrechtliche. Beim Schwangerschaftsabbruch nach § 218a Abs. 1 StGB besteht diese Gefahr schon deshalb nicht, weil es eine materielle Wirklichkeit neben der aus dem Verfahren hervorgegangenen Entscheidung der Schwangeren nicht gibt. Die Überprüfung der Indikation durch Dritte ist an dieser Stelle nicht möglich, weil sich die höchstpersönliche Konfliktlage einer Wertung durch Dritte entzieht. Der Vergleich der medizinstrafrechtlichen Konzepte in Kapitel 8 hat ergeben, dass de lege ferenda eine prozedurale Rechtfertigung des beratenen Schwangerschaftsabbruchs eingeführt werden sollte. Bei dem auf die §§ 1901a ff. BGB gestützten Behandlungsabbruch droht die genannte Gefahr nur bei Zulassung einer prozeduralen Rechtfertigung durch Verfahren. Nach dem in Kapitel 8 gezogenen Vergleich und dem daraus hervorgegangenen Konzept der prozeduralen Tatbestandslösung sollen die Beteiligten bei Beachtung der §§ 1901a ff. BGB aber erst aufgrund eines fehlenden Sorgfaltswidrigkeitsverstoßes entlastet werden. Daneben besteht weiterhin die objektive Wirklichkeit des materiellen Willens des Patienten. Auf gleicher Ebene steht insofern der vom Gericht als Letztinstanz auf seine Vertretbarkeit hin festgestellte mutmaßliche Wille des Patienten. Bei der in § 3a ESchG geregelten PID besteht de lege lata auch keine Gefahr der Überlagerung der Wirklichkeit durch ein Verfahren. Das Verfahren ersetzt das materielle Ergebnis nicht. Das Strafgericht hat – auch wenn es dabei an den zugestandenen Beurteilungsspielraum der Ethikkommission gebunden ist – als letztgültige Instanz festzustellen, ob die materiellen Voraussetzungen des § 3a Abs. 2 ESchG erfüllt sind oder nicht. Auch eine Angleichung an die Vorschrift des § 218a Abs. 2 StGB de lege f­ erenda würde zu keiner Vormachtstellung des Verfahrens gegenüber der rechtlichen Wirklichkeit führen. Ein Verfahren im Sinne der Prozeduralisierung würde nicht stattfinden, sondern der Arzt hätte die jeweiligen Voraussetzungen festzustellen. Keines der prozeduralen Lebensschutzkonzepte bildet de lege lata eine „nur“ verfahrensrechtlich gerechtfertigte zweite Realität, die mit der materiellen Rechtswirklichkeit auf eine Stufe gehoben würde. Eine Verfahrensrichtigkeit erster Stufe wird nicht kreiert. Rechtsphilosophische Prozeduralisierungstheorien korrelieren daher nur insofern mit dem Gedanken einer Prozeduralisierung, als sie versuchen, aus dem Verfahren den größten Mehrwert zu ziehen und ein Ergebnis zu erzeugen, das dem materiellrechtlichen am nächsten kommt. Das Verfahren kann daher zwar nicht dazu führen, dass das Ergebnis richtig ist, man kann es durch die Ver-

310

9. Kap.: Fazit und Ausblick

fahrensbeachtung aber zumindest für richtig halten.2 Das besänftigende Opium, das zur Beruhigung der gesellschaftlichen Pluralität herangezogen wird, ist daher de lege lata nicht zu hoch dosiert und auch in Bezug auf die Vorschläge de lege ferenda verhältnismäßig dosierbar. Allerdings spielt die Dosis der Prozeduralisierung auch in anderem Zusammenhang eine erhebliche Rolle. Sie muss nicht nur in den einzelnen Bereichen inhaltlich verhältnismäßig bemessen werden, sondern auch thematisch. Sie hat sich der Frage zu stellen, ob sie im jeweiligen Teilgebiet des Medizinstrafrechts gewinnbringend angewandt werden kann. Die Kritik, dass Prozeduralisierungen – wenn überhaupt – nur die halbe Wahrheit ans Licht bringen könnten, gleichzeitig aber suggerierten, dass es sich um die ganze handele, ist genau umzukehren. Nicht die Prozeduralisierung an sich fördert eine Überdeckung der Wahrheit, sondern vielmehr die Ansichten, die annehmen, dass es die Wahrheit immer und überall gibt. Die Prozeduralisierung ist vielmehr ein Realist: Sie tut, was Mögliches zu tun in ihrer Macht stand und nimmt hin, was mit Blick auf die Erforschung der Wahrheit nicht möglich gewesen ist.3 Hierin zeigt sich auch die andere, zweite Wirkungsweise der Prozeduralisierung und die zweite Erklärung bezüglich des herangezogenen Vergleichs: Wie ein Opium kann sie auf der einen Seite beruhigend, auf der anderen aber leistungsfördernd und aufputschend wirken.

B. Ausblick de lege ferenda Das rechtliche Bedürfnis nach Prozeduralisierungen sowie im Allgemeinen nach prozeduralen Strukturen dürfte in Zukunft aufgrund der rasanten technischen Entwicklung, neuen risikobehafteten Verfahren sowie einer stets fortschreitenden Globalisierung zunehmen. Man sollte Prozeduralisierungen daher als zukunftsorientierte und durchhaltefähige Erscheinungsform nicht unterschätzen, sondern ihren rationalen und präventiven Nutzen ernst nehmen und in dafür annahmefähige Strukturen integrieren. Es wurde gezeigt, dass Prozeduralisierungen auch im Strafrecht grundsätzlich mit dem Verfassungsrecht, insbesondere mit rechtsstaatlichen Prinzipien, vereinbar sind. Gleichzeitig dürfen aber auch ihre verfassungsrechtlichen Grenzen nicht überschritten werden. Auf diese ist allzeit ein waches Auge zu werfen. Prozedurale Regelungen müssen stets auf ihre Verhältnismäßigkeit hin untersucht werden. Weite Teile des Medizinstrafrechts wurden bereits prozeduralisiert. Lenkt man den Blick weg von Prozeduralisierungen am Anfang und Ende des menschlichen Lebensschutzes, finden sie sich nicht nur im Arzneimittelrecht, nach dem gem. 2

So Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (748) in Bezug auf die Diskurstheorie von J. ­Habermas. 3 Hassemer, in: FS Mahrenholz, S. 731 (747).

B. Ausblick de lege ferenda

311

§ 40 Abs. 1 S. 2 AMG, § 42 Abs. 1 AMG eine Ethikkommission über die ethische Vertretbarkeit eines Forschungsvorhabens zu befinden hat, sondern ebenfalls im Recht der Lebendorganspende. Nach § 8 Abs. 3 TPG hat eine Lebendspende­ kommission eine Stellungnahme zu den Kriterien der Freiwilligkeit und des Vorliegens von Anzeichen eines Organhandels abzugeben. Daneben existiert auch im Kastrationsrecht die Vorschrift des § 5 Abs. 1 Nr. 2 KastrG, nach der eine Gutachterstelle zu überprüfen hat, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Kastration nach §§ 2, 3 KastrG vorliegen. Die prozeduralen Verflechtungen im Medizinstrafrecht sind daher äußerst vielfältig und ersichtlich unterschiedlich umgesetzt. Prozeduralisierungen im Medizinstrafrecht bieten nach diesem Ausblick weitere Chancen für eine erhöhte Rechtssicherheit und gleichzeitig einen erhöhten Rechtsgüterschutz. Diese wurden bislang noch nicht hinreichend ausgeschöpft. Auch wenn Prozeduralisierungen am Anfang und am Ende des strafrechtlichen Lebensschutzes ein besonders intensives Anwendungsfeld darstellen, darf auch der Blick auf andere medizinstrafrechtliche Themengebiete in Zukunft nicht versperrt bleiben. Diese sind ebenfalls auf ihre rechtliche Kohärenz im Gefüge medizinstrafrechtlicher Prozeduralisierungen zu untersuchen. Für die Zukunft besteht hier noch Vertiefungsbedarf.

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Sachwortverzeichnis Akzessorietät des Strafrechts  124 Apallisches Syndrom  77 Ärztlicher Heileingriff  72

Früheuthanasie – Begriff 280 – strafrechtliche Problematik  280 ff.

Behandlungsabbruch – Begriff  91 ff. – Dogmatische Umsetzung der Straflosigkeit de lege ferenda  294 ff. Behandlungswünsche 80 Beobachtungsstrategien des Rechts siehe Reflexivität des Rechts Beratungsschutzkonzept  43 ff., 179 f. Betreuer  77, 79 Betreuungsgericht 83 Blastomerenbiopsie 49 Blastozystenbiopsie 49

Gesetzlichkeitsprinzip – Allgemeine Bedeutung  165 f. – Bedeutung für prozedurales Recht  166 ff. Grundrecht auf Leben – des Embryos in vitro  209 – des Embryos in vivo  33 f. – Staatlicher Lebensschutz als Verfassungsaufgabe  25, 29 Grundrechtliche Vorwirkung  218 f. Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren – Begriff  97 f. – Gründe  100 ff. – Mülheim-Kärlich-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts  98 f. Grundrechtsschutz im Verfahren  98

Dienende Funktion des (Verwaltungs-)Verfahrens  117, 127 Diskurstheorie nach Jürgen Habermas – Kritik an der Diskurstheorie  107 f. – Nutzen der Diskurstheorie  108 – Prinzipien der Diskurstheorie  105 ff. Eid des Hippokrates  140 Erbkrankheit – Begriff 49 – schwerwiegende Erbkrankheit nach § 3a Abs. 2 ESchG 59 f., 69 Ethik – Begriff  139 f. – medizinische Ethik  140 f. Ethikkommission – Begriff der klassischen Ethikkommission ​ 58 – Beurteilungsspielraum der PID-Ethikkommission  61 ff. – Ursprung  56 f. – Votum der PID-Ethikkommission  58 ff.

Konfliktlösung siehe Betreuungsgericht Leben – Bedeutung nach christlicher Glaubenslehre 25 – Staatlicher Lebensschutz siehe Grundrecht auf Leben Medizinische Indikation  81 Medizinstrafrecht – Interdisziplinarität  137 ff. – Medizin als Kernelement  152 ff. – moralische Einflüsse  148 ff. – Zweidimensionalität der Ethik im Medizinstrafrecht  141 ff. Medizinstrafrechtliche Lebensschutzkonzepte – Festgestellte Auswirkungen einer Prozeduralisierung  299 ff. – Maßgebliche Gemeinsamkeiten  285 ff.

Sachwortverzeichnis – Maßgebliche Unterschiede  290 f. Menschenwürde  148 f. Moral – Begriff 139 – Verhältnis zum Strafrecht  144 ff. Mutmaßlicher Wille  81

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Prozedurale Legalisierung  120 Prozedurales Recht – Begriffsirritationen  114 f. – Definition eines prozeduralen Medizinstrafrechts 163 – Dogmatische Einordnung  119 f. – in einem engeren Sinne/in einem wei­teren Sinne  120 f. Naturrecht  104, 110 f. – Klassische Kennzeichen  122 ff. Nichtwissen siehe spezifisches Nichtwissen – Rechtsnatur  118 f. Normativer Positivismus  104 – Rechtsphilosophischer Ursprung  103 ff. – Rechtssoziologischer Ansatz  111 ff. Parlamentsvorbehalt  168 ff. – Vorschlag einer einheitlichen TerminoloPartizipation gie 162 – der Betroffenen und Auswirkungen  130 – Privater an der Entscheidungsfindung ​ Prozeduralisierung – Begriff  115 f. 129 ff. Patientenautonomie siehe Selbstbestimmungs– des Umwelt- und Technikrechts  137 recht des Patienten – des Wirtschaftsstrafrechts  28, 136 f. Patientenverfügung – Grenzen im Strafrecht  175 – Adressat  84 f. Prozeduralität  115 f. – Begriff 78 „Putz-Urteil“ – Bestimmtheitsanforderungen 87 – Aussagen des Urteils  91 ff. – Erforderlichkeit der Vertreterbestellung ​ – Auswirkungen des Urteils  95 85 f. – Resonanz des Urteils  93 f. – Gesetzliche Systematik der §§ 1901a ff. – Zugrundeliegender Sachverhalt  88 f. BGB siehe Verfahren der §§ 1901a ff. BGB Patientenverfügungsgesetz siehe Verfahren „Rechtsfreier Raum“  126 f. der §§ 1901a ff. BGB Reflexivität des Rechts  133 f. Präimplantationsdiagnostik Regulierte Selbstregulierung siehe Selbstbe– Analyse der gesetzlichen Regelung hinschränkung des Strafrechts sichtlich prozeduraler Elemente  206 ff. Risikogesellschaft  112 f. – Einordnung der gesetzlichen Regelung in prozedurales Begriffsverständnis  223 ff. „Schleier des Nichtwissens“  110, 115 – gesetzliche Regelung des § 3a ESchG 53 ff. Schwangerschaftsabbruch – Prozedurale Intention der gesetzlichen Re– Analyse der gesetzlichen Regelung hingelung  226 ff. sichtlich prozeduraler Elemente  177 ff. – Verfahren  48 ff. – Dogmatische Umsetzung de lege feren– Vorschlag prozeduraler Umsetzung de da  292 ff. lege ferenda  284 – Einordnung der gesetzlichen Regelung in – Weg zur gesetzlichen Kodifizierung des prozedurales Begriffsverständnis  195 ff. § 3a ESchG 50 ff. – Gesetzliche Regelung de lege lata  41 ff. Pränataldiagnostik – Historische Entwicklung der gesetzlichen Regelung  36 ff. – Begriff  226 f. – Prozedurale Intention der gesetzlichen – Möglicher Wertungswiderspruch zur ReRegelung  204 f. gelung der PID  231 ff. – Rechtsnatur der gesetzlichen Regelung ​ PraenaTest 230 Präventionsstrafrecht siehe Risikogesellschaft 45 ff. Prozedurale Gerechtigkeitstheorien  105 Schwangerschaftskonfliktgesetz 45

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Sachwortverzeichnis

Selbstbeschränkung des Strafrechts  122 ff. Selbstbestimmungsrecht des Patienten  71 ff. SKIP-Argumente 34 Spezifisches Nichtwissen  109 f. Sterbehilfe – aktive  74, 277 ff. – indirekte  76 f. – passive  74, 77, 90 – sterbehilferechtliche Prozeduralisierungs­ tendenzen de lege ferenda  277 ff. Tötung auf Verlangen – Abgrenzung zum straffreien Behandlungsabbruch  75 f., 92 – Abgrenzung zur indirekten Sterbehilfe ​77 – Rechtfertigung des strafrechtlichen Verbots 75 Ultima Ratio-Prinzip  172 Unterlassen durch Tun  90 f. Untermaßverbot  173 ff. Verfahren der §§ 1901a ff. BGB

– Analyse der Verfahrensvorschriften hinsichtlich prozeduraler Elemente  240 ff. – Einordnung der Verfahrensvorschriften in prozedurales Begriffsverständnis ​ 272 ff. – Entfallen des Fahrlässigkeitsvorwurfs bei Verfahrensbeachtung  257 f. – gesetzliche Systematik der §§  1901a  ff. BGB 78 ff. – Prozedurale Intention der Verfahrensvorschriften  276 f. – Strafrechtliche Konsequenzen bei Nichtbeachtung des Verfahrens  258 ff. – Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes bei Verfahrensbeachtung  254 ff. Verfahrensgerechtigkeit  127 f. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz  172 f. Wachkoma siehe Apallisches Syndrom Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft  192 f. Wesentlichkeitstheorie 169 Wissensbedeutung  131 ff., 153 f.