Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts: Eine internationale Diskussion [Reprint 2015 ed.] 9783050071831, 9783050028484

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Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts: Eine internationale Diskussion [Reprint 2015 ed.]
 9783050071831, 9783050028484

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. New Historicism
Historicism, Kulturpoetik und das Ende der amerikanischen Geschichte
Der New Historicism und die Ideologie der Zustimmung
New Historicism und Kulturanthropologie: Ansätze eines deutsch-amerikanischen Dialogs
II. Storicismo
Croce und der italienische „Neo-Historismus“
Der existentielle Historismus Pietro Piovanis
Die „politische“ Dimension des problematisch-kritischen Historismus in Italien
III. Historismus
Historismus - Geschichte und Bedeutung. Eine kritische Übersicht der neuesten Literatur
Geschichte und Historismus in der deutschen Tradition des politischen und ökonomischen Denkens
Die Modernität der Vergangenheitszuwendung
Historismus – Multikulturalismus – Kommunitarismus
Die Legitimität des Historismus
Zum Historismusstreit in der Hermeneutik
Personenregister
Autorenverzeichnis

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Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts

Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts Eine internationale Diskussion

Herausgegeben von Gunter Scholtz

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - Cip-Einheitsaufnahme Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts : eine internationale Diskussion / Gunter Scholtz (Hg.). Berlin : Akad. Verl., 1997 ISBN 3-05-002848-3 NE: Scholtz, Gunter [Hrsg.]

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1997 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Satz: BlackArt, Berlin Druck: GAM Media, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Einleitung

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I. New Historicism BROOK THOMAS

New Historicism, Kulturpoetik und das Ende der amerikanischen Geschichte

13

OLIVER A R N O L D

Der New Historicism und die Ideologie der Zustimmung

23

HINRICH C . SEEBA

New Historicism und Kulturanthropologie: Ansätze eines deutsch-amerikanischen Dialogs

40

II. Storicismo FULVIO TESSITORE

Croce und der italienische „Neo-Historismus"

55

GIUSEPPE CANTILLO

Der existentielle Historismus Pietro Piovanis

68

GIUSEPPE CACCIATORE

Die „politische" Dimension des problematisch-kritischen Historismus in Italien

...

84

III. Historismus GEORG G . IGGERS

Historismus - Geschichte und Bedeutung. Eine kritische Übersicht der neuesten Literatur

102

LAWRENCE A . SCAFF

Geschichte und Historismus in der deutschen Tradition des politischen und ökonomischen Denkens

127

6

Inhalt

HERMANN LÜBBE

Die Modernität der Vergangenheitszuwendung

146

K A R L ACHAM

Historismus - Multikulturalismus - Kommunitarismus

155

VOLKER STEENBLOCK

Die Legitimität des Historismus

174

GUNTER SCHOLTZ

Zum Historismusstreit in der Hermeneutik

192

Personenregister Autorenverzeichnis

215 223

Einleitung

Während der Begriff „Postmoderne" schon wieder unmodern geworden ist und deshalb aus den Buchtiteln schwindet, wird nach wie vor über den Historismus debattiert, und es mangelt nicht an einschlägiger Literatur. Die zum Teil sogar hitzige Diskussion läßt vermuten, daß das Thema Historismus am Ende unseres Jahrhunderts sogar an Aktualität gewonnen hat. Dabei kann keineswegs als geklärt gelten, was man unter „Historismus" zu verstehen hat; für die einen ist er noch immer eine zu überwindende Bedrohung aller Geisteswissenschaften, für andere eine große Leistung moderner Wissenschaftskultur, für wieder andere eine bestimmte Phase der Geschichtswissenschaft, für weitere eine Weltanschauung oder ein philosophisches Programm usw. Die Lexika überzeugen uns, eine welch große Karriere der Historismusbegriff im 20. Jahrhundert machte. Erst in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts nehmen einige Handbücher diesen Begriff auf, während heute kaum eines in der Welt auf einen entsprechenden Artikel wird verzichten wollen. Allerdings bestätigen gerade auch die Handbücher, wie wenig Einigkeit über die Bedeutung von Begriff und Sache des Historismus besteht. Wegen dieser Aktualität eines umstrittenen Begriffs fand im Mai 1994 in der Werner Reimers Stiftung (Bad Homburg v. d. H.) ein internationales Symposion über den „Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts" statt. Hier sollte nicht ein Manifest zum wahren Historismus erarbeitet, sondern diskutiert werden, was der Begriff alles bezeichnen kann und worin die Aktualität der Sache zu suchen sei. Dazu schien es von vornherein nötig, nicht nur deutsche Diskutanten einzuladen, sondern eine internationale Diskussion zu führen. Während nämlich in Deutschland die einen im Historismus ein typisch deutsches Problem und andere eine typisch deutsche Errungenschaft erkennen, zeigt schon ein Blick in die Buchkataloge, daß es auch anderswo Historismus gibt, ja spezifisch neue Historismusformen wie in den Vereinigten Staaten oder in Italien. Zudem findet sich „Historismus" natürlich nicht nur dort, wo programmatisch dieses Wort auftaucht, sondern man wird - hat man ein bestimmtes Historismusverständnis - dann auch die Sache zumeist auch in anderen Kulturen und Kontexten entdecken. Weil allerdings ein Historismus-„Kongreß" weniger fruchtbar als ein Symposion zu sein schien, diskutierten in Bad Homburg nur Teilnehmer aus den Vereinigten Staaten, Italien und aus dem deutschen Sprachbereich, und keineswegs waren alle Historismusströmungen der Gegenwart und alle einschlägigen Disziplinen repräsentiert. Die Referate jenes Symposions sind nun in diesem Band zugänglich, ergänzt durch weitere Beiträge.

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Einleitung

(1.) Die erste Abteilung der nachfolgenden Abhandlungen gilt dem „New Historicism", der in den Literaturwissenschaften der U.S.A. seinen Ausgang nahm, zu dem sich inzwischen aber auch Vertreter vieler anderer Humanwissenschaften zugehörig fühlen und der in einer eigenen Schriftenreihe und in verschiedenen Sammelbänden dokumentiert ist. B. Thomas gibt eine erhellende Einführung in diese Strömung und zeigt, wie die führenden Neu-Historisten wie St. Greenblatt und L. Montrose durch Anleihen beim Poststrukturalismus das Verhältnis von Text und Kontext neu und anders bestimmen als der ältere Historismus: die Vorstellungen von einer deutlichen Trennung des Ästhetischen und Sozialen und die Idee eines kulturellen oder textuellen „Ganzen" wurden aufgegeben. Aber analog zur älteren Form des Historismus lehnt der New Historicism unhistorische Analyseverfahren wie die des New Criticism ab und wendet sich der historischen Realität zu. B. Thomas bringt die breite Wendung zum New Historicism in einen engen Zusammenhang mit der Krise des bisher herrschenden Geschichtsbildes in den Vereinigten Staaten, mit der Krise der Überzeugung, in der amerikanischen Gesellschaft vollende sich die fortschreitende Weltgeschichte. Die Krise des Fortschrittsgedankens und die Wende zu den historischen Partikularitäten sind offensichtlich nur zwei Seiten desselben Vorgangs. Der Beitrag von O. Arnold bestätigt und ergänzt das von Thomas gezeichnete Bild: Der New Historicism folgt mehr noch als der ältere Historismus einer „Logik der Unterscheidung" und akzentuiert nicht nur die Differenzen zwischen den Kulturen, sondern auch die innerhalb einer Kultur, so daß jetzt auch und gerade die marginals, die Randgruppen in den Blick kommen. Alle kulturellen Produkte, aber auch der Mensch selbst, werden in ihrer historischen Kontingenz und Bedingtheit gesehen, und da dies auch für den Humanwissenschaftler wie den Historiker gilt, ergeben sich neue Objektivitätsstreitigkeiten. Die Geschichtlichkeit des Historikers führt O. Arnold uns durch eine geschickte Selbstanwendung am Beispiel des New Historicism vor Augen: Die These der neuhistoristischen Renaissanceliteratur, gemäß welcher das Königtum der Tudors nur auf „theatraler Macht" beruhte, entsteht im Kontext der modernen demokratischen Ideologie, in welcher politische Macht sich auf Zustimmung gründet. H. C. Seeba stellt den New Historicism zunächst in den größeren Zusammenhang einer „Kulturkritik der Identitätsbildung" ein, die sich auf bestimmte kulturelle Formationen einzulassen gezwungen sieht. Nicht nur der New Historicism, so erfahren wir, sondern auch viele andere Schulen und Strömungen haben in den Vereinigten Staaten die historische Kontextualisierung vorangetrieben und dabei historische Realität und Praxis als Textformen behandelt. Vor allem aber zeigt Seeba unter wissenschaftshistorischer Perspektive eine Fülle von historischen Voraussetzungen des New Historicism, der über der synchronen Betrachtungsweise den diachronen Aspekt und so auch seine eigenen historischen Bedingungen zu vergessen droht. Dabei kann Seeba - über New History und andere Positionen - interessante Verbindungslinien zwischen dem New Historicism und Theoretikern aus dem Umkreis der deutschen Kulturanthropologie aufweisen. Dergleichen Wissenschaftsgeschichte - so wird deutlich - kann selbst in den Dienst der Kritik kultureller Identitätsbildung treten. (2.) So wenig in vorliegendem Band alle Spielarten und Aspekte des New Historicism zur Sprache kommen konnten, so wenig ist die vielstimmige Diskussion um den Historismus in Italien hier vollständig repräsentiert. Dafür kommt die neapolitanische Schule ausführlich zu Wort, die wie keine andere dezidiert einen philosophischen neo-storicismo pro-

Einleitung

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pagiert. F. Tessitores Beitrag macht deutlich, wie diese Schule nicht etwa an das Denken B. Croces anknüpft, sondern sich gerade in Abgrenzung von ihm profiliert. Croces storicismo wird eine „Ontologisierung der Geschichte", eine Geschichtsmetaphysik, eine hegelsche Geistphilosophie vorgeworfen, die mit ihrer „totalistischen" Tendenz weder der historischen Realität noch der Individualität und Freiheit des Menschen Raum lasse. Indem so der liberale Croce längst nicht als liberal genug erscheint, erkennt man die Stoßrichtung dieses Historismus: Er wendet sich gegen jede Metaphysik und auch gegen jeden Naturalismus, bringt an die Stelle der Systemphilosophie die Geschichtswissenschaft und akzeptiert als seine philosophischen Autoritäten Kant und Humboldt, als wissenschaftstheoretische Vorbilder hingegen Max Weber und Friedrich Meinecke. Als eigentlicher Begründer dieser Philosophie aber gilt Pietro Piovani, der mit seinem Denken einen „existentiellen Pluralismus" grundlegte. G. Cantillo zieht die bei Tessitore angedeuteten Linien sehr sorgfältig aus und macht uns mit dem in Deutschland selten oder nie zitierten Piovani näher bekannt. Beeinflußt von dem christlich geprägten Rechtsphilosophen G. Capograssi und von der Existenzphilosophie, besonders von Jaspers, hat Piovani nach dem Zweiten Weltkrieg eine Philosophie der freien Individualität entworfen, die in ihrer Endlichkeit und Bedürftigkeit sich transzendiert und dabei nach Wahrheit und Allgemeinheit, nach Überwindung ihrer Singularität strebt und auf die Koexistenz mit Anderen verwiesen ist: eine ethische Existenzphilosophie, für welche die Spannung zwischen individueller Freiheit und Suche nach allgemeinen Normen konstitutiv ist. Stellt sich uns Piovani als ein Theoretiker der Geschichtlichkeit des Menschen dar, so hat er selbst sein Denken auch dem Historismus zugeordnet - aber eben einem kritischen Historismus, der im Einvernehmen mit der historischen Forschung das Allgemeine im Besonderen erkennt und der sich von jedem absoluten Historismus, der auf eine absolute systematische Philosophie abzielt, abgrenzt. An Piovanis Denken wird deutlich, daß eine Philosophie der Geschichtlichkeit auch eine Gestalt des Historismus ist oder Historismus genannt werden kann. G. Cacciatore erweitert die Perspektive und rekonstruiert die historisch-kulturelle Genese des neapolitanischen Neo-Historismus, und zwar mit besonderem Blick auf die praktischpolitische Dimension dieser Philosophie. Die wichtigsten Entwicklungsstufen seien das Denken G. Vicos, dessen Geschichtsphilosophie zugleich politische Philosophie war, dann die Philosophien V. Cuocos und F. de Sanctis. Der Historismus habe stets Wissenschaft und Leben eng verknüpft, und deshalb verweist Cacciatore auf die Bezüge des italienischen Historismus zur kulturellen und politischen Situation Italiens. Dabei gewinnt dieser neostoricismo noch schärfere Kontur: als nicht-dogmatisch, nicht-finalistisch und nicht-absolut grenzt er sich von den marxistischen und idealistischen Versionen des Historismus ab. In der pluralistischen liberalen Demokratie erkennt er die angemessene politische Form für ein vielfaltiges individuelles Leben. - Der neapolitanische Historismus steht offensichtlich in der Spannung, einerseits die Freiheit der Individuen und die Offenheit und Vielfalt der Geschichte zu betonen, andererseits aber den philosophischen Gedanken und ethische und institutionelle Normen nicht ganz aufgeben zu wollen. (3.) Die Hauptgruppe der Beiträge gilt keiner Schule oder Richtung und auch nicht nur dem Historismus im deutschen Sprachbereich. Vielmehr sind hier Klärungsversuche und Stellungnahmen zu Begriff und Sache aus sehr verschiedenen Perspektiven versammelt.

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Einleitung

Eine der intensivsten Historismusdebatten findet gegenwärtig wohl in der deutschen Geschichtswissenschaft statt, wo „Historismus" als ein bestimmter Typus oder eine bestimmte Phase der Geschichtsschreibung gilt - man aber uneins ist, was genau man unter dem Historismus zu verstehen und wie man ihn zu beurteilen hat. Da schon bei Planung des Symposions sich ergab, daß ein geschichtswissenschaftliches Parallelprojekt von J. Rüsen und O. G. Oexle in Gang gekommen war, konnte diese Debatte zugunsten anderer Aspekte zurücktreten. Deshalb aber ist in unserem Kontext der Beitrag von G. G. Iggers dankenswert. Dieser informiert über die Geschichte und die Verzweigungen des Historismusbegriffs, gibt einen Überblick über die divergenten Historismusgestaltungen, um aber dann vor allem die neuere Literatur der Historiker vorzustellen. Iggers tut das nicht perspektivlos und ohne Werturteile, aber doch aus einer relativen Distanz zu den deutschen Parteiungen. Es ergibt sich aus seiner Darstellung u. a. dies, daß jede geschichtswissenschaftliche Schule sich offensichtlich auch ein bestimmtes Bild vom Historismus entwirft. Eine der wichtigsten Grundfragen der Historiker aber dürfte die Stellung des Historismus zur Aufklärung betreffen: muß er als deren Fortsetzung, Umwendung oder Beendigung angesehen werden? Iggers selbst orientiert sich in diesem Streit weitgehend an Max Weber. L. A. Scaff zeigt uns die Verbindungen der Historismusdiskussion am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts mit gegenwärtigen Ansätzen in Philosophie, Kultur- und Sozialwissenschaften. In allen neuen Fragen nach Sinn und Ende der Geschichte werden ältere Diskussionsfäden sichtbar. Besonders die Debatte über eine ethische Ökonomie und Überlegungen des Kommunitarismus haben heute starke Affinitäten zum älteren Historismus in der Nationalökonomie, der nicht auf eine formale Theorie abzielte, sondern auf der genauen Analyse der historischen sozio-kulturellen Bedingungen von ökonomischen Problemlagen beharrte. Ältere historistische Denkfiguren sind also laut Scaff gerade auch und wieder in der Gegenwart aufweisbar. Sein besonderes Augenmerk gilt den Phasen des Historismus in der politischen Ökonomie, aber den Leitfaden liefert die beunruhigende Historismusdiagnose Karl Mannheims, daß nämlich all unser Denken dem Fluß der Geschichte ausgesetzt ist. Scaff beansprucht nicht, alle daraus entspringenden wissenschaftstheoretischen und normativen Probleme zu lösen, aber er zeigt abschließend, wie wir uns der historistischen Herausforderung stellen und aus einem von Ideologien befreiten Historismus lernen können. Die beiden folgenden Beiträge erkennen im Historismus ein Spezifikum der modernen Zivilisation. H. Lübbe bringt die breite Vergangenheitszuwendung der modernen Gesellschaft in direkte Abhängigkeit mit ihrer beschleunigten Dynamik, mit der alle Bereiche der menschlichen Welt durch Innovationen einer radikalen Veränderung unterworfen sind. Dies nämlich bedeute „Gegenwartsschrumpfung", Verkürzung der Dauer von lebensweltlichen Vertrautheiten, Beschleunigung des Veraltens der eigenen Welt. Gerade in solch dynamischer Zivilisation werde historische Erinnerung nötig, um die eigene und die kollektive Herkunftsgeschichte erzählbar und um auch fremde Identitäten verstehbar zu machen. Solche Erinnerung bedürfe - wegen des beschleunigten Fremdwerdens der menschlichen Lebensverhältnisse - notwendig auch der Professionalisierung und Institutionalisierung. An einer Fülle von Beispielen kann Lübbe belegen, daß noch keine Zivilisation so viele Anstalten zur Vergegenwärtigung des Vergangenen traf wie die moderne. Historismus - das ist die wachsende Vergangenheitszuwendung aufgrund wachsender Veränderungserfahrung, und so betrachtet erstaunt nicht, wenn der Historismus an Aktualität gewinnt.

Einleitung

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K. Acham hingegen konzentriert sich auf den modernen Multikulturalismus und seine Parallelen mit jenem älteren Historismus, der seit dem 18. Jahrhundert die Individualität der Kulturen gegen das Gleichheitsdenken der Aufklärung zur Geltung brachte. Acham kann an verschiedenen Fallbeispielen eindrucksvoll belegen, wie ein neuer radikaler Universalismus und Internationalismus ebenso zu Konflikten führen kann wie die Radikalisierung des Historismus zur Bornierung von ethnischen, nationalen und kulturellen Identitäten. Für die Lösung der zwangsläufigen Wertkollisionen im Zeichen des Multikulturalismus entwirft Acham eine aufschlußreiche Typik. Der Liberalismus hat in der Regel durch Toleranz im privaten Bereich und durch Ordnungsforderungen für den öffentlichen solche Kollision zu verhindern gesucht; aber diese Trennung wird durch die Radikalisierung der Besonderheiten durchbrochen. Die moderne Gesellschaft steht deshalb vor der schwierigen Aufgabe, zwischen dem Historismus und den tradierten Wertorientierungen einerseits und interkultureller Verständigung und universalistischen Tendenzen des Zivilisationsprozesses andererseits ein Gleichgewicht zu erreichen. In diesem Zusammenhang gewinnt der Kommunitarismus an Interesse, da z. B. Ch. Taylor ebenfalls die Extreme einer völligen Homogenisierung der Gesellschaft und eines ethnozentrischen Separatismus zu vermeiden sucht. Acham verweist für den nötigen Balanceakt besonders auf Montesquieu, der sowohl die Regelmäßigkeiten in der menschlichen Welt als auch die individuelle Verschiedenheit der Sozialsysteme im Blick behielt. Historismus - das ist das moderne und aktuelle Problem, wie Traditionsvielfalt konfliktfrei möglich ist. V. Steenblock verteidigt den Historismus als modernes Geschichtsbewußtsein und die mit ihm verbundenen Geschichtswissenschaften gegen die Angriffe, die ihm die Auflösung überhistorischer Normen, die Zerstörung der apriorischen Vernunft und einen bedrohlichen Relativismus vorwerfen. Solche Kritik messe den Historismus an überzogenen Ansprüchen und gehe von der falschen Voraussetzung aus, Orientierung in der modernen Welt sei ohne Geschichte möglich. Es gelte aber einzusehen, daß wir ohne solchen Historismus weder Bildung und Identität noch Zugang zu der Vielgestaltigkeit und Buntheit der menschlichen Wirklichkeit erlangen. Geschichte gehöre wie Philologie und Hermeneutik zum unaufgebbaren Kernbestand der Geisteswissenschaften. Nur als Geschichtsmetaphysik sei der Historismus an sein endgültiges Ende gelangt, aber als historische Aufklärung unverzichtbar geworden. Steenblock verteidigt seine Ansicht in kritischer Auseinandersetzung mit einer großen Fülle an Positionen, auch mit solchen, die in diesem Band vertreten sind, und er stellt dabei manches in ein neues Licht. In meinem eigenen Beitrag habe ich auf den Historismusstreit hingewiesen, der die neuere Hermeneutik beherrscht: die philosophische Hermeneutik der Heidegger-Schule und die Vertreter einer methodologischen Hermeneutik werfen sich wechselseitig Historismus vor, und zwar in sehr verschiedenem Sinn. Diesen Streit zu klären schien mir schon deshalb wichtig, um zu ihm begründet Stellung nehmen zu können und um dem oft geäußerten Pauschalvorwurf zu begegnen, die Hermeneutik sei historistisch. Da jeder Historismus ein bestimmtes Verhältnis zur Geschichte einschließt, benötigt er auch der Reflexion auf die Hermeneutik. Überblickt man die Aufsätze dieses Bandes, so erkennt man leicht, wie wenig Einigkeit sich darüber erzielen läßt, was der Historismus ist: Sehr verschiedene Positionen und Probleme können damit bezeichnet werden, und fast alle Beiträge haben auf die Mehrdeutigkeit des

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Einleitung

Begriffs auch hingewiesen. Dennoch zeigen sich in vorliegenden Arbeiten über die Grenzen der Disziplinen und Kulturen hinweg auch Gemeinsamkeiten; so z. B. die Absage an Fortschrittsphilosophien und überhaupt die Skepsis gegenüber einer kohärenten Weltgeschichte; statt dessen der Blick auf die Pluralität der Geschichten, auf die Besonderheiten und Partikularitäten - wobei allerdings auf Aussagen über den Zivilisationsprozeß insgesamt nicht verzichtet wird. Gerade die faktischen historischen Divergenzen, die in der Synchronie sowohl wie in der Diachronie, dürften heute dem Begriff des Historismus seine Aktualität sichern. Vergleicht man diese Diskussionslage mit der am Beginn unseres Jahrhunderts, so stellt man Parallelen, aber auch Unterschiede fest: Es fehlt die Klage über den Historismus als historischen Positivismus, als sinnlose Anhäufung von historischem Tatsachenmaterial vermutlich hat sich die Überzeugung durchgesetzt, daß Tatsachen im Feld der menschlichen Dinge aufgrund von Ziel- und Wertorientierungen gesammelt werden und die historische Darstellung auch von Wertvorstellungen mehr oder weniger stark imprägniert ist. Es fehlt ebenfalls die Klage über einen „entnervenden Relativismus" - vermutlich sind die Erwartungen, es ließen sich kontextunabhängige, überhistorische Normen begründen, inzwischen zu sehr enttäuscht worden. Zuweilen hört man freilich aus manchem Beitrag die Beunruhigung über den historischen Wertrelativismus noch deutlich heraus. Und es ließen sich andere Diskussionszirkel denken, in denen diese Frage sogleich wieder im Zentrum steht. Die Debatte um den Historismus ist mit Sicherheit noch nicht an ihrem Ende. Soviel aber wird durch diesen Band zweifelsfrei deutlich: Mit dem Begriff des Historismus sind Probleme bezeichnet, die nicht nur das Interesse der akademischen Welt auf sich ziehen, sondern die für unsere moderne Zivilisation konstitutiv sind; und die Geisteswissenschaften, die sich mit den Varianten des Historismus auseinandersetzen und sie auch selbst verkörpern, sind integraler Bestandteil dieser Zivilisation. Ich danke zuerst und vor allem der Werner Reimers Stiftung, die das Symposion ermöglicht und beherbergt hat, und sodann der Fritz Thyssen Stiftung, die einen Reisekostenzuschuß gewährte. Mein weiterer Dank gilt der Fakultät III der Ruhr-Universität Bochum, die die Finanzierung der Übersetzungen unterstützte, und dem Akademie Verlag, der sogleich Interesse an der Drucklegung der Arbeitspapiere zeigte. Sodann danke ich Frau Patricia Abeler, die die Aufsätze von O. Arnold, G. G. Iggers und L. A. Scaff ins Deutsche übertrug, und Frau Katja Scholtz, die den Beitrag von B. Thomas übersetzte. Schließlich habe ich auch Frau Christa Matthies zu danken, die geduldig eine große Fülle von Schreibarbeiten erledigte, und meinen studentischen Hilfskräften, besonders Herrn Sascha-Oliver Glogowski, der bibliographische Kontrollen vornahm, und Herrn Oliver Dürr, der das Register erstellte. Gunter Scholtz

BROOK THOMAS

New Historicism, Kulturpoetik und das Ende der amerikanischen Geschichte

Um das Aufkommen eines New Historicism in den Vereinigten Staaten der achtziger Jahre zu verstehen, sind meines Erachtens drei Faktoren von Bedeutung. Der erste betrifft die Bedeutung des Begriffs historicism im Englischen. Der zweite ist die Tatsache, daß sich der New Historicism im Rahmen der Literaturwissenschaft entwickelte. Der dritte steht im Zusammenhang mit der Beziehung des New Historicism zum American exceptionalism, dem Glauben also, daß die Vereinigten Staaten Teil einer „neuen Welt" sind, einer Welt, die mit der Geschichte gebrochen hat, wie sie sich in der „alten Welt" entwickelt hat. Zwar kann man mit historicism das deutsche Wort „Historismus" übersetzen, jedoch hat der Begriff im Englischen eine weit allgemeinere Bedeutung. Um Genauigkeit bemüht, haben einige Übersetzer versucht, historism im konkreten Bezug auf „Historismus" zu benutzen. De facto reicht die Begriffsgeschichte von historism weiter zurück als die von historicism, das seine erste wichtige Verwendung in der Übersetzung von Croces italienischem storicismo fand. Folglich kann historicism hegelianische Konnotationen aufweisen, die „Historismus" nicht besitzt. Karl Popper bediente sich dieser Konnotationen in Das Elend des Historizismus. Allerdings sind die Versuche Poppers und anderer gescheitert, historism und historicism präzise zu unterscheiden; während der Gebrauch von historism eher selten ist, hat sich der von historicism weitläufig durchgesetzt. Im heutigen Begriffschaos kann historicism Historismus und storicismo bedeuten oder sich auf das beziehen, was Fredric Jameson „unser Verhältnis zur Vergangenheit" nennt, „unsere Möglichkeit, ihre Monumente, Artefakten und Spuren zu verstehen".1 Der New Historicism in den Vereinigten Staaten ist kein bewußtes Heraufbeschwören der Tradition des Historismus, sondern akzentuiert die historische Analyse kultureller Artefakten, insbesondere literarischer Texte. Wieso nun wurde diese Akzentuierung in den achtziger Jahren als notwendig erachtet? Diese Frage führt mich zu der Tatsache, daß der New Historicism in den Vereinigten Staaten im Rahmen der Literaturwissenschaft aufkam. Er ist eine bewußte Reaktion gegen die streng formale Literaturanalyse, wie sie am nachhaltigsten vom New Criticism vorgeführt

1 Fredric Jameson: Marxism and Historicism. In: New Literary History 11 (1979) 43. Zur Diskussion der Begriffsgeschichte von „Historismus" siehe Georg G. Iggers: The German Conception of History (Middletown, CT 1968) 2 8 7 - 2 9 0 und Dwight Lee, Robert Beck: The Meaning of „Historicism". In: American Historical Review 59 (1954) 568-577.

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Brook Thomas

wurde, der die Literaturwissenschaft in den Vereinigten Staaten während der ersten beiden Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte. In der Tat ist die Popularität des Begriffs New Historicism wohl auch darin begründet, daß er klanglich an den New Criticism erinnert, ihn aber zugleich ablöst. Allgemein gesagt, bedeutet der Begriff New Historicism nichts anderes als eine Rückkehr zur historischen Analyse in der Literaturwissenschaft. In meinem letzten Abschnitt werde ich Vermutungen über die Gründe für diese Rückkehr anstellen, aber vorerst muß ich zwischen der allgemeinen und der spezifischen Bedeutung des Begriffs unterscheiden. In seiner spezifischen Bedeutung ist der New Historicism nicht einfach eine Rückkehr zur historischen Analyse, sondern hauptsächlich ein Versuch, mit dem zu brechen, was man als althergebrachte historische Analyse, als old historicism ansah, wie z. B. die Philologie und den orthodoxen Marxismus. Der ausschlaggebende Faktor, der diesen Bruch kennzeichnet, ist die Beschäftigung mit poststrukturalistischen Theoriebildungen. Das Verhältnis zwischen dieser spezifischen Version des New Historicism, auf die ich mich im folgenden konzentrieren möchte, und dem Poststrukturalismus ist kompliziert. Einerseits haben die new historicists das Vokabular und viele Prämissen der verschiedenen Ansätze des Poststrukturalismus übernommen, die die Literaturkritik und die Sprachphilosophie in den Vereinigten Staaten während der siebziger Jahre beherrschten. Andererseits befürchten sie, daß der Poststrukturalismus, der zunächst über den herrschenden Formalismus hinauszugehen versprach, nachdem er, von Paris in die USA gelangt, auch bereits domestiziert war und einen Formalismus eigener Art hervorgebracht hatte. Das augenfälligste Symptom des poststrukturalistischen Formalismus war die ausschließliche Beschäftigung mit Textualität. Beeinflußt vom textual turn des Poststrukturalismus, aber unzufrieden mit dessen Tendenz, alles auf Texte zu reduzieren, schlössen sich die new historicists der Forderung von Louis Montrose an, das Augenmerk fortan auf beides zu richten, auf die „Geschichtlichkeit der Texte und die Textualität der Geschichte".2 Das alternative Etikett für eine solche Analyse - ein Etikett, das von Stephen Greenblatt, dem bedeutendsten Vertreter des New Historicism, geprägt wurde - lautet „Kulturpoetik" {cultural poetics)? Wenn Greenblatt die Formalisten einerseits herausfordert, indem er Poetik auf die ganze Kultur ausweitet, fordert er andererseits zumindest seine Auffassung von einem älteren Historismus heraus, indem er das Verhältnis zwischen kulturellen Artefakten insbesondere literarischen Texten - und der Kultur, an der sie teilhaben, neu konfiguriert. Den Historismus, gegen den Greenblatt sich wendet, kann man als „organischen Historismus" bezeichnen. Im organischen Historismus war die Beziehung eines literarischen Textes zu seiner Kultur vorwiegend synekdochaler Natur. Man ging davon aus, daß ein literarischer Text - ein herausragender jedenfalls - für die Komplexität der Kultur, zu der er gehörte,

2 Louis Montrose: Professing the Renaissance: The Poetics and Politics of Culture. In: The New Historicism, hg. von H. Aram Veeser (New York 1989) 20. 3 Stephen Greenblatt: Introduction, zu: The Forms of Power and the Power of Forms in the Renaissance. In: Genre 13 (1982) 1-6.

New Historicism, Kulturpoetik und das Ende der amerikanischen Geschichte

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sprechen oder sie repräsentieren könne.4 Analog standen die Teile eines Textes in organischer Relation zum Textganzen. Seinen Unterschied zum organischen Historismus kennzeichnet der New Historicism durch die Annahme einer chiastischen anstelle einer synekdochalen Relation zwischen Text und Kultur. Diese Liebesaffäre mit dem Chiasmus ist eine der Anleihen des New Historicism beim Poststrukturalismus, insbesondere an die amerikanische Variante des Dekonstruktivismus. Ich habe bereits Montroses „Geschichtlichkeit der Texte und die Textualität der Geschichte" zitiert. An anderer Stelle vertritt Montrose den Standpunkt, daß Ein Sommernachtstraum „im doppelten Sinn eine Erschaffung der elisabethanischen Kultur ist: denn das Stück erschafft auch die Kultur, durch die es erschaffen wird, formt die Phantasien, durch die es geformt wird, zeugt das, durch das es selbst erzeugt wird." Bei dem Versuch, das komplexe Verhältnis zwischen Ästhetik und Gesellschaft zu beschreiben, spricht Greenblatt von der „sozialen Dimension einer ästhetischen Strategie und der ästhetischen Dimension einer sozialen Strategie". Sacvan Bercovitch, der vielleicht bedeutendste new historicist auf dem Gebiet der amerikanischen Literatur, beschreibt, was er eine Methode „kultureller Symbolik" nennt, als das Bestreben „herauszufinden, wie Kultur symbolischen Formen Macht verleiht, Formen des Protestes inbegriffen, und wie Symbole an der Dynamik der Kultur teilhaben, die Dynamik von Zwängen eingeschlossen."5 Es ist sehr aufschlußreich, daß der New Historicism auf den Chiasmus angewiesen ist, zeigt es doch, daß die new historicists sich auf eine rhetorische Figur stützen, um das Verhältnis zwischen einem Text und der Kultur, an der er teilhat, zu erklären, statt eine theoretische Erklärung für das Verhältnis zu liefern. Dementsprechend meint Greenblatt in der Tat, seine Kulturpoetik solle nicht als Theorie, sondern als Praktik angesehen werden. Der Chiasmus dient dazu, die besondere Art dieser Praktik zu definieren. Im organischen Historismus geht der Kritiker entweder vom Teil zum Ganzen oder vom Ganzen zum Teil. Das zweite Verfahren beginnt mit dem historischen Hintergrund und geht von dort zu einer Textanalyse über, die die historische Komplexität dieses Kontextes reflektiert. Das erste beginnt mit der Partikularität des Textes, liest von dort nach außen und führt uns somit vor Augen - wie z. B. Auerbach glänzend demonstrieren konnte - , auf welche Weise ein Text seiner Zeit Ausdruck verleiht. Der new historicist beginnt ebenfalls mit dem Partikularen. Allerdings verfährt er eher mit Hilfe einer Technik chiastischer Gegenüberstellung, anstatt den Text als einen komplexen Ausdruck seines historischen Kontextes zu lesen. Ein typischer Greenblatt-Essay beginnt mit der Analyse eines bestimmten gesellschaftlichen Ereignisses und springt dann direkt in die Analyse eines bestimmten literarischen Textes über. Dabei soll nicht gezeigt werden, daß der literarische Text ein historisches Ereignis reflektiert, sondern vielmehr ein Energiefeld zwischen Text und Kontext aufgebaut werden, so daß wir das Ereignis als sozialen Text und den literarischen Text als soziales Ereignis zu begreifen lernen.

4 Z. B. heißt es bei Auerbach: „Wenn die vichianische Voraussetzung von der Einheit der Epochen angenommen wird, so muß jeder Text den Ausblick geben, der die Synthese ermöglicht." Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter (Bern 1958) 20. 5 Louis Montrose: Representing the English Renaissance, hg. von Stephen Greenblatt (Berkeley 1988) 56; Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations (Berkeley 1988) 147 und Sacvan Bercovitch: The Office of „The Scarlet Letter" (Baltimore 1991) xxii.

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Eine Folge dieser chiastischen Bewegung ist, daß die Grenzen zwischen ästhetischen und sozialen Ereignissen zwar nicht aufgehoben, wohl aber ihrer Natürlichkeit beraubt werden. Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen Text und Kontext oder textuellem Vordergrund und geschichtlichem Hintergrund, da ein literarisches Werk keinen Standpunkt außerhalb seiner historischen Situation einnimmt, von der aus diese sich reflektieren ließe. Statt dessen ist der Text Teil genau jenes Kontextes, der uns helfen soll, ihn zu verstehen. Zwar erkannten auch fortschrittliche Anhänger des organischen Historismus an, daß ein Text in seinen historischen Kontext eingebettet ist. Dadurch jedoch, daß die new historicists den Chiasmus der Synekdoche vorziehen, wird ein entscheidender Unterschied signalisiert. In der Analyse des organischen Historismus verläuft die Bewegung vom Teil zum Ganzen. Im New Historicism hingegen bewegt man sich von einem Teil zum nächsten. Folglich braucht der New Historicism einleitend nicht die Existenz eines - textuellen oder kulturellen Ganzen zu postulieren, das von organischen Historisten stets vorausgesetzt wird. Selbstverständlich benennt ein organischer Historist kein Ganzes je vollständig. Gleichwohl basiert seine hermeneutische Praxis auf der Annahme, daß ein solches existiert. Im Unterschied dazu braucht die neu-historistische Analyse keine Präexistenz eines Ganzen zu postulieren. Natürlich existiert etwas, das größer ist als die jeweils analysierten Teile, aber es braucht keine klar umrissenen Grenzen. Für den new historicist stellt weder ein Text noch eine Kultur eine geschlossene Entität dar. Statt dessen konstituieren sich beide durch dynamische Interaktionen und Austauschprozesse zwischen verschiedenen Teilen, was Greenblatt als die Zirkulation sozialer und ästhetischer Energie bezeichnet. Die Zirkulationsmetapher suggeriert eine Verwandtschaft zwischen New Historicism und organischem Historismus. Schließlich operiert die interpretative Tätigkeit des organischen Historismus in einem hermeneutischen Zirkel, wobei das Verstehen verschiedener Teile von dem Verstehen des Ganzen abhängt und umgekehrt. Im New Historicism ist die Zirkulation allerdings nicht zwangsläufig kreisförmig. Das neu-historistische Ganze, falls wir diesen Begriff immer noch einsetzen dürfen, konstituiert sich aus einem Netzwerk von Beziehungen verschiedener Teile zueinander. Indem der new historicist die modernistische Technik der Montage übernimmt, um dem Energiefluß zwischen diesen Teilen nachzuspüren, vermeidet er Metaphern der Tiefe und 'verflacht' seine Perspektive durch eine Gegenüberstellung seiner Analyseobjekte auf derselben Ebene. Dieser Energiefluß, den die Kreismetapher der Organizisten nicht beinhaltet, erzeugt ein textuelles oder kulturelles „Ganzes", das endlos und unbegrenzt ist. Das Wissen des new historicist um Offenheit und Endlosigkeit impliziert nicht, daß Texte, Kulturen oder gar historische Epochen keine Grenzen haben. Es gibt solche Grenzen. Aber die Analyse des New Historicism fordert den ihnen zugeschriebenen Organizismus heraus, indem sie dessen historische Konstruiertheit hervorhebt. Tatsächlich konzentrieren sich neuhistoristische Untersuchungen auf die Konstruktion von Grenzen. So bemerkt Greenblatt in seiner Einleitung zu der Aufsatzsammlung Representing the Renaissance beispielsweise, daß „in Westeuropa im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert ein gesteigertes Interesse an Grenzziehungen aufkam." Er hebt die kontingenten Faktoren hervor, die an der Konstruktion solcher Grenzen beteiligt sind, und versucht auf diese Weise, den Augenblick zu fassen, in dem sich die „genaue Markierung der Grenzen noch im Frühstadium befand", so daß „man sich in dieser Epoche meist lediglich mit den Grenzgebieten anstelle von linearen

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Begrenzungen begnügte." Während er seinen Blick noch auf die „Grenzsteine" gerichtet hält, lädt Greenblatt uns dazu ein, die Grenzen zu überdenken, und zwar nicht nur die Grenzen zwischen Nationen und Kulturen, sondern auch die zwischen Literatur und anderen Diskurssystemen, zwischen Gattungen, zwischen Text und Kontext, zwischen dem, was Marxisten als ökonomische Basis und ideologischen Überbau auffaßten, und sogar zwischen dem, was wir als normale und bizarre Tätigkeiten verstehen.6 Eins der hervorstechendsten Merkmale ist die Faszination, die das Bizarre auf den new historicist ausübt. Während sie Vorwürfen der Sensationsgier einerseits, der Trivialisierung andererseits Tür und Tor öffnet, hilft diese Faszination doch, seine Unzufriedenheit mit der traditionellen marxistischen Kritik zu erklären. Skeptisch gegenüber der „historischen MetaErzählung des Klassenkampfs", mit der der Marxismus zwischen wichtigen und unwichtigen ökonomischen und politischen Agenten und Ereignissen unterscheidet, sind die new historicists - in Foucaults Nachfolge - darauf aus, die Bedeutung von Personen und Ereignissen wiederherzustellen, die von bestehenden (marxistischen und anderen) Erzählungen über die Vergangenheit marginalisiert oder gar ausgeschlossen wurden. Neu-historistische Darstellungen ergänzen solche Geschichtsschreibungen, indem sie sich auf das konzentrieren, was Catherine Callagher „Menschen und Phänomene" nennt, „die einst völlig unbedeutend, in der Tat außerhalb der Geschichte zu sein schienen: Frauen, Kriminelle, die Wahnsinnigen, sexuelle Praktiken und Diskurse, Jahrmärkte, Feste und Spiele aller Arten."7 Die dieser Herangehensweise zugrundeliegende Annahme ist, daß das Bizarre an sich eine historische Konstruktion darstellt. Oft kommt einem gegenwärtigen Beobachter Vergangenes nur deshalb ungewöhnlich vor, weil unsere Geschichten immer aus zeitgenössischer Perspektive konstruiert werden. Der new historicist zwingt uns, unsere herkömmlichen Vorstellungen von der Vergangenheit zu überdenken, indem er seine Analyse mit etwas scheinbar Außergewöhnlichem beginnt und dann demonstriert, wie es an der Zirkulation sozialer Energie teilhat. Die Faszination, die das Bizarre auf den New Historicism ausübt, hilft auch zu erklären, wieso er von den Anthropologen - insbesondere von Clifford Geertz - so nachhaltig beeinflußt worden ist. Indem sie eine Kultur der Vergangenheit in ähnlicher Art von der eigenen unterscheiden wie diejenigen Kulturen, denen Geertz in der nicht-westlichen Welt begegnet ist, haben die new historicists von ihm gelernt, Interpretationen scheinbar ungewöhnlicher Nebensächlichkeiten und Rituale als einen Weg zum Verständnis kultureller Alterität zu verstehen. Die Anleihe bei Geertz deutet indes auf eine potentielle Schwierigkeit bei dem Bestreben der new historicists hin, sich über einen älteren Historismus hinauszubewegen. Geertz' Innovation in der anglo-amerikanischen Sozialwissenschaft bestand zum Teil in seiner Forderung, Kenneth Burkes Theorie des symbolischen Handelns ernstzunehmen. Zu den Autoren, die zu lesen er den Sozialwissenschaftlern nahelegt, gehören Literaturkritiker wie „Coleridge, Eliot, Burke, Empson, Blackmur, Brooks oder Auerbach". Sie alle waren von Bedeutung für genau die Analysemethoden, die die new historicists für altmodisch halten: für den New Criticism oder einen älteren Historismus. Er unterstützt darüber hinaus die Arbeit Ernst Cassirers, der - wie Hinrich C. Seeba gezeigt hat - stark von der Arbeit Karl

6 Greenblatt: Shakespearean Negotiations, xiii. 7 Catherine Gallagher: Marxism and the New Historicism. In: The New Historicism, 43.

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Lamprechts beeinflußt war, der seinerseits für die sogenannte New History in den Vereinigten Staaten zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine äußerst wichtige Figur war.8 Daß der New Historicism auf Geertz vertraut, signalisiert in der Tat seine Neuheit und zeigt zugleich seine Ähnlichkeit mit früheren Analyseverfahren. Sogar die Faszination des Ungewöhnlichen wurde von philologisch geschulten Kritikern geteilt. Leo Spitzer z. B. vertritt die These, daß die Philologie mit der Entdeckung der „Bedeutung im Detail" „danach strebt, die Bedeutung im scheinbar Nutzlosen aufzuzeigen". 9 Auf vergleichbare Weise beendet Auerbach sein Buch Mimesis, indem er die Fähigkeit des Realismus feiert, die „absichtslose, genaue, innere und äußere Darstellung des beliebigen Lebensaugenblicks der verschiedenen Menschen" sichtbar zu machen. 10 Wenn die Faszination des Ungewöhnlichen eine Affinität mit der Philologie signalisiert, so gilt dasselbe für die Annahme der „Alterität" und den traditionellen Historismus. In einer berühmten Aussage behauptete Ranke, „jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Werth beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eigenen Selbst."11 Ebenso fordert auch der New Historicism einen Präsentismus heraus, der unsere Distanz zur Vergangenheit leugnen würde. Diese Affinität wird noch gesteigert, wenn man bedenkt, daß Rankes Historismus und dessen Aufmerksamkeit dem einzelnen historischen Faktum gegenüber zum Teil eine Reaktion auf die Unterordnung der Geschichtswissenschaft unter die Moralphilosophie oder gar eine hegelianische Geschichtsphilosophie war. Herbert Schnädelbach zufolge hat das 20. Jahrhundert drei große Versuche der Philosophie erlebt, der Herausforderung durch den Historismus Paroli zu bieten: die phänomenologische Hermeneutik, den Neo-Marxismus, wie ihn die Frankfurter Schule hervorbrachte, und die analytische Philosophie.12 Schnädelbachs Liste ließe sich der Poststrukturalismus hinzufügen. Die Tatsache, daß der New Historicism in den Vereinigten Staaten aufkam, dem Land, in dem der Poststrukturalismus seinen größten Einfluß hatte, zeigt an, daß das Beharren des Historismus auf der Kontingenz der Geschichte der Unterordnung unter die Philosophie weiterhin Widerstand leistet. Wie bereits erwähnt, kann man das Aufkommen eines New Historicism in den Vereinigten Staaten am Ende des 20. Jahrhunderts als eine Reaktion auf den Poststrukturalismus verstehen. Allerdings bedarf diese Äußerung einer näheren Ausführung, läßt sie doch die Frage unbeantwortet, warum der Poststrukturalismus seinerseits in den Vereinigten Staaten in den

8 Clifford Geertz: Ideology as a Cultural System. In: The Interpretation of Cultures (New York 1973) 208. Zu Lamprechts Einfluß siehe Hinrich C. Seeba: Interkulturelle Perspektiven: Ansätze einer vergleichenden Kulturkritik bei Karl Lamprecht und in der Exil-Germanistik. In: German Studies Review 16 (1993) 1-17 und Seebas Beitrag in diesem Band. Neuerdings haben sich einige new historicists dem Einfluß Geertz' entzogen und sich statt dessen den Arbeiten von „Grenz"-Anthropologen angeschlossen wie z. B. Renato Rosaldo, dessen Kulturkonzept weniger von der organischen Tradition beeinflußt ist. 9 Leo Spitzer: Linguistics and Literary History (Princeton 1948) 24. 10 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (Bern 2 1959) 514. 11 Leopold von Ranke: Ueber die Epochen der neueren Geschichte. Weltgeschichte, 9. Thl. 2. Abt. (Leipzig 1888) 5. 12 Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel (Freiburg, München 1974).

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siebziger Jahren so populär wurde. Die Beantwortung dieser Frage führt mich zum dritten und letzten Punkt meines Vortrags, nämlich zur Geschichte des American exceptionalism. Die Metapher der „neuen Welt" - die schließlich eine europäische Erfindung ist - impliziert, Amerika, einschließlich der Vereinigten Staaten, habe keine Geschichte. Dieser Glaube ist kaum totzukriegen. Jean Baudrillard beispielsweise verleiht ihm noch Nachdruck, wenn er behauptet, daß „Geschichte und Marxismus mit exklusivem Wein und der haute cuisine vergleichbar sind: sie schaffen es so gut wie nie über den Ozean." 13 Von amerikanischer Geschichte ebenso ahnungslos wie von der Geschichte französischen Weins - die Reben für einen Großteil der französischen Weinberge kamen aus Kalifornien, als die einheimischen von Schädlingen zerstört worden waren - zeigt Baudrillard auch kein Interesse, etwas über sie zu lernen; denn das zwänge ihn, das historisch bedingte Grundgerüst, das seine mythologisierte Vision von Amerika konstruiert, in Frage zu stellen. Er ist mit diesem Problem nicht allein. In Westdeutschland gab es selbst 1989 erst einen einzigen Lehrstuhl für amerikanische Geschichte, im Vergleich zu dreißig Lehrstühlen für sowjetische und osteuropäische Geschichte. Meine Absicht ist nun nicht, dieses Defizit zu beheben, indem ich eine Vorlesung über die Komplexität amerikanischer Geschichte anbiete. Mir ist aber sehr wohl daran gelegen hervorzuheben, wie diese Geschichte teilweise von einer europäischen Sicht ihres Fehlens geformt wurde. Eine wichtige Ergänzung zu der europäischen Erfindung des American exceptionalism dem Glauben, daß Amerika irgendwie von den historischen Konflikten Europas verschont geblieben sei - ist die, daß Amerika nicht so sehr außerhalb der Geschichte steht, sondern sie vielmehr vollendet. Wie der italienische Ökonom Achille Loria (den ich zu Ehren unserer italienischen Kollegen zitiere) es um die Jahrhundertwende formulierte: „Amerika hat den Schlüssel zu dem historischen Rätsel, den Europa jahrhundertelang vergeblich gesucht hat, und das geschichtslose Land offenbart aufs strahlendste den Lauf der allgemeinen Geschichte." 14 Auf paradoxe Weise verbindet der American exceptionalism dann den Anspruch, die allgemeine Geschichte zu offenbaren, mit dem, sie zu vollenden. Zwei Komponenten dieses Paradoxons sind von großer Bedeutung, wenn man das Aufkommen eines New Historicism verstehen möchte. Die erste ist die Abhängigkeit des American exceptionalism von einer teleologischen Geschichtsvorstellung; die zweite ist seine Abhängigkeit von der organischen Metapher des melting pot, des Schmelztiegels, der das Wesen des amerikanischen Volkes charakterisiert. Der teleologische Aspekt ist ohne weiteres einzusehen. Der American exceptionalism besagt nicht nur, daß die Geschichte der Vereinigten Staaten anders verlaufen ist als die anderer Länder, sondern er besagt auch, daß ihre Geschichte das Ende oder Ziel alles Vorausgegangenen darstellt. Die SchmelztiegelMetapher ist wichtig, weil sie impliziert, daß die Vereinigten Staaten Bedingungen bieten, in denen Menschen ihre kulturellen Unterschiede, die durch verschiedene historische Umstände bedingt sind, abschütteln und über ihre gemeinsame Menschlichkeit zueinander finden. Wie der amerikanische Historiker Frederick Jackson Turner es ausdrückte: „In der Feuer-

13 Jean Baudrillard: America, trans. Chris Turner (New York 1988) 79. 14 Zitiert bei Frederick Jackson Turner: The Significance of the Frontier in American History. In: The Frontier in American History (New York 1920) 11.

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probe der Frontier wurden die Immigranten amerikanisiert, befreit und zu einer Mischrasse verschmolzen". 15 Ohne die Schmelztiegel-Metapher wäre die Teleologie, die man den Vereinigten Staaten attribuiert, lediglich eine weitere nationalistische Fiktion, in der ein bestimmtes Land als allen anderen Uberlegen betrachtet wird. Damit kann der American exceptionalism amerikanische Interessen - wie Lincoln es ausdrückte - mit der besten, letzten Hoffnung der Menschheit identifizieren. Diese Auffassung eines progressiven Verlaufs amerikanischer Geschichte muß im Zusammenhang mit der Geschichte des „Historismus" in den Vereinigten Staaten gesehen werden. Wenn die new historicists von heute den Begriff historicism gebrauchen, ohne sich der Begriffsgeschichte von „Historismus" bewußt zu sein, so war sich eine frühere Generation amerikanischer Historiker über seine Geschichte genau im klaren. Einer der wichtigsten war Charles A. Beard, der sich, als sein Glaube an den amerikanischen Fortschritt durch die Weltwirtschaftskrise schwer geprüft wurde, Croce zuwandte sowie einem Buch von Karl Heussi mit dem Titel Die Krisis des Historismus. Als Antwort darauf verfaßte Beard einen Essay mit dem Titel „Written History as an Act of Faith", der dazu beitrug, eine Schule des historischen Relativismus zu begründen. 16 Aber obwohl Beard sich der „Krise des Historismus", die europäische Historiker quälte, sehr wohl bewußt war, hielt er seinen Glauben an eine Fortschrittsgeschichte im Sinne des American exceptionalism aufrecht. Nach und nach bestätigten geschichtliche Ereignisse diesen Glauben für viele Amerikaner, als nämlich der Zweite Weltkrieg es den Vereinigten Staaten ermöglichte, sich als den Retter der Demokratie darzustellen und das Land während der fünfziger und bis weit in die sechziger Jahre hinein in eine wirtschaftlich wahrhaft außergewöhnliche Spitzenposition brachte. Das Ergebnis war, daß die meisten amerikanischen Intellektuellen ihre Konfrontation mit der „Krise des Historismus", die die Europäer in den zwanziger und dreißiger Jahren hatten durchmachen müssen, aufschieben konnten. Die amerikanische Krise kam in den späten Sechzigern und in den Siebzigern zusammen mit dem Vietnamkrieg, dem WatergateSkandal und dem Verfall der wirtschaftlichen Überlegenheit Amerikas, der durch Nixons erste Abwertung des Dollars eingeleitet wurde. Diese Krise trug - wenn auch nicht im ganzen Land, so aber doch in weiten Kreisen - zu dem bei, was David W. Noble ein Anerkennen des „Endes amerikanischer Geschichte" nannte, womit er das Ende der teleologischen Version des American exceptionalism meint.17 Zwei Aspekte bei dieser verzögerten Konfrontation mit der Historismuskrise in den Vereinigten Staaten sind wichtig, wenn man das Aufkommen des New Historicism verstehen möchte. Erstens ist es kein Zufall, daß der New Criticism zu einer Zeit in den literaturwissenschaftlichen Fakultäten aufkam, als der historische Relativismus die Geschichtsfakultäten beherrschte. Ein Großteil der ahistorischen Stoßkraft des formalistischen New Criticism

15 Turner, a.a.O., 23. 16 Charles A. Beard: Written History as an Act of Faith. In: American Historical Review 39 (1934) 219-229. Beard hatte Croce zu dem Treffen, bei dem er diesen Vortrag hielt, eingeladen. Croce konnte nicht kommen, aber er verfaßte einen Brief über Geschichtsschreibung, der zusammen mit Beards Beitrag veröffentlicht wurde. 17 David W. Noble: The End of American History (Minneapolis 1985).

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entsprang einfach der Angst, daß die Historiker jedweden Wert relativieren könnten, ästhetische Werte eingeschlossen. In einer relativierten, fragmentierten modernen Welt wurde die Literatur für die New Critics zur letzten Bastion zeitloser, universeller Werte. Sogar als sich der historische Relativismus mit den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs zunehmend geringerer Beliebtheit in den Geschichtsfakultäten erfreute, weil sich die Historiker ihrerseits auf die Suche nach bleibenden Werten begaben, behielt der New Criticism seine Macht - neigten doch die bleibenden, humanistischen Werte, die in der Literatur in Szene gesetzt werden, normalerweise dazu, jene Werte zu bestätigen, nach denen pluralistische Demokratien verlangten. Ein großer Teil des Gewichts, den der New Historicism auf historische Kontingenz legt, stammt aus der Einsicht seiner Vertreter, daß die „universellen" literarischen Werte, an die zu glauben man sie gelehrt hatte, aus ihren spezifischen historischen Umständen herauswuchsen. Warum der Poststrukturalismus für diese Einsicht eine so große Rolle spielte, bringt mich zum zweiten Punkt, den ich über die verzögerte Konfrontation der Historismuskrise in den Vereinigten Staaten ausführen möchte. Meines Erachtens ist es kein Zufall, daß sich der amerikanische Wissenschaftsbetrieb genau während seiner Krise einem immensen Import der sogenannten europäischen „Theorie" öffnete. Es war kein Zufall, weil sich ein Großteil dieser Theorie als Reaktion auf die Historismuskrise herausgebildet hatte, mit der sich so viele europäische Denker in der ersten Jahrhunderthälfte konfrontiert sahen. Unter den veränderten Bedingungen in den Vereinigten Staaten fielen ihre Ideen zumindest bei einigen amerikanischen Intellektuellen auf fruchtbaren Boden. Und nicht nur neuere Denker wurden rezipiert. Zuvor vernachlässigte Figuren wurden mit einem Mal wieder wichtig, weil sie das poststrukturalistische Denken beeinflußten. Wie bereits erwähnt, bezeugt das Aufkommen des New Historicism in den Vereinigten Staaten mit Sicherheit, daß die Tradition des Historismus weiterhin eine Herausforderung für solche Theoriebildungen darstellt. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, die poststrukturalistische Theorie selbst als eine Reaktion auf den Historismus zu begreifen und zur Kenntnis zu nehmen, daß sie ihrerseits dazu beigetragen hat, einen Historismus anderer Art am Ende des 20. Jahrhunderts hervorzubringen. Man kann eine solche Differenz innerhalb des amerikanischen New Historicism erkennen, wenn man Greenblatts nicht-organischen Begriff einer Kulturpoetik der organischen Schmelztiegel-Metapher gegenüberstellt. Die Herausforderung für die teleologische Fiktion des American exceptionalism korrespondiert mit einer Herausforderung für das Schmelztiegel-Ideal. Solange man die amerikanische Geschichte ihrer demokratischen Völlendung entgegenstreben sah, konnten diejenigen, die vom amerikanischen Wohlstand ausgeschlossen waren, weiter davon träumen, irgendwann doch an ihm teilhaben zu dürfen. Das Ende des American exceptionalism zu akzeptieren bedeutet, den Glauben an diesen Traum aufzugeben, besonders weil ein Großteil der Ausgeschlossenen nicht-europäischer Abstammung ist. An die Stelle einer Erzählung, in der die Randgruppen endlich Teil des Schmelztiegels würden, traten revisionistische Darstellungen, die eine Vergangenheit rassistischer Ausschließung hervorhoben. Sie ersetzten eine Einheitserzählung über eine gemeinsame Vergangenheit durch zahlreiche Erzählungen über je verschiedene Vergangenheiten einzelner Gruppen, Erzählungen, die Amerikas gegenwärtige multikulturelle Gesellschaft als Beispiel für E. Blochs Begriff der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen vorstellen.

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In der Tat ist Greenblatts Kulturpoetik mit ihrem Akzent auf der Konstruktion von Grenzen teilweise Produkt solch einer multikulturellen Gesellschaft. Meines Erachtens antizipiert sie auch den Analysetyp, den wir in zunehmendem Maße von amerikanischen Kritikern in der Weltwirtschaft des Zeitalters nach Ende des Kalten Krieges zu erwarten haben. In einer Ausgabe von Foreign Affairs vertrat Samuel P. Huntington kürzlich den Standpunkt, es sei jetzt „weit wichtiger, Länder nicht im Hinblick auf politische oder wirtschaftliche Systeme oder ihre wirtschaftliche Entwicklungsstufe zu gruppieren, sondern im Hinblick auf ihre Kultur und Zivilisation." Im folgenden bestimmt er acht verschiedene Zivilisationen - die westliche, konfuzianische, japanische, islamische, hinduistische, russisch-orthodoxe, lateinamerikanische und die afrikanische südlich der Sahara. „In Zukunft werden die größten Konflikte an den kulturellen fault lines auftreten", fügt er hinzu, „die diese Zivilisationen trennen." 18 Wenn sich, wie ich argumentiert habe, der New Historicism und seine Kulturpoetik als Reaktion auf „das Ende amerikanischer Geschichte" entwickelt haben, dann leistet er Francis Fukuyamas Behauptung über das „Ende der Geschichte" heftigen Widerstand. 19 Fukuyamas These muß als ein weiteres Beispiel, vielleicht sogar als der letzte Atemzug der Bestrebungen des American exceptionalism angesehen werden, amerikanische Geschichte mit dem Ende der Universalgeschichte gleichzusetzen. Im Gegensatz dazu impliziert das „Ende amerikanischer Geschichte" nicht das Ende der Geschichte, sondern Amerikas Sturz in die Geschichte und die Notwendigkeit, ihn im Hinblick auf eine sich wandelnde Weltordnung zu verstehen. Der New Historicism will nach wie vor darauf hinaus, ein historisches Verständnis der kulturellen fault lines zu liefern, entlang derer künftig globale Konflikte entstehen könnten. Selbstverständlich hat der New Historicism seine Probleme, die ich an anderer Stelle untersucht habe.20 Beispielsweise verrät er in seinem Bemühen, fault lines als Produkte der Geschichte zu erklären, den Glauben an eine allgemeine Humanität, die einige seiner Vertreter sicherlich nicht bereit sind anzuerkennen. Trotzdem halte ich die Methode der Analyse, die er hervorgebracht hat, für bemerkenswert sogar für Historiker in der „alten" Welt.

18 Samuel P. Huntington: Foreign Affairs 72 (1993) 23, 25. 19 Francis Fukuyama: The End of History? In: National Interest 16 (1989) 4. 20 Siehe vom Verf.: The New Historicism and Other Old-Fashioned Topics (Princeton 1991).

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Der New Historicism und die Ideologie der Zustimmung

Was ist neu am New Historicism in der Literaturwissenschaft? Im ersten Teil dieses Essays behaupte ich, daß der New Historicism und die jüngsten ihm verwandten Versuche in der gay-, in lesbischer, afro-amerikanischer und feministischer Wissenschaft in vielerlei Hinsicht eine Kontinuität mit den Formen des Historismus haben, die im Europa des frühen 20. Jahrhunderts artikuliert worden sind. 1 Aber die neuen Historismen 2 gehen über Poststrukturalismus, Marxismus und die New History auf die Grundprinzipien des alten Historismus zurück. Wie wir sehen werden, legen diese deutlich postmodernen neuen Historismen ungewöhnlichen Wert nicht nur auf den Unterschied zwischen den Kulturen, sondern auch auf die Unterschiede innerhalb einer bestimmten Kultur; sie erweitern die Definition der historischen Akteure, um Geschlecht, Klasse und ethnische Randgruppen einzuschließen; und sie radikalisieren und politisieren die eigene Historizität des Geschichtswissenschaftlers. Wir sollten jedoch von vornherein anmerken, daß man selbst diese Abweichungen vom klassischen Historismus als Erweiterungen der zentralen Aufgabe von historistischen Untersuchungen der Entdeckung von Unterschieden - und als Ausarbeitungen einer fundamentalen Logik des Historismus interpretieren könnte: der Logik der Unterscheidung. Im zweiten Teil dieses Essays reformuliere ich meine ursprüngliche Frage in einer deutlicheren historistischen Weise: Was ist im New Historicism charakteristisch für die amerikanische Kultur des späten 20. Jahrhunderts? Hier erarbeite ich eine provisorische These zu den Ursprüngen des New Historicism als einer Annäherung an die Literatur und Kultur der englischen Renaissance. Ich deute an, daß die Ausführungen des New Historicism über das frühneuzeitliche England, die diesen Darstellungen zugrundeliegenden theoretischen Voraussetzungen und die aus diesen Darstellungen sich entwickelnde kritische Praxis sämtlich innerhalb der Ideologie der politischen Repräsentation verbleiben - in der hegemonistischen Ideologie eben der Kultur, die den New Historicism hervorbrachte.

1 Ein genauer Bericht über das Auftauchen des deutschen Historismus am Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem noch in den Anfängen steckenden Historismus des 19. Jahrhunderts bei Georg G. Iggers: „Historicism". In: Dictionary of the History of Ideas, ed. Philip P. Wiener (New York 1973) 456-460. 2 In diesem Essay gebrauche ich den Ausdruck „neue Historismen", um die historistischen Praktiken in einer Vielfalt von Disziplinen zu bezeichnen, einschließlich der Literaturkritik des „New Historicism"; im Gegensatz dazu bezeichnet dieser letztere Term nur den „New Historicism" in der Literaturwissenschaft.

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I. Der New Historicism ist aus Stephen Greenblatts „Zweifeln an zwei Dingen: ,dem totalen Künstler' und ,der Koalisierenden Gesellschaft'" 3 hervorgegangen. Beginnen wir mit Greenblatts Kritik an der Vorstellung vom „totalen Künstler": d.h. vom Künstler, „der durch Übung, Einfallsreichtum und Talent im schöpferischen Augenblick ein geschlossenes Ganzes ist (complete unto himselj)".4 Diese Kritik ist schon in Renaissance Self-Fashioning (1980) voll im Gange, einer Pionierstudie zur „Konstruktion von Identität" im frühneuzeitlichen England. 5 In diesem frühen Werk weist Greenblatt die Idee eines „zeitlosen, kulturlosen, universellen menschlichen Wesens" 6 zurück und versucht statt dessen, die historische Eigenheit des Renaissance-Ichs wiederzuentdecken. Wie Greenblatt in einem späteren Essay behauptet, gilt des neuen Historisten „Interesse nicht den abstrakten universellen, sondern in den einzelnen bedingten Fällen, den durch generative Regeln und Konflikte einer gegebenen Kultur geformten und geprägten Subjekten." 7 Und der Künstler, wie jedes andere Ich oder Subjekt, ist durch historische Umstände mehr geformt als ihnen transzendent. So behandelt Greenblatt in Renaissance Self-Fashioning und in seinem späteren Werk literarische Texte nicht als Ausdruck universeller Wahrheiten, sondern als „kulturelle Gegenstände", die in Relation zu bestimmten „Zufällen der Geschichte" hervorgebracht wurden. 8 Die historische Einbettung des literarischen Künstlers und des literarischen Textes ist das Grundprinzip der neuhistoristischen kritischen Praxis. Der neue Historismus teilt die Absage des klassischen Historismus an die positivistische Einordnung der Vergangenheit in allgemeine Gesetze. Greenblatts Grundvoraussetzung daß es eine Konstruktion von Identität gibt, die der englischen Renaissance eigen ist, und daß literarische Texte durch bestimmte Kulturen geformt sind, in denen sie hervorgebracht und konsumiert werden, - sind größtenteils konform mit Ernst Troeltschs Konstruktion von vergangenen Kulturen als „immer neuen und immer eigenartigen Individualisationen" 9 und mit Friedrich Meineckes Definition von Historismus als „der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung." 10 Für den New Historicism ebenso wie für den alten Historismus ist also die Unterscheidung das bestimmende Kriterium und folglich die wirkliche Differenz eine Funktion des historischen Charakters aller menschlichen Dinge: Ideen, Werte, Praktiken und Kunst sind eher differente Produkte von bestimmten Kulturen als transhistorische Manifestationen essentieller, universeller Züge menschlicher Identität und Gesellschaft.

3 Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England (Berkeley 1988) 2. 4 A.a.O., 2. 5 St. Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare (Chicago 1980) 7. 6 A.a.O., 4. 7 St. Greenblatt: Resonance and Wonder. In: Learning to Curse: Essays in Early Modern Culture (New York 1990) 164. 8 A.a.O., 164. 9 Emst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (Berlin 1924, N D Aalen 1966) 69. 10 Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus (= Werke Bd.3) (München 1959) 2.

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Im Gegensatz, dazu bewegt Greenblatts kategorische Ablehnung der Idee einer „totalisierenden Gesellschaft" den New Historicism weg von der Tendenz des klassischen Historismus, die gesamte Bedeutung einer bestimmten Kultur „im konkreten Charakter des Individuums" auszumachen.11 Alle Individuen und kulturellen Produkte als Beispiele für einen alles durchdringenden Zeitgeist zu betrachten setzt eine totalisierende und homogene Gesellschaft voraus. Der New Historicism dagegen teilt mit dem Poststrukturalismus die Betonung der Andersartigkeit und den „Argwohn gegenüber geschlossenen Systemen, Totalitäten und Universalien". 12 So versucht der New Historicism nicht nur, die Unterschiede zwischen den Kulturen zu entdecken - die Grundlage des eingeschränkten Relativismus im alten Historismus - , sondern auch die Diversität innerhalb einer bestimmten Kultur. Während frühere Historismen aus den literarischen Zeugnissen einer Kultur die Weltanschauung ableiteten, die jene Kultur als eine individuelle Totalität definierte, behauptet der New Historicism, indem er diesen totalisierenden Impuls zurückweist, daß Kulturen heterogen und deshalb nicht auf monologische „Weltansichten"13 reduzierbar sind. In der Tat argumentiert Greenblatt, daß es innerhalb einer gegebenen Kultur keinen Wert, keine Idee oder „Wahrheit" gibt, die von der „gesamten Bevölkerung" oder selbst von der „gesamten gebildeten Klasse" akzeptiert wird.14 So behandelt der New Historicism einen literarischen Text nicht als eine Verkörperung des „Geistes der Zeit", sondern als eine bestimmte Repräsentation, die innerhalb einer komplexen, vielfältigen und häufig widersprüchlichen Kultur Gestalt annimmt. 15 Die neuhistoristische Konstruktion von Kultur als in sich divergent hängt stark mit der Wiederentdeckung der Frauen, der Minderheiten und der Kultur von Randgruppen als historischer Gegenstände und Agenten zusammen - ein Projekt, in dem Historiker wie W. E. B. Du Bois, Gerda Lerner, Emmanuel Le Roy Ladurie und Natalie Zemon Davis Pionierarbeit geleistet haben. Ähnlich lehnt auch Greenblatt die traditionellen Definitionen von historischer Handlung (agency) als „in absurder Weise einschränkend" ab, weil sie den Blick ausschließlich auf die Taten und Ideen der Elite richten;16 Greenblatt statuiert eine alternative „Sicht der Geschichte", die die Handlungen von sozialen „Randgruppen" und

11 Dwight E. Lee, Robert N. Beck: The Meaning of .Historicism'. In: American Historical Review 59 (1953)571. 12 Louis Adrian Montrose: „New Historicisms". In: Redrawing the Boundaris: The Transformation of English and American Literary Studies, ed. St. Greenblatt, Giles Gunn (New York 1992) 393. 13 Zu einer ähnlichen Kritik des Historismus siehe Louis Althusser: Marxism is not a Historicism. In: Louis Althusser, Etienne Balibar: Reading „Capital", trans. Ben Brewster (1965; London 1979). 14 St. Greenblatt: „Introduction", in: The Forms of Power and the Power of Forms, ed. St. Greenblatt (Norman 1982) 5. 15 In dieser Wiederentdeckung von Konflikt und Widerspruch kann man die Verpflichtung des New Historicism gegenüber dem Marxismus erkennen. Wie Louis Montrose behauptet, bedeutet „die Geschichte in eine simple Antinomie von Myriaden verwendbarer Details und einem einzigen irreduziblen Wesen aufzulösen [ . . . ] nichts anderes, als Geschichte abzulehnen - Geschichte durch die gänzliche Tilgung ihrer konstitutiven Differenzen abzulehnen, durch Tilgung solcher komplexen historischen Formationen, in denen nicht nur die Details, sondern ebenso das Wesentliche produziert, überprüft, verändert und transformiert wird" („New Historicisms", a. a. O., 394f). 16 St. Greenblatt: Resonance and Wonder, a. a.O., 169.

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den formenden Einfluß von Randgruppenpraktiken und -diskursen auf die kulturelle Produktion anerkennt. 17 Die jüngste Arbeit der feministischen Historikerin Joan Wallach Scott offenbart das, was für den Historismus auf dem Spiel steht, in der Pluralisierung der historischen Täterschaft (agency): die traditionelle Geschichtsschreibung, behauptet Scott in Woman's History (1983), blendet die historische „Partikularität und Besonderheit aller menschlichen Subjekte" aus, indem sie den elitären weißen Mann als einen „universellen Repräsentanten der verschiedenen Volksgruppen einer Kultur" 18 darstellt. Die neuen Historismen rekonstruieren also kritisch das universelle Subjekt als das „elitäre Subjekt" und die „Weltanschauung" als „hegemonistische Ideologie". Oppositionelle Historiker haben schon lange bemerkt, wie die traditionelle Historie die Ausblendung marginalisierter Handlungssubjekte und Diskurse durch die hegemonistische Kultur reproduziert. 19 In frühen Untersuchungen über Rassismus und Sklaverei historisierten afro-amerikanische Historiker die orthodoxe Geschichtsschreibung als eine Funktion zeitgenössischer rassistischer Politik, 20 aber sie glaubten, ein korrektiver, aktivistischer Objektivismus könne die „Wahrheit" der Vergangenheit wiederentdecken und „Gerechtigkeit in der Geschichte" erreichen.21 Im Gegensatz dazu durchdenkt Thomas Holt die rassistische Historie neu als ein epistemologisches Problem: „Die Vorurteile, durch welche die Sklaven als Menschen außerhalb der Geschichte der Sklaverei verblieben, waren nicht einfach rassistischer Art. Sie hatten häufiger damit zu tun [ . . . ] , wie Erkenntnis, oder die Tatsache als solche, definiert wurde." 22 Aber Erkenntnis ist, wie Holt behauptet, „eine Funktion dessen, wo wir stehen", und „wo wir stehen, ist eine Funktion unserer politischen und sozialen Beziehungen." 23 Holts Epistemologie bewegt sich gänzlich innerhalb der historistischen Tradition. Karl Mannheims historistische Soziologie schloß den Kulturrelativismus des Historismus ein und arbeitete dessen epistemiologischen Relationismus aus: „ [ . . . ] historisches Wissen [ist] wesensmäßig relational, nur standortsgebunden formulierbar" 24. Nach Mannheim unterminiert der Historismus notwendigerweise die „objektive historische Erkenntnis": weil alle menschlichen Unternehmungen historisch bedingt sind, muß jegliche Darstellung der Ver-

17 A.a.O., 164. - Die historische Täterschaft zu pluralisieren kann als ein demokratisierender Impuls verstanden werden. 18 Wiederabgedruckt in: J. W. Scott: Gender and the Politics of History (New York 1988) 25. 19 Zu einer ähnlichen Kritik an der Art und Weise, wie Literaturhistoriker künstlerische Stimmen auslöschen, siehe Henry Louis Gates, Jr.: The Master's Pieces: on Canon Formation and the African American Tradition. In: Loose Canons: Notes on the Culture Wars (New York 1992). 20 Siehe z. B. W. E. B. Du Bois: The Propaganda of History (1935). Repr. in: Black Reconstruction in America (Cleveland 1964) und John Hope Franklin: The New Negro History (1957). In: Race and History: Selected Essays 1938-1988 (Baton Rouge/Louisianna 1989). 21 Franklin, a.a.O., 47. 22 Thomas Holt: Introduction: Whither now and why? In: The State of AfroAmerican History, ed. Darlene Clark Hine (Baton Rouge/Louisianna, London 1986) 7. 23 A.a.O., 7. 24 Karl Mannheim: Ideologie und Utopie (Frankfurt/M. 3 1952) 72.

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gangenheit eines Historikers eine bestimmte kulturelle Perspektive widerspiegeln.25 Michel Foucault behauptet in ähnlicher Weise: „Das letzte Kennzeichen [der] wirklichen Historie ist schließlich, daß sie nicht fürchtet, ein perspektivisches Wissen zu sein." 26 Und Greenblatt erkennt die Unmöglichkeit eines vollständigen „Hinter-sich-Lassens der eigenen Situation" an 27 und unterstreicht, daß persönliche Wertungen in der Literaturkritik das Studium der Vergangenheit gänzlich durchdringen.28 In der Tat behauptet Greenblatt, daß den Kritikern seiner Generation „das Schreiben, das nicht engagiert war, sich des Urteils enthielt, die Gegenwart mit der Vergangenheit nicht verband, wertlos erschien". 29 Während der epistemologische Relativismus für einige der frühen Historisten eine Krise des Historismus auslöste, leiten so neuere Historisten aus der Unterminierung des Objektivismus das bekräftigende Prinzip ab, daß die „Verbreitung neuer Historien eine politische Handlung mit historischen Konsequenzen" sei.30 Der poststrukturalistische Historismus faßt die Geschichtsschreibung mehr als Handlung denn als Epistemologie auf, weil er behauptet, daß Historiker ihr Wissen von der Vergangenheit mehr produzieren, als daß sie die „Wahrheit" der Vergangenheit entdecken: „Die Historie als Disziplin", argumentiert Joan Scott, „produziert Wissen über die Vergangenheit (mehr, als daß sie es sammelt oder reflektiert)".31 So verstanden, ist Historie eher mächtig als genau oder ungenau, weil Erkenntnis der Vergangenheit behilflich ist, Erkenntnis in und für die Gegenwart zu konstruieren, und Erkenntnis ist, nach Foucault, Macht. Scotts Projekt ist also Teil eines selbständigen historizistischen Beitrags zur poststrukturalistischen Kritik des „transzendenten Subjekts". Denn die neuen Historismen erweitern in radikaler Weise die Logik des Historismus, indem sie die Kategorie des Historischen ausdehnen, um alle Aspekte der menschlichen Identität einzuschließen. Foucaults Behauptung folgend, daß „nichts im Menschen - nicht einmal sein Körper" „dem Einfluß der Geschichte" entgeht, 32 haben Neuhistoristen und andere Erforscher der Geschichte von Frauen, Minderheiten, Gays und Lesben argumentiert, daß Aspekte der Identität, die vorher als natürlich und wesentlich galten - z. B. Geschlecht, Rasse und Sexualität -, tatsächlich historisch konstruiert sind. Scott argumentiert ferner, daß, weil des Historikers „Darstellungen der Vergan-

25 Vergleiche Meineckes Behauptung, daß „Relativismus und Historismus sicherlich zusammengehören" (a. a.O., 489). Siehe auch 506f. 26 Michel Foucault: Nietzsche, Genealogie, die Historie (1971). In: ders.: Von der Subversion des Wissens (München 1974) 100. 27 St. Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning, a. a.O., 5. 28 St. Greenblatt: Resonance and Wonder, a. a.O., 167. 29 A.a.O., 167f. 30 Th. Holt, a.a.O., 1. 31 J. W. Scott: Gender and the Politics of History (New York 1988) 9. Vgl. Henry Louis Gates, Jr.: Loose Canons: Notes on the Culture Wars (New York 1992) 5, und Lynn Hunt: History as Gesture; or, The Scandal of History. In: Consequences of Theory: Selected Papers from the English Institute, 1987-88, ed. Jonathan Arac, Barbara Johnson (Baltimore 1991). 32 M. Foucault, a.a.O., 153.

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genheit dabei helfen, das Geschlecht für die Gegenwart zu konstruieren", kritische Analysen des Geschlechts in „Vergangenheit und Gegenwart ein fortdauerndes Unternehmen sind". 33 Zeitgenössische anglo-amerikanische Traditionalisten haben die neuen Historizismen in ziemlich ähnlicher Weise angegriffen, wie ihre Vorgänger den alten europäischen Historismus attackierten, der ja nur ein sehr bescheidenes Ansehen in Amerika und England erreichte.34 G. R. Elton erkennt die Unzulänglichkeit der „einfältigen Vorstellungen von Objektivität" 35 an, verteidigt aber einen verbesserten, vorsichtigeren Objektivismus, 36 der auf „der Realität der Vergangenheit" 37 basiert. Während Historiker die Geschichte schrieben, „entdecke" der wohltrainierte Historiker „Bedeutung, ohne sie zu erfinden". 38 Wie die Vergangenheit sich selbst ihre eigene Bedeutung verleiht, bleibt für Objektivisten ein Problem. Für eine Neopositivistin wie Gertrude Himmelfarb ist die Bedeutung der Vergangenheit verständlich, weil die Vergangenheit und die Gegenwart grundlegende Werte und kognitive Prozesse teilen;39 Elton dagegen besteht darauf, daß „die Gegenwart aus der Vergangenheit herausgehalten werden muß, wenn die Suche nach der Wahrheit über jene Vergangenheit" gelingen soll.40 Vielleicht können wir in Eltons Insistieren, daß „die Gegenwart aus der Vergangenheit herausgehalten wird", ein Zeichen für eine neue „Krise des Historismus" sehen. Möglicherweise stellen poststrukturalistische Ideen - besonders die Versionen von Derridas Behauptung, es gebe nichts, noch nicht einmal eine „reale" Vergangenheit, außerhalb des Textes eine dem Historismus innewohnende Krise dar, weil sie dessen nachdrückliches Bestehen auf dem Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu unterminieren scheinen. Alan Liu hat eine solche Kritik des New Historicism ausgearbeitet, der, wie er behauptet, das Renaissancesubjekt nach dem Bild des fragmentierten, dezentrierten, postmodernen

33 J. Scott: Gender, a. a. O., 2, 6. - Für David Halperin sind sexuelles Begehren und sexuelle Orientierung keine essentiell physischen Eigenschaften; statt dessen ist „Sexualität eine kulturelle Produktion: sie repräsentiert die Aneignung des menschlichen Körpers [ . . . ] durch einen ideologischen Diskurs". D. H.: Is there a History of Sexuality. In: History and Theory 28 (1989) 257. Henry Louis Gates bezeichnet ähnlich „Rasse" als eine „sozialpolitische Kategorie". In: The Master's Pieces, a. a.O., 37. 34 Siehe Peter Novick: That Noble Dream: The „Objectivity Question" and the American Historical Profession (Cambridge 1988) 28f, 155ff. 35 G. R. Elton: Return to Essentials: Some Reflections on the Present State of Historical Study (Cambridge 1991)28. 36 A.a.O., 50f. 37 A.a.O., 11. 38 A.a.O., 30. 39 Siehe z. B. Gertrude Himmelfarb: Some Reflections on the New History. In: American Historical Review 94 (1989) 661-670. 40 G. R. Elton, a. a. O., 65. - Es gibt auch politisch links orientierte Kritiker des Historismus. Denn während die neuen Historismen in signifikanter Weise durch den Marxismus beeinflußt wurden, befinden sie sich in einer Spannung mit solchen Formen des Marxismus, welche die Geschichte nicht nur als eine andere Repräsentation begreifen, sondern als die „abwesende Ursache [ . . . ] , welche die gesamte Repräsentation nie kennen kann". Frederic Jameson: Marxism and Historicism (1979). Repr. in: Syntax of History (Minneapolis 1988) 150.

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Subjekts konstruiert.41 Aber warum sollte dies eine Kritik des New Historicism darstellen? Warum sollte man nicht statt dessen solche Momente als die Historisierung der Gegenwart verstehen? Denn die Assimilation der Vergangenheit an die Gegenwart ist letztendlich die Erfüllung der tiefsten Logik des Historismus. Wie kann angesichts der Einbettung des Historikers in die Geschichte seine Darstellung der „Vergangenheit" etwas anderes sein als eine Geschichte der Gegenwart, aus der heraus er schreibt? Eine Geschichtsschreibung zu postulieren, in der nicht irgendwie die Vergangenheit und die Gegenwart zusammenfallen, bedeutet nichts anderes als zu glauben, daß der Historiker oder der historistische Kritiker sich außerhalb der Geschichte befindet. An einer Vergangenheit festzuhalten, die nicht innerhalb der oder wie die Gegenwart konstruiert wird, bedeutet, den Historismus abzulehnen. Im folgenden Teil gebe ich eine Beispieldemonstration für die Weise, in der nach dem New Historicism die historische Thematisierung der Kultur der frühen Neuzeit immer eine Geschichte der Gegenwart ist.

II. Die Bemerkung Elisabeths I., daß „Prinzen wie auf einer Bühne vor den Blicken aller Welt stehen", ist als ein Grundpfeiler für die vielleicht einflußreichste These des New Historicism zur Kultur der Renaissance bekannt: die Behauptung, daß Elisabeth durch die Ausübung theatralischer Macht regiert hat.42 Nach der „Poetik Elisabethanischer Macht", die Stephen Greenblatt in Invisible Bullets: Renaissance Authority and Its Subversion (1981) zu formulieren begann, war Elisabeth eine Regentin ohne stehendes Heer, ohne eine hochentwickelte Verwaltung, ohne eine breite Polizeimacht, eine Regentin, deren Macht im theatralischen Zelebrieren königlicher Herrlichkeit und in der theatralischen Gewalt gegen die Feinde jener Herrlichkeit bestand. 43 Wie wir sehen werden, gründet Greenblatts fruchtbare Lektüre der Shakespearschen Darstellung von Herrschern auf der scheinbaren Homologie zwischen Elisabeths theatraler Art der Machtausübung und der darstellerischen Ökonomie des Theaters selbst: „die charismatische Autorität des Königs wie die der Bühne", behauptet Greenblatt, hängen von „der Vorstellungskraft der Zuschauer" ab.44 Im Anschluß an Greenblatt haben viele nachfolgenden historistischen Literaturkritiker - darunter Christopher Pye, Leonard Tennenhouse, Peter Stallybrass, David Scott Kastan, Steven Mullaney und Jonathan Goldberg - in irgendeiner Form ihre Ausführungen über das Elisabethanische und Jakobinische Drama auf die Theatralik Elisabethanischer und Jakobinischer Macht gegründet.

41 Siehe Alan Liu: The Power of Formalism: The New Historicism. In: English Literary History 56 (1989) 721-771. 42 Elisabeths Gestalt als Schauspieler-Königin findet sich bei William Camden: The History of the Most Renowned and Victorious Princess Elizabeth, Late Queen of England, ed. Wallace T. MacCaffrey (Chicago 1970) 262. 43 St. Greenblatt: Glyph 8: Johns Hopkins Textual Studies (Baltimore 1981) 57. 44 A.a.O., 63, 64.

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Für unsere Zwecke hier sind die kritischen Lesarten, die durch die Behauptung einer theatralischen Monarchie ermöglicht werden, von geringerem Interesse als die fast unmittelbare und gänzlich unreflektierte Institutionalisierung von Greenblatts provokativer These über die Elisabethanische Kultur als eines Faktums der Elisabethanischen politischen Kultur. Zum Beispiel wiederholen Kastan, Mullaney und die Kulturhistorikerin Carol Levin die Behauptung Greenblatts über die Vergangenheit, als wäre es die Vergangenheit selbst: Elisabeth war natürlich eine brillante Schauspielerin, wie sie es vielleicht sein mußte angesichts des Fehlens von wirksamen Zwangsmitteln, [ . . . ] ihre Herrschaft konnte - und in ihrem Fall konnte diese vielleicht nur - theatralisch gefeiert und gefestigt werden [ . . . ] . Elisabeths Gebrauch von Pomp und königlicher Rundreise machten es ihr möglich, ihr Land in ein Theater zu verwandeln und, angesichts eines fehlenden stehenden Heeres, ein Publikum zu schaffen, ein Heer loyaler Bewunderer, um ihre Herrschaft zu garantieren. Kastan: Proud Majesty Made a Subject (1986) 45 Weil ihr eine Berufsarmee und sogar die Rudimente einer bezahlten Verwaltung fehlten, übte Elisabeth wenig wirklich zwingende Macht aus. Sie konnte ihren Thron nur dadurch erhalten, daß sie sich der Kunst der politischen Überredung und Darstellung widmete [ . . . ] . Die königliche Macht hing von ihrer „privilegierten Sichtbarkeit" ab, wie es Greenblatt ausgezeichnet formuliert, und eine solche Sichtbarkeit wurde, wie Greenblatt besonders gezeigt hat, theatralisch konstituiert und theatralisch behauptet. Mullaney: The Place ofthe Stage (1988) 46 Die Tudors, die ohne stehendes Heer oder eine breite Polizeimacht herrschten, hatten ihre Macht „auf dem theatralischen Zelebrieren königlicher Glorie aufgebaut", wie Greenblatt es ausdrückt. Levin: The Heart and Stomach ofa King (1994) 47 Wir könnten uns hier bei der Art und Weise aufhalten, wie Kastan, Mullaney und Levin die Vergangenheit falsch zitieren,48 doch will ich statt dessen untersuchen, wie diese Wissenschaftler eine nichtzwingende Elisabethanische Macht aus dem Fehlen eines der materiellen Gewalt gewidmeten Staatsapparates ableiten. Nach den Ausführungen von Kastan und Mul-

45 David Scott Kastan: Proud Majesty Made a Subject: Shakespeare and the Spectacle of Rule. In: Shakespeare Quarterly 37 (1986) 365. 46 Steven Mullaney: The Place of the Stage: License, Play and Power in Renaissance England (Chicago 1988) 24. 47 Carol Levin: The Heart and Stomach of a King: Elizabeth I and the Politics of Sex and Power (Philadelphia 1994) 24. 48 Das bedeutet: Wenn diese Gelehrten ihre Behauptungen der Elisabethanischen Macht gänzlich von Greenblatt ableiten, dann paraphrasieren und verändern sie den Text und zitieren ihn falsch (d. h. Invisible Bullets), den Text, der für sie die Vergangenheit schlicht konstituiert.

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laney ist z. B. der Beweis für theatralische Macht ihre Notwendigkeit: d. h. das Theatralische von Elisabeths Macht wird begründet durch die Abwesenheit einer alternativen Macht, die in „einem stehenden Heer, [ . . . ] einer hochentwickelten Verwaltung" und „einer breiten Polizeimacht" wurzelt.49 Nach Kastan greift Elisabeth zur theatralischen Macht, weil sie weder „eine stehende Armee" kommandierte noch andere „wirksame Gewaltmittel" zur Verfügung hatte; Mullaneys Elisabeth entbehrte „einer Berufsarmee, [ . . . ] einer bezahlten Verwaltung" und einer „real zwingenden Macht". Diese antimaterialistische Konstruktion von Elisabeths Macht bewegt sich auf widersprüchlichen Bahnen. Einerseits scheinen diese Argumente das zu tun, was Walter Cohen als eine charakteristische Operation des New Historicism identifiziert - nämlich die Verfremdung der Vergangenheit.50 Denn was die frühneuzeitliche Monarchie entbehrt - eine Armee, Polizei und hochentwickelte Verwaltung - sind natürlich vertraute Züge der eigenen politischen Kultur der Kritiker. Andererseits assimiliert die absolute Opposition, die Kastan und Mullaney zwischen „theatralischer Macht" und „zwingender Macht" aufstellen, die königliche Macht einem sehr vertrauten Modell. Nachdem diese Neuhistoristen voreilig eine materialistische Erklärung Elisabethanischer Macht zurückgewiesen haben, orten sie Elisabeths Macht nicht in wirklich fremden Ideologien - z. B. im göttlichen Recht der Könige - , sondern in ihrer Fähigkeit, sich die machtgebende Zustimmung ihrer Untertanen zu sichern. Neuhistoristen machen aus der Entdeckung, daß Macht theatralisch ist, eine Ideologiekritik: während Monarchen ihre Autorität auf Gott und auf die natürliche Ordnung zurückführten, leitet sich deren Macht, nach der Entdeckung des New Historicism, aus der theatralischen Zustimmung ihrer Untertanen ab. Und doch sieht diese „Wahrheit" über die Elisabethanisch-politische Kultur dem zentralen Glaubensartikel unserer eigenen politischen Ideologie verdächtig ähnlich: Macht ist eine Funktion der Zustimmung. Es lohnt sich anzumerken, daß der Historiker D. M. Palliser, wenn er genau dieselben Gemeinplätze betreffend Elisabeths relativen Mangel an materieller Macht interpretiert, dort Zustimmung voraussetzt, wo die Neuhistoristen theatralische Macht sehen: Die Tudors hatten weder eine stehende Armee noch eine Staatspolizei (obwohl Secretary Walsingham in den 1570er und 1580er Jahren bezahlte Agenten oder Spione beschäftigte) und nur eine rudimentäre Verwaltung. Könige brauchten die Zusammenarbeit mit ihrem Hof und Landadel, der wiederum auf die Fügsamkeit des gemeinen Volks angewiesen war. Es entstand die Situation einer „Regierung durch die informellen Mechanismen der Zustimmung". 51 Theatrale Macht ist, so möchte ich behaupten, nichts anderes als die durch den Literaturwissenschaftler vorgenommene Übertragung des historisch-politischen Begriffs der „Zustimmung" in ein literarisches, ästhetisches Konzept. Theatralische Macht ist die Fiktionalisierung der Zustimmung.

49 St. Greenblatt: Bullets, a. a.O., 44. 50 Walter Cohen: Political Criticism of Shakespeare. In: Shakespeare Reproduced: The Text in History and Ideology, ed. Jean E. Howard, Marion O'Connor (New York 1987) 34. 51 D. M. Palliser: The Age of Elizabeth (New York 1983) 302. Am Ende der Passage, die ich oben zitiert habe, zitiert Palliser das Buch von Penry Williams: The Tudor Regime (Oxford 1979) 464.

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Wir sollten anmerken, daß Greenblatt selbst darin weitaus vorsichtiger als spätere Wissenschaftler ist, theatralische Macht und Zustimmung völlig zusammenzubringen. Denn nicht nur bestimmt Greenblatt „theatrale Gewalt" als eine zwingende Art von theatraler Macht; er ist generell nicht geneigt, eine radikal antimaterialistische Konstruktion von Macht zu statuieren, und in der Tat schränkt er wiederholt die alleinige Behauptung einer rein theatralen Macht ein. So erkennt Greenblatt an, daß Theatralik „ein primärer Ausdruck von Renaissancemacht" ist, „eine der wesentlichen Arten von Macht" und „eine der wichtigsten Agenten königlicher Macht". 52 Schließlich erkennt der Ausdruck „privilegierte Sichtbarkeit" selbst an, daß die positive Bedingung der Theatralik, nämlich die Sichtbarkeit, immer von der Stellung abhängig ist. Für Greenblatt ergänzt - allerdings im strengsten Derridaschen Sinne des Wortes supplementär - die Theatralik also eine überdeterminierte Macht. 53 Dagegen behauptet Mullaney, daß die Sichtbarkeit nicht von der Stellung abhängig, sondern selber „theatralisch konstituiert" sei. Was also meinen diese späteren Neuhistoristen mit „theatraler Macht"? Vor allem ist Macht nicht das, was Habermas „repräsentative Öffentlichkeit" nennt: die öffentliche Zurschaustellung von Machtmöglichkeiten, die der Herrscher schon besitzt.54 Theatrale Macht ist, mit anderen Worten, nicht ein Mittel, um bereits konstituierte Macht zu schmücken oder in strategischer Form öffentlich zu machen. Die Theatralik ist auch nicht deshalb mächtig, weil sie die materielle Macht und zwingende Machtausübungen legitimiert: sondern die Theatralik ist genau das, was Elisabeth an Stelle von materieller Macht und Zwangsmitteln hat. Theatralik ist keine ideologische Mystifikation von „realer" Macht. Noch nicht einmal ist die theatrale Macht ein sekundäres Mittel der Ideologie: d. h. die Theatralik ist nicht das Mittel, durch das der Glaube an - sagen wir - das göttliche Recht des Monarchen gesichert wird. In der Tat behaupten die Neuhistoristen, daß Theatralik das ist, was offenbart wird, wenn die Ideologie durchgedrungen ist: unter dem Elisabethanischen Weltbild des göttlichen Rechts, des von der Natur sanktionierten Patriarchats und der unveränderbaren Hierarchie gibt es die „Realität" der theatralen Macht. Zu behaupten, daß es außerhalb der Theatralik keine andere Macht gebe, bedeutet notwendigerweise zu implizieren, daß die theatrale Macht in der Zustimmung wurzelt: denn in einem solchen Modell ist die Zustimmung der Zuschauer - ihr Wille, das Agieren des Herrschers mit Macht auszustatten - das einzige verbleibende teilbare Material für die Hervorbringung von Macht. Nach dieser Auffassung richtet der berühmte Prolog in Shakespeares Henry V. an die Zuschauer einen Appell, den genausogut der monarchische Staat an seine Untertanen richten könnte:

52 St. Greenblatt: Bullets, a. a. O., 65, 46, 50. (Hervorhebungen im Text von mir, O. A.). 53 Noch wichtiger ist, daß Greenblatt die Rolle des Zuschauers bei der Hervorbringung von theatraler Macht radikal problematisiert: „Das Spiel der Autorität hängt von den Zuschauern ab [...], aber die Darstellung [der Autorität] scheint gänzlich jenseits der Kontrolle von denen zu sein, deren .imaginative Kräfte' ihr Bedeutung und Kraft verleihen". A. a. O., 65. 54 Siehe Jürgen Habermas: The Structural Transformation of the Public Sphere: An Inquiry into a Category of Bourgeois Society trans. Thomas Bürger (Cambridge 1989) XV und 5 - 8 .

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Ergänzt mit den Gedanken unsre Mängel; Zerlegt in tausend Teile einen Mann Und schaffet eingebild'te Heereskraft. Denkt, wenn wir Pferde nennen, daß ihr sie Den stolzen Huf seht in die Erde prägen. Denn euer Sinn muß unsre Kön'ge schmücken. (23-28) 5 5 Wenn die Darsteller ohne die machtspendende Unterstützung der Zuschauer bloße „Ziffer" (Prolog 17) sind, so ist auch Elisabeth mehr von ihren Untertanen abhängig als von einer innewohnenden Autorität oder einem massiven Staatsapparat, um ihr königliches Handeln mit Macht auszustatten. Weil Kastan und Mullaney, wie viele andere Kritiker, die materielle Dimension königlicher Macht nicht anerkennen, bleibt ihnen nur die Theatralik als der Anfang und das Ende königlicher Macht. Wie es sich aber herausstellt, entbehrt die Grundannahme dieser Auffassung von königlicher Macht, die Behauptung nämlich, daß es Elisabeth an zwingender Macht mangelte, jeder Basis. Wir könnten hier bei den vielen spektakulären Beispielen für Elisabeths Macht, ihren besonders renitenten Untertanen Hände, Ohren und Leben zu nehmen, verweilen, aber ich möchte statt dessen kurz die beispiellosen Fortschritte in Erinnerung rufen, die die Elisabethanische Krone in ihrer institutionellen Fähigkeit machte, um die breite Masse ihrer Untertanen zu regieren und zu kontrollieren. Penry Williams behauptet, daß, während alle Tudors die Größe der Regierung erweitert hatten, „unter Elisabeth der Druck durch die Regierung beträchtlich wuchs, manchmal in alarmierender Weise": 56 „Es scheint unbestreitbar", folgert Williams, „daß am Ende des 16. Jahrhunderts England noch stärker als vorher regiert wurde [ . . . ] und zu diesem Zwecke mehr Zwang ausgeübt und eine ausgeklügeltere Maschinerie angewendet wurde durch eine Regierung, die mehr über ihre Untertanen wußte, als jede ihrer Vorgängerinnen." 57 Man beachte z. B. die Elisabethanischen Neuerungen zur Erhaltung der öffentlichen Ordnung. Allein im letzten Jahrzehnt ihrer Herrschaft schuf Elisabeth Tausende von bezahlten Ämtern, um sowohl die Zwangsmacht über die Zivilbevölkerung zu verbessern als auch um die Leitung des Militärpersonals stärker unter die Kontrolle der Zentralregierung zu bringen: 1588 wurde das Amt des Provost Marshai geschaffen, um an herrenlosen Leuten, Spitzbuben und Soldaten ein martialisches Gesetz zu exekutieren; 1597 wurden neue Beamte damit beauftragt, arbeitstaugliche Arme zur Arbeit zu zwingen; 1585 institutionalisierte Elisabeth ein System von Lord-Lieutenants, den Hauptmilitärbeamten in jeder Grafschaft. Der Lord-Lieutenant, in der Regel ein Privy Counselor oder Großmagnat, und seine beträchtliche Mannschaft von Befehlshabern und professionellen Musterungsbeamten bildete eine wirksame und nie dagewesene militärische Kommandostruktur, welche übrigens in den nächsten zwei Jahrzehnten von Elisabeths

55 Diese und alle folgenden Zitationen aus Shakespeares Werk folgen der Übersetzung von Schlegel und Tieck [Anm. der Übersetzerin]. 56 Penry Williams: The Crown and the Counties. In: The Reign of Elizabeth I, ed. Christopher Haigh (Athens 1987) 125. 57 A.a.O., 128.

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Regierang über 100 000 Männer für verschiedene militärische Expeditionen rekrutierte. Wenn schließlich auch die Krone eines spezifischen Nachrichtendienstes entbehrte, so dienten die vierteljährlich tagenden lokalen Gerichte und die regelmäßig in den Grafschaften tagenden Straf- und Zivilgerichte nicht nur als Mittel der Krone, um die lokalen Angelegenheiten zu regeln, sondern auch als Informationskanäle von den Grafschaften hin zur Krone. Zu behaupten, daß Elisabeth I. mittels theatraler Macht regiert hat, bedeutet, den Zwangscharakter der königlichen Macht zu mystifizieren. Neuhistoristische Kritiker ersetzen die Elisabethanischen Mystifikationen durch ihre eigenen: durch die Vorstellung, daß Macht, die mehr als bloß formale Autorität ist, sich aus der Zustimmung der Regierten ableitet. Die neuhistoristische Assimilation sowohl der Macht Elisabeths als auch des Handelns des Untertans an ein Modell von sozialer Reproduktion, das auf Zustimmung gründet, ist eine merkwürdige Form von Whiggismus, weil sie moderne, demokratische Werte nicht auf eine primitive repräsentative Institution, sondern auf eine monarchische Institution projiziert. 58 Ich deute es als ein Zeichen für die Hegemonie von politischer Repräsentation in unserer Kultur, daß der New Historicism die Monarchie - also ein fremdes politisches Arrangement - verständlich macht, indem er sie zu einer repräsentativen Institution umgestaltet. Ich habe festgestellt, daß die neuhistoristischen Behauptungen über die theatralische Macht der Ideologie der politischen Repräsentation eingeschrieben sind und daß sie die politische Kultur der Vergangenheit dieser Ideologie assimilieren. Nun möchte ich die Ansicht äußern, daß die neuhistoristische Erklärung für die Entstehung theatraler Macht paradigmatisch ist für die neuhistoristischen Darstellungen von kultureller Produktion allgemein. Machtverhältnisse in einer theatralen Monarchie sind rekursiv: Der Zuschauer-Untertan stattet imaginativ die monarchistische Kultur mit Macht aus, welche ihrerseits ihn formt. Die Beziehung des Künstlers zur Kultur, weit davon entfernt, dieses reflexive Modell zu transzendieren, exemplifiziert es. So argumentiert Louis Adrian Montrose in seiner Ausarbeitung des „dialektischen Charakters von kultureller Repräsentation", 59 daß Shakespeares Drama A Midsummer Night's Dream in doppeltem Sinne eine Schöpfung Elisabethanischer Kultur [ist]: denn es schafft die Kultur, durch die es geschaffen wird, formt die Phantasien, durch die es geformt wird, zeugt das, wodurch es gezeugt wird. 60 So gestaltet Shakespeare die Kultur, die ihn gestaltet. Die wechselseitige Beziehung von Individuum und Kultur ist das tragende Prinzip von Montroses reichhaltiger und äußerst einflußreicher Darstellung der Renaissancekunst: Die „poetische Kraft von Spensers The Shephardes Calender „hilft, die politische Macht zu erschaffen und zu stützen, welcher sie

58 Die Whig-Geschichtsschreibung, wie sie durch ihre revisionistischen Kritiker definiert ist, „liest das moderne Parlament zurück in" die mutmaßlich oppositionelle Volksvertretung der Zeit Elisabeths und Jakobs. G. R. Elton: The Parliament of England, 1559-1581 (Cambridge 1986) ix. 59 Louis Adrian Montrose: Representations 2 (1983) 61. 60 A.a.O., 86.

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dient"; 61 und Peeles Arraigment of Paris „erschafft die Kultur neu, die es erschafft". 62 In dieser Form überschreitet Montrose die Opposition von „totalem Künstler" und „totalisierender Gesellschaft". Montroses Modell der kulturellen Produktion ist abgeleitet von der reflexiven Soziologie, die Pierre Bourdieu und Anthony Giddens formulierten. Wenn der New Historicism mit dem problematischen Dualismus von „totalem Künstler" und „totalisierender Gesellschaft" beginnt, fängt die reflexive Soziologie mit dem mehr globalen Dualismus von Struktur und Autorschaft (agency) an. So sieht Giddens „die Opposition von Voluntarismus und Determinismus" 63 als eine falsche Alternative, genauso wie Greenblatt die Begriffe des „totalen Künstlers" und der „totalisierenden Gesellschaft" als in gleicher Weise inakzeptabel ansieht. Anstatt das funktionalistische und strukturalistische Vorurteil für die determinierende Kraft sozialer Struktur oder das voluntaristische Vorurteil für die uneingeschränkte Gestaltungskraft des Autors zu übernehmen, argumentiert Bourdieu, daß Struktur und Autorschaft interdependent sind und rekursiv hervorgebracht werden: Um dem Strukturrealismus zu entgehen, der die Systeme objektiver Relationen derart hypostasiert, daß er sie in jenseits der Geschichte des Individuums oder der Geschichte der Gruppe angesiedelte präkonstruierte Totalitäten verwandelt, gilt es [ . . . ] die Theorie der Praxis oder, genauer gesagt, die Theorie des Erzeugungsmodus der Praxisformen zu entwerfen, die die Bedingung der Konstruktion einer experimentellen Wissenschaft von der Dialektik zwischen Interiorität und Exteriorität, d. h. zwischen der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität bildet.64 Die Entstehung von Praktiken zu untersuchen bedeutet, die Internalisierung (durch Akteure) von Externalität (Struktur) und die Externalisierung (das Herstellen von Struktur) durch Akteure zu untersuchen. Das Medium der rekursiven Reproduktion von Struktur und Akteur ist, nach Bourdieu, der „Habitus", ein System dauerhafter Dispositionen, strukturierter Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken [ . . . ] [ein] durch geregelte Improvisationen dauerhaft begründetes Erzeugungsprinzip [ . . . ] , [das] Praxisformen und Praktiken hervorbringt]. 65

61 L. A. Montrose: ,Eliza, Queene of shepheardes', and the Pastoral of Power. In: English Literary Renaissance 10(1980) 168. 62 L. A. Montrose: Gifts and Reasons: The Contexts of Peele's Araygment of Paris. In: English Literary History 47 (1980) 433. Jonathan Goldberg hebt die charakteristische Rekursivität von Montroses Argumenten hervor in The Politics of Renaissance Literature: A Review Essay. In: English Literary History 49 (1982) 514—542. 63 Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory: Action, Structure and Contradiction in Social Analysis (1979; Repr. Berkeley 1983) 2. 64 Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Übers, von Cordula Pialoux und Bernd Schwibs (Frankfurt/M. 1979) 164. 65 A.a.O., 165, 170.

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Anders gesagt, bringt der Habitus Handlungen hervor, welche den Habitus [reproduzieren: Die durch den Habitus hervorgebrachten Praktiken tendieren immer dazu, „die objektiven Bedingungen, deren Produkt sie in letzter Analyse sind, zu reproduzieren." 66 Giddens Theorie der „Strukturierung" transzendiert in ähnlicher Weise den Dualismus von Struktur und Akteur, indem er die Dualität von Struktur behauptet: Das Konzept der Strukturierung beinhaltet jenes der Dualität von Struktur, welches den fundamentalen rekursiven Charakter von sozialem Leben herausstellt, und die gegenseitige Abhängigkeit von Struktur und Akteur ausdrückt. Mit der Dualität von Struktur meine ich, daß die strukturellen Eigenschaften sozialer Systeme sowohl das Medium als auch das Resultat der Praktiken sind, die jene Systeme ausmachen. Die so formulierte Theorie der Strukturierung weist jegliche Gleichsetzung von Struktur mit Einschränkung ab [ . . . ]. Struktur ist sowohl befähigend als auch einschränkend [ . . . ] . Nach dieser Auffassung sind dieselben strukturellen Charakteristiken am Subjekt (dem Akteur) wie am Objekt (der Gesellschaft) vorhanden. 67 Giddens Grundformulierung von Struktur ist praktisch identisch mit Bourdieus Ausarbeitung des Begriffs Habitus: Gemäß der Vorstellung von der Dualität von Struktur werden von Aktionen Regeln und Mittel bei der Hervorbringung von Interaktionen benutzt, werden aber auch durch eine solche Interaktion rekonstruiert. Struktur ist also die Art, wie die Beziehung zwischen Moment und Totalität sich in der sozialen Reproduktion ausdrückt. 68 Giddens gewinnt so dem individuellen Akteur die generative Kraft zurück, ohne aus der Struktur die bestimmte, bewußte Schöpfung des totalen Individuums, wie Greenblatt es nennen würde, zu machen: „Struktur geht gleichzeitig in die Konstituierung des Akteurs und in die sozialen Praktiken ein und .existiert' in den generativen Momenten dieser Konstituierung". 69 Was besagt: die Totalität der Gesellschaft ist repräsentativ für individuelle Aktionen, welche wiederum auch die Totalität der Gesellschaft repräsentieren.70 So beginnen Greenblatt, Bourdieu und Giddens mit demselben Problem, dem scheinbaren Dualismus von Individuum und Gesellschaft - , und jeder legt eine ähnliche Lösung vor: theatrale Modelle von Subjekt und von Macht - der Habitus - und Strukturierung. Diese Theorien von rekursiver sozialer Reproduktion sind in die Kultur der politischen Repräsentation eingeschrieben und werden von ihr geformt. Wir konnten zu Beginn anmerken, daß nach der Theorie der Rekursivität die Struktur das Handeln (agency) nur insofern bestimmt, als das Handeln die Struktur bestimmt: in dem Maße also, wie der Akteur eingeschränkt ist, ist er der Urheber seiner eigenen Einschränkung. Anders gesagt: weil Struktu-

66 67 68 69 70

A.a.O., 165. A.Giddens, a.a.O., 69f. A.a.O., 71. A.a.O., 5. Man erinnere sich an Giddens' andere Formulierung dieses Phänomens: „dieselben strukturellen Merkmale finden sich im Subjekt (dem Akteur) wie im Objekt (der Gesellschaft)". A. a.O., 70.

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ren Akteure repräsentieren bzw. deren Produkt sind, kann die Wirkung von Struktur auf das Handeln nicht als die externe Determinierung des Handelns ausgelegt werden. Die Konvergenz von Bourdieus Theorie der sozialen Reproduktion und der politischen ReproduktionsIdeologie der politischen Reproduktion wird in instruktiver Weise klar in Bourdieus umfassenden und glänzenden Analysen der politischen Repräsentation. Man beachte z. B. Bourdieus Rekonstruktion des Grundmoments politischer Repräsentation: Dem Schein nach erschafft die Gruppe den Mann, der an ihrer Stelle und in ihrem Namen spricht [ . . . ] , während in Wirklichkeit es mehr oder weniger genauso wahr ist zu sagen, daß es der Sprecher ist, der die Gruppe erschafft. 71 Der politische Repräsentant verkörpert also das Prinzip des Habitus: er erschafft die Akteure, die ihn erschaffen. Und die bestimmende und geheimnisvolle Fähigkeit des Repräsentanten, Macht mehr durch die darstellende (performative) Sprache als durch materiellen Zwang auszuüben, ist eine Funktion der Rekursivität: „So geht das Mysterium der performativen Magie [ . . . ] im Mysterium des .Ministeriums' auf, das heißt in der Alchimie der Repräsentation (in all ihren Bedeutungen), über die der Repräsentant die Gruppe, durch die er wird, was er ist, erst zu dem macht, was sie ist." 72 Wenn „Theatralik" eine Fiktionalisierung von Zustimmung ist, dann ist die Rekursivität eine Objektivierung von Zustimmung als einem theoretischen Prinzip sozialer Reproduktion. Diese lokale Darstellung der wechselseitigen Produktion des Repräsentanten wird in Bourdieus Konstruktion der politischen Kultur der Repräsentation globalisiert. Hier findet die für Bourdieu charakteristische Idee des wechselseitigen reflexiven Wesens sozialer Reproduktion ihren vollständigen ideologischen Ausdruck in der Homologie zwischen den politischen und den sozialen Bereichen der repräsentativen Gesellschaft. Bourdieu behauptet eine wahrhaft symbolische Beziehung zwischen [ . . . ] den Repräsentanten, die eine Repräsentation bewerkstelligen, und den Akteuren, Handlungen und Situationen, die repräsentiert werden. Die Kongruenz zwischen [ . . . ] Repräsentanten und Repräsentiertem [ . . . ] resultiert [ . . . ] aus der Homologie zwischen der Struktur des politischen Felds und der Struktur der repräsentierten Welt, zwischen dem Klassenkampf und der sublimierten Form dieses Kampfes, die auf dem politischen Feld ausgetragen wird.73 Warum sind die Felder homolog? Weil, wie wir sahen, jene, die repräsentiert werden, die Repräsentanten erschaffen haben, welche wiederum sie erschufen. Dies ist in gewisser Weise der Genius der politischen Repräsentation: die Homologie zwischen den politischen und sozialen Feldern neutralisiert auf wirksame Art das Eigeninteresse der repräsentativen Klasse. Denn indem die politischen Repräsentanten „die Erfüllung der spezifischen Interes-

71 P. Bourdieu: Language and Symbolic Power, ed. John B. Thompson; trans. Gino Raymond, Matthew Adamson (Cambridge 1991) 204. 72 P. Bourdieu: Was heißt sprechen?: die Ökonomik des sprachlichen Tausches, hg. von G. Kremnitz, übers, von H. Beister (Wien 1990) 72. Vgl. Language, a. a.O., 106. 73 P. Bourdieu: Language, a.a.O., 182.

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sen verfolgen, die ihnen aufgrund der Konkurrenz innerhalb des Feldes auferlegt werden, erfüllen sie außerdem die Interessen derjenigen, die sie entsenden: die Kämpfe der Repräsentanten können beschrieben werden als eine politische Mimesis der Kämpfe jener Gruppen und Klassen, deren Verfechter sie zu sein behaupten." 74 Obwohl also die Repräsentanten bloß behaupten, des Volkes Verfechter zu sein, schützen sie die Interessen des Volkes den eigenen zum Trotz. Für Bourdieu ist der repräsentative Charakter eher organisch als künstlich; das politische Feld repräsentiert notwendigerweise das soziale Feld, weil beide voneinander abgeleitet sind. Die vorausgesetzte Homologie zwischen den zwei Bereichen ist das Produkt rekursiver, reflexiver Reproduktion: das politische spiegelt das soziale Feld, weil die repräsentierte Gruppe und die repräsentierenden Akteure aneinander von vornherein sich rekursiv erschaffen haben - sie repräsentieren einander schon immer. So ist die Ideologie der politischen Repräsentation ununterscheidbar von der Theorie der Rekursivität. Zum Schluß komme ich auf Greenblatts Invisible Bullets und auf ein zweites Beispiel von Rekursivität in seiner Argumentation zurück. In einer glänzenden Analyse Elisabethanischer kolonialistischer Rede durchdenkt Greenblatt die Beziehung zwischen Macht und Subversion, Orthodoxie und Häresie neu. Macht, so argumentiert Greenblatt, neigt dazu, ihre eigene Subversion hervorzubringen und sie letzten Endes schon zu enthalten. In der Tat gibt Greenblatt zu bedenken, daß Macht häufig nicht nur ihre eigene Subversion hervorbringt, sondern daß sie „aktiv darauf gebaut ist". 75 Greenblatt ortet dieses Verhalten der Macht in den historischen Dramen Shakespeares. Hier stellt Shakespeare in subversiver Weise die monarchische Autorität nicht als ein angeborenes, von Gott verliehenes Attribut dar, sondern als ein theatralisches Fabrikat: Shakespeares Heinrich V. z. B. verdankt seine Macht seiner Fähigkeit zu theatralischer Darstellung. Aber das Drama, suggeriert Greenblatt, dämmt die subversiven Zweifel ein, die es hervorbringt. Es liegt genau an der englischen Form der absolutistischen Theatralik, daß Shakespeares Drama [ . . . ] so gnadenlos subversiv sein kann: die Form selber als ein primärer Ausdruck von Renaissancemacht hilft, die Zweifel einzudämmen, die es ständig provoziert. 76 Weil die Form des Theaters identisch ist mit der Form der Elisabethanischen Monarchie, befestigen die Dramen in Wirklichkeit die theatralische Monarchie, die sie zu unterminieren scheinen. Greenblatt merkt an, daß dieser Machtmechanismus historisch partikulär ist; er ist nicht notwendigerweise ein Zug aller Machtkonstruktionen. Und doch scheint die Vorstellung, daß „die Hervorbringung von Subversion [ . . . ] die eigentliche Bedingung der Macht ist", 77 in höchstem Maße nicht auf Elisabeths England, sondern auf Greenblatts Amerika anwendbar. Denn Greenblatts Darstellung frühneuzeitlicher Macht - daß sie ihre eigene Subversion hervorbringt, eindämmt und auf ihr ruht - beschreibt genau die Macht in der Ökonomie der politischen Repräsentation. In der Tat ist politische Repräsentation nichts anderes als die

74 A.a.O., 182. 75 St. Greenblatt: Invisible Bullets, a. a.O., 30. 76 A.a.O., 65. 77 A. a.O., 65.

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Institutionalisierung der Eindämmung von Subversion. In der demokratischen Kultur ist die Subversion der existierenden Ordnung, nämlich Wahlen, institutionalisiert als die Reproduktion einer noch fundamentaleren Ordnung (der repräsentativen Regierung). Hier schafft die Macht ihre Verwundbarkeit, ihre eigene Subversion und reproduziert sich durch ihre Verwundbarkeit. Denn was ist eine Wahl anderes als die eingedämmte Subversion und die institutionalisierte Mißherrschaft? Schließlich bedeutet zu wählen, all jene zu entmachten, die in einer republikanischen Gesellschaftsordnung die Regierungsmacht ausüben und nichtsdestotrotz das System der politischen Repräsentation per se reproduzieren.78 Am Schluß von Invisible Bullets echot Greenblatt in bemerkenswerter Weise Kafka: „Es gibt Subversion, kein Ende der Subversion, nur nicht für uns". 79 Nach Greenblatt gibt es für uns keine Subversion, weil die Elisabethanischen Doktrinen und Institutionen, die Shakespeare potentiell erschüttert, in unserer eigenen Kultur keinen Platz und noch weniger irgendeine Legitimität haben: Sie sind sozusagen immer schon umgestürzt und irreal. Aber ich schlage vor, daß wir diesen letzten Satz als ein Lamento über die Möglichkeit von Subversion in des Autors eigener Kultur lesen, als ein Lamento, das historisch dem demokratischen Subjekt zukommt und ihm angemessen ist. So ist Greenblatts Geschichte der Elisabethanischen Macht, wie der New Historicism es verlangt, eine Geschichte der Gegenwart.

78 In dieser Weise autorisiert und verstärkt politische Repräsentation - wie Bourdieus „Habitus" und Giddens' „Struktur" - solche Praktiken, die sie reproduzieren. 79 A.a.O., 65.

HINRICH C . SEEBA

New Historicism und Kulturanthropologie: Ansätze eines deutsch-amerikanischen Dialogs

Im letzten Sommer hat der Harvard-Professor für Political Science Samuel P. Huntington in einem vielbeachteten Artikel „The Clash of Civilizations?" die These aufgestellt, daß in Zukunft Kriege nicht mehr zwischen Staaten ausgetragen werden, die sich bestimmten, einander ausschließenden Ideologien verschrieben haben, sondern zwischen „civilizations" genannten kulturellen Systemen, in denen die Identität der Mitglieder durch gemeinsame Geschichte, Sprache, ethnische Herkunft und, zunehmend, durch Religion bestimmt wird. Damit wurde eine Grundannahme der politisch korrekten Prognostik erschüttert: nämlich daß der wachsende Kontakt zwischen den vielfach vermittelten Kulturen (westlich, buddhistisch, japanisch, islamisch, hinduistisch, slavisch-orthodox, lateinamerikanisch und möglicherweise afrikanisch) zu größerem Verständnis führe und damit zur Friedensbildung beitrage; vielmehr, so Professor Huntington, werde damit das Bewußtsein der Andersartigkeit der anderen Kultur erst geschärft und, während die westliche Kultur ihre globale Dominanz verliert, das Potential für die aggressive Austragung der zunehmend kulturell bestimmten Gegensätze gesteigert.1 Da kulturelle Identität definiert werde „by common objective elements, such as language, history, religion, customs, institutions, and by the subjective selfidentification of people", 2 muß sich - das ist das Fazit der Überlegungen - auch das politische Augenmerk verstärkt auf das Zusammenspiel dieser kulturellen Bereiche richten, auf die Prinzipien der antithetischen Konstruktion von kollektiven Identitäten, um mögliche Krisenherde ihres Zusammenpralls frühzeitig zu erkennen. Die anhaltende Kontroverse um Huntingtons Thesen 3 unterstreicht noch einmal das politische Bedürfnis nach kritischen Kulturstudien, die die antithetischen Denk- und Sprach-

1 Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations. In: Foreign Affairs 72, no. 3 (summer 1993) 22-49: „It is my hypothesis that the fundamental source of conflict in this new world will not be primarily ideological or primarily economic. The great divisions among humankind and the dominating source of conflict will be cultural. Nation states will remain the most powerful actors in world aiTairs, but the principal conflicts of global politics will occur between nations and groups of different civilizations. The clash of civilizations will dominate global politics. The fault lines between civilizations will be the battle lines of the future." (22) 2 Huntington, 24. 3 Die Ansichten des Politologen Samuel Huntington haben, weil er auch als Direktor des John M. Olin Institute for Strategie Studies an der Harvard University spricht, ein solches Gewicht, daß sich eine

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muster kultureller Identitätsbildung analysieren und eine historische Antwort auf die Frage erlauben, ob der Gegensatz von Kulturnationen, wie er sich im Golfkrieg bereits abzeichnete, ebenso kriegstreibend sein wird wie der Interessenkonflikt von Nationalstaaten. Diesem Bedürfnis haben in den letzten fünfzehn Jahren, vor dem Hintergrund der ethnischen Polarisierung in den Vereinigten Staaten und schließlich auch in Hinblick auf die Re-Nationalisierung der Konflikte in Europa, die mit deutschen Fragen beschäftigten Historiker und Germanisten in den USA zu entsprechen versucht, als sie gemeinsam ein neues Wissenschaftsmodell und entsprechende Institutionen für „interdisciplinary and intercultural German Studies" zu entwickeln begannen, in denen Geschichte als Text und Literatur im historischen Kontext untersucht wird. Die historische ,Kontextualisierung' literarischer und zunehmend allgemein kultureller, auch nicht-literarischer und nicht-verbaler Zeugnisse war ein sowohl gegen die Konventionen des New Criticism als auch gegen die Provokation durch Deconstruction gerichtetes Ziel der gemeinsamen Bemühungen. Die aus der „Western Association of German Studies" (WAGS) hervorgegangene „German Studies Association" (GSA) mit ihrem von Gerald Kleinfeld in Arizona seit 1978 herausgegebenen Organ German Studies Review, das seit 1979 jährlich in Berkeley veranstaltete „Interdisciplinary Summer Seminar in German Studies", das Doktoranden aller Disziplinen aus allen Landesteilen zusammenzieht, und die den German Studies gewidmete Sondernummer des GermanQuarterly im Frühjahr 1989 und die 1990 in Harvard, Georgetown und Berkeley gegründeten „Center for German and European Studies" sind nur einige Marksteine einer Bewegung, die, mit kräftiger Unterstützung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes in New York, längst die meisten Universitäten in den USA und seit 1990 auch in Canada erfaßt hat. Inzwischen schreiben German Departments die wenigen neuen Stellen, die sie zu besetzen haben, fast nur noch in Hinblick auf jene kulturkritischen German Studies aus, die vor zehn Jahren noch dem Verdacht des Verrats an der philologischen Mission und deren klassischem Kanon verdächtigt wurde; denn längst ist der alte Standardkurs der German Departments „Marx, Nietzsche, Freud", der sich zwischen Eichendorff, Rilke und Hermann Hesse stets wie ein Irrläufer ausnahm, durch Seminare zu Benjamin und Habermas, zur historischen Hermeneutik, Methodengeschichte und zur Filmtheorie, zur Institutionsgeschichte des kulturellen Kanons, zur Nationalmythologie und zu Stadtphantasien ergänzt worden, Kursen also, die man vor zwanzig Jahren, als die New Critics in den Ruhestand zu treten begannen, an amerikanischen Universitäten noch vergeblich suchte. 4 Inzwischen sind die Arbeiten, die in einer im Rahmen des Center for German and European Studies in Berkeley veranstalteten

öffentliche Diskussion daran anschloß, an der sich in Foreign Affairs der Politologe der John Hopkins University, Fouad Ajami, und die ehemalige UN-Botschafterin der USA Jeanne Kirkpatrick sowie, in The Atlantic Monthly, Robert D. Kaplan daran beteiligten. In dieser Diskussion, auf die vor kurzem sogar die New York Times aufmerksam machte (Peter Steinfels: Speculating on the wars of the future: Instead of ideologies, the combatants may be cultures. In: New York Times, April 16, 1994, 7), ging es vor allem um die Frage, ob die Militanz des Fundamentalismus Zeichen einer neuen Bewegung oder das Rückzugsgefecht Zukurzgekommener ist, und um die Frage, ob gegenwärtige Krisenherde zwischen oder innerhalb einzelner Kulturen anzusiedeln sind. 4 Vgl. zur Entwicklung der amerikanischen Germanistik Frank Trommler [Hg.]: Germanistik in den USA. Neue Entwicklungen und Methoden (Opladen 1989).

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Forschungsgruppe „Society and Culture" zur Kritik der Identitätsbildung vorgetragen werden, nicht mehr eindeutig an die Disziplin ihrer Verfasser gebunden: 5 Die Themen reichen von der Rolle der Volkssprache in der Nationbildung der frühen Neuzeit zur Rolle portugiesischer Juden in der Begründung medizinischer Ethik in Hamburg um 1600, von der Mythologisierung der Donau in der Habsburgischen Monarchie zur Umschreibung der Gedenkausstellung in Buchenwald nach 1990, von der Feminisierung des Faschismus in deutschen Geschichtsmuseen zur Psychologie des Genozids in Berichten einer Hamburger SS-Gruppe. Da treffen sich einmal im Semester Historiker und Literaturwissenschaftler, Soziologen und Kunsthistoriker, Politologen und Architekturhistoriker, Statistiker und Medientheoretiker, um laufende Arbeiten zur Identitätsbildung zu diskutieren. Und allen gemeinsam ist ein Verständnis des Textcharakters von kultureller Praxis und das Bemühen, die verbalen und zunehmend auch die visuellen „representations" der Kultur mit den Methoden philologischer Kritik zu ,lesen', um die Argumentationsstrukturen ihrer Funktionalisierung in verschiedenen Programmen der Identitätsbildung zu erkennen. Ihr gemeinsamer Gegenstand ist die Rhetorik kultureller Praxis, ihre Methode der Versuch, die sogenannten Subtexte gegen den Strich zu lesen, ihr Ziel einerseits, wissenschaftspolitisch, die Überwindung der Departmentalisierung akademischer Disziplinen und andererseits, kulturkritisch, ein Beitrag zur Neutralisierung der „fault lines between civilizations", die laut Huntington die Schlachtlinien der Zukunft sein könnten. Kulturkritik der Identitätsbildung 6 umfaßt also das ganze methodologische Spektrum, sie ist sowohl historisch als auch theoretisch, sowohl philologisch, woran die konservativen Skeptiker, als auch politisch, woran die linken Skeptiker zu erinnern sind. Sie ist insofern soziologisch, als sie mit Benedict Anderson dem Projekt der Modernisierung die soziale Integrationskraft nationaler Identität unterlegt,7 und insofern anthropologisch, als sie mit Clifford Geertz die Kultur als menschliches Orientierungssystem versteht.8 Sie ist sowohl post-strukturalistisch, weil sie mit Paul de Man und George Lakoff den rhetorischen Charakter kultureller Praxis betont,9 als auch historistisch, weil sie - im Unterschied zu vielen Ver-

5 Es ist charakteristisch für das Zusammenspiel der Disziplinen, daß die Forschungsgruppe „Society and Culture" von einem Komitee geleitet wird, das sich aus einer feministisch orientierten Komparatistin (Gail Finney), einem als Experte der Frankfurter Schule ausgewiesenen Historiker (Martin Jay) und einem wissenschaftsgeschichtlich interessierten Germanisten (Hinrich C. Seeba) zusammensetzt. 6 Vgl. Hinrich C. Seeba: Critique of Identity Formation: Toward an Intercultural Model of German Studies. In: The German Quarterly 62, no. 2 (Spring 1989): Germanistik as German Studies. Interdisciplinary Theories and Methods, 144-154. 7 Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (London, New York 1983, 6 1990). 8 Vgl. Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures: Selected Essays (New York 1973); Local Knowledge: Further Essays in Interpretative Anthropology (New York 1983); deutsche Fassung ausgewählter Aufsätze von Geertz u.d.T.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Frankfurt/M. 1987). Vgl. auch Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography. Edited by James Clifford and George E. Marcus (Berkeley 1986). 9 Vgl. Paul de Man: The Epistemology of Metaphor. In: On Metaphor. Edited by Sheldon Sacks (Chicago and London 1978) 11-28, S. 28: „And if one accepts, again merely for the sake of argument, that syntag-

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tretern der Postmoderne - hinter der Rhetorik eine ursprüngliche Bedeutung, einen ,real existierenden' Interessenzusammenhang annimmt, der sich dieser Rhetorik zur Durchsetzung seiner Zwecke bedient. Weil die postmoderne Auflösung authentischer Erfahrung in der Rhetorik ihrer Konstruktion angesichts von Auschwitz an die absolute Grenze der Reduzierbarkeit von historischer Realität gestoßen ist, fühlen sich Vertreter der German Studies, sofern sie gerade in Amerika mit den Folgen des Holocaust auch existentiell konfrontiert sind, immer wieder - und vielleicht mehr als anderswo - aufgerufen, an der Realität historischer Erfahrung grundsätzlich festzuhalten, auch wenn sie dafür vielleicht den Vorwurf epistemologischer Naivität hinnehmen müssen. In Hinblick auf die sehr realen Folgen rassistischer Identitätsbildung scheint sich das deutsche Beispiel für eine kultur-kritische Beantwortung der politischen Frage nach künftigen Konfliktherden auch deshalb besonders anzubieten, weil die deutsche Fixierung auf den Begriff der Kulturnation als Vorgabe oder als Ersatz für den lange vorenthaltenen Nationalstaat die Qualität und die Funktion der deutschen Kultur der letzten zweihundert Jahre entscheidend bestimmt, ja die Germanistik als akademische Disziplin überhaupt erst begründet hat. 10 Für die Klärung der Begriffe bietet sich deshalb die Idee einer deutschen Kulturnation als Kontrastmodell an, weil sie vor ihrer Realisierung im Nationalstaat konzipiert wurde, während Huntingtons Vision der konkurrierenden Kulturnationen davon ausgeht, daß sie erst nach der Überwindung des Nationalstaats relevant werden. Die kulturelle Identitätsbildung, die in Deutschland sowohl 1871 als auch 1990 der politischen Einheit vorausging, ist ein historisch und politisch relevanter Testfall für das Studium der politischen Bedeutung von kultureller Integration und Differenz. Vor dem Hintergrund der hier angedeuteten konzeptionellen und institutionellen Verschiebung drängt sich der Eindruck auf, daß in den German Studies längst praktiziert wird, was erst in den letzten Jahren, ausgehend von dem Anglisten und Renaissance-Experten Stephen Greenblatt in Berkeley und mit dem 1982 geprägten Schulbegriff, als „New Historicism" propagiert und bereits 1984 von einem italienischen Kritiker „La scuola di Berkeley" genannt wurde. 11 Der Eindruck einer,Schule' mußte sich aus der Tatsache ergeben, daß in Berkeley seit 1984 die Zeitschrift Representations herausgegeben wird, die für die Theoriebildung des New Historicism das wichtigste Organ geworden ist, und daß Greenblatt Herausgeber einer wichtigen Buchreihe The New Historicism: Studies in Cultural Poetics ist,

matic narratives are part of the same system as paradigmatic tropes (though not necessarily complementary), then the possibiliy arises that temporal articulations, such as narratives or histories, are a correlative of rhetoric, and not the reverse. One would then have to conceive of a rhetoric of history prior to attempting a history of rhetoric or of literature or of literary criticism." - George Lakoff and Mark Johnson: Metaphors We Live By (Chicago, London 1980) 22: „The most fundamental values in a culture will be coherent with the metaphorical structure of the most fundamental concepts in the culture." 10 Vgl. Hinrich C. Seeba: Nationalbücher: Zur Kanonisierung nationaler Bildungsmuster in der frühen Germanistik. In: Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Jürgen Fohrmann und Wilhelm Voßkamp (München 1991) 57-71, und ders.: Germany - a Literary Concept? The Myth of National Literature. In: German Studies Review 17 (1994) 353-369. 11 Remo Cesarini: Nuove Strategie rappresentative: La scuola di Berkeley. In: Belfagor 39 (November 1984) 665-685.

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die von der University of California Press in Berkeley veröffentlicht wird. Nun ist diese .Schule' allerdings längst nicht so homogen und vor allem nicht ganz so ,neu', wie der ihr auferlegte Name suggerieren möchte. 12 New History - New Literary History - New Historicism - New Cultural History: Die Kette der historischen Erneuerungen scheint nicht abzureißen. Aber weil es sich um Schulbildungen handelt, die mit programmatischem Elan und im Bewußtsein der von Emil Staiger „reißende Zeit" genannten Temporalisierung der modernen Kultur in die Zukunft blicken, 13 um in immer schnellerer Abfolge das Bedürfnis nach theoretischen Paradigmen zu befriedigen, droht ihnen oft das Bewußtsein der eigenen Historizität abzugehen, das ihrem Anspruch auf die jeweils neue historische Perspektive erst die Legitimation geben könnte. So weiß der „New Historicism" weder etwas von seinem eigenen Vorläufer, der in der amerikanischen Geistesgeschichte nicht unwichtigen Schule der „New History", die, vertreten von James Harvey Robinson (1863-1936), an der Wiege der 1919 gegründeten „New School for Social Research" stand, noch aber sogar etwas von dem historischen Historismus, als dessen Erneuerung sich der „New Historicism" zumindest terminologisch ausgibt. Es scheint sich im amerikanischen Kontext eher um eine verbale Historisierung des New Criticism als um eine reale Erneuerung des Historismus zu handeln; das Spiel mit dem Gleichklang der Schulnamen („New Criticism"/„New Historicism") ist in charakteristisch postmoderner Weise wichtiger als der inhaltliche Anschluß an den historischen Vorläufer (Historismus/New Historicism). Der tendentiell weiterhin immanente Textbezug bleibt wichtiger als der ihm als Realitätsbezug vorausliegende Kontext. Weil es im New Historicism immer mehr um eine synchrone Kontextualisierung als um eine diachrone Reihenbildung und eine historische Herleitung der meist literarischen Texte geht, bleibt auch der eigene Umgang mit Texten von der Rücksicht auf frühere Modelle eines ähnlichen Umgangs weitgehend unberührt. Und da der Rückgang auf die ,Quelle', jeder historistische Versuch also einer Rekonstruktion dessen, ,wie es eigentlich gewesen', dem Verdikt falscher Authentizität verfällt, ist die theoriegeschichtliche Ignoranz im Rahmen des Poststrukturalismus, dem sich viele Vertreter des New Historicism verschrieben haben, sogar theoretisch gerechtfertigt. Es ist deshalb kein Wunder, daß die Verbindung zu „New History" nicht etwa von einem überzeugten Anhänger, sondern von einem kritischen Beobachter des New Historicism gezogen wurde. Brook Thomas hat in seinem Buch The New Historicism - mit dem ironischen Untertitel „and Other Old-Fashioned Topics" - gegen den amerikanischen Gedächtnisschwund nicht nur im Namen der Literaturkritiker Leo Spitzer, Erich Auerbach und

12 Vgl. besonders Anton Kaes: New Historicism and the Study of German Literature. In: The German Quarterly 62, no. 2 (Spring 1989): Germanistik as German Studies. Interdisciplinary Theories and Methods, 210-219, und vom selben Autor (der Professor of German in Berkeley ist): Rückkehr der Geschichtlichkeit. Der New Historicism: ein neues Paradigma in der Literaturwissenschaft. In: Frankfurter Rundschau Nr. 256 (3. November 1992) 15. Vgl. auch den Sammelband The New Historicism. Edited by H. Aram Vesser (London, New York 1989). 13 Vgl. Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller (Zürich 3 1963) 75.

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Northrop Frye, sondern auch der Historiker James Harvey Robinson, Charles A.Beard und Carl Becker gegen diejenigen polemisiert, „who think that an awareness of the constructed nature of the past is a metahistorical or poststructuralist discovery". 14 Aber auch bei Thomas sucht man Namen, die in der deutschen Tradition mit dem ästhetischen Charakter von Geschichte verbunden sind, vergeblich: als Vertreter des Historismus ist nur Ranke erwähnt, nicht aber der für die vorliegende Fragestellung wichtigere Droysen; Dilthey und Cassirer fehlen ebenso wie der Name des für die Begründung von „New History" wirklich entscheidenden Anregers: Karl Lamprecht. 15 Offenbar gibt es in der wissenschaftsgeschichtlichen Begründung von Paradigmawechseln in Hinblick auf deutsche Traditionen eine amerikanische Berührungsangst, wie sie am absurdesten - und von vielen, auch von Brook Thomas, heftig kritisiert - von Allan Bloom in seinem vielbeachteten Buch The Closing of the American Mind (1987) vertreten wurde. Allan Bloom, ein Historiker der University of Chicago, der hinter der beklagten Engstirnigkeit seiner Landsleute eine germanophile Verschwörung der Anhänger Nietzsches und Heideggers wittert, hat dafür den aus Deutschland importierten „radical historicism" verantwortlich gemacht. 16 Hauptschuldiger des deutschen Historismus, dem er auch die marxistisch bestimmte Relativierung der moralischen Universalien ankreidet, ist für Bloom nicht etwa Ranke, den er nicht einmal erwähnt, sondern immer wieder nur Nietzsche. Hätte Allan Bloom von dem Dialog zwischen James Harvey Robinson und Karl Lamprecht gewußt (er erwähnt beide nicht), so hätte er sicher nicht gezögert, den gegen Lamprecht öfter erhobenen Vorwurf materialistischer Geschichtsschreibung für die Bekräftigung seiner These amerikanischer Unterwerfung unter den Marxismus-verdächtigen deutschen Historismus zu nutzen, und damit zur weiteren wissenschaftsgeschichtlichen Verwirrung beigetragen. Bloom selbst, wie aber auch manche seiner Kritiker, ist ein sprechendes Beispiel dafür, daß der von ihm beklagten und dem deutschen Einfluß in die Schuhe geschobenen „danger of forgetting" auch das amerikanische Verständnis des Historismus zum Opfer gefallen ist. 17 Es muß auffallen, daß Fred Matthews, der Allan Blooms „Attack on ,Historicism'" am entschiedensten zurückgewiesen hat, wohl die Vertreter der „New History" Carl Becker und Charles A.Beard in Schutz nimmt, aber den deutschen Historismus und damit Blooms zentralen Vorwurf eines deutschen Imports nicht einmal erwähnt; ihm reicht es aus, in einer iro-

14 Brook Thomas: New Historicism. And Other Old-Fashioned Topics (Princeton, N.J. 1991) 15. Der von Thomas als Beispiel für den symptomatischen Gedächtnisschwund angeführte Buchtitel von David Lowenthal, The Past Is a Foreign Country (1985), läßt sich durch einen anderen Buchtitel ergänzen: Stephen William Foster: The Past is Another Country: Representation, Historical Consciousness and Resistance in the Blue Ridge (Berkeley 1988), nur daß in diesem Fall gerade ein neu-historisches Programm interdisziplinärer Anthropologie entworfen wird: „Interpretation thus requires more than situating meaning within appropriate contexts. One must also come to understand politics, history, sociology, and ecology not merely as givens or as external conditions for meaning, and for action but as constructions just as surely as is social life itself." (S. XIV) 15 Vgl. Hinrich C. Seeba: Interkulturelle Perspektiven: Ansätze einer vergleichenden Kulturkritik bei Karl Lamprecht und in der Exil-Germanistik. In: German Studies Review 16 (1993) 1-17. 16 Allan Bloom: The Closing of the American Mind (New York 1987) 153. 17 Bloom, 152.

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nischen Pointe Bloom ausgerechnet als Schüler eines deutschen Emigranten herauszustellen, nämlich von Leo Strauss, der die University of Chicago zum „leading center of absolutist, anti-pragmatic, and anti-historicist thinking" gemacht habe.18 Als der „New Historicism" aufkam, war der deutsche Historismus, der selbst für die Historiker kein Leitbild mehr ihrer Wissenschaftsgeschichte war, erst recht für die Literaturtheoretiker kaum mehr als ein seines Inhalts entleerter, vielleicht schon vergessener und sicherlich veralteter Name, der auch nur namentlich erneuert zu werden brauchte, um die neue Schule zu bezeichnen, die man korrekter, aber auch weniger griffig einfach „Return to History" genannt hat. 19 Aber solche Rückkehr zur Geschichte ist, weil die Wissenschaftsgeschichte, vor allem jene, die supranational die Bedingungen des „cultural transfer" untersucht, noch eine sehr junge Disziplin ist, meistens nur im Sinne historischer Kontextualisierung der symbolischen Konstruktion von Orientierungssystemen und kaum als wissenschaftspolitischer und wissenschaftsgeschichtlicher Anstoß zur Historisierung der eigenen Fragestellung verstanden worden. Deshalb bleibt die Annahme der Möglichkeit eines deutsch-amerikanischen Dialogs, trotz deutlicher historischer Evidenz von Berührungspunkten, eine unsichere Vermutung, die wie im Untertitel der vorliegenden Überlegungen nur durch den Hinweis auf einige „Ansätze" gestützt werden kann. In der amerikanischen Geschichtswissenschaft scheint die Tatsache weitgehend unbekannt zu sein, daß die von Hayden White betonten metahistorischen Diskurse in der historischen Hermeneutik von Chladenius bis Dilthey ihre deutschen Vorläufer hatten, 20 wie ähnlich auch in der amerikanischen Literaturwissenschaft der Sinn für die mögliche Herleitung des New Historicism aus „New History" und den kulturanthropologischen Anregungen Lamprechts und Cassirers nicht entwickelt ist. Ohne wissenschaftsgeschichtliche Reflexion der eigenen theoretischen Voraussetzungen bleiben, trotz anderslautender Beteuerungen, die alten Grenzen zwischen den Disziplinen wie aber auch zwischen den Kulturen intakt. Eine Wissenschaftsgeschichte, die nicht nur interdisziplinär,

18 Fred Matthews: The Attack on „Historicism": Allan Bloom's Indictment of Contemporary American Historical Scholarship. In: The American Historical Review 95 (1990) 429-447, 432. Als Grundtext des „Straussianism", der zu den „originalist schools" der Geschichtswissenschaft gehört, weil er aus dem immanenten Studium der Dokumente „original meanings" zu erschließen trachtet, nennt Matthews Leo Strauss: Natural Right and History (Oxford 1953). 19 Vgl. David Simpson: Literary Criticism and the Return to History. In: Critical Inquiry 14, 4 (Summer 1988) 721-747. Simpson versteht die allgemeine Rückkehr zur Geschichte in den achtziger Jahren als akademische Antwort auf Reagans Konservativismus, als einen von Deconstruction klar zu trennenden, gleichwohl mit Foucault und Derrida, aber gegen Paul de Man zu begründenden „new enthusiasm for a rhetoric of referentiality and relevance" (721), als ein Plädoyer für „the readmission of objectivity as a decisive, basic, and initiatory part of the project of analytic history" (746) und als Zugeständnis eines, wie er im Schlußsatz meint, alarmierenden Versagens: . ¿ e t us above all refuse the consolation of a .return' to history, and ponder instead all the reasons why we have not yet been there." (747) 20 Vgl. dazu meine eigenen Arbeiten zur Ästhetizität des Geschichtsbildes u.a. bei Winckelmann (Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung. In: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Hans Erich Bödeker, Georg G. Iggers, Jonathan B. Knudsen und Peter H. Reill [Göttingen 1986] 299-323, Lessing (Lessings Geschichtsbild. Zur ästhetischen Evidenz historischer Wahrheit. In: Humanität und Dialog: Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht, hg. von Ehrhard Bahr, Edward P. Harris

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sondern auch interkulturell ausgerichtet ist, 21 fände hier im Rahmen kritischer Kulturstudien, die i m Sinne des in Berkeley lehrenden Anthropologen Paul Rabinows auch eine Anthropologie akademischer Systeme einschlösse, 2 2 ein vielversprechendes Aufgabengebiet. Nachdem für die inneramerikanische Tradition Brook Thomas bereits auf „similarities between James Harvey Robinson's N e w History and the project of the new historicism", vor allem auf den beiden Schulen gemeinsamen interdisziplinären Anspruch, aufmerksam gemacht hat, 23 kann ich mich im Interesse der interkulturellen Implikationen auf die Verbindung zwischen deutscher Kulturanthropologie und amerikanischem N e w Historicism beschränken. Es gehört zu den wissenschaftsgeschichtlichen Pointen, daß die vergleichende Kulturgeschichte, wie sie Karl Lamprecht im Gegensatz zur in Deutschland vorherrschenden nationalistischen Historiographie durchzusetzen versuchte, in Deutschland viel weniger Anklang fand als vor allem in Amerika, w o die Skepsis gegen die idealistische Überhöhung geschichtlicher Entwicklung im Pragmatismus einen willigen Bundesgenossen fand. 24 Als 1898 im American Historical Review die erste amerikanische Rezension (durch Earle D o w ) von Lamprechts Deutscher Geschichte unter dem Titel,.Features of the N e w History" erschien, war damit der Name einer neuen Schule geprägt. Zentrum dieser neuhistorischen Schule war

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und Laurence G. Lyon [Detroit, München: edition text + kritik 1982] 289-303, und: ,Der wahre Standort einer jeden Person': Lessings Beitrag zum historischen Perspektivismus. In: Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Sonderband zum Lessing Yearbook, hg. von Wilfried Bamer und Albert M. Reh (Detroit, München: edition text + kritik 1984] 193-214), Herder (Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung. In: Storia della Storiografia. Rivista Internazionale 8 [1985] 50-72), Schiller (Historiographischer Idealismus? Fragen zu Schillers Geschichtsbild. In: Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Ein Symposium, hg. von Wolfgang Wittkowski [Tübingen 1982] 229-251, Kleist (Overdragt der Nederlanden in't jaar 1555: Das historische Faktum und das Loch im Bild der Geschichte bei Kleist. In: Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. Festschrift für Blake Lee Spahr, hg. von Martin Bircher, Jörg-Ulrich Fechner, Gerd Hillen [Amsterdam 1984] 409-443 und Dilthey (Zum Geist- und Strukturbegriff in der Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre. Ein Beitrag zur Dilthey-Rezeption. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hg. von Christoph König und Eberhard Lämmert [Frankfurt/M. 1993] 240-254). Ein anregendes Beispiel der Ideologiekritik an der Politik des gegenseitigen „cultural transfer" von Theoriemodellen deutscher und amerikanischer Kulturtheoretiker stammt von Robert C. Holub: Crossing Borders: Reception Theory, Poststructuralism, Deconstruction (Madison 1992). Paul Rabinow: Representations Are Social Facts: Modernity and Post-Modernity in Anthropology. In: Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography. Edited by James Clifford and George E. Marcus (Berkeley 1986) 234-261. Da sich inzwischen auch die selbstreflexiv gewordene Anthropologie vorwiegend mit den „metatraditions of metarepresentations" (251) beschäftigt, sieht Rabinow eine ihrer Aufgaben auch darin, „the politics of interpretation in the academy today" (253), also die institutionellen Bedingungen von akademischer „Textualität" zu untersuchen. Rabinow hat seine Forderung kürzlich noch einmal wiederholt; vgl. Paul Rabinow: Resolutely Modern. In: Recapturing Anthropology. Working in the Present. Edited by Richard G. Fox (Santa Fe, N.M. 1991) 57-71, bes. 71. Brook Thomas, 152. Vgl. zu Lamprechts Wirkung in Amerika Luise Schorn-Schütte: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik (Göttingen 1984) 287-309 („Karl Lamprecht und ,New History'"), und Roger Chickering: Karl Lamprecht: A German Academic Life (1856-1915) (New Jersey 1993) bes. 344-350.

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die Columbia University, an der schon John William Burgess, der in Göttingen, Leipzig und Berlin ausgebildete Leiter der 1880 gegründeten Faculty of Political Science, dafür gesorgt hatte, daß seine Studenten ihren letzten Schliff im deutschen Historismus erhielten: „The students of Professor Burgess went to Berlin in shoals," so heißt es in einer zeitgenössischen Darstellung,25 „They went in such numbers that they began to be called the ,Burgess School.' They all went to hear Droysen lecture, and came home with trunks full of Droysen's Preussische Politik and of the writings of Leopold von Ranke." Auch die nächste Generation der an der Columbia University (und in Deutschland) ausgebildeten Historiker konnten sich dem deutschen Einfluß vor Ort, diesmal der sozialgeschichtlichen Kritik des Historismus, nicht entziehen. Die Schule der„New History" wurde von ihrem Hauptvertreter, dem von John Dewey beeinflußten Historiker James Harvey Robinson, der später der erste Direktor der 1919 an der Columbia University eingerichteten „New School of Social Research" wurde, im Anschluß an Lamprechts antiidealistische Konzeption der Kulturgeschichte ausgebaut. Robinson, der 1890 in Freiburg zum Dr.phil. promoviert wurde, hat mit Lamprecht ab 1900 korrespondiert, ihm im Herbst 1904 Einladungen zu Vorträgen anläßlich der 150-Jahrfeier der Columbia University (wo Lamprecht die Ehrendoktorwürde erhielt) und im Rahmen der Weltausstellung in St.Louis sowie die Veröffentlichung dieser Vorträge u.d.T. What is History? Five Lectures in the Modern Science of History (New York 1905) vermittelt.26 In einer berühmt gewordenen Vorlesung, die er am 15. Januar 1908 an der Columbia University über „Histoiy" hielt, ist Robinson ausführlich auf den Methodenstreit um Lamprecht eingegangen, bevor er in der „history of culture" die neue Aufgabe des Historikers bestimmte.27 In seiner programmatischen Aufsatzsammlung von 1912, The New History. Essays Illustrating the Modern Historical Outlook, wendet sich Robinson, unter wiederholter Berufung auf eine berühmt gewordene Formel Karl Lamprechts, gegen „the futile attempt to describe wie es eigentlich gewesen without knowing wie es eigentlich geworden ",28 um für die genetische Betrachtung vor allem die Anthropologie und die Sozialpsychologie zu Hilfe zu rufen.29 Ein anderer Parteigänger von „New History", der Historiker und spätere Botschafter der USA in Berlin (1933-1938) William E.Dodd, der mit einem 1903 erschienenen Aufsatz „Karl Lamprecht and Kulturgeschichte" die neue Schule

25 H. B. Adams: The Study of History in American Colleges and Universities (Richmond 1898), zit. Harry Elmer Barnes: A History of Historical Writing. Second Revised Edition (New York 1962) 260. 26 Zu dem im Rahmen der Weltausstellung von St.Louis veranstalteten und von dem deutschen Historiker Hugo Münsterberg mitorganisierten International Congress of Arts and Sciences, auf dem „New History" vorgestellt wurde, waren neben Lamprecht Adolf von Hamack, Ernst Troeltsch und Max Weber zu Vorträgen eingeladen. Vgl. Ernst Schulin: German and American Historiography in the Nineteenth and Twentieth Centuries. In: An Interrupted Past: German-Speaking Historians in the United States After 1933. Edited by Hartmut Lehmann and James J. Sheehan (Washington, D.C., Cambridge 1991) 8-31, bes. 17. 27 James H. Robinson: History. A lecture delivered at Columbia University (New York 1908) 50. 28 James Harvey Robinson: The New History. Essays Illustrating the Modern Historical Outlook (New York: The Macmillan Company 1922, '1912) 78. Der implizite Anschluß an Lamprechts entwicklungsgeschichtliches Prinzip, bei gleichzeitiger Abgrenzung gegen Ranke, zeigt sich darin, daß er die Hauptaufgabe der Geschichtsschreibung darin sieht „to show how things come about" (52), „to determine how things had come about - wie es eigentlich geworden" (62). 29 Vgl. Robinson: The New History, 89f und 92f.

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einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt hat,30 gehörte wie später eine ganze Reihe amerikanischer Studenten, die von Lamprechts (1909 gegründetem) Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte angezogen wurden, zu seinen unmittelbaren Schülern. Aber es war vor allem Robinson, der Lamprechts Prinzip der sozialpsychologischen Entwicklungsgeschichte aufgegriffen und in die Kulturanthropologie überführt hat. Lamprecht, der ab 1902 als Berater für das Department of Historical Research in der Carnegie Foundation herangezogen wurde, hat in dieser Funktion auch „die Förderung der Erforschung der Wirkung der unterschiedlichen Nationalkulturen auf die Bildung der amerikanischen Nation"31 und damit zumindest für die inneramerikanischen Belange jene interkulturelle Perspektive kollektiver Identitätsbildung angeregt, für die im nationalistischen Deutschland die Zeit noch nicht gekommen war: „Ich bin in manchen Dingen", so schrieb Lamprecht nach seiner Amerika-Reise an den Politologen Edwin R.A.Seligman in New York,32 „für die europäische Welt zu jung: und eben in ihnen passe ich nach America!" Der Beginn des Ersten Weltkrieges, an dem eine 1914 ausgehandelte Gastprofessur Lamprechts an der University of Wisconsin scheiterte,33 und sein Tod am 10. Mai 1915 setzten den vielen Kontakten und der Hoffnung auf den Ausbau einer interkulturellen Perspektive für die vergleichende Kulturkritik ein abruptes Ende. Diese wenig beachtete deutsch-amerikanische Verbindungslinie wird für gegenwärtige Fragestellungen aber erst dann relevant, wenn unter Nation wie von Benedict Anderson ein „cultural artefact" 34 und entsprechend unter Kultur ein System von Bedeutungszuweisungen verstanden wird, das auch der nationalen Identitätsbildung eine symbolische Grundlage gibt. In diesem anthropologischen Sinne kultureller Selbstbestimmung geht es im folgenden darum nachzuweisen, daß der 1914 abgebrochene deutsch-amerikanische Dialog gewissermaßen durch eine Hintertür, auch diesmal im entschiedenen Gegensatz zum vorherrschenden Nationalismus, wieder aufgenommen wurde; denn unter den ab 1933 nach England und Amerika emigrierten Historikern befanden sich auch einige bedeutende Vertreter der Kulturanthropologie, die der Lamprecht-Schule zugeschrieben werden können.

30 W. E. Dodd: Karl Lamprecht and Kulturgeschichte. In: Popular Science Monthly 63 (1903) 418-424. In Hinblick auf Lamprecht, „our new historian" (420), der gerade das amerikanische Bedürfnis nach „A new man and a new method" (424) erfüllt habe, meint Dodd „that the ideas advanced by the new school of German historians find a more general acceptance in our country than in any other" (418). Eine anekdotische Erinnerung an den Botschafter Dodd im Jahr 1935 hat Gordon A.Craig festgehalten (Über die Deutschen [München 1982] 292). 31 Schorn-Schütte, 308. 32 Karl Lamprecht, (ungedruckter) Brief an Edwin R. A. Seligman, 19. Dezember 1904. In: Seligman Collection der Columbia University Libraries; zit. Schorn-Schütte, 309. Durch Seligman haben übrigens Robinson und Beard die ökonomische Theorie von Karl Marx kennengelernt, was Allan Bloom dazu verführte, den historischen Relativismus auch ideologisch in Zweifel zu ziehen: „What began in Charles Beard's Marxism and Carl Becker's historicism became routine. We are used to hearing the Founders charged with being racists, murderers of Indians, representatives of class interests." (The Closing of the American Mind, 29) 33 Vgl. Bernhard vom Brocke: Der deutsch-amerikanische Professorenaustausch. Preußische Wissenschaftspolitik, internationale Wissenschaftsbeziehungen und die Anfänge einer deutschen auswärtigen Kulturpolitik vor dem Ersten Weltkrieg. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 31 (1981) 128-182, bes. 150-153. 34 Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism (London, New York 1983) 13.

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Hinrich C. Seeba D i e etwa 1950 einsetzende Anpassung der englischen „social anthropology", für die die

Kultur nur ein Faktor der sozialen Organisation war, an die amerikanische „cultural anthropology", die auch die sozialen Organisationsformen als Teil der Kultur und diese, mit Talcott Parsons, 3 5 als „shared symbolic system" betrachtet, bedeutet eine wissenschaftsgeschichtlich wichtige Verschiebung, weil damit der symbolische Kulturbegriff, w i e ihn in Deutschland vor d e m Hintergrund von Rickerts Verschiebung der Geisteswissenschaften zur Kulturwissenschaft 3 6 - vor allem der Kulturphilosoph Ernst Cassirer vertreten hat, zur Grundlage eines neuen Konstruktivismus werden konnte. Cassirer, der 1933 zunächst nach Oxford emigriert ist und ab 1941 erst an der Yale University und ab 1944 an der Columbia University gelehrt hat, war gewissermaßen der Drehpunkt für den Aufschwung der Kulturanthropologie i m Zeichen einer verschütteten deutschen Tradition. 1919 an die neugegründete Universität Hamburg berufen, w o er 1929 der erste jüdische Rektor einer deutschen Universität wurde, ist Cassirer schnell in den Bann der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg gezogen worden, in deren Vortragsreihe 1921/22 er auch zum erstenmal die „Philosophie der symbolischen Formen" vorgestellt und auf die Kultur als „Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder" bezogen hat. 37 A l s Schüler Karl Lamprechts hat der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866-1929), w i e Ernst Gombrich hervorgehoben hat, 38 die kultursoziologische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft gefördert und, nach der posthumen Verlegung seiner Bibliothek nach London i m

35 Vgl. Talcott Parsons: General Statement. In: Toward a General Theory of Action. Ed. by Talcott Parsons and Edward Shils (Cambridge, Mass. 1951) 3-29, 16: „A shared symbolic system is a system o f , ways of orienting', plus those .external symbols' which control these ways of orienting, the system being so geared into the action systems of both ego and alter that the external symbols bring forth the same or a complimentary pattern of orientation in both of them. Such a system, with its mutuality of normative orientation, is logically the most elementary form of culture. In this elementary social relationship, as well as in a largescale social system, culture provides the standards (value-orientation) which are applied in evaluative processes. Without culture neither human personalities nor human social systems would be possible." Parsons' Begriff des „shared symbolic system" wirkt nach bei Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie (Frankfurt/M. 4 1991) 174f. 36 Vgl. Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (Tübingen 5 1929) 281: „Die historischen Kulturwissenschaften sind es daher, die sowohl mit Rücksicht auf die Methode als auch mit Rücksicht auf ihren Inhalt den Naturwissenschaften gegenübergestellt werden müssen." 37 Vgl. Cassirer in dem genannten Vortrag: „Unter einer symbolischen Form' soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythischreligiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft." Zit. bei Ernst Wolfgang Orth: Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer. In: Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, hg. von Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Frankfurt/M. 1990) 156-191, 164. 38 Emst Gombrich: Die Krise der Kulturgeschichte. Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften (Stuttgart 1983) 28. Vgl. Emst Gombrich: Aby Warburg: An Intellectual Biography (London 1970) und Edgar Wind: Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik. In: Beiheft zur Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931) 163-179.

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Jahr 1933, über das Aby Warburg Institute auch die englische Soziologie beeinflußt. Deshalb ist die von Cassirer so entschieden vollzogene „anthropologische Wende", 39 wie sie am klarsten in seinen nachgelassenen (noch heute ungedruckt in der Beinecke Rare Book Library der Yale University aufgehobenen) Aufzeichnungen zu Vorlesungen in Davos 1929 formuliert ist,40 so wichtig für die Anthropologisierung der Geisteswissenschaften. Cassirer hatte erklärt, daß alle Krisen „zum Problem der philosophischen Anthropologie" führen, und deren Wesen darin gesehen, „daß sie nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie Besinnung über die Welt, über den Kosmos, sondern daß sie wesentlich Selbstbesinnung ist - und diese Se/farbesinnung findet als erstes, wesentliches Problem die Frage nach dem Wesen des Menschen." 41 In seinem 1944 erschienenen Essay on Man mit dem programmatischen Untertitel „An Introduction to the Philosophy of Human Culture" hat Cassirer, in Übereinstimmung mit Versuchen der philosophischen Anthropologie in Deutschland (Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner), das Wesen des Menschen durch seine Abgrenzung gegen das Tier zu bestimmen versucht und dafür den Begriff der „symbolischen Ideation" eingeführt. Der Mensch lebt - hier berührt sich Cassirer mit Talcott Parsons' Definition der Kultur als „shared symbolic system" - in einem selbstgeschaffenen „symbolischen Universum" von Sprache, Mythos, Kunst und Religion: „Statt mit den Dingen selbst umzugehen, unterhält sich der Mensch in gewissem Sinne dauernd mit sich selbst. Er lebt so sehr in sprachlichen Formen, in Kunstwerken, in mythischen Symbolen oder religiösen Riten, daß er nichts erfahren oder erblicken kann, außer durch Zwischenschaltung dieser künstlichen Medien." 42 Der von selbstgeschaffenen Symbolen umstellte Mensch ist, wenn er die Welt deuten will, um in ihr handeln zu können, auf sich selbst verwiesen, weil er der Welt die Bedeutungen, die er von ihr ablesen will, selber zugeschrieben hat. Die anthropologische Wende in der Kulturphilosophie ist also gebunden an die - erst in der gegenwärtigen Kulturtheorie

39 Emst Wolfgang Orth: Der Begriff der Kulturphilosophie bei Emst Cassirer. In: Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, hg. von Helmut Brackert und Fritz Wefelmeyer (Frankfurt/M. 1990) 156-191, 160. 40 Es gibt von dem Streitgespräch, das in Davos zwischen Cassirer und Heidegger geführt wurde, nur einen Zeitungsbericht (H[ermann] H[errigel]): Denken dieser Zeit. Fakultäten und Nationen treffen sich in Davos. In: Abendblatt der Frankfurter Zeitung Nr. 297 (22. April 1929) 6, und die englische Fassung der von Joachim Ritter und Otto Friedrich Bollnow verfaßten Mitschrift der Diskussion; vgl. Carl H. Hamburg: A Cassirer-Heidegger Seminar. In: Philosophy and Phenomenological Research 25 (1964) 208-222. Diese Angaben finden sich in Walter Eggers, Sigrid Mayer: Ernst Cassirer: An Annotated Bibliography (New York & London 1988). 41 zit. Orth, 161. 42 Cassirers anthropologisches Spätwerk An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture (New Häven/London 1944) wird im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe von 1960, die als ,,[e]inzige autorisierte deutsche Übersetzung durch Wilhelm Krampf, München" vorgestellt wurde: Ernst Cassirer: Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur (Stuttgart 1960) 39. Heinz Paetzold (Einführung in Cassirer [Hamburg 1993] 89) hat diesen für Cassirers Programm zentralen Satz in der Übersetzung einer neueren deutschen Ausgabe des Essay on Man zitiert: „Statt mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Symbolen oder religiösen Riten umgeben, daß er nichts sehen oder erkennen kann, ohne daß sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schöbe." (Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur [Frankfurt/M. 1990] 50).

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Mode gewordene - Annahme einer fiktionalen Symbolisierung von Wirklichkeit, der nicht mehr mit der traditionellen Erkenntnistheorie, sondern sprachphilosophisch und diskursanalytisch, jedenfalls mit einer „poetics of culture" beizukommen ist, wie sie gleichzeitig New Historicism und New Cultural History vertreten. In der Annahme einer universalen Textualität von Wirklichkeit berührt sich der New Historicism mit dem ausdrücklich an Herder orientierten und an Dilthey geschärften sprachphilosophischen Ansatz von Cassirers Kulturanthropologie, auch wenn Herder und Cassirer ungenannt bleiben und Diltheys Anregung zur modernen Texttheorie eingeklammert wird: „(Dilthey is among the first modern theorists," so zwingt sich der Anthropologe James Clifford zuzugeben,43 „to compare the understanding of cultural forms to the reading of „texts.")" Nun ist Diltheys Konzentration auf das „Verstehen schriftlich fixierter Lebensäußerungen" ein allgemeiner Grundsatz der Hermeneutik, den Dilthey selbst aus der Antike hergeleitet und, im Unterschied zu Schleiermacher, auf die Schriftlichkeit beschränkt hat. Dabei ist daran zu erinnern, daß Cassirers „anthropologische Wende", die er in seinem Essay on Man (1944) vollzogen hat, in Amerika früher rezipiert wurde als die Philosophie der symbolischen Formen, die erst von 1953 bis 1957 in englischer Übersetzung erschienen. Aber gewissermaßen war der amerikanische Boden für die Aufnahme der mit einem symbolischen Konstruktivismus verbundenen Anregungen bereits im Umfeld der „New History"-Schule gelockert. Zwar gehört Carl Becker (1873-1945), der von 1918 bis 1941 an der Cornell University Geschichte gelehrt hat, mit Robinson und Dodd zum engeren Kreis der am meisten von Karl Lamprecht beeinflußten Vertreter von „New History"; 44 aber als er 1926 in einem berühmt gewordenen Konferenzbeitrag „What Are Historical Facts?" den symbolischen Charakter sogenannter historischer Tatsachen hervorhob, schien eher Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als Lamprechts Programm der Kulturgeschichte Pate gestanden zu haben: „ [ . . . ] the historical fact is not the past event, but a symbol which enables us to recreate it imaginatively." 45 Becker nennt, was gemeinhin für historische Tatsachen ausgegeben wird, „symbol", „representation"46 und „construction",47 als teilte er mit Cassirer und, in unserer Zeit, mit Vertretern des New Historicism den Glauben an die symbolische Konstruktion der historischen Wirklichkeit in ihrer sprachlichen Darstellung. Wenn er an anderer Stelle, in einer „What Is Historiography?" betitelten Rezension (1938) die Aufgabe des Historiographen darin sieht „to reconstruct, and by imaginative insight and

43 James Clifford: The Predicament of Culture: Twentieth Century, Ethnography, Literature, and Art (Cambridge 1988) 36. Zur romantischen Tradition der symbolischen Strukturierung von Geschichte bei Dilthey vgl. Hinrich C. Seeba: Zum Geist- und Strukturbegriff in der Literaturwissenschaft der zwanziger Jahre. Ein Beitrag zur Dilthey-Rezeption. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925, hg. von Christoph König und Eberhard Lämmert (Frankfurt/M. 1993) 240-254. 44 So heißt es 1937 im amerikanischen Standardwerk der Geschichte der Historiographie: „[Lamprecht] had considerable influence on [ . . . ] W. E. Dodd and Carl Becker in the United States." Harry Elmer Barnes: A History of Historical Writing (New York 1962) 316. 45 Carl Becker: What Are Historical Facts? [1926], In: Detachment and the Writing of History: Essays and Letters of Carl L. Becker. Edited by Phil L. Snyder (Ithaca, N. Y. 1958) 41-64, 47. 46 Becker, 55. 47 Becker, 57.

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aesthetic understanding, make live again, that pattern of events occurring in distant places and times past which, in successive periods, men have been able to form a picture of when contemplating themselves and their activities in relation to the world in which they live", 48 dann hat Carl Becker - in impliziter Abgrenzung gegen Rankes Formel „what actually happened" - das im Geschichts&i'W symbolisierte Muster historischer Erfahrung, ja die Bildlichkeit der Geschichte selbst zum Gegenstand der Geschichtsschreibung bestimmt. War innerhalb von New History Carl Becker der Historiograph der „symbolic action", so ist Kenneth Burke ihr dezidierter Literaturtheoretiker innerhalb von New Criticism. Der Titel seines Hauptwerkes, Philosophy of Literary Form: Studies in Symbolic Action (1941), läßt sich mühelos als Variante zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen erkennen. Immerhin hat Burke, der selbst an der Columbia University studiert und als Literaturwissenschaftler an der New School of Social Research unterrichtet hat, in seinem Buch A Rhetoric of Motives (1950) wiederholt auf Cassirers Myth of the State (1946) Bezug genommen, auch wenn er ihm, vor allem in Hinblick auf Machiavellis Symbolisierung von Wirklichkeit, eine ungenügende Berücksichtigung der Rhetorik vorhält.49 Erwin Panofsky, der, wie sein Hamburger Kollege Cassirer aus dem Kreis der Aby Warburg-Bibliothek kommend, schon 1931 in die USA übergesiedelt ist, hat in seinem Hauptwerk Meaning in the Visual Arts (1955) das Projekt der Ikonologie, die nicht die ästhetische Komposition eines Kunstwerks, sondern seine kulturhistorische Bedeutung untersucht, im Anschluß an Cassirer als „discovery and interpretation of these .symbolical' values" definiert. 50 Panofsky fordert „an insight into the manner in which, under varying historical conditions, the general and essential tendencies of the human mind were expressed by specific themes and concepts. This means what may be called a history of cultural symptoms - or .symbols' in Ernst Cassirer's sense in general." 51 Der Kulturanthropologe Clifford Geertz, der mit seinem Konzept der „thick description" wie kaum ein anderer die neuere Literaturtheorie beeinflußt hat, ist mit Cassirer zwar ins Gericht gegangen, weil die ihm wie allen Neu-Kantianern unterschobene Annahme, Symbole seien konstitutiv für, wenn nicht gar identisch mit ihren Referenten, ein „pernicious mistake" sei. 52 Aber wenn Geertz Ideologie als „systems of interacting symbols" definiert und gleichzeitig bedauert, daß Philosophen symbolischer Systeme wie Wittgenstein und Cassirer und Kritiker wie Auerbach in der amerikanischen Soziologie

48 Carl Becker: What Is Historiography? [1938]. In: Detachment and the Writing of History, 65-78, 76. 49 Vgl. Kenneth Burke: A Rhetoric of Motives [1950] (Berkeley and Los Angeles 1969) 41, 162, 168. Burke hatte Cassirers The Myth of the State (New Haven, London 1946) in einer Rezension gewürdigt und darin vorgeschlagen, Cassirers Kategorien der magischen und der semantischen Funktion der Sprache durch ihren rhetorischen Charakter zu ergänzen (Homo Faber, Homo Magus. In: The Nation 163 [1946] 666-668), denn für ihn ist Rhetorik - „in its role of inducement to action" (A Rhetoric of Motives, 54) - konstitutiv für die symbolische Konstruktion der Welt. 50 Erwin Panofsky: Meaning in the Visual Arts (Garden City, N.Y. 1955) 31. 51 Panofsky, 39. Vgl. Silvia Ferretti: Cassirer, Panofsky and Warburg (New Haven 1989). 52 Clifford Geertz: Religion as a Cultural System. In: Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays (New York 1973) 87-125, 92 Anm. Der Aufsatz ist zuerst erschienen in: Anthropological Approaches to the State of Religion. Edited by Michael Banton (London 1968) 1—46.

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keine Spuren hinterlassen haben, 53 wird deutlich, daß Geertz für seine Konzeption symbolischer Handlung, durch die sich eine Gesellschaft strukturiert, nicht nur Burke, sondern unter anderem auch Cassirer und Panofsky verpflichtet ist, daß es zwischen der deutschen Kulturanthropologie und der amerikanischen Rückkehr zur Geschichte unter dem irreführenden Namen „New Historicism" durchaus Verbindungslinien gibt, die erst mit dem Abtritt der Emigrantengeneration zunehmend in Vergessenheit geraten. Der - eher bescheiden ausgefallene - Nachweis solcher Verbindungslinien kann aber nur dann mehr als der Triumph positivistischer Fixierung auf Einfluß- und Kausalitätsketten sein, wenn sich daraus Anweisungen für den methodologischen Scheideweg anbieten, an dem sich im Namen von New Historicism Literaturtheorie, Geschichtswissenschaft und Kulturanthropologie getroffen haben. Allen gemeinsam ist die Erweiterung ihrer Disziplin zu allgemeinen Kulturstudien, das Interesse an einer im weitesten Sinn als ,Text' verstandenen kulturellen Praxis und die rhetorische Analyse der Symbolisierung von Wirklichkeit. Allen gemeinsam ist also ein hermeneutisches Verständnis der Sprachlichkeit und der Geschichtlichkeit ihres Gegenstands, eines Gegenstandes freilich, den sie nicht gegenständlich als vorgegeben, sondern als Ergebnis einer Konstruktion verstehen. Die Gemeinsamkeit theoretischer Vorentscheidungen indiziert zugleich, in ihrer historischen Verlängerung, eine Vorgängigkeit von Lösungsmodellen, die den Anspruch auf das ganz Neue als eine wissenschaftspolitisch notwendige Verdrängung des Alten erscheinen läßt, weil nur diejenigen darum kämpfen, konkurrenzlos „on the cutting edge of the profession" zu sein, die aus der Not eine Tugend gemacht und sich für den Verlust des historischen Bewußtseins eine theoretische Legitimation gezimmert haben.54 Vielleicht müssen solche Neuerer Hinweise auf Ansätze eines deutsch-amerikanischen Dialogs, anstatt sie als Anregung zur notwendigen interkulturellen Wissenschaftsgeschichte aufzugreifen, als naiven Rückfall in historistisches Ursprungsdenken abtun. Beide Denkmodelle aber - der Drang zum Ursprung, zu den intellektuellen „fontes" wie zu den ethnischen „roots", und dessen gleichzeitige Unterdrückung und Verdrängung - sind gegensätzliche Formen der Identitätsbildung und insofern Gegenstand einer Kulturkritik, die vom Schulstreit in der akademischen Welt bis zu den „fault lines" der großen Weltkulturen reicht.

53 Clifford Geertz: Ideology As a Cultural System. In: Geertz: The Interpretation of Cultures: Selected Essays (New York 1973) 193-233, 207f. Der Aufsatz ist zuerst erschienen in: Ideology and Discontent. Edited by D. Apter (Glencoe 1964) 47-56. 54 So hat Brook Thomas mit unverkennbarer amerikanischer Ironie, wie sie in einem Vergleich der Wissenschaftsmodelle interkulturell zu bedenken wäre, nicht nur im Titel seines Buches The New Historicism: And Other Old-Fashioned Topics der Schule der Neuerer den Wind aus den Segeln genommen, sondern ihnen obendrein in einer einleitenden „Fair Warning" den karrierebewußten Anspruch streitig gemacht: .After all, it's always prudent to be on the cutting edge of the profession." (3)

FULVIO TESSITORE

Croce und der italienische „Neo-Historismus"

In den zwanziger Jahren, in die auch die späten Reflexionen von Max Weber und Troeltsch fallen, beherrscht das Thema der ethischen Verantwortung auch das Denken Croces, der nach Abschluß des Systems der Philosophie des Geistes sich zu einem neuen Beweis intensiver historiographischer Tätigkeit anschickt, die nicht ohne Rückwirkungen auf die Weiterentwicklung seines Systems bleiben sollte. Auch bei Croce ist angesichts der Folgen des zu Ende gegangenen Krieges und des Ausbrechens der furchtbaren Totalitarismen des 20. Jahrhunderts das ethische Anliegen - die Besinnung auf die ethische Bestimmung der Geschichte - so stark, daß er dazu gelangt, das Individuum als Analogon einer gesellschaftlichpolitischen Situation überhaupt zu bestimmen. Damit wird unterstrichen, daß der Charakter des Individuums nicht nur personenhaft ist, sondern sich erst in der gesellschaftlichen Objektivation des geschichtlichen Individuums vollendet. In dieser Richtung geht Croce so weit, für das Individuum „die Identität mit dem Ganzen" zu behaupten: Nur als „Närrisches und Pathologisches" hat es demnach ein „Für-sichbleiben", den „Rückzug in die Umzäunung seiner privaten Individualität". Nach dem Urteil Croces ist dieser Rückzug gleichbedeutend damit, die „Verantwortung" in Frage zu stellen, die Ethik. Aber aufgepaßt: die ontologische, totalistische Gesamtanlage der Philosophie Croces läßt ihn behaupten, daß „man nicht verantwortlich ist, sondern verantwortlich gemacht wird". „Das Individuum ist für seine Handlungen nicht verantwortlich", denn „sein Werk ist eines, mit dem er beauftragt wird", und zwar von dem Ganzen, dem es dient; „seine Kraft wird ihm geliehen". Dies deshalb, weil das Individuum - im Unterschied zu dem, was Max Weber behauptet hat, und mit dramatischer Kampfansage gegen den Polytheismus der Werte - nicht zwischen verschiedenen und miteinander unvereinbaren Werten wählen kann. Damit ist die Möglichkeit zusammengebrochen, an einen absoluten Wert zu glauben, der für alles und alle Maß und Norm ist. „Die wirkliche Wahl" - sagt Croce - „ist nicht unsere Sache, sondern Sache der Vorsehung, die uns gestattet, dies oder jenes zu tun, dies zu tun und jenes nicht". Dazu kommt es in der Konsequenz der monistischen Ausformung der Philosophie Croces, für die der Geist das absolute Subjekt der geschichtlichen Entwicklung und der menschlichen Tätigkeit ist, ein Subjekt, das im Ereignis (als Werk des Ganzen) aufgefunden werden kann und nicht in der Handlung (dem für Croce hinfälligen Werk des empirischen Subjekts). Dieses war (explizit in der Filosofia de IIa pratica von 1909) das grundlegende Prinzip der Philosophie Croces, die nicht zufällig von Anfang an sich Hegel und nicht Kant als

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Gesprächspartner gewählt hatte, im Unterschied zu den Theoretikern des Historismus. Der kantianische Ansatz des Historismus war an der kritischen Analyse der Strukturen der menschlichen Welt einerseits und der physikalischen Welt andererseits interessiert, und das heißt an der Entstehung von Einzelwissenschaften, entgegen einer wie auch immer gearteten allgemeinen und absoluten Wissenschaft - sei es nun die Geschichtsphilosophie oder die Soziologie. Dem hatte Croce das Prinzip des Geistes entgegengesetzt, als konstitutives Kriterium aller Wirklichkeit, die nichts anderes sein kann als Entwicklung des Geistes. Indem Croce auf diese Weise den absoluten Geist immanentisierte, war er der Ansicht, sich gegenüber jedem Dualismus abgesichert zu haben, da „der Geist nie an und für sich ist, sondern immer geschichtlich", insofern er der in die Welt getretene, „endgültig vom Himmel auf die Erde herabgestiegene" Gott ist, der dabei jedoch nicht die Absolutheit verliert: Im Gegenteil verleiht er seine geistige Substanz nunmehr der geschichtlichen Welt, die so ihre Gewißheit für das Denken erhält. Die Geschichte ist nichts anderes als der Geist, entsprechend der großen Entdeckung Hegels, „mit der das Bewußtsein davon gewonnen worden war, daß der Mensch seine Geschichte ist und die Geschichte die einzige Wirklichkeit - eine Geschichte, die als Freiheit gemacht und als Notwendigkeit gedacht wird, die nicht mehr jene launische Abfolge der Ereignisse entgegen der Kohärenz der Vernunft, sondern die Verwirklichung der Vernunft" ist. Es handelt sich um das grundlegende Prinzip Croces, das er nicht ohne Grund schon etwa vierzig Jahre früher in seiner 1904 vorgelegten Hegel-Interpretation wiederentdeckt hatte. Bereits damals (und die zitierten endgültigen Formulierungen der vierziger Jahre und der späteren Zeit stimmen damit völlig überein) bedeutete die Entdeckung der Hegeischen Dialektik die Bestätigung eines methodologischen Kriteriums, dank dem die Einheit des Prozesses (der alte Fortschritt im neuen Gewand) nicht durch die Gegensätze des Mannigfaltigen verhindert wird, da diese nichts weiter sind als die Verwirklichung, welche die rationalistische Abstraktion konkretisiert. Die Dialektik ist die Bestätigung des Zusammenfallens des Geistes mit der Wirklichkeit der Geschichte, „wo das Unendliche und das Endliche zu einem verschmolzen sind und das Gute und das Böse einen einzigen Prozeß bilden". Daher gilt: „Die Geschichte ist die Realität der Idee als solcher: Der Geist ist nichts außer seiner geschichtlichen Entwicklung. Somit ist in ihm jede Tatsache, eben weil sie Tatsache ist, eine Tatsache des Individuums, das zum konkreten Organismus der Idee gehört: Bei Hegel wird alle Geschichte Heilsgeschichte". Wenige Jahre später tritt in Croces Philosophie an die Seite Hegels Giovanni Battista Vico, der Philosoph der Konversion zwischen Wahrem und Gewissem, um die theoretische Grundlage des absoluten Historismus zu festigen. Im Jahr 1911 kehrte Croce allerdings zu einer Überzeugung zurück, die auf seine Schriften zu Marx von der Jahrhundertwende zurückging (in denen er gegen die Philosophie der Geschichte, auch Hegelscher Prägung, stark und entschieden polemisiert hatte), indem er erneut hervorhob, daß „die Geschichte von Individuen gemacht wird". Jedoch blieb er hierbei nicht stehen, denn er fügte erläuternd hinzu: „Die Individualität ist die Konkretheit des Allgemeinen als solche, und jede individuelle Handlung ist, gerade weil sie individuell ist, überindividuell". Diese Aussage diente zur Dynamisierung des absoluten Subjekts in der Geschichte, indem sie seine Transzendenz beseitigte, ohne seine Einheit anzutasten. „Die Realität, die einzige Realität", wird in Teoria e storia della storiografia behauptet, „ist gänzlich Entwicklung und Leben". „Die Entwicklung ist das beständige Überschreiten, das zugleich ein ständiges Bewahren ist", dessen

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Subjekt der „sich ewig individuierende Geist" ist, der sich nun allerdings nicht in den Handlungen der individuellen geschichtlichen Subjekte individuiert, sondern im Werk, in dem das Allgemeine sich konkretisiert. Hierbei ist zu beachten, daß die Gefährdung der geschichtlichen Subjekte von Fleisch und Blut erneut deutlich wird: Sie werden nicht einmal als notwendig für die Verkörperung der Momente des emanatistischen Prozesses des Geistes anerkannt, da dieser nicht ihrer vorläufigen Subjektivitäten bedarf, sondern nur der Objektivität ihrer Werke, so mangelhaft diese auch im Verhältnis zu der des Ganzen ist. Daraus ergibt sich auf rein logischem Wege, daß die historische Erkenntnis, als Erkennen des Geistes, „in sich die gesamte Geschichte trägt", die dann mit dem „Selbst" des Geistes „zusammenfällt", der ist, insofern er sich entwickelt, und sich also in seiner Geschichtlichkeit selbst erkennt. Croces Position hierzu ändert sich nie, noch hätte sie es können. Im Gegenteil: Dreißig Jahre später erklärt er sich in La storia come pensiero e come azione noch entschiedener, wobei Croce im übrigen einem expliziten Eingeständnis des absoluten Charakters seines Historismus nahekommt: „Die historische Erkenntnis" muß „als alle Erkenntnis insgesamt" anerkannt werden. „Das historische Urteil ist keine Art von Kenntnis, sondern es ist die Erkenntnis schlechthin, die Form, die alles erfüllt und den Bereich der Erkenntnis ausschöpft". Die Geschichte ist die Anamnese des Geistes, der alles in sich trägt in einem gigantischen Prozeß der Selbsterinnerung, der seine ewige Gegenwärtigkeit sicherstellt. Die Theorie der Gleichzeitigkeit der Geschichte überträgt all dies in das historiographische Urteil, welches das Vergangene aktualisiert und doch nicht in die Ewigkeit der Gegenwart auflöst, da sich zwischen das eine und das andere notwendig „ein Interesse des gegenwärtigen Lebens" schiebt. Jedoch muß dieser praktische Anreiz, um Erkenntnis und damit Urteil zu sein, in einen Denkakt übergehen und sich darin aufheben, einen Denkakt, der die Gespenster vertreibt, die Zweifel und die Dunkelheiten des Lebens, dank der „Erkenntnis, wie sie genannt wird, der,realen Situation'". Zu dieser gelangt man unter Bezugnahme „auf den Prozeß der Wirklichkeit, wie sie sich bisher entwickelt hat und daher geschichtlich ist". Das Individuum ist der Mikrokosmos der Universalgeschichte, eine Kurzfassung des Makrokosmos. Mit dieser Wiederaufnahme alter Thesen aus Teoria e storia della storiografia wird die Position Croces komplex, da ja die ontologische Gesamtverfassung der Geschichtlichkeit und insofern die Einheit des Geistes als absolutes Subjekt der Realität, das sich in der fortschreitenden Erkenntnis seiner selbst realisiert, erhalten bleibt. Und dennoch wird dieser Geist der Geschichtsschreibung anvertraut, der völlige Autonomie zuerkannt wird, die eben darin besteht, daß sie bei der Realisierung des Begriffs des Lebens oder der Geschichte - im immerwährenden Kampf zwischen Wert und Unwert - Erfolg haben oder scheitern kann. Die Geschichtsschreibung als Denken der Geschichte ist „ebenso aktiv wie das Handeln", und ebenso wie dieses ist sie „an das Leben gebunden", das somit die wesentliche (vorbereitende, wo nicht entscheidende) Funktion erhält, neue Geschichte aus neugewonnenem Erkennen zu schaffen. Und dies tut die Geschichtsschreibung, ohne Gefahr zu laufen, zum absoluten Aktivismus zu werden, denn wenn, kraft der geistigen Zirkularität, das Denken des Handelns bedarf, dann bedarf das Handeln des Denkens, das eben Geschichtsschreibung ist, da es keine andere Erkenntnis als historische Erkenntnis gibt. Croce kann mit der äußerst wichtigen Aussage schließen, daß die Geschichtsschreibung „Befreiung von der Geschichte" ist; Befreiung von der gemachten Geschichte (die, insofern

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tote Geschichte, Chronik ist) zugunsten der zu machenden Geschichte. Damit erreicht Croce zwar die Dynamisierung der totalistischen Wirklichkeit des Geistes, insofern dieser mit der Geschichte völlig eins, also Entwicklung ist. Jedoch zerbricht er damit nicht die strukturelle Ontologisierung der Geschichte, im Gegenteil, er verstärkt sie noch. Bei aufmerksamer Betrachtung ist seine Aussage das genaue Gegenteil derjenigen, in der sich Max Webers Position zusammenfassen läßt (und in vieler Hinsicht auch die Meineckes): die Geschichte als Resultat der Geschichtsschreibung. Das Subjekt ist für Croce nicht das Individuum, das handelt und, insofern es handelt oder entscheidet, neue Realitäten schafft. Das Subjekt ist der absolute Geist, der aus seiner ewigen Wirklichkeit das Denken derselben zieht. Dieses Denken „unterbricht nicht den Bezug zum Vergangenen, sondern erhebt sich ideal darüber und wandelt ihn in Erkenntnis um". Mit anderen Worten: Die Geschichte ist nicht die Selbstgrundlegung des Lebens, sondern das Denken des Lebens, das auf die ewig gegebene Wirklichkeit des Geistes gegründet ist, wobei der Geist unaufhörlich sich selbst erkennendes Leben ist. Bestehen bleibt im Historismus Croces (der eben darin sehr wenig historistisch ist, daß er absolut und daher eine Immanentisierung der Vorsehung ist) die naturrechtliche Hypothese. Aber dann ist der hellsichtigste und treueste Interpret Croces - wie er behauptete, ohne Gehör zu finden - der Carlo Antoni der Restaurazione del diritto di natura (1959). Antoni hatte guten Grund zu der Annahme, daß in Croce das Bewußtsein von der Konstanz der geistigen Natur der Menschheit erhalten blieb. „Die Identität der menschlichen Natur, die offenbart zu haben den Ruhm der großen philosophischen Schulen und der großen Religionen ausmacht, steht durchaus nicht im Gegensatz zu dem Begriff der Individualität, sondern sie fordert ihn als ihren Inhalt. Die Identität des Geistes ist Universalität in der unerschöpflichen individuellen Verschiedenheit und Individualität". „Nicht die Natur des menschlichen Geistes wandelt sich mit der Geschichte, sondern was weiterschreitet und was die Geschichte selbst ist, ist das Bewußtsein, das der Mensch von seiner eigenen Universalität und damit von der Freiheit gewinnt". Antoni hatte recht, als er Croce und Meinecke in Gegensatz zueinander stellte. „Meinecke hat den Historismus als eine große Eroberung des menschlichen Denkens gefeiert, aber er hat sich nicht gefragt, ob die Zerstörung des beseelenden Prinzips der abendländischen Kultur, der abrupte Untergang des zweitausendjährigen Polarsterns, nicht etwas für diese Kultur Vitales und Wesentliches berührt hat." Antoni hatte recht, wenn er der Ansicht war, daß „das Anliegen des Naturrechts und das Anliegen des Historismus sich treffen, insofern das ideale Prinzip, das die moralische Handlung beseelt, die Gültigkeit und Gewißheit einer universalen Norm gewinnt; aber gleichzeitig wird dieses Prinzip als ein historisches Produkt empfunden, als eine Eroberung und Entdeckung. Das moralische Bewußtsein hat angesichts der Vergangenheit und dessen, was aus der Vergangenheit in der Gegenwart noch fortbesteht, den Eindruck, daß es selbst demgegenüber einen Fortschritt darstellt, daß es eine tiefere Wahrheit in sich trägt." Antoni hatte recht damit, all dies zu vertreten, jedoch, wohlgemerkt, im Licht einer tiefgründigen Interpretation des - wenig historistischen - absoluten Historismus Croces, gewiß nicht im Licht des problematischen und kritischen Historismus Meineckes, den er nicht zufällig und von seinem Standpunkt aus völlig klarsichtig für unvereinbar mit dem ersten hält, gerade insofern er eine radikale Infragestellung des naturrechtlichen Prinzips ist, des zweitausendjährigen Polarsterns, des universalen Rechts, des ontologischen Prinzips der Geschichtlichkeit.

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Was Antoni gegen Ende der fünfziger Jahre beleuchtete, war im übrigen bereits in Croces Polemik gegen Friedrich Meinecke evident, einer konstanten Polemik aufgrund der konstanten Aufmerksamkeit Croces für die historiographische und theoretische Arbeit Meineckes; mit aller Deutlichkeit kam sie jedoch erst zwischen 1937 und 1940 zum Ausbruch, und bedeutsamerweise anläßlich des großen abschließenden Bandes der Trilogie, die Meinecke über Die Entstehung des Historismus verfaßt hatte, sowie anläßlich der nachfolgenden Sammlung mit dem Titel Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte. Wenn ich hier noch einmal auf diese Polemik zurückkomme, scheint es mir nicht notwendig, daran zu erinnern, wie in Croces Schriften die Definition des Historismus - als konkreter Rationalismus, der antiaufklärerisch, da tiefer rationalistisch als die Aufklärung ist, sowie als Prinzip der Wissenschaft und insofern geradezu als Kategorie der Logizität, wobei Logik in angemessener Weise zu verstehen ist - sich dem Historismus als Heraufkunft oder Aufstieg der Individualität der Substanz-Seelen und als Lebensprinzip entgegenstellt, einem Historismus, der nicht in den konkreten Rationalismus der hegelianischen Identifikation von Vernunft und Wirklichkeit heimgeholt werden kann. Aus dieser Disjunktion ergeben sich zwei verschiedene Geschichten des Historismus: die eine, diejenige Croces, ist nach den vier Epochen: Kant, Idealismus, Hegel und Croce gegliedert; diejenige Meineckes führt von Vorwegnahmen bei Leibniz und Vico zur Eroberung der geschichtlichen Welt im 18. Jahrhundert, zur Goetheschen Klassik und zu Herder, weiter zur Romantik und zu Schleiermacher und von dort zu Niebuhr und zu Ranke - um nur einige der wichtigsten Etappen beider Entwicklungsgänge zu nennen. In unserem Zusammenhang ist nur hervorzuheben, daß in den angedeuteten Differenzen ein unterschiedlicher Prozeß der Herausbildung und Entwicklung der beiden Theorien zum Tragen kommt. Also darf nicht vergessen werden, daß Croces Weg 1893 mit dem berühmten Memorial begann, einer Polemik gegen den Positivismus der Geschichte als Wissenschaft, aber auch gegen Hegel, um 1909 mit der Logica zum Abschluß eines komplexen Prozesses zu gelangen, der durch mühevolle Versuche gekennzeichnet war, den Hiatus zwischen dem als reinem Begriff verstandenen Absoluten der Vernunft und dem als Welt der Existenz verstandenen Absoluten der Geschichte zu überbrücken. Die Lösung glaubte Croce in der Logica von 1909 gefunden zu haben, wo die Identifizierung von Geschichte und Philosophie es möglich machte, das individuelle Urteil im definitorischen Urteil zu zerbrechen und aufzulösen, verbunden mit der daraus folgenden Einsicht, daß die Tatsache der Begriff ist, die Existenz das Wesen und die reale Geschichte, wie sie sich in der Zeit entwickelt, die ideale Geschichte, die sich zum Ewigen kontrahiert. Meinecke dagegen ging nicht so sehr von der Polemik gegen die Positivisten aus, als vielmehr von der Polemik gegen die Kulturgeschichte Lamprechts und somit von der Ablehnung der Vorzugsstellung, die darin dem Kollektiv gegenüber dem Individuellen eingeräumt wurde. Folglich bestand für Meinecke - dem Erben Rankes, welcher der Lehren Diltheys nicht völlig uneingedenk war - das Problem in der logischen Analyse der inneren Struktur der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften auf der Grundlage der Überzeugung, daß die Geschichtlichkeit des Menschen der Verstehenshorizont der menschlichen Welt ist. Denn Geschichtlichkeit eignet nicht der bloßen Realität, sondern nur der Realität der Existenz der Menschen. Daher ist die Geschichte nicht die Entwicklung eines absoluten Prinzips, sondern das sich weiterentwickelnde Verstehen der Beziehungen, die von den Menschen untereinander auf der Basis ihrer grundlegenden und

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konstitutiven Geschichtlichkeit hergestellt worden sind. Es ist evident, daß bei Croce der zunächst zurückgewiesene Hegel - dem er sich jedoch bereits am Ursprung durch Droysen und De Sanctis genähert hatte - sehr früh in diesen Entwicklungsgang eingriff (nicht zuletzt auch durch Gentile), und zwar zur Auflösung der Zweideutigkeit, die der Auffassung von der Geschichte als Bestimmung des Begriffs der Entwicklung innewohnt: Zum einen ist sie der reine Begriff oder das metaphysische Problem des Seins, zum anderen die konkrete Realität der sich entwickelnden Dinge. Das heißt, bald ist sie die als Logik im Sinne der Wissenschaft vom Sein verstandene Geschichtlichkeit, bald ist sie die Geschichtsschreibung, die ein Teil des Ganzen ist, analog zum Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen. Bei Meinecke dagegen standen von Anfang an, durch Dilthey und Droysen vermittelt, Kant und der Kantianismus im Mittelpunkt, denen er sich sowohl direkt näherte als auch indirekt, wenn er nämlich Humboldt las und die Welt des Kantianers von Boyen in der großen Biographie von 1895-99 studierte. So kam er in intensiven und frühen Kontakt mit der Wirklichkeit der sich entwickelnden Individualitäten, die sich nicht in logische Definitionen umwandeln lassen, ohne daß jedoch deshalb das geschichtliche Leben eine gestaltlose Flut ohne jeden Sinn wäre. Wenn wir nun, nach der Erinnerung an die neuralgischen Punkte der Polemik Croces gegen Meinecke, für einen Augenblick zu Antoni zurückkehren, so ist verständlich, warum er damit, daß er richtig den absoluten Charakter des „Historismus" Croces und die sich daraus ergebende Treue zur naturalistischen und kosmologischen Hypothese hervorhob, von der auch und vor allem das Naturrecht (der „tausendjährige Polarstern des Abendlandes") ein Ausdruck ist, die Zweideutigkeit des auf der Scheidelinie zum Idealismus angesiedelten „Historismus" Croces zur Explosion brachte. In Wahrheit war sich Croce nie der Alternative zwischen Historismus und Idealismus bewußt geworden, vielmehr hatte er versucht, von dem letzteren - ohne ihn je zurückzunehmen, sondern ganz im Gegenteil überzeugt, ihn zu stärken - eine historistische Interpretation auf der Linie Hegels zu geben. Daher war sein Kant eine Ouvertüre zur Trias Fichte - Schelling - Hegel und nicht derjenige Kant, der die Philosophie kritisierte, insofern sie eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Existierens war, gemäß der antiidealistischen Interpretation der Hermeneutik Wilhelm von Humboldts. Damit war es das Problem Croces, die Relativität (und den Relativismus) der Werte gegenüber der Absolutheit der Werte der Geschichte zu verwerfen. So ist die Geschichte für Croce ein unaufhaltsamer Fortschritt der Freiheit, sei es auch mit Unterbrechungen und Stagnationen, die jedoch die Funktion des Negativen im Hinblick auf das Positive haben, indem sie es kräftigen und die Freiheit nur umso bewußter und glänzender hervortreten lassen. Daher ging die realistische Ablehnung der empirischen Menschlichkeit der einzelnen Individuen - insofern sie empirisch hinfällig, da vorläufige Verkörperungen des Absoluten sind - so weit, daß er die realistische Zurückweisung der humanitaristischen Verführungen der Göttin Justitia und der Göttin Humanitas rechtfertigte, und dies nicht, weil es sich um absolute und unbestreitbare Werte handelte, sondern insofern sie durch den positivistischen und antihistorischen Demokratismus ideologisch instrumentalisiert wurden. All dies sind Positionen, die dem Anschein nach mit den Forderungen nach Individualisierung des nicht absoluten, sondern kritischen Historismus vereinbar sind, jedoch nur unter der Bedingung, daß von dem dialektischen Kunstgriff des Universal-Konkreten Gebrauch gemacht wird, nach dem das Individuelle universell ist, gerade

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insofern es individuell ist, womit das eine wie das andere gerettet schienen. In Wahrheit konnte dies jedoch nicht geschehen, und insbesondere nicht nach den Wunden des Zweiten Weltkrieges, so daß damit ein Bindemittel wegfiel, das die Seiten des Crocianischen Prismas zusammenhielt. Croce erlebte damals eine Periode der Krise. Auf der einen Seite rief Guido De Ruggiero zur Rückkehr zur Vernunft auf, im Namen der Universalität der Werte, die der Relativität der handelnden Individuen entgegenstünden, wobei er sich im wesentlichen mit Carlo Antonis späterer Option in Übereinstimmung befand. Von anderer Seite her erkannte Federico Chabod bei Croce die diffizile Koexistenz des Providenzialismus und des theologisierenden und naturrechtlichen Progressismus mit dem moralisch-liberalen Anliegen, das die Rechtfertigungen durch die Vorsehung und die Appelle an den Weltgeist fallen läßt, um die Dinge begreiflich zu machen, wie sie wirklich an und für sich sind. Jedoch konnte die italienische Kultur, die sich - crocianisch oder anti-crocianisch in jedem Fall in seinem Umfeld bewegte, keinerlei Konzessionen gegenüber dem Meineckeschen und allgemein dem deutschen Historismus machen, indem sie an dem Interpretationsschema festhielt, das Croce von diesem gegeben hatte. Als Croce sich in seinen letzten Jahren der Monographie von Walter Hofer gegenübersah, dekretierte er definitiv die Ferne seines Historismus von dem Meineckes. In der Tat konnte keine Konzession vom historistischen Idealismus der „orthodoxen" Leser Croces ausgehen, von Antoni bis Franchini, die von der Notwendigkeit, die hegelianische Absolutheit des Historismus verteidigen zu müssen, überzeugt waren. Auch von den zum Marxismus übergegangenen Alt-Idealisten (aus der Schule Gentiles) konnte sie nicht kommen (von Galvano Deila Colpe bis zu Delio Cantimori), die entweder bei einem entschiedenen und kohärenten Anti-Historismus anlangten (dies ist der Fall bei Cesare Luporini) oder - auch aus ideologischen Gründen - den Historismus von Meinecke oder Troeltsch als intuitionistisch, ja beinahe irrationalistisch bekämpften, gemäß der Lesart Delio Cantimoris, der, über die polemische Frontstellung des Marxismus gegen den Idealismus hinaus, mit Antoni darin übereinstimmte, daß er die irrationalistischen Endergebnisse der deutschen Schule hervorhob. Um den Diskurs in einem theoretisch erneuerten und erneuernden Sinne wieder aufleben zu lassen und um zu einer alternativen Lesart der Kantischen und nachkantischen Philosophie zu gelangen, reichten die - wenngleich verdienstvollen - Bemühungen Pietro Rossis um eine Rekonstruktion des gegenwärtigen deutschen Historismus sowie um neue Editionen nicht aus und ebensowenig die sympathetischen Interpretationen durch Furio Diaz, da beide ihren Voraussetzungen verhaftet blieben, der erste der anticrocianischen und antihistoristischen Polemik von N. Abbagnano, der zweite der marxistischen Ideologie. Damit der Diskurs wieder aufgenommen werden konnte, bedurfte es der reifen Phase der komplexen Reflexion Pietro Piovanis. Entstanden in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in den sog. Jahren der Krise der Werte, verstand die Philosophie Piovanis, daß man aus dieser Krise nicht einfach dadurch hinausgelangte, daß man das Objekt und das Subjekt der Krise einfach preisgab, entweder mittels einer Restauration von Rationalismen neo-naturrechtlicher Prägung gegen die Zügellosigkeiten der historischen Relativitäten oder mittels eines gleichermaßen absoluten Voluntarismus, der die Rationalität der Bewertungskriterien in den Schatten stellen und diskreditieren sollte, die dadurch, daß sie allgemein und abstrakt sind, auf jede Art der Wirklichkeit anwendbar erscheinen. - Dagegen war es nötig, sich in die Krise zu vertiefen, in die Zweideutigkeit des

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zeitgenössischen Individuums (ein Thema von Capograssi, dem Lehrer Piovanis), insofern dieses in der falschen Alternative von Aktivismus und Intellektualismus befangen war. Nach Piovani galt es im Gegenteil - ohne das Anliegen aus den Augen zu verlieren, das gerade der Erneuerung von Verabsolutierungen zugrundelag - eine „Phänomenologie der Singularität" zu begründen, im Bewußtsein der Ganzheitlichkeit des Lebens und in der Überzeugung der Untrennbarkeit von Theorie und Praxis, von Erkenntnis und gemeinschaftlicher Lebensführung. Damit dies geschehen konnte, bedurfte es einer Rückbesinnung auf die authentische und rigorose Bedeutung der Norm, die Ratio ist und insofern Kriterium der vollzogenen und der zu vollziehenden Handlungen - und das heißt: ethisch-rationale Einheit. Denn die Norm ist der Bezug der Handlung des Subjekts auf das, was im Verhältnis zu dieser Handlung anderes ist und das vermittels des Gedankens der vollzogenen Handlung und des handelnden Subjekts wahrgenommen wird. In dieser Weise entdeckt das Subjekt seine Endlichkeit (die es den diabolischen Aktivismus zurückweisen läßt, nach dem es der unstrittige Herr der von ihm und für es gemachten Realität ist), und zugleich wird das Subjekt seiner Tendenz zur Überwindung seiner Endlichkeit in einer Vollendung gewahr, die jedoch keine totalistischen Restaurationen mit sich führt, da diese das Gegenteil, die Negation der Tendenz sind. Mit anderen Worten: Die Norm gestattet dem Subjekt, sein Nie-mit-sich-alleinSein zu erfassen, da es sich zumindest von dem nicht entfernen kann, was seiner Handlung Wahrheit verleiht: von der Norm selbst, die also notwendig vergesellschaftet und vergesellschaftend ist. Die Reflexion auf die Norm machte es Piovani möglich, sofort den grundlegenden Wert des Subjekts zu erkennen, insofern es nicht solipsistisch in seinem Ich verabsolutiert ist, sondern konstitutiv auf den Andern bezogen und wesentlich koexistierend, ein différentes Ich und nicht ein kommunes Ich sein will, Subjekt der „gesellschaftlichen Kommunikation" und nicht Teil einer kollektivistischen Realität der Zeichen, die alle und alles gleichsetzen, bis zu dem Punkt, an dem die Kommunikation fast überflüssig wird, die Kommunikation, die nicht nur in mente existiert, sondern auch inter homines existieren muß. Das bedeutet, daß das Denken Piovanis von Anfang an (als er noch weit entfernt von einer Neubesinnung auf den Historismus war) sich als eine Philosophie der Individualität darstellte (wie es auch der Historismus ist), eine Philosophie, in der die Antithese zwischen Subjekt und Objekt in einem zweifachen, radikalen Sinn verschwindet, insofern das Subjekt immer mit anderen Subjekten ist, die bezüglich seiner gegeben sind, und insofern das Subjekt selbst eine Gegebenheit ist (wie Troeltsch gesagt hatte), die gegeben sein muß, um sich in der Objektivierung zu verwirklichen und zu entfalten. All dies entstammt der zentralen Reflexion auf die Norm als Kriterium und damit als Maßstab einer Rationalität, die nicht allgemein und abstrakt ist, sondern relativ auf die messenden und meßbaren Realitäten; damit ist auch bereits die Idee des grundlegenden Individuums eingeführt - grundlegend, insofern Subjekt der Expansion, welche das Gegebene im bewußten (oder rational erkennbaren und bewertbaren) Handeln einholt. Dies ist dann die Geschichte des Individuums und die vom Individuum produzierte Geschichte. Jedoch impliziert die zentrale Rolle der Norm auch ein weiteres Problem (auch dieses ist im Historismus ebenso zentral wie in der Reflexion Piovanis). Dieses Problem ist die Frage nach der Definition der Norm. Am Beginn seiner Reflexion antwortet Piovani - und diese Antwort wird immer im Mittelpunkt seines Denkens bleiben, bald explizit, bald implizit - , daß die Norm „die der menschlichen Existenz immanente metaphysische Präsenz" ist, das, was „allem und

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allen gemeinsam ist und niemandem fehlen kann". Sie ist also die Idee des Seins, das ontologische Prinzip einer zwar subjektiven Restauration, aber doch einer Restauration der Einheit, „die fähig ist, alle Beziehungen des menschlichen Lebens zu messen". Es stellt sich, anders gesagt, das Problem der Ontologie. Piovani weicht ihm nicht aus, sagt jedoch, die restaurierte Ontologie sei in jedem Falle nicht die alte. Es handelt sich um einen negativen Ontologismus, da er mit der phänomenologischen Besorgnis in Beziehung steht, die auf die Handlung setzt, insofern sie vom dynamischen Charakter des menschlichen Existierens überzeugt ist. Ohne diese Dynamik würden die Endlichkeit des Subjekts und sein Streben nach Vollendung sich annullieren. Wenn die Norm eine Projektion über die bestehende Tatsache (das gegebene Subjekt) hinaus ist, zur Schaffung einer neuen Tatsache, die bestehen soll (die bewußte Subjektivität), haben wir am Grunde der Norm (und man ist versucht zu sagen: des Existierens) die Abwesenheit: das was nicht ist und sein soll. Hieraus entstand das Bedürfnis nach einem komplexen theoretischen Weg, der Piovani die Auseinandersetzung mit seinen „Autoren" (vor allem Vico und Kant) nahelegte, der ihn mit dem Existenzialismus in Berührung brachte und der ihn gewissermaßen dazu zwang, den italienischen NeoHistorismus zu begründen. An diesem Punkt hatte Piovani alle Ingredienzien vor sich, um zu begreifen, was der Historismus ist, derjenige, den er den kritischen und problematischen Historismus nennt, um ihn von dem wenig historistischen absoluten Historismus zu unterscheiden. Letzterer geht darauf aus, eine absolute und universalistische Philosophie zu restaurieren; der andere ist wesentlich darauf gerichtet, aus der Geschichtsforschung die Lehre zu ziehen, die historische Erkenntnis in den Dienst der Bewegung der Philosophie zu stellen, einer Bewegung auf Erkenntnisse hin, die das Allgemeine in der Konkretheit der lebendigen Individualitäten zu erfassen bemüht ist. Um den Charakter dieses Gegensatzes kurz zu bezeichnen, kann man von der Entgegensetzung eines kritischen und eines absoluten Historismus sprechen. Ein althistoristischer Absolutismus will an die Stelle eines bloß logisch-ethischen Monismus einen erkenntnistheoretisch-ahistorischen Monismus setzen, während ein neuhistoristischer Problematizismus im Dienst der Sache des existentiellen Pluralismus steht, der radikal gegen jeden Totalismus ist zugunsten eines Prozesses der Universalisierung, welcher die Individualität nicht Lügen straft, eben weil er sie nicht in sich selbst einschließt, sondern ihr Bestreben realisiert, sich nach allen Richtungen hin zu entfalten. Diese Richtungen sind ihrerseits wieder Ausdruck des unstillbaren Bedürfnisses des Individuums, zu seiner Vollendung zu gelangen, indem es sein ursprüngliches Gegebensein einholt. Um den Wert der Individualität war also für Piovani der Sinn des neuen Philosophierens zentriert, das bei ihm für die Wissenschaften vom Leben offen war, speziell für die Psychologie und die Anthropologie, die Piovani dazu benutzte - ich muß es hier bei einer Andeutung belassen - , die Schichten der Individualität bis zur objektiven Quelle des ursprünglichen Gegebenseins des Subjekts als eines „wollend sich selbst nicht gewollt habenden" auszuloten, mit all dem, was sich daraus ergibt: beginnend mit der zentralen Rolle des historischen Erkennens, das sich - sowohl in der systematischen Erforschung der Geschichtstheorien als auch in der der aktiven Erfahrung der Geschichtsschreibung - als die neue Weise darstellte, in der es möglich ist, sich den Dimensionen der Realität zu nähern und sie zu ermessen und fortschreitend mit der modernen Erkenntnistheorie: Diese neuen Erkenntnisformen haben für Piovani einen Wert, der dem zumindest gleichkommt,

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den die neuen Erkenntnisweisen in der Naturwissenschaft haben. Obgleich auf Wegen fortgeschritten wird, die in großer Entfernung voneinander verlaufen, findet sich in Einzelfällen in den Ergebnissen eine symptomatische Übereinstimmung. Hierbei zögerte Piovani nicht - über den Rat hinaus, die Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften neu zu lesen (die im übrigen eher der Wertphilosophie als dem Historismus angehört) - , den ethischen Wert des Relativen gegenüber dem Absoluten zu verteidigen und jede mögliche Universalgeschichte zurückzuweisen (sofern sie ausschließlich als Bodensatz der Logik der Geschichtsphilosophie gelesen wird) zugunsten der existentiellen Geschichte, bis hin zur revolutionären Umstülpung der Ontologie in die radikale Anti-Ontologie der Abwesenheit. Und es ist nun gerade hier, an diesem Punkt, welcher der Gipfel des „neuen Historismus" zu sein scheint, wo die Grenzen der historistischen Reflexion Piovanis sichtbar werden. Diese Reflexion ist gewiß nicht zu negieren, aber doch zu ergänzen: eine Arbeit, die ich zu unternehmen versucht habe. Angelpunkt des Historismus ohne Natur, der endgültig mit der naturalistischen und kosmologischen Hypothese gebrochen hat, ist das Zufällige in seinem nicht zu beseitigenden und unbeseitigten Existieren. Dieser Historismus bedeutet die Verdrängung der klassischen Metaphysik sowie dessen, was diese verdrängt hatte, um sich in innerer Vollendung und Kohärenz zu gestalten. Und doch ist die Verdrängung der Essenz durch die Existenz wiederum eine „neue Metaphysik", eine „negative Metaphysik", deren Prinzip die Endlichkeit ist und damit nicht das quod est, sondern das quod deest, das uns vor die Frage stellt: „Warum das Existente, und nicht vielmehr das Inexistente?" Wenn nun die Antwort in der Axiologie des age quod agis zu suchen ist - wie dies sehr gut Eugenio Mazzarella getan hat - , dann impliziert sie auch eine Anthropologie der radikalen Unvollkommenheit, oder sie kann sie implizieren, und darüber hinaus eine Ontologie der nicht transzendierbaren Endlichkeit, eine Ontologie des Selbstwissens des Menschen von sich als dem geschichtlichendlichen Maßstab. Damit hat man - oder man läuft Gefahr, sie zu haben - eine „neue Ontologie", die gewiß negativ ist, dabei jedoch immer untranszendierbar ontologisch. Dies ist eine Konsequenz der zentralen Stellung, die von jeher dem Existentialismus zuerkannt worden ist, wobei Piovani allerdings Jaspers und seinen „Weg des Nein" Heidegger wegen der latenten Metaphysizität des letzteren vorzog, so daß die ethische Verteidigung des Relativen nicht bei der radikalen Übernahme desselben stehenzubleiben gedenkt, sondern die relativistischen Spätformen des Historismus negiert, und zwar verbunden mit der Ablehnung einer vorgegebenen Ordnung, in die das Individuum eingefügt ist, jedoch immer mit der Auflage einer zu schaffenden Ordnung, in die der Mensch sich verantwortlich einfügt. Die Öffnung auf die Zukunft hin ist - oder sie kann es sein - die vorausschauende Sorge um eine zu schaffende Ordnung, innerhalb welcher der „Augenblick" im Geiste Schleiermachers Sinn und Wert erhält, statt in der Weise Rankes Sinn und Wert im Augenblick selbst zu suchen. Dieser Gefahr ist die mögliche Überwindung des kritischen Historismus in einer erneuten Reflexion ausgesetzt, wenn er - den Vorschlägen katholischen Existentialismus nicht unzugänglich - die conditio humana einer erneuten Betrachtung aus der Sicht eines entmythisierten Christentums unterzieht, das heißt eines Christentums, das von der Hülle des Kosmos als des universellen natürlich-übernatürlichen Ortes, der den Menschen umgreift, befreit und seiner ursprünglichen Erfahrung der Geschichtlichkeit

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zurückgegeben ist, durch Christus, der Aufnahme findet für die mögliche Entscheidung jedes Menschen, der den bestürzenden Wert zu erkennen vermag, welcher in der eschatologischen Gegenwart der Menschwerdung Gottes liegt, als des verborgenen Absoluten, das anzuerkennen ist. Nicht zufällig macht der fortschreitende Antihegelianismus Piovanis eine Ausnahme bezüglich des Hegel, der von der Menschwerdung handelt. Eigentlich hatte der Reflexion Piovanis auf den Historismus die Berücksichtigung Max Webers gefehlt (zumindest kam sie spät, und nur in Andeutungen). Vielleicht war Piovani aufgrund der damals von der Schule Webers gelieferten Beiträge geneigt, in Weber eher den Überwinder Diltheys und Gegner von Meinecke und Troeltsch zu sehen (und ihn daher nicht sehr zu schätzen) als den radikalen Verwirklicher - der, wenn auch sehr verschieden von Ranke und Troeltsch, diesen nicht fernstand - des Historismus, wie er sich in seinen beiden höchsten Momenten verwirklicht hat, nach der Seite der nachdenklichsten Grundlegung und nach der Seite der theoretisch tiefgründigsten Problemstellung, das heißt, bei Humboldt und Dilthey. In der Tat tritt mit Weber der entschiedenste und strengste Kritiker des gesamten 20. Jahrhunderts am „monistischen Wahn" auf, sei es als eines „intellektuellen Absolutismus", sei es als eines „moralischen Absolutismus", und es wird erkannt, daß der „Begriff der Totalität [...] wie jede andere Kategorie" ein Götze ist. Weber verkündet die Irreduzibilität des Pluralismus der Werte als modernen Polytheismus, nicht im Sinne eines nihilistischen Relativismus, sondern als Bedingung der zu treffenden Entscheidung, in Kenntnis der Unauflöslichkeit der Antithese und damit der Bedeutung der einzelnen Handlungen, deren Verkettung dem Leben als Ganzem eine Grundlage gibt: dem Leben, das sich selbst begründet, sich auf sich selbst gründet und nur so Sinn und Bedeutung gewinnt. Ohne jede Beschönigung wird erklärt, Entwicklung und Fortschritt seien ein ,romantischer Trug", da die Welt der Kultur - das, was den Gegenstand der Realwissenschaften ausmacht - der endliche Ausschnitt aus einer sinnlosen Unendlichkeit ist, dem nur vom Standpunkt des Betrachters her ein Sinn verliehen wird. Hier hat die Kultur, haben die Kulturen nichts mehr vom Intuitionismus der Weltanschauungen oder der Erlebnisse: Sie sind perspektivische Schöpfungen des empirischen Lebens in seinem Fortschreiten, wie es durch die Handlungen und Entscheidungen hervorgebracht wird, mittels deren die Wissenschaft das Bewußtsein dazu veranlaßt, den positiven Charakter des Konflikts anzuerkennen, der Ergebnis eines bewußten Wettstreits ist, wobei dieser wiederum Garant der ethischen Verantwortung ist. Hier hat nun wirklich die Ontologie keinen Sinn mehr (und dies ist die radikale Grundlage des rigorosesten Neo-Historismus), und der Diskurs entfernt sich von ihr, ohne jedes Interesse, die Argumente pro oder contra noch länger zu untersuchen, da er sich auf eine andere Ebene verlagert hat, die von der traditionellen völlig verschieden ist. Hier verliert der Polarstern des Abendlandes, das auf der kosmologischen Allianz von Natürlichem und Übernatürlichem gegründete Naturrecht, seine Aufgabe und Funktion als unentbehrlicher Bezugspunkt und bleibt eine ferne astrale Korpuskel. Die Geschichte ist nicht mehr ein Ort, aus dem man herkommt und in dem man wohl oder übel lebt. Sie ist ein Ergebnis der Geschichtsschreibung, das heißt, der Zuweisung eines Sinnes an das, was keinen Sinn hat und ihn von dem erhält, der ihn schafft und ihn somit rational erkennt und verifiziert. Damit kehrt das Theorem Vicos von der Konvergenz des Wahren und des Gewissen wieder, jedoch

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im Sinn einer rationalen Beglaubigung, welche das Wahre nicht aus dem Eintreten Gottes in die Welt ableitet. Auf die Übernahme dieser radikalen Auffassungen gründet der Neo-Historismus seine Seinsweise, womit der Einsatz und der Ansatz Piovanis keineswegs verleugnet, wohl aber ergänzt werden sollen. Der kritische Historismus ist die Wissenschaft, die, auf der Grundlage der Philologie als historischer Erkenntnis und der universalen Hermeneutik der Sprache, die erkenntnistheoretische Grundlegung der Einzelwissenschaften leistet, oder anders gesagt, er ist die Ablehnung jeder allgemeinen Wissenschaft, es handle sich um die Philosophie der Geschichte, die Soziologie, die Philosophie als Metaphysik. Der kritische Historismus bedeutet das Aufgehen der Philosophie in den positiven Wissensformen und die Ersetzung der Geschichtlichkeit als totalisierender und totalistischer Wirklichkeit durch die Pluralität der Geschichten und ist insofern Ausdruck von ethisch bewußten Handlungen, die konkreten, empirischen Individuen aus Fleisch und Blut zurechenbar sind, niemals einer absoluten Ichheit. In diesem Sinne ist die Geschichte die Kunst des Verstehens, die eine Darstellung der Tatsachen erfordert (beinahe die Augenzeugenschaft des wahrnehmenden Sehens der Dinge in ihrer Besonderheit - von daher die Unparteilichkeit), sowie die Objektivierung der Sicht in der Wahrheitstreue der Tatsache, über ihre Form, ihren sichtbaren Umriß hinaus auf der Suche nach der wissenschaftlichen, philologisch verifizierten Erklärung: das heißt, die Erkenntnis, welche den bezeugten Augenschein in der Vernünftigkeit des Ereignisses vervollständigt und überwindet. Deshalb ist die Geschichte eine ethische Wissenschaft und eine empirische Erkenntnis, unter der Voraussetzung, daß mit Kant das rationalistische Vorurteil zurückgewiesen wird, wonach es keine Wissenschaft vom Einzelnen gibt - was Kant bekanntlich bestreitet, wohingegen er für das empirische Bewußtsein die Möglichkeit zeigt, aufgrund der Verbindung der Kategorien (des Rationalen) mit den Fakten Wissenschaft zu konstituieren. Dies ist dank dem expliziten Kantianismus der historistischen Tradition gleichbedeutend mit der nicht metaphysischen, sondern methodologischen Grundlegung der historischen Erkenntnis, die zugleich Wissenschaft und Kunst des Verstehens des Einzelnen ist, indem sie die gegenwärtige Erfahrung durch rational begründete und verifizierbare Prinzipien ergänzt. Damit ist die Grundlegung gegeben für die Unterscheidung zwischen der Weltgeschichte (als Nachfolgerin und Sublimation der Gesamtgeschichte im Namen einer totalistischen und totalisierenden Wirklichkeit) und der Universalgeschichte, die „Grundlage jeder speziellen Geschichte" ist, um es mit Roscher zu sagen, da sie Ergebnis von Prozessen der Analogisierung ist: Diese zielen darauf ab, das Spezifische der in ihrer „Differenz" erfaßten individuellen Ereignisse zu bestimmen (Themen, wie sie dem „Historismus der Historiker" am Herzen lagen: Niebuhr und Roscher, aber auch Eduard Meyer, gegen den Max Weber polemisierte). Ihrer Substanz nach ist die Universalgeschichte nicht die totale kumulative Geschichte der Welt, sondern die thematische und tendenzielle Kondensierung der geschichtlich handelnden Individualitäten, die somit in ihrer Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit vermittels des Zusammenhangs erfaßt werden. Daher ist jeder Historiker immer Universalhistoriker, wie Ranke sagte, ohne - dabei war gerade er von lutherischer Frömmigkeit durchdrungen - den antimetaphysischen Charakter der Geschichte als Kunst und Wissenschaft zu verraten: sie ist nicht eine objektive Gegebenheit oder der Herkunftsort, mit dem man notwendig eine Beziehung unterhält, sondern Ergebnis der Geschichtsschreibung als ethischer Wissenschaft.

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Bibliographische Nachträge: Zu B. CROCE: Siehe die drei Bände seiner Philosophie des Geistes, und zwar die Estetica (1902) (jetzt neue Aufl. hg. von G. Galasso, Milano 1990), die Logica (1908) (Bari 7 Laterza, 1947) und die Filosofìa della pratica (1909) (Bari 6Laterza, 1950); der Text bezieht sich vor allem auf Teoria e storia della storiografia (1915 und 1917) (jetzt neue Aufl., hg. von G. Galasso, Milano 1989) und La storia come pensiero e come azione (1938) (Bari 6 1954). Zu CARLO ANTONI: Ich beziehe mich insbesondere auf sein Commento a Croce (Venecia 1955) und auf La restaurazione del diritto di natura (Venezia 1959). Zu GUIDO DE RUGGIERO: Il ritorno della ragione (Bari 1947). Zu FEDERICO CHABOD: Croce storico (1952), jetzt in ders.: Lezioni di metodo storico, hg. von L. Firpo (Roma-Bari 121993). Zu PIETRO ROSSI: Lo storicismo tedesco contemporaneo (Torino 1 9 5 6 und 2 1 9 7 1 ) . Zu FURIO DIAZ: Storicismi e storicità (1956) (neue Aufl., hg. von F. Tessitore, Napoli 1988). Für nähere bibliographische Angaben zum Marxschen Historismus, bzw. zum marxistischen Anti-Historismus, vgl. den Aufsatz von G. LISSA, F. TESSITORE (Hg.): La cultura filosofica italiana dal 1945 al 1990 (Napoli, Guida 1982, 21988). 2 TESSITORE (Hg.): La cultura filosofica italiana dal 1945 al 1990 (Napoli 1982, 1988). Zu PIETRO PIOVANI: Ich beziehe mich auf seine folgenden Hauptschriften: Normatività e società (Napoli 1949); Linee di una filosofia del diritto (Padova 3 1959); Filosofia e storia delle idee (Bari 1965); Conoscenza storica e coscienza morale (Napoli 1965, 2 1972); Principi di una filosofia della morale (Napoli 1972, 2 1989); Oggettivazione etica e assenzialismo (hg. von F. Tessitore) (Napoli 1981); La filosofia nuova di Vico (hg. von F. Tessitore) (Napoli 1990). Zur Philosophie von PIOVANI vgl. den Sammelband L'opera di Pietro Piovani (hg. von F. Tessitore) (Napoli 1991). Für meine eigene theoretische Stellung weise ich vor allem auf meine zwei umfassenden Monographien hin: Profilo dello storicismo politico (Torino 1972, 21981) und Introduzione allo storicismo (Roma-Bari 1991); sowie auf die Abhandlungen über Lo storicismo di V. Cuoco (Torino 1961, Napoli 21965) und Friedrich Meinecke storico delle idee (Firenze 1969). Meine zahlreichen historiographischen Aufsätze (seit 1965) werden in vier Bänden unter dem Titel Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo erscheinen. Bd. 1-2 (Roma 1995).

GIUSEPPE CANTILLO

Der existentielle Historismus Pietro Piovanis

1. Die wechselvolle Geschichte der philosophischen Kultur Italiens in der Nachkriegszeit ist durch einen vielgestaltigen Eklektizismus und Synkretismus gekennzeichnet, vermittels dessen sich die „Befreiung" von der Vorherrschaft des Neo-Idealismus vollzog.1 In dieser Geschichte ist die philosophische Erfahrung Pietro Piovanis (die sich vom Ende des Krieges bis 1980 erstreckt, dem Jahr seines vorzeitigen Todes) nicht leicht in eine der Haupttendenzen einzuordnen, die im Laufe von dreißig Jahren aufgetreten sind und eine Reihe von „Parabeln" 2 beschrieben haben. Eher könnte sie zu den „Konstanten" 3 der italienischen Gegenwartsphilosophie gerechnet werden, das heißt zur idealistischen und historistischen Tradition, jedoch nach der Seite derjenigen Positionen hin, die sich in der Polemik gegen die spekulativen Ergebnisse dieser Tradition herausgebildet haben. Am besten könnte sie jedoch vielleicht in einem bestimmten Punkt der Konfrontation und des Zusammenfließens von Existentialismus und Historismus angesiedelt werden, wie von Piovanis Schüler und Fortsetzer Fulvio Tessitore überzeugend nahegelegt worden ist.4 Die Eigentümlichkeit der Position Piovanis ergibt sich bereits aus dem besonderen Charakter seiner wissenschaftlichen Ausbildung, die sich unter der Leitung eines originellen, christlich beeinflußten Rechtsphilosophen vollzog, Giuseppe Capograssi, eines scharfsinnigen Interpreten Vicos, der auf seine Weise auch historistische und existentielle Thematiken und Motive teilte. Sie ergibt sich damit aus der Tatsache, daß er zu seiner eigenen philosophischen Reflexion im Ausgang von der juristischen Erfahrung gelangte, wobei diese jedoch in lebendige Beziehung zur Totalität der existentiellen Erfahrung gebracht wurde. Gerade in der Auseinandersetzung mit der Konkretheit und Bestimmtheit der juristischen Wirklichkeit und also in der Ausübung einer strengen Phänomenologie der juristischen und ethischen Erfahrungen haben sich die bedeutsamsten und dauerhaftesten Besonderheiten

1 Vgl. Carlo Augusto Viano: Il carattere della filosofia italiana contemporanea. In: La cultura filosofica italiana del 1945 al 1980 (Napoli 2 1988) 14-30. 2 Vgl. Valerio Verrà: Costanti e parabole nella filosofia italiana contemporanea, a. a.O., 63ff, 74, 76. 3 A.a.O., 65, 81f. 4 Vgl. Fulvio Tessitore: Tra esistenzialismo e storicismo: la filosofia morale di Pietro Piovani (Napoli 1974).

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seines kritischen und problematischen Historismus herausgebildet, der nicht nur gegenüber dem idealistischen Historismus Hegels und Croces eine entschieden polemische Haltung einnahm, sondern ebensowenig geneigt war, die historistische Perspektive zu „überwinden". Angesichts der Selbstüberprüfung des Historismus, die bei einem Denker aus der Schule Croces - Carlo Antoni - zu dem Urteil führte, der Historismus sei „die neuzeitliche Religion der Geschichte, der blutigen Göttin, die alles rechtfertigt und alles umstürzt", 5 vermochte Piovani daher durchaus den dramatischen Problemcharakter desselben zu teilen, jedoch konnte er sich nicht auf den Ausweg einlassen, der zu einer Restauration des Naturrechts geführt hätte. Da er die Leiden, die der Historismus gerade dem historischen Denken zugefügt hatte, mit den Mitteln des Historismus selbst heilen wollte, konnte er vielmehr den Weg einer neuen Wissenschaft im Sinne Vicos einschlagen (wobei diese jedoch ohne den hegelschen Filter zu interpretieren war), den Weg eines „inneren Vichianismus", den er im juristischen und politischen Denken Rosminis erkannt hatte, in seiner „Methode, mit dem Blick in die Tiefe der zivilen Gesellschaften zu dringen, um daraus die Lehre zu ziehen, die nicht so sehr an die .Menschheit' gerichtet ist als vielmehr an den Menschen, an das menschliche Individuum". 6 Vor allem konnte er mit den historisch-soziologischen Analysen und den Geschichtstheorien des zeitgenössischen Historismus - von Dilthey bis Weber, von Troeltsch bis Meinecke - Bekanntschaft schließen, auf welche in Italien im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre die Studien Pietro Rossis die Aufmerksamkeit gelenkt hatten. 7

2. Wie bemerkt worden ist, 8 mußte Piovani sich in den Jahren seiner Ausbildung unweigerlich mit dem Existentialismus auseinandersetzen, der damals in die italienische philosophische Kultur eingedrungen war. In der Rezension der Übersetzung Jaspersscher Texte in der Anthologie La mia filosofìa (1947) sind deutlich einige Punkte effektiver Konvergenz im Denken des jungen Piovani mit Thematiken und Positionen zu erkennen, welche die Existenzphilosophie vertrat oder die ihr zumindest zugeschrieben wurden: die Verteidigung der Werte der Einzelperson, die Berufung auf das Erleben des Individuums, das nicht auf ein reines denkendes Subjekt zu reduzieren ist, die Beschäftigung mit der interpersonellen Kommunikation, die Auffassung von der Philosophie als persönlicher Wahrheitssuche, die Entscheidung, in einer Epoche, die von einer tiefgehenden Krise gezeichnet war, welche selbst die Wurzeln der Person berührte, „der Ablenkung, dem détournement, der Zeiten den Kampf anzusagen". Zur gleichen Zeit findet sich darin jedoch nicht nur die erklärte Absage an den Existentialismus, der in kurzer Zeit „Akademie und Mode" geworden war, „Schule unter Schulen", sondern es

5 Vgl. Carlo Antoni: La restaurazione del diritto naturale (Venezia 1959) 31. 6 Vgl. Pietro Piovani: Rosmini e Vico. In: Rivista internazionale di filosofia del diritto 30 (1953) III, 314. 7 Vgl. Pietro Rossi: Lo storicismo tedesco contemporaneo (Torino 1956), Storia e storicismo nella filosofia contemporanea (Milano 1960) und die Übersetzung von wichtigen Texten Diltheys in: Wilhelm Dilthey: Critica della ragione storica, hg. von P. Rossi (Torino 1954). 8 Vgl. Eugenio Garin: Il filosofo. In: E. Garin, F. Tessitore: Pietro Piovani, Auszug aus dem Annuario (1975-76/79-80) der Università degli Studi von Neapel (Napoli 1981) 8.

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findet sich darin auch der Verdacht einer substantiellen Inkohärenz im Verhältnis zum ursprünglichen „Protest" zugunsten der Existenz und der Person. In der Tat schien sich in der Existenzphilosophie der Primat des Seins gegenüber dem Dasein erneut durchzusetzen. „In Jaspers' Scheitern" - so Piovani - „scheitert das Dasein, sogar das Existieren [ . . . ] , nicht aber das Sein - im Gegenteil: Kraft seines Scheiterns findet das Existieren zum Sein". 9 Eine klarere kritische Wertung des Existentialismus ist dann im Aufsatz La conclusione del solipsismo (1949) enthalten. Hier dringt Piovani in einer Untersuchung, die dem Anschein nach auf ein erkenntnistheoretisch wohldefiniertes Thema eingeschränkt ist, zu einer umfassenden Interpretation des Entwicklungsganges des neuzeitlichen und zeitgenössischen Denkens durch: vom rationalistischen und idealistischen Subjektivismus zum Solipsismus und zum Skeptizismus und im Ausgang von diesem zur Umkehrung des extremen Rationalismus in den „logikfeindlichen Aktivismus". 10 Die Existenzphilosophie kann daher für Piovani kein Boden sein, auf dem eine „Weltanschauung" zu errichten ist, welche in angemessener Weise der ,3erufung" des Denkens im 20. Jahrhundert zu einer Philosophie des Handelns und des Konkreten entspricht. Diese letztere müßte eine Philosophie sein, „die keine Logik des reinen Denkens ist", jedoch nicht, um Verherrlichung der reinen Aktion zu werden, sondern um zu versuchen, „Logik des menschlichen Handelns in der Geschichte insgesamt" zu sein, „seiner gesamten Selbstverwirklichung, in der Phänomenologie seines gesamten Existierens".11 3. Angesichts der irrationalistischen Implikationen des existentialistischen Protestes erscheint die anfängliche Reflexion Piovanis darum besorgt, zusammen mit der Individualität des Menschen auch das Gemeinsame, das Allgemein-Menschliche zu retten und mit der Individualität und Spontaneität des menschlichen Handelns zugleich auch den unverzichtbaren Bezug auf ein Kriterium, einen Maßstab, eine transzendente Norm. 12 Ebenso in der Interpretation des Kriton wie - vor allem - in Normatività e società (1949) liegt Piovani daran, wie besonders die Blondeis philosophie de l'action gewidmete Analyse im letztgenannten Werk zeigt,13 gegen den Irrationalismus und die Anomie, wie sie verschiedene Tendenzen des Denkens im 20. Jahrhundert kennzeichnen, das Recht des universellen normativ-logischen Anspruchs zur Geltung zu bringen. Dies ist notwendig zur Verwirklichung des menschlichen Selbst, das „im Unterschied zu jedem anderen Individuum [ . . . ] derart konstituiert ist, daß es das Bedürfnis verspürt, die vergängliche und einzelne Individualität zu transzendieren", indem es sich auf das richtet, was dauerhaft und universell ist, auf die Norm, die sich

9 Vgl. P. Piovani: Rezension zu Karl Jaspers: La mia filosofia, it. übers, u. hg. von Renato de Rosa, mit einem Vorwort von Norberto Bobbio (Torino 1946). In: Leonardo 16 (N.F.) Nr. 1 (1947) 3 9 ^ 2 . 10 Vgl. P. Piovani: La conclusione del solipsismo. In: Giornale critico della filosofia italiana 28 (1949) 151-173, bes. 152f, 165, 167f, 170-173. 11 P. Piovani: L'intuizione del diritto come attività. In: Rivista internazionale di filosofia del diritto 33 (1956) 600. 12 Vgl. vor allem P. Piovani: Normatività e società (Napoli 1949) 3. 13 Vgl. a.a.O., 18-30.

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somit als „die metaphysische Präsenz in der menschlichen Natur" 14 erweist. Diese „metaphysische Präsenz" ist Anwesenheit eines Abwesenden, eines Nicht-seins; die Norm verweist auf das, was nicht ist, jedoch sein soll, auf einen idealen Grenzpunkt des Handelns, ein ideales Sein, zu dem das phänomenale Sein, das Existierende, hinstreben muß: „Was nicht ist, macht der Mensch zum Maß dessen, was ist [... ]".15 Die „metaphysische Präsenz" der Norm ist daher auch das, was die Geschichtlichkeit des menschlichen Existierens möglich macht: die Transzendierung dessen, was ist, auf das hin, was noch nicht ist, auf das Novum hin, das sich ereignen soll. Ohne das unausschöpfbare Auseinandertreten von Tatsache und Norm, Realem und Idealem, Individuellem und Allgemeinem wäre kein Raum für das freie und verantwortliche Handeln, für das Handeln nach Ideen, Entwürfen, Zwecken, kurz, es wäre kein Raum für die Geschichte. Und auf diese Abweichung gründet sich ebenso das Recht als System besonderer Normen, die in der Pluralität ihrer geschichtlich-positiven Gestaltung darauf ausgerichtet sind, in jeweils verschiedenen Weisen das Relative und das Absolute, das Einzelne und das Allgemeine miteinander zu vermitteln und zu vereinen.

4. Die philosophische Erforschung des Rechts verschmilzt in der Konzeption Piovanis mit der philosophischen Reflexion als solcher. Daher bietet sie - insbesondere auf den hochrelevanten Seiten der Linee di unafilosofia del diritto (1958) - Anregungen und Hinweise nicht nur zur Vertiefung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Handlung und Norm, sondern auch zum Entwurf einer Konzeption der Philosophie sowie zur Entwicklung jener phänomenologischen Exploration des Existierenden, des konkreten, geschichtlich bestimmten Individuums, die ein konstantes Bestreben in Piovanis Reflexion darstellt.16 Unter Bezugnahme insbesondere auf das Denken von Karl Jaspers 17 erkennt Piovani den individuellen Charakter der philosophischen Reflexion an, und dies impliziert die entschiedene, vorbehaltlose Parteinahme für die „Pluralität der Philosophien", die Überzeugung, nach der „jede Philosophie nur eine Philosophie unter vielen" ist, „una ex pluribus". In Von der Wahrheit hatte Jaspers geschrieben: „Es bleibt die Paradoxie: Die eine Wahrheit haben wir nicht und werden wir nicht haben - und die Wahrheit kann nur eine sein [ . . . ] . Wahrheit ist in der Zeit immer auf dem Wege".18 Nicht anders konzipiert Piovani die Philosophie als nie vollendete Suche nach der Wahrheit, als jeweils individuelle und individuierte Antwort auf das allgemeine Streben nach der

14 Vgl. a.a.O., 18. 15 A.a.O., 100. 16 Vgl. P. Piovani: Linee di una filosofia del diritto (Padova 3 1968) Kap. I—III. Exemplarisch 17f: „In diesem Sinn ist die Rechtsphilosophie, obgleich sie konventionell und aus Gründen der Bequemlichkeit beim Sprechen als Partikularphilosophie angesprochen werden kann, niemals (und keine andere Philosophie ist es je) wahrhaft partikulär: Wenn die philosophische Neugier hinsichtlich der Bedeutung des Lebens entsteht, kann sie dazu veranlaßt werden, in der Erkenntnis eines Teils des Lebens an Tiefe zu gewinnen, aber sie kann sich nie in dieser Partikularität erschöpfen". 17 Vgl. K. Jaspers: La mia filosofia, a. a.O., 9f. 18 K. Jaspers: Von der Wahrheit (1947, München 3 1983) 839 u. 961.

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Wahrheit. Das Streben nach Einheit, das der Philosophie eigen ist und das unausweichlich ist, da es (nach dem, was Kant gelehrt hat und in diesem Fall von Jaspers ebenso übernommen wird) zur Natur der Vernunft selbst gehört, verwirklicht sich nicht mehr in einer „Philosophie des Kosmos", nach der Seite des objektiven Denkens und der positiven Wissensformen hin, sondern in einer „Philosophie des Menschen", nach der Seite des subjektiven Denkens hin, das darauf ausgeht, „der von ihm vorgeschlagenen Interpretation des Lebens" Einheit zu verleihen, indem es sie instand setzt, mit dem Zeugnis einer „in innerer Einheit lebendigen Persönlichkeit" zu „überzeugen".19 Sowohl von der Seite des Objekts als auch von der Seite des Subjekts her betrachtet, kann die Philosophie für Piovani keine andere als eine „Philosophie der Individualität" sein. In der Darlegung dieser seiner Konzeption der Philosophie schließt Piovani sich an den Prozeß der Befreiung vom abstrakten Universalismus an, den der Humanismus in Gang gesetzt hatte und in dem sich, wenn auch unter Unsicherheiten und Sinnesänderungen, „die durch die christliche Botschaft verkündete Revolution der Innerlichkeit" vollzieht 20 und in der die Bewußtseinsstellung der Moderne entwickelt wird, die durch den Übergang von „kosmischen" zu „moralischen Horizonten" gekennzeichnet ist,21 von einer „kosmologischen zu einer humanologischen Betrachtungsweise", ein Übergang, wie er in emblematischer Weise im Denken Vicos in Erscheinung tritt. 22 Piovani teilt also die Orientierung des neuzeitlichen Denkens, für das „der Ausgangspunkt jeder Auffassung von der Welt", die Quelle und das Fundament allen Erkennens und Handelns im Subjekt zu suchen ist. 23 Aber gegen die zweideutige, bedrohliche Übersteigerung des Subjekts zu einem absoluten Subjekt in seinen vielfältigen erkenntnistheoretischen, metaphysischen und ethisch-politischen Gestalten wendet er polemisch die Berufung auf die Existenz und auf die Phänomenologie der Existenz. Das Subjekt-sein des existierenden Ich, das als existierendes - mit Pascal - weiß, „zwischen dem All und dem Nichts zu sein [ . . . ] , endlich und unendlich zu sein", 24 bedeutet nach Piovani weder den Übergang zu einer reinen, unbedingten, unendlichen Subjektivität noch das Sich-einschließen des Subjekts in den engen Raum des eigenen unmittelbaren Vorstellens und Wollens. Auf der einen Seite ist das existierende Subjekt begrenzt, endlich, bedingt, aufgrund der Tatsache, daß es als dieses Subjekt existiert, das in einer bestimmten Situation denkt, will und fühlt. Auf der anderen Seite ist das existierende Ich „eine Realität, die sich als von ihrer unmittelbaren Einzelheit verschieden erkennt,

19 P. Piovani: Plurificazione e cooperazione del sapere. In: Atti dell'Accademia di Scienze morali e politiche di Napoli 76 (1965) (Napoli 1966) 229. 20 P. Piovani: Orizzonti cosmici e orizzonti morali. In: Etica I Nr. 3 (1962) 201. 21 A. a.O., 190. Vgl. Giuseppina De Simone: Storicità e moralità: una ricostruzione dell'itinerario di Pietro Piovani (Diss. Napoli 1983) 87ff. 22 „Vico" - schreibt Piovani an einer exemplarischen Stelle - „erscheint als der Denker, mit dem die Philosophie bewußt den Übergang von der kosmologischen zu einer humanologischen Sicht vollzieht, mit allen Problemen, welche die neue Orientierung mit sich bringt". P. Piovani: Lo scisma di Vico. In: Bollettino del Centro di Studi Vichiani 7 (1977) 154. 23 Orizzonti, a.a.O., 200f. 24 A.a.O., 202.

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die mehr ist als sein unmittelbar wollendes Wollen, mehr als sein unmittelbar denkendes Denken". 25 Es ist Entwurf und Handlung, Negation der unmittelbaren Gegebenheit, Transzendierung und Jenseitigkeit.26 Das Streben zum Allgemeinen, das der Individualität innewohnt, ist die einzige Konstante, welche eine Philosophie der Individualität rechtmäßig anerkennen kann. Die immer anderen Inhalte, in denen sich das individuelle Streben zum Allgemeinen geschichtlich gestaltet, sind „die Bilder eines unbekannten Antlitzes, gespiegelt im jeweiligen Bewußtsein", das auf der Suche nach einem „fernen Licht" ist und sich bemüht, „es zu erreichen oder sich ihm wenigstens zu nähern". 27 Eine solche Philosophie kann sich dem Ausspruch Husserls anschließen: „Das ich bin ist mir in einer absolut apodiktischen Evidenz gegeben", allerdings unter der Voraussetzung, daß nicht beansprucht wird, die konkrete, lebendige Subjektivität auf die Sphäre des „absoluten Seins" des reinen Bewußtseins zu „reduzieren". „Es ist dem individuellen Willen nicht gestattet", wie Piovani exemplarisch festhält, „das auszulöschen, was das wesentliche Innere einer Subjektivität ausmacht [ . . . ] , das Ich in der reinen ursprünglichen Subjektivität zu betrachten, da diese völlig anfängliche Reinheit nicht auffindbar ist, da sie nie war und nicht sein kann: Das ursprüngliche Sein des Ich ist in der Tat nicht subjektiv, sondern objektiv". 28 Hier zeigt Piovani eine originelle Bearbeitung der Heideggerschen und Jaspersschen Analyse der Faktizität, der Zuständlichkeit und Geschichtlichkeit des Existierenden. „Der Wesensgrund der Subjektivität des Ich" - schreibt er - „ist an seinem Ursprung die Objektivität des Ich. So sehr ich auch versuchen mag, mich in der Nacktheit meines Fühlens und Denkens zu erkennen, so weitgehend es mir gelingen mag, hypothetisch die Geschichte meiner Willensäußerungen eine nach der anderen zu rekonstruieren: Ich muß doch angesichts einer Feststellung stehen bleiben, die mir mich selbst als Gegebenes gegenüberstellt: Mich, der ich will, habe ich nicht gewollt".29 In der Erkenntnis, zu der die Subjektivität durch die Reflexion über sich selbst geführt wird, d.h. in der Anerkennung der Tatsache, daß in ihrem Grund eine ursprüngliche, irreduzible Objektivität des Existierens liegt, ist bereits die Entdeckung der konstitutiven Geschichtlichkeit des existierenden Subjekts enthalten, seines Einbezogenseins in eine Tradition, in eine gemeinsame Welt der Bedeutungen und der Werte. Das Subjekt kann sich nicht in seiner Vereinzelung abschließen, da es konstatieren muß, daß es nicht „von allein" zur Existenz gelangt ist. Das Denken wie das Handeln zeigen in ihrer Phänomenologie ohne Vorbehalt die unhintergehbare und notwendige Gegenwart des Anderen und der Anderen?0

25 26 27 28 29

Linee, a.a.O., 201. Vgl. Orizzonti, a. a.O., 205. Vgl. Linee, a.a.O., 187. Vgl. Orizzonti, a.a.O., 192f. A.a.O., 193f. Auf die zentrale Bedeutung dieses „Motivs" im Denken Piovanis hat F. Tessitore die Aufmerksamkeit gelenkt (vgl. Tra esistenzialismo e storicismo, a. a.O., 78ff). 30 Vgl. Linee, a.a.O., 204-210.

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Nur in der geschichtlichen Dimension, in der Beziehung zum Anderen und zu den Anderen, in der Arbeit und in der wechselseitigen Anerkennung und Achtung ist es für das Subjekt möglich, sich als tätiges und denkendes Subjekt zu verwirklichen.31 Die Philosophie der Individualität trifft so mit der Geschichte als dem eigensten Horizont der Individualität zusammen und erkennt die Geschichtlichkeit als deren konstitutive Seinsweise an. Indem es sein Existieren übernimmt, kann das Individuum nicht umhin, die Folgen dieses ursprünglichen Aktes der Freiheit und der Verantwortlichkeit mitzuübernehmen. Vor allem kann es nicht mehr beanspruchen, ohne mit sich in Widerspruch zu geraten, daß es allein sei, daß es als absolute Singularität existiere, wenn in seinem Existieren der Bezug zum Anderen und zu den Anderen konstitutiv gegenwärtig ist. In der Treue zu dieser freien Entscheidung zu existieren, zu dieser „vitalen Übernahme" und zu ihren Implikationen besteht für Piovani das moralische Verhalten des Menschen. Der „Sinn der Geschichte" warnt jedoch, daß diese Treue schwierig ist, daß die Moralität Kämpfe, Verzicht, Opfer mit sich bringt und nie ein für allemal errungen wird. Eben weil sie auf einen ursprünglichen Akt der Freiheit gegründet ist, bleibt die „Erprobung" der Individualität in der Geschichte immer der Gefahr der Niederlage ausgesetzt, ist sie immer durch das Böse bedroht: das eben darin besteht, in Widerspruch zur Übernahme zu geraten, darin, hartnäckig und um jeden Preis die eigene unmittelbare Einzelheit wieder zur Geltung bringen zu wollen. 32 Die Achtung vor dem Anderen ist nicht Gegenstand von Vertragsschlüssen, sie entspricht keinem Kalkül der Nützlichkeit, sondern sie ist eine Pflicht, ein kategorischer Imperativ für das Subjekt, das darauf ausgeht, es selbst zu sein, oder besser: es selbst zu werden, das heißt, sich als Persönlichkeit zu verwirklichen. Zwar kann das Subjekt de facto immer „ins Absurde" verfallen und sich aufs neue auf „das Abenteuer der singularistischen Subjektivität" einlassen. Gegen diese Möglichkeit kämpfen jedoch Moralität und Recht, wenn auch in unterschiedlicher Weise, indem sie einem und demselben Anliegen Rechnung tragen, demjenigen der Durchsetzung und der Verteidigung der Möglichkeit der Subjektivität, sich selbst gegenüber der immer wiederkehrenden und unaustilgbaren singularistischen Versuchung als Personalität zu verwirklichen, gegenüber dem aufsteigenden Egoismus, auf den mit Kant und mit der gesamten christlichen Tradition - das Böse als auf seine Wurzel zurückzuführen ist. In einer subtilen Polemik gegen rationalistische und utopistische Konzeptionen oder auch gegen Formen des Historismus, die ihr Vertrauen in den notwendigen Sieg der Vernunft und der Freiheit in der Geschichte setzen, ist der „Sinn der Geschichte" für Piovani, noch bevor er Empfinden der Freiheit des Menschen ist, Empfinden der Gegenwart und Wirklichkeit des Bösen, das heißt des negativen Vermögens der Individualität, sich in die eigene Singularität zu verschließen (oder dies zumindest zu versuchen), ihr eigenes Handeln der Unmittelbarkeit des singulären Wollens zu überlassen. Auf der anderen Seite „gewährleistet" gerade

31 A.a.O., 215. Zur Orientierung an der geschichtlichen Dimension der Individualität als Spezifikum der Auffassung Piovanis von der „existentiellen Entscheidung" und von der „vitalen Übernahme" vgl. die Bemerkungen von F. Tessitore (a. a.O., 83) und von Giuseppe Lissa in der ausführlichen Einleitung zu P. Piovani: Posizioni e trasposizioni etiche, hg. von G. Lissa (Napoli 1989) 44ff. 32 Vgl. Linee, a. a. O., 217f u. 2211

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die Wirklichkeit des Bösen „die freie Entfaltung des Individuums", das wahrhaft frei nur ist, wenn die Existenz, nach dem Verständnis Kierkegaards, in radikaler Weise Möglichkeit ist: in eins positive und negative Möglichkeit. In diesem Sinn wird die Geschichte bei Piovani auch hier in Übereinstimmung mit Jaspers - zur „unersetzlichen Erprobung der Individualitäten, die den Versuchungen und Widersprüchen ausgesetzt sind, wie sie der conditio humana eigen sind". 33 Eben aus der Freiheit, die das Ich hat, im Widerspruch zu sich selbst zu handeln und zu der eigenen Entscheidung für die Existenz und damit: für die Koexistenz, also aus der Freiheit, mit dem eigenen Handeln die anderen schädigen zu können, entsteht das Recht; nämlich als Verteidigung der Handlung der Individualität gegenüber den von den anderen vollzogenen schädigenden Handlungen. Diese Anerkennung des Rechts als Tätigkeit, als Verteidigung des „élan vital", der Ausdehnung des Individuums in seiner Personwerdung, ist die Wurzel der scharfsichtigen Kritik, die Piovani an der naturrechtlichen Konzeption des Rechts übt (und damit an der Trennung zwischen einem idealen, ewigen Naturrecht und einem zeitlichen, geschichtlichen, positiven Recht) sowie an der Behauptung einer radikalen Geschichtlichkeit des Rechts. 34 Mit Hegel, und über Hegel hinaus, muß das Recht in der Geschichte betrachtet werden, in der konkreten Geschichte als einem dynamischen Geflecht der menschlichen Existenzen und Handlungen. 35 Die Norm, die in Normatività e società als „Zeugnis von einer über die Vereinzelung hinausgehenden Berufung des Einzelnen" 36 in Anspruch genommen wurde, findet nun ihre Bestätigung als „Normativität", das heißt in ihrem a priori formalen Charakter, als Spannung auf das Universelle hin, auf die Überwindung der Singularität, und zugleich erweist sie sich immer deutlicher als geschichtlich determiniert durch die effektiven normativen Ordnungen und Systeme des positiven Rechts. Das Recht - so bekräftigt Piovani in II significato del principio di effettività - ist „vorurteilsfrei" in seinem „geschichtlichen Sein" aufzusuchen, in der Herausbildung und im Fluß der juristischen Erfahrung. 37 Getreu Capograssis speziellem juristischen Historismus konzentriert sich Piovanis rechtsphilosophische Reflexion auf die Historisierung der Norm, die „entweder effektive geschichtliche Existenz hat und ist oder nicht existiert" und deren Existenz „nicht anders

33 Vgl. ebd. 223-228. Zu diesem Zug der Geschichte als „Erprobung der Individualität" vgl. P. Piovani: Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 170. 34 In dieser Perspektive der Geschichtlichkeit des Rechts werden die Gründe deutlich, die der Reflexion Piovanis erlauben, als mehr oder weniger konstante Bezugspunkte Philosophen heranzuziehen, die „einander recht fern und voneinander verschieden sind, die neu durchdacht und in ihrer Eigenart anerkannt werden, wie Vico, Hegel, Rosmini und Jehring". Durch diese hindurch, durch ihre gemeinsame Aufmerksamkeit für das Konkrete, für die geschichtliche Erfahrung, kann Piovani - wie Tessitore festgestellt hat - „die Tradition des Historismus neu durchlaufen" und in den bestimmten Umrissen des modernen Denkens seine Berufung zu einer „Logik des Konkreten" erkennen (vgl. E Tessitore, a.a.O., 92-104). 35 P. Piovani: La filosofia del diritto e la lezione di Hegel. In: Riv. intern, di filosofia del diritto, 31 (1954) 354. 36 Normatività e società, a. a.O., 18. 37 Vgl. P. Piovani: Il significato del principio di effettività (Milano 1953) 10, 110.

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bewiesen werden kann als daraus, daß sie sich zu einer Ordnung ordnet, sich zu einer Institution instituiert",38 und stellt somit in den Mittelpunkt seiner Phänomenologie der Existenz das Thema der ethischen Objektivierung,39

5. Mit der in den Linee entwickelten Reflexion hat Piovani den Grundriß seiner „Weltanschauung" oder seiner „Philosophie der Individualität" gezeichnet. In der weiteren Entwicklung bildete sich seine historisch-theoretische Forschung deutlicher als eine Philosophie der geschichtlichen Existenz heraus, genauer: der geschichtlich Existierenden.40 Wie Tessitore zu Recht bemerkt hat, handelte es sich, während zuvor der existentielle Charakter der Individualität wohl definiert erschien, bei der unmittelbar darauf folgenden Entwicklung darum, die Dimension ihrer Geschichtlichkeit zu vertiefen, womit Piovani sich an den Historismus annäherte, es sich jedoch zugleich zum Problem machte, zwischen verschiedenen Historismen zu unterscheiden.41 In diese Richtung drängen mit Entschiedenheit bereits seine Untersuchen über Giusnaturalismo ed etica moderna (1961), die zugleich eine historisch-kritische Erforschung der Naturrechtsidee und eine historisch-theoretische Reflexion über die neuzeitliche Ethik ist und durch eine gedrängte Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik abgeschlossen wird, in der eine originelle und fruchtbare Begegnung zwischen ethischem Formalismus und Historismus erkennbar ist. Die eigentliche Bedeutung von Piovanis Kritik am Formalismus von Kants Ethik besteht in der Tat nicht darin, daß dieser eine Neufassung der inhaltsbezogenen Ethik gegenübergestellt würde, sondern ganz im Gegenteil in einem vertiefenden Hinausgehen über sie: Mit dem Formalismus wird die Auffassung abgelehnt, „daß die Werte in einer ihnen eigenen objektiven Realität bestimmt werden können", ohne damit jedoch zu „akzeptieren, daß der Wert eines Verhaltens von der ihm Gültigkeit verleihenden Bestätigung durch ein allgemeines Gesetz abhängig gemacht wird, das jeden menschlichen Impuls in seiner universellen normativen Menschlichkeit vereinheitlicht". Was über den Wert der Handlung entscheidet, ist nicht der Bezug auf das Gesetz oder auf einen objektiv bestimmten Wert, sondern der Grad der Verallgemeinerung, die über die Einzelheit hinausgehende Ausdehnung der Persönlichkeit. Die Handlung hat einen moralischen Wert, indem sie das „ängstliche Bemühen um Allgemeinheit" in einer bestimmten, geschichtlich situierten Gestalt verkörpert. „Eine Ethik [ . . . ] , die im modernen Sinn die Verschiedenheit der individuellen Personen

38 A.a.O., 167. Über die Wichtigkeit der Thematik der Normativität vgl. bes. Giuseppe Cacciatore: La norma come „misura": gnoseologia, etica e storia nella filosofia di Pietro Piovani. In: Difettività e fondamento, hg. von Aldo Masullo (Napoli 1984) 87ff. 39 Vgl. Linee, a.a.O., 275f. 40 Vgl. P. Piovani: Principi di una filosofia della morale (Napoli 1972) 231. In diesem Sinn äußert sich Piovani auch in der von V. Verrà durchgeführten Befragung im Jahr 1972 (Parlano i filosofi italiani. In: Terzoprogramma 32 [1972]): „Die Existenzphilosophie wird dann erneut Aufmerksamkeit verdienen, wenn sie in der Lage sein wird, zu einer Philosophie-der-Existierenden zu werden" (vgl. La filosofia dal '45 ad oggi, hg. von V. Verrà [Torino 1976] 513). 41 Vgl. F. Tessitore, a. a.O., 124.

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respektiert, muß sich darauf beschränken, die Idealität, die in jedem Ideal ist, anzuerkennen sowie dessen Intensität auf der Grundlage seiner geschichtlichen Erscheinungen festzustellen. Solche Erscheinungen schließen aufgrund jener Intensität, die sich in ihnen bezeugt, aus, daß der Mensch von der Geschichte abhängt, indem sie beweisen, daß die Geschichte vom Menschen abhängt". 42 Der Formalismus muß im Licht der an der historischen Erkenntnis gewonnenen Einsicht neu überdacht werden, einer Einsicht, die „in jede Individualität einzudringen vermag" und in jeden Inhalt, sofern dieser verdient, untersucht und rekonstruiert zu werden, gerade weil er „jede Orientierung an Inhalten" ablehnt: „Was immer auch die Gründe sein mögen, welche die Individualitäten dazu treiben, sich in der Realität zu entwickeln", so Piovani in Filosofía e storia delle idee, „die Geschichte würdigt es aufgrund der bildenden Kraft, die sie in ihren Wirklichkeiten offenbart [ . . . ] . Nichts ist so formal wie der Erkenntnishistorismus der Geschichtswissenschaft, der in seinem notwendigen Polymorphismus keine der Formen zurückweist, in denen die Individualitäten sich realisieren, in ihrem Versuch, die Idee, die sie in sich haben, zu realisieren". 43

6. In diesen theoretischen Gesamtrahmen also müssen die Reflexionen eingeordnet werden, die Piovani - insbesondere seit Beginn der sechziger Jahre - zur historischen Erkenntnis entwickelt hat: für ihn die „menschlichste" aller Erkenntnisformen, da „die am wenigsten abstrakte",44 und daher diejenige, die sich am besten zur Erkenntnis der Existierenden eignet. In der „Berufung zur Individuierung", die sowohl das Erkannte als auch den Erkennenden betrifft, liegt für Piovani in der Tat das Spezifische der historischen Erkenntnis, das radikal Neue, das sie in das „System des Erkennens" einbringt.45 Es kann absolut nicht bestritten werden, daß die Geschichte, indem sie den Blick auf die Bedingungen des Lebens richtet, auf die Strukturen und die langzeitigen Prozesse, auf die Vermittlungsformen und die dauerhaften Produkte der menschlichen Tätigkeiten, notwendig dazu gedrängt wird, generalisierende und typisierende Verfahrensweisen anzuwenden, und daß sie sich der Resultate anderer Wissenschaften vom Menschen und von der menschlichen Welt bedienen muß. Jedoch bleiben die spezifische Leistung des historischen Erkennens, das Interesse, das es bewegt, und das Ergebnis, das es anstrebt, an „eine lebendige Erkenntnis des Erlebens eines Lebendigen" gebunden, wie Piovani in Filosofía e storia delle idee (1965) schreibt, in evidenter Übereinstimmung mit Dilthey.46 Ausgehend von der Philologie, die einen ersten Bereich für sie absteckt und die Grundlagen ihrer Wissenschaftlichkeit garantiert, geht die Geschichtswissenschaft über die „vollständige Dokumentation", über die Techniken und die Typen der Interpretation hinaus, um „intuitiv die gesammelten Daten zu beherrschen", um die zu verstehende Individualität in einem existentiellen Akt der Transposition und Reproduktion nachzuerleben.47 Im Gesamt-

42 43 44 45 46 47

Vgl. P. Piovani: Giusnaturalismo ed etica moderna (Bari 1961) 161 ff. P. Piovani: Filosofía e storia delle idee (Bari 1965) 191. Vgl. P. Piovani: Oggettivazione etica e assenzialismo, hg. von F. Tessitore (Napoli 1980) 46, 78. Vgl. Filosofía e storia delle idee, a. a.O., 257. A.a.O., 73. Vgl. Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 229.

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bild eines Erkennens, das in Weiterentwicklung des kantischen Erbes nunmehr „jede Erkenntnisform" als „unlösbar mit der menschlichen erkennenden Subjektivität verbunden" erkennt, 48 verlangt der wissenschaftliche Charakter der Geschichte nicht die Entpersönlichung des erkennenden Subjekts, sondern im Gegenteil eine Ausweitung und Intensivierung des subjektiven Lebens. 49 Wenn der Gegenstand seiner Forschung ein anderes Subjekt ist, eine andere subjektiv lebendige Individualität, „muß die Anziehung, die den Historiker zu seinem Gegenstand hinführt [ . . . ] , immer in einer Fähigkeit aufgehen, die Passion, die der andere [ . . . ] in seiner Lage erlitten hat, selbst zu erleiden".50 Die Reflexion auf das historische Erkennen ist für die Definition der Stellungnahme bezüglich der „Geschichte des Historismus" entscheidend. Diese Geschichte stellt sich für Piovani im wesentlichen als Geschichte zweier antithetischer Auffassungen von Geschichte dar: „die eine wesentlich darauf gerichtet, in der theologisierten Geschichte eine absolute Philosophie zu restaurieren, die andere wesentlich darauf gerichtet, aus der historischen Forschung eine Lehre zu ziehen" und eine „Weltanschauung" zu fördern, die darauf ausgeht, „das Allgemeine in der Konkretheit der lebendigen Individualitäten zu erfassen". 51 Vereinfachend „kann man von der Entgegensetzung eines kritischen und eines absoluten Historismus sprechen" 52 oder auch, indem man ihre Quelle im augustinischen Denken berücksichtigt, von der Gegenüberstellung einer „personalistischen" und einer „universalistischen" Geschichtsauffassung. 53 Nun verbietet gerade die Reflexion auf die historische Erkenntnis - als Erkenntnis individueller Gestalten und ihrer individuierten und bestimmten Relationen und als Erkenntnis, die, im Sinne Augustins, die Wahrheit in inferiore homine sucht 54 - die Übernahme des absoluten Historismus, der mit dem „Bild der Geschichte als Verzeitlichung des ordo rerum [ . . . ] , als Geschichte des Kosmos die traditionelle universelle Ordnung gerade fortführt und nicht zerstört". 55 In dieser impliziten, wenn nicht expliziten - Restauration des Kosmos und des totum erweist sich der absolute Historismus als antihistoristisch, insofern er die Wirklichkeit und den Wert der „Individualität an und für sich" negiert. 56 Bei aller Besorgnis angesichts der

48 49 50 51 52 53 54

Vgl. Filosofia e storia delle idee, a. a. O., 40-43. Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 230, 233. Filosofia e storia delle idee, a. a. O., 69. Vgl. a.a.O., 107. Ebd. Vgl. Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 210f. A. a. O., 110: „In der historischen Erkenntnis, welche die Wahrheit in interiore homine sucht, ist eine naturaliter augustinische Komponente enthalten". 55 Conoscenza storica e coscienza morale, a.a.O., 181. 56 Zur Kritik Piovanis am idealistischen und absoluten Historismus vgl. insbesondere den Aufsatz Totalismo, idealismo, conoscere storico, erschienen 1964 in: De homine und aufgenommen in: Conoscenza storica e coscienza morale, a. a. O., 79-102. „Der Historismus" - schreibt er - „macht sich nur von seiner Zweideutigkeit frei, wenn er sich in seinem wesentlichen Aspekt darstellt, nach welchem er eine neue Wissenschaft des Individuellen ist, eine individualisierende Wissenschaft" (ebd. 91). Gegen den absoluten Historismus, gegen den „Panhistorismus", ist der Historismus für Piovani eine „erfahrende und experimentelle Wissenschaft des Individuellen" (ebd. 100): eine historische Denkweise, die keineswegs beansprucht, das Nicht-Geschichtliche zu historisieren.

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„Anarchie der Überzeugungen" kann der wahre Historismus nicht darauf verzichten, die „verschiedenen und differenzierten Werte [ . . . ] in der vielfältigen Existenz ihres unterschiedlichen Geltens" zu durchdringen und zu achten, er kann nicht der „Geschichtlichkeit" und der „Situationsgebundenheit" der Ideen und Werte seine Anerkennung versagen. 57 Dennoch ist seine Emanzipation von der Unterworfenheit des Menschen „unter einen prästabilierten metaphysischen Maßstab als Norm" keinesfalls gleichbedeutend mit der „Verherrlichung der Anomie", sondern sie führt zur „Suche nach einer Norm, welche die Universalität jedes Individuellen nicht erstickt" und die Gegenwart einer „ultra-partikularistischen" Spannung in der Individualität bezeugt, einer Spannung, die sie als moralisches Subjekt konstituiert. 58 Gerade mit dieser Berufung auf den Wert des existierenden Einzelnen - der mit Kierkegaard nicht singularistisch gedacht ist, sondern als in sich selbst ein Streben danach enthaltend, sich auf das Universelle hin zu transzendieren 59 - ist es nach Piovani möglich, zu einer fruchtbaren Annäherung zwischen historistischen und existentialistischen Positionen zu gelangen. Diese Möglichkeit der Zusammenarbeit wird durch die zentrale Rolle bestätigt, welche die Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Existenz im Denken Heideggers und Jaspers übernommen hat, mit der Mahnung, „den Einzelnen in der Geschichtlichkeit zu sehen, die innere Geschichtlichkeit jeder individuellen Verwirklichung" und den „authentischen Charakter der individuellen Geschichte gegenüber der Universalgeschichte" zu erkennen und damit eine radikale Kritik am absoluten Historismus und seiner Weltgeschichte zu üben. 60 Nur mußte die Existenzphilosophie ihrer ursprünglichen Bestimmung einer Philosophie des Existierenden zugeführt und folglich jeglicher Versuchung entzogen werden, in einen universalistischen Ontologismus und Kosmologismus zurückzufallen. Der „existentielle Historismus" (dies ist die Formel, die Piovani selbst suggeriert hat, um sein Denken zu kennzeichnen 61 ) „darf dem nicht mißtrauen, was an Kierkegaardschem im Denken von Heidegger oder Jaspers enthalten ist". Im Gegenteil muß er „sich mit dem .Einzelnen' Kierkegaards vertraut machen", 62 will sagen, mit dem „empirischen Subjekt", das in seiner originären und originellen Wirklichkeit eingefordert wird, 63 wohl wissend, daß das empirische Individuum nicht der in seiner unmittelbaren und unbedeutenden Singularität eingeschlossene Einzelne ist, sondern das Existierende, das sich von sich aus, aufgrund seiner ureigenen Übernahme der Existenz, der Beziehung zum Anderen und zu den Anderen öffnet, seine Unmittelbarkeit vermittelt, indem es seine bloße Faktizität idealisiert. „In der authentischen Geschichtlichkeit," schreibt Piovani, „die dem Totalismus des absoluten Subjekts

57 58 59 60 61

Vgl. Antirelativismo. In: Posizioni e trasposizioni etiche, a. a.O., 115f. Vgl. Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 237. Vgl. a.a.O., 124 u. 189. Vgl. a.a.O., 108f, 189ff. Vgl. P. Piovani: Befragung. In: La filosofia dal '45 ad oggi, a. a.O., 512: „Dieser existentielle, pluralistische und antimonistische Historismus ist das gerade Gegenteil des absoluten Historismus; er ist ein Gegner jeder theologisch, naturalistisch, logisch oder metaphysisch verabsolutierten Geschichte". 62 Vgl. Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 124. Zu Kierkegaard vgl. auch: Giusnaturalismo ed etica moderna, a.a.O., 156f. 63 Vgl. F. Tessitore: Pietro Piovani (Napoli 1982) 22f.

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feindlich gegenübersteht, offenbart sich der angeblich empirische Charakter des Individuums besser als an irgendeinem anderen Ort als das, was er ist: Verpflichtung und Fähigkeit zum Handeln eines Subjekts unter Subjekten". 64 7. Unter Aufnahme und Weiterentwicklung der Reflexionen, die er in Linee di filosofía del diritto vorgelegt hatte, gibt Piovani in seinem theoretisch reichsten Werk, in Principi di una filosofía della morale (1972), dem kritischen Historismus eine angemessene theoretische Grundlegung in einer Analyse der „existentiellen Erfahrung", die zweifellos auch aus der Daseinsanalytik Heideggers und der Existenzerhellung Jaspers' wertvolle Anregungen in sich aufnimmt (das betrifft die Geworfenheit des Existierenden, die Geschichtlichkeit, das Sein-fiir-den-Tod, das ethos als dem Ort des Menschen, um nur an einige zu erinnern); dabei beabsichtigt er jedoch in keiner Weise, das Risiko einer „Rückführung des Daseins auf das Sein" einzugehen, 65 und darum unterstreicht er die Verbindung zwischen der „psychologischen Vernunft" und der „historischen Vernunft". 66 Gerade die verfeinertste psychoanalytische Erkundung der „Anfänge" des subjektiven Erlebens bis hinein „in die Mäander des Unbewußten" legt die objektive Grenze der Subjektivität offen, die Grenze ihrer Erfahrbarkeit selbst, und bestätigt die Aussage, daß „der Mensch ein Wollendes ist, das sich nicht selbst gewollt hat", daß es einen unerforschlichen „dunklen Grund" des Existierens gibt, ein „Gewolltsein, das, kontrolliert oder ungefesselt, in den Wurzeln eines jeden lebt". 67 Daher ist die menschliche Freiheit, die unter den Bedingungen der Existenz mögliche Freiheit, immer „unreine", begrenzte Freiheit; kein Frei-sein, sondern ein niemals abgeschlossenes „Frei-werden", eine fortgesetzte Erfüllung und Befriedigung eines deesse, einer Abwesenheit, eines Sehnens. 68 Im Empfinden der „Unangemessenheit", der für das Existierende konstitutiven „Abwesenheit", liegt der Ursprung der Geschichtlichkeit des Existierenden, der Impuls, seine unmittelbare Gegebenheit zu transzendieren, indem es sich objektiviert. 69 Auch hier in Übereinstimmung mit der existentialistischen

64 Conoscenza storica e coscienza morale, a.a.O., 165. Hinsichtlich der Beziehungen Piovanis zum Existentialismus sind außer in dem bereits mehrfach zitierten Band von Tessitore zu berücksichtigen: die Bemerkungen in einem Aufsatz von V. Verra (Esistenzialismo, fenomenología, ermeneutica, nichilismo. In: La filosofía italiana dal dopoguerra ad oggi [Roma-Bari 1985] 386f) und die von Pietro Prini, der im vierten Teil seiner kürzlich erschienenen Geschichte des Existentialismus ein Kapitel dem „existentiellen Historismus" Piovanis widmet (P. Prini: Storia dell'esistenzialismo. Da Kierkegaard ad oggi [Roma 1989] 284-291). Spezifischer den Beziehungen Piovanis zu Heidegger und Jaspers gewidmet sind die Seiten 7 7 - 8 4 in Walter Ghia: II pensiero di Pietro Piovani (Genova 1983); hingegen enthält eine Gegenüberstellung mit Heidegger der Aufsatz von Eugenio Mazzarella: Tra Nietzsche e Heidegger: finitudine come valore, ontologia, assiologia. In: L'opera di Pietro Piovani (Napoli 1991) 435ff. Vgl. auch Bruno Maiorca (Hg.): L'esistenzialismo in Italia (Torino 1993) 68f. 65 66 67 68 69

Vgl. Principi, a. a.O., 23-25. A.a.O., 29. A.a.O., 36. Vgl. a.a.O., 48-57. Vgl. a.a.O., 244-246.

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Tradition 70 hebt Piovani mit Nachdruck hervor, daß „das Faktum des strukturellen Koexistierens eine Pflicht zum Koexistieren wird". 71 Im Einverständnis mit Jaspers unterstreicht Piovani die existentielle Wichtigkeit der intersubjektiven Beziehung und der Kommunikation, verbirgt jedoch gleichzeitig nicht, wie kompliziert und prekär diese sind. 72 Aber gerade darin, den koexistentiellen Bezug trotz seiner Schwierigkeit zu wollen, ihn als Pflicht zu wollen, besteht die Moralität des Menschen. Ebenso schwierig und moralisch verpflichtend ist der Prozeß der Herausbildung der Persönlichkeit, die für Piovani, einen tiefen Kenner der psychologischen Theorien der Persönlichkeit, kein Fundament in einer „Ontologie der Person" zuläßt und daher ein empirischer und geschichtlicher Prozeß ist, offen für alle zu seinem Vollzug in verschiedenen und wandelbaren konkreten Situationen erforderlichen Modifikationen und immer der Gefahr ausgesetzt, rückläufig zu werden oder eine Unterbrechung zu erleiden. Die Persönlichkeit dehnt sich aus, indem sie um sich - in der Begegnung mit den anderen - „eine Reihe von Bindungen schafft, die sie objektivieren [ . . . ] . So bilden sich Gewohnheiten und Gebräuche", es bildet sich ein Netz von objektivierten Beziehungen, die Dimension des Gesellschaftlichen, der Institutionen, des Rechts, „das ethos als Prüfstein, nicht für das ursprüngliche Sein, das sich insgeheim enthüllt, sondern für das Existieren, das sich in seinem Werden konkret offenbart", als Ort des „Wert-werdens" jedes Wertes.73 In dieser Perspektive kann die Moralphilosophie nicht umhin, sich zusammen mit dem „historischen Bewußtsein" das Bewußtsein von der Pluralität und Relativität der Weltanschauungen zu eigen zu machen. Der „Relativismus" des kritischen Historismus stellt keine Bedrohung des moralischen Lebens dar, berührt das moralische Bewußtsein nicht, wie sich bereits den von Dilthey, Meinecke und Troeltsch angestellten Reflexionen zur Relativität der Werte in der Geschichte entnehmen läßt. Im Gegenteil erweist es sich als entscheidend für eine kritische Grundlegung der Ethik. Hierzu erscheinen besonders die Forschungen von Troeltsch zu einer ethischen Aufgabe des Historismus bedeutsam, „indem sie in jeder individuierten geschichtlichen Verwirklichung eine menschliche Wertzuweisung an die Geschichte, nicht der Geschichte" erkennt.74 Der von Troeltsch angesichts der nihilistischen Degeneration des Historismus gesuchte „Polarstern" wird im „Streben nach dem Wert" entdeckt, in der für das Bewußtsein konstitutiven Spannung auf die Einheit als Vereinigung hin, auf das Allgemeine als Verallgemeinerung, das heißt, in der Suche nach dem Absoluten im Relativen. Auf diesem Weg begünstigt der kritische Historismus, indem er sich Positionen des Existentialismus und der Anthropologie der neuen Theologie annähert, ein erneuertes Bewußtsein des Menschen von sich selbst, so daß für ihn das „Wesen" nicht länger eine „begrifflich lokalisierbare Größe" ist, sondern sich „in jeder beliebigen Form" offenbart, „in der er bereit ist, sich in der Spannung zu erkennen, in welcher er sich

70 Vgl. z.B. a.a.O., 91f (mit Bezugnahme auf Heidegger) u. 174 (mit Bezugnahme auf Jaspers). 71 A.a.O., 103. Hinsichtlich des Existentialismus akzentuiert Piovani den ethischen Charakter der Koexistentialität, wie V. Verrà richtig beobachtet hat (Esistenzialismo, fenomenologia, a. a.O., 387). 72 Vgl. Principi, a.a.O., 105-107. 73 Vgl. ebd. 137f, 141f, 147-149, 153, 161, 178, 205f. 74 Antirelativismo, a. a.O., 96.

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transzendiert, wobei er sich nie in einem definitiven, vorweisbaren Faktum verwirklicht, sondern in einem komplexen Werden, das in der Realität, in der es sich vollzogen hat, verstanden und durchdrungen werden muß". 75 8. Die Berufung auf die konstitutive Endlichkeit, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit der Existenz, die auf keine Totalisierung zu reduzieren ist, verlagert die Aufmerksamkeit des Denkens von der Fülle des Seins auf das Bewußtsein der Abwesenheit, des Mangels, der Bedürftigkeit. Der Endlichkeit seines Existierens anheimgegeben, erfährt der Mensch, daß er nie ein Sein, ein Bleiben ist, sondern immer ein Werden, ein Seinsentwurf, was in einer bestimmten Situation Entscheidung und Handeln impliziert. Unter diesem Gesichtspunkt reduziert sich seine Geschichtlichkeit nicht auf ein Sein in der Geschichte oder darauf, ein Moment der Geschichte zu sein, sondern sie konstituiert - wie in exemplarischer Weise Bultmann vertritt - „das Wesen des Menschen, der in keinem Jetzt in der Erfüllung seines eigentlichen Seins steht, sondern der immer unterwegs ist, aber nicht dem von ihm unabhängigen Gang der Geschichte ausgeliefert, sondern in jedem Jetzt in der Entscheidung, verantwortlich in Einem für die Vergangenheit und für die Zukunft". 76 Existenz, Moralität, Geschichtlichkeit sind so innerlich miteinander verbunden, in einer Betrachtung der conditio humana, die Piovani von jedem Rückfall in einen ontologistischen Ansatz zu bewahren beabsichtigt und die gerade aufgrund dieser Absicht entscheidende Berührungspunkte mit dem wesentlichen Gehalt des christlichen Denkens findet, nachdem dieses letztere seiner ursprünglichen Erfahrung der Geschichtlichkeit zurückgegeben ist. In der existentiellen und geschichtlichen conditio des Menschen kann nur ein „erniedrigter und unvollkommener Gott" auftreten, „die schmerzerfüllte Gottheit des Unvollkommenen, das der Menschensohn ist".77 So sehr jedoch die Christologie Piovanis sich willentlich auf den Christus patiens einschränken will, auf diesen „Übergang von Gott zu Christus", so führt sie doch eine Möglichkeit der Erlösung der Bestimmtheit, der Endlichkeit, der Unvollkommenheit der Existenz, gewissermaßen eine Anerkennung der „Positivität des Negativen" ein. „Nur das deficere schafft die Spannungen, die das Leben in Bewegung bringen". 78 Damit aber diese Bewegung sein kann, damit die Spannungen sein können, die sie bewirken, ist es notwendig, daß das deficere als solches empfunden wird und im Empfundenwerden das Streben nach dem Fehlenden hervorruft, nach dem, was nicht ist, nach dem, was noch nicht existiert. Die Sehnsucht nach Erfüllung - die Sehnsucht, das zu werden, was sie noch nicht ist, die Protention auf „ein unendlich anderes" hin - gründet die authentische Geschichtlichkeit der Existenz als Feld von Möglichkeiten und Entscheidungen, als Offenheit auf die Zukunft hin, als Ort der Hoffnung. „Das Existierende", schreibt Piovani bedeutsamerweise

75 Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 149f. 76 Rudolf Bultmann: Geschichte und Eschatologie (Tübingen 1964) 172. Vgl. Conoscenza storica e coscienza morale, a.a.O., 191 ff. ; Principi, a.a.O., 271f; Antirelativismo, a.a.O., 116. 77 Vgl. Perfezione e finitudine. In: Posizioni e trasposizioni etiche, a. a. O., 218-233. 78 A.a.O., 222f.

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in den Principi, „realisiert sich nicht in einem Nichts, sondern in einem Mehr. Um es selbst zu werden, muß es [ . . . ] mehr werden, als es bereits ist [ . . . ] . Die Situation, die jetzt und hier besteht, gilt für jeden Menschen, insofern er der Zukunft zugewandt ist [ . . . ] . Der Mensch, der die Dimension der Zukunft verliert, ist zu Tode verwundet, da er in seiner tiefsten menschlichen Qualität getroffen ist": „Das Wesentliche ist nicht das, was nicht ist, sondern das, was noch-nicht-existiert".19

79 Principi, a.a.O., 233f.

GIUSEPPE CACCIATORE

Die „politische" Dimension des problematisch-kritischen Historismus in Italien

1. Seiner inneren Natur nach kann der Historismus nicht unter ein einziges ihn beseelendes Motiv eingeordnet werden, noch ist er auf eine einheitliche Prägung durch eine Schule oder Strömung zurückführbar. Es genügt zum Beispiel ein einziger Blick auf das kulturelle Panorama Italiens, um zumindest drei große Traditionen auszumachen, die für den Historismus des 20. Jahrhunderts kennzeichnend waren: den idealistischen, den marxistischen und den problematisch-kritischen Historismus. Und daß es nicht möglich ist, den Historismus zu betrachten, ohne sich seiner Auffächerung in verschiedene „Dimensionen"1 bewußt zu sein, ergibt sich nicht nur aus der - zugleich theoretischen und historiographischen - Notwendigkeit von Unterscheidungen und unterschiedlichen Begriffsbestimmungen, sondern auch aus der Überlegung, die in keinerlei Widerspruch zur Grundannahme der Mehrdimensionalität steht, daß sich zwischen den verschiedenen Ausrichtungen des Historismus häufig Verflechtungen und Überschneidungen ergeben, sowie in einigen Fällen die Besetzung desselben Territoriums. Nun bildet gerade die Bedeutung der „politischen" Dimension, der Akzent auf dem „politischen Charakter" der menschlichen Tätigkeit in der Geschichte als einem ihrer grundlegenden Merkmale, eines dieser verbindenden Elemente, eines, das mehr als alle anderen und ungeachtet der unterschiedlichen theoretischen und ideellen Optionen an den Fundamenten der verschiedenen Weisen anzusiedeln ist, in denen der italienische Historismus zum Ausdruck gekommen ist. Auf der anderen Seite wird man, wenn man zur ursprünglichen Wurzel des Historismus zurückgeht, rasch entdecken, daß die Theoretisierung der Geschichtlichkeit sich niemals auf eine rein theoretische Vorentscheidung reduziert (selbst da, wo die Geschichtlichkeit ontologische Züge angenommen hat), sondern beständig darum bemüht ist, die konkreten Bewegungen des geschichtlichen Seins des Menschen zu definieren und zu erfassen, in der Wirklichkeit intersubjektiver Beziehungen wie natürlich auch in den Zusammenhängen, in deren Rahmen diese Beziehungen erscheinen: Gesellschaft, Stadt, politisches Handeln, Staat.

1 Dies ist bekanntlich der Titel eines erfolgreichen Buches von Fulvio Tessitore: Dimensioni dello storicismo (Napoli 1971). Darin wird zwar eine gemeinsame historistische .Weltanschauung' herausgearbeitet, die in der „offenen Dialektizität zwischen vis veri und vis facti" besteht, jedoch steht in seinem Mittelpunkt die Überzeugung von der Existenz „vielfältiger Dimensionen", mittels derer diese „Weltanschauung" im Lauf der letzten zwei Jahrhunderte zum Ausdruck gekommen ist.

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2. Es ist also gewiß nicht zufällig, wenn wir das Werk Giambattista Vicos als Morgenröte einer historistischen „Weltanschauung" ansehen können, das - in der einen oder anderen Weise, mit Akzentsetzungen und Anwendungsweisen, die zum Teil auch untereinander in Konflikt stehen - sich wie ein roter Faden durch die gesamte Tradition des italienischen Historismus zieht. Wo der neapolitanische Philosoph eines der grundlegenden Merkmale der „neuen" Wissenschaft bestimmt, auf die seine Forschungen und Überlegungen gerichtet sind, spricht er von einer „rationalen politischen Theologie der Vorsehung": „teologia civile ragionata della provvedenza", deren Ursprung eben in der „gewöhnlichen Weisheit der Gesetzgeber" liege, „welche die Völker gründeten". Mit Vico zeichnet sich jener enge Zusammenhang zwischen Recht, Politik und Geschichte ab, der sich in der Grundlegung einer Philosophie der Autorität"2 überall zeigt und den bewußten Versuch unternimmt, das Grundaxiom der Konversion von verum und factum auf den Zusammenhang zwischen dem formalen Element (dem Naturrecht) und der positiven historischen Gegebenheit (dem positiven Recht) zu übertragen. Eben dieses allgemeine Anliegen, die Bezüge zu ermitteln, die - so könnten wir im Geist Vicos sagen - zwischen Kritik und Topik3 bestehen, wird im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts in den Bearbeitungen der Zusammenhänge zwischen Normativität und Geschichtlichkeit, von Logik und Geschichte, eines der charakteristischen Elemente sein. Die Vernunft ist zwar - nach einem Interpretationsschlüssel, der den Weg einer der Hauptfiguren des „neuen" problematisch-kritischen Historismus vorzeichnen wird 4 - die Suche nach Maßstäben, nach Ursprungsformen der Begriffsbildung, aber sie ist ebenso die Möglichkeit, die Genese der Dinge und ihren beständigen Wandel im Prozeß der geschichtlichen Faktizität zu rekonstruieren. So unterschiedlich auch die strittigen Punkte und hermeneutischen Ansätze zur Frage sind, inwieweit und in welchem Sinn Vico „politisch" war5 (wie weitgehend er an den politischen Konflikten und an dem Rollenwandel der intellektuellen Schichten seiner Zeit beteiligt und interessiert war): Zu einem Punkt läßt sich, so glaube ich, eine fast durchgängige Übereinstimmung feststellen, und zwar darin, daß es zum Wesen der „neuen Wissenschaft" gehört, „politische (civile) Philosophie" zu sein. Ich mache noch einmal von einer wertvollen Anregung Piovanis Gebrauch: „Es wäre allerdings für jedermann schwierig zu behaupten, die Scienza nuova, die Geschichte der menschlichen Ideen, sei nicht in

2 Zu diesem und dem vorangehenden Zitat vgl. Giambattista Vico: La Scienza nuova seconda, hg. von Fausto Nicolini (Bari 1967) § 385f, 150, 151 (dt. Übers, von Vittorio Hösle und Christoph Jermann: Giambattista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker [Hamburg 1990] Bd. 2, 178f). 3 Auch die deutschen Forscher haben auf die Zentralität dieses Themas verwiesen: Vgl. Otto Pöggeler: Vico e l'idea di topica. In: Studi filosofici 1982/83, 65-81: siehe allgemein zu diesem Thema das Buch von Stephan Otto: Giambattista Vico (Stuttgart 1989). 4 Ich beziehe mich auf das Werk von P. Piovani und insbesondere auf sein erstes Buch, das sich durch eine große theoretische Weite auszeichnet: Normatività e Società (Napoli 1949). 5 Problem hat P. Piovani analysiert, wobei er selbstverständlich dazu Stellung nahm: P. Piovani: Della apoliticità e politicità di Vico (1976). Jetzt in P. Piovani: La filosofia nuova di Vico, hg. von F. Tessitore (Napoli 1990) 139-159.

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vielen Hinsichten Geschichte der politischen Ideen: In den politischen Ordnungen der Menschen verwirklichen sich die menschlichen Ideen, indem sie geschichtlich werden". 6 Es ist also nicht zu kühn zu behaupten, daß der „politische Charakter" der historistischen Tradition in Italien gerade in diesem Sinn für die Geschichte wurzelt, der sich in der herausgehobenen Stellung zeigt, die Vico der politischen Philosophie zuweist. „Die Philosophie muß" schreibt der große neapolitanische Philosoph - „um dem Menschengeschlecht zu helfen, den gefallenen und schwachen Menschen aufrichten, nicht seiner Natur Gewalt antun noch ihn in seiner Verderbnis verlassen".7 Daher können in seiner „neuen Wissenschaft" auch nicht „mönchische und ungesellige Philosophen" Platz finden, sondern nur die „politischen", die - obgleich sie nicht aufhören, die primäre Rolle anzuerkennen, welche die Vorsehung spielt - sich der wesentlichen Aufgabe widmen, die in der Mäßigung der Leidenschaften und ihrer Umwandlung in Tugenden besteht. Das „Sollen" der Philosophie muß in der Lage sein, sich mit dem „Sein" der „Gesetzgebung" auszusöhnen. Und wenn die Philosophie demjenigen förderlich sein will, der in der „Republik Piatons" leben will, statt sich im „Schmutz des Romulus" zu wälzen, dann muß die Gesetzgebung auf den „glücklichen politischen Zustand" ausgehen: auf die „civile felicità", muß die Mittel bereitstellen, aus den großen Lastern der Menschheit („aus der Grausamkeit, der Habsucht und dem Ehrgeiz") die „guten Gebräuche" zu machen, „das Militär, den Handel und den Hof'. „Dieser Grundsatz beweist, daß es eine göttliche Vorsehung gibt und daß sie ein göttlicher gesetzgebender Geist ist, der aus den Leidenschaften der Menschen, die alle nur an ihrem Privatnutzen hängen und vermöge jener Leidenschaften wie wilde Bestien in den Einöden leben würden, die politischen Ordnungen hervorgebracht hat, durch die sie in menschlicher Gesellschaft leben können". 8 3. Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen, die ich auch andernorts in einem Aufsatz zur Entwicklung der Vico-Rezeption und -Nachfolge dargelegt habe,9 wird die Entscheidung zugunsten einer Ausrichtung der Geschichtsschreibung deutlich, die darauf ausgeht, den reich gegliederten Gesamtkomplex der italienischen philosophischen Tradition der Alleinherrschaft des idealistischen Modells zu entziehen, indem diese Entscheidung - unbeschadet

6 P. Piovani: a.a.O., 150. 7 G. Vico: a. a.O., § 129, 73 (dt. Übers, a. a.O., Bd. 1, 90f). 8 Zu diesem und den vorangehenden Zitaten vgl. G. Vico: a.a.O., §130-133, 7 3 - 7 4 (dt. Übers. a.a.O., 91f). Die Vico-Studien der letzten 25 Jahre (für die ich auf die vom „Centro di Studi Vichiani" veröffentlichten bibliographischen Übersichten verweise) haben deutlich erwiesen, daß eine Interpretationslinie, welche die politische Dimension der Philosophie Vicos hervortreten läßt, unstreitig Konsistenz besitzt. Ich beziehe mich auf die Forschungen von Badaloni, De Giovanni, Mastellone, Piovani, etc. Vgl. insbes. Giuseppe Giarrizzo: Vico, la politica e la storia (und hier in erster Linie das 2. Kapitel: La politica di Vico, 55ff), in dem die These des Autors hinsichtlich einer „politischen Substanz des Denkens Vicos" konzentriert zur Darstellung gelangt. 9 Vgl. G. Cacciatore: Vichismo e Illuminismo tra Cuoco e Ferrari. In: La tradizione illuminista in Italia, hg. von Piero di Giovanni (Palermo 1986) 43ff.

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der Relevanz und Konsistenz dieses letzteren - die durchaus nicht zweitrangige Rolle anderer Wege bestimmt. Ich denke nämlich an die Tradition der Aufklärung, an die empiristische Tradition und schließlich auch an die des „juristisch-politischen" Historismus, die deutlich durch Vico beeinflußt worden ist.10 So ist es gerade derjenige Historismus, der sich von Vico herleitet, der - insbesondere im Übergang vom „siècle des lumières" zum Jahrhundert des historistischen Bewußtseins - „sich um den Kern der Feststellung des Wahren als Aufdeckung einer den Dingen innewohnenden rationalen Logik verdichtet, die nur in der Geschichte und durch das politische Handeln der menschlichen Geschlechter offenbar werden kann". 11 Es handelt sich also nicht darum zu behaupten (was immerhin auch möglich wäre), es gebe eine „politische Philosophie" des Historismus, die sich völlig gleichberechtigt einer historistischen Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik zur Seite stellen läßt, sondern darum anzuerkennen, daß auf dem Wege der „erkenntnistheoretischen und anthropologischen Revolution", 12 die durch das historische Bewußtsein eingeleitet wurde, die historistische Perspektive dazu gelangt, die bedeutsamen Themen der Anerkennung und des Verstehens des Anderen in den Vordergrund zu stellen, die Themen der Intersubjektivität und der Gemeinsamkeit, des Konfliktes und der Grenze, der Suche nach Formen (Gesellschaft, Staat, Nation, Sitten, Verfassung usw.), durch die hindurch die unendliche Möglichkeit des Lebens, sich zu objektivieren, ihren Ausdruck findet. Es darf daher nicht verwundern, auf dieser - zugleich historiographischen und theoretischen - Interpretationslinie des italienischen Historismus Autoren zu begegnen wie Vincenzo Cuoco und Francesco de Sanctis.13 In einem Autor wie Cuoco zum Beispiel haben wir nicht nur einen Intellektuellen von europäischem Format vor uns (seine Überlegungen kreuzen sich mit denen eines Humboldt und eines Constant), der zur Zeit des entscheidenden Jahrhundertwechsels das Phänomen der französischen Revolution analysiert und ihre Auswirkungen „historisiert", wobei er hochoriginelle Einsichten zur Geschichtlichkeit des Rechtes und der politischen Verfassungen entwickelt.14 In diesen Analysen und in diesen Einsichten sind, wie bereits richtig beobachtet worden ist, über die unmittelbaren und bestimmten politischen Stellungnahmen hinaus auch eindeutige Elemente einer „Bewertung der juristisch-politischen Institutionen in der Konkretheit der geschichtlichen Erfahrung" zu

10 Vgl. F. Tessitore: Momenti del vichismo giuridico-politico tra '700 e '800. In ders.: Comprensione storica e cultura (Napoli 1979) 15-55. 11 Vgl. G. Cacciatore: a. a.O., 46. 12 Ich gebrauche hier bewußt einen Ausdruck, der in den Werken Diltheys stets wiederkehrt. 13 So wird begreiflich, warum diese Autoren gemeinsam mit denen der Tradition des deutschen „Historismus" (von Humboldt bis Droysen, von Dilthey bis Meinecke) in den Mittelpunkt der Studien und Forschungen der neapolitanischen „Schule" des „problematisch-kritischen" Historismus gestellt worden sind. Für die diesbezügliche Bibliographie verweise ich auf F. Tessitore: Introduzione allo storicismo (Roma-Bari 1991) sowie auf G. Cacciatore: Storicismo problematico e metodo critico (Napoli 1993) mit besonderer Berücksichtigung der „Anhänge": 3 4 3 ^ 1 1 ) , sowie auf Giuseppe Cantillo: L'eccedenza del passato. Per uno storicismo esistenziale (Napoli 1993). 14 Hierbei beziehe ich mich natürlich auf den Saggio storico sulla rivoluzione napoletana del 1799 (1806), hg. von Fausto Nicolini (Bari 1929). Nunmehr ist auch ein reprographischer Nachdruck der Erstausgabe (1801-1802) verfügbar, hg. von F. Tessitore (Napoli 1988).

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erkennen. 15 Das politische Urteil über die neapolitanische Revolution von 1799, die Idee der Konstitution als mit dem ethos einer Nation verbunden, die These von den „zwei Völkern" (welche Elemente einer äußerst konkreten geschichtlichen und gesellschaftlichen Analyse der Lage des neapolitanischen Staates einführt), stammen im wesentlichen aus der Fähigkeit, in der konkreten politischen und historiographischen Tätigkeit die Schlüsselelemente eines historistischen Ansatzes freizulegen - eines Ansatzes, der durchaus das Erbe Vicos fruchtbar werden läßt, es jedoch auch erweitert und bereichert. Eindeutig historistisch ist in der Tat die klare Ausrichtung Cuocos darauf, die historisch-politischen Veränderungen von Völkern und Nationen nicht länger im Licht der abstrakten Prinzipien der ratio zu betrachten, sondern im Kontext einer kulturellen Wirklichkeit, in die nicht allein durch Rückgriff auf die Gesetzmäßigkeiten und die Synthesen Einsicht zu gewinnen ist, sondern auch und wesentlich durch die Fähigkeit, die spezifische Natur der Dinge kritisch zu erfassen. Wie man sieht, handelt es sich um die tragende Achse der nicht-metaphysischen Tradition des Historismus: um die Suche nach der offenen Synthese zwischen Einzelnem und Allgemeinem, zwischen der Einzigartigkeit der geschichtlichen Tatsache und den Formen des Verstehens, der Bewertung und des Vergleichs derselben. Was also die „ersten Schritte" der historistischen Tradition in Italien nach Vico charakterisiert, ist ihre Fähigkeit, sich der großen, ganz Europa erfassenden zeitgenössischen Debatte um die Geschichte nicht zu entfremden. Ebensowenig hielt sie sich von den heftigen Auseinandersetzungen fern, die sich in diesem Rahmen entspannen, und zwar um die Ergebnisse des Aufklärungsrationalismus und des kantischen Transzendentalismus einerseits und andererseits um die kritische Reflexion auf die geschichtliche Erfahrung, mit welcher Idealismus und Romantik das neue Jahrhundert einleiteten. Während das „philologische" Interesse an den menschlichen Dingen und ihrer geschichtlichen „Entstehung" unvermindert anhält, zeichnet sich daneben das zentrale Thema der Ideen in der Geschichte ab (was, wenn auch unter anderen Voraussetzungen und mit unterschiedlichen Ergebnissen, Thema sowohl Hegels als auch Humboldts sein wird). „Das Wesen und die Existenz der Dinge", schreibt Cuoco, „kann man nicht anders erkennen und beweisen als mit dem Mittel jener allgemeinen Ideen, die wir ausbilden, indem wir die einzelnen Ideen miteinander vergleichen [ . . . ] . Kurz, es scheint mir, daß das Gefühl recht in uns ist: Wir setzen uns aus uns selbst heraus vermittels des Urteils und der Vernunft; aber wir können weder urteilen noch vernünftig schließen, ohne allgemeine Ideen zu haben". 16 Ein derartiger Ansatz mußte fast notwendig auf eine nicht mehr abstrakte Auffassung von der „politischen Philosophie" selbst hinführen, das heißt auf eine Philosophie, für die man eine Rolle zu definieren versucht, die im Verstehen der Gesetze und ihrer Formulierung besteht: in enger Verbindung mit der historischen Analyse der „Sitten" und der „Bedürfnisse" jener konkreten Wesenheiten, wie es die Völker und Nationen sind. Der „politische Historismus" findet hier zu seinen ersten theoretischen Grundstrukturen, und zwar in dem Augenblick, in dem sich bewußt eine Theorie der Geschichte abzeichnet - und zwar einer

15 Vgl. F. Tessitore: Vincenzo Cuoco tra lluminismo e storicismo (1970). Jetzt in ders.: Storicismo e pensiero politico (Milano-Napoli 1974) 32ff 16 Vincenzo Cuoco: Platone in Italia (1804-1806), hg. von Fausto Nicolini (Bari 1916-1926) Bd. 2, 9.

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Geschichte, die sich der höchst konkreten Welt der Sitten und Bedürfnisse zuwendet, den Zusammenhängen zwischen Individualität, Gesellschaft und Staat. Diese Geschichtstheorie gründet sich auf den entscheidenden Zusammenhang (und auch dieser stammt eindeutig von Vico her) zwischen „Kritik der Tatsachen" und „Wissenschaft des Möglichen". 17

4. Uns jedoch interessiert im gegenwärtigen Zusammenhang nicht so sehr die Nachzeichnung des sozusagen theoretischen und philosophischen Entwicklungsgangs, sondern vielmehr der Aufweis seiner ethischen und politischen Dimension, und damit derjenigen Dimension, die in der allerdeutlichsten Weise die philosophische Kultur Italiens charakterisiert, und zwar sowohl nach ihrer nach-aufklärerischen Seite hin, wo sie zwischen dem Einfluß der französischen „idéologie" und den ersten Anzeichen des positivistischen „Experimentalismus" (von Lomonaco bis Romagnosi, von Cattaneo bis Ferrari) schwankt,18 als auch nach der Seite des nunmehr hereinbrechenden Hegelianismus hin, insbesondere hinsichtlich seines ersten Auftretens, das nicht zufällig mit den politischen Kämpfen zusammenfiel, die durch die demokratische und nationale Revolution des Jahres 1848 eingeleitet wurden. In der Tat wäre der Historismus der neapolitanischen Junghegelianer - von den Brüdern Spaventa bis hin zu De Sanctis und einer großen Zahl von Intellektuellen, die alle von der dumpf antiliberalen Reaktion der bourbonischen Regierung betroffen waren - kaum verständlich, wenn er nicht auch in seiner stark ideologischen Valenz gesehen würde, die zunächst die Annäherung an die Philosophie Hegels als an eine liberale Philosophie des Fortschritts und der Geschichte förderte; allerdings wurde sie nach Erreichung des Ziels der nationalen Einheit auch für fähig erachtet, die wesentlichen Koordinaten einer Begründung des modernen Staates vorzugeben. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die ethisch-politische Orientierung des Historismus eines Francesco De Sanctis exemplarisch: Seiner ideal-realistischen „Reform" der Philosophie Hegels gelang es, die großen Zusammenhänge der Politik, des Lebens und der Wissenschaft in ihrer erkenntnistheoretischen und kulturgeschichtlichen Relevanz zu erfassen (wie die großen Werke zur Geschichte und Kritik der Literatur und der Ästhetik beweisen und ebenso die philosophischen Aufsätze zu Hegel, Schopenhauer und den Zusammenhängen zwischen Wissenschaft und Leben). Darüber hinaus gelangte er jedoch zur Definition einer Methode und eines intellektuellen Entwicklungsganges, die auf ein „moralisches .Risorgimento' der Völker und Nationen" gerichtet war.19 Wie richtig bemerkt worden ist, 20 wird derjenige Hegel, dem sich der große Geschichtsschreiber der italienischen Literatur zuwendet, in fruchtbaren Kontakt mit Vicos Vernunft gebracht - einer

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V. Cuoco: Scritti vari, hg. von Nino Cortese u. Fausto Nicolini (Bari 1924) 303ff. Hierzu sei auf meinen in Anm. 9 genannten Aufsatz verwiesen. Vgl. Fulvio Tessitore: Profilo dello storicismo politico (Torino 1981) 97ff. Hierbei nehme ich wiederum auf eine Anregung Bezug, die der Interpretation Tessitores entnommen ist. Vgl. F. Tessitore: La filosofia di De Sanctis. In: Francesco De Sanctis nella storia della cultura, Bd. 1, (Roma-Bari 1984) 349ff.

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Vernunft, die sich in den Dingen verkörpert. Es ist der Hegel, dessen Panlogismus zurückgewiesen wird, von dem - um ein Bild zu gebrauchen, das in der Geschichte der Interpretationen des Philosophen aus Stuttgart zur Berühmtheit gelangt ist - die Methode übernommen wird, nicht jedoch das System; kurz derjenige Hegel, der „Philosoph der ,Dinge', der ,Lage', der .Eigentümlichkeit' der Menschen in allen Widersprüchen des Lebens" ist.21 Also auch der wesentliche theoretische Kern der Reflexion von De Sanctis - nicht zufällig in seinem größten historiographischen Werk ausgesprochen und durchformuliert 22 - , das heißt die Synthese von Idealem und Realem, ist an dem ideellen roten Faden des kritischen Historismus anzusiedeln, in einer deutlichen Übereinstimmung mit der Debatte um Geschichte und Leben, die in denselben Jahren - wenn auch mit anderen Ergebnissen von Nietzsche und Dilthey geführt wurde. Die Synthese kann nicht länger in einer Versöhnung gesucht werden, die einen der beiden Termini im anderen vernichtet, die Empirie in der Abstraktion oder das abstrakte Wesen in der deterministischen Notwendigkeit der Existenz. Die Synthese ist durch das Leben selbst gegeben, durch die lebendige „Materie", von der die Idealität und die Realität die beiden unaufhebbaren Seiten darstellen. So vollendet und vollkommen eine Wissenschaft in ihren analytischen Fähigkeiten zur Rekonstruktion der Genese und zur Voraussicht auf die Auswirkungen geschichtlicher und gesellschaftlicher Phänomene eines Volkes sein mag, so befriedigende und erschöpfende Geschichtsphilosophien oder Wissenschaften von Staat und Gesellschaft sie hervorbringen mag: Niemals wird sie in der Lage sein, in das Wesen der Geschichte, des Staates und der Gesellschaft einzudringen: „Sie gibt dir" - schreibt De Sanctis - „das Bewußtsein vom Leben, sie gibt dir nicht das Leben; sie gibt dir die Form, sie gibt dir nicht die Materie; sie gibt dir den Geschmack, sie gibt dir nicht die Inspiration; sie gibt dir die Einsicht, sie gibt dir nicht den Genius". 23 Daher muß es nicht als eine hermeneutische Forcierung erscheinen, entlang einer idealen Achse der Kontinuität die durch Vico, Cuoco und De Sanctis repräsentierte Entwicklungslinie eines „problematisch-kritischen" Historismus anzuordnen, 24 in der es zu einer bedeutsamen Konvergenz kommt; hier fließen drei Themenbereiche zusammen: die philosophisch-wissenschaftstheoretische Thematik der Beziehung zwischen geschichtlicher Empirie und den Formen der Erkenntnis, die explizit im Licht

21 Ebd. - Die Texte, auf die Tessitore sich beruft, sind enthalten in Francesco De Sanctis: Opere, Bd. 3, Teilband I, 1436ff, 1644ff, 1655ff. 22 Ich beziehe mich natürlich auf die Storia della letteratura italiana (1870-71). Jetzt in: Opere, Bd. 8 (Torino 1962) 196ff. Die Thematik war, wie Tessitore bemerkt, bereits in den Aufsätzen aus den Fünfziger Jahren gegenwärtig, wo die kritische Vernunft der Geschichte, die „Logik der Geschichte" radikal der „mentalen Logik" des reinen Denkens entgegengesetzt wurde. 23 Francesco De Sanctis: La scienza e la vita (1872). Zitiert nach ders.: Saggi critici, Bd. 3, hg. von Luigi Russo (Bari 1972) 176. 24 Zur begrifflichen und semantischen Genese dieses Terminus ist es natürlich wesentlich, auf den Denker zu verweisen, der als erster in Italien den Unterschied zwischen „kritischem und absolutem Historismus" theoretisiert hat. Ich beziehe mich auf die beiden grundlegenden Werke von Pietro Piovani: Filosofia e storia delle idee (Bari 1965) und Conoscenza storica e coscienza morale (Napoli 1966). Zur Weiterentwicklung dieser Richtung auf historiographischem und theoretischem Gebiet, die sozusagen das Kennzeichen der neapolitanischen „Schule" des Historismus geworden ist, verweise ich auf die bereits in Anm. 12 genannten Beiträge.

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des Kantischen Begriffs der Grenze entwickelte ethisch-philosophische Thematik und schließlich die ethisch-politische Thematik, die tief in den Entwicklungsformen der am weitesten fortgeschrittenen liberal-demokratischen Themen verwurzelt ist, denen es gelingt, in einem unauflöslichen Zusammenhang den Wert der Individualität und den der Gesellschaftlichkeit und intersubjektiven Gemeinsamkeit zusammenzuhalten. De Sanctis konnte behaupten, daß „ein Volk lebt, wenn alle seine moralischen Kräfte unangetastet sind", 25 wobei diese jedoch nicht statisch verharren, sondern im Gegenteil ihre Produktivität umso größer ist, je einschneidender ihre Fähigkeit erscheint, sich mit den Anregungen zu messen, mit dem, was die Grenze darstellt, mit dem, was sie zu orientieren und zu bestimmen vermag. Wenn daher die Wissenschaft immer ihre Grenze im Leben aufzufinden vermag, das heißt, wenn sie sich produktiven moralischen Kräften gegenübersieht, die nicht stolz in der Anbetung des eigenen Erbes verharren, dann kann sie weiterhin „aktives Prinzip" und in der Lage sein, „neue gesellschaftliche Organismen" zu schaffen. „Wo jedoch das Gefühl der Grenze" - schreibt De Sanctis - „abgekühlt ist und die organischen Kräfte schwach geworden sind, ist sie fast zu nichts anderem gut als dazu, dir ein Gefühl deiner Dekadenz zu geben, welche dir die letzten Kräfte nimmt und deine Auflösung beschleunigt". 26 Das Leben ist somit vor allem das geschichtliche und moralische Leben der Völker: Es ist nicht nur aktives Prinzip, das fähig ist, immer wieder neu die Wissenschaft zu regenerieren, in der unendlichen Herausforderung des Intellekts und des Wissens mit seinen Grenzen; sondern es ist dabei auch Prinzip der Freiheit, einer Freiheit, die sich nie auf ihren angeblichen Gewißheiten ausruht, die sich nie der Täuschung hingibt, das Leben dem schicksalhaften Gang der Geschichte zu überlassen, die niemals den Staat „als ein neutrales und heuchlerisches Wesen" betrachtet, „das mehr Zeuge als Akteur ist" und am Ende den tödlichen Mangel an „Initiative und moralischem Mut offenbart, den wir gewöhnt sind, unter der Formel des .laisser faire' und des ,laisser aller' zu verbergen". Der nicht-dogmatische, nicht-absolute, nicht-finalistische Historismus ist fähig zur Kritik an der Wissenschaft in ihrem illusorischen Anspruch, ihren angeblich universellen Gesetzen die unausrottbare Dynamik der Grenze und ihrer Überschreitung zu unterwerfen; er kann und muß jedoch in gleicher Weise in der Lage sein, das Bild einer Wissenschaft zurückzuweisen, die der ebenso illusorischen Überzeugung verfallen ist, eine absolute Freiheit ins Werk zu setzen, die jeder lenkenden und orientierenden Macht unduldsam gegenübersteht: „Die Wissenschaft hat bei uns zwei große Dinge hervorgebracht: die Einheit des Vaterlandes und die Freiheit. Ich sage: die Wissenschaft, weil sie es ist, welche die Spitzen der Gesellschaft erschüttert und in Bewegung gebracht hat, wobei sie die verbleibende Materie galvanisiert und mit sich gezogen hat. Die Einheit des Vaterlandes ist die Konzentrierung aller Kräfte, und die Freiheit ist die Entwicklung derselben gemäß dem Prozeß der Natur und der Geschichte, sie ist ihre Autonomie und Unabhängigkeit". 27 Wie leicht zu sehen ist, tritt an die Seite der philosophisch-epistemologischen Erörterung der Grenzen der Wissenschaft ein Diskurs mit deutlich ethisch-politischem Einschlag.

25 F. De Sanctis: La scienza e la vita, a. a. O., 168. 26 A.a.O., 178. 27 A.a.O., 179-180.

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Der Historismus ist also keine bloß rhetorische Übung, so wenig er ein tautologisches Gedankengespinst über das geschichtliche Wesen des Menschen ist. In seiner problematisch-kritischen Version ist er wesentlich „Wissenschaft von der Grenze", von den Grenzen, die ebenso die Seite der Erkenntnis betreffen (und die auch die Seite der im ausgezeichneten Sinne philosophischen Problematik der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, dem Ich und dem Anderen, dem Ich und der Welt ist), wie auch die Seite der Ethik und Politik. Trotz all denen (und dabei meine ich gewiß nicht die Beobachter aus dem Ausland), welche die italienische Philosophie - und ganz besonders diejenige, welche der historistischen Tradition verbunden ist - als ein provinzielles Exerzitium in der eklektischen Kombination philosophischer Konstruktionen betrachten, die anderswo erdacht wurden und nunmehr in einem dabei auch noch anmaßenden geographischen und kulturellen Randgebiet müde wiederholt werden, kann man nicht unterlassen, auf die Autonomie eines Denkweges zu verweisen, dem es gelingt, die wesentlichen problematischen Kreuzungspunkte zu Tage zu fördern, vor allen anderen denjenigen des Zusammenhangs zwischen Wissenschaft und Leben, der eben nicht nur ein Merkmal der deutschen historistischen Philosophien, beginnend mit Dilthey, werden sollte, aber auch den allgemeineren Problemkontext, in dessen Rahmen in ganz Europa der Begriff des Lebens in seinen ethischen, philosophischen und politischen Implikationen neu gedacht wurde (und hier ist die Bezugnahme auf Nietzsche Pflicht). De Sanctis' Diskurs - der nicht zufällig unter seinen alten, hegelianisch orientierten Freunden große Betroffenheit auslösen sollte - trat mit um nichts geringerer spekulativer Würde den Arbeiten der englischen Theoretiker zur Seite (einer der ersten unter ihnen war John Stuart Mill 28 ), die den Begriff der Freiheit in moderner und den Bedürfnissen der Gesellschaft angemessener Gestalt neu dachten. Während die Genese der europäischen Wissenschaft, beginnend mit der italienischen Renaissance, sich auf die Aufgabe konzentrieren konnte, „die Freiheit" so weit als möglich „gegen die Grenze auszudehnen", ging es für De Sanctis in seiner eigenen Zeit darum, „die Grenze innerhalb der Freiheit" wiederherzustellen.29 Und dieses Werk der Restauration konnte für De Sanctis - der hier auf dem Boden einer autonomen Antizipation einer Thematik steht, die den Entwicklungsgang der Philosophie in der Zeit der bevorstehenden Jahrhundertwende bestimmen sollte - nicht anders geschehen als im Ausgang von der Neuformulierung des anthropologischen und epistemologischen Grundwerts der Erkenntnis. Die Wissenschaft in ihrem allgemeinen Verständnis mußte zuallererst Anthropologie und Psychologie werden, Wissenschaft vom Menschen in seiner psychophysischen Einheit. Für De Sanctis wird daher Machiavelli der Idealtyp des modernen Intellektuellen, des Mannes der Wissenschaft, denn in seinem Werk zeichnet sich der

28 In diesem Zusammenhang sind neben den brieflichen Kontakten auch die Beziehungen fruchtbarer Zusammenarbeit bekannt, die ein weiterer Vertreter der historischen Kultur Italiens mit John Stuart Mill unterhielt: Und zwar handelt es sich um Pasquale Villari, der versuchte, seine vichianische und historistische Bildung mit der positivistischen Methode in Einklang zu bringen. Zur Bedeutung dieses Kontakts und zu seinen Rückwirkungen auf die eigentümliche Auffassung, die Villari nicht nur zur Geschichte vertrat, sondern auch zu einer modernen politischen Revision des Liberalismus, vgl. G. Cacciatore: II dibattito sul metodo della ricerca storica. In: Quaderni dell'Archivio di storia della cultura 3 (1990) 161-244. 29 F. De Sanctis: La scienza e la vita, a. a.O., 184.

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beherrschende Weg ab, dem die Moderne folgen sollte, der zwar durchaus „Rehabilitierung" des irdischen Lebens ist, jedoch vor allem Rekonstruktion des Bewußtseins und Neuschaffung seiner „inneren Kräfte". 30 Aber der Mensch Machiavellis ist auch der Prototyp eines historischen Bewußtseins von den inter-individuellen Beziehungen, die sich in der Forderung nach der Autonomie der Politik nicht anders herausbilden als in der Geschichtlichkeit der Nationen und der Völker. Aber die „Grundlage des Lebens gehört damit dem Wissen an", sie besteht nach wie vor im ,flosce te ipsum":31 das ist die ursprüngliche und grundlegende Wirklichkeit des Menschen und seiner Einsicht, die Machiavelli zu einer wahren Gottheit erhebt. Im Menschen der Moderne, wie er von Machiavelli gezeichnet und intuitiv erfaßt worden war, erkennt De Sanctis die Züge des zentralen Begriffs der Individualität, der dem „neuen" Historismus zugrundeliegt. Das heißt, es handelt sich um eine nicht isolierte Individualität, die nicht als eine absolute, vor oder außerhalb der Gesellschaft existierende Realität verstanden wird, sondern als eine, die rekonstruiert wird, und dies eben auf der Grundlage der Zusammenhänge zwischen den Tatsachen und den Werten der Geschichte (Nationen, Klassen, Freiheit, Vaterland, Gesellschaft) und den Leidenschaften, Kräften, Interessen, welche die Menschheit antreiben - Zusammenhänge, die nur das wissenschaftliche Wissen zu erfassen in der Lage ist. „Der Machiavellismus [ . . . ] ist der als autonomes und sich selbst genügendes Wesen verstandene Mensch, der in seiner Natur seine Ziele und seine Mittel hat, die Entwicklungsgesetze seiner Größe und seines Verfalls, als Mensch und als Gesellschaft. Auf dieser Grundlage erheben sich die Geschichte, die Politik und alle Sozial Wissenschaften [ . . . ] . Hier findet das neuzeitliche Denken seine Grundlage und seine Sprache". 32 Die mögliche, wiedergefundene Harmonie zwischen Leben und Wissenschaft (zwischen Erlebnis und Formen, wie einige Jahrzehnte später der aufmerksamste Teil der europäischen Philosophie hervorheben sollte) muß einen neuen Anfang bei einer einheitlichen Konzeption aller Äußerungen der menschlichen Erfahrung machen, ohne Hierarchien und ohne Bevorzugung der Empirie gegenüber dem Denken und umgekehrt. „Also ist die Wissenschaft nichts anderes als die Rekonstituierung der Grenzen im Bewußtsein, die Rehabilitierung aller Bereiche des Lebens". 33 Ein weiteres Mal ist also der „politische Charakter" des Historismus in seiner umfassendsten Dimension zu verstehen, einer Dimension, die in eben dieser gesuchten Synthese wurzelt, wie sie bereits Vico vorgezeichnet hatte, der Synthese zwischen Erkennen und Tun, in einer Beziehung der Konvertibilität, welche der „Skylla" des absoluten Empirismus ebenso zu entgehen weiß wie der „Charybdis" des absoluten

30 F. De Sanctis: Storia della letteratura italiana ( 1870). Anastatischer Nachdruck, (Napoli 1985) Bd. 2, 111. 31 A.a.O., 122. 32 A. a. O., 152. - Es ist leicht zu ersehen, welche und wie zahlreich Anklänge zwischen De Sanctis' Rekonstruktion der Neuzeit und derjenigen bestehen, die einige Jahrzehnte später Dilthey und Troeltsch erarbeiten sollten. Zu diesem letzten Punkt sei es mir gestattet, auf meine Arbeit über Historismus e mondo moderno: Dilthey e Troeltsch zu verweisen, die in dem Band Storicismo problematico e metodo critico erschienen ist, a.a.O., 177ff. - De Sanctis hatte seine Position zu Machiavelli und die moderne Welt allerdings bereits in einigen Vorträgen aus dem Jahr 1869 dargelegt (jetzt in: Saggi critici, a.a.O., Bd. 2, 349). 33 F. De Sanctis: La scienza e la vita, a. a.O., 185.

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Rationalismus. Daher repräsentiert für De Sanctis Vico, gemeinsam mit Campanella und Bruno, den entscheidenden Punkt der Reifung der „neuen Wissenschaft" vom Menschen, der Reifung jener neuen „idealen ewigen Geschichte", die nichts anderes ist als die „auf alle Einzelgeschichten anwendbare Logik der Geschichte", in welcher die erkennntnistheoretische Revolution des Lockeschen Empirismus in der Geschichtstheorie ihre Vervollständigung findet, das heißt in der Operation, die es dem Intellekt gestattet, die Geschichte zu machen. 34 Und damit ist auch der Höhepunkt der Neuzeit erreicht, die europäische und italienische Revolution, mit Sicherheit die Durchsetzung des Selbstbewußtseins, der Kampf gegen die Ansprüche der Theologie, das Werden der neuzeitlichen Wissenschaften, welche die Tatsachen der Natur im Blick hat und nicht ihre geheimen Kräfte, kurz, es ist „das Offenbarwerden des menschlichen Zeitalters, wie es so bewundernswert von Vico beschrieben wurde". Diese Revolutionierung des Denkens und der Wissenschaft ist jedoch keine leere Theorie geblieben, da sie Ursprung des neuzeitlichen Rechts der Völker geworden ist, auf der Grundlage der neuzeitlichen Form von Volk und Gesellschaft und jenes Freiheitsbegriffs schließlich, wie er sich zu der Menschenrechtserklärung verdichtet hat, zur Erklärung von „Freiheit des Denkens, des Wortes, des Eigentums und der Arbeit, Gleichheit der Rechte und Pflichten". 35

5. Der kritische Historismus erhielt seine theoretische und begriffliche Gestalt in dieser zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und hat seine Wurzeln ebensosehr in der historiographischen Rekonstruktion der Weiterentwicklung des Vichianismus und des süditalienischen Hegelianismus wie in der Rekonstruktion der deutschen „historischen" Philosophie (in der Linie, die, aus dem „heterodoxen Kantianismus" Humboldts und Schleiermachers hervorgehend, sich erfolgreich mit den Inhalten der neuen historistischen Philologie Boeckhs und Niebuhrs mißt und sich schließlich mit dem „Historismus der Historiker" auseinandersetzt, der bei Droysen und Ranke sichtbar wird und in Dilthey, Meinecke und Troeltsch zu seinen reifen Formulierungen gelangt36). Es darf daher nicht verwundern, wenn dieser Historismus erfolgreich war, kohärent eine Dimension des Politischen durchzuhalten, die in engem Zusammenhang mit seinen spekulativen Voraussetzungen steht: einer offenen und nicht finalistischen Konzeption von historischem Prozeß, ethischem Perspektivismus, Individualität und Pluralismus. Daß ich im Zusammenhang der hier dargelegten Überlegungen meine Analyse auf den politischen Charakter des Historismus konzentriert habe, bedeutet durchaus keine Abwertung von Linien anderer Art innerhalb des italienischen Historismus, die ebenfalls stark durch die zentrale Rolle der ethisch-politischen Dimension gekennzeichnet sind. Im Gegenteil gilt diese Dimension in vielfacher Hinsicht als eines der unterscheidenden Merkmale

34 F. De Sanctis: Storia della letteratura italiana, a. a.O., 354. 35 A.a.O., 363-364. 36 Hierbei folge ich der von Fulvio Tessitore: Introduzione allo storicismo, teilung.

a.a.O., vorgeschlagenen Ein-

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sowohl des idealistischen Historismus eines Benedetto Croce als auch des marxistischen Historismus, der von Labriola begründet und dann durch Gramsci und den Gramscismus weiterentwickelt wurde.37 Während also einerseits gerade Croce die Theoretisierung der „ethisch-politischen Geschichte" zu verdanken ist (die zugleich Geschichte der politischen Kultur und der Staaten ist, Geschichte des politischen Lebens und des gesellschaftlichen Lebens des Individuums38), ist Gramsci die Theoretisierung der Partei als des „modernen Fürsten" zu verdanken, jedoch auch die Definitionen des „sozialen Blocks" und der „Hegemonie", die in der Politik der Linken in der Nachkriegszeit ein so großes Gewicht haben werden. Wie leicht zu ersehen ist, schließen auch die anderen Entwicklungslinien des italienischen Historismus die deutliche Tendenz in sich, einen engen Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis aufrechtzuerhalten, zwischen philosophischer Konzeption der Geschichtlichkeit und politischem Handeln. Und dennoch nimmt der Sinn des politischen Charakters gerade im „problematisch-kritischen" Historismus besondere unterscheidende Merkmale gegenüber den anderen Historismen an. Auch wenn es in Croces Historismus nicht an Elementen interner Problematik mangelt (man denke zum Beispiel - auf philosophischer Ebene - an die Fortschreibung einer dramatischen Aporie zwischen dem System der Geistphilosophie und dem Begriff der Vitalität,39 aber auch zwischen dem Begriff des absoluten Historismus und der Kritik an der Geschichtsphilosophie, sowie - auf historischpolitischer Ebene - an eine nie gelöste Spannung zwischen der Politik als eigener Form der geistigen Tätigkeit und dem Liberalismus als metapolitischem Wert40), bleibt doch bei

37 Auf der anderen Seite haben die drei genannten Autoren nicht zufällig auch eine bestimmende „politische" Rolle in der italienischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gespielt. Labriola hat - unter anderem auch dank seiner engen Beziehungen zu den bedeutendsten Theoretikern der deutschen Sozialdemokratie - den historischen Materialismus in Italien eingeführt, wobei er diesen von den evolutionistischen und positivistischen Verkrustungen befreite, hat jedoch auch an den politischen Auseinandersetzungen um die Entstehung politischer Organisationen des italienischen Sozialismus teilgenommen. Gramsci war bekanntlich, bevor ihn der Faschismus zum Schweigen brachte und in den Kerker einschloß, in dem er die wesentlichen Punkte seiner historistischen Philosophie der Praxis ausgearbeitet hat, Gründer der kommunistischen Partei Italiens. Croce schließlich fielen - trotz seines Sträubens und des geringen Enthusiasmus, mit dem er zeitweilig seine geliebte Forschung zurückstellte - politische Funktionen zu, die durchaus nicht zweitrangiger Natur waren: Er war zunächst Minister für das Unterrichtswesen in den präfaschistischen liberalen Regierungen, danach unter den unbeugsamsten Anregern und treibenden Kräften des Antifaschismus und schließlich unmittelbar nach dem Sturz Mussolinis wiederum Minister und auch Vorsitzender der liberalen Partei. 38 Das Thema ist in beeindruckendem Umfang von der Sekundärliteratur behandelt worden, so daß es an dieser Stelle nicht möglich ist, von ihr Rechenschaft zu geben. Ich gestatte mir daher, auf Analyse und bibliographische Angaben in meinem kürzlich erschienenen Aufsatz zu verweisen: Storia etico-politica e storia della cultura in Benedetto Croce, erschienen in dem Sammelband Croce quarant' anni dopo (Pescara 1993) 221-238. 39 Auch hinsichtlich dieses Aspekts verweise ich auf einen Beitrag von mir: II concetto di vita in Croce. In: Croce e Gentile fra tradizione nazionale e filosofia europea, hg. von Michele Ciliberto (Roma 1993) 145-180. 40 Auch dieses Thema habe ich in einem Aufsatz diskutiert: L'utopia liberale di Benedetto Croce. Un contributo alla discussione su etica e politica nella crisi del mondo contemporneo. In „Discorsi" 3 (1983) Heft I, 68-93.

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Croce der Grundcharakter eines kohärent idealistischen Ansatzes bestehen, der ihn dazu treibt, die Identifizierung der Geschichte mit dem Akt des Denkens selbst niemals zurückzunehmen. Wenn der problematisch-kritischen Historismus - getreu den leitenden Prinzipien des Historismus - sich in erster Linie als „modernes Projekt der Kritik jeder metaphysischen Geschichtsphilosophie" 41 darstellt, ist es unvermeidlich, eine Konzeption der „Geschichtlichkeit als logisches Prinzip und Philosophie" von einer Konzeption zu trennen, welche „die geschichtliche Welt des Menschen in anti-metaphysischer und anti-ontologischer Ausrichtung betrachtet und die Themen der Sprache, des Verstehens und der Kultur in den Mittelpunkt stellt". 42 Auch dem italienischen Historismus marxistischer Färbung fehlen nicht die Elemente innerer Konfliktualität und auch nicht die Entschlossenheit, die dogmatischsten und am stärksten finalistischen Aspekte des scholastischen Marxismus zu revidieren. Dies zeigen die Konzeption der Geschichte als eines tendenziell offenen Prozesses und der von Labriola erarbeitete Begriff des „kritischen Kommunismus", 43 und bei Gramsci zeigen es die originellen Versuche einer Überwindung der starren dogmatischen und ökonomistischen Züge des Kommunismus der Dritten Internationale, ein Unternehmen, zu dem Gramsci gerade durch seine eigentümliche historistische Bildung befähigt war.44 Jedoch auch gegenüber dieser weiteren Dimension des Historismus ist die Distanz hervorzuheben, die eine Auffassung, die in das noch nicht gelöste ideologische Band zwischen determinierter Geschichtlichkeit und politisch-ideologischem Finalismus verstrickt ist - in das Band zwischen wissenschaftlicher Analyse der Bedingungen und Prophetismus des letzten Ziels - , von einer pluralistischen und perspektivischen Anschauung trennt, die den nie vollkommen zu erschöpfenden Sinn der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Schöpfungen gerade in eine konstitutive und niemals abgeschlossene Spannung zwischen Einzelheit und Allgemeinheit setzt.

6. Wie der bedeutendste italienische Theoretiker des „problematisch-kritischen" Historismus Pietro Piovani - einleuchtend vertreten hat, verläuft die Grenzlinie zwischen absolutem und substantialistischem Historismus einerseits und antiuniversalistischem und antimetaphysischem Universalismus andererseits zuallererst zwischen einer Neuauflage des „Monismus" (wie er auch in einigen Formen von totalistischem Historismus oder Geschichtstheologie restauriert worden ist) und der Anerkennung des „Pluralismus". „Im 19. und 20 Jahrhun-

41 Vgl. G. Cacciatore: Storicismo problematico e metodo critico, a. a.O., 399. 42 Ebd. - Vgl. jedoch auch die überzeugenden Seiten, die Tessitore der Unterscheidung zwischen den verschiedenen „Genalogien" des Historismus widmet: F. Tessitore: Introduzione allo storicismo, a.a.O., 9ff. 43 Mit diesen Themen habe ich mich bereits in einem Aufsatz auseinandergesetzt: Crisi e attualità del marxismo nel pensiero di Labriola. In: Bollettino della Società filosofica italiana, 129 (1986) 13-36. 44 Hier gebe ich in extrem geraffter Form die Analysen und Beobachtungen wieder, die ich andernorts vorgelegt habe. Giuseppe Cacciatore: Il Marx di Gramsci. Per una rilettura del nesso etica-politica nel marxismo. In: Marx e i marxismi cent'anni dopo, hg. von G. Cacciatore u. Fabrizio Lomonaco (Napoli 1987) 259-301. Ders.: Alcuni spunti su Gramsci teorico della politica. In: Studi critici 2 (1992) Nr.1-2, 25-32.

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dert", schreibt Piovani in einer der zentralen Passagen seiner theoretischen Reflexion, „ist die Geschichte des Historismus im Grunde die Geschichte des Gegensatzes zwischen zwei historistischen Auffassungen, die - so nahe sie einander in einigen Zügen scheinen mögen eine Antithese bilden: die eine wesentlich darauf gerichtet, in der theologisierten Geschichte eine absolute und universalistische Philosophie zu restaurieren, die andere wesentlich darauf gerichtet, aus der Geschichtsforschung die Lehre zu ziehen, die historische Erkenntnis in den Dienst der Bewegung der Philosophie zu stellen, einer Bewegung auf Erkenntnisse hin, die das Allgemeine in der Konkretheit der lebendigen Individualitäten zu erfassen bemüht ist [ . . . ] . Um den Charakter dieses Gegensatzes kurz zu bezeichnen, kann man von der Entgegensetzung eines kritischen und eines absoluten Historismus sprechen. Ein althistoristischer Absolutismus will an die Stelle eines bloß logisch-ethischen Monismus einen erkenntnistheoretisch-ahistorischen Monismus setzen, während ein neuhistoristischer Problematizismus im Dienst der Sache des zu Ende gedachten philosophischen Pluralismus steht". 45 Ich habe diesen langen Text zitiert, weil mir scheint, daß darin die Schlüsselbegriffe des problematischen Historismus kondensiert sind, eines Historismus, der - wie Tessitore treffend beobachtet hat - sich rückhaltlos mit dem Relativismus messen will, der sich mit den durchdachtesten Ergebnissen der existenzialistischen Philosophien auseinanderzusetzen versteht, kurz, der sich entschließt, sich dem Existieren als vom Sein verschieden und ihm entgegengesetzt" 46 zuzuwenden. Und diese Schlüsselbegriffe sind benennbar: der kritische Begriff von Geschichtlichkeit, nicht nur als Form der Vergeschichtlichung des Denkens und der Ideen verstanden, sondern auch im eigentlichen Sinne als „erkenntnistheoretische Revolution" des Menschen der Gegenwart, sowie der Begriff der Individualität und der Auffindung ihrer Grenze in der geschichtlich verstandenen Universalität der ethischen Norm einerseits in den geschichtlichen und gesellschaftlichen Bestimmtheiten der Neuzeit andererseits. Auf der Grundlage dieser Schlüsselbegriffe sind die daraus folgenden Momente leicht erkennbar, in denen die Prinzipien des „problematisch-kritischen" Historismus sich niederschlagen, und zwar nicht nur in einer eigentümlichen und unverwechselbaren Auffassung vom Politischen als privilegiertem Ausdruck der geschichtlich-praktischen Erfahrung des menschlichen Lebens, sondern auch in einer spezifischen ideellen, ethischen und politischen Option. Wenn im Mittelpunkt des Problemhorizonts des Historismus - wie ein weiterer Piovani-Forscher erkannt hat 47 - das freie und pluralistische Zusammenwirken der Individualitäten an der Bildung der geschichtlichen Wirklichkeit des Allgemeinwillens steht, dann steht außer Zweifel, daß das „politisch angemessene Modell" kein anderes sein kann als das der liberalen Demokratie. Nur in ihr kann in der Tat die Spannung Raum finden, die sich in

45 P. Piovani: Filosofia e storia delle idee, a. a.O., 106-107. Auch in diesem Zusammenhang sei mir gestattet, auf eine Untersuchung von mir zu verweisen: Storicità e Historismus. In: L'opera di Pietro Piovani (Napoli 1991) 347-398. 46 Vgl. F. Tessitore: Tra esistenzialismo e storicismo: la filosofia morale di Pietro Piovani (Napoli 1974) 117. Zum „existenzialistischen" Einschlag des Historismus bei Piovani s. jedoch auch G. Cantillo: Lo storicismo morale di Pietro Piovani. In: Ders.: L'eccedenza del passato, a. a.O., 311-374. 47 Ich beziehe mich auf Giuliano Marini: Il diritto come attività. In: L'opera di Pietro Piovani, a. a.O., 95.

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konstitutiver Weise z w i s c h e n Normativität und Geschichtlichkeit auftut, das heißt z w i s c h e n der notwendigen Verallgemeinerung der juristischen und politischen Ordnungen und d e m Handeln v o n in ihrer pluralistischen Selbstartikulation geschützten geschichtlich-gesellschaftlichen Individualitäten. In diesem Sinn war es möglich, daß von Pietro Piovani als v o n e i n e m „Zeugen der Liberal-Demokratie" gesprochen wurde, 4 8 jener besonderen Ausdrucksform des Zusammenhangs z w i s c h e n Theorie und Praxis, Normativität und Geschichtlichkeit, der e s gelingt, die g e m e i n s a m e Artikulierung der kritischen philosophischen Einstellung

( i m Sinne der erkenntnistheoretischen

und anthropologischen A u f f a s s u n g

vom

Verhältnis z w i s c h e n Individualität und Alterität), der ethischen Überzeugung (im Sinne der Verantwortungs- und Pflichtethik) und eines pluralistisch und laizistisch geprägten politischen E m p f i n d e n s (das heißt, die Verbindung zwischen d e m Freiheitsprinzip und den Inhalten der demokratischen Rechte) in ihrer Gesamtheit festzuhalten. Was hervorzuheben mir j e d o c h an d i e s e m Ort besonders am Herzen liegt, ist nicht so sehr der Inhalt einiger präziser politisch-ideeller Optionen, auch w e n n die Hauptvertreter des problematisch-kritischen Historismus diese durchaus in Schriften und Aufsätzen s o w o h l historiographischer als auch theoretischer Art z u m Ausdruck gebracht haben, 4 9 sondern noch einmal - der innere Zusammenhang z w i s c h e n den Voraussetzungen der philosophischen Anthropologie des problematisch-kritischen Historismus und einer eigentümlichen Anschauung der politischen Philosophie, w e l c h e die Werte und selbst die Bedeutungen ihrer relationistischen, pluralistischen und liberal-demokratischen Grundanlage auf die

48 So lautet der Titel eines Aufsatzes, den Giuseppe Galasso Piovani gewidmet hat, ebenfalls abgedruckt in: L'opera di Pietro Piovani, a.a.O., 145ff. Im selben Band ist auch die vorzügliche und erschöpfende Rekonstruktion von Antonio Zanfarino nachzulesen: La filosofia politica, 117-141. 49 Ich beschränke mich hier auf einige wenige Beispiele. P. Piovani: Momenti della filosofia giuridicopolitica italiana (Milano 1955); dieser Band enthält u.a. Aufsätze über den Liberalismus Moscas und den „Risorgimento-Sozialismus" Rosminis. Ders.: Il liberalismo di Rosmini. In: Studi politici, 4 (1959) Heft 4, 396—404. Ders.: L'evoluzione liberale. In: Biblioteca della libertà (1968). Ders.: Da un temporalismo all'altro. In: Un secolo da Porta Pia (Napoli 1970). Ders.: Gobetti e Mazzini. In: Critica sociale 64 (1972) Nr. 4-6. Darüber hinaus ist das ungeheure Material zu berücksichtigen, das in den Mitteilungen und Rezensionen enthalten ist, die Piovani zwei Jahrzehnte lang für das Giornale critico della filosofia italiana verfaßt hat und die jetzt zugänglich sind in dem Band: Scandagli critici, mit einer Einleitung von Giuseppe Galasso (Napoli 1986). Man vgl. schließlich F. Tessitore: Lo storicismo giuridico-politico di Vincenzo Cuoco (Torino 1961). Ders.: Crisi e trasformazione dello Stato (Napoli 1963, Milano 1988). Ders.: I fondamenti della filosofia politica di Humboldt (Napoli 1964). Ders.: Lo storicismo di V.Cuoco (Napoli 1965). Ders.: Storicismo e pensiero politico, a.a.O. Ders.: Profilo dello storicismo politico, a. a.O. Ders.: Liberalismo come utopia. In: Rivista di studi salernitani, 2 (1969) Nr. 3, 9-22. Ders.: Il liberalismo in un mondo in trasformazione. In: Nuova Antologia 107 (1972) Bd. 516, 312-321. Ders.: Mazzini e Pisacane nell'interpretazione di Nello Rosselli. In: Atti dell'Accademia di Scienze morali e politiche 83 (Napoli 1972) 67-82. Ders.: Per il centenario di Mazzini. In: Nuova Antologia, 110 (1975) Bd. 532, 225-338. Ders.: L'etica della responsabilità e la responsabilità della politica. In: Scritti in onore di Nicola Petruzzellis (Napoli 1978) 343-349. Ders.: Cultura liberal-democratica e società di massa. In: Prospettive Settanta, 5 (1983) Heft 3, 243-250. Ders.: Minghetti, Spaventa, De Sanctis: le trasformazioni del liberalismo. In: M.Minghetti statista e pensatore politico (Bologna 1988) 47-66. Auch hinsichtlich Tessitore sind die äußerst zahlreichen Rezensionen, Übersichten und journalistischen Beiträge zu berücksichtigen, die jetzt in den beiden Bänden Letture quotidiane (Napoli 1989) gesammelt vorliegen.

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„offene", kritische und „humanologische" Auffassung der Geschichtlichkeit gründet. „Die Geschichte, der nichts Menschliches fremd ist", schreibt Piovani, „erzieht mehr als jede andere Erkenntniserfahrung zur Freiheit, nicht weil sie bereit wäre, den optimistischen Haltungen Vorschub zu leisten, die auf eine Freiheit vertrauen, die sich - theologisch - in der Ewigkeit als Siegerin erweist, sondern weil sie an die Berücksichtigung des Verschiedenen und Vielfältigen gewöhnt [ . . . ] , das heißt: dazu antreibt, den Polymorphismus zu verstehen, der in der Pluralität der Existenzen erkannt wird, und damit von dem tendenziellen Alleinherrschaftsanspruch der inhaltlichen Einheit befreit, welcher zum Gleichförmigen und zur Uniformierung verleitet".50 Auch das vom Wesen des Menschen selbst untrennbare Streben nach einem ethischen Universalismus läßt sich nur auf eine geschichtliche Betrachtungsweise der Individualität gründen, die immer dazu vordringt, im offenen Raum der Spannung von Relativität und Absolutheit ihr Maß und ihre Bewährung zu finden, zwischen dem Formalismus des Sollens und der Geschichtlichkeit des Rechts, zwischen dem Freiheitsprinzip und dem Ereignis der geschichtlichen Objektivierungen des menschlichen Handelns. Aus diesem Grund ist die Aufmerksamkeit, mit der sich der kritische Historismus der Neuzeit zuwendet, gerade im Ausgang von dem Bewußtsein seines nie vollends angeeigneten Erbes zu verstehen: Pluralismus, Gesellschaftlichkeit, Rechtsstaat. Und aus eben diesem Grund muß sich für Piovani und seine Schüler nicht allein der Historismus, sondern auch der Liberalismus, wenn er sich definitiv als kohärenten Ausdruck der antimetaphysischen und antisubstantialistischen Revolution der Moderne in Vorschlag bringen will, bewußt in der Form einer kritischen und problemorientierten Einstellung präsentieren. Es gibt einen emblematischen Satz von Piovani, der in bewunderungswürdiger Weise den Sinn seines Liberalismus in sich schließt: „Der Liberalismus kann wirklich sein, wenn Ideen und Menschen ihn zu wollen verstehen, aber er ist noch nicht dagewesen". 51 Daher kann der Liberalismus nicht als ein abstraktes Prinzip verstanden werden, das sich nicht an den „Fragen, Strukturen, Bedürfnissen der gesellschaftlichen Erfahrung zu messen weiß". 52 Deshalb schließt der Liberalismus, an dem sich der problematisch-kritische Historismus orientiert, nicht nur die Inhalte der Gesellschaftspolitik nicht aus, sondern in seiner Kritik - sowohl an den Exzessen des Liberismus als auch an den totalitären und kollektivistischen Extremismen des Sozialismus - setzt er sich bewußt als eine reale Brücke der Verbindung zwischen demokratischem Sozialismus und liberaler Demokratie. Bereits gegen Ende der Sechziger Jahre verwies Piovani - mit der Fähigkeit, zukünftige Schauplätze vorwegzunehmen, die heute vernünftig und auch evident erscheinen - auf die liberaldemokratische „Methode" als das Mittel der „Gewissensprüfung", der sich der Sozialismus unterziehen müsse. „Dem Sozialismus ist es zugefallen", schreibt Piovani, „den Massen, wenn auch nicht Orientierungen, so doch Mythen zu geben. Zu seiner Entmythisierung wird er dem fruchtbaren Antagonismus und dem dialektischen Bündnis mit dem Liberalismus nicht ausweichen können. Damit dies jedoch geschieht, wird der Liberalismus reifen und sich erneuern müssen". 53

50 51 52 53

P. Piovani: Conoscenza storica e coscienza morale, a. a.O., 235. Vgl. P. Piovani: L'evoluzione liberale, a. a.O., 52. A.a.O., 50. A.a.O., 57.

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So gelangt auch Tessitore in seiner Diskussion des Liberalismus und der „offenen Gesellschaft" bewußt zu einer Anschauung von der Demokratie, der es gelingt, nicht nur die „meta-politische" Dimension des Liberalismus und die Geschichtlichkeit des demokratischen und sozialen Gehalts des modernen Rechtsstaats zusammenzuhalten, sondern auch die grundlegende Lehre des Historismus kohärent umzusetzen: „Angesichts neuer .Definitionen' der Demokratie [ . . . ] wird deutlich, daß die Gesellschaft von heute nicht fortfahren kann, sich mit der Entscheidung zwischen öffentlicher und privater Freiheit abzumühen, sondern sich - da beide als unverzichtbar erobert sind - nur im wahren und ungeheuchelten Respekt der Koexistenz zwischen gesellschaftlicher Kohäsion und individueller Initiative verwirklichen kann".54

7. Ich bin ans Ende dieser Übersicht gelangt, die zweifellos fragmentarisch und unvollständig ist. Sie verfolgte das Ziel, gleichzeitig die theoretischen Grundlinien, die kulturgeschichtliche Genese und die eigentümliche praktisch-politische Dimension der Sichtweise desjenigen italienischen Historismus der zweiten Jahrhunderthälfte zu erhellen, der als „problematisch-kritisch" bezeichnet worden ist. Mir scheint die Hypothese als völlig bestätigt, von der wir anfänglich ausgegangen sind: Wenn der Historismus grundsätzlich Bestimmung einer Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Individualität bleibt, wobei letztere nicht in ihrer isolierten Vereinzelung verstanden, sondern in der gesellschaftlichen und intersubjektiven Gemeinsamkeit erfahren wird, und wenn dieser Historismus sich weiterhin an einem philosophischen, anthropologischen und erkenntnistheoretischen Begriff der „Grenze" orientiert, dann kann mit gutem Recht behauptet werden, daß er „wahrhaft an das .politische' und nicht an das .mönchische' Wesen des Menschen gebunden ist. So war es an seinen Ursprüngen; so war es auch in seiner Entwicklung, auch da, wo er der einen oder anderen totalistischen oder dieser entgegengesetzten relativistischen Versuchung erlegen und so sich selbst untreu geworden ist; so ist es in seiner verjüngten kritischen, problematischen relationistischen Vitalität".55 Diese Worte wurden im bereits fernen Jahr 1972 geschrieben. Heute, in der Rückschau nach über zwanzig Jahren, nach den kurzlebigen Erfolgen so vieler Neo-Strukturalismen, Neo-Dezisionismen, Neo-Marxismen und Neo-Liberismen und angesichts einer tiefen Krise der Vernunftformen und selbst der Wurzeln der fortgeschrittensten europäischen Menschheit, wird die Notwendigkeit aufs neue fühlbar und auch dringlich, das Band wiederzuentdecken und auch zu erneuern, das den kritischen Historismus an die liberal-demokratische Anschauung von Geschichte und Gesellschaft bindet. Der Historismus als offene und problematische Sicht des Lebens, jedoch auch als Gewöhnung an die kritisch-historische Methode, kann diejenigen Begrifflichkeiten und Lebensmodelle wieder ins Spiel bringen, denen zuzutrauen ist, daß sie die möglichen produktiven und innovatorischen Wege am Ende einer Epoche und aus der Krise der Modernität hinaus zeigen: das Freiheitsprinzip,

54 Vgl. F. Tessitore: Liberalismo come utopia. In: Ders.: Storicismo e pensiero politico, a. a. O., 278. 55 Vgl. F. Tessitore: Profilo dello storicismo politico, a. a.O., 3.

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den Sinn für die Individualität, die Kritik an singularistischen wie egalitären Abstraktionen, den Sinn für die Alterität und die Anerkennung der Grenze des Verschiedenen, das Bewußtsein von den wechselseitigen Beziehungen zwischen politischen Ordnungen und den Bedürfnissen der Einzelnen und einzelner sozialer Schichten. Damit kann die Leistung einer historischen und ethisch-politischen Vernunftkritik in erneuerter Form vorgeschlagen werden, unter einer Voraussetzung: Es muß das Bewußtsein davon gegeben sein, daß die Vernunft und das Leben des Menschen ohne kritische und problematische Einstellung sich auf die Dauer nicht der stets drohenden Pervertierung der philosophischen Götzenbilder und dem trügerischen Zauber der ideologischen Kurzschlüsse werden entziehen können. 56

56 In diesen Schlußworten nehme ich einige Überlegungen auf, die ich in der Einleitung zu meinem letzten Buch entwickelt habe: Storicismo problematico e metodo critico, a. a. O., 12ff.

GEORG G . IGGERS

Historismus - Geschichte und Bedeutung eines Begriffs. Eine kritische Übersicht der neuesten Literatur*

In den letzten Jahren ist in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Italien eine beträchtliche Zahl von Büchern und Artikeln über das Thema Historismus erschienen. Es gibt jedoch in dieser Literatur keine Übereinstimmung über die Bedeutung dieses Begriffs. 1 So sind drei sehr verschiedene Diskussionen gleichzeitig geführt worden, die alle verschiedenen Themen galten und sich nur selten überschnitten. Einige Beiträge haben die sog. „Krise des Historismus" im Rahmen des intellektuellen Klimas des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts behandelt. Hier wurde der Historismus mit dem Relativismus gleichgesetzt, mit dem Verlust des Glaubens an die Werte der modernen westlichen Kultur. Dieser Relativismus ist als ein bleibender Aspekt des intellektuellen Lebens unter den Bedingungen der modernen Welt betrachtet worden. Eine gänzlich andere Literatur hat den Historismus viel enger mit der historiographischen Sicht und den Praktiken der geisteswissenschaftlichen Forschung des 19. und - bis zu einem bestimmten Punkt - des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt. Schließlich ist der Begriff „New Historicism" neuerdings von Literatur- und Kulturhistorikern in Amerika in einem noch anderen Kontext verwendet worden. In diesem Aufsatz werde ich mich auf eine Untersuchung der Literatur beschränken, die die ersten zwei Verwendungen des Begriffs aufweisen.

* Dieser Beitrag ist die Übersetzung einer überarbeiteten Fassung eines Aufsatzes, der unter dem Titel „Historicism: The History and Meaning of the Term" im Journal of the History f Ideas (56 [1995] 129-152) erschien. 1 Zur Geschichte des Begriffs siehe Dwight E. Lee, Robert N. Beck: The Meaning of „Historicism". In: American Historical Review 59 (1953-54) 568-577; Erich Rothacker: Das Wort „Historizismus". In: Zeitschrift für deutsche Wortforschung 16 (1960) 3-6; Carlo Antoni: Dallo storicismo alla sociologica (Firenze 1940); ders.: Lo storicismo (Torino 2 1968); B. A. Grushin: Historicism. In: Great Soviet Encyclopedia, a translation of the Third Edition, 10 (New York 1970) 88-89; Donald R. Kelley: Foundations of Modern Scholarship. Language, Law, and History in the French Renaissance (New York 1970); Maurice Mandelbaum: History, Man, & Reason. A Study in Nineteenth-Century Thought (Baltimore 1971) bes. 4 1 - 1 4 0 ; Georg G. Iggers: Historcism. In: Dictionary of the History of Ideas 2 (New York 1973) 4 5 6 - 4 6 4 ; Otto Gerhard Oexle: „Historismus". Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs. In: Jahrbuch, Braunschweigische wissenschaftliche Gesellschaft (1986) 119-155.

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1. Die Geschichte des Begriffs Die erste Verwendung des Begriffs „Historismus" erscheint, wie ich entdecken konnte, in einer Reihe von fragmentarischen Anmerkungen über Philologie, die Friedrich Schlegel 1797 niederschrieb. Hier besitzt der Begriff schon etwas von seiner späteren Bedeutung. Für Schlegel hatte „Winkelmanns [sie!] Historismus" eine „neue Epoche" in der Philosophie eingeläutet, indem er „den unermeßlichen Unterschied" und „das völlig einzigartige Wesen der Antike" erkannte. Im Gegensatz zu Winckelmann habe die „Popularphilosophie" des 18. Jahrhunderts den Charakter der Antike verfälscht, indem sie ihr philosophische Ideen überstülpte. Schlegel warnt vor einer „theoretischen, aber unhistorischen Ansicht [ . . . ] ohne alle persönliche Indikazionen"[sic!].2 Im darauf folgenden Jahr gebrauchte Novalis den Begriff Historismus im Zusammenhang einer sehr gemischten Aufzählung von Methoden (Fichtes, Kants, chemische, mathematische, künstlerische, usw.), ohne ihm jedoch eine klare Bedeutung zuzuschreiben.3 Der Begriff Historismus wurde dann gelegentlich in Deutschland in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts z. B. von Ludwig Feuerbach,4 Chr. J. Braniß,51. H. Fichte 6 (J. G. Fichtes Sohn) und Carl Prantl7 gebraucht, und zwar in einer von Schlegels Verwendung nicht sehr verschiedenen Bedeutung. Historismus bedeutete eine historische Ausrichtung, welche die Individualität in ihrer „konkreten Zeit und Räumlichkeit" (Prantl) erkannte, wie sie z. B. von der Historischen Rechtsschule (Savigny, Eichhorn) vertreten wurde und wie sie sich sowohl vom an Fakten orientierten Empirismus unterschied als auch von der systembildenden Philosophie Hegelscher Provenienz (Haym),8 welche die Tatsachen ignorierte. 1879 sah Karl Werner in seinem Buch über Giambattista Vico9 den Kern der historischen Sicht in Vicos Gedanken, daß der menschliche Geist keine andere Realität als die Geschichte kenne, weil die Geschichte von Menschen gemacht werde und sie deshalb menschliche Absichten, d. h. Bedeutung, widerspiegele. Die Natur, da sie nicht von Menschen gemacht sei, spiegele keine Bedeutungen, die in dieser Form verstanden werden könnten. Der Historismus ist so eng mit einer bestimmten Form von epistemologischem Idealismus verknüpft, welche die späteren Positionen von B. Croce 10 und R. G. Collingwood11 vorankündigt: die Geschichte habe immer mit Denken, also mit Bedeutungen zu tun, die verstanden werden müßten.

2 Friedrich Schlegel: Zur Philologie I. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 16 (Paderborn 1981) 35—41. 3 Friedrich Freiherr von Hardenberg (Novalis, pseud.): Schriften, hg. von Kluckhohn, Bd. 3 (Jena 1923) 173. 4 L. Feuerbach: Rez. zu „Kritik des Idealismus von F. Dorguth" (1838). Sämtliche Werke (Leipzig 1846-1866) Bd. 2, 143-144. 5 Ch. J. Braniß: Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart (Breslau 1848) 113-138, 1 9 5 , 2 0 0 , 2 4 8 . 6 I. H. Fichte: Die philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte in Deutschland, Frankreich und England von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Leipzig 1850) 469-470. 7 C. Prantl: Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie (München 1852). 8 R. Haym: Hegel und seine Zeit (Berlin 1857). 9 Karl Werner: Giambattista Vico als Philosoph und gelehrter Forscher (Wien 1879). 10 B. Croce: History as thé Story of Liberty (London 1941); ders.: History, Its Theory and Practice (New York 1921). 11 R. G. Collingwood: The Idea of History (Oxford 1994).

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Aus diesen Annahmen entstand eine Theorie des historischen Wissens, die im 19. Jahrhundert von historisch orientierten Denkern formuliert wurde, die den Begriff eigentlich nicht verwendeten. Die deutsche Historische Schule, wie sie sich an den Universitäten des 19. Jahrhunderts entwickelte, gründete auf diesen Voraussetzungen. 12 Leopold Ranke unterschied sehr früh zwischen dem, was er einen historischen Ansatz nannte, und einem philosophischen. Während die Philosophie nach Ranke die Realität auf ein System zu reduzieren versuchte, das die einzigartigen Merkmale der geschichtlichen Welt opferte, suchte die Geschichte zu einem Verständnis des Allgemeinen durch das Eintauchen in das Besondere zu gelangen. 13 Dennoch bestand eine Verwandtschaft zwischen der Welt, wie Hegel sie sah, und jener Sicht von Ranke. Beide setzten einen hinter der Welt der Erscheinungen verborgenen Zusammenhang voraus. Während Ranke die Notwendigkeit betonte, von einer kritischen Rekonstruktion der Ereignisse, welche die Geschichte ausmachen, auszugehen, war auch er davon überzeugt, daß aus dieser Rekonstruktion der Vergangenheit - „wie es eigentlich gewesen" - die großen, die Geschichte formenden Kräfte deutlich werden würden. 14 Für ihn konstituierte jedes Individuum wie auch jede der überindividuellen Institutionen, ob Staaten, Nationen, Kirchen oder Kulturen, ein konkretes sinnhaftes Ganzes, welches in die größere Ökonomie des göttlichen Willens hineinpaßte. 15 Der Zweck der geschichtlichen Forschung erschöpfte sich daher nicht in der erzählenden Rekonstruktion einer faktischen Vergangenheit, sondern bestand darin, den überspannenden Zusammenhang zu begreifen, in den diese Vergangenheit hineinpaßte. 16 Diese zufälligen Ideen in Rankes Aufsätzen und Vorlesungen fanden einen stringenten Ausdruck nach 1857 in den verschiedenen Fassungen von Droysens Historik und 1861 in seiner kritischen Besprechung des ersten Bandes von Henry Thomas Buckles History of England. Indem er die Verbindung zwischen den Individuen als sinnvoller Ganzheiten voraussetzte, welche die historische Welt und die Geschichte in einem breiteren Sinne ausmachten, suchte Droysen Prinzipien für eine Geschichtswissenschaft zu formulieren, deren wissenschaftlicher Charakter darin bestand, über die durch kritische Prüfung der historischen Quellen erreichte Wahrheit hinaus zu einem Verständnis des Zusammenhangs der Geschichte zu gelangen. Letzteres sollte aber nicht durch die deduktive oder die induktive Logik der Naturwissenschaften erreicht werden, sondern durch das, was Droysen „Interpre-

12 Siehe G. G. Iggers: The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present (Middletown 2 1983). 13 Siehe das Vorwort von Alfred Dove zu: L. v. Ranke: Weltgeschichte, 9. Tl., 2. Abt.: Über die Epochen der neueren Geschichte (Leipzig 1888) S. VII-XI. Außerdem L. v. Ranke: Idee der Universalhistorie, hg. von E. Kessel. In: Historische Zeitschrift 178 (1954) 290-301. 14 L. v. Ranke: Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494-1514. Vorrede zur 1. Ausg. (1824). Sämtliche Werke Bd. 33 (Leipzig 2 1874) S. VII. 15 L. v. Ranke: Die großen Mächte, hg. von F. Meinecke (Leipzig 1916) 15-63. Ders.: Politisches Gespräch (1836). Zur Geschichte Deutschlands und Frankreichs im 19. Jahrhundert. Sämtl. Werke 49/50 (Leipzig 1887) 314-339. Über die Rolle des Göttlichen siehe Wolfgang Hardtwig: Geschichtsreligion - Wissenschaft als Arbeit - Objektivität. In: Historische Zeitschrift 252 (1991) 1-32. Zu „Gottes Finger" siehe Ranke: Sämtl. Werke, Bd. 53/54, 665f. 16 Ranke: Die großen Mächte, a. a.O., 61 f.

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tation" nannte. 17 Das setzte voraus, daß der Historiker Entitäten untersuchte, die verständlich waren, weil sie Bedeutungskomplexe darstellten. Die Geschichte war so für Droysen, wie auch für Wilhelm von Humboldt, Savigny oder Ranke, eine hermeneutische Wissenschaft. 18 Nichtsdestoweniger war sie dennoch eine Wissenschaft. Wilhelm Dilthey und nach ihm die neukantianischen Philosophen der Freiburger Schule, Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert, setzten sich die Aufgabe, Geschichtsschreibung und Geisteswissenschaften oder Kulturwissenschaften als Wissenschaften zu etablieren, die in ihrer Vorgehensweise genauso streng waren wie die Naturwissenschaften, aber mit einer Logik der Forschung, die erkannte, daß sie Methoden brauchten, die imstande waren, den in der Geschichte und in der Kultur enthaltenen Sinn zu interpretieren.19 Die scharfe Unterscheidung, die Dilthey und die Neukantianer zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften machten - schärfer noch als zwischen der Geschichte und der Philosophie - , spiegelte den Wandel wider, den die Naturwissenschaften seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfahren hatten, als sie noch metaphorisch und historisch mit biologischen und organischen Analogien operierten.20 Wenn der so verstandene Historismus, als eine für die Betrachtung der sozialen und kulturellen Welt besonders geeignete Sichtweise, einen wesentlich positiven Sinn besaß, so verlor er diesen, sobald die Grundannahme der fundamentalen Kohärenz der Geschichte in Frage gestellt wurde. Dies geschah sehr früh in der Ökonomie, als einige Wirtschaftstheoretiker wie Eugen Dührung (1866), Carl Menger (1844) und Adolf Wagner (1892) 21 die historische Vorgehensweise der Historischen Schule der Nationalökonomie (Wilhelm Roscher, Karl Knies, Gustav Schmoller) angriffen. Sie verwendeten nun den Begriff in einem negativen Sinn, um die Vernachlässigung der Theorie in der Ökonomie und die Verwechslung von ökonomischer Theorie mit ökonomischer Geschichte zu kritisieren. Eine noch wesentlichere Herausforderung an das optimistische historische Denken stammte dann von jenen, die die grundlegenden epistemologischen Prämissen des Historismus akzeptierten und den Begriff zunehmend gebrauchten, aber den Glauben an die Kohärenz des historischen Prozesses aufgaben und damit auch ihr Vertrauen in die Qualität der modernen westlichen Kultur. Das historistische Denken von Ranke in den Jahren ab 1830 bis Friedrich Meinecke in den Jahren ab 1930 hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Idee des Fortschritts. Auf der einen Seite war die Idee des Fortschritts aus der Perspektive jener inakzeptabel, die betonten, daß jede

17 Johann Gustav Droysen: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Peter Leyh, Bd. 1 (StuttgartBad Cannstadt 1977) 221. 18 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (Tübingen 1960) und Joachim Wach: Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorien im 19. Jahrhundert, 3 Bde. (Tübingen 1926-1933, Repr. Hildesheim 1966). 19 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 7 (Leipzig 1924); Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft (1894). In: Präludien, Bd. 2 (Tübingen 1921) und Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (Tübingen 1921). 20 Peter Reill in: Georg G. Iggers, James Powell (Hg.): Leopold von Ranke and the Shaping of the Historical Discipline (Syracuse 1990) 21-35. 21 Siehe Annette Wittkau: Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems (Göttingen 1992) 61-80.

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Epoche für sich „unmittelbar zu Gott" 22 betrachtet werden muß, auf der anderen Seite aber waren sie - wie Ranke und Droysen - genauso wie Hegel von der Solidität der modernen westlichen Kultur oder - wie Meinecke - von der einzigartigen Qualität der deutschen Kultur überzeugt. Ernst Troeltsch sprach nun von der „Krisis des Historismus". 23 Troeltsch akzeptierte den Historismus als eine gültige wissenschaftliche Methode für die kulturelle Realität, doch glaubte er, daß das Studium der Geschichte, weit davon entfernt, den Schlüssel für den Erwerb von Kultur auszumachen, wachsend die Relativität und daher die Ungültigkeit der Werte und Überzeugungen der westlichen Kultur aufzeigte. Aber der Historismus, die Erkenntnis, daß alle menschlichen Ideen und Werte historisch bedingt und dem Wandel unterworfen sind, wurde die herrschende, unentrinnbare Einstellung der westlichen Welt im 19. und 20. Jahrhundert. Für Karl Mannheim war er die eigentliche Bedingung der modernen Existenz geworden. 24 Der Historismus war nun ein Teil des Intellektualisierungs- und Entzauberungsprozesses, von dem Max Weber gesprochen hatte.25 Doch sah Mannheim darin weniger das Resultat von wissenschaftlicher Forschung als des sozialen Wandels der modernen Welt mit ihrer Zerstörung traditioneller Normen. Die Diskussion über die Relativität historischer Werte war von Nietzsche - der den Begriff nicht verwendete - in seinem Essay Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) 26 initiiert worden, worin er das gelehrte historische Studium, wie es sich in deutschen Akademien entwickelt hatte, wegen seiner Irrelevanz und seiner lähmenden Auswirkung auf das menschliche Handeln anprangerte. Die Historie, die für viele in der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts den Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Dinge darstellte, zeigte für Nietzsche einerseits, daß es keinen Ausweg aus der Geschichte gab, und andererseits, daß die Geschichte keinen objektiven Sinn hatte. Troeltsch, von Hause aus Theologe, stellte sich diesem Dilemma in Die Absolutheit des Christentums (1902),27 worin er erkannte, daß das historische Studium des Christentums den Anspruch des Christentums, die wahre Religion zu sein, zerstört hatte, und er verwies auf den Pluralismus der Glaubensformen. Aber Troeltsch wollte weder seinen christlichen Glauben noch seine Bindung an die Kultur des Westens aufgeben. Für ihn gab es zwei Wege aus diesem Dilemma, von denen keiner intellektuell überzeugend war: der eine, den Troeltsch ablehnte, war, auf gelehrte historische Arbeit beim Studium der Religion und der Kultur zu verzichten. Protestantische

22 Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte, a. a.O. (s. Anm. 13) 5. 23 Ernst Troeltsch: Die Krisis des Historismus. In: Die Neue Rundschau, 33. Jg. der freien Bühne, Bd. 1 (Berlin 1922) 572-590 und: Der Historismus und seine Probleme (1922). Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Aalen 1961). 24 Karl Mannheim: Historismus. In: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt H. Wolf (Neuwied 1970). 25 Max Weber: Wissenschaft als Beruf (1919). In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von J. Winckelmann (Tübingen 4 1973) 592-594. 26 Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen I—III (1872-1874). Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 3, Bd. 1, hg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari (Berlin 1972). 27 E. Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (Tübingen 1902).

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Theologen, darunter Albrecht Ritsehl,28 wählten diesen Weg, indem sie betonten, daß die Religion allein auf dem Glauben beruhe. Karl Barth und die Theologen der Krise, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten und in Amerika Reinhold Niebuhr, gingen weiter. Indem sie die Betonung der gänzlichen Andersartigkeit Gottes mit einer radikal pessimistischen Sicht der menschlichen Natur und des Verlaufs der Geschichte verbanden, verneinten sie die Werte der modernen bürgerlichen Kultur, die eine Schlüsselkomponente in Troeltschs „Kulturprotestantismus" darstellten.29 Troeltsch beschloß, „die Krise des Historismus" dadurch zu lösen, daß zu einer Synthese westlicher Werte durch das historische Studium der westlichen Kultur zu gelangen sei. 30 Doch war dieser Glaube an die besondere Würde der modernen westlichen Welt, an welcher Troeltsch selbst nach dem Ersten Weltkrieg noch festhielt, zunehmend nicht nur für die Theologen der Krise unhaltbar, die bereit waren, ihren Intellekt dem Glauben zu opfern. So verschiedene Denker wie Max Weber und Martin Heidegger betonten die völlige Historizität menschlicher Existenz mit ihren relativistischen Implikationen. Während es für Heidegger eine Flucht in den sicheren Himmel des ontischen Seins gab, das logisches Denken transzendierte 31 - ein Überbleibsel derselben metaphysischen Tradition, die Heidegger zurückzuweisen versuchte - , boten rationales Denken und Wissenschaft für Weber, der einer Logik der wissenschaftlichen Forschung verpflichtet war, keine Antworten auf Fragen nach den Werten, sondern zeigten eine ethisch irrationale Welt.32 Aber für Weber, wie auch für Rickert, 33 leiteten sich die Fragen, welche Gelehrte und Wissenschaftler stellten, immer aus deren Wertperspektiven ab. So spiegelte alle Erkenntnis für Weber wie für Mannheim einen in die Geschichte eingebetteten spezifischen sozialen und kulturellen Kontext. Unser Verständnis von Realität spiegelte diese Realität nicht, wie sie eigentlich war, sondern beantwortete nur die Fragen, die der Gelehrte und Wissenschaftler an diese Realität gestellt hatten.34 Was für Weber unerschütterlich blieb, waren nicht die Ergebnisse von wissenschaftlicher Untersuchung, die ja ständig durch weitere Forschung modifiziert wurden, sondern die Logik der wissenschaftlichen Untersuchung, die einerseits das spezifische Produkt der westlichen Zivilisation war und andererseits universale Gültigkeit besaß. 35 Aus einer ähnlichen Perspektive heraus unterschied Hintze, als er Troeltschs Versuch, den historischen Relativismus durch die Historie zu überwinden, kritisierte, zwischen dem Historismus als einer „Weltanschauung" im Sinne von Troeltsch und „einer logischen Kategorial-

28 Albrecht B. Ritsehl: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung, Bd.l (Bonn 1882, Nachdr. Hildesheim, New York 1978). 29 Siehe z. B. E. Troeltsch: Die theologische und religiöse Lage der Gegenwart. In: Gesammelte Schriften, Bd. 2 (Tübingen 1913) 1-21. 30 E. Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (Berlin 1924). 31 M. Heidegger: Sein und Zeit (Halle 1927). 32 Max Weber: Politik als Beruf (1919). In: Gesammelte Politische Schriften, hg. von J. Winckelmann (Tübingen 5 1988) 552f. 33 Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (Tübingen 1921). 34 Max Weber: Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1909). In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von J. Winckelmann (Tübingen 3 1968) 170. 35 Max Weber, a.a.O., 155.

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struktur".36 Der erstere sei eine unter vielen Philosophien, die letztere habe wissenschaftliche Gültigkeit. Karl Heussi machte in Die Krisis des Historismus (1932) 37 eine Bestandsaufnahme der Diskussionen. Vier Jahre später gab Friedrich Meinecke in Die Entstehung des Historismus (1936) eine sehr andere, optimistische Version, die die Krise des Historismus zu überwinden suchte, indem sie die positiven Aspekte eines radikal historischen Ansatzes betonte. Meinecke identifizierte diesen Ansatz mit einer spezifisch deutschen intellektuellen Tradition, welche klassische westliche Vorstellungen vom Naturrecht durch eine genetische Sichtweise ersetzte, die sich auf die Rolle der Einzigartigkeit und „Individualität" in der Geschichte konzentrierte. Obwohl er sicherlich kein Anhänger des Nationalsozialismus war, verkündete Meinecke noch 1936, drei Jahre nach Hitlers Machtergreifung und kurz nach dem Erlaß der Nürnberger Rassengesetze, die Superiorität der deutschen Kulturtradition und sah in der deutschen Tradition des Historismus „die höchste bisher erreichte Stufe in dem Verständnis menschlicher Dinge", die wichtigste intellektuelle Entwicklung in Europa seit der Reformation. 38 Indem er auf den Neuplatonismus der deutschen Klassik, besonders auf Goethe zurückging, versuchte Meinecke, den Relativismus des Historismus in einer ätherischen Welt der Kultur zu überwinden, in der die Politik, welche in seiner früheren Geschichte der Ideen eine wichtige Stelle eingenommen hatte, nun nach seiner Enttäuschung über den Lauf der Geschichte im 20. Jahrhundert nicht länger von Bedeutung zu sein schien. Im Kern des Historismus lag die Erkenntnis der irrationalen und spontanen Aspekte des Lebens, welche die westliche Tradition rationalen Denkens unfähig zu behandeln gewesen war. Außerhalb des deutschsprachigen Raums spielte der Historismus eine signifikante Rolle im italienischen Denken des 20. Jahrhunderts mit Benedetto Croce als wichtigstem Vertreter.39 Positionen, dem „storicismo assoluto" Croces ähnlich, wurden von José Ortega y Gasset 40 in Spanien und von R. G. Collingwood41 in England vertreten. Wie Meinecke hielten sie wegen der Einzigartigkeit und Individualität der historischen Welt die naturalistische Weltsicht für völlig ungeeignet, die menschliche Realität zu erkennen. Sie stimmten darin überein, daß „Geschichte prinzipiell ein Akt des Denkens ist" (Croce). Aber anders als Meinecke, der glaubte, das Individuelle sei „ineffabile" und so für eine rationale Untersuchung unzugänglich, glaubten Croce und Collingwood, daß das Denken selbst eine rationale Struktur habe, und vermieden so den radikalen Subjektivismus, der im deutschen Begriff „Verstehen" impliziert war. Indem Croce postulierte, daß die Geschichte „die Geschichte der Freiheit" 42 sei, war sein Historismus dem Hegeischen näher als dem von Ranke oder Meinecke.

36 Otto Hintze: Troeltsch und die Probleme des Historismus. In: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Bd. 2, Abt. 2 (Göttingen 1964) 336. 37 Karl Heussi: Die Krisis des Historismus (Tübingen 1932). 38 Meinecke: Die Entstehung des Historismus. Werke, Bd. 3 (München 1959) 4. 39 Zur Rolle des Historismus im modernen Denken in Italien und anderswo siehe Carlo Antoni: Lo Storicismo (Torino 1957); Pietro Rossi: Storia e storicismo nelle filosofia contemporanea, rev. ed. (Milano 1991) und G. Cacciatore: Storicismo problematico e metodo critico (Napoli 1993). 40 José Ortega y Gasset: Historical Reason (New York 1984). 41 R. G. Collingwood: The Idea of History (Oxford 1994). 42 Benedetto Croce: History as the Story of Liberty (London 1941).

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Diese Nähe zu Hegel wurde in den folgenden italienischen Diskussionen über den Historismus aufrechterhalten. Giovanni Gentile, ein Zeitgenosse Croces, gab dem Historismus eine im wesentlichen autoritäre, mit den faschistischen Doktrinen kompatible Orientierung, indem er die Wichtigkeit von Hegels Konzeption des Staates betonte. In den 20er und 30er Jahren deutete Antonio Gramsci den Historismus in marxistischen Begriffen als eine Philosophie des politischen Engagements. In den letzten Jahrzehnten hat die Diskussion drei sehr verschiedene Richtungen genommen. Giuseppe Galasso hat in Kontinuität mit Croce dem „storicismo assoluto" als der „Geschichte der Freiheit" eine liberale und demokratische Fassung gegeben, die als intellektueller und politischer Ansatz für die modernen analytischen Sozialwissenschaften dem Marxismus und dem „Historismus" vorzuziehen ist.43 Fulvio Tessitore, der sich von Croce entfernt, identifiziert sich mit Meineckes Historismus und betont die Bedeutung der deutschen Tradition für das italienische Denken und die italienische Kultur. 44 In ähnlicher Form akzentuierte auch Pietro Rossi den Beitrag der deutschen Tradition für das moderne soziale Denken, hob jedoch Max Weber als wichtigsten Denker heraus.45 Zuletzt hat Giuseppe Cacciatore aus einer marxistischen Position heraus die deutschen Diskussionen von Wilhelm von Humboldt bis Ernst Cassirer einer kritischen neuen Untersuchung unterzogen. 46 Zwei weitere Verwendungen des Begriffs sollten kurz erwähnt werden. In Das Elend des Historismus47 identifizierte Karl Popper den Begriff mit den Versuchen Hegels und Marx', Gesetze der historischen Entwicklung zu formulieren, die von Marxisten dazu benutzt wurden, ihre autoritäre Kontrolle im Hinblick auf eschatologische Zwecke zu legitimieren. Poppers Verwendung des Begriffs ist als idiosynkratisch scharf kritisiert worden, aber in Wirklichkeit hat er zwischen „Historizismus" und „Historismus" im deutschen Sinne zu einer Zeit unterschieden, als „Historismus" (historism) noch der gängige Terminus in der englischsprachigen Welt war. Erst in den 40er Jahren, unter dem Eindruck von Croces storicismo, ersetzte „historicism" den Terminus ,Jiistorism" im Englischen.48 Der Aufsatz über „Historizismus" in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie 49 zeigt mit seiner Betonung der „gesetzlichen Entwicklung", daß die Marxisten-Leninisten, gegen die Poppers Kritik sich richtete, den Begriff „Historismus" so verstanden, wie Popper ihn definiert hatte.

43 Siehe G. Galasso: Croce, Gramsci e altri storici (Milano 1978); Croce e lo spirito del suo tempo (Milano 1991). 44 Fulvio Tessitore: I Fondamenti della filosofia politica di Humboldt (Napoli 1965); Meinecke, storico della idee (Firenze 1969); Dimensioni dello storicismo (Napoli 1971); Filosofia e storiografia (Napoli 1985); Introduzione allo storicismo (Bari 1991); Storiografia e storia della cultura (Bologna 1991). 45 P. Rossi: Lo storicismo tedesco contemporaneo (Torino 1956); Storia e storicismo nella filosofia contemporaneo (1960), erweiterte Ausgabe (Milano 1991). 46 G. Cacciatore: Storicismo problematico e metodo critico. Siehe auch sein Buch: Ragione e speranze nel marxismo. L'eredità di Ernst Bloch (Bari 1979). Die italienischen Diskussionen verdienten eine ausführlichere Darstellung, als ich sie hier geben kann. Ich danke Edoardo Tortarolo aus Turin, daß er mich in die neuere Literatur eingeführt hat. 47 Karl R. Popper: The Poverty of Historicism (New York 1961). 48 Siehe D. E. Lee, R. N. Beck: The Meaning of .Historicism' (s. o. Anm. 1). 49 Siehe B. A. Grushin: Historicism (s. o. Anm. 1).

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In jüngster Zeit ist der Begriff,,New Historicism" in literaturwissenschaftlichen Diskussionen in Amerika aufgetaucht. Diese haben nur wenige Bezüge zu den älteren kontinentalen Diskussionen. Sie versuchen die Unterdrückung des Subjekts und der Geschichte im strukturalistischen und poststrukturalistischen Denken zu überwinden. Sie teilen die postmodernistische Ablehnung des historischen Optimismus, wie er sowohl im deutschen wie im marxistischen Denken enthalten war, drängen aber auf eine Anerkennung der „historischen und kulturellen Besonderheit von Ideen",50 die im postmodernen Denken weitgehend verlorengegangen ist.

2. Neue Literatur über die „Krise des Historismus" In seinem Versuch, den Historismus zu bestimmen, hat Otto Gerhard Oexle zwischen Historismus I und Historismus II unterschieden.51 Historismus I bezieht sich auf die philosophischen Debatten im späten 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in denen historische Erkenntnis mit Relativismus gleichgesetzt und im Relativismus ein existentielles Problem gesehen wurde, das gelöst werden mußte, wenn zivilisiertes Leben fortbestehen sollte. Mehrere neuere Arbeiten wie Annette Wittkaus Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems (1992), Charles R. Bambachs Arbeit Heidegger, Dilthey, and the Crisis of Historicism (1995) wie auch eine Anzahl Artikel von Otto Gerhard Oexle 52 und Wolfgang Hardtwig 53 haben den Historismus aus dieser Perspektive behandelt. Die Arbeiten, die dem von Oexle genannten Historismus II gewidmet sind, befassen sich mit einem ganz anderen Komplex von Phänomenen, nämlich mit der deutschen Geschichtswissenschaft, wie sie im 19. Jahrhundert entstand. Jörn Rüsen und seine Schüler Horst-Walter Blanke, Friedrich Jaeger, Dirk Fleischer und Hans-Jürgen Pandel haben in einer Reihe von Arbeiten 54 und unter Verwendung des Kuhnschen Begriffs 55 den Historismus als ein „Para-

50 Siehe H. A. Veeser (Hg.): The New Historicism (New York 1989); Paul Michael Lützeler: Der postmodeme Historismus in den amerikanischen Humanities. In: Hartmut Eggert u. a. (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit (Stuttgart 1990) 67-76; Brook Thomas: The New Historicism and Other Old-Fashioned Topics (Princeton 1991); Richard Wilson, Richard Dutton (Hg.): New Historicism and Renaissance Drama (London 1992); John H. Zammito: Are We Being Theoretical Yet? The New Historicism, the New Philosophy of History, and .Practicing Historians'. In: The Journal of Modern History 65 (1993) 783-814. 51 Siehe Otto Gerhard Oexle: Historismus (s. o. Anm. 1) und: Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung. In: Historische Zeitschrift 238 (1984) 17-55. Siehe auch Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus (Freiburg 1974). Schnädelbach macht eine ähnliche Unterscheidung zwischen zwei Typen des Historismus. 52 S. o. Anm. 51. 53 Wolfgang Hardtwig: Geschichtsreligion - Wissenschaft als Arbeit - Objektivität. In: Historische Zeitschrift 252 (1991) 1-32. 54 Um nur einige zu nennen: Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik, 3 Bde. (Göttingen 1983-1989); Konfigurationen des Historismus (Frankfurt/M. 1993); Horst-Walter Blanke: Historiographiegeschichte als Historik (Stuttgart-Bad Cannstadt 1991); Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen: Geschichte des Historismus (München 1992); Hans-Jürgen Pandel: Historik und Didaktik (Stuttgart-Bad Cannstadt 1990). 55 Thomas S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, 2nd enl. ed. (Chicago 1970).

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digma" der historischen Forschung betrachtet, in Rüsens Terminologie als eine „disziplinare Matrix". 56 In Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus (1991),57 dem ein Band über den Historismus als solchem nachfolgen soll, hat Ulrich Muhlack in ähnlicher Weise den Historismus als „Geschichtswissenschaft" behandelt. Der Amerikaner Jeremy Telman vollendete 1993 eine Dissertation,58 die mehrere Grundvoraussetzungen dieser Literatur über die Entstehung der Geschichtswissenschaft in Frage stellt. Die Stärke von Wittkaus Buch liegt in der Untersuchung des Historismusproblems, wie dieses nicht nur unter Philosophen, sondern auch in anderen Disziplinen, in der Theologie, der Rechtswissenschaft, der Ökonomie, der Soziologie und der Geschichte angegangen wird. Doch staunt man in Wittkaus Buch - wie auch in einem großen Teil der von uns zitierten deutschen Literatur - über die fast vollständige Vernachlässigung der nicht-deutschen Literatur. Schließlich waren die Probleme des Historismus Teil einer umfassenderen Krise des Bewußtseins in der modernen westlichen Welt. Im Falle Wittkaus verweist keine einzige Fußnote oder bibliographische Angabe auf nicht-deutsche Denker - Croce, Collingwood, Ortega y Gasset kommen nicht vor - , noch wird irgendein wichtiger Beitrag der englischen und italienischen Literatur zitiert. Für sie - wie auch für Oexle und zu einem geringeren Teil für Hardtwig - lag die Ursache der Krise des Historismus in der zunehmenden Anwendung von wissenschaftlichen Methoden auf das Studium der Geschichte. Das Ziel ihres Buches ist zu zeigen, „daß das Phänomen des Historismus in allen kulturwissenschaftlichen Disziplinen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Prozeß der Durchsetzung der empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnismethode" und daß das grundsätzliche Problem in der Auseinandersetzung mit dem Historismus die Relativierung der Werte als Ergebnis der Fortschritte in der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnis war. 59 Wittkau hat recht mit der Behauptung, daß die wichtigsten Figuren, mit denen sie sich in ihrem Buch befaßt - z. B. Troeltsch und sogar Weber - , das Problem in dieser Weise wahrnahmen. Aber war die Krise wirklich in erster Linie das Ergebnis der Fortschritte der „wissenschaftlichen Erkenntnis", wie Wittkau meint? Nietzsches Kritik der historischen Gelehrsamkeit ist von Wittkau - und ähnlich von Oexle - zu ernst und zu unkritisch gesehen worden. Wittkau setzt zu leicht voraus, daß das Studium der Geschichte etablierte Werte zerstörte. Doch führten in Wirklichkeit die professionalisierten Geschichtswissenschaften im 19. Jahrhundert gewöhnlich zur Legitimierung etablierter Werte oder im Falle sozialistischer, nationalistischer oder rassistischer Autoren zur Legitimierung neuer Werte. Nietzsches Behauptung, daß das Geschichtsstudium, wie es zu seiner Zeit betrieben wurde, menschliches Handeln lähmte, war einfach nicht wahr. Man mag sich erhofft haben, daß eine kritische Geschichtswissenschaft die Mythen demaskieren würde, welche die Geschichte im Dienste politischer und sozialer Ideologien instrumentalisiert hatten, doch im

56 J. Rüsen: Grundzüge einer Historik, a.a.O. 57 (München). 58 David Aaron Jeremy Telman: Clio Ascendant: The Historical Profession in Nineteenth-Century Germany (Ph. D. dissertation, Cornell University 1993). 59 A. Wittkau: Historismus (Göttingen 1992) 22.

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allgemeinen war das Gegenteil der Fall. Die Geschichtswissenschaft verstärkte die historischen Mythen. Der wachsende Kulturrelativismus der Zeit mit seinem Infragestellen älterer religiöser, sozialer und moralischer Normen war in weit größerem Maße das Ergebnis der Umwandlung der modernen Gesellschaft als deren Ursache. Karl Mannheim drückte das so aus: „Nicht die Geschichtsschreibung hat uns den Historismus gebracht, sondern der Geschichtsprozeß hat uns zu Historisten gemacht." 60 Weber, der den Begriff eigentlich nicht verwendete, löste nach Wittkau das Problem der Versöhnung von Wissenschaft und Werten, das der Historismus gestellt hatte, ein für allemal, indem er zeigte, daß kulturwissenschaftliche Erkenntnis keine Antworten auf Normen bietet, sondern ausschließlich aus Wissen von Tatsachen besteht.61 Von nun an, schreibt sie, werde „die Werterkenntnis [ . . . ] zu einer Sache des persönlichen Glaubens." 62 Doch m. E. macht dies Weber allzusehr zu einem Positivisten. Webers „verstehende Soziologie" setzte voraus, daß die Kulturwissenschaften, oder, um Webers Terminologie zu gebrauchen, die Sozialwissenschaften nicht mit „Tatsachen", sondern mit Sinnsystemen zu tun haben, welche qualitative Methoden des „Verstehens" erfordern. Für Weber ging also die Sozialwissenschaft über die empirischen Fakten hinaus zu sinnvollen Entitäten. Wie wir wissen, konnten diese nach Weber nicht durch unmittelbare Anschauung verstanden werden, sondern nur mit Hilfe von „Idealtypen", welche der Sozialwissenschaftler formulierte, um in das Chaos der empirischen Daten eine Struktur zu bringen. Weit davon entfernt, der Spekulation ein Ende zu setzen, wie Wittkau für Weber annimmt, entwarf er in Wirklichkeit ein hochspekulatives System, mit dem er soziale Prozesse verständlich zu machen suchte. Die Unterscheidung zwischen Tatsache und Wert bei Weber war auch nicht so absolut, wie es den Anschein hat; wir müssen uns vorsehen, Webers Äußerungen unkritisch nur nach ihrem ersten Anschein zu beurteilen. Werte beruhten für ihn auf Entscheidungen. Aber insofern Entscheidungen angesichts der harten Realität getroffen wurden, waren sie für Weber durch eine objektive Welt der Konflikte bestimmt, welche eine sehr sozialdarwinistische und unverhüllt männliche Färbung annahm. Das führte Weber dazu, Deutschlands Streben nach Weltmacht nicht nur aus Gründen der persönlichen Entscheidung, sondern aus Gründen des wissenschaftlichen Urteils zu unterstützen. 63 Oexle und Hardtwig gingen in eine ähnliche Richtung wie Wittkau, indem sie betonten, daß Webers große Leistung darin bestand zu verstehen, daß das, was der Wissenschaft, die Sozialwissenschaft eingeschlossen, ihren wissenschaftlichen Charakter verlieh, nicht ihre Entdeckungen, sondern ihre Methodologie war. Die Wissenschaft fiel so mit „Forschung" zusammen. Mit dieser Erkenntnis, so bemerkt Hardtwig, trete die so verstandene Wissenschaft in eine unwiderrufliche Opposition zu den älteren historistischen Konzeptionen von Geschichte, welche die Geschichte als eine Quelle der ,.Bildung" ansahen und der

60 Karl Mannheim: Historismus (1924). In: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk (Neuwied 2 1970) 247f; Das Problem einer Soziologie des Wissens (1925), ebd. 308ff. 61 A. Wittkau: Historismus, 132. 62 A.a.O., 145. 63 Wolfgang J. Mommsen: Max Weber and German Politics (Chicago 1984); Guenther Roth: Between Cosmopolitanism and Ethnocentrism: Max Weber in the Nineties. In: Telos 96 (1993) 148-163.

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Geschichtswissenschaft die Aufgabe zuwiesen, Normen zu etablieren. 64 Die Bewegung von der Geschichte als „Bildung" zur Geschichte als „Forschung" begann, wie Hardtwig und Oexle behaupten, im Laufe des 19. Jahrhunderts, als die Geschichtswissenschaft anfing, sich als eine strenge Disziplin zu verstehen. Nicht nur Oexle und Hardtwig, sondern auch Rüsen und seine Schüler 6 5 erkennen Droysen die Ehre zu, den Forschungscharakter der Geschichtswissenschaft in seiner berühmten Formulierung erkannt zu haben: „Das Wesen der historischen Methode ist, forschend zu verstehen." Für Droysen ist also der Zweck der wissenschaftlichen Forschung nicht empirisches Wissen, sondern, wie er sagt, „Interpretation". Aber sinnvolle Interpretation ist für Droysen nur möglich, weil er wie Ranke annimmt, daß es zugrundeliegende Kräfte gibt, die der Geschichte Kohärenz geben. Wie Hardtwig bemerkt, erkennt Droysen einerseits an, daß der Historiker nicht nur seinem Gegenstand gegenübersteht, sondern ein Teil davon ist, 66 in Droysens eigenen Worten, „daß auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist." 6 7 Doch ist Droysen andererseits überzeugt, daß es eine grundsätzliche Harmonie zwischen Subjekt und Objekt gibt, die dem Historiker erlaubt, festes Wissen zu erlangen. Man kann so kaum behaupten, wie Wittkau es tat, daß Droysen sich von einer spekulativen Geschichtsphilosophie befreit hätte. 68 Oexle und Hardtwig sagen zu Recht, daß der ältere Historismus objektivistisch war, trotz oder vielleicht gerade wegen seiner idealistischen Vorannahmen. Weber lehnte diesen Objektivismus entschieden ab, indem er von der Kantischen Prämisse ausging, daß die Wirklichkeit nur mit Hilfe der Kategorien der Vernunft, niemals als ein Ding an sich erkannt werden könne. Es gebe keine allgemeingültigen Werte; andererseits „würde es ohne die Wertideen der Forscher kein Prinzip der Gegenstandsselektion und keine sinnvolle Erkenntnis der konkreten individuellen Realität geben." Obwohl Weber die Sozialwissenschaft als „eine Wirklichkeitswissenschaft" betrachtet, gesteht er, daß es keine „.objektive' wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens [ . . . ] unabhängig von speziellen und .einseitigen' Gesichtspunkten" gibt. 69 Aber die Frage bleibt, ob Weber tatsächlich sich von den spekulativen Annahmen von Objektivität und historischer Kohärenz, die für die historistische Sichtweise zentral sind, in dem Maße befreit hat, wie Oexle und Hardtwig behaupten. Auf der einen Seite kann nach Weber niemand länger daran glauben, daß die Welt einen „Sinn" hat. 70 Auf der anderen Seite ist er in bester neukantianischer Weise davon überzeugt, daß rationale und objektive Erkenntnis möglich ist. So schließt für ihn der eigentliche Charakter von Wissenschaft und wissenschaftlicher Forschung selbst jede Endgültigkeit aus, garantiert aber zugleich Fort-

64 Hardtwig: Geschichtsreligion - Wissenschaft als Arbeit - Objektivität, 24. 65 Siehe oben Anm. 54; ebenso Jörn Rüsen: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens (Paderborn 1969). 66 Hardtwig: Geschichtsreligion - Wissenschaft als Arbeit - Objektivität, 21. 67 Zitiert bei Oexle: Die Geschichtswissenschaft, 43. 68 A. Wittkau: Historismus, 59. 69 Max Weber: „Objektivität", a.a.O. (s. Anm. 34), 170. 70 Max Weber: Wissenschaft als Beruf, a. a. O., (s. Anm. 25), 591f.

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schritt. Während also ein großes Kunstwerk niemals antiquiert ist, werden es wissenschaftliche Entdeckungen unvermeidlich sein. „Wissenschaftliche Arbeit ist an den Verlauf des Fortschritts gebunden." (Hervorhebung Webers).71 Was für Weber diesen Fortschritt ermöglicht, ist seine feste kantianische Überzeugung von der Gültigkeit der wissenschaftlichen Methode. Einerseits erkannte er, daß diese Methode historisch an eine spezifische Kultur, die des Westens, gebunden ist. Andererseits heißt es bei ihm: „ [ . . . ] es ist und bleibt wahr, daß eine methodisch korrekte wissenschaftliche Beweisführung auf dem Gebiete der Sozialwissenschaften, wenn sie ihren Zweck erreicht haben will, auch von einem Chinesen als richtig erkannt werden muß [ . . . ] , während ihm für unsere ethischen Imperative das ,Gehör' fehlen kann". 72 Man könnte jedoch fragen, ob diese Art des Denkens ebenso einem mittelalterlichen Mystiker oder einem nomadischen Jäger verständlich sein würde. Wie die Arbeit von Thomas Kuhn 73 andeutet, hat die Geschichte der Wissenschaft in den letzten Jahren Webers grundlegende Annahmen in viel radikalerer Weise in Frage gestellt, als es Wittkaus, Oexles und Hardtwigs Behandlung Webers nahelegen würde. Darüber hinaus, trotz seines Beharrens darauf, daß die Welt im objektiven Sinne keinen Sinn habe, versieht Webers Auffassung von der Einheit der wissenschaftlichen Methode und des „Prozesses der Intellektualisierung, den wir seit Jahrtausenden erfahren haben", 74 die Geschichte immer noch mit einer großen Erzählung. So besitzt die Geschichte noch eine Kohärenz, wenn auch keinen Sinn. In seiner jüngst erschienenen Arbeit 75 unterscheidet Charles R. Bambach einen Strang im deutschen Denken, der in radikaler Weise die Überbleibsel dieser Kohärenz, wie sie im neukantianischen Denken enthalten sind, in Frage stellt. Die ersten Kapitel seines Buches bearbeiten vertrautes Terrain und gelten den neukantianischen Philosophen Windelband, Rickert und Dilthey, für welche die von der Geschichtswissenschaft aufgeworfenen Probleme von epistemologischer Natur sind und eine epistemologische Lösung erfordern. Die zweite Hälfte des Buches behandelt eine Diskussion, die durch die Phänomenologie (Husserl) und die Krisentheologie (Barth) in Gang gebracht wurde, für die die fundamentalen Fragen nicht mehr die Gewißheit der Erkenntnis, sondern die Suche nach Sinn betrafen. Barth, der auf Kierkegaard und Nietzsche aufbaute, wies auf die Hohlheit des Ideals der Bildung hin, das für Troeltsch noch heilig und bewahrenswert geblieben war; Husserl verstand die wahre Ursache des kulturellen Aufruhrs als Krise der Wissenschaft selbst, als Unvereinbarkeit der Objektivitätsansprüche der Wissenschaft mit dem subjektiven Element der Lebenswelt. Die Schlüsselfigur in dieser Diskussion ist für Bambach nicht länger Weber, der noch nicht einmal erwähnt wird, sondern Heidegger. Bambach argumentiert, daß Heidegger, indem er die epistemologische Frage der Historisten nach der Objektivität von historischer Erkenntnis neu als eine ontologische Frage nach dem Sinn des historischen Seins formulierte, den ganzen traditionellen Diskurs der westlichen Philosophie seit Sokrates zu dekonstruieren

71 A. a.O., 592. 72 Max Weber: „Objektivität", a.a.O. (s. Anm. 34), 155. 73 Th. S. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions (s. Anm. 55). 74 M. Weber: Wissenschaft als Beruf, a. a.O., 593. 75 Charles R. Bambach: Heidegger, Dilthey, and the Crisis of Historicism (Ithaca, London 1995).

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begann. Die Vorstellung des selbstbewußten, autonomen cogito, die dem Kern der modernen Metaphysik zugrunde lag, wurde für bankrott erklärt. Die große Erzählung von Einheit, Sinn und Totalität in einer als Geschichte aufgefaßten Realität wurde nun durch das Bewußtsein von Fragmentierung, Krise und Bruch ersetzt. Bambach überlegt, bis zu welchem Grad Heidegger, „indem er die Metaphysik des Krisendenkens demontierte, eine neue Art von Krise im Bereich der Politik initiierte", 76 die ihn zum Nationalsozialismus führte. Mir scheint, daß weder Husserl noch Heidegger die westliche Metaphysik so radikal abbauten, wie Bambach vermutet. Bei seiner Suche nach einer strengen Wissenschaft, die die von den empirischen Wissenschaften verursachten Fragmentierungen der Realität überwinden würde, nahm Husserl Zuflucht zu einer Suche nach der zugrundeliegenden „Wesensschau", während Heidegger Frieden in einem „Sein" suchte, das eine „Geborgenheit" vor den unerfreulichen intellektuellen und politischen Wirren der modernen Welt bot. Heideggers Phänomenologie war daher nicht eine heroische Konfrontation mit den Absurditäten des modernen Daseins, sondern eher eine unheroische Flucht vor ihnen.

3. Neue Literatur über den Historismus als historiographische Bewegung Seit Meineckes Entstehung des Historismus ist der Historismus weniger mit den Problemen des historischen Relativismus identifiziert worden als mit der Disziplin der Geschichte, wie sie sich in Deutschland im 19. Jahrhundert entwickelte und mit der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft ein Vorbild auch außerhalb von Deutschland wurde. Es muß jedoch angemerkt werden, daß vor Meinecke kein Historiker das, was er tat, als Historismus kennzeichnete. Erst seit Meinecke wurde der Begriff auf die deutsche akademische Tradition der Geschichtsschreibung angewandt. Als die Geschichtswissenschaft in Deutschland eine professionelle Disziplin wurde, übernahm sie viel von den Vorgehens- und Sichtweisen anderer wissenschaftlicher Disziplinen, einschließlich der Naturwissenschaften, nämlich die Forderung nach Forschung und die Verpflichtung zu „objektiven" Untersuchungsmethoden, die erforderlich waren, um sie auf das Niveau einer strengen Wissenschaft zu heben (Droysen). 77 Diese Verpflichtung zur Objektivität war genauso zentral für die Geschichtswissenschaft wie für andere Bereiche der Wissenschaftsgemeinschaft. Die Aufgabe des Historikers war, wie Ranke es formulierte, zu „zeigen, wie es eigentlich gewesen." 78 Sie erkannte den fundamentalen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften, die „das sich wiederholende Allgemeine" zu erklären suchten, und den historischen oder Kulturwissenschaften, die hermeneutische Methoden des „Verstehens" erforderten, welche der Tatsache Rechnung trugen, daß das menschliche Verhalten und die Institutionen einzigartige Konstellationen von

76 A.a.O., 236. 77 Johann Gustav Droysen: Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft. In: Historik (s. Anm. 17) 451-469. 78 Ranke: Vorrede, a. a.O. (s. Anm. 14).

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„Sinnhaftigkeit" widerspiegelten.79 Der Historismus ist daher eng mit der Tradition der Geschichtswissenschaft in Deutschland identifiziert worden - von Ranke bis in das zweite Drittel des 20. Jahrhunderts - , einer Tradition, die mit der Bejahung des deutschen Nationalstaates, wie er unter Bismarcks Führung entstand, eng verbunden war. Obwohl viele Aspekte des sozialen und kulturellen Lebens - die Ökonomie, die Religion, die Rechtswissenschaften, die Kunst und andere Aspekte - innerhalb dieser Tradition historisch angegangen wurden, wurde doch der Staat als die zentrale Institution angesehen, die einen roten Faden für Geschichtserzählungen bot. In der jüngsten Literatur zu dieser Form des Historismus, die wir gerade untersuchten, haben zwei Fragen eine zentrale Rolle gespielt. Die eine betrifft das Verhältnis zwischen Theorie, gelehrter Praxis und Politik und besonders den Grad, bis zu dem der Historismus als eine akademische Tradition von seiner Verbindung mit einer bestimmten politischen Tradition getrennt werden kann. Die zweite betrifft den Platz, den der Historismus bei der Entstehung moderner Formen der Geschichtswissenschaft einnimmt. Die politische Funktion des Historismus ist sowohl von seinen Verteidigern wie von seinen Kritikern anerkannt worden. Angesichts seiner Enttäuschung über die politische Entwicklung der modernen Welt nach dem Ersten Weltkrieg 80 machte Meinecke eine scharfe Trennung zwischen Kultur und Politik, die in seinem früheren Werk noch aufs engste verbunden waren, 81 und sah nun im Historismus ein rein kulturelles Phänomen. Aber eine breite Strömung von Autoren erkannte die Verbindung zwischen den philosophischen Annahmen der etablierten deutschen historiographischen Tradition und der deutschen Politik an. Diese Autoren identifizierten diese Vorgehensweise in der Geschichte und in den Kulturwissenschaften als eine spezifisch deutsche Perspektive, die denjenigen des Westens überlegen war, welche angeblich Naturrechtskonzeptionen und analytischen Formen der Sozialwissenschaft verpflichtet waren. Während des Ersten Weltkrieges war dies eine zentrale Idee der Propaganda der Professoren, zu der Meinecke und Troeltsch beitrugen, die die deutschen „Ideen von 1914", von denen diese Sicht der Geschichte ein Teil war, den westlichen „Ideen von 1789" 82 entgegensetzten. Diese Auffassung der Geschichte hatte wenig zu tun mit der pessimistischen Ansicht, daß die Geschichtswissenschaft zur Relativierung und Zerstörung der Werte westlicher und deutscher Kultur beitrage. Ohne den Begriff Historismus zu gebrauchen, verfolgte Georg von Below in seiner Geschichte der deutschen Historiographie 83 von 1916 die Entwicklung

79 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1 (Arbeitswelt und Bürgergeist) (München 1990) 636f. 80 F. Meinecke: Die Idee der Staatsräson (1. Aufl. 1924). In: Werke, Bd. 1 (München 1957). Erste engl. Übers, unter dem Titel: Machiavellism. The Doctrine of Raison d'Etat and Its Place in Modern History. Introduction by W. Stark, trans. Douglas Scott (New Häven 1957). 81 Vorwort zur 2. Aufl. (1911) von: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates. Werke, Bd. 5 (München 1962). 82 Siehe Otto Hintze u. a. (Hg.): Deutschland und der Weltkrieg (Leipzig 1915) mit Beiträgen von Friedrich Meinecke, Hans Delbrück, Hermann Oncken, Erich Mareks, Gustav von Schmoller, Wilhelm Solf, Ernst Troeltsch, u. a. 83 G. von Below: Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen. Geschichte und Kulturgeschichte (Leipzig 1916).

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dieser Tradition in der deutschen Geschichtsschreibung, die er als romantisch etikettierte. 1936 bestätigte Meinecke diese Auffassung. Auch die Nazierfahrung zerstörte nicht diese Bindung an deutsche intellektuelle und politische Traditionen, wenn wir uns die Nachkriegsschriften von H. v. Srbik und Gerhard Ritter 84 ansehen. Erst seit Anfang der 60er Jahre wurde der Historismus von einer Generation von Historikern beurteilt, die die deutsche Vergangenheit kritisch betrachtete, als Teil einer Ideologie, welche zum verheerenden Weg beigetragen hatte, den Deutschland im 20. Jahrhundert gegangen war. Eckart Kehr hatte schon 1933 diese kritische Anmerkung in seinen Aufsatz über die deutsche Historiographie eingebracht. 85 In den 60er und frühen 70er Jahren kritisierte eine neue Generation von Historikern - Hans-Ulrich Wehler, Wolfgang Mommsen, Jürgen Kocka, Georg Iggers und andere - diese Form des Historismus nicht nur aus politischen, sondern auch aus methodologischen Gründen. Eine epische Geschichte der Politik konnte nicht eine adäquate Erklärung der Kräfte liefern, die zur deutschen Katastrophe geführt hatten. Diese erforderte eine „historische Sozialwissenschaft", 86 die den strukturellen Rahmen analysierte, in dem die deutsche Politik operierte. Mitte der 80er Jahre wurde dieser wissenschaftliche Ansatz in Frage gestellt, sowohl von den Historikern, die die Last der deutschen Schuld abschütteln und die deutsche Vergangenheit „normalisieren" oder „historisieren" 87 wollten, wie auch von den populistischen „Alltagskritikern",88 die die historischen Erfahrungen der durchschnittlichen Menschen wiedergewinnen wollten, welche von der älteren politischen Erzählung genauso wie auch durch die Konzentration auf unpersönliche Strukturen und Prozesse der sozialwissenschaftlich orientierten Historiker vernachlässigt worden waren. Die Literatur der vergangenen 10 Jahre, die sich mit dem Historismus als „Geschichtswissenschaft" befaßt, wie sie als professionelle Disziplin an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts entstand, hat drei verschiedene Richtungen genommen. Eine Richtung (Muhlack, Nipperdey) hält immer noch daran fest, daß der so aufgefaßte Historismus weiterhin ein gültiges Modell für die gelehrte Arbeit ist; eine zweite (Rüsen, Blanke, Jäger) erkennt die Beiträge an, die der Historismus für die moderne Geschichtswissenschaft geleistet hat, ist sich aber seiner Grenzen bewußt; eine dritte (Hardtwig, Oexle, Iggers) überprüft die außerwissenschaftlichen, politischen und philosophischen (eigentlich theologischen) Voraussetzungen, die den wissenschaftlichen Diskurs der Berufshistoriker kompromittiert haben. Das ehrgeizigste Beispiel der ersten Richtung ist Ulrich Muhlacks bereits erwähntes Buch Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus (1991). Für Muhlack stellt der Historismus immer noch die höchste Form der histori-

84 Heinrich Ritter von Srbik: Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, 2 Bde. (München 1950-1951); Gerhard Ritter: Die Dämonie der Macht (München 1948). 85 Siehe Eckart Kehr: Neuere deutsche Geschichtsschreibung. In: Der Primat der Innenpolitik (Berlin 1970) 254-268. 86 Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte (Göttingen 1975). 87 Martin Broszat: Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus. In: Historische Zeitschrift 247 (1988) 1-14. 88 Alf Lüdtke (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen (Frankfurt/M. 1989).

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sehen Erkenntnis dar, die bisher erreicht worden ist, wie er es für Meinecke getan hat. Und wie Meinecke sieht Muhlack im Historismus eine Leistung der deutschen Kultur.89 Er erklärt die Entstehung des Historismus als eine Entwicklung innerhalb historiographischen Denkens und historiographischer Praxis, die durch externe politische oder soziale Faktoren relativ unberührt blieb, obwohl er die Wirkung der französischen Revolution auf das historische Denken anerkennt.90 Für ihn fiel „die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft in Deutschland mit der Entstehung des sogenannten Historismus seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert zusammen".91 Von Deutschland ausgehend und als Produkt einer spezifisch deutschen Denkströmung spielte der Historismus eine maßgebliche Rolle in der „Modernisierung der Disziplin" 92 in der ganzen Welt. Vor dem Historismus habe es im strengen Sinne keine Geschichtswissenschaft gegeben. Der Historismus habe den Grundstein für eine wissenschaftliche Behandlung der Geschichte gelegt, indem er sie von Werturteilen befreit und ihre Funktion als magistra vitae beendet habe und es auf diese Weise ermöglichte, die Vergangenheit, so wie sie war, zu entdecken. Muhlack akzeptiert die Annahme des klassischen Historismus, „daß das Allgemeine [ . . . ] allein durch Individualisierung existiert", daß ein Eintauchen in das Individuelle eine Verbindung zum Ganzen herstellt, daß es nur „eine einzige Geschichte" gibt, die mittels historischer Befragung erklärt, verstanden werden kann und die mit Sinn erfüllt ist. 93 Indem der Historismus die exemplarische Funktion der älteren Geschichtsschreibung überwindet, die nur „wahrscheinliche Erkenntnis" erlaubte, ermöglicht er „wahre Erkenntnis". 94 Dann bekräftigt Muhlack erneut die deutsche historistische Vorstellung von der Zentralität der Nation in der Geschichte als der „Daseinsform der Menschheit", die Priorität des Staates und die entscheidende Rolle großer Persönlichkeiten.95 In einem Aufsatz von 1975 versuchte Nipperdey, den Historismus gegen die kritische sozialwissenschaftliche Schule in der Bundesrepublik zu verteidigen, die ihn nach seinen Worten bezichtigt hatte, „unmodern, unwissenschaftlich, ideologisch und reaktionär" 96 zu sein, und behauptete, daß, sobald der Historismus sich von seinen philosophischen und politischen Annahmen des frühen 19. Jahrhunderts befreit hätte, er als Grundlage für eine moderne Geschichtswissenschaft dienen könnte. In seinem monumentalen dreibändigen Werk über deutsche Geschichte von 1800 bis 1918 gelingt es Nipperdey, historistische Prinzipien in die Praxis einzuführen, gleichzeitig aber und besonders im dritten Band operiert er mit denselben philosophischen und politischen Annahmen, von denen er den Historismus befreien wollte.97

89 Siehe z. B. Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus (München 1991) 10. 90 A . a . O . , 4 1 5 . 91 A.a.O., 7. 92 A.a.O., 10: siehe auch F. Jaeger, J. Rüsen: Geschichte des Historismus, 3. 93 A.a.O.,424f. 94 A.a.O., 421. 95 A.a.O., 425. 96 Thomas Nipperdey: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neuren Geschichte, Bd. 18. In: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft (Göttingen 1976). 97 Th. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866 (München 1983); Deutsche Geschichte 1866-1918, 2 Bde. (München 1990-1992).

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Die zahlreichen Arbeiten, die in den letzten Jahren aus dem Kreis Jörn Rüsens erschienen sind, wie Friedrich Jaegers und Jörn Rüsens Geschichte des Historismus (1992),98 Rüsens Aufsatzsammlung Konfigurationen des Historismus (1993)" und Horst-Walter Blankes umfangreiche Historiographiegeschichte als Historik (1991),100 teilen Muhlacks Ansicht, daß der Historismus die zentrale Rolle bei der Feststellung dessen spielt, was sie als „Paradigma" für die moderne Geschichtswissenschaft ansehen, obwohl sie den Historismus in einen breiteren historischen Kontext einstellen, in dem seine Grenzen offensichtlich werden. Der Historismus ist, wie sie anmerken, „Teil eines umfassenden Prozesses der Modernisierung", die auch ein Prozeß der „Verwissenschaftlichung" ist. Der Historismus, der erkennt, daß alle menschliche Realität dem Wesen nach historisch und geschichtsbedingt ist, stellt die „spezifisch moderne Art des historischen Denkens" 101 dar. Sie stimmen mit Muhlack überein, daß der Historismus „die Einzigartigkeit der Vergangenheit als von der Gegenwart verschieden" und gleichzeitig „das übergreifend Verbindende der verschiedenen Epochen" 102 anerkannt habe. Wie Muhlack halten sie an ihrem Glauben an eine kohärente historische Darstellung für das Studium der Geschichte fest. Auch die Charaktere der wissenschaftlichen Historie sehen sie in ähnlicher Form. Der Historismus hört auf, die Geschichte als magistra vitae anzusehen und befreit die Historie von der Rhetorik. Historisches Denken wird „wissenschaftlich, wenn es bestimmte Regeln befolgt, die die Möglichkeit garantieren, seine Aussagen über die Vergangenheit und damit seine Objektivität zu überprüfen, und die ein ständiges Anwachsen des Wissens von der Vergangenheit, mit anderen Worten, einen Fortschritt in der Erkenntnis gewährleisten." 103 Rüsen und Jaeger sind also wenig über die Ungewißheit der wissenschaftlichen Erkenntnis und die Fragmentierung der Geschichte beunruhigt, von denen das postmodernistische Denken verfolgt wird. Sie glauben jedoch, daß der Historismus geschichtlich verstanden werden muß, d. h. in seiner Zeit, und zwar als ein „Paradigma", das die Geschichtswissenschaft im 19. und ebenso im 20. Jahrhundert beherrscht hat, nicht nur in Deutschland, sondern international. Dennoch spiegelt er für sie die Grenzen seiner Zeit. Blanke unterscheidet drei einander ablösende Paradigmen, das der Geschichtsschreibung der Aufklärung, des Historismus und schließlich jenes der historischen Sozialwissenschaft, von der oben die Rede war. Der Historismus stelle einen wissenschaftlichen Fortschritt gegenüber der Aufklärung dar, weil er eine radikalere historische Sicht der menschlichen Realität einleitete und im Prozeß der Professionalisierung strengere Methoden der wissenschaftlichen Befragung entwickelte. Gleichzeitig habe er unter dem Eindruck des Nationalismus die breite kosmopolitische Sicht der Aufklärung und deren Interesse an Kultur und Gesellschaft aufgegeben. Seine Sichtweise sei durch seine Verstrickung in den deutschen politischen status quo seiner Zeit eingeengt worden. Die historische Sozialwissenschaft habe die Anliegen der Historiographie der Aufklärung erneuert, ihnen aber eine strengere wissenschaftliche Form gegeben.

98 99 100 101 102 103

(München 1992). (Frankfurt/M. 1993). H.-W. Blanke: Historiographiegeschichte als Historik (Stuttgart 1991). F. Jaeger, J. Rüsen: Geschichte des Historismus, 7. U. Muhlack: Geschichtswissenschaft. F. Jaeger, J. Rüsen: Geschichte des Historismus, 41.

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Diese Auffassung der Abfolge von drei Paradigmen, von denen ein jedes den größten Teil der historischen Fragestellung in einer bestimmten historischen Periode bestimmt, wurde jüngst von Oexle in einer Rezension von Blankes Buch scharf angegriffen. 104 Blanke hat ohne Zweifel recht, wenn er schreibt, daß es seit der Entstehung des Historismus in den Universitäten bis zu der massiven Kritik dieser Auffassungen in den frühen 60er Jahren zumindest in gelehrten Kreisen eine beachtliche Gleichförmigkeit in den historischen, methodologischen und politischen Auffassungen gab. Überdies, wie Wolfgang Weber in seiner Untersuchung von Einstellungspraktiken vom frühen 19. Jahrhundert bis 1970 zu zeigen versucht hat, garantierten die Mechanismen der Disziplin und des akademischen Einflusses einen beträchtlichen Grad an ideologischer Konformität in den deutschen Universitäten in diesem Zeitraum. Blankes Buch ist die bisher informativste und umfassendste Geschichte der deutschen Historiographie. Aber Oexle hat ohne Zweifel recht mit seiner Kritik, daß Blankes Paradigmenabfolge die Unterschiede übersieht, die es dennoch gab, und die Geschichte der Geschichtsschreibung zu eng aus der Perspektive der deutschen Universität sieht. Muhlack, Rüsen und Blanke sind noch tief vom wissenschaftlichen Charakter der Historiographie beeindruckt, den sie mit dem Historismus identifizieren. Andere Beiträge von Hardtwig, 105 Oexle 106 und Iggers 107 aus jüngerer Zeit hegen Zweifel an den Ansprüchen deutscher Historiker an ihrer wissenschaftlichen Objektivität. Für Rüsen spielt Droysen eine entscheidende Rolle bei der Transformation der Geschichte in eine strenge Wissenschaft. 108 Droysen formuliert die methodologischen Richtlinien, die den Übergang der Historie von empirischen Daten, die durch kritisches Quellenstudium rekonstruiert wurden, hin zu einer Einsicht in die größeren historischen Zusammenhänge erlauben. Diese Einsicht erfordert einen hermeneutischen Ansatz, das Eintauchen des Historikers in die geistige Welt der Handelnden in der Geschichte. Die Möglichkeit, die Vergangenheit durch hermeneutische Mittel - mit Droysens Worten durch „Interpretation" - zu rekonstruieren, setzt voraus, daß es einen wirklichen geistigen Zusammenhang gibt, der erfaßt werden kann. Ranke merkte an, es gebe „geistige, lebenspendende, kreative Kräfte", „sittliche Mächte" in der Geschichte. „Zu definieren, unter Abstraktionen zu bringen sind sie nicht; aber anschauen, wahrnehmen kann man sie". 109 Droysen ist sich mehr als Ranke der Grenzen objektiver Erkenntnis bewußt, wenn er schreibt, daß „die historische Forschung die Einsicht voraussetzt, daß auch der Inhalt unseres Ich in vielerlei Hinsicht ein Produkt der Geschichte ist". Aber er hält den

104 O. G. Oexle: Göttingen-Bielefeld einfach. In: Rechtshistorisches Journal 11 (1992) 54-66; Blankes Antwort: „Historismus" im Streit. Oder: Wie schreibt man heute eine Geschichte der Geschichtswissenschaft. Ebd., 12 (1993) 585-597. 105 S . o . A n m . 53. 106 S . o . A n m . 51. 107 G. G. Iggers: Ist es in der Tat in Deutschland früher zur Verwissenschaftlichung der Geschichte gekommen als in anderen europäischen Ländern? In: W. Küttler, J. Rüsen, E. Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 2: Anfänge modernen historischen Denkens (Frankfurt/M. 1994) 73-86. 108 So überall in Rüsens Arbeiten, beginnend mit seinem Buch: Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysens (Paderborn 1969); siehe auch Droysen (s. o. Anm. 68). 109 L. v. Ranke: Die großen Mächte, a. a.O. (s. Anm. 15) 62.

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Glauben an die Objektivität fest, wenn er schreibt: „Natürlich werde ich nicht die großen Aufgaben der historischen Darstellung aus meiner willkürlichen Subjektivität oder aus meiner kleinen und unbedeutenden Persönlichkeit herauslösen wollen. Aber wenn ich die Vergangenheit aus der Perspektive meines Volkes, Staates oder meiner Religion betrachte, stehe ich hoch über mir. Es ist, als dächte ich aus der Warte eines höheren Ich, in dem die Schlacke meiner kleinlichen Person weggeschmolzen ist." 110 So konnte Hardtwig argumentieren, daß der Historismus in seiner deutschen Ausprägung von dem nüchternen, nichtspekulativen Ansatz, den er für sich beanspruchte, weit entfernt und mit Religion und Theologie tief vernetzt war.111 Nipperdeys Behauptung, mit der Muhlack einverstanden wäre, daß der Historismus alle Transzendenz aufhob und nur „immanente historische Prozesse" 112 kannte, gilt nicht für die deutsche historische Tradition der Historiographie von Ranke bis Meinecke und Ritter. Für Humboldt, Ranke und Droysen erhält die Geschichte einen Zusammenhang durch die „Ideen" und „sittlichen Mächte", die den göttlichen Willen reflektieren. Dieser Wille mag auf geheimnisvolle Weise operieren und bleibt unerforschlich, aber nichtsdestotrotz macht er historische Erkenntnis möglich. „So durchdrungen bin ich von der allmächtigen Regierung Gottes", schrieb der junge Droysen an seinen Verleger Friedrich Perthes, „daß ich meine, es kann auch kein Haar vom Haupte fallen ohne seinen Willen." 113 Iggers hat auf die politischen Implikationen dieser Geschichtsreligion für die Rechtfertigung von existierenden politischen und sozialen Machtverhältnissen hingewiesen.114 Hardtwig und Oexle hatten ebenso darauf hingewiesen, daß trotz ihres philosophischen Idealismus die Historiker der historistischen Tradition eine wesentlich objektivistische Auffassung ihrer Wissenschaft hatten. Einerseits lehnten sie den Versuch der hegelianischen Philosophie und der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts ab, Gesetze zu formulieren, und betonten die Rolle von Spontaneität und Freiheit in der Geschichte. Andererseits akzeptierten sie vieles von dem Habitus der Naturwissenschaftler, indem sie sich auf die Autorität des etablierten professionellen Historikers beriefen, um über die Geschichte zu sprechen. Wie wir gesehen haben, war Ranke zuversichtlich, daß es auf der Grundlage einer sorgfältigen und erschöpfenden Prüfung der Quellen möglich sei zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen". Wie wir ebenfalls gesehen haben, war Droysen trotz seines Bewußtseins von der Rolle der Subjektivität in der historischen Erkenntnis gleichfalls davon überzeugt, daß das methodische Studium der Geschichte die historische Wahrheit offenbaren würde. Ihrem praktischen philosophischen Idealismus zum Trotz waren die Historisten der positivistischen und marxistischen Weltanschauung näher, als sie dachten. Droysen kritisierte Buckle nicht, weil dieser an den Fortschritt der Geschichte glaubte, sondern weil Buckles naturalistische historische Methode mit sinnvollem Fortschritt unvereinbar war.115 In ähnlicher Weise suchten

110 111 112 113

J. G. Droysen: Vorlesungen über die Freiheitskriege, I (Kiel 1846) 287. Hardtwig: Geschichtsreligion. Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, a.a.O., Bd. 1, 637. Droysen an Perthes, 1836. Johann Gustav Droysen Briefwechsel, hg. von Rudolf Hübner, Bd. 1, 1829-1851 (1929, N D Osnabrück 1967) 103. 114 G. G. Iggers: The German Conception of History. 115 J. G. Droysen: Grundriss der Historik (Leipzig 1868) 59-60.

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Dilthey und die Neukantianer eine Logik der Untersuchung, die die Rolle von Sinn im kulturellen Leben anerkannte, aber auch eine wissenschaftliche Strenge ähnlich jener der Naturwissenschaften begründete. Für Blanke war eines der großen Defizite des Historismus seine relative Vernachlässigung sozialer und kultureller Anliegen, welche manche Historiker der Aufklärung beschäftigt hatten. Für Hardtwig und Oexle war es der Verlust der perspektivistischen Sicht von Erkenntnis eines Chladenius, Gatterer und anderer Denker der Aufklärung und ihre Ersetzung durch objektivistische Auffassungen von Wissenschaft. Dies führt zu einem anderen Thema der jüngsten Literatur über den Historismus, der Frage nach dem Zeitpunkt, an dem die Geschichte eine „Wissenschaft" wurde, und der damit verbundenen aber nicht identischen Frage, wann sie eine professionalisierte Disziplin wurde. Für Muhlack ist die Antwort sehr klar: Sie wurde Wissenschaft an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit der Entstehung des Historismus als Weltsicht und gelehrter Praxis. Ohne den Historismus war, wie er glaubt, keine Geschichtswissenschaft im modernen Sinne möglich. Für Muhlack hatte die Aufklärung eine moralistische, statische Sicht der Vergangenheit, der Historismus aber eine genetische. Die Aufklärung projizierte ihre Werteskala auf die Vergangenheit; die Historiographie in der Tradition des Historismus vermied dieses. Die Tatsache jedoch, daß wenige Stränge der Geschichtsschreibung so ideologisch und politisch verflochten waren wie die preußische Schule, Droysen eingeschlossen, macht Muhlacks Bemerkung wenig glaubwürdig. Wir haben eine beträchtliche Literatur von Ernst Cassirers Die Philosophie der Aufklärung (1932) 116 bis Peter H. Reills The German Enlightenment and the Rise of Historicism (1975),117 welche zeigt, daß die Aufklärung in keiner Weise unhistorisch war. Peter H. Reill hat die Kontinuität im Übergang von der Aufklärung zum Historismus betont. Die Mitarbeiter des Bandes Aufklärung und Geschichte (1986),118 das Ergebnis einer Konferenz von 1981 über historische Studien im 18. Jahrhundert, kamen größtenteils zu ähnlichen Schlüssen. Blanke 119 und Iggers 120 haben auf die Beschäftigung der Historiker des 18. Jahrhunderts, besonders der Göttinger Schule, mit Sozial- und Kulturgeschichte und auf deren Gebrauch von anthropologischen, linguistischen, ökonomischen, demographischen und statistischen Begriffen hingewiesen. Konrad Jarausch hat frühe, unvollkommene Formen der Professionalisierung untersucht.121 Dennoch warnen sie vor einer Modernisierung der historischen Arbeit des 18. Jahrhunderts. Jeremy Telman führt diesen Punkt in überzeugender Weise in seiner jüngst erschienenen Dissertation über die Pro-

116 Engl. Ausg. (Boston 1951). 117 (Berkeley 1975). 118 Hans Erich Bödeker u. a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft (Göttingen 1986). 119 H.-W. Blanke: Historiographiegeschichte als Historik (Stuttgart 1991). 120 G. G. Iggers: Die Göttinger Historiker und die Geschichtswissenschaft des 18. Jahrhunderts. In: Siegfried Bahne u. a. (Hg.): Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit (Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag) (Göttingen 1982); The University of Göttingen 1760-1800 and the Transformation of Historical Scholarship. In: Storia della Storiografia, 2 (1982) 11-37. 121 Konrad H. Jarausch: The Institutionalization of History in 18th-century Germany. In: H. E. Bödeker u. a. (Hg.): Aufklärung und Geschichte, 25-49.

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fessionalisierung historischer Studien aus. Er benutzt den in der soziologischen Literatur 122 üblichen Begriff der Professionalisierung und statistische Verfahren und schließt, daß der „Vormärz" in Preußen „die Periode und der Ort war, worin Historiker ihre eigenen professionellen Institutionen und ihre eigene wissenschaftliche Methodologie gründeten" 123 - eine Periode, die mit der Etablierung des Historismus „als des herrschenden Paradigmas für historische Gelehrsamkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts" 124 zusammenfiel. Aber die Professionalisierung sollte nicht so eng mit der „Verwissenschaftlichung" identifiziert werden, wie es Rüsen und Blanke tun. Die englische Sprache zieht es vor, eher von historical studies oder historical scholarship als von historischer Wissenschaft zu sprechen, und erlaubt so mehr Nuancen als der deutsche Begriff „Geschichtswissenschaft". Für die ernsthafte historische Erkenntnis sind mehrere wissenschaftliche oder gelehrte Strategien möglich, von denen die deutsche historistische Version nur eine war. So schrieben Historiker in Frankreich, Schottland, England, Göttingen und anderswo bedeutende historische Arbeiten auf solider wissenschaftlicher Grundlage, obwohl sie Telmans Kriterium des Professionalismus nicht entsprachen. Ebenso besteht die Gefahr, die Entwicklung der historischen „Wissenschaft" im 19. Jahrhundert mit dem deutschen historistischen Paradigma zu identifizieren, wie Rüsen und Muhlack es getan haben. Die sehr unterschiedlichen Arbeiten von de Tocqueville, Burckhardt, Fustel de Coulanges, Marx, Lorenz von Stein und Max Weber zeigen, daß historische Studien in sehr verschiedene Richtungen gehen konnten. Ein Mangel vieler Beiträge, die wir in diesem Aufsatz diskutiert haben, ist, daß sie allzu sehr eine deutsche Orientierung aufweisen. Der von Muhlack gefeierte „universale Siegeszug" 125 der deutschen Geschichtswissenschaft mag sich letztendlich hohler erweisen, als er dachte. Schließlich isolierten sich in der akademischen Disziplin der Geschichte die Historiker in Deutschland im 19. und noch lange im 20. Jahrhundert von vielen Strömungen zeitgenössischen Denkens. Dies hatte ohne Zweifel etwas mit dem politischen und soziologischen Kontext zu tun, in dem sich das intellektuelle Leben in Deutschland abspielte. In einem interessanten Aufsatz über den deutschen Mediävisten Georg von Below, 126 der tief in der deutschen historistischen Tradition mitsamt ihren Implikationen stand, warf Oexle die Frage auf, warum Frankreich im 20. Jahrhundert Deutschland vom ersten Platz in der Mediävistik, den dieses im 19. Jahrhundert innegehabt hatte, verdrängt habe.

4. Die Literatur über die Relevanz des Historismus für die Geschichtsschreibung heute Die jüngste deutsche Literatur über die Relevanz des Historismus ist enttäuschend gewesen, weil sie mit Konzeptionen aus der Vergangenheit operiert hat, ohne die Herausforderung zu

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D. A. J. Telman: Clio Ascendant, 79. A.a.O., 2. A.a.O., 22. U. Muhlack, a.a.O., 10. O. G. Oexle: Ein politischer Historiker: Georg von Below. In: Notker Hammerstein (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (Stuttgart 1988) 283-312. Hier warf Oexle die Frage auf, warum Deutschlands Vorherrschaft in der Mittelalterforschung durch Frankreich abgelöst wurde.

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beachten, die das neuere Geschichtsdenken an traditionelle Auffassungen von Geschichte gestellt hat. Weniger in seiner historischen Darstellung der Geschichte des Historismus als in seiner Analyse der Narrativität ist Jörn Rüsen der Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung am nächsten gekommen. 127 Der Historismus operierte mit der Auffassung einer objektiven, kohärenten und dadurch sinnvollen Vergangenheit. Die Tatsache, daß diese Vergangenheit in Begriffen von historischem Wandel gesehen wurde, änderte dieses nicht. Einerseits kam der Historismus, indem er die historische Mannigfaltigkeit berücksichtigte, einer Sicht der Vergangenheit näher, die der Komplexität der Geschichte gerecht wurde; andererseits war der Historismus mit seiner Theorie der Ideen, welche den die Geschichte ausmachenden Entitäten und dem historischen Prozeß selbst eine Einheit innerhalb des Wandels zusprach, noch tiefer in einem metaphysischen Morast verstrickt als Aufklärungshistoriker wie Gibbon, den er geißelte. Nipperdeys Versuche, den Historismus von seiner metaphysischen Sprache zu befreien, um in den Ideen bloß einen Versuch zu erblicken, die epochalen Bewegungen der Geschichte zu bestimmen, verändern die Sprache, aber nicht die Substanz der historischen Sichtweise. Ebenso wenig überzeugend ist Nipperdeys und Muhlacks Behauptung, daß der Historismus, wie er in der deutschen Tradition von Ranke bis Meinecke verstanden wurde, darin erfolgreich war, die historische Arbeit von Ideologie zu befreien. Wie wir ausgeführt haben, war das Gegenteil der Fall. Innerhalb dieser Diskussion führt der Versuch des niederländischen Geschichtstheoretikers F. R. Ankersmit, die Rolle des Historismus im zeitgenössischen historiographischen Denken zu bestimmen, neue aber teilweise problematische Perspektiven ein. 128 Wie die deutschen Historisten, von Dilthey bis Meinecke und Muhlack, zeichnet Ankersmit - Gibbon als Hauptbeispiel benutzend - ein Bild der Historiographie der Aufklärung, demzufolge sie mit einer ahistorischen Auffassung von sozialer Realität operierte, mit einem „ontologischen Substantialismus", der nur periphere Veränderungen zuließ. Da er nicht in der Lage war, substantielle Veränderungen zu erklären, stütze er sich auf rhetorische Mittel. Der Historismus historisiert die Substanz, aber, so Ankersmit, er kann die Kohärenz in seiner Darstellung nur dadurch aufrechterhalten, indem er auf die Theorie der Ideen mit ihren metaphysischen Implikationen zurückgreift. Bei dem Versuch, die historische Sprache von ihren rhetorischen Elementen zu befreien und zu den Dingen zu gelangen, zu der „Entrhetorisierung und Versachlichung", welche Rüsen als ein entscheidendes Element des Historismus als einer Gelehrtenbewegung ansah, wandte er sich, so Ankersmit, paradoxerweise einem neuen Objektivismus zu. Sobald die metaphysischen Annahmen, auf denen die historistische Geschichtsschreibung beruhte, ihre Glaubwürdigkeit verloren hatten, verlor die Geschichte ihren Zusammenhang und löste sich in Fragmente auf. An diesem Knotenpunkt können wir erkennen, wie Ankersmit schreibt, wo der Historismus und der heutige Narrativismus übereinstimmen und wo nicht. Beide stimmen darin überein, daß es die Aufgabe des

127 Siehe J. Rüsen: Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur (Frankfurt/M. 1993). 128 Siehe F. R. Ankersmit: Historiography and Postmodernism. In: History and Theory 28 (1989) 137-153; ders.: Historicism: An Attempt of Synthesis, a. a.O., 34 (1995) 143-161. Siehe auch G. G. Iggers: Comments on F. R. Ankersmit's Paper, a.a.O., 162-167, und Ankersmit's Reply, a.a.O., 168-173.

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Historikers ist, in der Vergangenheit einen „Zusammenhang" zu sehen. Aber wo die Historisten die historische Idee als eine Entelechie dachten, die in der Vergangenheit selbst vorhanden war und die in der Sprache des Historikers gespiegelt werden muß, glauben die Narrativisten, daß die Sprache des Historikers nicht einen Zusammenhang spiegelt, sondern der Vergangenheit einen Zusammenhang gibt. Ein „Zusammenhang", sagt Ankersmit, „hat seine Quelle entweder in der Realität oder in der Sprache, die wir für ihn verwenden. Es gibt keine dritte Möglichkeit." „Mit einem Wort", heißt es bei ihm weiter, „der Narrativismus ist ein Historismus, der von all seinem metaphysischen Zuwachs und von den letzten Überbleibseln des Aufklärungssubstantialismus, den Humboldt und Ranke noch in ihrer Vorstellung von historischer Idee beibehielten, gereinigt worden ist." „Für den Narrativisten", argumentiert Ankersmit, „ist die Substanz ein linguistisches Ding, das alle ontologischen Eigenschaften eines Dings hat". Aber die Beziehung zwischen Sprache und Ding scheint mir problematischer zu sein. Für Ankersmit liegt die Lösung in der metaphorischen Funktion der Sprache. Ich würde Ankersmit zustimmen, daß Metaphern in der Tat ein machtvolles Mittel für die historische Erkenntnis sein können, aber um das zu sein, bedarf es noch der Annahme einer historischen Realität, wie komplex und vermittelt auch immer der Prozeß der erkennenden kognitiven Annäherung sein mag. In der Tat, warum sollten wir die Entweder/Oder-Alternative akzeptieren, die Ankersmit postuliert? Sind Sprache und Realität nicht eng in einer Weise miteinander verknüpft, die von der Beziehung zwischen Theorie und Realität in den Naturwissenschaften heute nicht so weit entfernt ist? Für Ankersmit stellt die neue Kulturgeschichte eine Form des Historismus dar, die für die intellektuelle Situation der Zeit am besten geeignet ist. Sie ist vom „kleinen, unbedeutenden Detail" fasziniert und denkt nicht länger in Begriffen für Zusammenhänge, große soziale Wesenheiten oder Prozesse, womit das ältere historische Denken sich beschäftigte. Und weil sie sich von Vorstellungen von Kohärenz befreit hat, kann sie sich jetzt der Vergangenheit in einer Direktheit und Unmittelbarkeit nähern, die die Historisten anstrebten, aber verfehlten. „Wir begegnen jetzt der Vergangenheit mit derselben Direktheit", bemerkt er, „mit der der Anthropologe der fremden Kultur begegnet". So wird eine Geschichte möglich, die frei ist von ideologischen Voraussetzungen. „Diese neuen Formen der Geschichtsschreibung", schreibt er, „haben [ . . . ] alle ideologischen und emanzipatorischen Prätentionen ihrer historiographischen Vorgänger aufgegeben", das Bestreben, die historische Identität zu bestimmen, eingeschlossen. So scheint es, daß die Geschichte eine neue Objektivität erlangt hat, ohne einem Subjektivismus zu verfallen. Das übersieht jedoch, wie emanzipatorisch-hochpolitisch und unverhüllt - ich denke an so verschiedene Autoren wie Carlo Ginzburg, Hans Medick und Natalie Davis - diese Geschichte gewesen ist und wie wichtig ihr die Suche nach Wesenheiten war. Ankersmit begeht erneut den Fehler des älteren Historismus, man könnte auch sagen: desselben Objektivismus, den er zu überwinden versucht, indem er dessen Verpflichtung zur Unmittelbarkeit des Gegenstands der historischen Unterscheidung erneuert und das Ausmaß übersieht, in dem er seine ideologischen Vorannahmen auf diesen Gegenstand projizierte. Die neue Kulturgeschichte, die Ankersmit hier im Sinn hat, macht ein Interesse an Aspekten des Alltagslebens geltend, die zu lange vernachlässigt worden sind. Sie fügt eine Reihe neuer Gesichtspunkte zu den älteren hinzu, ohne die letzteren ungültig zu machen. Aber Geertz' Interpretation der Kulturen mittels „dichter Beschreibung", wie es Ankersmit vor-

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schwebt, kann uns hier nicht mehr Zusammenhang und Sinn bieten als Rankes und Droysens Eintauchen in die Quellen. All die neueren Arbeiten der Mikrohistorie oder der historischen Anthropologie - hier denke ich an Geertz, Sahlins, Bourdieu, Ginzburg, Sabean, Daraton und viele andere - postulieren wissentlich oder unwissentlich einen kulturellen Zusammenhang, der den von ihnen beobachteten „kleinen, unbedeutenden Details" ihren Sinn gibt. Vielleicht wäre es ehrlicher zu gestehen, daß keine Geschichte den Grenzen ideologischer Perspektive entgehen kann, aber daß jede Perspektive, weil sie eine Perspektive ist, neue Fragen aufwirft, die neue Einsichten in die historische Realität erlauben. Jede Sicht der Vergangenheit ist offensichtlich ein Konstrukt der Sprache, das Metaphern benutzt, aber kein willkürliches Konstrukt. Letztendlich würde ich Max Webers Analyse zustimmen, daß die Geschichte eine „Wirklichkeitswissenschaft" ist, mit all den methodologischen Komplexitäten, die eine solche „Wissenschaft" beinhaltet.

LAWRENCE A . SCAFF

Geschichte und Historismus in der deutschen Tradition des politischen und ökonomischen Denkens

1. Gegenwärtige und vergangene Kontexte D a s N a c h d e n k e n über die Idee v o n „Geschichte", „Historismus" oder „Historizismus" stellt heute e i n e u n g e w ö h n l i c h e Herausforderung dar. 1 Einerseits wird der e i n s i c h t i g e Gebrauch dieser Termini in der F o l g e v o n D i s k u s s i o n e n , die z w e i Jahrhunderte überspannen, durch d i e erschreckende M e n g e v o n widersprüchlichen und mehrdeutigen Konnotationen verhindert. D e r H i s t o r i s m u s wird in Verbindung gebracht mit d e m Glauben an die rationale N o t w e n d i g keit d e s Fortschritts, mit der S u c h e nach „ w i s s e n s c h a f t l i c h e n " E n t w i c k l u n g s g e s e t z e n , mit der B e t o n u n g d e s Partikularen und nicht Wiederholbaren in m e n s c h l i c h e n A n g e l e g e n h e i t e n , mit B e h a u p t u n g e n über die Relativität v o n Wahrheit oder mit der normativen B e j a h u n g d e s Wertes v o n historischer Erkenntnis. Für e i n i g e Autoren ist der Historismus enthalten in praktisch jeder Vorstellung, d i e das ausdrückt, w a s „die D ä m m e r u n g alles A b s o l u t e n und d i e vers c h w i n d e n d e n Horizonte der B e d e u t u n g " 2 genannt w o r d e n ist. Für andere w i e Karl Popper

1 Das deutsche Wort „Historismus" kann ins Englische entweder mit „historism" oder „historicism" übersetzt werden. Im Englischen ist das Wort „historicism" unvermeidbar, da dieser Begriff praktisch jede Diskussion über diese Themen beherrscht. Aber es sollte erwähnt werden, daß es eine latente Unterscheidung zwischen „Historismus" und „Historizismus" gibt, die m. W. zuerst von Nietzsche geäußert und später in Karl Poppers polemischem Friihwerk Das Elend des Historizismus zugänglich gemacht wurde, welches 1936 als Vortrag gehalten und übersetzt als The Poverty of Historicism (1964) veröffentlicht wurde. Eine klare Unterscheidung zwischen Historismus und Historizismus, die Nietzsches Unterscheidung zwischen einem historischen Standpunkt oder ethos und einer Ideologie des notwendigen Fortschritts in der Geschichte folgte, ist in englischsprachigen Diskussionen nicht eine akzeptierte Konvention geworden, obwohl sie vielleicht eine werden sollte. Zumindest sollte der standardisierte Gebrauch in jeder westlichen Sprache zwischen historischen und historistischen Standpunkten unterscheiden, wie auch zwischen Historizität (der Tatsache, historisch zu sein) und Historisierung (eine Interpretation, die den historischen Charakter der Gegenstände der Erkenntnis betont) oder sogar zwischen der „historischen Methode" per se und Historismus (vgl. Peter Koslowski: Der ökonomische Zwischenbau: Volkswirtschaftslehre als ethische und kulturelle Ökonomie. In: Gustav Schmoller heute: Die Entwicklung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien [Berlin 1989] 205-211). Solche Unterscheidungen sind häufig schwer durchzuhalten, besonders vielleicht in einer Sprache wie dem Englischen, da sie nur eine einzige Wortwurzel besitzt anstatt eines Begriffspaares (Geschichte und Historie) und seinen Ableitungen. 2 Hans Meyerhoff: History and Philosophy: An Introduction. In: The Philosophy of History in Our Time (New York 1959) 22.

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ist„Historizismus" ziemlich konkret „jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften [ . . . ] , die annimmt, daß die historische Voraussage deren Hauptziel bildet und daß sich dieses Ziel dadurch erreichen läßt, daß man die .Rhythmen' oder ,Patterns\ die .Gesetze' oder .Trends' entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen." 3 Solche Ansichten klingen an frühere Äußerungen über den Historismus und Historizismus an wie an Diltheys Bemerkung: „Wie in den Naturwissenschaften ermöglicht auch in der Geschichte eine Regelmäßigkeit im Wirkungszusammenhang Voraussage und auf Wissen gegründete Einwirkung." 4 Die Möglichkeit von prognostischer Erkenntnis paßt natürlich nicht zur landläufigen Vorstellung, daß es die „Aufgabe des Historikers ist [ . . . ] , die Vergangenheit zu erkennen, nicht die Zukunft", 5 oder zum Grundsatz Max Webers: „Wir erstreben eben die Erkenntnis einer historischen, d. h. einer in ihrer Eigenart bedeutungsvollen Erscheinung".6 Es sind solche kontrastierenden Vorstellungen und ausgesprochenen Widersprüche, die die Bedeutung des „Historismus" in Frage gestellt und in mancher Hinsicht seinen Ruf beeinträchtigt haben. Andererseits aber wurde der Historismus heutzutage wieder modern, indem er in den neueren Diskussionen über Rationalität und die Begründungen von Erkenntnis in einem positiven Licht wieder in Erscheinung trat. Die in weiten Kreisen mit Aufmerksamkeit registrierte Feststellung des Zusammenbruchs der „großen Erzählungen" 7 - von denen ein „transzendentaler Historismus" (Dilthey) eine zu sein pflegte, welche häufig in Gestalt dessen erschien, was Popper „den Glauben an das historische Schicksal" nannte - hat neuen Raum für einen radikalen, antimetaphysischen Historismus geschaffen, der von Aufklärungs- oder hegelianischen Ansprüchen befreit ist und sich statt dessen an einem selbstkritischen „postmodernen" (Lyotard) oder „pragmatischen" (Rorty) Bewußtsein ausrichtet. Für Lyotard insbesondere ist dieser vereinfachte sachliche, auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholte Historismus notwendig als ein Schutz gegen Totalitäten in der Philosophie, Totalitarismus in der Politik oder Terror im persönlichen Leben und in der Kunst. Für Rorty und den wieder ins Leben gerufenen Pragmatismus könnte der Historismus am besten als eine „historische Sensibilität" 8 beschrieben werden, die zu einer pragmatischen Wahrheitstheorie führt, welche die Möglichkeiten menschlicher Freiheit aufdeckt. 9

3 Karl Popper: The Poverty of Historicism (New York 1957, [1936], dt. 2 1969) 2. 4 Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Ges. Sehr. Bd. 7 ( 7 1979) 163. 5 Robin George Collingwood: Philosophie der Geschichte (Stuttgart 1955) 62. 6 Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann (Tübingen 1968) 177. 7 Jean-François Lyotard: The Postmodern Condition: A Report on Knowledge, trans. G. Bennington, B. Massumi (Minneapolis 1984 [1979]) 15. 8 James T. Kloppenberg: Uncertain Victory: Social Democracy and Progressivism in European and American Thought, 1870-1920 (New York 1986) 107-114. 9 Während sich Rorty in seinem Hauptwerk mit der pragmatischen „Belehrung" identifiziert, erläutert er, daß „die Moral dieses Buches [ . . . ] gleichfalls eine historistische" ist. Richard Rorty: Der Spiegel der Natur: Eine Kritik der Philosophie (Frankfurt/M. 1981) 20. Kloppenberg merkt an, daß, um Konfusionen zu vermeiden, er „historische Sensibilität" (d. h. „Historismus" in der in Anm. 1 vorgeschlagener Terminologie) als ein Synonym für „historicism" gebrauchte. A. a.O., 442 n 68.

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Darüber hinaus sollte die neue Aktualität des Historismus in philosophischen und literarischen Kreisen zusammen mit zwei anderen politisch aufgeladenen zeitgenössischen Diskussionen gesehen werden - wovon eine offensichtlich ist, die andere mehr verborgen. Die erste ist der jetzige Dialog über den „Sinn in der Geschichte" oder das „Ende der Geschichte", in welchem Dialog die Lehren des posthistoire auf zweifache Weise angewendet zu werden scheinen: für die Legitimation von Vorstellungen unserer Vergangenheit, neu bestimmt als „eine sich unaufhörlich steigernde Spiegelung menschlicher Subjektivität" (Lepenies), 10 die gegenüber einer angeblichen Historizität der modernen Kultur völlig indifferent zu sein scheint; oder für den Vorschlag einer Rückkehr zu Vorstellungen „von einem kohärenten und zielgerichteten Verlauf der Menschheitsgeschichte", welche sich in den Möglichkeiten sonnt, „das absolute Bewußtsein seiner selbst" in der Geschichte zu erlangen (Fukuyama). 11 Wenn man den Verlauf dieser Vorstellungen im 19. Jahrhundert von Hegel bis zu Marx und Nietzsche berücksichtigt, kann es überraschend erscheinen, aber dennoch sachgemäß sein, scheinbar neue Varianten des Historizismus zu entdecken, die aus einer Synthese zweier dem 19. Jahrhundert entnommener Elemente hervorgehen: dem Glauben an die heutige Vollendung des Projekts des abendländischen Rationalismus und dem Glauben an einen radikalen Perspektivismus. Beide entstammen der Fundgrube des Historismus, obwohl ihre Verschmelzung in radikaler Weise instabil ist. In der Tat enthält Fukuyamas Abhandlung bei näherem Hinsehen viel mehr von Nietzsches Furcht vor dem Hegeischen Eintritt in die nächste historische Phase, als seine Kritiker gewöhnlich gesehen haben. Der andere Mittelpunkt der Debatte ist überraschender und in gewisser Weise weniger zugänglich. Er liegt im neuen Denken über die alte Frage von Ökonomie und Gesellschaft, wo die Aufmerksamkeit auf einen interessanten Zusammenfluß von Bedenken gerichtet ist: wachsende Zweifel an den herrschenden Analysemethoden in den Wirtschaftswissenschaften, verbunden z. B. mit Fragen, die Autoren wie Sen 12 aufgeworfen haben, oder, von einem anderen Ausgangspunkt aus, mit der in den Vereinigten Staaten von kommunitaristischen Aktivisten wie Etzioni 13 artikulierten Kritik; Bedenken gegenüber den ethischen Voraussetzungen von Management und Wettbewerbsfähigkeit in Unternehmen angesichts starker internationaler Herausforderungen; 14 und das erneute Interesse an der Praxis einer „ethischen Ökonomie" oder an Auffassungen von „moralischer Ökonomie". 15 Was diese Diskussionsthemen gemeinsam haben ist im allgemeinen ein Interesse, die ökonomische Aktivität in ihrer Einbettung in sozio-historische Institutionen, Ordnungen, Normen und Erfahrungen

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Wolf Lepenies: Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa (Frankfurt/M. 1992) 91. Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte - wo stehen wir ? (München 1992) 13, 104. Amartya Sen: On Ethics and Economics (Oxford 1987). Amitai Etzioni: The Moral Dimension: Toward a New Economics (New York 1988). Philip Selznick: The Moral Commonwealth: Social Theory and the Promise of Community (Berkeley 1992) 345-354; James Fallows: Looking at the Sun: The Rise of the New East Asian Economic and Political System (New York 1994) ch. 1. 15 Peter Koslowski, Yuichi Shionoya (Hg.): The Good and the Economical (Berlin 1993); William James Booth: Households: On the Moral Architecture of the Economy (Ithaca 1993); ders.: A Note on the Idea of the Moral Economy. In: American Political Science Review 87 (1993) 949-954.

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zu verstehen. 16 Fallows' populäre, wenn auch etwas unbeholfene Behandlung des Themas bringt es auf der Ebene der Wirtschaftstheorie auf den Punkt, indem er Adam Smiths individualistische, abstrakte und rationalistische Annahmen über die ökonomische Aktivität mit Friedrich Lists Historismus kontrastiert und anmerkt, daß dieser letztere die Ökonomie als eine moralische und historische Wissenschaft auffaßte und für seine Verallgemeinerungen über ökonomische Aktivität und seine Erklärungen von unternehmerischem Erfolg „sich beträchtlich an die Geschichte seiner Zeit anlehnte".17 Nach dieser Sicht hat eine neoklassizistische, von Smith abgeleitete Ökonomie die theoretischen Schlachten des 20. Jahrhunderts gewonnen, ungeachtet ihrer „drei großen Unzulänglichkeiten", wie Fallows sie nennt die, wie es sich herausstellt, alle mit einer Unfähigkeit, die Historizität von ökonomischer Aktion zu begreifen, zu tun haben.18 Lists alternative Ansichten sind zum großen Teil vergessen worden. Das Nachzeichnen des Zickzack-Kurses des Historismus bis zu seiner gegenwärtigen Wiederauferstehung dient dazu, uns an das Ausmaß zu erinnern, in dem die gesamte Diskussion des 20. Jahrhunderts durch die Kategorien der deutschen Philosophie und Geschichtsschreibung (aber nicht der Wirtschaftswissenschaften) zumindest von Hegel über Ranke bis hin zu Dilthey, Weber und darüber hinaus bestimmt worden ist. Wenn man die Beiträge für die europäische Aufklärung der Vorläufer wie Herder, Lessing und Kant bewertet, wird eine wichtige Bedeutung des Historismus deutlich, daß nämlich die Nachfolger im 19. Jahrhundert den Historismus als eine Antwort auf die Ansprüche der „reinen Vernunft" vorschlugen, auf die Verengungen des abstrakten und „universalistischen" Rationalismus im allgemeinen oder auf die Diktate einer hegemonistischen idealistischen Metaphysik. 19 In der Tat kann behauptet werden, daß im späten 18. und 19. Jahrhundert Deutschland als der Austragungsort für miteinander wetteifernde intellektuelle Strömungen zuerst die Wende zum Historis-

16 Der Begriff durchzieht Polanyis Werk, das der deutschen historischen Schule der politischen Ökonomie und dem Fach Sozialökonomie verpflichtet ist: z. B. „die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen [ist] in der Regel in seine Sozialbeziehungen eingebettet [. . .]. Sein Tun gilt nicht der Sicherung seines individuellen Interesses an materiellem Besitz, sondern der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen." Karl Polanyi: The great transformation: politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (Frankfurt/M. 1978) 75. Etzioni gebraucht die wenig elegante Wendung „Einkapselungsthese", um das gleiche zu pointieren. A. Etzioni: Jenseits des Egoismus-Prinzips: ein neues Bild von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft (Stuttgart 1994) 359-360. 17 Vgl. J. Fallows, a.a.O., 183. 18 Siehe Fallows, a.a.O., 193-207. Die jüngste positive Aufnahme, die Douglass C. Norths Werk zuteil wurde, mag einen Wendepunkt unter den Berufsökonomen bedeuten, die in den Vereinigten Staaten und Großbritannien ausgebildet worden sind. Man beachte, daß Adam Smith in diesen Fragen von seinen Anhängern Schaden zugefügt worden ist, insofern als er darauf bestand, den Begriff von Ökonomie als einer „moralischen Wissenschaft" beizubehalten (vgl. Polanyi, a.a.O., 156-159). 19 Besonders Erich Rothacker entwickelte die Ansicht, daß der Historismus nicht als Opposition zum Naturalismus entstand, sondern eher zum - wie er es nennt - „Universalismus der rationalistischen Systeme" oder zur „universalistischen Idee der Vernunft mit einem einheitlichen Inhalt". E. Rothacker: Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (1965 [1927]), bes. 116-131, 168-171; ders.: Historismus. In: Schmollers Jahrbuch 61 (1938) 386-399.

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mus als einem Vermittler zwischen zeitgenössischen philosophischen Kontroversen gesehen hat. 20 Ausgehend von einer Grandunterscheidung zwischen Natur und Geschichte, wurden die Vorstellungen von einer einzigen Methode und der Eigenart historischer Erkenntnis der Hauptgegenstand eines vielfältigen Methodenstreits, der durch die Humanwissenschaften (die Wirtschaftswissenschaften eingeschlossen) hindurchfegte; man denke vor allem an die berühmten Auseinandersetzungen, in denen zunächst Carl Menger feindlich Gustav Schmoller gegenüberstand und dann Schmoller wiederum Max Weber. Die Frage, ob aus diesen Kontroversen eine spezifisch deutsche Tradition (oder Traditionen) hervorging, scheint ebenfalls etwas von seiner Brisanz behalten zu haben, 21 selbst in Fallows' Popularisierung des Themas, in der „die deutsche Sicht des ökonomischen Lebens" der „angloamerikanischen" Vorgehensweise gegenübergestellt wird. 22 Gegenwärtig scheinen die Hauptthemen deutschen Denkens trotz des Ablebens des Marxismus im Begriff zu sein, Allgemeingut zu werden. (Der Rückzug des letzteren mag wohl den Weg für ein Wiederaufleben jener Fragen in den sozio-ökonomischen Wissenschaften freimachen, die für den späteren historischen Marx von besonderer Bedeutung waren.) Die mit dem Historismus in Verbindung gebrachten Probleme, die ihre Wurzeln in der klassischen deutschen Philosophie und in den Geisteswissenschaften haben, hielten Einzug in die neuesten Diskussionen über Rationalismus, Rationalität, Tradition, Identität, die Grundlagen der Erkenntnis, Kunsttheorien und Ästhetik, Interpretation und Autorschaft, Entwicklung und Fortschritt und über die Zukunft und den Sinn von „Geschichte" selber. Was in den Studien von Troeltsch, 23 Mannheim 24 und Meinecke 25 aus den 20er und 30er Jahren als eine Fortsetzung der quereile d'Allemand erscheinen mochte, ist zum wahren Gemeinplatz der letzten provokativen Auseinandersetzungen geworden, von den Angriffen auf „Letztbegründungen" bis hin zu Vorschlägen für einen „neuen Historismus", für ein Neudurchdenken des Sinns von Geschichte oder für eine Neubewertung unserer Grundvorstellungen von ökonomischer Aktivität. Es ist also unvermeidlich, die Möglichkeit von Beziehungen zwischen den Phasen der Diskussion in Deutschland und gegenwärtigen Beschäftigungen zu berücksichtigen: Was könnten wir angesichts zeitgenössischer Anliegen aus den früheren Auseinandersetzungen lernen? Bestehen erkennbare Parallelen oder Variationen von gemeinsamen Themen? Können irgendwelche Lehren aus der wechselvollen Geschichte des Historismus gezogen werden?

20 Peter Hanns Reill: The German Enlightenment and the Rise of Historicism (Berkeley 1975) 214. 21 George G. Iggers: The German Conception of History (Middletown 1993); Wilhelm Hennis: Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werks (Tübingen 1987) 230-236. 22 Man sollte vom Standpunkt der Geschichte der ökonomischen Theorie aus mit solchen Verallgemeinerungen vorsichtig sein: Die Vereinigten Staaten hatten in der Person von Vehlen und in seinen Anhängern eine „institutionelle Wirtschaftswissenschaft", während das deutschsprachige Europa Carl Menger (die „österreichische Schule") und seine Version von Grenznutzen und von Formaltheorie hatte. 23 Emst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (Tübingen 1922). 24 Karl Mannheim: Historismus (1924). In: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. von Kurt Wolff (Berlin 1964) 246-307. 25 Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historimus (1936). Werke. Bd. 3 (München 1959).

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2. Probleme und Fragen Als Ausgangspunkt für die Untersuchung kann man sich zwecks Belehrung die scharfe Formulierung des Zentralproblems in Mannheims Essay von 1924 ansehen, in welchem die Argumentation mit einer Analogie zur Antike beginnt; er behauptet: genauso wie Sokrates seine Position in Relation zu den Sophisten definieren mußte, so müssen wir heute die unsrige in Relation zum Historismus definieren. Der Grund für diese Notwendigkeit ist, daß beide Anschauungen - die Sophistik und der Historismus - Bedingungen, Fragen und Zweifel reflektieren, die nun einmal in die Welt losgelassen wurden. Mannheim beharrt sogar darauf, daß der Historismus „eine unumgängliche Gewissensfrage der Gegenwart" ist, die eine Antwort fordert. „Der Historismus", fährt er fort, „ist eine geistige Macht geworden von unübersehbarer Tragweite, er ist der wirkliche Träger unserer Weltanschauung, ein Prinzip, das nicht nur mit unsichtbarer Hand die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit organisiert, sondern auch das alltägliche Leben durchdringt [•••]• Der Historismus ist also kein Einfall, er ist keine Mode, er ist nicht einmal eine Strömung, er ist das Fundament, von dem aus wir die gesellschaftlich-kulturelle Wirklichkeit betrachten. Er ist nicht ausgeklügelt, er ist kein Programm, er ist der organisch gewordene Boden, die Weltanschauung selbst, die sich herausbildete, nachdem das religiös gebundene Weltbild des Mittelalters sich zersetzte und nachdem das aus ihm säkularisierte Weltbild der Aufklärung mit dem Grundgedanken einer überzeitlichen Vernunft sich selbst aufgehoben hatte".26 Mannheims beeindruckende Vision ist die eines wirksamen, die Alltagswelt, die „Lebenswelt", das unmittelbar Erlebte durchdringenden Historismus, der so die doppelte Dialektik von Sakralem und Weltlichem, Vernunft und Verstehen aufhebt, unterordnet und überwindet. Wenn wir modern sind, dann sind wir historische Wesen. Wir können versuchen, in Gestalt von Vernunft und Unvernunft Alternativen zu unserer modernen Identität zu finden. Doch genuine Alternativen gibt es nicht. Sie laufen sämtlich auf eine Art Selbstbetrug und -verrat hinaus. Dieses feingesponnene Gedankengewebe legt auch nahe, daß der Historismus zwei Bedeutungen oder Bedeutungsebenen haben muß: Er dient nicht nur dazu, unser Denken und Handeln zu leiten, sondern ist auch der Boden geworden, auf den unser Denken gerichtet ist. Er ist sowohl eine Methode der Erkenntnis als auch eine Bedingung, die erkannt werden muß, eine „unsichtbare Hand" und eine manifeste Substanz, eine funktionale „Epistemologie" und eine Ersatz-„Ontologie". Vor allem insistiert Mannheim darauf, daß die erste Ebene von der zweiten gänzlich abhängig sei. Ein solcher Ausgangspunkt bedeutet beunruhigende Fragen: Den Historismus als einen Weg zur Erkenntnis für die Wissenschaften zu denken heißt, einen leicht kritisierbaren Gegenstand vorzuschlagen. Aber was kann es bedeuten, im Historismus eine „Grundlage" oder einen „Boden" zu sehen, welcher in dialektischer Manier den Universalismus einer außerhalb der Zeit postulierten „Vernunft" abgelöst hat? Sind wir denn wirklich nicht in

26 Vgl. Mannheim, a. a.O., 246.

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Sokrates' Lage, sondern statt dessen gefangen zwischen dem Sokratischen und dem Sophistischen, zwischen dem, was Mannheim das „Absolute", und dem, was er das „Relative" nennt? Wenn heute die alten Annahmen über die Fundierung von Erkenntnis (im sokratischplatonischen Sinn) und die Macht der reinen Vernunft (im Sinne Kants) zusammengebrochen sind, dann hieße, das Problem des Historismus zu lösen, die Quelle, die Richtung und das Wesen jener Kräfte zu begreifen, die uns über ein schlecht definiertes Terrain führen und unsere zeitliche Erfahrung auf ein genaues Maß bringen. Für Mannheim muß also eine Lösung nicht in der „statischen Philosophie der Vernunft" liegen, sondern in der Entfaltung dessen, was er „dynamisches Denken" nennt, das auf das, was wirklich dynamisch ist in der Welt, reagiert, auf das „Dynamische". Heißt das, daß die Einsetzung des Historismus als der neuen und andersartigen „Grundlegung" - die zweite Bedeutung des Terminus - nur durch den Historismus als einer Methode der Erkenntnis verstanden und transformiert werden kann - die erste Bedeutung von Historismus? Ist eine solche Formulierung das, was mit dem Aufruf gemeint ist: „die Geschichte mit Hilfe der Geschichte zu überwinden" 27 - d. h. den „Relativismus", der im Historismus impliziert ist, mittels historistischer Kritik zu überwinden? Aber was ist das für eine Kritik? Ist sie bei Zeitgenossen wie Rorty oder Lyotard erkennbar? Und schließlich, was kann unter solchen paradoxen Umständen „moralische Pflicht" beinhalten? Mannheims Bestimmungen, Unterscheidungen und Fragen gehören zur politisch-historischen und zur sozialwissenschaftlichen Historismusdiskussion, und sie sind lehrreich, um das Problem auf seiner tiefsten Ebene orten zu können. Auf der epistemologischen Ebene legen seine Erläuterungen den Gedanken nahe, daß die Bedeutung, die wir der Historismusdiskussion beimessen, mit ihrer Situierung im Bereich des Diskurses zwischen Rationalismus und Präsentismus zu tun hat - oder vielleicht sollte man heute von einem fragwürdigen „Rationalismus" und einem modischen „Präsentismus" sprechen. Auf der ontologischen Ebene (sollte eine solche Terminologie in unserem „postmodernen Zeitalter" noch erlaubt sein) bedeuten Mannheims Äußerungen, daß die zeitgenössischen Reflexionen über den Historismus gewichtig sind, weil sie unvermeidlich Behauptungen hervorrufen über das, was wir sind, über die Entscheidungen, die wir getroffen haben, und über die Art, wie unsere Identität geformt wird im Hinblick auf Traditionen, Präzedenzen, auf eine immer der Interpretation unterliegende Vergangenheit und eine Gesellschaft und Kultur, die entweder verehrt oder verteufelt werden. In dieser Hinsicht scheint das historische Verfahren als Selbstaufklärung unvermeidlich, ob man über Geschichtsphilosophie, Kunsttheorie, Architekturdesign oder die Quellen des Selbst schreibt.28

27 Vgl. Troeltsch, a. a.O., 772 und Mannheim, a. a. O., 306. 28 Meine Anspielung auf Charles Taylor ist beabsichtigt. Der zweite Teil seines Buches, der die Überschrift „Innerlichkeit" trägt - die ahistorische Vorstellung von Innerlichkeit, die so stark mit dem deutschen Romantizismus, sagen wir etwa von Karoline von Gründerode bis zum jungen Georg Lukäcs, verbunden ist - , zeigt (vielleicht unabsichtlich), worum es in den jetzigen Diskussionen über „Kultur" und „Identität" geht. Für unseren Zweck siehe besonders „A digression on historicae explanation", in: Ch. Taylor: Sources of the Seif: The Making of Modern Identity (Cambridge 1989) 199-207. Es würde ein anderer und ziemlich verschiedener Aufsatz nötig sein, um diese wichtige Problemgruppe zu behandeln.

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Aber Mannheims Standpunkt legt auch nahe, daß es eine Geschichte auf dem Weg zum Historismus gibt. Wir sind nicht immer Historisten im engen oder weiten Sinne des Begriffs gewesen. Es scheint, daß wir erst in der modernen Welt so geworden sind. Ist es möglich, daß wir durch Verständnis unserer Fehler Wege erahnen können, um die tiefsten Fragen zu beantworten?

3. Die Diskurse des Historismus Die Sicht des 20. Jahrhunderts von Aufstieg und geistiger Entwicklung des Historismus ist heute wohlbekannt. 29 Eine der letzten Neueinschätzungen30 kann als für diese Interpretation repräsentativ gelten, und ihr Hauptargumentationsstrang kann reformuliert werden, um zu zeigen, daß den „Phasen" historistischen Denkens bis zur Gegenwart drei Typen des Diskurses entsprechen: (1) die am Anfang stehende klassische Gestalt des Historismus als Geltungsanspruch, als Untersuchungsmethode und als praktische Erkenntnis; (2) die kritische Rezeption der klassischen Form mit dem Ziel, Geltungsansprüche zu beschreiben, Methoden zu klären und ideologische Verdrehungen zu kontrollieren; (3) die umfassende Kritik sogar des modifizierten Historismus der zweiten Art, die häufig ihr Hauptaugenmerk auf radikal revidierte methodologische Vorschriften richtet. So betrachtet, sollten diese „Phasen" der Diskussion nicht so sehr als Repräsentationen einer bestimmten zeitlichen Sequenz verstanden werden, als eine konzeptionelle Heuristik, um die einzelnen Argumentationsstränge in einer komplexen und häufig wirren Debatte zu unterscheiden. Zudem kann jeder Argumentationstyp eine verwirrende Vielfalt von kritischen Standpunkten enthalten. In gewisser Weise können diese Diskurstypen verstanden werden als Beschreibungen der Verlautbarungen der deutschen historischen Schule der politischen Ökonomie, wie sie z. B. in Schumpeters Standardgeschichte 31 vorgestellt werden, welche die Bewegung im Denken von den „älteren" Gründern (Hildebrand, Knies, Roscher) zu der „jüngeren" Generation von Anhängern (Brentano, Bücher, Knapp, Meitzen, Schmoller) hin zu den .jüngsten" Vertretern (Sombart, Max Weber) nachzeichnet. Trotz seiner anfänglich heftigen Kritik, daß der unter diesen Gruppen strittige Diskurs des Historismus „im wesentlichen eine Geschichte vergeudeter Energie" war, der uns „völlig sinnlos" erscheinen mag, 32 war Schumpeter mehr als geneigt, den sozio-politischen und ökonomisch-theoretischen Ausführungen Bedeutung zuzumessen, die von Hildebrand bis Weber vorgetragen wurden. Ein Teil seines Motivs, solche Bedeutung zu konzedieren, mag mit dem Mangel an Korrespondenz zwischen jeglicher sauberen historischen Periodisierung und der Argumentation über den Historismus zu tun haben. Denn es gibt ein außerordentlich breites Spektrum von kritischen Positionen, die in

29 Vgl. Troeltsch (1922), a. a.O.; Collingwood (1946), a. a.O.; Meinecke (1959), a. a.O.; Maurice Mandelbaum: History, Man, and Reason: A Study in Nine teenth-Century Thought (Baltimore 1971); Iggers (1983), a. a.O.; Pietro Rossi: Vom Historismus zur historischen Sozialwissenschaft (Frankfurt/M. 1987). 30 Volker Steenblock: Transformationen des Historismus (München 1991) 19—49. 31 Joseph A. Schumpeter: History of Economic Analysis (New York 1954) 807-824. 32 J. A. Schumpeter: Geschichte der ökonomischen Analyse, hg. von E. B. Schumpeter (Göttingen 1965) 2. Teilbd., 994, 995.

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der dritten Phase provoziert worden sind und die den Historismus von den frühesten Kritiken Mengers bis zu Weber, Popper und zu Schumpeter selbst, ja sogar bis zur Gegenwart weiter rezipiert haben. Aber z. T. erklärt sich Schumpeters affirmative Stellung gegenüber der historischen Schule aus seiner späten Vorliebe für historische Vorgehensweisen.33 Aus der Perspektive einer Abfolge und Differenzierung von Diskursen bleibt aber die Darstellung ohne einen vierten Typus unvollständig. Diesen mag man beschreiben als (4) die radikale (historistische) Infragestellung der Ansprüche auf „begründete Erkenntnis" in der Philosophie und auf einen vermeintlichen „Sinn" in der Geschichte. Dieser letzte Diskurstypus ist eine Folge des Siegeszugs der historistischen Kritik (mit Ausnahme der professionellen angloamerikanischen Ökonomie), die jetzt zu einer radikalen Infragestellung aller „totalisierenden" Denksysteme geworden ist, eingeschlossen jedwede Form von „Letztbegründung" in der Philosophie oder „Essentialismus" in der Geschichte. Ironischerweise ist es einer radikal historistischen Lesart von Historismus gelungen, diesen von allen Arten ideologischer Überfrachtung zu befreien, die Autoren wie Popper so beschäftigt haben. Und diese befreienden Wirkungen sind in den gegenwärtigen Debatten über „Rationalismus" und „Geschichte" offensichtlich, in denen eine historistische Einschätzung von „Vernunft" oder „Zeitlichkeit" nicht mehr als ein Defizit oder eine Gefahr angesehen werden, sondern vielmehr als ein Zeichen für den Fortschritt hin zur Reflektiertheit und „historischen Aufklärung" - im Gegensatz zu Vorstellungen von rationalem Handeln, rationaler Entscheidung oder rationaler Entwicklung, die formalistisch, abstrakt und gänzlich „unhistorisch" erscheinen. Vielleicht werden bald ähnliche Auswirkungen in der Wirtschaftswissenschaft feststellbar sein. Die monumentale Arbeit von Troeltsch in den 20er Jahren kann als Illustration für die Art und Weise angesehen werden, wie die Darstellung des Historismus verfuhr, beginnend mit der Annahme in der ersten Phase, daß der Historismus mit einer allgemeinen Sicht der Welt zusammenhängt: die Historisierung des Denkens und Handelns, der Werte und der Kultur ersetzen den unkritischen „Naturalismus" einer früheren Epoche mit Vorstellungen von Fortschritt, Entwicklungsstufen oder evolutionärem Wandel.34 In ihren Anfängen halfen diese Vorstellungen, das Denken zu befreien, weil sie statische Auffassungen von „Natur" und „Gesellschaft" umformten und zwar im Hinblick auf miteinander kooperierende Modelle von Veränderung: wie linearer Fortschritt (J. S. Mill), Anpassungswechsel durch Selektionsmechanismen (Darwin) oder dialektischer Übergang zu höheren Formen sozialen und politischen Lebens (Hegel, Marx). Die konzeptionellen Grundlagen dieser Analysen variierten ebenfalls - vom Gebrauch schlecht definierter Begriffe wie „Zeitgeist" bis zu psychologischen Faktoren und mentalistischen Konstruktionen von „Geist" bis hin zu materialistischen

33 Fallows legt Wert darauf, Schumpeters Hinweis am Ende seiner Laufbahn zu erwähnen, daß, wenn er noch einmal anfangen könnte, er Ökonomiegeschichte studieren würde, und zitiert seine Äußerung, daß die Ökonomie „im wesentlichen ein einzigartiger Prozeß in historischer Zeit ist" und daß „die meisten Grundfehler, die zur Zeit in der ökonomischen Analyse gemacht werden, häufiger dem Mangel an historischer Erfahrung als irgendeiner anderen Unzulänglichkeit in der Erfahrung des Ökonomen zuzuschreiben sind" (a. a.O., 200, 447). 34 E. Troeltsch, a.a.O., 9f, 102-110.

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und physischen Aspekten von Kultur. Alle boten mehr oder weniger explizite Stufentheorien an, die eine sequentielle Bewegung, gesteuert von struktureller Differenzierung und funktionaler Spezialisierung, postulierten. In der politischen Ökonomie bietet auf der Makroebene Karl Büchers einflußreiches evolutionäres Schema von den „realen" historischen Phasen von der geschlossenen Hauswirtschaft über die Stadtwirtschaft zur Volkswirtschaft - ein perfektes Beispiel für diese Art zu denken.35 Ein interessanter Aspekt dieses ersten Typs von historistischem Diskurs ist seine Einreihung in ein breites Spektrum konkurrierender Traditionen, die sowohl theoretisch-wissenschaftliche als auch praktisch-ethische Implikationen haben: der klassische Liberalismus, der Sozialdarwinismus, die „Emanations"-Vorstellungen der älteren historischen Schule und die verschiedenen Formen von Sozialismus von Rodbertus bis zu Engels. Aufgrund solcher verschiedener Assoziationen scheint an der Jahrhundertwende die Auseinandersetzung in deutschen Kreisen über das Verhältnis zwischen historischen Einstellungen zu politischer Ökonomie und politischer Ideologie - ist die „ethische" Orientierung des Historismus notwendigerweise konservativ oder dem Konservatismus nahe? - ganz offen zu sein.36 Als Weltanschauung war der klassische Historismus mit einer Vielfalt politischer Standpunkte in Einklang. Das gleiche kann von späteren Varianten gesagt werden. Selbst Webers sorgfältige methodologische Argumentation nahm unterschiedliche Gestalt an, je nach dem spezifischen Kontext: In der Freiburger Antrittsrede z. B. betonte er die politischen Verpflichtungen der politischen Ökonomie oder Volkswirtschaftslehre - und diese waren in erster Linie Verpflichtungen zur politischen Bildung - , während er wenige Jahre später seinen Heidelberger Lehrer und Vorgänger Karl Knies wegen falscher Auffassungen der Kategorien rationalen und irrationalen Handelns kritisierte und gleichzeitig beklagte, daß Roscher konservative Moralvorschriften in seine Analyse hineingeschmuggelt habe. Nach Webers Ansicht bestand Roschers Fehler nicht nur darin, daß er eine Korrespondenztheorie der Erkenntnis oder den Standpunkt des „konzeptuellen Realismus" akzeptierte, der Konzept mit Wirklichkeit verwechselte, sondern darin, daß er „eine ziemlich primitive Form schlichter religiöser Gläubigkeit" verteidigte, die Grundlage dessen war, was eine Wissenschaft „ohne Voraussetzungen" sein sollte.37

35 Karl Bücher: Volkswirtschaftliche Entwicklungsstufen. In: Grundriss der Sozialökonomik. 1. Abt.: Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaft (Tübingen 1914) 2-18; Lawrence A. Scaff: Fleeing the Iron Cage: Culture, Politics, and Modemity in the Thought of Max Weber (Berkeley 1989) 38f. K. Bücher entwickelte das Schema viel früher in einer kritischen Rezeption von Rodbertus' Werk, und es ist tatsächlich komplexer aufgrund des Postulats multipler Übergangsphasen. Als Hauptherausgeber des Grundrisses lud Max Weber Bücher dazu ein, sein Denken in diesem Beitrag zusammenzufassen. Webers Enttäuschung über die kurze Darlegung war z. T. für die Ausarbeitung seines eigenen Betrags Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte, besser bekannt als Wirtschaft und Gesellschaft (engl.: Economy and Society) verantwortlich. Wie Büchers Text arbeitet Webers 150seitiges zweites Kapitel Definitionen von ökonomischem Handeln und Ökonomie aus: Nutzen, Austausch, Markt, Kapital, Profit, Arbeitsteilung, Planwirtschaft, Enteignung von Produktionsmitteln usw. Diese Seite von Webers Werk ist größtenteils ignoriert worden, eine Unterlassung seitens einer gewaltigen Literatur, die Bände darüber spricht, was aus der institutionellen und der Sozialökonomie geworden ist. 36 Gustav Cohn: Ethik und Reaktion in der Volkswirtschaft. In: Schmollers Jahrbuch 24 (1900) 1-48. 37 Vgl. Weber: Gesammelte Aufsätze, a.a.O., 41.

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Doch vieles in dieser Auseinandersetzung, Webers Abhandlungen über Roscher, Knies und Eduard Meyer eingeschlossen, war in jedem Fall ziemlich zweitrangig, verglichen mit dem Hauptereignis in der zweiten Phase, das am stärksten durch Schmoller und die Kontroversen verursacht wurde, die seine Arbeit und seine Persönlichkeit entfachten. In diesem Falle nahm der Historismus in der Arena des Diskurses eine Gestalt an, die nicht nur von den Verfechtern eines „historischen Standpunktes", unter ihnen Schmoller, geschaffen worden war, sondern auch durch die scharfe Kritik, die von der wissenschaftlichen, von Carl Menger geführten Opposition vorgetragen wurde. Dies war eine deutsche „Auseinandersetzung" von Wagnerianischen Dimensionen, ein mythischer Kampf, von dem einige Aspekte in den Humanwissenschaften wiederbelebt zu werden scheinen. Wir können eine präzise Beschreibung der Diskussionsstränge mit Hilfe einer vereinfachten Tabelle der Merkmale geben, die von den Interpreten dieses Gegenstandes häufig angeführt wird: 38

Methode Wissenschaftliches Ziel Erkenntnisart Handlungsmotiv Gegenstand der Analyse Ebene der Analyse Ebene der Verallgemeinerung sozialer Wandel politische Orientierung Beispiel

Historismus induktiv Verstehen kontextbedingt komplexe Motivation Gemeinschaftspraktiken ethisch statistische Beschreibung Entwicklungsphasen sozialer Wohlfahrtsstaat jüngere Historische Schule: Schmoller

Formale Theorie deduktiv Erklären allgemeine Gesetze Eigeninteresse individuelle Wahl individualistisch universale Geltung technischer Fortschritt ökonomische Reform Grenznutzentheorie: Menger

Für unsere Zwecke sind die Kategorien im mittleren Teil am aufschlußreichsten, die ja die Erkenntnis, das Handeln und die Gegenstände sowie die Ebenen der Analyse betreffen, da sie zeigen, wie und warum Schmoller auf der Verbindung zwischen Ökonomie, Geschichte und Ethik bestand: „Die heutige Volkswirtschaftslehre ist zu einer historischen und ethischen Staats- und Gesellschaftsauffassung im Gegensatz zum Rationalismus und Materialismus gekommen. Sie ist aus einer bloßen Markt- und Tauschlehre, einer Art Geschäftsnationalökonomie, welche zur Klassenwaffe der Besitzenden zu werden drohte, wieder eine große moralisch-politische Wissenschaft geworden, welche [ . . . ] wieder den Menschen in den Mittelpunkt der Wissenschaft stellt", verkündete er in seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Berlin. 39 Lassen wir den polemischen Gehalt beiseite, so war die leitende Vorstellung die, daß eine ökonomische Handlung und Entscheidung in den historischen sozio-

38 Harald Winkel: Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert (Darmstadt 1977) 138-157; N. W. Balabkins: Not by Theory a l o n e . . . The Economics of Gustav von Schmoller and Its Legacy to America (Berlin 1988). 39 Bei P. Koslowski: Der ökonomische Zwischenbau, a. a.O., (s. Anm. 1), 186; vgl. Gustav von Schmoller: Volkswirtschaft, Volkswirtschaftslehre und -methode. In: Handwörterbuch der Staatswissenschaften 6 (1984) 527-563.

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institutionellen Kontext versetzt werden mußte. Rationale Motive und Motivation wurden in diesem Kontext häufig überindividuell und ohne Eigeninteresse, daher „ethisch" verstanden. Ökonomische Prozesse und Institutionen waren ebenfalls in eine sozio-historische Grundmatrix eingebettet gedacht, die organischen Veränderungen unterworfen ist. Die Erforschung der Geschichtlichkeit von Handlungen und Prozessen war nötig, um wissenschaftlich zu verstehen, worin „die organische Kohärenz der Dinge" besteht. 40 Wie bei anderen Mitgliedern der historischen Schule war Schmollers Betonung der historischen Erfahrung u. a. ein Mittel, um zur Zurückhaltung zu mahnen, eine Erinnerung, daß die Ökonomie auch eine moralische Ordnung und nicht bloß eine Sphäre von „rationalen" Geschäften des Marktes war. Seine Version der moralischen Ökonomie betonte daher a) die Priorität des Sozialen als einer Ordnung der Erfahrung sui generis, die eine Aura von beinahe Durkheimischer Dimension ausströmt; b) den Stellenwert staatlicher Institutionen im Vorantreiben sozialer Gerechtigkeit als ein Korrektiv für die zerstörerischten Auswirkungen des Marktes; und c) den Zweck der Ökonomie selbst, das menschliche oder gemeinsame Wohl voranzutreiben. Zieht man die polemische Seite mit in Betracht, war also seine „Wissenschaft der Menschheit" unerbittlich engagée, eine Dienerin der sozialen Wohlfahrtspolitik und ein „Kathedersozialismus" oder ein „Sozialismus von oben" - im Gegensatz zur raubgierigen Ökonomie eines Marktes, der durch nichts gebremst wird, es sei denn nur durch private Sympathie und Großzügigkeit. Der geeignete institutionelle Rahmen, um die Konturen dieser Ideen zu entwerfen, war der Verein für Sozialpolitik, dessen Mitglieder sich mit der Wohlfahrtspolitik, dem Wertproblem und der praktischen Verbindung zwischen Ökonomie und Politik befaßten. In Zusammenhang mit unserem Thema steht die aufschlußreiche Anwendung Schmollerscher Kategorien auf den Verein selbst, die in der Auseinandersetzung zwischen Schmoller und seinen neuen Fachkollegen nach dem Treffen von 1905 zutage tritt. Nach einem von Gothein und den Brüdern Weber abgefaßten Vorwurf „glaubte [Schmoller] offenbar den ,historisch', und zwar in hervorragender Weise unter seinem eigenen Einfluß, gewordenen ,Charakter' des Vereins für Sozialpolitik verloren gehen zu sehen zu Gunsten einer Auffassung, welche durch den Glauben an .Entwicklungsgesetze' im streng marxistischen Sinn jeden Versuch staatlichen Eingreifens und damit in letzter Linie ja auch jede .Sozialpolitik' zur Sinnlosigkeit stempeln würde. Und anscheinend glaubte er [ . . . ] , daß der Verein für Sozialpolitik selbst in seiner Mehrheit den Wunsch hege, seinen .historischen' Charakter abzustreifen." 41 Der Hieb dieser Rhetorik ist ein doppelter: er klagt Schmoller der Verteidigung einer institutionellen Praxis als normativ gültig an aufgrund ihrer historischen Qualität, wobei .historisch' in etwa die Bedeutung von „gemäß den ursprünglichen Absichten" erlangt hat. Dies ist Historismus auf der Ebene des praktischen Urteils, und es illustriert eine mögliche Konsequenz der Schmollerschen Ansichten. Darüber hinaus wiesen die Autoren auf Schmollers moralisch-politischen Einwand gegen den historischen Materialismus als „über-

40 Vgl. Schumpeter: History, a.a.O., 813; Winkel, a.a.O., 84-87. 41 Aus einer an die „Sehr geehrte Redaktion" gerichtete und mit Gothein, M. Weber und A. Weber, Heidelberg, 30. September 1905 unterschriebene Schreibmaschinenkopie, im Nachlaß Schmoller, Nr. 158 (Preußisches Staatsarchiv, ehemals in Merseburg). Meines Wissens wurde der Entwurf nie veröffentlicht.

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determiniert" hin und deshalb als der sozialen Wohlfahrtspolitik feindlich. Für Max Weber stellten beide Schlüsse Fehler dar, die er in seinen Aufsätzen zur Wissenschaftsphilosophie aufzudecken suchte, wobei er betonte, wie wichtig es sei, die „ökonomischen Geschichtsinterpretation" voranzutreiben und die „Gesetze" des historischen Materialismus als Typusbegriffe zu berücksichtigen. 42 Als solch ideologischer Gebrauch von Historismus offensichtlicher wurde, entstanden Formen der Kritik und der Rebellion in noch stärkerem Maße in der von mir als dritten ausgemachten Phase: „Was eine Befreiung und Erhebung gewesen war, wurde eine Last und eine Verwirrung", wie Troeltsch notierte.43 Eine Vorstellung der erzwungenen Entscheidungen vermittelt Webers scharfe an Eulenburg gerichtete Äußerung über die sozio-kulturellen Wissenschaften: „Zwei Wege stehen offen: Hegel oder - unsere Art, die Dinge zu behandeln [ . . . ] . Jetzt wird mich nur noch die Qualität des .echten' Hegel interessieren, denn jeder hat den Seinigen!" 44 Während Webers Entweder/Oder-Vorschlag die eigentlichen Alternativen übertreiben mag, dient er doch dazu, die allgemeinen Diskussionsstränge in jenen Wissenschaften aufzuzeigen, die sich sozialpolitischen und ökonomischen Fragen widmen, seien es theoretische oder praktische. In der Tat kann Webers Arbeit selbst als eines der einflußreichsten Beispiele für die kritische Revision des Historismus des 19. Jahrhunderts und seine Implikationen angesehen werden - als ein Werkganzes, situiert sozusagen „zwischen Menger und Schmoller". 45 In dieser Hinsicht fanden die signifikanten Transformationen der ererbten Historismen der Historischen Schule ihren endgültigen zusammenfassenden Niederschlag in Sombarts und Webers wenig bekannter gemeinsamer Erklärung vom Oktober 1917. In einer Antwort auf Edgar Jaffas Charakterisierung ihrer Ansichten schrieben die zwei Mitherausgeber des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, „daß wir beide der sog. .Theorie', im Rahmen der Nationalökonomie, d. h. in unserem Sinne der rationalen Begriffs-, Typen- und Systembildung, worunter natürlich insbesondere die vermißten .Erörterungen über Wert, Preis usw.' fallen, die denkbar größte Bedeutung beimessen. Wir sind nur übereinstimmend Gegner schlechter Theorien und falscher Auffassungen ihres methodologischen Sinnes. Unsere bisher veröffentlichten Arbeiten enthalten, wenn auch nicht in der üblichen lehrbuchmäßigen Rubrizierung, genügend viele Belege dafür [ . . . ] , die nationalökonomische Forschung auf sichere Grundlagen zu stellen. Wir glauben allerdings durch diese Arbeiten den Nachweis erbracht zu haben, daß

42 Vgl. Weber, a.a.O., 167, 198. Gegen Ende des Objektivitäts-Essnys von 1904 notiert Weber: „Absichtlich ist es vermieden worden, an dem für uns weitaus wichtigsten Fall idealtypischer Konstruktionen zu demonstrieren: an Marx. [. . .] Daher sei hier nur konstatiert, daß natürlich alle spezifisch-marxistischen .Gesetze' und Entwicklungskonstruktionen - soweit sie theoretisch fehlerfrei sind - idealtypischen Charakter haben" (a. a. O., 204f). 43 Vgl. Troeltsch, a.a.O., 10. 44 Zitiert bei Scaff, a. a.O., 56. 45 Wilhelm Hennis: The Pitiless .Sobriety of Judgement': Max Weber between Carl Menger and Gustav von Schmoller - the Academic Politics of Value Freedom. In: History of the Human Sciences 4 (1991) 27-59; P. Rossi, a. a.O., 9-19.

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es an der Zeit ist, die allzulange die Diskussion beherrschende Alternative: .historisch' oder .theoretisch' durch eine andere, vertiefte Kennzeichnung der verschiedenen .Richtungen' in unserer Wissenschaft zu ersetzen." 46 Die vorherrschende Frage war natürlich, wie dies zu tun sei: Durch welche Mittel konnte die Wissenschaft den Kampf zwischen Historismus und formaler Theorie überwinden? Konnte ein Verfahren gefunden werden, das das Beste beider Richtungen erfolgreich vereinte? Sombart und Weber lieferten sehr unterschiedliche, in einigen Fällen jedoch sich überschneidende Herangehensweisen an diese Fragen, von Sombarts Appell an die Nützlichkeit einer Revision von Marx' Vorstellung des „Wirtschaftssystems" 47 bis hin zu Webers Äußerungen über den „Idealtypus" und über die Nützlichkeit von klar definierten Begriffen vom „Handeln", die einen historischen Bezug haben. Der Rahmen hier erlaubt nicht eine vollständige Untersuchung dieser Versuche und Themen, die alle beträchtliche Kontroversen und Verwirrung gestiftet haben.48 (In der Tat lassen neuere Untersuchungen vermuten, daß die zweite Frage nie richtig beantwortet worden ist.) Es möge genügen anzumerken, daß die methodologischen Vorschläge für Interaktionssysteme und für die Typenkonstruktion sehr ausführlich innerhalb des Kontextes der „Entweder-Geschichte-oder-Theorie"-Debatte entwickelt wurden, die in den verschiedenen Schulen der politischen Ökonomie geführt wurde, zu der sowohl die historische Schule als auch der Marxismus gehörten. Was den letzten Typus bzw. die letzte Phase der Diskussion betrifft, so entstanden die schärfsten Proteste gegen den Historismus, sei er liberal-progressiv oder radikal-dialektisch orientiert, häufig am Rande. Man betrachte z. B. eine Figur wie Nietzsche, der mit seinen Deklamationen über die „moderne" Faszination des historischen Bewußtseins herzog: „So aber, wie der junge Mensch durch die Geschichte läuft, so laufen wir Modernen durch die Kunstkammern, so hören wir Konzerte. Man fühlt wohl, das klingt anders als jenes, das wirkt anders als jenes: dies Gefühl der Befremdung immer mehr zu verlieren, über nichts mehr übermäßig zu erstaunen, endlich alles sich gefallen zu lassen - das nennt man dann wohl den historischen Sinn, die historische Bildung". 49 Indem er schon eine ähnliche Denkweise wie Mannheim benutzte, argumentierte Nietzsche, daß genauso, wie die Griechen ihr Ziel im Verhältnis zur Geschichte neu definieren mußten, wir Modernen unser Ziel in Bezug auf „nachgeahmte" Sprache, Lernen und Verhalten neu definieren müssen. Die Neueinschätzung von Nachahmung und Gedächtnis, so vermutete Nietzsche, sei eine „Parabel" für die Gegenwart und eine Ermutigung, das Historische sich

46 Werner Sombart, Max Weber: Erklärung. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 44 (1917) 348. 47 W. Sombart: Karl Marx und die soziale Wissenschaft. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 2 6 ( 1 9 0 8 ) 4 4 5 . 48 Die jüngste an der Biographie orientierte Darstellung ist die von Friedrich Lenger (Werner Sombart 1863-1941. Eine Biographie [München 1994], besonders Kap. 6, 7 und 9 über Kapitalismustheorien), die einen Austausch mit Karl Sontheimer in Die Zeit zur Folge hatte. 49 Friedrich Nietzsche: Werke, hg. von K. Schlechta, 3 Bde. (Frankfurt 1979) Bd. 1, 255.

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wieder neu zuzueignen, obwohl eine solche Aneignung das Risiko barg, den Historismus zu überschreiten und ihn durch den Mythos aufzuheben. In den späten Phasen der Historismusdiskussion wurde Nietzsches Fragestellung in den eher ruhigen Enklaven der Geschichtsphilosophie weitergeführt. Z. B. begann Georg Simmel seinen langen Aufsatz über das Thema mit der Anmerkung, daß die moderne Menschheit durch zwei unterdrückende Mächte gefährdet sei - nämlich durch die Natur und die Geschichte, die beide die „freie Persönlichkeit" zu ersticken und zu entkräften drohe, indem sie sie „zu einem bloßen Schnittpunkt sozialer, durch die Geschichte hin sich spinnender Fäden" mache. Nachdem wir die erste Gefahr mit Hilfe der Kantischen Philosophie überwunden haben, sind wir jetzt in der Lage, das Rätsel des Historismus zu lösen: „Der Befreiung, die Kant vom Naturalismus vollbracht hat, bedarf es auch vom Historismus" 50 eine wissenschaftliche und „moralische" Aufgabe, auf die Simmel am besten abzielte nicht durch seine Erkenntniskritik, auch nicht mit Nietzsches mythischem Appell, sondern mit den Entwürfen einer Soziologie der „Interaktion" und einer Psychologie der Tauschbeziehungen, die er in der Philosophie des Geldes (1900) brillant formulierte. Obwohl kein Bewunderer Nietzsches, suchte Heinrich Rickert aus einer anderen neukantianischen Perspektive die verschiedenen Typen oder „Ebenen" der Diskussion zu entwirren, indem er die „psychischen" und „physischen" Bereiche der Erfahrung beiseite setzte, weil sie außerhalb des eigentlich historischen Interesses liegen. Sein Argument für eine „dritte Welt" der Gegenstände, die für uns einen Sinn haben - „Sinngebilde" - , sollte zweierlei leisten: es sollte die historische Forschung auf ihre eigentliche Funktion als Quelle von Erkenntnis und authentischem Gedächtnis zurückbringen und eine autonome Sphäre für die historische Methode schaffen, die sehr verschieden von jedweder naturalistischen Vorstellung von der „methodologischen Einheit der Wissenschaften" sein sollte. 51 Die Sache der Geschichte sei, richtig verstanden, nicht der Historismus. Und der Historiz«m«i als „Weltanschauung" kann nach seiner Auffassung eine relativistische Ideologie genannt werden, welche die kritische Philosophie zu bekämpfen habe. 52 Diese Beispiele weisen auf die moderne Transformation der Diskussion hin, d. h. auf die Ablehnung der Vorstellung vom Historismus als Weltanschauung oder Ideologie, und auf die neue Verortung des Problems, das sich durch eben diese Vorstellung im Zentrum der Debatte über die Grundlage der Erkenntnis ergibt.

4. Vorläufige Antworten Was verbleibt von diesen Auseinandersetzungen und von Mannheims erster und zweiter Bedeutung von Historismus? Welche Lehren können, wenn überhaupt, aus dieser Skizze von wichtigen Phasen in der Geschichte des Historismus in der deutschen Tradition des politischen und ökonomischen Denkens gezogen werden? Offenbaren die früheren Ausein-

50 Georg Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie: Eine erkenntnistheoretische Studie (Leipzig 1907) VII. 51 Heinrich Rickert: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine Einführung (Heidelberg 3 1924) 9-29. 52 A.a.O., 12, 129.

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andersetzungen irgendetwas Signifikantes über unsere gegenwärtigen Forschungen? Kann man von einer besonderen deutschen Tradition sprechen, die in diesen Diskussionen eine Rolle spielt? Sind die Fragen des Historismus als solche heimisch in den Humanwissenschaften, wie wir sie heute kennen? Wenn man über diese Fragen nachdenkt, scheint es möglich, folgende Verallgemeinerungen als eine provisorische Einschätzung des Argumentationsganges vorzubringen: Erstens fand die Vorstellung von Erkenntnis, die sich aus der „Historisierung des Weltbildes" in der Hegeischen Philosophie ergab, eine Entsprechung in den sozio-ökonomischen Wissenschaften. Während aber das Hegeische System einen epistemologischen Ankergrund in einer rationalistischen Theorie des „wahren Wesens", wie Weber es genannt hätte, beibehielt, befreiten sich die ökonomischen und Politikwissenschaften von den Exzessen des Hegelianischen Systems. Was für die „jüngste" historische Schule anstelle der Dialektik blieb, war formale Strenge in Bezug auf die Konstruktion von Typen und Begriffen, konzeptioneller Nominalismus, methodologischer Individualismus - oder ganz allgemein eine Methodologie der historischen Interpretation. Zweitens waren einige der Alternativen, die den Historismus als einen Weg des Erkennens (und deshalb als ein methodologisches Rezept für die Forschung) gegen verschiedene Formen von „Rationalismus" ausspielten, allzu streng formuliert und führten deshalb zu einer unglücklichen Vergegenständlichung von Kategorien. Das Ergebnis war in diesem Falle jene Art von „Fluch auf beide Häuser", die wir in Schumpeters späterem Werk finden. Eine mildere Form, Schumpeters negative Einschätzung zu formulieren, wäre zu sagen, daß die Neigung, den Historismus als Verteidigung des ökonomischen Traditionalismus oder als Rechtfertigung detaillierter Beschreibung von Handlung (in Webers Sprache „die Tatsachen für sich selbst sprechen lassen") anzuführen, als theoretisch naiv und wissenschaftlich veraltet abgelehnt werden muß. 53 Drittens ist dieses Rezept, in positiver Form neu formuliert, ein Gemeinplatz geworden: In den Humanwissenschaften operieren die interessantesten Vörgehensweisen und somit die Ansätze, die unsere Erkenntnis auf neue Weise zu erweitern versprechen, mit einem durch eine klare und distinkte Begriffssprache vermittelten Historismus. Eine unverzichtbare Forderung für diesen neuen Historismus ist die Betonung der „Reflexivität" im Sinne einer Anerkennung der zeitlichen und räumlichen Perspektive von Beobachtung. Viertens zeichnete sich die deutsche Tradition der politischen und ökonomischen Wissenschaften (Volkswirtschaft, Nationalökonomie und die Sozial- und Staatswissenschaften im allgemeinen) zum großen Teil durch eine Art von Historismus aus, sofern man mit diesem

53 D. h. es ist eine vor Thomas S. Kuhns wohlbekannter Arbeit ausgebildete Denkweise (Kuhn: The Structure of Scientific Révolutions [Chicago 2 1970], bes. Kap. 1 : „Eine Rolle für die Geschichtsschreibung"). Im Hinblick auf den ökonomischen Traditionalismus beachte man Webers frühe Verteidigung des Börsenmarktes als unverzichtbar für die rationale Akkumulation von Kapital gegen die Anschuldigung, er sei „eine Art Verschwörerklub zu Lug und Betrug auf Kosten des redlich arbeitenden Volkes." Weber kontert: „Eine starke Börse kann eben kein Klub für .ethische Kultur' sein, und die Kapitalien der großen Banken sind so wenig .Wohlfahrtseinrichtungen' wie Flinten und Kanonen es sind" (Weber: Die Börse [1894], In: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik [Tübingen 1924] 256, 321). Die Frage scheint in leicht veränderter Form in Bezug auf die .Märkte" wiederzukehren (s. A. Sen, a. a.O., 1985).

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Begriff einen historischen Standpunkt für Beobachtung und Erklärung meint. Eine solche Verallgemeinerung mag gänzlich unspektakulär erscheinen, nur daß sie der Grundpfeiler für eine paradigmatische Wissenschaftsauffassung ist. In dieser Hinsicht ist Fallows' Verständnis korrekt: Es gibt eine bestimmte Art, die Welt zu „sehen", die aus der Listischen und anderen Varianten des Historismus folgt, mit mehr oder weniger wichtigen Implikationen für ökonomischen Rationalismus und Politik. Fünftens zeigt die Geschichte unseres Gegenstandes, daß das, was als eine interne Auseinandersetzung mit den ökonomischen, Sozial- und Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Europa begann, ein Teil der „immanenten Kritik" der Humanwissenschaften und der allgemeinen Kategorie „Erkenntnis" geworden ist. Vom Standpunkt der Soziologie und Geschichte der Erkenntnis aus hat der Grund für diese Entwicklung allgemein mit der irreversible Reflexivität jeder kritischen Erforschung des Rationalismus und seiner Grenzen zu tun, was wiederum von den Folgen des Historismus als „Grundlage" des Daseins, wie Mannheim forderte, abhängig ist. Den Historismus im gegenwärtigen intellektuellen Klima erneut zu überdenken heißt also, dem Weg der Selbstprüfung unseres zweideutigen Erbes des wissenschaftlichen Rationalismus weiter zu folgen. Sechstens zeigt aber die Geschichte unseres Themas, daß die Idee des Historismus als einer „kritischen Epistemologie", die nützlich ist, um Anweisungen für die Entzifferung von Sprachspielen und von Lektionen für einen „lehrreichen Diskurs" 54 bereitzustellen, nicht nur lebendig, sondern in zunehmendem Maße dominant ist bei der Festlegung der Grenzen für die Diskussion um „Sinn" in Philosophie und Geschichte.55 Dieser Zustand bedeutet, daß selbst unsere eigene Erkenntnis unter dem Zeichen von „Mannheims Paradoxie" steht und uns letztlich viele historisch gemäßigte Perspektiven bleiben für eine Orientierung an den traditionellen Begründungsfragen nach „Wahrheit", „dem Guten", der Vernunft in der Geschichte und dem durch die Anwendung von Zweckrationalität ermöglichten wirtschaftlichen Fortschritt. In dieser Situation ist ein neuer von ideologischem Beiwerk gereinigter Historismus brauchbar, um eine Überschätzung der Historizität, eine Reduktion aller Erkenntnis auf ihren historischen Boden in Schranken zu halten.

5. Schluß Wenn wir auf Mannheims Eingangsfragen zurückkommen, können wir sie noch einmal als drängend betrachten, weil sie eigentlich Fragen nach dem Selbstverständnis und der moder-

54 Vgl. Lyotard, a.a.O.; Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Natur (Princeton 1979) 9 - 1 0 , 357-394. 55 Rortys kurzes Statement über seine Meinungsverschiedenheit mit Lyotard zeigt, daß, während beide die „Metanarrationen" abtun, Rorty eine vage „pragmatische" Vorstellung vom liberalen Mythos sozialen Fortschritts beibehält (Rorty: Cosmopolitianismus Without Emancipation: A Response to Jean François Lyotard. In: Objectivism, Relativism, and Truth: Philosophical Papers [Cambridge 1991] 211-222; Bernard Williams: Auto da Fé: Conséquences of Pragmatism. In: Reading Rorty, hg. von A. Malachowski [Oxford 1990] 26-36). Fukuyamas Auffassung vom Fortschritt ist eher hegelianisch als pragmatisch, und sie ist auch ein bequemer Mythos. Der neue Historismus sollte uns daran erinnern, daß Mythos nicht Geschichte ist und Mythenproduktion keine Historisierung.

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nen Identität sind: Wenn soziale Überlieferungen und wirtschaftliche Erwartungen schwierig geworden sind und die Hoffnungen auf eine traditionelle Metaphysik in Trümmern liegen, wohin sollen wir uns für Antworten auf die Fragen nach Ort und Richtung wenden? Wo finden wir Wegweiser und wie sollen wir sie lesen lernen? Der kritische historistische Standpunkt ermöglicht uns eine Antwort. Mannheim betont eindringlich unsere moralische Pflicht und setzt soviel ein, weil der Historismus eine Lösung für die miteinander verbundenen Probleme von Wert und Sinn biete - indem er einen Maßstab setze, ein Richtmaß vorgebe und sage, was Ereignisse, Konfigurationen und Beziehungen als Teile eines Zusammenhangs von Geschehnissen bedeuten. Der Historismus wird zu einem Ersatz für andere miteinander konkurrierende Weltbilder - vor allem ästhetische, religiöse oder rationalistische. Aber der Skeptiker oder Gegner mag wohl fragen, ob dies eine Antwort darstellt, die ein Problem löst, nur um ein anderes zu schaffen - das Problem des Relativismus nämlich. Indem er die Welt als ein durch Fluß, Wachstum, Veränderung oder Entwicklung gekennzeichneten Zustand sieht - durch das, was Mannheim als das „dynamische" Element bezeichnet - , dürfte der Historismus ein relationales Verständnis fördern, das seine eigenen Ansprüche auf autoritative Einschätzung von Wert und Sinn unterminiert. Bezeichnenderweise versucht Mannheim am Schluß seines Aufsatzes von 1924 eine prägnante Antwort auf eine solche Herausforderung. Der Historismus, behauptet er, ist „die einzige Lösung des Gesamtbestrebens, für eine dynamisch gewordene Weltansicht materiale, inhaltlich erfüllte Maßstäbe, Normen zu finden". 56 Darüber hinaus: sein Eingeständnis der Abwesenheit des Absoluten „bedeutet eine Philosophie und Weltanschauung, die jenes neue uns bewegende Element [das Dynamische] nicht, als einen zu relativierenden Rest, aus dem alten Zentrum zu vergewaltigen versucht, sondern geradezu in die Mitte stellt und zum archimedischen Punkte macht, von dem aus unsere ganze Weltanschauung aus den Angeln gehoben wird". 57 Doch wie sollen wir solche Bilder, diese eigenartige Terminologie für die neue Physik des Historismus verstehen: Zentrum und Peripherie, Mittel- und Angelpunkt, Statik und Dynamik, Brüche und Ganzheiten, Abhängigkeiten und Umwandlungen? Diese Frage zu beantworten heißt natürlich, eine eigene Interpretation zu liefern. Meiner Ansicht nach bewegt sich das in Mannheims Überlegungen enthaltene Denken von der Annahme eines einzigen stabilen, außerhalb der Geschichte liegenden Angelpunktes hin zu einer Suche nach verschiedenen Punkten des Fragens innerhalb der Geschichte. Die schwer zu erfassende Unterscheidung zwischen „Zentrum" und „Mitte" beinhaltet den Kontrast zwischen einem fixen Konvergenzraum und jenem, der zwischen einem statischen Zentrum und einer dynamischen Peripherie liegt. Es ist der Kontrast zwischen dem Kern und seiner Umgebung, zwischen der zeitlosen „ewigen" Stadt und der zeitlich begrenzten dynamischen Peripherie. Wenn wir diese metaphorische Sprache übernehmen, könnten wir sagen, daß für den neuen Historismus die „große Erzählung" von Rom vorbei ist, und nun führen alle Wege

56 Mannheim, a.a.O., 306. 57 A.a.O., 307.

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fort zur dynamischen Peripherie. Wenn das so ist, dann gibt es noch eine Archäologie von Erkenntnis, die es wiederzufinden lohnt - nur kann sie jetzt auch an anderen Orten wiedergefunden werden, wo eine neue Dynamik der Hebel einer zukünftige Geschichte ist. Und das mag alles sein, was wir über das Vermächtnis des Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts sagen können: Dieses Vermächtnis lehrt uns, den Blick vom Gewohnten zum Ungewohnten, das wir vielleicht übersehen oder vergessen haben, zu wenden. Die Wende zum Neuen kann als eine Aufgabe für das Ethos des Historikers gelten. Doch gibt es vielleicht mehr. Denn Mannheims Auffassung vom Historismus als jene aus mehreren Schichten bestehende Grundlage, als das „Fundament", auf dem neue Bedeutungsstrukturen entstehen können, hat eine Veränderung erfahren, die einen kritischeren Schluß erfordert. Man betrachte einen der letzten aus der deutschen Tradition stammenden unvorsichtigen Berichte, nach dem wir anstatt innerhalb der Geschichte und deren „Ende" „im wahren Zeitalter der Theodizee" leben sollen. Und dieses Zeitalter stellt eine extravagante Behauptung auf: „Diese Welt ist die beste aller möglichen Welten, denn eine andere gibt es nicht, und anders wird diese Welt auch nicht mehr werden". 58 Unser nach der Moderne kommendes Zeitalter zeichnet sich darüber hinaus durch einen Verlust an Zeitlichkeit und moralischer Empfindung aus - ziemlich wörtlich durch eine Entzeitlichung der Perspektiven und eine Entmoralisierung der Urteile. Andere haben in ähnlicher Weise von der Entzauberung der Welt gesprochen, was heutzutage als unsere „desengagierte Loslösung von der Welt" 5 9 verstanden wird. Das Bild, das uns geboten wird, ist das einer Menschheit, die „vom Erfahrungsraum der Vergangenheit ebenso wie vom Erwartungshorizont der Zukunft" abgeschnitten ist. 60 Dieses Bild ist nicht geeignet, die belehrenden Kräfte eines neuen Historismus zu unterstützen. Es kann nur die rauhen Realitäten der neuen Herausforderung für die menschliche Erkenntnis andeuten. Es wäre einfach, solche kryptischen Behauptungen und skeptischen Vorbehalte abzutun. Doch das hieße, Verantwortungslosigkeit Tür und Tor zu öffnen. Der weit schwierigere Weg ist, die zentrale Frage wieder neu zu stellen: Wo kann der Raum gefunden werden, um in einer solchen Welt über Geschichte nachzudenken, und welches sind unsere Verpflichtungen, um das zu tun?

58 Lepenies, a. a.O., 94. 59 Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (Frankfurt/M. 1994) 332. 60 Lepenies, a. a.O., 93.

HERMANN LÜBBE

Die Modernität der Vergangenheitszuwendung

Die Intensität unserer kulturellen Bemühungen, Vergangenes gegenwärtig und verstehbar zu halten, ist historisch beispiellos. Nie zuvor hat eine Zivilisation größere Anstrengungen unternommen als die unsrige, sich selbst zu historisieren, das heißt, sich als Resultat ihrer Herkunftsgeschichte verständlich zu machen und das Anderssein anderer, zu denen man sich in eine vergleichende Beziehung setzt, analog. Die historische Beispiellosigkeit moderner Vergangenheitszugewandtheit existiert nicht bloß als Schein im Zerrspiegel des Bewußtseins einer verblüfften Zeitgenossenschaft, die an Gehalten zustimmungsfähiger, ja zustimmungspflichtiger zivilisatorischer Evolution, am Fortschritt also orientiert ist und entsprechend, zum Beispiel, von der progressiv verlaufenden Musealisierung unserer kulturellen Umwelt überrascht wird. Die Bestände des modernitätsspezifischen Historismus sind in ihrer historischen Singularität kultursoziologisch längst vermessen und quantifiziert und verlaufsstatistisch ausgewiesen. Es erübrigt sich hier, das einschlägige Zahlenmaterial auszubreiten. Die Wucht dieses Materials schlägt jeden Gedanken nieder, man könnte es mit residualen und überdies ephemer oder regional begrenzten kulturellen Interessen zu tun haben. Die Kultur moderner Vergangenheitsvergegenwärtigung entfaltet sich großräumig in allen modernen Industriegesellschaften und sie ist überall Teil der Kulturgeschichte dieser Gesellschaften. Das schließt regionale, insbesondere nationalkulturgeschichtliche Differenzen nicht aus, vielmehr ein. Aber man sollte über die Zuwendung zu diesen Differenzen nicht den Blick für die Universalität der modernen historischen Kultur verlieren, die in ihren signifikanten Hervorbringungen inzwischen alle Industriegesellschaften mitprägt, sofern sie hochentwickelt und einem diktatorialen kulturpolitischen Anti-Modernismus nicht unterworfen sind. Zur Vergegenwärtigung der Phänomene, in denen der modernitätsspezifische kulturelle Historismus sich ausprägt, mögen hier ein paar Hinweise auf uns allen Bekanntes genügen. Erstens erfreut uns die Dauerblüte der professionellen Geschichtswissenschaft. Noch im Rückblick ist man erstaunt, daß man in Deutschland vor einem Vierteljahrhundert die Beantwortung der Frage „Wozu noch Geschichte?" für dringlich hielt.1 Die damals geführten lebhaf-

1 Vgl. exemplarisch Willi Oelmüller (Hg.): Wozu noch Geschichte? (München 1977).

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ten Auseinandersetzungen um die „Relevanz" der Geschichtswissenschaft2 dienten allerdings, wie man inzwischen erkennen kann, weniger tatsächlich nötigen Nachweisen unserer kulturellen Angewiesenheit auf die Leistungen der Geschichtswissenschaften als der wissenschaftsund bildungspolitischen Abwehr seinerzeit vorübergehend aktueller bildungspolitischer Versuche, den Sinn der Zuwendung zur Geschichte emanzipationspädagogisch einzuengen.3 Ob von emanzipatorischer oder von anderer Absicht geleitet - : So oder so fand und findet sich die Geschichtswissenschaft von der Gunst des Publikumsinteresses getragen. Jenseits der Fachpublikationen, mit denen sich Fachhistoriker an ihre Fachkommunität wenden, blüht die Historiographie als Literatur für das gemeine Leserinteresse. Große Historiographie ist bestsellerträchtig, und wir kennen die Verlage, die auf die Promotion historiographischer Bestseller spezialisiert sind. Das alles vollzieht sich zugleich in internationaler Kooperation. Die Breite des modernen geschichtsinteressierten Publikums macht Übersetzungen nötig und erfolgreich. Erfahrene Publizisten betätigen sich als Trivialisatoren geschichtswissenschaftlichen Wissens, und auf großen Bahnhöfen liegt Geschichtskunde als Kioskware aus. Zweitens expandiert in allen modernen Gesellschaften das Museumswesen. 4 Die Zahl der Museen wächst immer noch und die Zahl ihrer Besucher gleichfalls. In den herausragenden Fällen ist der Museumsbau zu einem zentralen Faktor in der aktuellen Städtebaugeschichte geworden - in Deutschland von Köln bis Stuttgart und von Bonn bis hin zu kleineren Plätzen wie Emden. Zugleich weiten sich die Lebensbereiche aus, deren Evolutionsrelikte heute als museumswert gelten. Das reicht von der Landmaschinentechnik bis zur Gartenzwergkultur und von der Befestigungs- und Schließtechnik mittels Knöpfen bis hin zu den Kostbarkeiten in musealisierten Depots der Mobilien königlicher und kaiserlicher Höfe. Zugleich haben sich die Museumsträgerschaften diversifiziert. Über Staaten und Länder hinaus sind selbstverständlich auch die Kommunen Betreiber von Musealisierungsprozessen. Selbst Kleinstädte präsentieren heute ihre Stadtgeschichte museal, und die über die Gebietskörperschaftsreformen vergrößerten Dörfer haben die Attraktivität der Schausammlungen von Relikten aus vormoderner Urproduktion für den Tourismus entdeckt. Auch große und kleine Unternehmen bieten heute Schausammlungen ihrer historischen Produktion an. Schließlich ist sogar - um es im Jargon der Systemtheorie zu sagen - der Musealisierungsprozeß selbstreferentiell geworden, das heißt, viele Museen bieten heute in Spezialräumen Schausammlungen ihrer eigenen Geschichte an, also Exempel der Expositionstechnik von gestern oder auch Kuriositäten aus der Historiographie museumsinterner historischer Irrtümer.

2 Thomas Nipperdey: Über Relevanz. In: Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft. Festschrift für Hans Herzfeld zum 80. Geburtstag. Im Auftrag des Friedrich-Meinecke-Instituts, hg. von Dietrich Kurze (Berlin, New York 1972) 1-26. 3 So der Hessische Kultusminister: Rahmenrichtlinien. Sekundarstufe I. Gesellschaftslehre (Wiesbaden 1972). - Zur Kritik dieser Rahmenrichtlinien vgl. Thomas Nipperdey: Konflikt - einzige Wahrheit der Gesellschaft? Zur Kritik der Hessischen Rahmenrichtlinien (Osnabrück 1974). 4 Vgl. dazu die Belege aus der Museumsstatistik in meinem Aufsatz: Der Fortschritt und das Museum. In: Hermann Lübbe: Die Aufdringlichkeit der Geschichte. Herausforderungen der Moderne vom Historismus bis zum Nationalsozialismus (Graz, Wien, Köln 1989) 13-29.

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Zugleich steigt der Grad der Professionalität moderner Museumspraxis. Fachhochschulen bieten Ausbildungsgänge für modernes Museumsmanagement an, und für Museumspädagogik gibt es Spezialinstitute zur Fortbildung von Lehrern aller Schultypen. Drittens sind die Selbsthistorisierungstendenzen unserer Gegenwartszivilisation für jedermann in den Hervorbringungen modernen Denkmalschutzes gegenwärtig. International organisierte Denkmalschutzjahre sind der Weckung des Bürgersinns für die entsprechenden Fälligkeiten gewidmet. 5 Bis auf die Ebene der Europäischen Union hinauf sind Förderungsprogramme für die Zwecke der Denkmalpflege ausgelegt, und die UNESCO führt ein Verzeichnis von Baudenkmälern, die nach dem Wortlaut von Plaketten, mit denen man sie ausgezeichnet findet, zum Kulturerbe der Menschheit zu zählen sind. Selbstverständlich ist die Geschichte des Denkmalschutzes ihrerseits längst historisiert.6 In der Praxis des Denkmalschutzes bedeutet das, daß auch dieser selbstreferentiell geworden ist. Die Hervorbringungen des Denkmalschutzes von gestern haben selber bereits Denkmalsrang gewonnen und werden in denkmalpflegerischer Absicht konserviert. Der Streit, ob man ruinierte oder unvollendet überkommene Bauwerke früherer Epochen restaurieren, nämlich wiederherstellen oder in Respekt vor ihrem „Ruinenwert" 7 als Ruine konservieren solle, erhob sich bekanntlich schon vor fast einem Jahrhundert. Heute konservieren wir Restauriertes, und wir konservieren Restaurationsruinen desgleichen. „Das kann doch nicht immer so weitergehen" fällt dazu dem Laien ein, und in der Tat - : Inzwischen sieht jedermann, daß das Gesamtresultat unserer expandierenden denkmalpflegerischen Bemühungen schlechterdings nicht mehr nach dem Muster gelungener Versuche beschrieben werden kann, komplementär zur Moderne Altes der Zeitgenossenschaft dieser Moderne alt zu erhalten. Man muß vielmehr sagen: Der Anblick, den unsere denkmalpflegerisch herausgeputzten Städte und Dörfer bieten, ist ein Anblick, wie er sich keiner Generation je zuvor bot. Was wir hier zu sehen bekommen, ist schlechterdings neu. Wir haben es nicht einfach mit den Objekten des Denkmalschutzes zu tun, vielmehr mit aktuellen Hervorbringungen seiner historisierenden architektonischen Praxis und näherhin mit einer höchst disparaten Fülle von Kompromissen in der Bemühung, die aktuelle Gebrauchsfunktion eines älteren Bauwerks mit seiner vom historischen Bewußtsein definierten Denkmalsfunktion kompatibel zu machen. Viertens expandiert die kulturhistorische Forschung auch institutionell. Ihr DefactoMonopol für Zwecke geisteswissenschaftlicher Forschung haben die Philosophischen Fakultäten oder ihre universitären Nachfolgeeinrichtungen längst verloren. Zahlreiche kulturelle, auch administrative Einrichtungen nehmen sich heute der kulturhistorischen Forschung außerhalb der Universitäten an, und die Resultate dieser Forschung gewinnen in der Gesamtbilanz kulturwissenschaftlicher Forschung ständig an Gewicht. Das gilt für die kunstwissenschaftliche Forschung im institutionellen Rahmen unserer Museen, für die orts-

5 Hans Maier (Hg.): Denkmalschutz. Internationale Probleme - Nationale Projekte (Zürich 1976). 6 Norbert Huse (Hg.): Denkmalpflege. Deutsche Texte aus drei Jahrhunderten (München 1984). 7 Nach Alois Riegl: Neue Strömungen in der Denkmalpflege. In: Georg Dehio, Alois Riegl: Konservieren, nicht restaurieren. Streitschriften zur Denkmalpflege um 1900. Mit einem Kommentar von Marion Wohlleben und einem Nachwort von Georg Mörsch (Braunschweig, Wiesbaden 1988) 104—119; 114.

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und regionsbezogene historische Forschung im Rahmen städtischer und sonstiger Archive, für die landeskundliche Forschung in den Forschungseinrichtungen von Landschaftsverbänden und sonstigen höheren Kommunalverbänden, für die projektbezogenen kulturhistorischen Forschungen im neugeschaffenen institutionellen Umkreis bedeutender außeruniversitärer Bibliotheken wie in Wolfenbüttel, und diese kleine Reihe von Exempeln ließe sich lange fortschreiben - von den editorischen und lexikographischen Langzeitprojekten in der Trägerschaft unserer Wissenschaftsakademien bis hin zu den renommierten kulturhistorischen Forschungsinstituten der Max-Planck-Gesellschaft. In der Aufzählung von aktuellen Beständen, an denen die Tendenz progressiver Selbsthistorisierung unserer Zivilisation ablesbar ist, könnte man lange fortfahren - von unseren historisierten Friedhöfen 8 bis hin zum politischen Historismus, als den sich Teile des europäischen Regionalismus kennzeichnen ließen.9 Das erübrigt sich hier. Zu beschäftigen hat uns die theoretische Frage, wie sich die manifesten Selbsthistorisierungstendenzen in der modernen Zivilisation erklären lassen. Selbstverständlich sind sie einer historischen Ableitung fähig. Aber einer historischen Erklärung10 bedürfen sie nicht einmal, nachdem sich die aktuellen, modernitätsspezifischen Funktionen der reflexiven Vergangenheitszugewandtheit unserer Zivilisation unschwer zur Evidenz bringen lassen. Dabei stößt man freilich gelegentlich auf das Argument, der aktuelle Historismus sei gewiß gegenwartsspezifisch, verhalte sich aber im übrigen zu den dominanten Gehalten der modernen Zivilisation kontingent, nämlich als ein pures Phänomen des Wohlstands, der es der modernen Kulturgenossenschaft eben erlaube, häufiger als in früheren Epochen zu aufwendigen Museumsreisen aufzubrechen, Mittel für Zwecke schmückender Gebäuderestauration zur Verfügung zu stellen und sich auf den Antiquitätenmärkten zu bedienen. Gewiß: Die Wohlfahrt ist eine notwendige Bedingung der singulären Aufwendungen, die wir heute für die Zwecke der Vergangenheitsvergegenwärtigung aufbieten. Aber um eine hinreichende Bedingung handelt es sich nicht. Es will ja erklärt sein, wieso wir uns nun gerade diese Vergangenheitsvergegenwärtigung soviel kosten lassen, anstatt die entsprechenden Mittel zukunftsbezogenen Zwecken zuzuwenden. Man muß zunächst auf eine objektive, nämlich temporale Eigenschaft der modernen Zivilisation rekurrieren, um zu verstehen, wieso Vergangenes in moderner Gegenwart fortschrei-

8 Vgl. dazu das Kapitel „Die Gegenwart der Toten. Historisierter Friedhof und anonyme Bestattung" in meinem Buch Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart (Berlin, Heidelberg etc. 2 1994) 37-54. 9 Vgl. dazu Dirk Gerdes (Hg.): Aufstand der Provinz. Regionalismus in Westeuropa (Frankfurt, New York 1980). Ferner: Jochen Blaschke (Hg.): Handbuch der westeuropäischen Regionalbewegungen (Frankfurt/M. 1980). - Zur Rolle des Regionalismus in der Politik der europäischen Einigung vgl. mein Buch Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben (Berlin 1994), bes.57ff. 10 Die methodische Operation der historischen Erklärung war der Hauptgegenstand der Bemühungen der analytischen Geschichtswissenschaftstheorie vor drei, vier Jahrzehnten. Vgl. dazu exemplarisch die einschlägigen Beiträge zu dem von Patrick Gardiner herausgegebenen und eingeleiteten Sammelband Theories ofHistory (New York, London 1959), ferner, zusammenfassend, das Kapitel „Was heißt ,Das kann man nur historisch erklären'?" in meinem Buch Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie (Basel, Stuttgart 1977) 35^*7.

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tend an Auffälligkeit gewinnt. Ich möchte, zusammenfassend, diese temporale Besonderheit der modernen Zivilisation als „Gegenwartsschrumpfung" kennzeichnen. „Gegenwartsschrumpfung" - das ist eine durchaus ungewohnte und daher erläuterungsbedürftige Kennzeichnung des fraglichen Bestandes, den ich hier zunächst analysieren möchte. Was ist gemeint? Gemeint ist, daß in einer dynamischen Zivilisation in Abhängigkeit von der zunehmenden Menge von Innovationen pro Zeiteinheit die Zahl der Jahre abnimmt, über die zurückzublicken bedeutet, in eine in wichtigen Lebenshinsichten veraltete Welt zu blicken, in der wir die Strukturen unserer uns gegenwärtig vertrauten Lebenswelt nicht mehr wiederzuerkennen vermögen, die insoweit eine uns bereits fremd, ja unverständlich gewordene Vergangenheit darstellt. Innovationsabhängige Gegenwartsschrumpfung bedeutet überdies, komplementär zur Verkürzung des chronologischen Abstands zu fremdgewordener Vergangenheit, zugleich fortschreitende Abnahme der Zahl der Jahre, über die vorauszublicken bedeutet, in eine Zukunft zu blicken, für die wir mit Lebensverhältnissen rechnen müssen, die in wesentlichen Hinsichten unseren gegenwärtigen Lebensverhältnissen nicht mehr gleichen werden. Kurz: Gegenwartsschrumpfung - das ist der Vorgang der Verkürzung der Extension der Zeiträume, für die wir mit einiger Konstanz unserer Lebensverhältnisse rechnen können. Die Konsequenz, die sich daraus für die Wahrnehmung der Geschichtszeit ergibt, hat Reinhart Koselleck folgendermaßen beschrieben: Erfahrungsraum und Zukunftshorizont werden inkongruent.11 Die Erfahrungen, die wir oder unsere Väter im Umgang mit unseren bisherigen Lebensverhältnissen machen konnten, eignen sich in Abhängigkeit von der Veränderung unserer Lebensverhältnisse fortschreitend weniger als Basis unseres Urteils über das, womit wir oder unsere Kinder und Kindeskinder für die Zukunft zu rechnen haben werden. Gewiß läßt sich sagen, daß die menschliche Zivilisation bis in ihre Ursprünge hinein, soweit wir sie kennen, evolutionären Charakter hat. Ob Machiavelli bei seinem vorherrschenden Interesse, aus der römischen Geschichte zu lernen, die kulturellen Evolutionen zwischen dem Beginn der Zeitrechnung und seiner eigenen Gegenwart als Evolutionen gar nicht wahrgenommen hat oder ob er sich für sie lediglich nicht interessierte, mag hier unentschieden bleiben. Gewiß ist, daß es kulturgeschichtliche Evolutionen gegeben hat, deren Dynamik so gering war, daß die Vorstellung absurd ist, sie hätten als Evolutionen bemerkt werden können. Auch die ausgedehnten Zeiträume der Ur- und Frühgeschichte waren ja nicht innovationsfreie Zeiträume. Aber die Zeitmaße in diesen Geschichtsepochen hatten, wie Karl J. Narr in seiner einschlägigen Abhandlung 12 eindrucksvoll gezeigt hat, sozusagen subgeologische Dimensionen, was trivialerweise bedeutet, daß zum Beispiel die außerordentlichen Fortschritte in der Schleiftechnik zur Herstellung feiner Steinklingen zwischen Jungpaläolithikum und Neolithikum für die Subjekte dieses Prozesses schlechterdings kein Gegenstand reflexiver Aufmerksamkeit sein konnten.

11 Reinhart Koselleck: ,Erfahrungsraum' und,Erwartungshorizont' - zwei historische Kategorien. In: Günter Patzig, Erhard Scheibe, Wolfgang Wieland (Hg.): Logik, Ethik, Theorie der Geisteswissenschaften. XI. Deutscher Kongreß für Philosophie Göttingen 1975 (Hamburg 1977) 191-208. 12 Karl J. Narr: Zeitmaße in der Urgeschichte. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. G 224 (Opladen 1978) 16ff.

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Es wäre durchaus spekulativ, etwas darüber vermuten zu wollen, wie groß innerhalb der kulturellen Evolution der Grad der Innovationsverdichtung geworden sein muß, damit diese als solche aufdringlich werden kann und ihre Thematisierung erzwingt. Lebenspraktisch wird sie jedenfalls einen Grad erreicht haben müssen, der ausreicht, innerhalb jener drei Generationen, die gleichzeitig existieren und in ihrer kulturellen Einheit durch unmittelbaren Erfahrungsaustausch zusammengebunden sind, Erfahrungen des Veraltetseins und der Gestrigkeit aufdringlich zu machen. Wie auch immer: Erfahrungen der Gegenwartsschrumpfung hängen an einem nur scheinbar paradoxen Effekt der temporalen Innovationsverdichtung. Der hier gemeinte Effekt ist, daß komplementär zur Neuerungsrate zugleich die Veraltensrate wächst. Die kulturellen Folgen dieser fortschrittsabhängig zunehmenden kulturellen Veraltensgeschwindigkeit sind erheblich. In einer dynamischen Zivilisation nimmt die Menge der Zivilisationselemente zu, die noch gegenwärtig sind, aber über die sich schon die Anmutungsqualität der Gestrigkeit oder Vorgestrigkeit gelegt hat. Anders ausgedrückt: In einer dynamischen Zivilisation nimmt die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen zu. Diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen war vor einhundert Jahren ein Thema der kulturtheoretischen Analysen Friedrich Nietzsches. Aber schon Friedrich Schlegel hat sie bemerkt und beschrieben. In Begriffen der Evolutionstheorie ausgedrückt heißt das: Mit der evolutionären Dynamik wächst die Reliktmenge an. Genau das ist die gewiß nicht hinreichende, aber notwendige Bedingung für den obenerwähnten Musealisierungsprozeß. Was sind denn Museen? Museen sind, unter diesem Aspekt betrachtet, nichts anderes als Schauhäuser von Zivilisationsrelikten, und jeder Museumsfachmann weiß, daß zum Beispiel in unseren blühenden Technik-Museen ineins mit der temporalen technologischen Innovationsverdichtung sich auch die Zeitspannen verkürzen, innerhalb derer die Eröffnung der jeweils neuesten Museumsabteilung fällig wird. Freilich gilt, daß auch die skizzierte Gegenwartsschrumpfung, zu der sich der Prozeß der kulturellen Musealisierung komplementär verhält, lediglich eine notwendige und nicht eine hinreichende Bedingung des Musealisierungsprozesses darstellt. Die Frage liegt ja nahe, warum wir, nach Analogie naturaler Evolutionen, die anfallenden Kulturevolutionsrelikte nicht einfach naturwüchsigen Recycling-Prozessen überlassen. Wieso verwahren wir, zumindest in repräsentativen Exemplaren, was doch gerade durch sein Veraltetsein, durch sein Ausgeschiedensein aus aktuellen funktionalen Zusammenhängen charakterisiert ist? Genau diese Frage ist, am kulturell repräsentativen Exempel der Musealisierung aufgeworfen, die Frage nach der Funktion des historischen Bewußtseins in dynamischen Zivilisationen. Die Antwort auf die Frage nach der Funktion des historischen Bewußtseins und damit der Leistungen der historischen Wissenschaften in modernen Zivilisationen soll uns hier nur beiläufig beschäftigen. Ich beschränke mich insoweit auf einige wenige Bemerkungen. „Die Geschichte steht für den Mann" - auf diese knappe Formel hat der Geschichtsphänomenologe Wilhelm Schapp die Einsicht gebracht, daß unsere so genannte Identität, individuell wie kollektiv, das Resultat unserer jeweiligen Herkunftsgeschichte ist13. Mit der Vergegenwärti-

13 Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Mit einem Vorwort zur Neuauflage von Hermann Lübbe (Wiesbaden 1976) 103.

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Hermann Lübbe

gung dessen, wer wir sind, durch Erzählen unserer individuellen und kollektiven Herkunftsgeschichten hat es vergleichsweise geringe Schwierigkeiten, wenn diese erzählten Geschichten Vergegenwärtigungen von Vergangenheiten sind, über die wir nach den Mustern der Gegenwart und den auf sie sich beziehenden Lebenserfahrungen urteilen können. Die Schwierigkeiten mit der Vergegenwärtigung eigener individueller und vor allem kollektiver Vergangenheiten wachsen aber, wenn in Abhängigkeit von der skizzierten Innovatiönsdynamik eigene Vergangenheit einem immer rascher zur fremden Vergangenheit wird. Alsdann bedarf es expliziter Leistungen eines schließlich sogar wissenschaftlich disziplinierten historischen Bewußtseins, um eigene Vergangenheit in ihren fremd gewordenen Elementen verstehen und damit aneignungsfähig halten zu können beziehungsweise die Vergangenheit anderer diesen zurechnungsfähig. Kurz: Die Leistungen des historischen Bewußtseins sind Leistungen zur Kompensation eines änderungstempobedingten kulturellen Vertrautheitsschwundes. Die Nötigkeit dieser Leistungen nimmt modernitätsabhängig zu. Der bereits erwähnte Denkmalschutz ist ein besonders anschauliches Beispiel, an welchem wir diesen Zusammenhang von Modernisierung und historisierender Konservierung ablesen können. Je rascher uns in Abhängigkeit von der wirtschaftlich und technisch bedingten Baudynamik unsere städtischen und dörflichen architektonischen Lebensambientes vor unseren eigenen Augen Züge der Fremdheit annehmen, um so mehr steigern wir die Intensität unserer konservatorischen Bemühungen in bezug auf das, was besonders geeignet ist, Erfahrungen einer sich durch die Zeit hindurch haltenden Selbigkeit möglich zu machen. Exemplarisch heißt das: Je mehr sich die Skyline von Frankfurt der von Dallas oder Denver annähert, um so unerträglicher ist uns der Gedanke, man hätte diesem Progreß nun auch noch das Großdenkmal architektonischen Historismus, das alte Opernhaus, geopfert und seinerzeit gemäß dem damaligen Vorschlag eines ehemaligen Oberbürgermeisters seine Ruine in die Luft gesprengt. Noch einmal also: Die historische Kultur ist eine spezifisch moderne Kultur, deren Nötigkeit ineins mit der Dynamik der modernen Zivilisation zunimmt, und diese Nötigkeit ist keine andere als die, unter Bedingungen der skizzierten Gegenwartsschrumpfung expandierende Vergangenheit mit dieser Gegenwart verknüpfbar zu halten. Unter Inanspruchnahme der in diesem Zusammenhang unvermeidlich gewordenen Kategorie der Identität läßt sich dasselbe auch so ausdrücken: Die Leistungen des historischen Bewußtseins kompensieren Gefahren temporaler Identitätsdiffusion. Um den in dieser Kennzeichnung der Leistungen des historischen Bewußtseins zentral in Anspruch genommenen, vor allem von Odo Marquard prominent gemachten Kompensationsbegriff 14 hat sich bekanntlich ein Streit erhoben.15 Ich möchte diesen Streit, dessen zum Teil mißverständnisvolle Gehalte hier nicht auszubreiten sind, abschließend zum Anlaß neh-

14 Vor allem über seine wiederholt nachgedruckte Rede „Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften", vgl. die Fassung Odo Marquard: Über die Unvermeidlichkeit der Geisteswissenschaften. In: Almanach. Ein Lesebuch Band I (Bonn 1987) 107-118. 15 Vgl. dazu meinen Bericht „Der Streit um die Kompensationsfunktion der Geisteswissenschaften". In: Einheit der Wissenschaften. Internationales Kolloquium der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Bonn, 25.-27. Juni 1990 (Berlin, New York 1991) 209-233.

Die Modernität der Vergangenheitszuwendung

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men, darauf aufmerksam zu machen, daß es in der Tat Grenzen der erläuterten kompensatorischen Leistungen des historischen Bewußtseins zu geben scheint. Es gibt tatsächlich aktuelle kulturelle Phänomene, die auf eine Überforderung unseres historischen Sinns schließen lassen. Um das plausibel zu machen, vergegenwärtige man sich zunächst an einem weiteren Exempel, was die unter dem Stichwort „Gegenwartsschrumpfung" bereits erläuterte kulturelle Innovationsverdichtung konkret bedeutet. In einem Kalendarium kunstgeschichtlicher Epochenbegriffe, mit deren Hilfe wir die Entwicklung der bildenden Kunst zu beschreiben pflegen, verzeichnet Hans Robert Jauss 16 für das Halbjahrhundert zwischen 1850 und 1900 sieben konventionelle Epochennamen - vom Realismus bis zum Sezessionismus. Demgegenüber ist dann allein für das eine Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 die doppelte Anzahl gebräuchlich gewordener Stilepochennamen notiert - vom magischen Realismus bis zum Environment. Das bedeutet eine Steigerung der künstlerischen Innovationsrate um den Faktor zehn in einhundertundzwanzig Jahren. Man erkennt leicht, daß, jenseits einer ungewissen Grenze, eine derartige Innovationsverdichtung unsere Innovationsverarbeitungskapazitäten erschöpfen muß. Die Logik des Avantgardismus hat uns eine Innovationsverdichtung beschert, die es unmöglich macht, selbst temporal eng begrenzte Kunstentwicklungen in repräsentativen Zeugnissen in herkömmlichen Ausstellungsräumen unterzubringen. Die exzellente Ausstellung „Westkunst" in Köln erforderte entsprechend zur Dokumentation eines knappen halben Jahrhunderts künstlerischer Entwicklungen zwischen dem Beginn der dreißiger und dem Beginn der achtziger Jahre statt herkömmlicher musealer Ausstellungsräume Messehallen.17 Selbstverständlich stehen heute die Kennerschaften und fachwissenschaftlichen Kompetenzen zur Verfügung, die imstande sind, auch derartige Mengen von Relikten künstlerischer Evolutionen genetisch zu ordnen und so historisch verständlich zu machen. Aber zugleich nimmt unvermeidlicherweise der Anteil des Publikums zu, der in seinen Fähigkeiten zur historischen Integration der Fülle, der das Publikum als Fülle in der Zeit sich ausgesetzt findet, hoffnungslos überfordert ist. In der Konsequenz dieser Überforderung gewinnt das Ausstellungsgut spontan eine Qualität zurück, die für Reliktsammlungen in vorhistoristischer Zeit charakteristisch war - die Qualität des Kuriosen nämlich. Man wandert durch die Hallen, und indem die Fülle des temporal und regional höchst Differenten sich vor unserem Blick entwicklungslogisch nicht mehr ordnen will, finden wir uns in die Souveränität des Eklektizismus zurückversetzt. Uns bleibt nichts als die Freiheit, uns das Dargebotene gefallen zu lassen oder auch nicht, und das bedeutet zugleich, daß die künstlerische Avantgarde das Geltungsprivileg ihrer aufmerksamkeits-prämienträchtigen Spitzenstellung in einer Entwicklung, die noch als solche erkannt und verstanden werden könnte, verliert. Jede Vorliebe ist nun erlaubt; alles geht. Die Richtung des Fortschritts ist unerkennbar geworden, und mit ihrer Unerfüllbarkeit entfällt die intellektuelle Verpflichtung, kulturell uptodate sein zu sollen. Eklektizismus als kulturelle Reaktion auf die Erfahrungen der Überforderung unseres historischen Sinns - das ist, weit über den exemplarisch zitierten modernen, der Moderne

16 Hans Robert Jauss: Kalendarium zur Verkürzung der Epochenbegriffe. Kunst. Typoskript (Konstanz 1983). 17 Laszlo Glozer: Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939 (Köln 1981).

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gewidmeten Ausstellungsbetrieb hinaus, die Essenz der sogenannten Postmoderne. Postmoderne Kultur ist Kultur in Reaktion auf die Überforderung durch die Moderne und ihre historistischen Herausforderungen. Wer den Fortschritt nicht mehr zu verarbeiten vermag, kann auf seinen jeweils neuesten Stand, indem dieser in der Kulturgenossenschaft konsensuell gar nicht mehr feststellbar ist, auch nicht mehr verpflichtet werden. „Das Ende der Avantgarde" 18 ist erreicht - nicht, weil niemandem noch etwas Neues einfiele, vielmehr genau umgekehrt deswegen, weil das Neue kraft seiner unausschöpfbaren Fülle seine Verbindlichkeit eingebüßt hat. Der Eklektizismus erscheint als die rationale Art, sich zu eben diesem Bestand zu verhalten, und in der Theorie der architektonischen Postmoderne ist daher „Eklektizismus" das zentrale Programmwort.19 Die Behauptung lautet selbstverständlich nicht, die moderne Kultur entwickle sich generell hin zu einer Kultur manifester Überforderung des historischen Sinns und damit unserer Fähigkeiten, in die in der Tat schwer entwirrbare Realität evolutionsdynamisch zunehmender Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen die historische Ordnung verstandener Genesen zu bringen. Die These lautet lediglich, daß inzwischen zum Historismus unserer Gegenwartskultur auch die Kultur überforderungsbedingter Weigerung gehört, die eigene Positionalität in der zivilisatorischen Evolution historisch zu indizieren.

18 Robert Hughes: Das Ende der Avantgarde. In: DU. Die Kunstzeitschrift 3 (1983) 6-11. 19 Charles Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition (Stuttgart 2 1980) 127ff: „Schlußfolgerung - radikaler Eklektizismus?"

KARL ACHAM

Historismus - Multikulturalismus - Kommunitarismus

Einig zu sein, ist göttlich und gut; woher ist die Sucht denn Unter den Menschen, daß nur einer und eines nur sei? Friedrich

Hölderlin

1. Historismus und kulturelle Besonderheiten Die schon unter Friedrich Schlegel mit dem Namen „Historismus" belegte Ausweitung der genetischen Betrachtungsweise auf alle Phänomene der Kultur, wodurch die menschliche Welt als geschichtsbestimmt ausgewiesen wird, wurde nach und nach mit ganz unterschiedlichen geschichtsphilosophischen und methodologischen Orientierungen verknüpft: mit einer teleologischen Geschichtsphilosophie; mit einer antiquarischen Orientierung im Sinn einer verklärenden Retrospektive; mit der Beschränkung der historischen Forschung auf positivistische Faktographie und vergleichende Methode; schließlich mit der Relativierung aller Wert- und Orientierungssysteme. 1 Der Zusammenhang zwischen dem Historismus als einer methodischen Orientierung und dem historischen Relativismus ist zwar keineswegs logisch zwingend, da ja die Kenntnis anderer Kulturen auch das Bewußtsein für die Einzigartigkeit der eigenen Überzeugungen zu steigern vermag; faktisch beherrschte jedoch dieser Zusammenhang weite Kreise der deutschen Intelligenz vor und nach dem Ersten Weltkrieg, nachdem die großen Ideale von Kulturfortschritt und Humanität, welche den Aufstieg der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert beflügelten, ihre Geltung verloren hatten. Es bedürfte eingehenderer Untersuchungen, um zu zeigen, daß nicht nur zwischen dem frühen Historismus und den nationalkulturellen Emanzipationsbewegungen ein Zusammenhang besteht, sondern auch zwischen bestimmten Erscheinungsformen des postmodernen Denkens und dem Multikulturalismus. In beiden Fällen ging es um eine Rehabilitierung des Besonderen, um dessen Eigenwert angesichts der Dominanz eines Allgemeinen, als dessen Agentur meist ein bestimmter politisch, wirtschaftlich und kulturell einflußreicher Staat in Erscheinung getreten ist. Der Historismus ist - gleich wie jene postmodemen Tendenzen, die die Verbindlichkeit eines ganz bestimmten Menschen- und Weltbildes leugnen - von Beginn an eine Antithese gewesen. Um ihn ganz zu verstehen, muß man die These kennen, die er verneint: den Begriff einer universellen menschlichen Natur oder auch Vernunft, die als Voraussetzung des Naturrechts angesehen wird, und von der man noch im 18. Jahrhun-

1 Vgl. Gunter Scholtz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M. 1991) 132f.

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dert meinte, sie sei als ein dem Wandel der Zeiten, Völker, Kulturen und Klassen entzogener Sachverhalt ewig. 2 Was der Historismus dem Rationalismus der Französischen Aufklärung vorwarf, war dessen Gleichgültigkeit gegenüber dem geschichtlich Bedingten, gegenüber der historischen Variabilität. Indem der Rationalismus alles das betonte, was allen Menschen gemeinsam ist, hatte er jene Elemente vernachlässigt, durch die sich die Menschen und Völker voneinander unterscheiden. Im Historismus treten in der Folge die als invariant angesehenen, gemeinsamen Züge der Menschheit in den Hintergrund, während sich die Aufmerksamkeit auf die Besonderheiten der Individuen, Völker und Nationen richtet: auf die unter oder oberhalb jener Vernunft, die allen Menschen gemeinsam ist, liegenden irrationalen, vitalen Kräfte, die das Ergebnis einer langsamen historischen Entwicklung darstellen, eines organischen Wachstums auf dem Boden einer Tradition und Schicksalserfahrung, wie sie für jedes Volk charakteristisch sei. In diesem Sinne trat etwa Friedrich Carl von Savigny für juristischen Pluralismus ein und setzte dem Naturrecht eine Vielzahl nationaler, ja sogar regionaler Rechte entgegen. „Man verlangte neue Gesetzbücher", schreibt er angesichts der Diffusion des Code civil kritisch, „die durch ihre Vollständigkeit der Rechtspflege eine mechanische Sicherheit gewähren sollten. [ . . . ] Zugleich sollten sie sich aller historischen Eigentümlichkeiten enthalten und in reiner Abstraktion für alle Völker und alle Zeiten Brauchbarkeit haben." 3 Im Gegensatz dazu suchte er als Vertreter des Historismus das zu erfassen, was die besondere Eigenart jedes Volkes, jeder Kultur, jeder Epoche ausmacht. Nicht auf Analogien zwischen den Völkern richtet so der Historismus seine Aufmerksamkeit, sondern darauf, was jede dieser Einheiten von allen anderen unterscheidet. Der Historismus, wie der zeitgenössische Multikulturalismus auch, ist aber nicht in allen seinen Vertretern im Sinne eines radikalen Nominalismus in Erscheinung getreten. In verschiedenen Fällen wird so etwas wie die Feststellung eines Kernbestandes der menschlichen Natur proklamiert, gerade um die Vielfalt kultureller Objektivationen besser erfassen zu können. Schon vor der Klimax der Aufklärungsepoche hatte Montesquieu bemerkt, er sei wohl Italienern, Spaniern und Franzosen begegnet, niemals aber dem zeitlosen Menschen an sich - und dennoch baute er selbst seine Rechtslehre auf den Invarianzen dessen auf, was er als menschliche Natur angesehen hat. Diese ist nicht als ein abstraktes Wesen darstellbar, sondern sie bildet die Voraussetzung für alle konkreten, durch Geschichte, Geographie und Kultur bedingten Gestalten des Menschlichen.

2. Rationalismus und transkulturelle Allgemeinheit Die Respektierung der Besonderheit der verschiedenen Kulturen findet nicht selten da eine Grenze, wo es um konkrete Inhalte derselben geht. Allzu rasch landet der Befürworter des Singulären und Besonderen im klassischen Dilemma des Liberalen: Soll eine liberale

2 Vgl. dazu und zum folgenden Alfred Stern: Geschichtsphilosophie und Wertproblem (München-Basel 1967) Kap. 6. 3 Friedrich Carl von Savigny: Vom Berufe unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (Heidelberg 1814) 5.

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Gesellschaft Kulturen respektieren, für die es charakteristisch ist, daß sie für sich eine ethnische oder rassische Überlegenheit proklamieren und dadurch anderen Kulturen antagonistisch gegenüberstehen? Kulturberührung bewirkt auch heute wieder Kulturkonflikte, obschon diese nicht durch Formen des klassischen Kolonialismus und Imperialismus, sondern vor allem durch wirtschaftlich bedingte Migration bewirkt werden. Ich will im folgenden zeigen, daß der zeitgenössische Liberalismus Toleranz als eine Haltung des Laissezfaire für den Individualbereich des Wertgeschehens, also im Privatmoralischen sowie im Privatästhetischen vorsieht, aber im Bereich der Öffentlichkeit: in Recht, Politik und Ökonomie, für Ordnung und Kontrolle (wenn auch nicht notwendig für Steuerung) plädiert. Ich will ferner zeigen, daß eine gewisse Spielart des Multikulturalismus nicht nur Toleranz für die ethnisch-kulturelle Verschiedenartigkeit proklamiert, sondern darüber hinaus die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen porös macht. Die vordem als Sache der Öffentlichkeit und als neutralisiert geltenden Zentralgebiete der Ökonomie, Politik und des Rechts - konkret heißt das heute: Marktwirtschaft, parlamentarische Demokratie und persönliche Grundrechte - sollen demnach sozusagen ethnisch „reprivatisiert" werden. Der für die intrakulturelle und interkulturelle Kompatibilität verschiedenartiger Wertorientierungen konstitutive Prozeß der Neutralisierung bestimmter Zentralgebiete des Gesellschaftlichen wird aber damit rückgängig gemacht. Als der in der europäisch-nordamerikanischen Welt neutrale Bereich schlechthin gilt landläufig jener der Wissenschaft. Der eigentümliche Sinn und die eigentümliche Radikalität des Universalismus der europäischen Kultur ist nach Ansicht zahlreicher Autoren in ihrem Rationalismus zu suchen: „Die besondere, ja singuläre Bedeutung dieses Rationalismus liegt genau darin, die kulturelle Relativität von Rationalität und Rationalisierung hinter sich gelassen, den Rationalismus also in seiner reinen oder absoluten, gewissermaßen kontextfreien Form, eben als universalen Rationalismus, realisiert zu haben." 4 So sehen etwa Piaton und Leibniz die Überlegenheit Griechenlands und Europas gegenüber asiatischen Kulturen im wissenschaftlichen Denken, und auch Max Weber versucht noch - auf der Grundlage differenzierter Analysen von Formen und Teilbereichen der Rationalität - , die Spezifik okzidentaler Rationalitätsansprüche nachzuweisen. Die Ansicht des radikalen Historismus, wonach auch alle Wissensinhalte und Wissensformen historisch seien, führte jedoch mittlerweile zu der Konsequenz, daß auch die Wahrheit von Theorien als bloß historische Tatsache angesehen wird: wahr sei nur das, was die Menschen in den jeweiligen historischen Konstellationen für wahr halten. Historismus und Wahrheit erscheinen nicht mehr nur als ein Problem der Geltungsfrage im Bereich der ethischen und ästhetischen Argumentation, sondern auch als eines der Wissenschaftstheorie.5 Gerade in den letzten Jahrzehnten haben sich daher auch Zweifel an der Legitimität und der Nützlichkeit der herkömmlichen Behauptung eines universalen Rationalismus der abendländischen Kultur eingestellt; gegenüber bestimmten dogmatischen Rationalisten der Aufklärungszeit wurden

4 Johannes Weiß: Vernunft und Vernichtung. Zur Philosophie und Soziologie der Moderne (Opladen 1993) 161. 5 Vgl. Gunter Scholtz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis (Anm. 1) 158-200.

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diese Zweifel bereits von skeptischen Rationalisten vom Schlage d'AIemberts und Humes geltend gemacht. 6 Stand man in Kontinentaleuropa bis herauf in die Zwischenkriegszeit im Banne der Auffassung älterer Philosophen, wonach die Überlegenheit Europas gegenüber anderen Kulturen im wissenschaftlichen Denken und in bestimmten Ausformungen der Alltagsrationalität zu sehen sei, so hat sich im US-amerikanischen Bewußtsein die Differenzierung der Kulturen - gemäß den religiös geprägten Vorstellungen von der Sendung der Vereinigten Staaten von Amerika 7 - vor allem entlang moralischen Kriterien vollzogen. Insbesondere seit Präsident Wilson ist es in unserem Jahrhundert üblich geworden, das moralische Bewußtsein als jene Instanz anzusehen, mit deren Hilfe sich der „Westen" gegenüber anderen Kulturen überlegen fühlt. Der folgende kurze Exkurs soll belegen, daß der gegenüber den asiatischen Großmächten bis auf den heutigen Tag strapazierte Moralismus des „Westens" allerdings mit Erinnerungslücken im Bereich der Genealogie der Moral verknüpft ist. Um einem Mißverständnis vorzubeugen, sei hier festgestellt: Es soll damit nicht etwa die heute durch China vollzogene Aufrechnung sozialer gegenüber persönlichen Grundrechten moralisch legitimiert werden; aber einer guten historistischen Tradition entspricht es, Dinge zunächst einmal historisch zu verstehen und zu interpretieren, ehe man sie preist oder verurteilt. a) Über die Gleichheit der Völker im Jahr 1919 Die Rede ist hier von einem politischen Konflikt unter militärischen Siegennächten, der alle Züge eines Konflikts zwischen Kulturen trug und der - ganz im Unterschied zu der gleichzeitig und lauthals vorgetragenen Überzeugung des Präsidenten Wilson vom „Selbstbestimmungsrecht" und der „Gleichheit der Völker" - in der Tradition jener kolonialistischen Mentalität stand, die Wilson in der Regel nur bei den Unterlegenen des Ersten Weltkrieges

6 Die heute oft undifferenziert erfolgende Bezugnahme auf das Erbe „der" Aufklärung unterschlägt diese Konflikte und die Tatsache virulenten Argumentierens gegenüber Vertretern devianter Wissenschaftskonzeptionen von Seiten gewisser Aufklärungsdenker. Zu erinnern wäre exemplarisch an den 1755 publizierten Code de la Nature ou Le véritable Esprit de ses Lois des von Marx und Engels so hochgeschätzten Morelly, wo im „Unterrichtsgesetz, das die Verwirrung des Geistes und die transzendentale Träumerei verhindert", dekretiert wird, daß über die Natur des geistigen Wesens in uns nichts gewußt werden könne, und daß ferner nicht der geringste Zusatz in dem „öffentlichen Gesetzbuch für alle Wissenschaften", der sich auf Fragen der Moralphilosophie bezieht, jemals gemacht werden dürfe. Oder man denke an Louis-Sebastien Mercier, der in seinem 1772 in London erschienenen utopischen Roman L'An deux mille quatre cent quarante vorschlägt, alles aus dem Denken fernzuhalten, was an die Vergangenheit erinnert, und die Meinungsäußerung strenger Kontrolle zu unterstellen. „Schlechte" Autoren, also solche, deren Denken nicht der offiziellen Lehre der utopischen „Strahlenstadt" entspricht, werden auf den rechten Weg zurückgebracht. Jeden Abend besuchen einen solchen devianten Schriftsteller zwei Gelehrte, um seine Gedanken zu widerlegen und ihn durch sanfte Überredung wieder zur Vernunft zu bringen. Man zeigt Nachsicht für seine vorübergehende Verirrung, wenn er in der Folge die Überlegenheit ihrer Argumente anerkennt; seine Werke werden allerdings vernichtet. Vermöge ihn aber nichts zu überzeugen, so könne er zum „bürgerlichen Tod" verurteilt werden, und das heißt zu lebenslanger Haft in Staatsgefängnissen, in vergitterten Gräbern nahe der Friedhöfe. 7 Vgl. dazu Otto Kallscheuer: Individuum, Gemeinschaft und die Seele Amerikas. Die christliche Republik. Transit. Europäische Revue, Heft 5 (Winter 1992/93) 31-50.

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nachweisen zu können meinte: bei den Herrschern und Führungsschichten im Deutschen Reich, im Habsburgerreich und im Osmanischen Reich. Es geht um die Forderungen, die Japan, assistiert von den ihm ansonsten mit tiefem Mißtrauen begegnenden Chinesen, auf der Friedenskonferenz 1919 in Paris vorbrachte: das völkerrechtliche Verbot der Rassendiskriminierung. 8 Die entsprechende Initiative der japanischen Regierung, vorgetragen bei der Pariser Friedenskonferenz durch eine Delegation unter der Leitung von Baron Nobuaki Makino, geht auf den November 1918 zurück. Zunächst versuchten die Japaner, die einflußreichen westlichen Mächte für ihre Forderung zu gewinnen. Ein erster Paragraphenentwurf, der dem amerikanischen Präsidenten am 4. Februar 1919 unterbreitet wurde, lautete: „Da die Gleichheit der Völker ein grundlegendes Prinzip des Völkerbundes ist, kommen die Hohen Vertragschließenden Parteien in bezug auf die Behandlung von Fremden in ihren Territorien überein, daß sie ihnen, soweit dies in ihrer legitimen Macht liegt, in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht gleiche Behandlung und Rechte gewähren, ohne irgendwelche Unterschiede aufgrund ihrer Rasse oder ihrer Staatszugehörigkeit zu machen." Diese Formulierungen erhalten vor allem vor dem Hintergrund sehr diskriminierender rechtlicher Bestimmungen ihre besondere Bedeutung, die gegen Chinesen in den USA im Jahr 1894 und gegen Japaner in Kalifornien in den Jahren 1905 und 1913 wirksam wurden. Sowohl von Seiten Wilsons, als auch von britischer und australischer Seite (Balfour und Cecil bzw. Hughes) wurden gegen den japanischen Antrag massive Einwände erhoben. Aufgrund des erbitterten Widerstandes sahen sich die vom chinesischen Delegierten Wellington Koo (Gu Weijun) unterstützten Japaner genötigt, den Wortlaut ihres Paragraphenentwurfes immer weiter abzuschwächen und schließlich auf die Benutzung des Wortes „Rasse" ganz zu verzichten. In der entscheidenden Sitzung am 11. April 1919 sahen sich die Japaner vor allem aufgrund von Vorbehalten seitens der USA abermals veranlaßt, eine mittlerweile ohnehin schon gegenüber der Vorlage vom 4. Februar 1919 entschärfte Version ihres Vorschlages sprachlich noch weiter zu verharmlosen. In der sehr heftigen Diskussion ergriff Wilson das Wort und legte dar, der Grundsatz der Gleichheit der Völker bedürfe nicht der gesonderten Erwähnung im Text der Präambel des japanischen Antrags, da er ohnehin bereits implizit ein grundlegendes Merkmal des Völkerbundes sei. Die japanische Delegation gab sich damit allerdings nicht zufrieden und verlangte eine Abstimmung. 11 von 16 Anwesenden, und zwar die Vertreter Japans, Frankreichs und Italiens (je zwei Stimmen), Chinas, Griechenlands, Portugals, Serbiens und der Tschechoslowakei (je eine Stimme) stimmten dafür, fünf Delegierte, und zwar jene der Vereinigten Staaten (Wilson nicht eingeschlossen), Englands, Brasiliens, Polens und Rumäniens, dagegen. Gemäß dem Mehrheitsprinzip hatten sich die Japaner durchgesetzt. Doch zur Überraschung der Mehrheit der Anwesenden berief sich Präsident Wilson plötzlich auf den Grundsatz der Einstimmigkeit und erklärte den japanischen Antrag, der als Zusatz zu Artikel 21 der Völkerbund-Satzung konzipiert war, für abgelehnt. Vorhaltungen des französischen Rechtsexperten Larnaude

8 Vgl. zum folgenden Harro von Senger: Als der Westen von Rassengleichheit noch nichts wissen wollte. Ein unbekanntes Vorspiel zur chinesischen Bewegung vom 4. Mai 1919. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25. April 1994, 13.

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gegenüber bemerkte er lapidar, er sehe sich gezwungen festzustellen, daß der Antrag nicht angenommen worden ist, da von einigen der Anwesenden „allzu schwerwiegende Bedenken" erhoben worden wären. Der erste Versuch in der Geschichte, die Gleichstellung der Rassen völkerrechtlich abzusichern, und damit einen bedeutenden Schritt in der Richtung einer Universalisierung der Menschenrechte voranzukommen, war am Widerstand führender Westmächte gescheitert. Diese entschädigten aber Japan auf Kosten Chinas, indem sie zwei Kompensationsforderungen Japans: die Übernahme der deutschen Vorrechte in Shandong und die Mandatsherrschaft über die ehemals von Deutschland verwalteten nördlich des Äquators gelegenen Inseln im Stillen Ozean, erfüllten. So sanktionierte die Pariser Friedenskonferenz im Tausch gegen den Grundsatz der Rassengleichheit die Herrschaft Japans über chinesisches Territorium. Die diplomatische Niederlage Chinas führte zu einem breite Kreise der chinesischen Bevölkerung umfassenden, landesweiten Protest am 4. Mai 1919. Dieser eskalierte in Entwicklungen, welche eine Erklärung der chinesischen Regierung vom 28. Juni 1919 zur Folge hatten, den Versailler Friedensvertrag nicht unterzeichnen zu wollen. Zweifellos war die Bewegung vom 4. Mai ein Ereignis, das schließlich zum Triumph der Kommunistischen Partei Chinas im Jahre 1949 und damit zur Gründung der Völksrepublik China beitrug. Wie Harro von Senger 1994 bemerkt, sei es im Lichte dieser in Europa weitgehend unbekannten oder doch vergessenen Geschehnisse vor 75 Jahren kaum verwunderlich, wenn chinesische Kommentatoren unter anderem das von Japanern begangene Massaker von Nanjing als logische Folge jenes Verständnisses der Menschenrechte ansehen, wie es sich in Wilsons Machtwort vom 11. April 1919 bekundete: „So gesehen besteht ein Zusammenhang zwischen der Ablehnung der Rassengleichheit durch die maßgebenden Westmächte auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 und der Tatsache, daß 75 Jahre später in China eine andere als die heute im Westen geläufige Menschenrechtskonzeption dominiert." 9 Man kann im Rückblick auf die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sagen, daß die Proklamation einer übernationalen Rechtsordnung auf einer nur selektiv anerkannten Gleichheit zwischen den Rassen, aber auch auf einer außerordentlich eigenwilligen Auslegung des Selbstbestimmungsrechts der Völker - insbesondere im Blick auf die weitgehend zur Fremdbestimmung verurteilten Minderheiten der Verlierernationen auf dem Boden der nach 1918 entstandenen Nationalstaaten - beruhte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sollte die Gleichheit der Rassen ein konstitutives Prinzip der Charta der Vereinten Nationen bilden und seit den späten 50er Jahren zur Ächtung von Kolonialherrschaften führen, mit denen nicht selten rassistische Überlegenheitsansprüche verbunden waren. Was den Minderheitenschutz angeht, so zeigt etwa das Gipfeltreffen des Europarats von Wien im November 1993, daß im Falle der etwa 200 Volksgruppen mit mehr als 100 Millionen Angehörigen in Europa die Wirklichkeit der Minderheitenpolitik den Beschlüssen dieses Treffens auch heute noch meilenweit hinterherhinkt.10 Insgesamt besteht heute unter westlichen Intellektuellen

9 Ebd. 10 Vgl. in diesem Zusammenhang kurz den Kommentar zu den im November 1993 gefaßten einschlägigen Beschlüssen des Gipfeltreffens des Europarats von Reinhard Olt: Minderheitenschutz mangelhaft. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27. November 1993, 1.

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nichtsdestoweniger die weitverbreitete Überzeugung - und diese wird in ihrem fatalen Apriorismus auch nicht durch die kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan seit 1991 ernsthaft in Zweifel gezogen daß die ethnische Differenzierung gegenüber der sozialökonomischen Ungleichheit eine untergeordnete Rolle spiele. b) Unterwegs zu einer neuen übernationalen

Rechtsordnung?

Interessant sind in diesem Zusammenhang die moralisch motivierten Bestrebungen gewisser deutscher Sozialphilosophen und Sozialwissenschaftler. Zum Zwecke der Verhinderung sozialer Ungleichheit im Weltmaßstab wird versucht, eine neue Art von übernationaler Rechtsordnung auf der Grundlage der Weltvernunft zu etablieren, welche angeblich die herkömmlichen nationalen Besonderheiten zunehmend obsolet werden läßt. Als ein exemplarischer Vertreter dieser Orientierung ist Rolf Knieper anzusehen, dessen Buch Nationale Souveränität einen schönen Beleg für einen neuen deutschen Internationalismus bildet.11 Die heutige Existenz von Territorialstaaten, so meint Knieper, beruhe nur noch auf dem Funktions- und Organisationskalkül des grenzenlos gewordenen Produktionsverhältnisses. Angesichts der Universalität der Globalökonomie sei das Insistieren auf nationaler Souveränität ein Anachronismus. Wenn die Volkswirtschaften der USA, Japans und der BRD sowie zum Beispiel Brasiliens nur funktionelle Elemente einer einheitlichen, hochgradig arbeitsteiligen Weltwirtschaft seien, dann habe ihre nationalstaatliche Verfaßtheit nur noch wenig Sinn. Dies aber sei, da ja die Ressourcen dieser Erde der gesamten Menschheit gehören und demgemäß keine einzelne Gruppe darüber verfügen dürfe, auch für das moderne Völkerrecht und die Behandlung zwischenstaatlicher Konflikte von durchschlagender Bedeutung. Die von Knieper ins Auge gefaßte Perspektive eines Sozialstaats in der Dimension eines Weltrechts ist gewiß nicht unplausibel, sofern damit nur behauptet werden soll, daß die Entwicklungshilfe der reichen Industriegesellschaften gegenüber den armen Ländern der sogenannten Dritten und Vierten Welt kein Akt der Barmherzigkeit, sondern des Eigeninteresses sei. Aber Knieper geht noch einen Schritt weiter und fordert, daß der Internationale Währungsfonds und die Weltbank sich nicht scheuen sollten, die Geltung der allgemeinen Menschenrechte in ihren Klientenstaaten durchzusetzen; denn diese Menschenrechte seien als allgemeine Produktionsbedingungen der Weltökonomie anzusehen. Daher sei jegliche Scheu vor dem Prinzip nationalstaatlicher Souveränität unangebracht. Als eine Konsequenz derartiger Auffassungen wäre es offensichtlich gerechtfertigt, daß wir am Golf „unser Öl" verteidigen müssen und daß der Regenwald in Brasilien eigentlich der politischen Zuständigkeit der brasilianischen Regierung entzogen werden sollte. Im Namen einer neuen transhistorischen Weltvernunft werden sonach universale Menschenrechte gewissermaßen zu funktionalen Notwendigkeiten der universalen Wirtschaft als einer Globalökonomie, und diese wird wiederum der Aufgabe einer globalen Homogenisierung der sozialökonomischen Verhältnisse unterstellt. Wie Ulrich K. Preuss im Blick auf die Thesen Kniepers bemerkt, wird hier bereits etwas vorausgesetzt, dessen empirischer

11 Rolf Knieper: Nationale Souveränität. Versuch über Ende und Anfang einer Weltordnung (Frankfurt/M. 1991).

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Nachweis erst einmal geliefert werden müsse: eine Gemeinschaft der Menschheit. „Wir sind zwar eine Welt und sind auch - vor allem durch die Weltökonomie - zu einer Menschheit zusammengewachsen; aber der zwischen allen Menschen gestiftete funktionale Zusammenhang stiftet noch keineswegs auch eine Gemeinschaft der Menschheit, welche allein jene Solidarnormen erzeugen könnte, kraft deren die Reichen bereit wären, mit den Armen zu teilen. Vielleicht ist es ja gar nicht der universalistische Weltstaat, sondern die Pluralität selbstbewußter und gleichberechtigter Staaten mit je eigenen inneren Gruppensolidaritäten, welche den funktionalen Imperativen der Weltökonomie jenes Maß an sozialer Gerechtigkeit abtrotzen kann, das Knieper anstrebt." 12 In vielen Traktaten, die im Namen der transkulturellen und überzeitlichen Rationalität und Moral geschrieben werden, welche uns angeblich mit den anderen verbindet, geht es genauer betrachtet darum, die anderen - etwa unsere „Brüder und Schwestern" in der Dritten und Vierten Welt - dann zu loben, wenn sie so denken wie wir. Und sie tun dies ja auch in der Tat weitgehend - mit dem Effekt, daß die traditionellen Selbstversorger-Strukturen mittlerweile sogar in entlegenen Dörfern zerstört sind und das westliche Zivilisationsmodell tatsächlich das Weltmonopol errungen hat. Weltweit sind gewaltige Erwartungen geweckt worden, die sich mehr und mehr in Taten umsetzen. Werden jedoch, was weithin absehbar ist, die großen Hoffnungen auf Wohlstandsvermehrung enttäuscht, so werden wohl Ressentiment und Wut die Folge sein. Welche politischen Kräfte sich dann der aufgestauten Frustrationen bedienen werden, wissen wir nicht. Samuel R Huntington hat seine Ansicht dazu geäußert: Wir stünden am Vorabend einer Konfrontation der Zivilisationen, also einer neuen Form des Kulturkampfs. 13 In der Tat konstatieren wir in den multiethnischen Gesellschaften des (nördlichen) „Westens" bereits eine Bewegung, die dieses Szenario ergänzt: eine Ethnisierung der als neutral konzipierten öffentlichen Institutionen im Namen des Multikulturalismus. Diese spezifische Variante des Multikulturalismus beschränkt sich nicht mehr auf die Kultivierung privatmoralischer und privatästhetischer Werthaltungen, sondern wird offensiv im Sinne einer Ethnisierung von Rechtsvorschriften sowie im Sinne einer Ethnopolitik. Die Heterogenität von unterschiedlichen Kulturen auf einem bestimmten Territorium läuft unter solchen Vorzeichen auf eine andere - Kniepers Thesen ergänzende - Form der Erosion konventioneller nationalstaatlicher Ordnungen hinaus. So würden beispielsweise die Staaten Mitteleuropas durch ihre inneren Konflikte in Schach gehalten - auf längere Sicht kaum mehr für eine außenpolitische Aktivität die erforderliche Kraft aufbringen. Institutionen verlören dann weitgehend ihre Selbstverständlichkeit, würden wohl zunächst als „konventionell", dann als „unnatürlich" beurteilt, und schließlich vielleicht im Namen einer postkonventionellen „neuen Natürlichkeit" bekämpft werden. Ob sich dann die neuen konsensuell etablierten Normen und Institutionen der Furcht oder dem Konformismus verdanken, bliebe abzuwarten oder aber man handelt auf entsprechende Weise dagegen, ehe man auf das bloße Abwarten angewiesen ist. Aber, wie gesagt, die soeben skizzierte Form ist nicht die einzige, unter der der Multikulturalismus in Erscheinung tritt, wenn auch zweifellos eine der provozierendsten.

12 Ulrich K. Preuss: Auf dem Wege zum sozialen Weltrecht? Rolf Kniepers Polemik gegen den souveränen Nationalstaat. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25. Februar 1992, 12. 13 Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations. Foreign Affairs 72 (1993) 22-49.

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3. Typen des Multikulturalismus „Multikulturalismus" hat verschiedene Bedeutungen, nicht nur die eines gesellschaftlichen Gegenentwurfs zu Rassismus oder Nationalismus. Im allgemeinen wird für das Zustandekommen der Gesellschaftsform einer amalgamierten überethnischen Solidargesellschaft die Beseitigung gesellschaftlicher Ungleichheit vorausgesetzt, so daß die Remedur gegen interethnische Konflikte mehrheitlich in einer Art von ökonomischer Umverteilung erblickt wird. Nun zeigt sich allerdings, daß auch in bestimmten Regionen der USA oder Kanadas, die sozialstrukturell relativ homogen sind, ethnische Differenzierung eine herausragende Rolle spielt. Auch dort wird zum Beispiel an Universitäten ein wachsender ethnischer (und auch rassischer) Separatismus beobachtet, da ethnische Zugehörigkeit zunehmend zu einem Identitätsmuster im Alltag wird. Studenten unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit finden sich jeweils in homogenen Gruppen in Seminaren, in der Bibliothek, in der Freizeit zusammen. Nicht hat sich hier interethnische Harmonie gemäß der Variante des amalgamierenden Multikulturalismus durchgesetzt, sondern man präferiert eine Form von selbst vollzogener Segregation und darauf sich gründender Eigendefinition. In diesen Fällen handelt es sich oft um unbeabsichtigte Folgen bestimmter absichtsgeleiteter Handlungen auf politisch-administrativer Ebene. Anschauungsmaterial dafür bietet die kanadische Einwanderungspraxis mit ihren nicht selten negativ empfundenen Wirkungen. 14 Staatliche Gleichbehandlungsprogramme sollen in Kanada dafür sorgen, daß ethnische Minderheiten ihren Randgruppenstatus verlieren. Durch geplante Bevorzugung, also kompensatorische Ungleichbehandlung, soll der Anteil der bislang unterprivilegierten Gruppen in verschiedenen Berufsgruppen auf ein Niveau angehoben werden, das ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. In Anlehnung an die US-amerikanischen „Affirmative action"-Programme wird durch bundesweit zur Anwendung kommende Gleichbehandlungsrichtlinien („equity programs") versucht, Unternehmen zu veranlassen, Angehörige der als Minderheiten gekennzeichneten Gruppen bei gleicher Qualifikation von Mitbewerbern bevorzugt einzustellen. Die Effekte sind dabei ähnlich denjenigen in einigen Bundesstaaten der USA, wo die „Affirmative action"-Programme mit Quotenregelungen verknüpft sind. Weil nämlich in beiden Fällen das Abstammungsprinzip über die Vergabe von Stellen entscheidet, also der ethnische Gesichtspunkt im Namen der angestrebten Integration erheblich bleibt, werden ethnische Gruppenidentitäten geradezu zementiert. So tritt das Gegenteil dessen ein, was man intendierte: Die Herkunft, die an Bedeutung verlieren sollte, wird wichtiger als sie es noch vor wenigen Jahren war, weil sie darüber entscheidet, ob man bestimmte Vorteile in Anspruch nehmen kann oder nicht. Damit untergräbt die Politik der kompensatorischen Ungleichbehandlung zum Zwecke der Forcierung von Gleichheit das liberale Prinzip der „Chancengleichheit" („equality of opportunity"), welche ja ohne Ansehen von Herkunft oder Rasse garantiert sein soll. Bestimmte Teile der USA und Kanadas sind so im Namen des Multikulturalismus in ethnisch konkurrierende Segmente aufgespalten, wobei die Konkurrenz nicht mehr unter

14 Vgl. zum folgenden Heribert Adam: Fremdenfeindlichkeit, Einwanderungspolitik und Multikulturalismus in Kanada und Deutschland. Leviathan 22 (1994) 60-77.

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ethnisch-neutralen, nämlich meritokratischen Spielregeln erfolgt. Diese Einwanderungsländer werden dabei mit der Tatsache einer neuen Form von sozialer Ungleichheit konfrontiert. Denn von dem Recht auf Kompensation profitieren häufig Personen, die zur Zeit der Diskriminierung ihrer ethnischen Gruppe noch gar nicht in Kanada oder in den USA waren, während andererseits häufig gut ausgebildete, aber ethnisch nicht „schutzbedürftige" Einwanderer benachteiligt werden. 15 Es nimmt daher nicht wunder, daß gewisse Befürworter einer interethnischen Kooperation die Ansicht vertreten, daß der dem Prinzip der kompensatorischen Ungleichbehandlung verpflichtete, aber in seinen Wirkungen ethnozentrische Multikulturalismus ein schädlicher Spaltpilz sei. Es sind nicht bloß Weiße, sondern gerade auch Asiaten, die sich durch die „affirmative action" benachteiligt sehen. Um den Spieß umzudrehen, behaupten sie, daß sie durch die erwähnten kompensatorischen Maßnahmen diskriminiert würden und gehen nun dazu über zu klagen, und zwar mit erheblichen Schadenersatzforderungen. In der Tat müssen nicht nur weiße Amerikaner, sondern auch Amerikaner chinesischer oder japanischer Herkunft zum Beispiel für die Zulassung zu bestimmten höheren Lehranstalten Kaliforniens einen besseren Notendurchschnitt vorweisen als „Afro-Americans" und „Hispanics"; zudem dürfen sie sogar bei Anwendung dieses Verfahrens mitunter einen bestimmten Prozentsatz an Schülern und Studenten nicht übersteigen. Schulen müssen nachweisen, daß sie mindestens vier der staatlich anerkannten neun Gruppen von „Nichtweißen" - und zwar unabhängig von der Leistung - bei der Zulassung berücksichtigen. Kenner der amerikanischen Szene meinen in diesem Zusammenhang, daß nicht sosehr die „Affirmative action"Programme für die „Balkanisierung" der USA verantwortlich zu machen seien, sondern eher deren Auslegung durch die Vertreter der „political correctness". Obwohl beide von der Bürgerrechtsbewegung geprägt sind, sei diese Bewegung mit jener administrativen Maßnahme nicht von vornherein gleichzusetzen. Die Vertreter der „affirmative action" hätten so beispielsweise ursprünglich überhaupt keine Quotenregelung bei der Besetzung öffentlicher Ämter im Auge gehabt, weil eine solche bundesweit nicht durchsetzbar gewesen wäre. Erst die Anhänger der „political correctness" hätten sich für Quotenregelungen stark gemacht, welcher Bigotterie sie als gescheiterte Menschheitsbeglücker der sechziger Jahre erlegen seien. Wie dem auch sei - jedenfalls mehren sich die Anzeichen, daß im Gegenzug zu bestimmten Übersteigerungen des Kompensationsprinzips eine Neubelebung des von Geschlecht und rassischer Zugehörigkeit unabhängigen Leistungsprinzips und des radikaldemokratischen Konzepts der religions-, rasse- und geschlechtsblinden Bestimmung des amerikanischen Bürgers erfolgt.

15 1991 waren in Kanada 16 Prozent der Gesamtbevölkerung, wie schon vor 40 Jahren, Einwanderer, von denen 54 Prozent aus Europa stammten, 25 Prozent kamen aus Asien, 6 Prozent aus den Vereinigten Staaten, je 5 Prozent waren lateinamerikanischer oder karibischer Herkunft und 4 Prozent Afrikaner. Schon 1971 wurde die damals von allen Parteien getragene Politik des „multiculturalism" verkündet, für die eine seit 1991 zum Ministerium aufgewertete Verwaltungsabteilung zuständig ist. Dieses Ministerium distanziert sich von der amerikanischen „Schmelztiegel-Ideologie", da nicht Assimilierung, sondern Integration die Aufbauformel der „internationalen Nation" Kanada sei. Dieser neue Nationstypus soll ein gleichberechtigtes Zusammenleben verschiedener Kulturgemeinschaften auf der Grundlage gemeinsamer Werte wie Freiheit, Gleichheit, Demokratie, gegenseitiger Achtung und Gemeinschaftssinn ermöglichen.

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Man kann in der modernen Multikulturalismus-Debatte unschwer Ähnlichkeiten zu Themen der alten Historismusdiskussion der Frühromantik finden: Betonung kollektiver „Individualitäten"; Anerkennung der relativen Autarkie nationaler oder ethnischer Kulturen; Betonung der geschichtlichen Determiniertheit gruppenspezifischer Identitäten. Wie es einen übertriebenen Historismus gegeben hat, der radikal die Autarkie ethnisch-kultureller Einheiten vertrat, so gibt es auch einen übertriebenen, nicht selten sich selbst mißverstehenden Multikulturalismus. Denn die Aufforderung an die Gesellschaft, einerseits die ethnisch-kulturellen Differenzen anzuerkennen und zu pflegen, andererseits von diesen auch für Karrierebelange Gebrauch zu machen, hat sich in ihren Folgen als paradox erwiesen. Wo ethnische Unterscheidungen in der Konkurrenz um soziale und ökonomische Vorteile eingesetzt werden können, ist eine Ethnisierung sozialer Konflikte die Folge, welche schnell den Eindruck von rassistisch motivierten Auseinandersetzungen erwecken kann. Diese Konflikte haben ihren Grund nicht zuletzt darin, daß partikularistische Kriterien mit einer universalistischen Zielsetzung, nämlich ethnisch-kulturelle Zugehörigkeiten mit dem Prinzip der Chancengleichheit kollidieren.16 Eine Begriffsanalyse, welche auf die verschiedenen Bedeutungen von „Multikulturalismus" abzielt, hat davon auszugehen, daß die Beziehung zwischen Chancengleichheit und dem behaupteten Anspruch auf kulturelle Verschiedenartigkeit sehr unterschiedlich gestaltet sein kann.17 Es ist eine eingeübte Praxis, die Chancengleichheit als etwas zu betrachten, was in den Bereich der Öffentlichkeit fällt, ethnisch-kulturelle Orientierungen und Verhaltensweisen jedoch der Privatsphäre zuzurechnen. Wenn man diese Unterscheidung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich akzeptiert, dann ergeben sich vier grundlegende Typen einer Beziehung von Chancengleichheit und ethnisch-kulturellen Einstellungen:18 (a) Chancengleichheit im öffentlichen Bereich mit Multikulturalismus im privaten Bereich; (b) Chancengleichheit im öffentlichen Bereich mit Monokulturalismus im privaten Bereich; (c) Chancenungleichheit (zwischen ethnischen und rassischen Gruppierungen) im öffentlichen Bereich mit Multikulturalismus im privaten Bereich; (d) Chancenungleichheit (zwischen ethnischen und rassischen Gruppierungen) im öffentlichen Bereich mit Monokulturalismus im privaten Bereich.

16 Zu den verschiedenen Formen von Integration und Segregation in multikulturellen Gesellschaften vgl. Ulrich Bielefeld (Hg.): Das Eigene und das Fremde. Neuer Rassismus in der Alten Welt? (Hamburg 1991). 17 Häufig meinte man, daß Chancengleichheit die kulturelle Assimilation involviere. Dagegen wendet sich die von bestimmten rassischen und ethnischen Gruppierungen vertretene Ansicht, daß es ein grundlegendes Menschenrecht sei, in kultureller Hinsicht von der dominierenden gesellschaftlichen Gruppierung verschieden zu sein. Wie man allerdings weiß, kann diesem Begehren nach Sicherung eines Rechtsanspruchs auf kulturelle Verschiedenartigkeit leicht nachgegeben werden, ohne daß damit zugleich auch die Beseitigung der Ungleichheit von Lebenschancen gestattet würde. So gab es immer wieder - man denke nur an das ehemalige Südafrika - rassistische Gesetze und Verordnungen, welche die Anerkennung kultureller Differenzen nicht bloß konzedierten, sondern sogar verlangten. 18 Ich schließe mich im folgenden einer Typisierung des Multikulturalismus an, wie sie John Rex vorgeschlagen hat; vgl. John Rex: Race and Ethnicity (Milton Keynes 1986) 119-135.

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Von den beiden hier genannten Varianten des Monokulturalismus repräsentiert die erstgenannte (Typ b) das formale Ideal der französischen Minderheitenpolitik, während die zweitgenannte (Typ d) etwa für die USA, jedenfalls bis zu den Bürgerrechtsbewegungen der 60er Jahre, repräsentativ ist. Die zweitgenannte Form des Multikulturalismus (Typ c) wäre durch das Apartheid-System in Südafrika zu exemplifizieren, während die erstgenannte Variante des Multikulturalismus (Typ a) im allgemeinen als jenes Ideal angesehen wird, für welches viele Menschen heute votieren, wenn sie von einer „multikulturellen Gesellschaft" sprechen. Diese Klassifikation setzt voraus, daß die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Bereich klar ist und leicht getroffen werden kann. Ideengeschichtlich betrachtet sind Recht, Politik und Ökonomie seit dem 16. Jahrhundert - mit jeweils unterschiedlicher Priorität - zu den grundlegenden Angelpunkten der Öffentlichkeit geworden: Bodin, Pufendorf, Althaus und Grotius stehen dabei unter den klassischen Vertretern der Frühzeit für die Tradition, welche dem Recht eine ausgezeichnete Stellung einräumt; Machiavelli, Hobbes und Montesquieu für die Politik; Locke, Mandeville, Turgot und Smith für die Ökonomie. Was hier als Öffentlichkeit erscheint, sind diejenigen Institutionen und Ideen, denen die westlichen Gesellschaften schon für lange Zeit ihre überlegenen Chancen in der Welt verdanken. Diese soziologisch-deskriptive Bedeutung von Öffentlichkeit ist von der kritisch-normativen zu unterscheiden.19 Der kritisch-normative Begriff betrifft die Forderung nach öffentlichem Bekenntnis und Austausch der privaten Urteile und Meinungen, mit der soziologisch-deskriptiven Bedeutung des Begriffs verbindet sich hingegen die Vorstellung eines Mediums oder gewisser Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich individuelles und privat-kulturelles Leben überhaupt erst entfalten können. Dieser soziologisch-deskriptive Begriff von Öffentlichkeit bezeichnet das, was von allgemeinem Belang ist, was die gesamte Gesellschaft betreffen soll, während das kulturelle Leben der Privatheit und den subjektiven Entscheidungen zugerechnet wird: der Familie, der sozialen Bezugsgruppe sowie der Religion, worin sich jeweils moralische und ästhetische Wertorientierungen ausbilden. 20 Auf der Grundlage dieser Unterscheidung des Öffentlichen vom Privaten wurde in den modernen liberalen Demokratien, wie bereits erwähnt, mit Recht, Politik und Wirtschaft eine universalistische Perspektive verknüpft, mit den kulturellen Orientierungen, also den individuellen moralischen und ästhetischen Wertpräferenzordnungen, eine partikularistische. Aber dazu ist zweierlei zu bemerken: erstens läßt sich die klassifikatorisch durchführbare Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit (von Recht, Politik und Wirtschaft auf der einen, von Kultur im engeren Sinne auf der anderen Seite) nur unter bestimmten

19 Vgl. dazu Lucian Hölscher: Art. Öffentlichkeit, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6 (Basel, Stuttgart 1984) Sp. 1134-1140. 20 Es ist in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, wie Talcott Parsons (und andere) zu zeigen versuchen, daß auf einer abstrakteren Ebene alle Gesellschaften in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien spezielle Vorkehrungen zu treffen haben, um mit vier Funktionserfordernissen zu Rande zu kommen; Parsons bezeichnet sie als Zielverwirklichung, Anpassung, Integration und Latenz (oder Aufrechterhaltung von Handlungsmustern und Konfliktmanagement), denen die Institutionen der Politik, der Wirtschaft, des Rechts und der Kultur zugeordnet werden. (Vgl. dazu Talcott Parsons: The Social System (Glencoe 1951) und Marion J. Levy: The Structure of Society (Chicago 1952).

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historischen Bedingungen aufrechterhalten. Darüber hinaus verrät der hier vorausgesetzte Kulturbegriff eine gegenüber früheren Epochen markante Einschränkung des Bedeutungsumfanges. Diese Einschränkung läuft insbesondere auch bestimmten aktuelleren Tendenzen einer Publizierung des Privaten zuwider. So zeigt sich zunächst mit Bezug auf das Demarkationsproblem zweierlei: Nicht nur interveniert der Staat über die drei Grundinstitutionen des öffentlichen Lebens in den Privatbereich der Individuen und Gruppen hinein, sondern es nimmt auch umgekehrt - man denke an die verschiedenen Formen des „outing" in unseren Tagen - die Publizierung privater oder gruppenspezifischer Wertorientierungen und deren Implementierung in den öffentlichen Bereich an Gewicht und Umfang zu. In diesem Zusammenhang lassen sich beachtliche Konflikte zwischen ethnisch-kulturellen Minderheiten oder zwischen ihnen und den sogenannten Wirtsvölkern im Schulwesen, in der Sprachenpolitik sowie in der Religionspolitik konstatieren. Besonders deutlich wird die Verschiebung des Verhältnisses von Öffentlichem und Privatem 21 im Fall von Religionen, deren Anhänger sich nicht auf den außeröffentlichen Bereich in ihrem Handeln beschränken lassen wollen. Jüngere Formen des religiösen Fundamentalismus führen uns vor Augen, daß die Trennung der als Privatsache angesehenen Religion von Staat, Recht und Wirtschaft eine historisch kontingente Form der Ausdifferenzierung sozialer Teilsysteme darstellt. Gerade diese in Europa und den USA im Laufe von Jahrhunderten erfolgte Trennung der sozialen Sphären, die uns als Vorbedingung einer liberalen politischen Ordnung erscheint, wird von den integralistischen Religionsformen abgelehnt: Recht und Politik, mitunter auch die Art des Wirtschaftens, seien keinesfalls etwas, was sich als ein „Äußerliches" dem Zugriff der - fälschlich bloß auf das „Innerliche" beschränkten - Religion entziehen dürfe. Multikulturelle Gesellschaften stehen heute - ähnlich wie der frühe Historismus - unter dem Druck, zwischen den Ansprüchen ethnisch-kultureller Autarkie und interkultureller Verständigung eine Balance herzustellen. Dies ist auch die Meinung von Charles Taylor, wenn er findet, daß es so etwas geben müsse wie die Realisierung einer mittleren Ebene zwischen dem homogenisierenden Verlangen nach Assimilierung auf der einen, und der Selbsteinmauerung der Anwälte ethnozentrischer Standards auf der anderen Seite.22 An dieser Stelle läßt sich eine durch die zeitgenössische Multikulturalismus-Diskussion

21 Auch der Feminismus sowie die in der jüngeren Zeit politisch wirksam gewordenen kulturpolitischen Bestrebungen von vormals in den Untergrund gedrängten Bewegungen männlicher und weiblicher Homosexueller haben die Trennlinien zwischen „öffentlich" und „privat" porös zu machen versucht. Man muß derartige Aufweichungen von Bereichsgrenzen nicht in jedem Falle moralisch mißbilligen, sie zeigen aber an, daß zwischen der Begriffsanalyse und der Analyse konkreter historischer Wirkungsbedingungen ein großer Unterschied besteht. Jedenfalls werden sich privatkulturelle Tendenzen auf Dauer wohl auch in Zukunft nicht auf den ihnen zugedachten, eingeengten Wirkungsbereich beschränken lassen. Daher empfiehlt es sich auch, von „Kultur" nicht nur im Sinne der privaten Lebensund Denkformen zu sprechen. Was eine Kultur i.w.S. von einer anderen unterscheidet, sind nämlich nicht nur die Privatmoralen und Privatästhetiken der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen, sondern insbesondere eine spezifische Wertehierarchie jener Elemente von Öffentlichkeit, die sich auch in anderen Kulturen finden: des Rechts, der Politik und der Wirtschaft. 22 Vgl. Charles Taylor: Multiculturalism and „The Politics of Recognition" (Princeton, N.J. 1992) 72.

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revitalisierte Historismus-Debatte über die Beziehung zwischen dem Allgemeinen und den geschichtlich bedingten Besonderheiten mit einem Thema der jüngeren praktischen Philosophie verknüpfen: dem Problem des Kommunitarismus.

4. Kommunitarismus und Liberalismus Zur Kritik am Universalismus der individuellen Nutzenmaximierung Die seit Anfang der 80er Jahre in den USA stattfindende Erörterung der Beziehung von Gemeinschaft und Gesellschaft, von Gemeinschaftszielen und kommunitären Lebensformen ist nicht dadurch zu erledigen, daß man sie nur als Ausdruck einer neuen Sozialromantik, eines provinziellen Gruppismus oder gar Tribalismus interpretiert.23 Mit derartigen Vorwürfen ignoriert man im allgemeinen die Tatsache, daß die Idee des Gemeinwohls, welche bei einer Reihe von Vertretern des Kommunitarismus im Mittelpunkt der Betrachtungen steht und die ja keineswegs nur mit der „volonté générale" Rousseaus vorstellungsmäßig zu verknüpfen ist, gerade aus der Auseinandersetzung mit Gruppenegoismen und mit der durch bestimmte soziale Interessen bewirkten Segmentierung der Gesamtgesellschaft entstanden ist. Die Wurzeln der kommunitaristischen Orientierung sind vielfältiger Natur, wobei das Schwinden von Gemeinschaftsorientierungen und über die unmittelbaren Gruppeninteressen hinausgehenden sozialen Bindungen vor allem mit der wachsenden horizontalen Mobilität, mit Segmentierungstendenzen in multikulturellen Gesellschaften sowie mit der funktionalen Ausdifferenzierung sozialer Teilsysteme und deren zunehmender Desintegration in Zusammenhang steht. Viele der damit verbundenen Fragen stellten sich bereits in der Soziologie des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts: für Ferdinand Tönnies in seinem für die Folgezeit richtungweisenden Buch Gemeinschaft und Gesellschaft aus dem Jahre 1887 und in der darin enthaltenen Analyse von „Wesenswille" und „Kürwille"; für Emile Dürkheim in seiner Analyse von „mechanischer" und „organischer Solidarität"; für Georg Simmel in seiner Analyse der zunehmenden sozialen Differenzierung von Rollen, je nach Zugehörigkeit zu den „sozialen Kreisen"; für Max Weber in seiner Analyse von „wertrationalen" und „zweckrationalen" Handlungsformen und der durch sie charakterisierbaren sozialen Ordnungen. Über die „formale Soziologie" oder „Beziehungssoziologie" in Deutschland sowie die US-amerikanische Stadtsoziologie von Robert E. Park wurden diese Fragestellungen sowohl im Bereich der soziologischen Theorie als auch der empirischen Sozialforschung weiterer Bearbeitung zugeführt, und es war im besonderen Talcott Parsons, der mit seinen „pattern variables" die seit Tönnies wirkungsvollste Idealtypisierung von „Gemeinschaft" und „Gesellschaft" vorgenommen hat.24 Die sogenannte „LiberalismusKommunitarismus-Debatte" in der politischen Philosophie hat zwar auch ihre soziologischen Zubringer - man denke etwa an Amitai Etzioni oder Robert N. Bellah - , dreht sich jedoch

23 So deutet beispielsweise Judith N. Shklar den Kommunitarismus als eine Art von theoretischer Rechtfertigung für eine bestimmte Form von ethnischem und religiösem Protektionismus. (Vgl. Judith N. Shklar: Über Ungerechtigkeit. Erkundungen zu einem moralischen Gefühl [aus d. Amerik.] (Berlin 1992) 76.). 24 Vgl. Talcott Parsons: The Social System (Glencoe 1951)58-112.

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primär um die Frage, ob für die Rechtfertigung der politischen Ordnung demokratischer Gesellschaften rational konstruierten und universalistischen Prinzipien der Gerechtigkeit oder aber kulturell tradierten Vorstellungen des ethisch Guten der Vorrang zukomme. Dabei stehen John Rawls und Ronald Dworkin als Vertreter der durch Freiheit und Gleichheit konstituierten Gerechtigkeitsidee einer Gruppe von Autoren gegenüber, welche auf die Grenzen der liberalen Vorstellung von Gerechtigkeit hinweisen: Michael J. Sandel, Alasdair Maclntyre, Michael Walzer und Charles Taylor.25 Den realgeschichtlichen Hintergrund der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte bilden die westlichen demokratischen Gesellschaften, die immer weniger ihr Versprechen einlösen können, Gleichheit und Freiheit aller Bürger in der für diese maßgeblichen Bedeutung einlösen zu können. Was dabei für lange Zeit Garantie der Freiheit war, hat ab einem bestimmten Entwicklungsniveau dazu geführt, deren Realisierung unmöglich zu machen: die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilsysteme. So war es zunächst die maßgebliche Leistung freier Gesellschaften, freiheitlicher Politik und liberal-demokratischer Verfassungsordnungen, daß sie - obschon selbst Produkt einschlägiger Trennungen - eine eigendynamische Bewegung der Ablösung von vormals kongruenten sozialen Sphären vorgenommen haben: die Religion wurde vom Staat, die Politik von der Religion, die Freiheit der Wissenschaft von der Religion (später auch von Staat und Wirtschaft), die Wirtschaft von der Moral, das Recht von der Politik, das Private vom Öffentlichen abgelöst. Jede dieser neuen Trennlinien definierte aber auch eine spezifische Freiheit: die Freiheit der Religion gegenüber dem Staat, die Autonomie der Politik gegenüber der Religion, die Freiheit der Wissenschaft von der Religion (später auch von Staat und Wirtschaft) usw. Diese von Michael Walzer so bezeichnete „Kunst der Trennung" 26 ist als eine politische Tugend freier Gesellschaften angesehen worden. Als Folge der Unterscheidung der verschiedenen „Sphären" der Macht, des Geldes, der Werte, der Religion, der Öffentlichkeit und der Privatheit werden nun die zunächst zueinander relativ autonomen Wertbereiche zu fortschreitend isolierten gesellschaftlichen „Subsystemen". Interpretiert man den Liberalismus auf diese Art, so wird er auch zum Faktor jenes Prozesses, der makrosoziologisch gerne als „funktionale Differenzierung" der modernen Gesellschaft beschrieben wird. Dieser Prozeß schließt allerdings erfahrungsgemäß nicht aus, daß es auch zu Atavismen kommt, also zu Prozessen der Entdifferenzierung, zu Versuchen, die Eigendynamik der sozialen Subsysteme rückgängig zu machen. Man kann hier an die politischen Totalitarismen unseres Jahrhunderts denken mit ihren geradezu klassischen Formen der Aufhebung der Gewaltenteilung, aber

25 In den letzten Jahren ist die Literatur zu dieser Debatte im allgemeinen, zum Kommunitarismus im besonderen auch im Deutschen rasch gewachsen. Hier sei nur auf einige Veröffentlichungen hingewiesen, die den Diskussionsstand sehr gut wiedergeben: Shlomo Avineri/Avner De-Shalit (Hg.): Communitarianism and Individualism (Oxford 1992); Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften (Frankfurt/M., New York 1993); Christel Zahlmann (Hg.): Kommunitarismus in der Diskussion. Eine streitbare Einführung (Berlin 1994); Bert van den Brink: Gerechtigkeit und Solidarität. Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte in der politischen Philosophie. Transit. Europäische Revue, Heft 5 (Winter 1992/93) 51-72. 26 Michael Walzer: Liberalism and the Art of Separation. Political Theory 12 (1984); dt. Übersetzung in: ders.: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie (Berlin 1992) 38-63.

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auch an verschiedene Varianten des religiösen Fundamentalismus, der sich etwa gegen eine Trennung von Religion und Recht gleichermaßen verwahrt wie gegen die Trennung von Religion und Kunst oder von Religion und Wissenschaft. Einige Kritiker des Kommunitarismus meinen feststellen zu können, daß dieser selbst eine Prämie auf atavistische Rückfälle aussetzt, indem er eine neue Art der Reintegration von herausdifferenzierten Subsystemen oder von in letzter Hinsicht atomistisch isolierten Gesellschaftsmitgliedern besorgen möchte. Die ablehnende Haltung der Kommunitarier, ihre Auszeichnung der Tradition gegenüber den transhistorisch verstandenen Geltungsansprüchen eines ethischen Universalismus belege dies eindringlich. Was ist in dieser Hinsicht die Auffassung der Vertreter des Kommunitarismus? Zweifellos erscheint ihnen die Eigendynamik der progressiven Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme bis zum sozialen Atomismus als ein nicht unproblematischer Prozeß. Der ethische Universalismus ist ihnen das geistige Produkt dieses sozialen Differenzierungsprozesses, wobei die Atomisierung und die Reduktion des „öffentlichen" Menschen („homo publicus") auf sein bloßes vernunftbegabtes Menschsein den Übergang zum ethischen Universalismus ermöglicht habe. Das Ausufern der Vernunft zur allein entscheidenden Anlage des Menschen habe dabei den Abbau aller substantiellen Bindungen an soziale Institutionen, auch jener an die Nation, bereits vorausgesetzt. Die innere Zusammengehörigkeit von sozialer Atomisierung und Universalismus zähle zur grundlegenden Signatur unserer Gegenwart. Nach Ansicht der Kommunitarier stellt sich in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem, Universellem und Partikularem unter ethischen Vorzeichen heute aufs neue. Und dies insofern, als ein Konzept von Gemeinwohl entwickelt werden müsse, welches nicht einfach in der Aggregierung von Individualnutzen besteht. Der radikale Subjektivismus, der die Menschen dazu veranlaßt, sich auszuleben und ihre Freiheit bis zum äußersten zu genießen, ist eine sowohl die anarchistische Linke wie die Anarchisten des radikalen Laissez faire übergreifende Mentalität. Das Sozialwesen schrumpft in beiden Fällen auf die materiellen Aspekte - bei aller Verschiedenartigkeit der Erwartungen und Ansprüche im einzelnen; alles andere ist gewissermaßen Individualwesen. Für alles Werthafte, das über den Begriffen wie Arbeitsgesellschaft oder Versichertengemeinschaft hinausliegt, ist im Sozialwesen kein Platz mehr. Und was Tradition oder Sinnorientierung ist, konstituiere sich bestenfalls in den privatkulturellen Entwürfen der einzelnen. Wie das Gemeinwohl oder die öffentliche Wohlfahrt („public benefit") eine Resultante individueller Nutzenmaximierung sei, so sei die Kultur einer Gemeinschaft der Aggregierungseffekt privater Werthaltungen. Dementsprechend beschränkt sich Politik darauf, dem einzelnen Wähler und allen möglichen Interessengruppen zu hofieren und sie zu bedienen; ansonsten scheint sie der Maxime zu folgen, daß jede Rede vom Gemeinwohl letztlich nur betrügerisch oder ideologischer Schwindel sei. Im Unterschied dazu sprechen Vertreter des Kommunitarismus umstandslos von allerlei Unmodischem: vom Erfordernis einer „politics of the common good", also einer Politik des Gemeinwohls (Michael J. Sandel); 27 vom „Patriotismus" als einer den ganzen Menschen

27 Michael J. Sandel: The Political Theory of the Procedural Republic. Revue de Métaphysique et de Morale 9 3 ( 1 9 8 8 ) 57-68.

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ergreifenden Empfindung, mit welcher konkrete Pflichten verknüpft sind, die jeder einzelne auch unter Opfern zu erfüllen bereit sein müsse (Alasdair Maclntyre, Charles Taylor); 28 von einer Zurückweisung universeller gesellschaftlicher Gerechtigkeitsideale und der Besinnung auf die relative Autonomie der „Sphären der Gerechtigkeit", wobei Gerechtigkeit jeweils nach bereichsspezifischen Kriterien konzipiert und organisiert werden sollte und nicht nach externen Kriterien aus anderen Sphären des sozialen Handelns (Michael Walzer).29 Der größte Fehler der politischen Philosophen der Moderne ist nach Walzer ihre Eindimensionalität, welche darin bestehe, daß sie auf die Frage danach, was der geeignete Ort für das gute Leben sei, bloß eine einzige Antwort zu geben bereit sind: Rousseau sehe ihn in der politischen Gemeinschaft, Marx in der kooperativen Ökonomie, die liberalen Ökonomen im Markt und die Nationalisten in der kulturell definierten Nation. So wichtig diese vier Vorstellungen vom guten Leben dadurch seien, daß sie wichtige Aspekte unserer Existenz zum Ausdruck bringen, so seien sie als eindimensionale Verabsolutierungen - zum Beispiel als Kommunismus oder Faschismus - gegen den Menschen gerichtete Bestrebungen gewesen. Eine sorgfältige Rekonstruktion der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte könnte wahrscheinlich zeigen, daß die strikte Entgegensetzung der Begriffe der Gerechtigkeit und des Guten, zu der sowohl Liberale als auch Kommunitaristen vor allem in der frühen Phase der Diskussion tendierten, nicht aufrechtzuerhalten ist. Gleiches gilt für den latent diese Diskussion bestimmenden Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft, dem sich Charles Taylor - offenbar aus dieser Überzeugung heraus - zugewandt hat. Unsere Gesellschaft, so könnte man seine Überlegungen zusammenfassen, ist insofern unsere Gemeinschaft, als sie unsere unhintergehbare soziale Umwelt darstellt. Deren Charakter muß uns wichtig sein, weil er dafür bestimmend ist, inwiefern wir überhaupt frei sein können. Folglich sei Partizipation an lokalen Gemeinschaften auch als Partizipation an der Gesellschaft zu verstehen, und aus diesem Verständnis heraus hätten wir zu handeln. Erst dadurch könne demokratische Politik sein, was sie zu sein vorgibt, nämlich eine Regierung durch das Volk, im Interesse eines jeden Bürgers. 30 Aber was besagt dies alles für den Zusammenhang der leitenden Thematik? Welche Beziehung besteht eigentlich zwischen dem Historismus und dem Kommunitarismus? Die Ausgangssituation und die grundlegende Fragestellung des Kommunitarismus ähneln den Erörterungen in der Frühzeit des historistischen Denkens. Damals ging es um die Allgemeinheit naturrechtlicher Vorstellungen einerseits, um das individuelle Verhalten andererseits, und beides sollte in den Völkerschaften oder Nationen seinen Ausdruck finden. Völker und Nationen seien aber weder auf die abstrakten Ordnungen des Naturrechts, noch auf die

28 Vgl. Alasdair Maclntyre: Ist Patriotismus eine Tilgend? In: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus (Anm. 25) 84-102. Maclntyres Patriot stirbt notfalls sogar für seine Heimat, und er hat Gründe dafür; der „Verfassungspatriot" im Sinne von Habermas ist überhaupt nicht darauf programmiert, notfalls sterben zu müssen - und wenn er schon genötigt ist, mißlich zu leben, dann tut er es offenbar für die deutsche Verfassung. 29 Vgl. Michael Walzer: Spheres of Justice. A Defense of Pluralism and Equality (Oxford 1983). Deutsche Übersetzung: Sphären der Gerechtigkeit (Frankfurt/M., New York 1992). 30 Vgl. Charles Taylor: Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus. In: Axel Honneth (Hg.): Kommunitarismus (Anm. 25) 103-130, v. a. 125-128.

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Gesetzmäßigkeiten des Individualverhaltens zurückführbar. Wir kennen einschlägige Erörterungen im Schrifttum von Herder, dessen kosmopolitische Orientierung ihn nicht daran hinderte, die relative Autonomie der Völkerschaften zu betonen. Aber schon früher formulierte Montesquieu seine Auffassungen über die Regelmäßigkeiten der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt. Wie im menschlichen Körper außer dem allgemeinen Umlauf des Blutes auch jedes Organ seine besondere Art der Zirkulation habe, so schaffe auch jede Provinz ihre besonderen Gesetze gemäß den Bedingungen des Bodens, der klimatischen Lage sowie der sozialen, ökonomischen und kulturellen Beziehungen, indem sie allgemeinen Gesetzen gehorche. So seien, wie er in seinem Hauptwerk L'Esprit des lois aus dem Jahre 1748 ausführt, die Gesetze jedes Volkes spezielle Anwendungsfälle der allgemeinen Vernunftgesetze. Da aber die Existenzbedingungen und Charaktere der Völker verschieden seien, resultiere daraus auch die Verschiedenartigkeit der Rechtsordnungen und Regierungsformen. Was Montesquieu „vertu" nannte, der Patriotismus, ruht auf einem Verständnis der politischen Institutionen als des gemeinsamen Bollwerks der Bürgerwürde. Er ist ein Impuls, der nicht einfach der zeitgenössischen Klassifikation „egoistisch-altruistisch" zuzuordnen ist, sondern er transzendiert den Egoismus in dem Sinne, daß die Menschen das gemeinsame Gute, die allgemeine Freiheit verfolgen. Gerade an derartige Ideen knüpft der moderne Kommunitarismus an. 31 Wie die frühen Historisten durch das Verständnis provoziert wurden, welches Hobbes, Locke und Bentham von den politischen Gesellschaften hatten, so die Kommunitarier der Gegenwart durch die liberale Staats- und Gerechtigkeitstheorie von Rawls, Dworkin und anderen, die den „common sense" der Sozialmoral des 20. Jahrhunderts darin erblicken, durch gemeinsames Handeln Vorteile zu erlangen, die man sich individuell nicht zu sichern vermag. Die Handlungstheorie des alten und neuen Utilitarismus ist kollektiv, doch der Sinn des durch sie erklärten Handelns bleibt ein individueller. Nach der kommunitaristischen Auffassung ist das Gemeinwohl grundlegender als die mentalen Haltungen, die der Nutzenaggregierung zugrundeliegen. Die, so meint Taylor, die eine Gesellschaft nur aufgrund des Reichtums und der Sicherheit unterstützen, die sie gewährt, seien bloß Schönwetterfreunde, die einen fallenlassen werden, wenn man sie wirklich brauche. 32 In diesem Sinne betonen Vertreter des Kommunitarismus in ihren Analysen multikultureller Gesellschaften vor allem das Erfordernis, kulturelle Orientierungen nicht allein als eine Sache des Privatismus und der individuellen Beliebigkeit anzusehen. 33 Jene nämlich, die es vorziehen, ihre besondere ethnisch-kulturelle Orientierung beizubehalten, sollen dies unter der Voraussetzung tun können, daß dies mit den gleichen Freiheiten der anderen verträglich bleibt. Welche Art von Staat jene Sozialunion letztlich sein wird, die eine große und

31 Vgl. in diesem Zusammenhang die Bemerkungen über einen Locke und einen Montesquieu-Strang im politischen Denken der Neuzeit bei Charles Taylor: Der Begriff der .bürgerlichen Gesellschaft' im politischen Denken des Westens. In: Micha Brumlik/Hauke Brunkhorst (Hg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit (Frankfurt/M. 1993) 117-148, hier v. a. 129-143. 32 Vgl. Charles Taylor: Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus (Anm. 30) 122. 33 Vgl. v. a. Charles Taylor: Multiculturalism and „The Politics of Recognition" (Anm. 22).

Historismus - Multikulturalismus - Kommunitarismus

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widersprüchliche Vielfalt von sozialen und ethnischen Verbänden in sich aufnimmt, ohne durch diese paralysiert zu werden, aber auch ohne diese repressiv zu absorbieren, ist gleichwohl ein offenes Problem. Der Historismus des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts hat mit dem Vergleich von Kulturen begonnen und gegen die Universalisierung des Prinzips der individuellen Nutzenmaximierung sowie gegen den damit verknüpften sozialen Atomismus Stellung bezogen. Wenn der Schein nicht trügt, sind die Kommunitarier des ausgehenden 20. Jahrhunderts aufgrund ähnlich gearteter Voraussetzungen und mit einer ähnlichen Motivation am Werk.

VOLKER STEENBLOCK

Die Legitimität des Historismus

Wenn wir in die Klassenzimmer und Seminarräume der Schulen, Hochschulen und Volkshochschulen, auf die Vielfalt der Museen, die Auslagen der Buchhandlungen und Büchereien und auf die Präsenz historischer Stoffe in den Medien blicken, stellen wir unzweifelhaft fest, wie die Geschichte die Menschen fasziniert. Über die schiere Lust an der Fülle ihrer Reichtümer hinaus ist die Dimension des Historischen offensichtlich für unsere Selbstvergewisserung und Orientierung (und damit auch für unsere Zukunft) unerläßlich. Im Zuge der Entwicklung von der Geschichtstheologie zur Geschichtsphilosophie1 und darüber hinaus hat es ganz unterschiedliche Modi gegeben, in denen diese Funktionen und Leistungen des Historischen formuliert worden sind. Als heute theoretisch angemessene und am Ende des 20. Jahrhunderts mehr denn je aktuelle Form des Geschichtsdenkens erscheint der Historismus, ein „grundlegendes, ein konstitutives Phänomen der Moderne, vergleichbar der Aufklärung, der Revolution [ . . . ]". 2 Der Herausbildungsprozeß dieses Historismus ist vor allem seit dem 19. Jahrhundert schwierig gewesen und hat dem ganzen Projekt den Ruf eingebracht, ein Krisenphänomen bzw. relativistischer Ausdruck einer verwerflichen Normschwäche zu sein. Blicken wir freilich auf die mitgenannten Parallelphänomene der Moderne, so ist keine der hier genannten Errungenschaften ohne ihre sprichwörtliche .Dialektik' zu haben. Die vorliegende Skizze möchte darum für den Historismus als theoretischen Hintergrund historischer Identitätsbildung und als adäquate Form plädieren, in der die Faszination an, die Aufklärung durch und die Orientierung in der Geschichte heute ihren Ausdruck finden können. Hierzu soll der Begriff zunächst in das Feld heute diskutierter Schlüsselbegriffe wie ,Geschichtsbewußtsein' und ,Geschichtskultur' eingebracht werden (1). Zweitens erfolgt ein kurzer Blick auf die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der theoretischen (vor allem rationalitätstheoretischen) Historismus-Diskussion (2). In Auseinandersetzung hiermit wird sodann das Konzept einer .Transformation' des Historismus vorgestellt, das es ermöglichen soll, Historismus als .historische Aufklärung' zu ver-

1 Vgl. Emil Angehrn: Geschichtsphilosophie (Stuttgart u. a. 1991). 2 Otto Gerhard Oexle: .Historismus'. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs. In: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (1986) 119-155, 119.

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stehen; hierzu erfolgt ein Ausblick, wie das, was geschichtliche Orientierung im Zeichen des Historismus bedeuten kann, unter dem Begriff .historische Bildung' zu konkretisieren wäre (3).

1. Historismus als legitime Faszination der Geschichte: Geschichtsbewußtsein, Geschichtskultur und historische Identitätsbildung Mit Geschichten versichern sich Einzelne, Gruppen und Institutionen ihrer Identität. Daß Geschichte auch eine ,Reise ins Andere' darstellen kann, ist dagegen kein Widerspruch. Die legitime Faszination an den Bildungen der menschlich-geschichtlichen Welt ist konstitutiver Bestandteil der historischen Identitätsbildung. Dies scheint mir (ohne damit jeden detailfixierten Exzeß rechtfertigen zu wollen) die Kritik im allgemeinen verkannt zu haben, die seit Nietzsche eine bloß ,antiqarische' Geschichte kritisiert und diese dann mit dem Schimpfwort .Historismus' belegt. Wie die historische Vergegenwärtigung aussieht, ist selbst wiederum historischen Bedingungen unterworfen, und darum schreibt jede Generation ihre Geschichte neu, die niemals .Abbildung' von Vergangenheit ist, sondern stets ein gegenwärtiger Konstruktionsprozeß, so wie jeder von uns für sich die Erinnerung an negative Widerfahrnisse oder glückliche Erfahrungen organisiert. .Geschichtsbewußtsein' 3 als Modus menschlicher Identitätsbildung und allgemeiner „historisch-politische(r) Bildung" 4 ist, wie unter anderen die Geschichtsdidaktiker feststellen, Voraussetzung individuellen sinnvollen Handelns und verantwortlicher gesellschaftlicher Praxis. Natürlich gibt es nicht .das Geschichtsbewußtsein', sondern verschiedene Menschen prägen ihre Identität in historischen Zusammenhängen ganz unterschiedlich, auch unterschiedlich explizit und .gebildet', aus. Öffnet dabei Geschichte als gegenwärtige Selbstverständigungsleistung ideologischer Inanspruchnahme durchaus zunächst Tor und Tür, können wir es gleichwohl nicht den vielfältigen, z.B. nationalen, Mythen überlassen, welche kollektiven Geschichtsvorstellungen wir haben wollen (vor allem nicht solchen, die die verbrecherische Diktatur als .Betriebsunfall' oder Krieg und

3 Vgl. E. Angehrn: Geschichte und Identität (Berlin 1985); Karl Ernst Jeismann: Geschichtsbewußtsein. In: Hans Süssmuth (Hg.): Geschichtsdidaktische Positionen (Paderborn 1980) 179ff; ders.: Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart. In: Erich Kosthorst (Hg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik Forschung - Theorie (Göttingen 1977) 9ff; Bodo von Borries, Hans-Jürgen Pendel, Jörn Rüsen: Geschichtsbewußtsein empirisch (Pfaffenweiler 1991); vgl. ferner zur neueren Theorie des Geschichtsbewußtseins unter Stichworten wie (nicht mehr verpönt, aber gleichwohl nicht unproblematisch:) ,Emotionalität', .Imagination' u.a.: Volkhard Knigge: .Triviales' Geschichtsbewußtsein und verstehender Geschichtsunterricht (Pfaffenweiler 1988); Uwe Uffelmann: Identitätsbildung und Geschichtsbewußtsein nach der Vereinigung Deutschlands (Weinheim 1993); Bernd Mütter, Uwe Uffelmann (Hg.): Emotion und historisches Lernen (Frankfurt/M. 1992); K. E. Jeismann: Emotionen und historisches Lernen. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994) 165-176; Rolf Schörken: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik (Paderborn u.a. 1994). - Für Hinweise danke ich Dr. Alfons Kenkmann vom Institut für Didaktik der Geschichte an der Univ. Münster. 4 Klaus Bergmann u.a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik Bd. 1 (Düsseldorf 1979, 31985) 171; vgl. auch 46ff.

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Holocaust als defensive Reaktion einer verschreckten Nation auf .asiatische' Taten anderer oder gar auf angebliche Kriegserklärungen deuten wollen). D i e historische Mythenbildung bringt die vielfältigen Debatten u m Subjektivität und Objektivität des Geschichtsbewußtseins und in der Geschichtswissenschaft 5 hervor, w e l c h letztere sich u m methodische Kontrolle und Überprüfbarkeit zu bemühen hat und dies als Wissenschaft auch tut. D e n n o c h entkommt auch sie nicht, w i e selbst noch die Naturwissenschaften nicht, den Bedingungen der historischen Gewordenheit und Überholbarkeit allen menschlichen Tuns. Jede Generation bewertet die Quellen neu und schreibt damit in gewisser Weise auch die Geschichte wieder um; ferner wandert das Interesse, geleitet von den Fragen und Problemen der Gegenwart, in neue Gebiete. Konnte i m letzten Jahrhundert z. B. eine Zeitlang Heinrich von Treitschkes auf die politische und Staatengeschichte ausgerichtete Deutsche

Geschichte

im Neunzehnten

Jahrhundert

als

avancierter Stand bildungsbürgerlicher Selbstvergewisserung i m neuen deutschen Nationalstaat gelten, 6 emanzipierte sich in unserem Jahrhundert seit d e m Ende der fünfziger Jahre in der deutschen Historikerzunft die ganz anders geartetete .Sozial- und Wirtschaftsgeschichte', die sich über weite Strecken als Überwindung des reaktionären und national-konservativen, den Bereich des Sozialen ignorierenden und einer veralteten ,Ideenlehre'

anhängenden

5 Vgl. für ein signifikantes Beispiel des Streites um Geschichtsbilder: Wolfgang Jacobmeyer (Hg.): Die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen in der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland (Braunschweig 1979). - Vor allem ist hier aber natürlich der weit über die Fachwelt hinaus bekannt gewordene, durch den FAZ-Artikel Ernst Noltes vom 6. Juni 1986 ausgelöste und u. a. durch die Kritik hieran von Jürgen Habermas weitergetriebene .Historikerstreit' zu erwähnen. Vgl. die Zusammenfassung in: Historikerstreit. Die Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung (München 1987). Der Streit hat eine Vielzahl weiterer Stellungnahmen und Veröffentlichungen nach sich gezogen, z. B. Hans-Ulrich Wehler: Entsorgung der deutschen Vergangenheit? (München 1988). Vgl. schließlich generell für die wissenschaftstheoretische Problemstellung der Geschichtswissenschaft: Reinhart Koselleck u. a. (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (München 1977). 6 Heinrich v. Treitschke: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 5 Bde. (Leipzig 1879-1894). - Die heute führenden großen Gesamtdarstellungen sind wohl die von Thomas Nipperdey und HansUlrich Wehler. Vgl. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat (München 1983 u. ö.); ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist (München 3 1992); ders.: Deutsche Geschichte 1866-1918. Zweiter Band: Machtstaat vor der Demokratie (München 2 1993); vgl. ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays (München 2 1986). Dagegen mit deutlich anderer Akzentuierung: H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 1: 1700-1815. Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära (München 2 1989); Band 2: 1815-1845/49. Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution" (München 2 1989); Band 3: 1849-1914. Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges (München 1995). - Auch Wehler ist einer der engagierten Historiker, auf dessen Palette, wie festgestellt worden ist, die differenzierenden Töne nicht eben dominieren, aber mit gänzlich anderem Vorzeichen als einst bei Treitschke. Wehler schließt sich dem Theorem vom über hundertjährigen, fatalen deutschen grundlegende politisch-gesellschaftliche Modernisierungen auslassenden .Sonderweg' an, der die Katastrophen der deutschen Geschichte hervorgebracht habe. Als Folge daraus speist das leidenschaftliche Plädoyer für die politische, ökonomische und militärische Westintegration Deutschlands seine Stellungnahmen, die auch nach der Wiedervereinigung diese grundlegende bundesrepublikanische Option in der Nachkriegsordnung gegen eine neue Priorität der Nation und womöglich eine neue selbständige Politik auf den Spuren Bismarcks zwischen West und Ost verteidigen.

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geschichtswissenschaftlichen .Historismus' zugunsten einer soziologisch, wirtschaftswissenschaftlich und psychologisch aufgerüsteten Analyse sozioökonomischer Strukturen von langer Dauer verstand.7 Nicht unverwandt diesen strukturgeschichtlichen Bemühungen ist zunächst die französische ,neue Geschichtswissenschaft' der Schule der Annales,9, die sodann aber die Alltagsgeschichte und .histoire des mentalités' so sehr zu ihrem Metier gemacht hat,9 daß eine neue deutsche Überblicksdarstellung zur Mentalitätsgeschichte zunächst einmal deren eigenständige Möglichkeiten in Deutschland auszuloten sich genötigt sieht.10 Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis des erwähnten Bandes zeigt die nun interessierenden Untersuchungsfelder: Individuum/Familie/Gesellschaft, Sexualität/Liebe, Körper und Seele,

7 Vgl. H.-U. Wehler: Geschichte und Soziologie (Köln 1972); ders.: Geschichte und Psychoanalyse (Köln 1971); ders.: Geschichte und Ökonomie (Köln 1973); ders.: Modernisierungstheorie und Geschichte (Göttingen 1975); ders.: Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung (Göttingen 1980); ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Einleitung zu Bd. 1 (München 1987); schließlich: Aus der Geschichte lernen? (München 1988). 8 Vgl. Fernand Braudels (1902-1985) Darstellung der Geschichte eines geographischen und kulturellen Lebensraums: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. (frz. 1949 u. ö.), dt. 3 Bde. (Frankfurt/M. 1990); vgl. dazu Heinrich Lutz: Braudels ,La Méditerranée'. Zur Problematik eines Modellanspruchs. In: R. Koselleck (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung (München 1982) 320-352. Vgl. ferner Pierre Chaunu, Georges Duby, Jacques Le Goff, Michelle Perrot: Leben mit der Geschichte. Vier Selbstbeschreibungen (Frankfurt/M. 1989); Peter Burke: Offene Geschichte. Die Schule der .Annales' (Berlin 1991); Lutz Raphael: Die Erben von Bloch und Febvre. , Annales '-Geschichtsschreibung und .nouvelle histoire' in Frankreich 1945-1980 (Stuttgart 1994). 9 Vgl. Jacques Le Goff, Roger Chartier, Jacques Revel (Hg.): Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft (frz. 1978) dt. (Frankfurt/M. 1990). 10 Peter Dinzelbacher (Hg.): Europäische Mentalitätsgeschichte (Stuttgart 1993) XV. Vgl. ferner Philippe Aries, George Duby (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, 5 Bde, dt. (Frankfurt/M. 1990ff); Ursula Becher: Geschichte des modernen Lebensstils. Essen, Wohnen, Freizeit, Reisen (München 1991); HansPeter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (Frankfurt/M. 1988ff) im Widerstreit zu Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde. (Frankfurt/M. 71980); Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, 3 Bde. (München 1990-1994). - Weitere Beispiele: Jean-Marie Andre: Griechische Feste, Römische Spiele. Die Freizeitkultur der Antike (Stuttgart 1994); George Duby, Michelle Perrot: Geschichte der Frauen, 5 Bde. (Frankfurt/M. 1993-1995); Edith Ennen: Frauen im Mittelalter (München 5 1994); Hans-Werner Goetz: Leben im Mittelalter (München 5 1994). - Viele andere Titel zu den im weiteren genannten Sparten, also zur Frauengeschichte, zur Umwelt- und Medizingeschichte, zur Kulturgeschichte der Sinne und Gefühle, der Gerüchte, Stimmungen und öffentlichen Einstellungen, der Werbung, des Hausbaus und des Wohnens, von Luxus und Armut, des Reisens und des Verkehrs, der Kindheit und des Alters, von Spiel und Sport, der Kleidung und Mode, der Hygiene, der Eß- und Trinkkultur usw. könnten genannt werden. Natürlich ist all das nicht in Frankreich erfunden worden, und neben neuen Thematiken könnte in vielen Teilbereichen sicherlich auch auf alte Standarddarstellungen aus den Bereichen der Kultur- und Sittengeschichte verwiesen werden. Insgesamt erweisen sich die Mentalitäts- und Alltagsgeschichte als paradigmatische Innovationen, was sich auch an der partiell recht säuerlichen Reaktion der bis dato avantgardistischen Sozialgeschichte auf deren .neohistoristische', politisch-normativ im gewünschten Sinne unterbelichtete Detailtrunkenheit zeigt. Dabei stellte die Sozialgeschichte eine zu ihrer Zeit längst fällige Korrektur an einem zu engen Geschichtsbegriff dar und ist im Bewußtsein vieler, die am historischen Diskurs teilnehmen, längst fest verankert. - Zum Stand der Debatte: „menschenleere" Sozialgeschichte versus „luftigen Kulturalismus" vgl. auch Winfried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie (Göttingen 1994).

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Krankheit, Lebensalter, Sterben/Tod, Ängste und Hoffnungen, Freude, Leid und Glück, Arbeit und Fest, R a u m und Zeit. D i e Felder der Jedermanns-Geschichte' reichen v o m , S m o g über Attika' über .Tankstellen - D i e Benzingeschichte', ,Omnibus - Haltestellen für alle' bis zur (beim nordrhein-westfälischen Westdeutschen Rundfunk) bereits schulfunkreifen Feststellung: ,Nur i m Paradies war A d a m nackt und Eva ohne D e s s o u s ' und d e m B u c h für Fans: , H S V - Hundert Jahre deutscher Fußball'. A u c h bestimmte Epochen, z . B . die Fünfziger Jahre, finden ein besonderes kulturgeschichtliches Interesse. 11 D i e verlorenen deutschen Stadtbilder aus der Vorkriegszeit von Dortmund und Münster über Hamburg bis Königsberg füllen f ü n f z i g Jahre nach den Bombardierungen ein ganzes Buchmarktsegment. B e i T h e m e n w i e . U m w e l t ' oder , D a s Fremde und das Eigene' ist mit Händen zu greifen, w i e Gegenwartserfahrungen das historische Interesse dirigieren. D i e Faszination durch solche T h e m e n auf d e m Buchmarkt w i e auch die Präsenz einer ähnlich vielfaltigen Breite historischer Untersuchungen in Ausstellungen und historischen M u s e e n 1 2 zeigen das Geschichtsinteresse ebenso w i e die Geschichtsthemen, die sich in den Medien finden, z . B . i m Film v o n Andrzej Wajdas ,Danton' über den , N a m e n der R o s e ' bis zu - in Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit - .Holocaust' und .Schindlers Liste'. 1 3 D i e Bedeutung der Geschichte i m kulturellen Leben scheint entschieden immer noch zu - , nicht aber abzunehmen. D i e s e s Phänomen wird heute unter d e m Begriff .Geschichtskultur' diskutiert; ein Band hierüber, 14 dessen Titelbild ein Blick auf die zeitweilig in Berlin aufgestellte Leinwandnachbildung der

11 Vgl. Rainer Gries u.a. (Hg.): Gestylte Geschichte. Vom alltäglichen Umgang mit Geschichtsbildern (Münster 1989), vor allem auch die Einleitung: Geschichte als historische Kulturwissenschaft, 12-38. Als bisher letzte sind übrigens die siebziger Jahre für die historische Reminiszenz genußfähig geworden, vgl. Nikolaus Jungwirth, Gerhard Kromschröder: Flokati-Fieber. Liebe, Lust und Leid der 70er Jahre (Frankfurt/M. o. J. [1994]). 12 Vgl. Heinrich Theodor Grütter: Geschichte im Museum. In: Geschichte lernen 14 (1990) 14-19 und Gottfried Korff, Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik (Frankfurt/M. 1990). 13 Vgl. Joachim Paschen: Film und Geschichte. In: Geschichte lernen 42 (1994) 13-19 und, didaktisch handlungsorientiert, Karl Nebe: Mit Filmen im Unterricht arbeiten, a.a.O., 20-24; vgl. ferner Hans-Jürgen Pandel: Comicliteratur und Geschichte. Gezeichnete Narrativität, gedeutete Geschichte und die Ästhetik des Geschichtsbewußtseins. In: Geschichte lernen 37 (1994) 18-26. - Die im Text letztgenannten Beispiele verweisen freilich zugleich auf das Grauen, das sich unter der faszinösen Oberfläche auftuen kann und das sich aller Sinnbildung, wenn auch nicht moralisch-politischer Verantwortlichkeit, entzieht. 14 K. Füßmann, H. Th. Grütter, J. Rüsen (Hg.): Historische Faszination - Geschichtskultur heute (Köln 1994); vgl. auch Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur und Wissenschaft (München 1990). - Vgl. ferner ,Das Schloß?'. Eine Ausstellung über die Mitte Berlins. Katalog, hg. von Förderverein Berliner Stadtschloß (Berlin 21993). Natürlich ist die Debatte um den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses kein Indiz nationalistischer Resurrektion und wäre die Wiederherstellung der Schloßfassade keine Apotheose der Hohenzollem, wie es ja gerade der Fehlschluß des ignoranten Mit-Verderbers der Innenstädte von Berlin, Potsdam und Leipzig, Ulbricht, gewesen ist - übrigens ebenfalls eine Form des (totalitären) Umgangs mit Geschichte, wenn auch nicht gerade im Zeichen historischer Bildung. Dagegen ist zweifellos historisches Bewußtsein im Spiel, wenn Architekten und Theoretiker in Berlin auch anhand anderer Beispiele gegen die Ignoranz Stellung nehmen, die sich in der versuchten Ausradierung von Zeugen einer, und sei sie auch bitteren, Vergangenheit zeigt (vgl. Cornelius Hertlings Vorwort zu: Architektur in Berlin. Jahrbuch 1993/94, hg. von der Architektenkammer Berlin, Hamburg 1994). Historisches Bewußtsein ist

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Fassade des Hohenzollernschlosses und den Dom ziert, fragt sich zugleich, ob statt der zeitweise grassierenden Moden von ,Posthistoire' und .Postmoderne' ein erneuter .reaktionärer Historismus' im Sinne einer Rückkehr zur deutschen Geschichte und zu nationaler Identitätsstiftung die aktuelle Option des historischen Bewußtseins sei. .Historismus' freilich hat stets mehr und anderes bedeutet als das, wie ein Blick auf die Geschichte seiner Entwicklung und den Stand der Historismusdiskussion schnell zeigt. Diese Diskussion ist es im Gegenteil, die auch heute die materiale Fülle, das kognitive Niveau und die möglichen Orientierungsleistungen historischer Bildung im Spannungsfeld von wissenschaftlicher, politischer und populärer Präsenz des Vergangenen auf den Begriff zu bringen vermag. Halten wir als ersten Punkt fest: Der Historismusbegriff mag von manchen gebraucht worden sein, um Detailversessenheit und englinige nationale Identitätsbildung zu geißeln - berechtigterweise steht er aber für die Einsicht in den Wandel der Geschichtsbilder, und er kann genau so gut stehen für die legitime Faszination an der Geschichte, so wie Dilthey sagt: „Jede Schönheit, jede Heiligkeit, jedes Opfer, nacherlebt und ausgelegt, eröffnet Perspektiven, die eine Realität aufschließen." 15

2. Zur Entwicklung und zum gegenwärtigen Stand der Historismus-Diskussion Die Durchsetzung historischen Denkens ist neben (und im Zusammenhang mit) der Etablierung von Philologie und Hermeneutik einer der prägenden Grundzüge der Geisteswissenschaften. Der Übergang von einzelnen geschichtlichen Fragestellungen zur grundsätzlichen Historisierung der Betrachtungsweise der menschlichen Dinge ist gleichbedeutend mit dem Entstehen des Problemniveaus des Historismus. „Die humanistische und aufklärerische Geschichtswissenschaft erscheint durchgängig als Hilfsfach der praktischen Wissenschaften Grammatik, Rhetorik, Ethik, Politik, Jurisprudenz [ . . . ] . Der werdende Historismus hingegen etabliert so etwas wie eine universale Geschichtswissenschaft, die alle heute so genannten Geistes- und Sozialwissenschaften in sich begreift." 16 Vor allem ein Ereignis der deut-

auch im Spiel, wenn gegenüber den neueren vielfachen und verschiedenen traditionsbrechenden Experimenten der internationalen Architektur in dieser lange zweigeteilten Stadt für oder gegen die „Wiedergewinnung einer Berlinischen Tradition" plädiert wird: Vgl. Hans Stimmann: Einleitung zu: Annegret Burg (Hg.): Neue Berlinische Architektur: Eine Debatte (Basel 1994) 9-13, 11, sowie Arch. Zeitschrift für Architektur und Städtebau Heft 122, Juni 1994: ,Von Berlin nach Neuteutonia'. 15 Wilhelm Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft. In: Gesammelte Schriften, Bd. 7, 291. 16 Ulrich Muhlack: Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus (München 1991) 11. - Der Historimus betrifft nicht nur die Geschichtswissenschaft, sondern alle Wissenschaften, in denen es möglich und nötig ist, historisch zu denken, insbesondere die als .Geisteswissenschaften' zusammengefaßte Wissenschaftsgruppe insgesamt. Zum Stand der Philosophie der Geisteswissenschaften vgl.: Theodor Bodammer: Philosophie der Geisteswissenschaften (Freiburg, München 1987); Die sog. Geisteswissenschaften: Außenansichten, hg. von Wolfgang Prinz, Peter Weingart u. a. (Frankfurt/M. 1990); - Innenansichten, hg. von W. Prinz, P. Weingart (Frankfurt/M. 1990); Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Von Wolfgang Frühwald, Hans Robert Jauß, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß, Burkhart Steinwachs (Frankfurt/M. 1991); Gunter Scholtz: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M. 1991).

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sehen Wissenschaftsgeschichte, stellen die .Ausprägungen des Historismus' (Karl Georg Faber) im Grenzbereich von Philosophie und Geschichte seit dem 19. Jahrhundert ein vielfältig und kontrovers diskutiertes Problem dar.17 Hatte sich eine ältere Form (Georg Gottfried Gervinus, Johann Gustav Droysen, Heinrich v. Sybel) als Paradigma des Geschichtsdenkens noch eng an geschichtsphilosophischen Vorstellungen orientiert und in der Geschichte klare Sinnlinien und von höherer Absicht durchwaltete Zusammenhänge in einem konkreten praktisch-politischen Lichte gesehen, so geriet eine ihr folgende Phase der „Krise des Historismus" (K. Heussi), die die Annahme umfassender Sinnzusammenhänge verabschiedete und auf die Gewordenheit und Überholbarkeit aller menschlichen Weltverhältnisse verwies, hinsichtlich der Dignität und Geltung von Erkenntnis überhaupt in verwickelte Relativismusdebatten: neben Dilthey, Friedrich Meinecke, Karl Mannheim u. a. ist hier vor allem Ernst Troeltsch zu nennen. Von Nietzsche an vielfältig kritisiert, schien der „faktenpositivistische",

„relativistische"

und „lebensweltlich

irrelevante"

Historismus

schließlich überholt zu sein: wissenschaftlich durch soziologische, wirtschaftswissenschaftliche und psychologische Theoreme und Methoden und in Theologie und Philosophie durch die Theorien so unterschiedlicher Historismusverächter wie Barth, Heidegger und Habermas und anderer. Ihnen zum Trotz scheint das Phänomen des Historismus Potentiale zu beinhalten, die nicht nur die eigentlichen Gehalte historischen Denkens ausmachen, sondern es auch stets erneut produktiv befruchten. Dies beweist u. a. eine ganze Reihe von neueren Veröffentlichungen, auf die im folgenden eingegangen werden soll. Jede Abhandlung über Historismus wird zunächst mit einer Klage über die Vieldeutigkeit des Begriffs eingeleitet. Das wollen wir hier nicht anders halten, auch wenn dies natürlich bei allen wichtigen Grundbegriffen der Fall ist. Eine besonders signifikantes Spektrum überspannen die Bedeutungsvarianten, worauf Arie Nabrings hinweist, „von der Bestimmung des Historismus als einer Geschichtsphilosophie, deren Interesse vornehmlich der Gegenwart und Zukunft dient, bis hin zur Beschreibung des Historismus als einer der Vergangenheit nur um ihrer selbst willen" detailbesessen zugewandten Haltung.18 Nabrings läßt vor allem die ältere Entwicklung von Humboldt bis Burckhardt Revue passieren und konstatiert mit dem zunehmenden Verlust der von Hegel inspirierten geschichtsphilosophischen Grundannahmen und der „Zerstörung des Mythos vom Weltgeist" ein „Vakuum" und einen „Zersetzungsprozeß", „der letztlich zur Zerstörung der Geschichte führen mußte". Nabrings schließt aus der Krise des Historismus: „Historie im historistischen Sinne scheint nur dann möglich, wenn sie im Dienste einer von der Historie nicht thematisierbaren Fragestellung erfolgt. Ohne solche ,Tabuzonen', deren der Mensch überhaupt bedarf, um leben zu können, wird Geschichtsschreibung zur unbequemen Entlarverin. Sie zwingt uns, von allen lieb-

17 V g l . K . G. Faber: Ausprägungen des Historismus. In: Historische Zeitschrift 228 (1979) 1-22; Herbert Schnädelbach: Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus (Freiburg

1974);

Gunter Scholtz: .Historismus'. In: J. Ritter, K . Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 3 (Basel, Stuttgart 1974) Sp. 1141 ff. 18 A r i e Nabrings: Historismus als Paralyse der Geschichte. In: Archiv für Kulturgeschichte 65 (1983) 157-212; Zitate 157, 205, 209ff. - Oexle, a. a. O., 144 setzt gegen eine solche Rückkehr zur „allgemeingültigein), absolute(n) Erkenntnis" den „Gedanken der Unendlichkeit der wissenschaftlich erfahrbaren Welt".

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gewordenen Vorstellungen Abschied zu nehmen und läßt nur eine Leere zurück [ . . . ]". Verlangt werden „unhistorische Setzungen" und eine „Enthistorisierung der Wissenschaft". Dieser .Lösung' des Problems kann man gar nicht deutlich genug widersprechen. Der Historismus ist nicht die ,Paralyse', sondern der Inbegriff der Geschichte. Nabrings verfängt sich völlig in der Falle derjenigen, die in konsequent historischem Denken nur einen orientierungslosen und gefährlichen Relativismus in Fragen religiöser, moralischer und sogar wissenschaftstheoretischer Normen erkennen können. Dagegen soll im folgenden gezeigt werden, daß die mit dem historischen Denken verbundene Anerkennung der Endlichkeit menschlicher Vernunft diese nicht an Relativismus und Beliebigkeit ausliefern muß. Annette Wittkau versucht nicht, zur Bewältigung des „Grundsatzproblems" des Historismus, das auch sie in der Gefahr des Wertrelativismus sieht, einen geschichtsfreien Raum zu konstruieren. Sie verfolgt eine umfassende Bestandsaufnahme des Historismus in den verschiedensten Wissenschaftszweigen, nicht nur in der geschichtswissenschaftlichen und philosophischen Hauptlinie. Im Anschluß an Max Weber („Weber löst die Probleme des Historismus") präsentiert sie folgende Lösung: „Durch die Historisierung des Denkens war der Glaube an objektiv-gültige Werte und Normen des Handelns [ . . . ] zerstört worden. An die Stelle dieses Glaubens tritt nun im 20. Jahrhundert der bewußte Entschluß zur subjektiven Unterwerfung unter ein bestimmtes Wertkonzept. Weber stellt den Menschen des 20. Jahrhunderts damit in eine bis dahin unbekannte Mündigkeit und Verantwortung. Denn die Entscheidung für eine bestimmte Religion oder Ethik, von der der einzelne Mensch sein Leben praktisch handelnd gestalten kann, muß er von nun an allein treffen". 19 Gegenüber dieser Lösung werden die anderen Theoretiker des späteren Historismus radikal abgewertet: Troeltsch sei für die entstandene Verwirrung um den Begriff verantwortlich und weigere sich, den nach Webers Trennung von Wissenschaft und Glauben erforderlichen „Glaubenssprung" zu vollziehen; Heussi und Meinecke gar kennten den Gegenstand nicht mehr, von dem sie sprächen. 20 So sieht Wittkau nicht nur den späteren Historismus selbst, sondern auch die Auseinandersetzung mit dem Historismus (die seit Wolfgang Justin Mommsen sprichwörtliche ,Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus') nach dem zweiten Weltkrieg am Eigentlichen vorbeilaufen, und selbst daran soll noch Friedrich Meinecke, eine der wichtigen Gestalten des deutschen Historismus, schuld sein, der „Begriff und Phänomen des Historismus um die wesentlichen Dimensionen reduziert hatte". Dies ist aber, bei allen spezifischen Eigentümlichkeiten, um die er das historische Denken zu bereichern suchte, schlichtweg ungerecht, denn Meinecke, in dessen Leben sich das ganzen Drama der deutschen Geschichte im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert spiegelt, führt auch heute mitten in die Diskussion hinein und nicht etwa aus hier heraus. Er sah im Historismus ganz zu recht „eine der größten Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat". 21 Wie eine

19 Annette Wittkau: Historismus: zur Geschichte des Begriffs und des Problems [Dissertation bei O. G. Oexle] (Göttingen 1992) 146f. 20 a.a.O., 151, 168, 191. 21 Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus. In: Werke, hg. von Hans Herzfeld, Carl Hinrichs, Walther Hofer (Stuttgart, München, Darmstadt 1957-60) Bd. 3, 1. - Schon Oexle versammelt (a.a.O., 138ff) eine ganze Liste von Vorwürfen gegen Meinecke, läßt aber gerade den seit Croce gängigen und wohl auch am ehesten berechtigten Kritikpunkt, Meineckes Irrationalismus, aus.

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Gebrauchsanweisung der eine Zeitlang so genannten ,postmodernen' und anderen Rationalitätsdiskussionen liest sich sein Ansatz bei der „fundamentalen Verzeitlichung der Vernunftnatur des Menschen" (Jörn Rüsen22): „Flüssigwerden der Vernunft", so formulierte er, „hieß, sie sich individualisieren lassen, hieß, sie anerkennen in jeder ihrer tausendfältigen Metamorphosen, die sie im Laufe der Geschichte annimmt, hieß, in jeder von ihnen eine unersetzliche und in sich wertvolle Individualität sehen". 23 Meinecke etabliert damit eine Problemebene, die gerade heute in Schlagwörtern wie dem von der ,Pluralisierung' der Vernunft die Diskussion wiederum bestimmt. Vor dieser Diskussion ist der von Wittkau offerierte Dezisionismus keine Lösung, weil auch er noch einer Scheinalternative zum Opfer fällt, die die Gegner der historistischen Aufklärung inszenieren. Ein Entscheidungsszenario: .historischer Relativismus' oder ,unhistorische Rettung von Normen' oder .Sprung in die Entscheidung' resultiert nicht aus historischem, sondern gerade aus unhistorischem Denken, das so tut, als orientiere man sich in einem quasi luftleeren Raum oder im Zustand der tabula rasa. Der angebliche Relativismus, zu dem die historische Pluralitätserfahrung führt, besteht dann darin, daß ein Orientierungssuchender in seiner behaupteten abstrakten Entscheidungssituation ohne strikte geschichtsfreie Normen vor zwei oder mehr Alternativen, denen beiden er ihr Recht zubilligen muß, zaudert wie Buridans Esel vor den beiden Heuhaufen. Doch stellen sich uns als endliche und geschichtliche Wesen, die wir sind, unsere Orientierungsprobleme in konkreten Situationen und Konflikten durchaus nicht in der Art, die die Verächter des Historismus listig behaupten. Wir haben immer schon Standpunkte, sind geprägt von Traditionen und Denkhorizonten, beeindruckt von Zuständen und Ereignissen. Das menschliche Selbst- und Weltverhältnis vollzieht sich nicht in einer schlechthinnigen, von einem abstrakten Wertekosmos bestimmten Inspiration, sondern es ist historisch-kulturell und sprachlich vermittelt und kann nicht ex nihilo seine Inhalte entwickeln. Mit den Grunderfahrungen des Historismus erscheint es zugleich wesentlich naheliegender, statt von einem unterstellten Grundkonsens von der Anerkennung nichtaufhebbarer Widersprüche zwischen verschiedenen letzten Werthaltungen auszugehen, in Sonderheit: nicht mehr mit eigenen Absolutheitsansprüchen gegen die Absolutheitsansprüche anderer vorzugehen. Das ,Relativismusproblem' ist darum kein plausibles Gegenargument gegen ein schon im Ansatz seine Historizität bedenkendes Denken, sondern das spiegelbildlich verkehrte Gegenstück überzogener Begründungsansprüche und damit die Erfindung eines „platonisch-kantischen Absolutheitsdenkens". 24 Demgegenüber erweist sich das auf seine Traditionen angewiesene und sich mit ihnen aueinandersetzende Denken seit Meinecke als eine historisch-selbsttragende Konstruktion. Der Versuch des kenntnisreichen Aufsatzes von Nabrings, das historische Denken sozusagen anzuhalten und diese , flüssiggewordene Vernunft' wieder erstarren zu lassen, erscheint untunlich. „Was einmal gedacht worden ist, kann man nicht mehr zurücknehmen", heißt es schon bei Dürrenmatt. Wittkau sucht zwar eine das historische Bewußtsein anerkennende Lösung, läßt

22 J. Rüsen: Friedrich Meineckes .Entstehung des Historismus', eine kritische Betrachtung. In: Manfred Erbe (Hg.): Friedrich Meinecke heute (Berlin 1981) 76-100, 78ff, 85. 23 Meinecke, a.a.O., 178. 24 Richard Rorty: Der Spiegel der Natur (Frankfurt/M. 1981) 405.

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sich aber auf eine bloße „Entscheidung" ein, die das Problem nicht löst, sondern weiteren Gegenargumenten Tür und Tor öffnet (und die gegen den Dezisionismus sind ja bekannt). Darum und weil es zugleich unplausibel wäre anzunehmen, alle Gegner des Historismus in seinen verschiedenen Formen seien böswillige Gespensterseher, die nicht berechtigterweise auf Probleme aufmerksam machten, muß die Frage bei einem Blick auf die gegenwärtige Diskussion lauten: Wie muß man die Grundideen des Historismus transformieren, wenn man heute an „historistischer Aufklärung" (H. Schnädelbach) festhalten will? Blickt man zu diesem Zweck nach Italien, das mit Benedetto Croce einen Beitrag von herausragender Wichtigkeit zur Entwicklung des Historismus geleistet hat, sieht man Sache und Begriff unter anderem in Neapel diskutiert, wo man zu Recht darauf verweisen kann, daß im Gegensatz zu Deutschland, wo der Historismus häufig an politisch konservative Positionen und die Betonung des Rechtes der Herkunftswelten geknüpft war, der Historismus im Zeichen Croces (weitgehend) an liberale politische Orientierungen gebunden ist, die den Fluß der Geschichte nicht als Relativismus und Beliebigkeit empfinden, sondern unter dem Druck erstarrter politischer und kirchlicher Verhältnisse als Fluß der Freiheit. Fulvio Tessitore, Giuseppe Cacciatore u. a. haben nicht nur durch Übersetzungen historistischer Autoren von Humboldt, Gervinus und Ranke über Droysen und Dilthey bis zu Troeltsch, Meinecke und Hintze ins Italienische, sondern auch durch Beiträge und Monographien zu diesen Autoren und zu Karl Lamprecht zur gegenwärtigen Debatte um den Historismus beigetragen. Die Notwendigkeit einer Transformation des Historismus wird auch in Italien gesehen; dazu wird zurückgegriffen auf die Arbeiten des Existenzphilosophen Pietro Piovani.25 Hier freilich gerät dies Unternehmen in Konflikt mit Theoremen wie denen einer in Rationalitätsfragen angeblich zu postulierenden metaphysischen Norm und christlich-theologischer Grundsätze, obwohl doch gerade dies seit Diltheys .Widerstreit der Systeme' als Problem, nicht aber als Lösung diskutiert werden müßte. Sein Recht behält der italienische Neohistorismus dort, wo er auf die unaufgebbaren Einsichten Croces, vor allem in die Unabgeschlossenheit der Geschichte, aufbaut. Über die italienischen Diskussionen hinaus begrifflich auffallend ist seit einigen Jahren die Existenz eines ,New Historicism' in den Literaturwissenschaften in den U S A , in deren Theoriediskussionen Anglisten wie der in Berkeley lehrende Stephen Greenblatt führend sind, in denen aber auch die Germanistik eine gewissen Platz hat.26 Der ,New Historicism' steht einerseits unter dem Eindruck der neueren Kulturanthropolologie bzw. Ethnologie, die „aus der Perspektive des Eingeborenen" über die sozusagen „dünnen" gesammelten empirischen Befunde (Gilbert Ryles .Augenzucken') hinaus die „geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen" „dicht beschreiben" will, „in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden und interpretiert werden" und die Teil jenes „selbstgesponnene(n) Bedeutungsgewebe(s)" der Kultur sind, in

25 Fulvio Tessitore: Introduzione allo storicismo (Roma-Bari 1991); Giuseppe Cacciatore: Scienza e filosofia in Dilthey, 2 Bde. (Neapel 1976); siehe ferner den Beitrag von Giuseppe Cantillo in diesem Band; Giuseppe Di Costanzo: Tragicita e senso dello storia. Meinecke tra Ranke e Burckhardt (Neapel 1986). 26 Vgl. Frank Trommler (Hg.): Germanistik in den USA (Opladen 1989). - St. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance (Berlin

1990); ders.: Wunderbare

Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker (Berlin 1994).

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das der Mensch „verstrickt" ist.27 Dieser Beeinflussung verdankt der ,New Historicism' die in den Arbeiten Greenblatts deutlich werdende Neigung, die Grenzen von Geschichte, Ethnologie und Literaturwissenschaft zu sprengen. Literaturwissenschaftlich gilt er andererseits als Nachfolgeparadigma und als historische Korrektur des längst als ,alt' empfundenen unhistorischen und isolativen, die Literatur ihrer Umweltbezüge beraubenden ,New Criticism' und auch des Dekonstruktivismus.28 „Die Art von Textanalysen, die ich während meines Studiums erlernte", schreibt Greenblatt, „zielten auf die Identifizierung und Zelebrierung einer numinosen literarischen Autorität, ganz gleich ob diese Autorität letztlich im Genie des Autors ausgemacht wurde oder in der rätselhaften Vollkommenheit eines Textes, dessen Intentionen und Vorstellungen schlechterdings nicht anders hätten ausgedrückt werden können." Methodisch entspreche dem vor allem der Königsweg einer „genaue(n) Untersuchung des formalen und sprachlichen Aufbaus", wobei Text zu bedeuten scheint, was er bedeutet - unabhängig von der jeweiligen kulturellen Situation. Demgegenüber interessiere aber doch, daß die .Energie', die .bezwingende Kraft' und .ästhetische Macht' von Kulturgegenständen wie etwa den Werken Shakespeares, uns heute noch anzusprechen, „von einer ungeordneten Reihe historischer Transaktionen" vermittelt sei.29 So stark war offenbar die Macht der unhistorischen Betrachtungsweise, daß die neue geschichtliche Hinsicht sich auch begrifflich explizit machen mußte. .New Historicism' heißt aber nicht einfach Rückkehr zu einer historischen Betrachtungsweise. Er tritt, wie schon die Begriffsbildung besagt, auf in Distanzierung von der „uneasy alliance of older historicists and New Critics" 30 gleichermaßen, denn nach dem ,chiastischen' Diktum eines weiteren Protagonisten, Louis Montrose, untersuche der neue Historismus, die jeweiligen .blinden Flecken' der anderen Paradigmata wechselseitig korrigierend, beides: die „historicity of texts and the textuality of history". 31 Bei den „old-fashioned historicists" dominiert, folgt man hier der

27 Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Frankfurt/M. 1987) 10ff, 289ff. 28 Vgl. z. B. Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie (Reinbek 1988) 20 und Ulrich Horstmann: Parakritik und Dekonstruktion. Eine Einführung in den amerikanischen Poststrukturalismus (Würzburg 1983). - Nach dem Bekanntwerden der bis zu seinem Tode uneingestandenen antisemitischen Artikel aus der Vergangenheit des in Belgien geborenen und später in Amerika lehrenden äußerst renommierten Literaturwissenschaftlers Paul de Man unterläßt kaum ein Beitrag zum Thema den Hinweis auf mögliche letzthin politische Gründe für die geschichtsfeme, vom kulturellen Kontext abstrahierende Praxis auch des Dekonstruktivismus; vgl. Anton Kaes: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Hartmut Eggert, Ulrich Profitlich, Klaus R. Scherpe (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit (Stuttgart 1990) 56-66, 58; sowie Paul Michael Lützeler: Der postmoderne Neohistorismus in den amerikanischen Humanities, a. a.O., 67-76. 29 St. Greenblatt: Verhandlungen mit Shakespeare, 9f; vgl. Brook Thomas: New Historicism. And other Old-Fashioned Topics (Princeton, N.J. 1991) 7 und H. Aram Veeser (Hg.): The New Historicism (New York 1989). 30 St. Greenblatt, Giles Gunn: .Introduction* zu dies. (Hg.): Redrawing the Boundaries: the transformation of English and American literary studies (New York 1992). 31 Vgl. Thomas, a.a.O., 7ff; Zur Rezeption und Nichtrezeption deutschen historischen Denkens in den USA vgl. den Beitrag von Hinrich C. Seeba in diesem Band.

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einschlägigen Darstellung und Kritik des ,New Historicism' durch den amerikanischen Anglisten Brook Thomas, eine „organische" Auffassung der Kultur mit methodischen Konsequenzen. Ausgedrückt in rhetorischen Termini gelte hier das Modell der .Synekdoche', derzufolge ein Teil einer Kultur, etwa ein literarischer Text, als Repräsentant stehen könne für eine ganze Kultur, so daß ein Text die ,Seele' einer Kultur ausdrücken könne, ja daß man von „one advertisement to statements about the American way of life" gelangen könne. Der neue Historismus nun müsse mit dem Umstand umgehen, daß organische Modelle außer Kurs geraten sind, und ersetze darum die Synekdoche durch ein Vorgehen in .Chiasmen', etwa indem Greenblatt typischerweise mit einer Technik der Nebeneinanderstellung die Analyse eines sozialen Ereignisses und die eines literarischen Textes kombiniert. Ob eine solche Montagetechnik zu der hermeneutisch dominierten Tradition wirklich eine Alternative darstellt, muß aber ebenso zweifelhaft bleiben wie die Frage, was die philosophisch-theoretisch eher abstinente Position der , Neuen Historisten' zu den die Historismusdebatten, auf die sie nicht eingeht, primär bestimmenden rationalitäts-theoretischen Problemen beitragen kann. Eins leistet die ,Kulturpoetik' aber allemal: spannende Historiographie.32 Obwohl er die Anschauung der Fülle des Historischen um die beispielsweise Darstellung ostfriesischer Siedlungsformen bereichert hat, interessieren den deutschen Zivilisationstheoretiker Hermann Lübbe nicht die Faszinationen der historischen Gegenstände an sich, sondern die kulturell bedeutsamen und unverzichtbaren Erinnerungs- und Bewahrungsleistungen des Geschichtsbewußtseins. Eine dem Historismus oft vorgeworfene bloß ästhetisierend-genußvolle Betrachtung dieser oder jener interessanten Blüte der Kulturentwicklung wäre nicht im Sinne von Lübbes Bestimmung der Geschichte. Eine Transformation des Historismus erfolgt bei Lübbe, indem gewisse Engführungen des Geschichtsbegriffs aufgehoben werden; 33 dann ist der Weg frei zur Bestimmung der klar definierten kulturellen Aufgabe, die die Geschichte zu erfüllen hat und die jedwede .Krise' des historischen Bewußtseins überwindet. In einer .Zukunftsungewissen' Gesellschaft, die von der rasenden Dynamik der historischen Prozesse überrollt zu werden droht, sieht Lübbe nämlich in der Geschichte die kompensatorische Instanz, die uns in die Lage versetzen kann, all diese Veränderungen und Innovationen überhaupt noch zu verarbeiten. Wie der ausgeprägte Historismus lehnt Lübbe die großen geschichtsphilosophischen Sinnbildungen („Nationalsozialismus und Internationalsoziaiismus") wegen ihrer totalitären Konsequenzen ab. 34 Anders als bei Habermas oder (dem noch zu erwähnenden) Rüsen wird auch nicht versucht, aus den angesprochenen Modernisierungsprozessen eine normative Zukunfts- und Sinnperspektive zu destillieren. Die entscheidenden Errungenschaften historischer Fortschritts- und

32 Greenblatt selbst spielt seine theoretischen Ansprüche eher herunter und stellt den .Neuen Historismus' als die nachträgliche Benennung einer konkreten Arbeitsweise dar, die dem Gedanken folgte, „einfach zu tun, was zu tun war, ohne zunächst zu klären, aus welcher Position heraus ich schreiben würde", vgl. St. Greenblatt: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern (Berlin 1990) 107. 33 H. Lübbe: Die Einheit von Naturgeschichte und Kulturgeschichte, zuletzt in: Herbert Mainusch, Richard Toellner (Hg.): Einheit der Wissenschaft (Opladen 1993) 47ff. 34 H. Lübbe: Geschichtsphilosophie. In: Peter Koslowski (Hg.): Orientierung durch Philosophie (Tübingen 1991)48-69, 67.

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Aufklärungsprozesse sind nämlich längst erzielt. Dies zeigt Lübbe in der Tradition Joachim Ritters, der das Kompensationstheorem für die Theorie der Geisteswissenschaften fruchtbar gemacht hat. In ideenpolitischen Kontexten wird der Ausdruck „Ritter-Schule" häufig als Inbegriff konservativen Denkens gebraucht. Obwohl es sich damals wohl doch um eine „bunte und standpunktkontroverse Gruppe" gehandelt hat, zeigen Parallelen in den Positionen Lübbes und des Kompensationstheoretikers Odo Marquard durchaus eine „Schulkonvergenz als langfristige Spätwirkung", 35 in der sich ein „Modernitätskonservatismus" auswirkt, der bei aller Einsicht in die Ambivalenz der Modernitäts- und Emanzipationsprozesse „aristotelisch und hegelianisch auch für die Moderne die Vermutung der Vernünftigkeit des Bestehenden gelten ließ". 36 In diesem Sinne haben Marquard und Lübbe in ihren Analysen der kulturellen Gegenwart die Aufklärung für grundsätzlich gelungen erklärt. Aufklärung wird damit zwar keinesfalls verabschiedet, die Betonung liegt aber auf der bereits erfolgten Durchsetzung wesentlicher Aufklärungserrungenschaften. Daraus folgt „Vergangenheitsvergegenwärtigung" als „die Funktion des historischen Bewußtseins, und die Dringlichkeit der Erfüllung dieser Funktion nimmt zu mit dem Ausmaß chronologischer Gegenwartsschrumpfung". 37 Die bloße kulturerhaltende Präsentation orientierender Traditionen, denen gegenüber das Neue erst einmal prinzipiell beweispflichtig ist, schließt freilich die doch in Wirklichkeit stets lebendige und offene Verarbeitung der Geschichte in der jeweiligen Gegenwart sozusagen ab. Die Geschichte wird wie ein beständiger Orientierungsanker mitgeschleppt, während man mit den von den Naturwissenschaften induzierten Zivilisationsprozessen weitertreibt, auf die den Geisteswissenschaften gleichwohl kein gestaltendes Zugriffsrecht eingeräumt wird. Auch wenn dies paradox klingen mag: Historismus kann nicht bedeuten, daß historische Orientierung letztlich auf die jeweilige Vergangenheit ausgerichtet wird, wie Lübbe das tut; sie hat vielmehr wesentlich mit einer offenen Gegenwart und Zukunft zu tun. Dies beweist u. a. der Bielefelder Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen, der seit Jahrzehnten in Deutschland die zweifellos theoretisch aufwendigste Auseinandersetzung mit dem Historismus leistet.38 Seit seiner Dissertation über Droysen ist der Historismus Basis und Ausgangspunkt seines Denkens und zwar in der Form genau desjenigen älteren ,Theoriedesigns', das auch ein

35 O. Marquard: Abschied vom Prinzipiellen (Stuttgart 1981) 7f. 36 Vgl. Ulrich Dierse: Joachim Ritter und seine Schüler. In: Philosophie im 20. Jahrhundert, hg. von Anton Hügli, Poul Lübcke, Bd. 1 (Reinbek 1992) 237-278, 248, 270; vgl. auch Henning Ottmann: Joachim Ritter. In: Julian Nida-Rümelin (Hg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen (Stuttgart 1991)504-509. 37 Lübbe, a.a.O., 61. 38 J. Rüsen: Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissenschaft (Stuttgart-Bad Cannstatt 1976); ders.: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft (Göttingen 1983); Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung (Göttingen 1986); Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen historischen Wissens (Göttingen 1989). - Vgl. V. Steenblock: Historische Vernunft - Geschichte als Wissenschaft und als orientierende Sinnbildung. Zum Abschluß von Jörn Rüsens dreibändiger .Historik'. In: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 8 (1992/93) 367-380.

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Droysen verwendet hat. Zur Konzeption vernünftigen Denkens unter den Bedingungen historischen Bewußtseins setzt Rüsen nämlich durchaus auf die spekulative Kraft der Vernunft und auf die Möglichkeit einer universalen, letztlich geschichtsphilosophischen Perspektive (das „Ganze der Geschichte als regulative Idee"), z. B. allem hermeneutischen Eigenrecht der Kulturen gegenüber dem „Eurozentrismus des historischen Blicks" zum Trotz, hinsichtlich der .Universalität' der Menschenrechte.39 Was von den Theoretikern der sogenannten ,Krise' des Historismus nach Droysen entwickelt worden ist, erscheint am Ende theoretisch und normativ zu schwach, weil es eine „entschiedene Wendung" impliziere „gegen diejenigen universalistischen Vorstellungen von Rationalität, Menschheit, Moral, Recht, Emanzipation, Subjektivität und [ . . . ] Fortschritt, die einmal zur kulturellen Grundausstattung sich modernisierender Gesellschaften [ . . . ] gehörten". Das moderne Vernunftprojekt, das alle Potentiale zur Bewältigung der ,Krise' des nachdroysenschen Historismus enthält, muß verteidigt werden gegen das Feindbild eines „herrschsüchtigen Monismus", das z.B. die ,Postmoderne' in ihrer Pluralitätsemphase von ihr verbreite.40 „Der einzige Gedanke", den er an die Geschichte heranbringe, sei „der einfache Gedanke der Vernunft", hieß es einst bei Hegel, und sein Erbe ist Rüsen, seines Zeichens ständig „sinnbildend durch Theoretisierung" und „Sinnressourcen [ . . . ] erschließen(d)", durchaus, wenn er schreibt: „Wenn sich die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft ernst nimmt, dann sollte sie Geschichte nur so schreiben können, daß in ihr die Vernunft vorkommt, der sie sich verpflichtet weiß und die ihr Sinn macht".41 Dies erscheint wesentlich geprägt vom .klassischen' Historismus als einem Geschichtskonzept, das die Sinnhaltigkeit und Kontinuität der Kulturentwicklung betonte.42 Zwar übersieht Rüsen weder die Begrenztheit, die namentlich die deutsche Geschichtswissenschaft davon abhielt, die offensichtlich die Intentionalität menschlichen Handelns überschreitenden sozioökonomischen, quasi naturhaften und autonomprozessualen Faktoren zu erkennen, auf die etwa ein Marx nachhaltig und in Ansätzen auch Karl Lamprecht verwiesen haben, noch übersieht er die jeder Vernunftdeutung widerstehenden Katastrophen unseres Jahrhunderts, die Monstren, die der Traum der Vernunft erzeugt;43 aber all dies tritt letztlich nur als Anlaß vermehrter Bemühungen um einen normativ aufgeladenen Vernunft- und Geschichtsbegriff auf, hinter deren eindrucksvollem theoretischen und begrifflichen Aufwand die lebendige Fülle und .Orientierung' in der Geschichte eher selten aufzublitzen scheinen.

39 J. Rüsen: Historische Orientierung (Köln usw. 1994) 166, 168ff, 182. 40 Vgl. J. Rüsen: Menschen- und Bürgerrechte als historische Orientierung. In: Geschichte lernen. Geschichtsunterricht heute. Heft 6, Nov. 1988, 10-15 und ders.: Fortschritt. Geschichtsdidaktische Überlegungen zur Fragwürdigkeit einer historischen Kategorie. In: Geschichte lernen. Geschichtsunterricht heute. Heft 1, Dez. 1987, 8-12, 11 und Anm. 7 auf Seite 12. 41 G. W. F. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, hg. von Johannes Hoffmeister (Sämtl. Werke Teilbd. XVIII A), (Hamburg 5 1955) 28; Rüsen: Historische Orientierung, a.a.O., 34, 100, 208. - Ich erinnere mich an die ungemeine Skepsis des (zuletzt) Münsteraner Historikers und Theoretikers Karl Georg Faber gegenüber jeder, wie er meinte, emanzipatorischen Sinnhuberei; vgl. K. G. Faber: Theorie der Geschichtswissenschaft (München 4 1978). 42 J. Rüsen: Geschichte des Historismus (München 1992); ders.: Konfigurationen des Historismus (Frankfurt/M. 1993). 43 J. Rüsen: Historische Orientierung, 246.

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Nach dieser Skizze ist deutlich, daß Rüsen mit ,postmodernen' und .posthistorischen' Sinnaufkündigungen nicht viel anfangen kann. Mag Rüsen die historische Sinnbildungsleistung überbetonen - die genannten Ansätze verfallen in das gegenteilige Extrem und werden ihm mit einigem Recht dort unplausibel, wo der „für historisches Denken fundamentale Zeitzusammenhang zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [ . . . ] als illusionär empfunden" wird und damit die „elementare Orientierungsleistung des Geschichtsbewußtseins nicht" erbracht wird. 44 Die eine Zeitlang so genannte ,Postmoderne' ist ja darüber hinaus, wie Lutz Niethammer festgestellt hat, „nur ein Sammelbegriff" gewesen „für die unterschiedlichsten Varianten einer Kritik am Einheitscharakter, am unterschwelligen Mythos und an den katastrophischen Nebenwirkungen (oder der ,Ambiguität') des Vernunftprojekts". 45 Was sie für die Geschichte bedeuten kann, ist zwar wegen des konzeptionellen Oszillierens kaum abzuschätzen (auch schlichter Eklektizismus oder die mittlerweile mehr als zwanzig Jahre alten literarischen Kategorien eines Hayden White werden uns als .postmodern' vorgestellt),46 auffallend ist aber, daß die Niethammersche Definition genau so gut zur Kennzeichnung des ausgeprägten Historismus herangezogen werden könnte, der damit das, was ,postmodern' bedenkenswert (gewesen) ist, bereits Jahrzehnte zuvor formuliert hat. Der Historismusbegriff ist, wie diese und andere systematische und wissenschaftshistorische Darstellungen zeigen,47 in vielen Varianten am Ende des 20. Jahrhunderts aktueller denn je. Eine Fülle von Ansätzen steht in produktiver Auseinandersetzung mit oder unter dem Signum des Historismus: sie bemühen sich, einen diagnostizierten Relativismus oder eine .Paralyse' des historischen Denkens zu heilen, sie diskutieren dezisionistische Lösungen oder den erneuten Rekurs auf eine christlich-metaphysische Grundnorm, sie treten auf als Montage im Feld von Literatur, Geschichte und Ethnologie, als Therapie, die einer beschleunigungsirritierten Gegenwart die Aufklärungstraditionen der Vergangenheit verabreicht oder als geschichtstheoretische Sinnbildung, die dem öffentlichen und wissenschaftlichen Gebrauch der Geschichte zukunftsweisende emanzipatorische und Vernunft-Potentiale abzuringen sucht. All dies zeigt, daß der Begriff .Historismus' offenbar seit mehr als einem Jahrhundert stets erneut und auch heute mehr als alle .postmodernen' und sonstigen Moden und .humanwissenschaftlichen Aufregungen' (Rüsen) imstande ist, Rationalitäts-

44 J. Rüsen: .Moderne' und .Postmoderne' als Gesichtspunkte einer Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft. In: Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen, Ernst Schulin (Hg.): Geschichtsdiskurs Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte (Frankfurt/M. 1993) 17-30, 23ff. 45 Lutz Niethammer: Die postmoderne Herausforderung. In: Küttler-Rüsen, Schulin, a.a.O., 31-49, 32. 46 Vgl. das Spektrum der Beiträge in: Christoph Conrad und Martina Kessel (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne (Stuttgart 1994); vgl. ferner die .sechs Varianten' von Frank R. Ankersmit: Historismus, Postmoderne und Historiographie. In: Küttler, Rüsen, Schulin, a.a.O., 65-84, 77ff. Auch Ankersmit macht wenig Hoffnung auf eine postmodeme Geschichtsbetrachtung, die lebensweltlich wie wissenschaftlich geschuldete konsistente Hinsichten erbringen könnte. - H. White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (amerik. Ausg. 1973) (Frankfurt/M. 1991). 47 Vgl. W. Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (München 1989); Thomas Haussmann: Erklären und Verstehen: Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft (Frankfurt/M. 1991); Georg Gerson Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert (Göttingen 1993).

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chancen der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert auszuloten. Im folgenden soll anhand der Wandlungen des Historismus selbst zu erklären versucht werden, warum der Begriff eine solche selbstschärfende Kraft hat.

3. Transformation des Historismus: Von der Geschichtsmetaphysik zur historischen Aufklärung Eine Überwindung offensichtlicher Begrenzungen des Historismus wird gewisse verengte Vorstellungen ausschließen (und zwar seine geschichtsphilosophischen Wurzeln, seine häufig überzogene Frontstellung gegen die Natur als das bloß gesetzeswissenschaftlich aufzufassende Reich des immer Gleichen und die Ontologisierung des methodischen Prinzips der Individuation zum Konzept eines ,ineffablen' Individualkerns). Aufgrund dieser Veränderungen kann der Begriff des Historismus nicht mehr identifiziert werden mit einer bestimmten älteren Tradition der Geschichtswissenschaft (hier taugt er bestenfalls zur Deskription einer abgeschlosenen Epoche) oder mit einer bedauerlichen Krankheitsphase historisch infizierter Geisteswissenschaften, die durch jeweils spezifische Arzneien wie .Dialektische Theologie', 48 .Letztbegründungsphilosophie', ,Sozialwissenschaft' usw. zu heilen wäre. .Historismus' verwiese vielmehr im Sinne .historistischer Aufklärung' (Herbert Schnädelbach) auf die Rationalitätsbedingungen der Moderne, und das in einem gegenläufigen Prozeß gerade in dem Maße, in dem er selbst die geschilderten restmetaphysischen .Eierschalen' (W. J. Mommsen) seiner Geburtsphase abzuschütteln vermöchte. Die sich dann herauskristallisierenden unaufgebbaren Gehalte historistischer Aufklärung sehe ich vor allem in den folgenden drei systematischen, miteinander zusammenhängenden Gesichtspunkten: 49 Vor allem seit Wilhelm Dilthey und Karl Mannheim besteht der Historismus - erster Aspekt - auf der Kontextualität aller für das menschliche Leben und Handeln relevanter Normen. Er leugnet jede Möglichkeit, solche Normen von einer geschichtsfreien Vernunft aus inhaltlich zu explizieren und zugleich als universalgültig zu monopolisieren. Gegen ein solches Unterfangen wird vor allem von Dilthey die Tatsache ins Feld geführt, daß in unseren Lebensverhältnissen immer auch andere Orientierungsformen - jeweils mit Universalitätsanspruch - auftreten. All dies bedeutet nicht, daß es damit keine Verbindlichkeiten mehr gebe; Werte aber bleiben Denotate irdischer Gemüter: diesen Kreis können sie nicht überschreiten. Mit dem Gedanken, dem Individuellen, das man nicht unter vereinheitlichende Zusammenhänge subsumieren mag, Geltung zu verschaffen, werden historistische Theoretiker wie Dilthey in einem allgemeinen Sinne zu Anwälten der frei schillernden Buntheit

48 Die informative und durchaus nicht einseitig dem historischen Denken widersprechende Darstellung bei Michael Murrmann-Kahl: Die entzauberte Heilsgeschichte. Der Historismus erobert die Theologie 1880-1920 (Gütersloh 1992) 459f, beruhigt sich letztlich freilich doch bei einem angeblich gescheiterten aporetischen Historismus. 49 Die folgenden Überlegungen sind ausführlicher dargestellt und begründet in: V. Steenblock: Transformationen des Historismus (München 1991) und: Zur Wiederkehr des Historismus in der Gegenwartsphilosophie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 45 (1991) 209-223.

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des Lebens. Das schließt ihrem Historismus als einem fachwissenschaftlichen Paradigma das Tor zur Vielfalt der Phänomene auf; als einer darüber hinausgehenden philosophischen, rationalitätstheoretischen Haltung eröffnet es ihm den Weg, unifizierende Denkzwänge zu überwinden. Hiermit zusammenhängend läßt sich - als zweiter Aspekt - vor allem im Anschluß an Benedetto Croce ein „historisches Immanenzgebot" formulieren, demzufolge „das Leben und die Wirklichkeit Geschichte sind und nichts anderes als Geschichte". 50 Dies bedeutet, wie der deutsche Historiker und Theoretiker Ulrich Muhlack mit allem Recht feststellt, „die totale Historisierung der Wirklichkeit im Gegensatz zu einer Auffassung, die zwischen historischer und überhistorischer Wirklichkeit trennt". Resultat ist eine „immanente Geschichtsbetrachtung im Gegensatz zu einer dualistischen Geschichtsbetrachtung. Die dualistische Geschichtsbetrachtung kennt eine doppelte Realität: auf der einen Seite stehen Übergeschichte, Welt der Ideen und der Werte, vernunftgemäße vollkommene Wirklichkeit; auf der anderen Seite stehen Geschichte, niedere Welt [ . . . ] . Die immanente Geschichtsbetrachtung des Historismus leugnet diese Zweiteilung der Realität. Sie kennt nur eine einzige Realität: die historische".51 Erkenntnistheoretisch gewendet, geraten schließlich - dritter Aspekt - unter den Denkbedingungen des Historismus sowohl ahistorische transzendental- wie (in einem engeren Sinne:) geschichtsphilosophische Positionen ins Wanken. Das „starr(e) und tot(e)" Apriori Kants, die „Bedingungen, unter welchen wir denken" selbst, werden historisiert: „es gibt keine absolute Philosophie." 52 Auch Hegels Vernunftbegriff ist kein historischer im Sinne des .historischen Bewußtseins'. Standardargument der Historisten gegen Hegel ist der Vorwurf einer Vergewaltigung der lebendigen historischen Wirklichkeit durch begrifflichen Deduktivismus. Gegen Hegel hat vor allem Croce ferner eingewandt, die Geschichtsphilosophie behandle die Frage nach der Entwicklung und dem Ziel „als etwas der Geschichte äußerlich Beigegebenes" und trage diese Begriffe wie unabhängige „Wesenheiten" an die Geschichte heran." Bis hierher ist das Bewußtsein gekommen, sagte Hegel am Ende seiner Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: doch er hatte nicht das Recht, es zu sagen, denn seine Entwicklung [ . . . ] ließ keine Fortsetzung zu. Wohl aber dürfen wir es sagen, die wir nunmehr die Abstraktheit des Hegelianismus überwunden haben". 53 Das historische

50 Benedetto Croce: Die Geschichte als Gedanke und Tat (Bern 1944) 69. 51 Muhlack, a. a. O., (wie Anm. 16) 20. - Dissenspunkt mit Muhlack, dem ich seit seiner Münsteraner Gastprofessur eine eindrucksvolle Einführung in den .absoluten Historismus' verdanke, ist für mich lediglich der, daß diese Position mit Croce das .Naturhafte' in der Geschichte nicht anerkennen will und in den sozioökonomischen und anderen strukturellen Faktoren immer nur die Umstände sieht, durch die ein angeblich völlig freies und mit Geschichtlichkeit schlechthin identifiziertes „menschliches Handeln [ . . . ] herausgefordert" (ebd.) wird. 52 Dilthey: Ausarbeitungen und Entwürfe zum zweiten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften. Gesammelte Schriften, Bd. 19, 44, 89f, vgl. 51. - Der Transzendentalphilosoph Hans Michael Baumgartner widerspricht einer solchen .endlichen Vernunft' trotz des Titels seiner Aufsatzsammlung, vgl. H. M. Baumgartner: Endliche Vernunft (Bonn 1991). 53 B. Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie (Teoria e storia della storiografia, ital. erst 1917) (Tübingen 1915) 65f und 9.

Die Legitimität des Historismus

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Bewußtsein protestiert gegen Ansprüche, die ihm nur als semihistorisierte Spätmetaphysik erscheinen können. Der Historismus bestreitet den beanspruchten point des vue, der den Blick auf die Geschichte als .Ganzes' ermöglicht, denn jeder solche Blickpunkt .schwimmt selbst' - damit wird, wie man paradoxerweise formuliert hat, die Geschichte selbst zum .absoluten Begriff': 54 niemand greift aus der historischen Immanenz heraus und faßt eine Ewigkeit an. Indem der Historismus diese Zusammenhänge durchsichtig macht, leistet er historische Aufklärung. Absicht dieser Ausführungen war, den gegenwärtigen Stellenwert der Geschichte im privaten und öffentlichen Leben und in den Geisteswissenschaften anzusprechen, der ohne Rekurs auf den zentralen Begriff des Historismus überhaupt nicht adäquat beschrieben werden kann. Eine .Theorie der historischen Bildung' (Rüsen) hätte nicht nur die legitime Faszination und Kenntnis der Mannigfaltigkeit der Bildungen der menschlich-geschichtlichen Welt und eine materiale Geschichtskenntnis besonders der Durchsetzungsprozesse rechtstaatlicher Normen und Demokratisierungsprozesse sowie die genannten kritisch aufklärenden Potentiale zum Thema zu machen, sie müßte auch darauf verweisen, daß Menschen heute gar nicht anders können, als sich historisch zu orientieren. Möglichkeiten und Grenzen solcher .Orientierung' werden am Ende des 20. Jahrhunderts in den Geisteswissenschaften überhaupt und in der Philosophie diskutiert;55 es wäre auch in historischer Dimension zu zeigen, wo wir zwischen ,Utopie' und ,Ende der Geschichte' 56 stehen.

54 Wilhelm Schmidt-Biggemann: Geschichte als absoluter Begriff (Frankfurt/M. 1991). 55 Vgl. Scholtz: Geisteswissenschaften, a.a.O., 7, 10 und F. Hermanni, V. Steenblock (Hg.): Philosophische Orientierung. Festschr. fürW. Oelmüller (München 1995). 56 Vgl. Rainer Rothermundt: Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Geschichte (Darmstadt 1994); K.-H. Stierle, R. Warning (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform (München 1996); V. Steenblock: Das Ende der Geschichte. Zur Karriere von Begriff und Denkvorstellung im 20. Jahrhundert. In: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994) 333-351.

GUNTER SCHOLTZ

Zum Historismusstreit in der Hermeneutik

1. Sehr oft werden Hermeneutik und Historismus in einen sehr engen Zusammenhang gebracht oder sogar identifiziert, und dies mit verschiedener Intention. So liest man in der Philosophie den Vorwurf, die Hermeneutik sei historistisch, vom Problem des Historismus befallen, und damit ist in der Regel gemeint, daß sie zwar alle Phänomene der Kulturen in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen sich bemühe, aber nie deren Geltung zeigen könne und nie verbindliche systematische Aussagen zur Sache riskiere. Aber man kann die enge Verwandtschaft oder Identität von Hermeneutik und Historismus auch anders, nämlich wie folgt formulieren: Der hermeneutische Historismus oder die historistische Hermeneutik - das ist die Wissenschaftskultur, die sich auf die Vielgestaltigkeit der Kulturen und auf die historische Realität einläßt, diese nicht der Vergessenheit übergibt und so auch den Autoren der Vergangenheit ein Mitspracherecht in der Diskussion der Gegenwart einräumt. Nun entwickelt sich die neuzeitliche Hermeneutik in der Tat zusammen mit dem, was man global den Historismus nennt. Aber sehen wir näher zu, so entdecken wir, daß die Hermeneutiker untereinander in heftige Historismusstreitigkeiten verwickelt sind. So erhebt bekanntlich Gadamer 1 gegenüber Dilthey den Vorwurf, dieser habe sich in die „Aporien des Historismus" verstrickt, und Gadamer beansprucht, die problematische oder gar fatale historistische Hermeneutik, die sich seit der Aufklärung und der Romantik ausbreitete, überwunden zu haben. Noch seine Schüler wie Jean Grondin 2 kritisieren z. B. die Hermeneutik Emilio Bettis als „Spätling des Historismus". Aber auf der anderen Seite liest man, daß Betti 3 seinerseits einen

1 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (Tübingen 2 1965) 205ff. 2 Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik (Darmstadt 1991) 166. 3 Emilio Betti: Teoria generale della interpretazione (Milano 1955), dt. Ausg.: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften (Tübingen 1967) 98ff, 318, 410. Betti distanziert sich hier von Benedetto Croce.

Zum Historismusstreit in der Hermeneutik

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„atomistischen und adialektischen Historismus" kritisiert, und Autoren wie E. D. Hirsch 4 und Hans Albert 5 entdecken gerade bei Gadamer einen hochproblematischen „radikalen Historismus", indem nämlich Gadamer mit seiner These von der Geschichtlichkeit des Verstehens das Ziel eines objektiven, richtigen Erkennens des in Texten gemeinten Sinnes aufgegeben habe. Und Hirsch beansprucht nun seinerseits, solchen Historismus mit seiner Interpretationstheorie überwinden oder vermeiden zu können. Dabei - und das macht das Verständnis der Kontroverse nicht leichter - können beide Parteien dem Historismusbegriff auch einen positiven oder doch neutralen Klang geben. Hirsch nennt an anderer Stelle auch die neuzeitliche Akzeptanz einer pluralistischen, vielgestaltigen Geschichte „Historismus" und verteidigt diese moderne Sichtweise. 6 Und auch Gadamer kann ohne kritischen Akzent die Einsicht in den Wandel und die Divergenz der historischen Welt als Historismus bezeichnen (so, wenn er z. B. über E. Rothacker spricht 7 ); und gelegentlich charakterisiert er Heideggers Theorie der Geschichtlichkeit als „Historismus zweiten Grades", ebenfalls ohne polemische Spitze. 8 In dieser Weise können die Parteien den Historismusbegriff sowohl zur Kritik als auch zur sachlichen oder affirmativen Kennzeichnung von Philosophien einsetzen. Solche Befunde erwecken die Neugier, was „historistisch" und was „der Historismus" eigentlich ist, und man entdeckt: Fragt man nach seinem Wesen, hat man zunächst nicht ein Phänomen vor Augen, das man betrachten und beschreiben kann, sondern nur ein Wort mit sehr verschiedenen Bedeutungen. Viele Begriffe der Geisteswissenschaften entstammen der normalen Sprache und verwandeln sich dann allmählich in definierte Termini oder zumindest in ausdrücklich reflektierte Begriffe. Dazu gehört z. B. das Wort „Geschichte". Andere Begriffe werden außerhalb der normalen Sprache bewußt gebildet und gesetzt, und ein solches Kunstwort ist in der deutschen Sprache „Historismus". Unseres Wissens taucht es erstmals um 1800 auf, und zwar bei Novalis und Friedrich Schlegel. 9 Wir können nicht davon ausgehen, daß diese damit den Wortgebrauch in Gang setzten, vielmehr dürften mehrere Spontanbildungen wahrscheinlich sein. Solche sprachlichen Neuprägungen wie Historismus oder Historizismus entstehen und verbreiten sich nicht ganz zufällig, sondern unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Situationen. Und vielleicht sind diese Um-

4 Eric Donald Hirsch, Jr.: Validy in Interpretation (Yale University 1967), dt. Ausg.: Prinzipien der Interpretation, übers, von A. A. Späth (München 1972) 61ff. Ders.: Truth and Method in Interpretation. In: The Review of Metaphysics 18 (1965) 488-507. Dt. Fassung in: Prinzipien der Interpretation, a.a.O., 301-320: Anhang II: Gadamers Theorie der Interpretation. 5 Hans Albert: Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens (Tübingen 1994) 57, 63, 65 u. ö., siehe Reg. 6 E. D. Hirsch: Three Dimensions of Hermeneutics. In: New Literary History 3 (1971) 245-261, siehe 248. 7 H.-G. Gadamer: Hermeneutik und Historismus. Wahrheit und Methode ( 2 1965) 477-512, siehe 487f. 8 Gadamer: Wahrheit und Methode, 500. 9 Novalis: Schriften, hg. von P. Kluckhohn, R. Samuel, Bd. 3 (= Das philosophische Werk II), 446. Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe hg. von E. Behler, Bd. 16 (1981), 35, 37, 38,41; Bd. 18 (1963), 91,484, 490; Bd. 19 (1971), 184. Siehe dazu und zum folgenden vom Verf.: Historismus, Historizismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter. Bd. 3 (Basel, Stuttgart 1974) 1141-1147, sowie den Beitrag von G. G. Iggers in diesem Band.

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stände und die bestimmte Situation im vorliegenden Fall das, was man am ehesten das Gemeinsame oder die Sache des Historismus nennen könnte. Diese Situation besteht m. E. in der neuzeitlichen Erfahrung vom radikalen Wandel aller menschlichen Dinge, eine Erfahrung, die sich schon in der berühmten französischen Querelle des anciens et des modernes bemerkbar macht. Jetzt kann man zweifeln, ob man überhaupt von der einen menschlichen Welt sprechen kann oder ob im zeitlichen Nacheinander nicht viele solcher Welten entstanden. Ich sage bewußt „neuzeitliche Erfahrung", denn dazu gehört beides: erstens, daß in der Tat sich die menschlichen Verhältnisse auffällig veränderten, und zweitens, daß man dies auch wahrnimmt und weiß und zwar mit säkularisiertem, wissenschaftlichen Bewußtsein. Hätte es nicht eine unleugbare Modernisierung in Wissenschaft, Technik und Kunst gegeben - so steht zu vermuten - , es wäre ebensowenig ein Historismusproblem entstanden wie unter der Voraussetzung eines noch stabilen theologischen Weltbildes. In beiden Fällen wäre nämlich kein ganz radikaler Wandel erfahren worden; die Weltbühne hätte sich weiterhin als ein und dieselbe dargestellt oder ihr Wandel und Wanken wäre auf den verläßlichen Willen Gottes zurückgeführt worden. (Die alte Geschichtstheologie entband noch kein historisches Bewußtsein, wenngleich sie Geschichtswandel kannte. 10 ) Die Begriffsbildung „Historismus" scheint mir also zur Voraussetzung zu haben, daß man von einem rapiden Wandel und von der Vielfalt der menschlichen Verhältnisse ein sehr klares, reflektiertes Bewußtsein hat. In dieser Situation kann man behaupten, die verschiedenen menschlichen Welten seien letztlich nur Evolutionsstufen der Menschheit oder des Geistes oder man kann solche Auffassung als willkürliche Spekulation kritisieren: daraus folgt der Begriff des Historismus als Geschichtsmetaphysik, im affirmativen oder kritischen Sinn.11 Oder man kann anderen vorwerfen, sie verhielten sich gleichsam nicht geschichtskonform und versuchten, gewaltsam Altes, Veraltetes festzuhalten oder sich in die Vergangenheit zurückzuträumen: der Historismus als Konservatismus oder Romantizismus. 12 Oder man kann im Zeichen des Wandels aller Sinnbezüge diejenigen kritisieren, die es bei dem bloßen Wissen von historischen Tatsachen und Geschichtswandel belassen und nicht nach dem Sinn

10 Karl Löwith hat die These aufgestellt, die Geschichtstheologie habe die Geschichtsphilosophie und damit das geschichtliche Bewußtsein in die Welt gebracht, und erst dieses erzeuge überhaupt erst die moderne, sich wandelnde Geschichte: „Am Ende werden wir gar nicht von der Dynamik der Geschichte bewegt, sondern diese von unserem historischen Bewußtsein, von der Art und Weise, wie wir geschichtlich denken." K. Löwith: Die Dynamik der Geschichte und der Historismus (1952). Sämtliche Schriften Bd. 2, 300. Sieht man aber, wie etwa in der bekannten Querelle sich manchen Disputanten der Geschichtswandel und die Verschiedenheit der Epochen wider Willen ins Bewußtsein drängten, kann man Löwiths Auffassung nicht mehr plausibel finden. 11 Christlieb Julius Braniß: Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart als leitende Idee im akademischen Studium. Hodegetische Vorträge (Breslau 1848) 116ff. Siehe dazu vom Verf.: „Historismus" als spekulative Geschichtsphilosophie: Chr. J. Braniß (1792-1873) (Frankfurt/M. 1973) bes. 125ff. Rudolf Haym: Hegel und seine Zeit (Berlin 1857, Repr. Darmstadt 1962) 354, 467. Robert Zimmermann: Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft (Wien 1858) 607ff. 12 Ludwig Feuerbach: Ueber Philosophie und Christenthum (1839). Erläuterungen und Ergänzungen zum Wesen des Christenthums. Sämtliche Werke, Bd. 7, hg. von W. Bolin, Fr. Jodl (Stuttgart-Bad Cannstadt 2 1960) 43f.

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des Geschehens und seiner Bedeutung für uns oder nach dem Überhistorischen fragen: der Historismus qua historischer Positivismus oder Objektivismus.13 Und man kann die angreifen, für die alle Normen - ethische, ästhetische, religiöse, rechtliche, wissenschaftliche usw. - auch nur historisch, im Wandel begriffen und vergänglich sind: die Kritik am Historismus als Relativismus. 14 Aber natürlich kann man auch all das historische Wissen verteidigen, als Form historischer Aufklärung und als notwendig für die Orientierung in den menschlichen Dingen: die Verteidigung des Historismus als historischer Kultur, als Inbegriff soliden und notwendigen historischen Wissens.15 All diese Bedeutungen des Historismusbegriffes finden wir schon im 19. Jahrhundert, und sie spiegeln die verschiedenen Parteien in einer Diskussion, die durch die sich radikal wandelnden menschlichen Verhältnisse in Gang kam; spiegeln insgesamt die entstandene Unsicherheit, welche Stellung man zu der so bewegten historischen Realität einnehmen soll. „Historismus" ist dabei zumeist ein Kampfbegriff gewesen: für Programme - aber auch besonders für die Kritik der Gegner. - Aber man kann sich im Zeichen der bewegten menschlichen Welt und der historischen Aufklärung nicht nur den Vorwurf zuziehen, man sei Historist, sondern auch den ebenso gravierenden Vorwurf, man denke unhistorisch und d. h. man mißachte die historische Realität, die divergenten Verhältnisse und den Wandel der menschlichen Dinge. B. Croce ist gegen solchen „AntiHistorismus" ausdrücklich zu Felde gezogen. 16 Wenn einmal die menschliche Geschichte als divergent und radikal sich wandelnd erkannt wird, scheint es kaum noch eine Möglichkeit zu geben, dem Vorwurf, historistisch oder unhistorisch zu denken, zu entgehen. Wer vom Fortschritt spricht, ist für andere ein Historist qua Geschichtsmetaphysiker; wer Fortschritt und Wandel leugnet oder beklagt, gilt für andere als Historist qua Konservativist; wer wegen des Geschichtswandels keine Orientierungen und keine geltenden Werte mehr akzeptiert, ist Historist als Relativist; wer sich auf historisches Tatsachenwissen konzentriert, ist Historist als Positivist. So dürfte es kaum möglich sein, den oder irgendeinen Historismus zu überwinden, ohne sich den Vorwurf des unhistorischen Denkens einzuhandeln oder sich einer anderen Historismuskritik auszusetzen. Was am Beginn unseres Jahrhunderts als „Historismusproblem" verhandelt wurde, war zumeist der Historismus in der Gestalt des historischen Positivismus und des daraus folgenden historischen Relativismus. Es sind dies auch die wichtigsten Historismusbegriffe, die in

13 L. Feuerbach: Ueber das Wunder (1839), a.a.O., lf. Rudolf Eucken: Geistige Strömungen der Gegenwart (Leipzig 5 1916) 250, 252, 260. Ähnlich wohl auch Karl Lamprecht: Moderne Geschichtswissenschaft (Freiburg i. Br. 1905) 12. 14 So schon der Historismusbegriff bei I. H. Fichte und H. M. Chalybäus. Siehe vom Verf.: „Historismus" als spekulative Geschichtsphilosophie, 133f, 152. Vor allem E. Troeltsch hat - wie auch R. Eucken dann den historischen Relativismus im Visir. Siehe z. B. Emst Troeltsch: Das Neunzehnte Jahrhundert (1913). In: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Gesammelte Schriften, Bd. 4 (Tübingen 1925) 614-649, bes. 626ff. 15 Carl Prantl: Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie (München 1852). Siehe dazu vom Verf.: „Historismus", 131 ff. 16 Benedetto Croce: Anti-Historismus (dt. von K. Voßler). In: Historische Zeitschrift 143 (1931) 457—466.

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jener Kontroverse der Hermeneutiker begegnen. Denn Gadamer wirft Schleiermacher und Dilthey einen Historismus im Sinne eines historischen Objektivismus oder Positivismus vor, d. h. eine Verwissenschaftlichung der Tradition, die bei ihrer Suche nach objektiv richtigen Tatsachenaussagen über Texte die Geltung dieser Texte in Frage stellen muß; die die Tradition objektiviert und damit entmachtet; die nur eine Vielfalt von Meinungen in Erfahrung bringen kann, aber nicht Wahrheit. E. D. Hirsch wiederum erkennt bei Gadamer einen bedenklichen Historismus im Sinne eines Relativismus der Erkenntnis. Denn heißt Verstehen in der Tat „immer anders verstehen", wie Gadamer sagt, dann wird für Hirsch die Idee des richtigen Verstehens aufgegeben, und dies darf man einen historischen Relativismus der Erkenntnis oder der Interpretation nennen. Die philosophische Hermeneutik der Heidegger-Schule also wendet sich gegen den Historismus als historischen Objektivismus und zieht sich selbst den Vorwurf des Historismus als historischen Relativismus zu. Und die Gegenpartei, die eher philologische oder methodologische Hermeneutik z. B. von Betti und Hirsch, wendet sich gegen einen Historismus als Relativismus der Erkenntnis und setzt sich der Kritik aus, einem veralteten Historismus qua Objektivismus anzuhängen. Die erste Hermeneutik erinnert uns nachdrücklich an unsere eigenen geschichtlichen Bedingtheiten, an den historischen Kontext des Interpreten, die zweite aber möchte zuerst und vor allem nicht die geschichtlichen Bedingungen des Interpretandums vergessen lassen. Jener geht es um unser geschichtliches Sein, dieser um unser historisches Wissen. Beide werfen sich in diesem Streit nicht nur Historismus, sondern auch Subjektivismus vor. Für Gadamer ist der ältere Historismus auch subjektivistisch, weil er aus normativen Texten subjektive Meinungskundgaben und das Verstehen von maßgeblichen Traditionen zur Sache der „Einfühlung" und „Kongenialität" mache und so die Tradition der Subjektivität preisgebe. Für Hirsch und Betti aber ist die von Heidegger inspirierte Hermeneutik subjektivistisch, weil sie das Ziel richtigen Verstehens aufgegeben, jede Methodik beiseite gesetzt und so der Beliebigkeit des Interpretierens die Tür geöffnet habe. Darin zeigt sich, daß beide Parteien an einem jeweils anderen Wahrheitsbegriff orientiert sind: Gadamer an einem quasi ontologischen Begriff von Wahrheit (in der Interpretation soll das in Rede stehende Wesen der Sache ans Licht treten), Betti und Hirsch aber am Korrespondenzbegriff (die Interpretation soll mit den Aussagen des Textes übereinstimmen). Diese letztere Partei knüpft dabei bewußt an die Hermeneutik von Schleiermacher und Boeckh an, von der sich Gadamer ebenso ausdrücklich distanziert. Schon daran wird deutlich, daß in dieser Auseinandersetzung der Streit um die traditionelle historische Gelehrtenkultur fortdauert, ein Streit, der in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreichte, und zwar in der „antihistorischen Revolution" der dialektischen Theologie 17 und in der Kritik des jungen Heidegger. Es ist nützlich, diesen Streit, der zentral ein Historismusstreit war, kurz in Erinnerung zu rufen. Bekanntlich artikuliert sich am Ende des 19. Jahrhunderts - bei Nietzsche, aber nicht nur bei ihm - ein Unbehagen an den ausschließlich historisch arbeitenden Geisteswissenschaf-

17 Friedrich Wilhelm Graf: Die „antihistoristische Revolution" in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre. In: Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschr. zum 60. Geburtstag von W. Pannenberg, hg. von J. Röhl, G. Wenz (Göttingen 1988) 377-405.

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ten, und man nennt diese Überfracht an historischem Wissen bald allgemein „Historismus". R. Eucken spricht vom „Zorn gegen den entnervenden Historismus mit seiner Verstrickung in ein Halbleben" und E. Troeltsch ganz ähnlich vom Historismus als historischem Relativismus, der „die allbekannten Erscheinungen der Müdigkeit und Blasiertheit" hervorgebracht habe, den „ermüdenden Eindruck historischer Aller-Welts-Kenntnis und skeptischer Unproduktivität für die Gegenwart". 18 Man ist der Überzeugung, viel, ja viel zu viel historisches Wissen zu besitzen und dabei das verloren zu haben, was zu wissen nottut. Der Historismus als Objektivismus und Relativismus scheint die Geisteswissenschaften und die Kultur insgesamt in eine Wüste geführt und Verwirrung gezeitigt zu haben. Über die Berechtigung und die Ursachen dieser Sichtweise dürfte manches zu sagen sein; 19 ich beschränke mich auf den Hinweis, daß diese Klage in einer Zeit stattfindet, in welcher die praktische Philosophie und die materiale Geschichtsphilosophie in Deutschland fast ganz zusammengebrochen sind. Für die Organisation von historischem Wissen und die Orientierung in ihm bot sich jetzt vor allem der Nationalstaat an, und deshalb finden wir im Kontext des nationalen oder nationalistischen Denkens keine Historismusklagen. Wichtiger für die Hermeneutik sind die philosophischen Antworten, die jenes Historismusproblem zu bewältigen suchten. Ich wähle die beiden wichtigsten aus: Zum einen sucht man aufs neue Halt an überhistorischen, allgemeingültigen Werten, und diesen traditionellen Weg beschreiten der Neukantianismus (H. Rickert) 20 und die Phänomenologie (E. Husserl) 21 . Zum anderen tritt man eine Art Flucht nach vorn an, hin zum Leben und zur Gegenwart, zur geschehenden Geschichte. Jene erste philosophische Richtung wird sich bald den Vorwurf des ungeschichtlichen Denkens zuziehen; die zweite aber, die sich mit dem unabweisbaren Fluß der Geschichte zu arrangieren sucht, indem sie in ihn eintaucht und in ihm mitschwimmt, begründet einen neuen, philosophischen Historismus - wenngleich sie selbst oft diesen Ausdruck scheut und lieber von der „Geschichtlichkeit" des menschlichen Daseins spricht. Für Nietzsche ist historisches Wissen nur dann gerechtfertigt, wenn es dem gegenwärtigen Leben dient, 22 und für Croce ist ganz analog Geschichtsschreibung nur dann keine tote Chronik, wenn sie die gegenwärtige Praxis erhellt.23 An die Stelle der Ausrichtung auf das Totum der Vergangenheit tritt die Orientierung an den bestimmten Aufgaben der Gegenwart. Croce nennt diese seine Philosophie, welche die bedrückende Fülle nutzloser historischer Kenntnisse und damit den Historismus qua Positivismus überwindet, storicismo. Denn die Gegenwart ist für ihn nicht statisch und geschichtslos, sondern selbst in beständigem Wer-

18 R. Eucken, a. a.O., 259; E. Troeltsch, a. a.O. 19 Siehe dazu vom Verf.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M. 1991) bes. 49ff, 158ff. 20 Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (Tübingen 2 1913), Historismus: S. 8. 21 Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft. In: Logos 1 (1911) 289-341, bes. 323ff. 22 F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Werke, hg. von K. Schlechta, Bd. 1, 208-285. 23 Benedetto Croce: Zur Theorie und Geschichte der Historiographie (1915). Gesammelte philosophische Schriften, Rhe. 1, Bd. 4 (Tübingen 1930) 3-127. Ders.: La storia come pensiero e come azione (1938). Dt.: Die Geschichte als Gedanke und als Tat, übers, von F. Bondy, Einführung von H. Barth (Bern 1944).

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den und Wandel begriffen. Croce also bringt an die Stelle des Wissens von Fakten der Vergangenheit das Wissen des sich selbst gegenwärtigen geschichtlichen Geistes: eine Überwindung des beklagten Historismus durch einen neuen. Dieser neue Historismus empfiehlt sich durch zwei Züge: Er reduziert erstens die als Bedrückung empfundene Fülle an historischer Tatsachenkenntnis, erleichtert die „Last von Geschichte", von der schon Kant gesprochen hatte, 24 und er verknüpft dabei zweitens Tatsachen und Werte; was nämlich bloß eine das Gedächtnis belastende Tatsache ist und sich nicht für das Verständnis der Gegenwart als wertvoll erweist, das gehört zu jenen toten Geschichten, die den lebendigen Geist nichts angehen. Croce hat dieser Konzeption das methodische Instrumentarium der Geschichtswissenschaft - und d. h. für ihn vor allem die Philologie - noch integriert. Das ist bei Heidegger, der die neuere philosophische Hermeneutik auf den Weg brachte, anders. Er vollzieht eine ganz ähnliche Gedankenbewegung wie Croce, nur stößt er dabei die gesamte traditionelle Gelehrtenkultur beiseite; und er tut das durch den Rückgang auf das sich selbst verstehende geschichtliche Dasein, auf das „faktische Verstehen im Angesicht der faktischen Sorgens- und Bekümmerungszusammenhänge des eigenen Lebens", also durch die These, historische Texte zu verstehen und sich selbst zu verstehen seien zwei Seiten desselben Vorgangs.25 „Geschichte" wird nun ganz reduziert auf das, was das Dasein unmittelbar betrifft, was es existentiell mehr selbst vollzieht als bloß nachvollzieht. Das ist Heideggers Reaktion auf den Historismus qua historischen Objektivismus des 19. Jahrhunderts, und seine Antwort hat gar nicht den Ehrgeiz, dabei dem Historismus als Relativismus aus dem Weg zu gehen. Im Gegenteil verhöhnt er den Neukantianismus und die Dilthey-Schule, die den,.Historismus" fürchten und noch das „Zeitlose" im Historischen oder darüber suchen, als „Piatonismus der Barbaren". 26 Es wird in seinen frühen Vorlesungen sehr deutlich, daß er den Wandel der Geschichte, den Historismus als historistischen Relativismus, gar nicht überwinden will, sondern ihn zum Prinzip macht, und eben dies meint seine These von der „Geschichtlichkeit des Daseins".27 Heideggers Feind aber ist der Historismus als historischer Objektivismus, als methodisch verfahrende Geschichtswissenschaft, denn diesem Historismus ist es für Heidegger zuzuschreiben, daß die Geschichte dem Dasein „entfremdet" und d. h. zum bloßen Wissenschaftsgegenstand wurde: „Am Ende ist das Aufkommen eines Problems des .Historismus' das deutlichste Anzeichen dafür, daß die Historie [= die professionelle Geschichtsschreibung] das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu entfremden trachtet."28 Heideggers Daseinsanalyse, welche die Geschichtlichkeit des Menschen als ein „Existential" ausweist, ist also in gleicher Weise ein Historismus wie der storicismo Croces; beide

24 I. Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784). Akademie-Ausg. Bd. 8, 30. 25 Martin Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung (1921/22). Gesamtausg. II. Abt., Bd. 61,169. 26 Heidegger: Ontotogie (Hermeneutik der Faktizität) (1923). Gesamtausg. II. Abt., Bd. 63, 42. 27 Siehe bes. Heideggers Stellungnahme zum Relativismusproblem in: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles, a. a.O., 162ff. Vgl. Karl Löwith: Heidegger hat den „Historismus radikalisiert und dadurch scheinbar zum Stehen gebracht". A. a.O., 309. 28 Heidegger: Sein und Zeit (1927) (Tübingen 1960) 396.

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haben den Wandel der menschlichen Welt als unhintergehbar akzeptiert und zur Grundlage ihres Denkens gemacht, und beide Philosophien stellen eine Form des „Präsentismus" dar, in dem historisches Wissen allein auf die Erhellung des gegenwärtigen Geistes oder Daseins zentriert wird (mag dies auch primär durch seinen Zukunftsbezug bestimmt werden). Schon von hier aus wird deutlich, warum Gadamer Heideggers Theorie der Geschichtlichkeit mit gutem Grund einen „Historismus zweiten Grades" nennt: Heidegger hat erkannt, daß man über den Historismus als Relativismus, als Übergängigkeit aller menschlichen Verhältnisse, gar nicht hinauskommen kann, weil dieser Historismus in der Bewegtheit des Daseins wurzelt. Also ist es nicht sinnvoll, solchen Historismus überwinden zu wollen, man muß ihn vielmehr zum Prinzip machen: das einzig Sichere ist das Wissen von der Unsicherheit des Daseins, eben seiner Geschichtlichkeit. Der Historismus zweiten Grades, die Theorie der Geschichtlichkeit, ist also nur eine reflektierte, durchdachte Gestalt des Historismus als Relativismus. 29 Auch Gadamers eigene Hermeneutik - so dürfen wir hinzufügen - ist eine Gestalt dieses „Historismus zweiten Grades"; und deshalb haben z. B. Hirsch und H. Albert auch mit Recht Gadamer einen Historisten genannt.30 Für die hermeneutischen Kontroversen ist es wichtig zu sehen, wie sich durch den neuen Präsentismus der Begriff von Wahrheit änderte. Schon bei Croce kann im emphatischen Sinn „wahr" nur die Geschichte genannt werden, die nicht bloß „richtig" ist, sondern Licht in die gegenwärtige Praxis trägt; in dieser Weise wird die Wahrheit der Aussage, d. h. Wahrheit im Sinne von Korrespondenz mit der Wahrheit als Evidenz verknüpft. Heidegger hat den letzten Aspekt in Sein und Zeit ausgearbeitet und auch nur diesen übriggelassen. Der Korrespondenzbegriff von Wahrheit, der eine richtige Aussage über die Realität (sei sie auch vergangen) forderte, ist ganz einer Evidenztheorie gewichen, in der zudem - wie Tugendhat zeigte - die „Sache selbst" problematisch wurde. 31 Damit sind alle geisteswissenschaftlichen Methodologien tendenziell verabschiedet; geisteswissenschaftliche Wahrheit ist solche, die sich gerade nicht methodisch erreichen und kontrollieren läßt. Kann eine methodologische Hermeneutik jetzt noch eine sinnvolle Aufgabe erfüllen? Gadamer hat uns darüber im Unklaren gelassen und nur betont, daß es ihm um eine solche nicht zu tun sei.32 Zuweilen räumt er ein, daß man freilich auch Methoden brauche. Aber sollte dies zutreffen, hätte er dann nicht die philologische Hermeneutik seiner eigenen philosophischen Hermeneutik integrieren müssen? M. W. hat er aber nirgends gezeigt, was etwa an dem umfänglichen Werk Bettis unaufgebbar sei.33 Vielleicht wäre es für Gadamer deshalb konsequenter gewesen zu sagen, die traditionelle Hermeneutik sei durch die Einsicht in die radikale Geschicht-

29 Wahrheit und Methode, a. a.O., 500. 30 Gadamer verweist als Vergleich zu Heideggers Historismus auf den „dynamischen Historismus" Fr. Meineckes (ebd.), so daß auch er schon den Unterschied zwischen dem Historismus ersten und zweiten Grades aufhebt. 31 Emst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger (Berlin 2 1970). 32 Gadamer, a.a.O., S. XIVf. 33 Gadamers Kritik an Bettis „romantischem Psychologismus" und „Subjektivismus" bes. a. a.O., 482ff. Auch J. Grondin räumt die Notwendigkeit von Methoden ein, um dann den Methodologen Betti nur zu kritisieren (Einführung in die philosophische Hermeneutik, a. a.O.).

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lichkeit des Dasein als ein historisch bedingtes Produkt entlarvt und so außer Kraft gesetzt. Seine Kennzeichnung der romantischen Hermeneutik als Fortsetzung der (überwundenen oder noch zu überwindenden) Aufklärung zeigt in diese Richtung. Genau wie Croce hat Gadamer die Unterscheidung von Tatsachen und Werten aufgelöst. Wir verstehen Texte überhaupt nur dann, wenn wir nicht nur einen bestimmten Sinn identifizieren, sondern wenn sich dieser Text in der Anwendung auf unsere gegenwärtige Situation als erhellend und wahr erweist. Auch Gadamer rezipiert den Evidenzbegriff von Wahrheit, den der späte Heidegger zur „Lichtung des Seins" umformuliert hatte.34 Und so geht es ihm gar nicht um wahre Aussagen über Texte, sondern um die Wahrheit der Texte, und diese Wahrheit leuchtet nur ein, wenn sie die gegenwärtige Situation erleuchtet. Denn wir haben nach dieser Auffassung ein Verständnis unserer Gegenwart nur aufgrund unseres Traditionsverständnisses, und diese Tradition verstehen wir nur durch ihre Applikation auf die Gegenwart; - noch wie beim jungen Heidegger sind Selbstverständnis und Textverständnis nicht voneinander ablösbar. - Aber mit dieser Philosophie haben sich viele Methodologen nicht zufrieden gegeben, sondern wieder an die ältere Hermeneutik angeknüpft. Dem neueren Interesse an der Aufklärungshermeneutik liegt ganz offensichtlich ebenfalls ein Ungenügen an der Hermeneutik aus der Heidegger-Schule zugrunde.35 Nun könnte man sagen, es gäbe in einer pluralistischen Welt eben auch mehrere Hermeneutiken, und damit müsse man sich abfinden, weil es eben verschiedene Wissenschaftsauffassungen gäbe. Aber dann hat man die Möglichkeit einer Verständigung bestritten, auf der jene beiden hermeneutischen Parteien bestehen. Oder man könnte auf den Gedanken kommen, vielleicht hätten beide recht, akzentuierten nur je eine verschiedene Seite der Sache. Aber dann muß man zu den Aussagen der Parteien Stellung beziehen, die die Unvereinbarkeit betonen: Gadamer hat nie widerrufen, daß die ältere Hermeneutik mit ihrem Objektivitätsanspruch „fragwürdig" sei und bei Dilthey in „Aporien" gerate, und ebenso eindeutig heißt es bei H. Albert - hier übrigens in Übereinstimmung mit K.-0. Apel 36 - , daß die Heideggersche Hermeneutik das Verfahren der Auslegung,.korrumpiere". 37 Man kann jene beiden Hermeneutiken übrigens in zwei Interpretationsformen wiederfinden, die L. Geldsetzer für die Philosophiegeschichtsschreibung unterschieden und gerechtfertigt hat: Es gäbe eine „zetetische" Interpretation, die nur auf wahre Interpretationen abziele, und eine „dogmati-

34 Siehe besonders J. Grondin: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers (Weinheim 2 1994). 35 Axel Bühler (Hg.): Unzeitgemäße Hermeneutik. Verstehen und Interpretation im Denken der Aufklärung (Frankfurt/M. 1994). Siehe dazu die Diskussion zwischen Harald Schnur und Oliver R. Scholz in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 21 (1996) 147-155, 156-162. Dort weitere Literatur. 36 „Die hermeneutischen Geisteswissenschaften werden m. E. durch die (existentialistische oder auch marxistische) Zumutung einer verbindlichen Applikation ihres Verstehens genauso ideologisch korrumpiert wie durch die positivistische Verdrängung des geschichtlichen Engagements als einer Bedingung der Möglichkeit ihres Verstehens von Sinn." Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 2: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft (Frankfurt/M. 1973) 120. 37 H. Albert, a.a.O., z . B . 25.

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sehe", die nicht wahr, dafür aber anwendungsbezogen und fruchtbar zu sein beanspruche. 38 Die erste entspricht der methodologischen Hermeneutik, die zweite der philosophischen. Hält man jene Unterscheidung für plausibel, so wird ihr doch vermutlich besonders der philosophische Hermeneutiker Gadamer nicht zustimmen wollen, da der dogmatischen Interpretation die Wahrheit abgesprochen wird. Und es dürfte in der Tat eine gewisse Beunruhigung bedeuten, wenn fruchtbare Interpretationen unser wissenschaftliches Gewissen verletzen. So scheint man im 20. Jahrhundert vor die Alternative gestellt zu sein, entweder einen Historismus zu bejahen, der einem zwar keine richtigen Interpretationen gewährt, aber dafür ein orientierendes Verständnis der eigenen geschichtlichen Situation vermittelt, oder sich zu einem Historismus zu bekennen, der eine Fülle (annähernd) richtiger Interpretationen verspricht, aber dafür nichts über die Wahrheit des Interpretandums zu sagen weiß. Die erste Hermeneutik macht uns Mut, der Tradition zu vertrauen, die zweite, unserem methodischen, kritischen Verstand. Und in dieser Alternative dürfte sich eine typische Spannung der Geisteswissenschaften zeigen: Was sie an Objektivität und Wissenschaftlichkeit gewinnen, scheinen sie an Orientierungskraft zu verlieren und vice versa.

2. Es ist schon viel gewonnen, wenn man sich von der gängigen Auffassung verabschiedet hat, es gebe die Hermeneutik, die leider - oder glücklicherweise - historistisch sei, denn solche Vereinfachungen schaffen nur Unklarheit und rufen unnötige Polemiken hervor. Und vielleicht sollte man es bei vorstehendem Klärungsversuch belassen. Allerdings provoziert natürlich jener Streit der Hermeneuten auch zur eigenen Stellungnahme, und viele Geisteswissenschaftler dürften sich auch für die eine oder andere Lösung schon entschieden haben. Kann doch die Frage nach der Möglichkeit von richtigen Interpretationen nicht als veraltet gelten. Schließlich hängt von ihr auch die Möglichkeit der Geschichtsschreibung ab. Angesichts neuer Tendenzen sah sich z. B. U. Eco genötigt, ausführlich gegen die Auffassung Stellung zu beziehen, für die ein Text einem Picknick gleicht, zu dem der Autor nur die Schüsseln (die Wörter), der Leser aber das Menü (den Sinn) beisteuere.39 Konstruktivismus und Dekonstruktivismus haben beide weit über Heidegger und Gadamer hinaus den Gedan-

38 Lutz Geldsetzer: Fragen der Hermeneutik der Philosophiegeschichtsschreibung. In: G. Santinello (Hg.): La storiografia filosofica e la sua storia (Padua 1982) 67-102. 39 Umberto Eco: I limiti dell'interpretazione (Milano 1990). Dt.: Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Ital. von G. Memmert (München, Wien 1992) Zit. 77. Ders.: Interpretation and Overinterpretation (Cambridge 1992). Dt.: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. Mit Einwürfen von Richard Rorty, Jonathan Culler, Christine Brook-Rose und Stefan Collini. Aus dem Engl, von H. G. Holl (München, Wien 1994) 30. Eco bezieht sich mit dem Picknick-Vergleich auf T. Toderov, der wiederum ein Wort von G. Chr. Lichtenberg über Jakob Böhme aufnimmt. Auch E. D. Hirsch hat mit diesem Vergleich, den er bei Northop Frye zitiert, bezeichnet, was er angreift (Prinzipien der Interpretation, 15). Siehe Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher. Schriften und Briefe, Bd. 1 (München 1968) 363.

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ken einer objektiv richtigen Interpretation so sehr in Zweifel gezogen, daß nun das Problem in ganz neuer Dringlichkeit vor Augen steht. Deshalb greife ich im folgenden mit einigen Argumenten auch selbst in jene Historismusdiskussion ein. Zunächst spricht so viel für die Gadamerscher Hermeneutik und ihre These von der Geschichtlichkeit des Verstehens, daß es wenig Sinn zu haben scheint, sich gegen ihre Einsichten zu sträuben. Denn in der Tat: jede Rezeptionsgeschichte führt uns vor Augen, daß in allen Phasen ältere Texte neu und anders interpretiert wurden. Und wer wollte leugnen, daß neue Interessen und neu entstandene Fragen und Probleme stets die Geschichte der Vergangenheit haben umschreiben und reinterpretieren lassen? Alles historische Wissen und jede Auslegung hängen ganz evident von denen ab, die sie betreiben, und die sind abhängig von ihrer historischen Situation. Warum sollte man bei dieser Sachlage an dem Phantom von Objektivität festhalten? Ist es nicht sinnvoller, den Verstehenswandel als typisches Charakteristikum der Geisteswissenschaften und die historische Standortgebundenheit geradezu als Bedingung des Verstehens zu akzeptieren? Wo hat denn je das überhistorische, dem geschichtlichen Fluß und den historischen Bedingungen enthobene Erkenntnissubjekt existiert und wo könnte es zu suchen sein, dem eine objektiv richtige Erkenntnis von Phänomenen der Geschichte zuzutrauen wäre? Und ist es nicht das Bedürfnis, nützliches und orientierendes Wissen zu erhalten anstelle eines bloß objektiven, richtigen, toten? Doch wenn wir uns die Philosophie der Geschichtlichkeit der Heidegger-Schule näher ansehen, bekommen wir Zweifel, ob sie wirklich alles „objektive" historische Wissen und alle Konstanten aus der Hand gegeben hat. Denn jene Auffassung von der Geschichtlichkeit des Verstehens ergibt sich doch durch das unleugbare Wissen davon, daß dieselben Phänomene immer verschieden interpretiert wurden. Wären uns die vorliegenden Interpretationen mit ihren unterschiedlichen Auffassungen gar nicht zugänglich, wären auch sie durch unsere Situation gänzlich gefiltert oder eingefärbt, kaum könnten wir uns sicher sein, daß sich etwas änderte. Tatsächlich hat ja auch der Historismus als historischer Objektivismus erst ein historisches Bewußtsein vom Fluß der Geschichte und der Änderung der Interpretationen erarbeitet. R. Koselleck hat das am Beispiel der Deutung von Altdorfers Bild die Alexanderschlacht vor Augen geführt. 40 Und dieser Historismus hat auch die stets notwendige Reinterpretation der Vergangenheit betont. Eine wirkliche Einsicht in unsere „Geschichtlichkeit" besitzen wir also nur aufgrund annähernd richtiger historischer Erkenntnis, und deren Möglichkeit setzen wir auch für jede Rezeptionsgeschichte voraus. Mag, wie Heidegger annimmt, 41 der Mensch für die Erfahrung seiner Geschichtlichkeit keine Historie benötigen, so geht die Theorie seiner prinzipiellen Geschichtlichkeit doch erst aus dem Historismus qua Objektivismus hervor, wie man auch an der Ausbildung des Geschichtlichkeitsbegriffes bei Yorck und Dilthey ablesen kann. 42

40 Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft in der frühen Neuzeit. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt/M. 1977) 17ff. 41 Heidegger: Sein und Zeit, 396. 42 Leonhard von Renthe-Fink: Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck (Göttingen 2 1968).

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Wenn Gadamer an Dilthey den Vorwurf richtet, dieser habe sich in die „Aporien des Historismus" verstrickt, so meint er, die Bewegtheit des Lebens und das Ziel objektiven Verstehens gerieten bei Dilthey in Widerspruch. Heidegger hat dies Problem dadurch überwunden, daß er Diltheys Denken radikalisierte, das Ziel objektiven historischen Wissens beiseite setzte und nur an der Bewegtheit des Daseins festhielt. Die Frage ist, ob er dadurch nicht in eine neue, andere Aporie geriet. Max Scheler hatte schon 1926 behauptet, der Historismus habe durch Radikalisierung seine Selbstaufhebung herbeigeführt; denn wenn er die Möglichkeit des Wissens von objektiven historischen Tatbeständen bezweifelte, habe er seine Bedingung in Zweifel gezogen und seinen Relativismus selbst relativiert. Scheler schließt, dadurch sei der Weg zur Metaphysik wieder frei. 43 Heidegger will zwar auch die Metaphysik überwinden, aber seine Radikalisierung des Historismus endet im Sinne des Schelerschen Gedankens immerhin in einer neuen Ontologie, der „Fundamentalontologie". Aber heißt das nicht, daß die Theorie der Geschichtlichkeit selbst ungeschichtlich ist? Alles wird dem Fluß der Geschichte unterworfen - aber die Einsicht in diesen Fluß und seine Quelle präsentiert sich als bleibende fundamentalontologische Wahrheit. Da diese Ontologie mit dem Anspruch schlechthinniger Evidenz auftritt, haben wir hier eine wirkliche Aporie vor uns, 4 4 während Dilthey nur meinte, daß die Geisteswissenschaften trotz des bewegten Lebens ein richtiges Verstehen suchten 45 Gadamer allerdings nimmt keinen Anstoß an Heideggers Ontologie, sondern kommentiert: Es ist sozusagen ein Historismus zweiten Grades, der nicht nur die geschichtliche Relativität aller Erkenntnis dem absoluten Wahrheitsanspruch entgegenstellt, sondern ihren Grund, die Geschichtlichkeit des erkennenden Subjekts, denkt und deshalb geschichtliche Relativität nicht mehr als Einschränkung der Wahrheit ansehen kann 4 6 Hegel hatte bekanntlich gesagt, man sei durch das Denken einer Grenze schon über sie hinaus; und das hieße für den Historismus, daß durch das Denken der historischen Relativität schon mehr als diese Relativität anerkannt ist. Gadamer aber findet offensichtlich, man sei durch das Denken der Grenze mit ihr versöhnt und könne sich jetzt auch mit einer „bloß geschichtlichen Wahrheit" begnügen. Deshalb lesen wir denn auch bei ihm: „Ich glaube, man kann prinzipiell sagen: es kann keine Aussage geben, die schlechthin wahr ist." 4 7 Doch sollte dies auch für diesen Satz gelten? - Schon der junge Heidegger hatte in seiner Auseinandersetzung mit dem Relativismusproblem gegen den „Witz" polemisiert, die Leugnung

43 Max Scheler: Die Wissensformen und die Gesellschaft (1926). Werke, Bd. 8, 150ff. 44 So auch Karlfried Gründer: Martin Heideggers Wissenschaftskritik in ihren geschichtlichen Zusammenhängen. In: ders.: Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte (Göttingen 1982) 29-47, bes. 40. 45 Siehe Frithjof Rodis Auseinandersetzung mit Gadamer: Traditionelle und philosophische Hermeneutik. Bemerkungen zu einer problematischen Unterscheidung. In: ders.: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts (Frankfurt/M. 1990) 89-101, bes. 95ff. 46 Gadamer: Wahrheit und Methode, 500. 47 Gadamer: Was ist Wahrheit? In: ders.: Kleine Schriften I: Philosophie (Tübingen 1967) 46-58, zit. 53.

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absoluter Wahrheiten führe in einen Selbstwiderspruch; 48 es sei unphilosophisch, mit bloß formallogischen Argumenten solche Konsequenzen zu ziehen. Aber vielleicht ist es ein noch bedenklicherer Witz, das Problem des Selbstwiderspruches so schnell beiseiteschaffen zu wollen. Deshalb bleibt der Verdacht, daß der radikalisierte Historismus in eine unhistorische Ontologie und in den Selbstwiderspruch einmündet. Auch nach Hans Jonas betreibt ein „radikaler Historismus" (im Sinne eines historischen Skeptizismus) „ein Spiel mit dem absoluten Paradox" und führe „zum Standpunkt völliger Ahistorizität".49 Gadamer hat denn auch die These von der Geschichtlichkeit des Daseins wieder eingeschränkt. Heideggers Historismus laufe nicht auf die Leugnung des Ewigen und Zeitlosen hinaus, sondern dies sei auf dem Boden der Funtamentalonotologie „erst richtig bestimmbar". 50 Der Zweifel, ob denn in der Heidegger-Schule wirklich mit der Geschichtlichkeit des Daseins und des Verstehens und das heißt mit dem Wandel der menschlichen Welt ganz ernst gemacht werden konnte, verstärkt sich, wenn man auf den Traditionsbezug dieser Schule achtet. Denn weit entfernt, einen prinzipiellen Wandel der menschlichen Dinge, d. h. Epochenbrüche zu akzeptieren, die alle Texte der Vergangenheit in unwiederbringliche Ferne gerückt und für uns ganz entmachtet haben, hält gerade diese Schule an der normativen Geltung auch sehr alter Traditionsbestände fest. Deshalb heißt „Geschichtlichkeit" (oder Historismus) hier eher „Traditionsgebundenheit" als die Akzeptanz von radikalem Geschichtswandel. Heidegger entdeckt die Wahrheit ja oft gerade bei den Vorsokratikern, und was wir unter „Wahrheit" denken müssen, erhellt er durch eine Aristoteles-Interpretation. Über den großen Abstand der Zeiten hinweg läßt sich für ihn aus dem Denken der Alten noch immer Wahrheit schöpfen. Gadamers gesamte Hermeneutik ist dann bewußt am antiken Wissensparadigma orientiert; denn während für Gadamer wir Modernen „in die Aporien des Subjektivismus verstrickt" sind, konnten die Griechen noch die „übersubjektiven Mächte begreifen, die die Geschichte beherrschen"; während wir Subjekt und Objekt, Methode und Gegenstand trennen, sah ihr Denken „sich vielmehr von vornherein als ein Moment am Sein selbst", 51 und dies müssen wir zum Vorbild nehmen. Versucht man, die Parteien der Querelle des anciens et des modernes im neueren Hermeneutikerstreit wiederzuerkennen, wird man ziemlich eindeutig die Heidegger-Schule, die die Geschichtlichkeit zum Prinzip macht, als die Partei der anciens bezeichnen müssen, für die

48 Heidegger: Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. GA II. Abt., Bd. 61, 163f. 49 Hans Jonas: Wandel und Bestand. Vom Grunde der Verstehbarkeit des Geschichtlichen. In: ders.: Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen (Frankfurt/M. 1994) 50-80, zit. 55ff. 50 Gadamer: Wahrheit und Methode, 500 (Anm. 2). - In seinem RGG-Artikel über den Historismus erklärt sich Gadamer anders. Er nennt schon hier als Antwort auf den Historismus neben der Rückkehr zum Naturrecht den „Historismus zweiten Grades", in welchem „der Relativismus nicht als eine zu überwindende Aufgabe, sondern als die notwendige Struktur der geschichtlichen Endlichkeit des Menschen gedacht wird." Dieser Position habe M. Scheler mit dem Begriff der „Daseinsrelativität" vorgearbeitet und besonders Heidegger mit seiner Destruktion der Metaphysik: „Denn mit dem Begriff des Vorhandenseins wird auch dem des Absoluten und damit dem Einwand des Relativismus der Boden entzogen." Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 3 (Tübingen 3 1959) 370f. 51 A.a.O., 436.

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noch immer das Wissen der Alten normative Geltung hat. 52 Die modernes hingegen sind durch die repräsentiert, welche nicht auf Methodik und auf die Idee objektiven Interpretierens verzichten wollen. Man vergleiche als Beispiel auch die vorbildliche Stellung, die für Gadamer noch immer die Aristotelische Ethik hat, mit Schleiermachers grundsätzlicher Revision dieser Ethik und der Kritik, die er an Piatons Staat übt. Nur für Schleiermacher ist unwiderruflich und unabänderlich die moderne Welt eine gänzlich andere als die Antike; vom Altertum und seinem Denken hat man zwar Kenntnisse, aber man kann dies Denken nicht mehr stets zum Vorbild nehmen. Deshalb ist Gadamers These von der Geschichtlichkeit des Verstehens nicht gar so radikal, wie sie zuerst erscheint. Die Tradition bleibt erhalten und soll es bleiben, nur stets in etwas anderer Form: eadem, sed aliter. Denn nur wie interpretiert wird, ändert sich; was interpretiert wird, ist weitgehend dasselbe. Es sind die Klassiker, die eine bestimmte Tradition repräsentieren. Freilich hat die Position der anciens schon bei Heidegger eine neue und zwar typisch romantische Gestalt. Denn nicht meint er, das Denken der Alten sei allgemein gültig geblieben, sondern man müsse zu den ganz Alten zurückkehren und dies Denken der„Frühe" solle und werde wiederkommen. Karlfried Gründer hat in einem Aufsatz über Heideggers Wissenschaftskritik das Charakteristikum dieses „Seinsdenkens" herausgestellt. 53 Das philosophische Geschichtsdenken nimmt hier Formalstrukturen des christlichen Glaubens in sich auf und hofft auf die unverfügbare, gnadenhafte und geschichtliche „Ankunft des Seins". Wissenschaft erscheint im Kontext solchen Denkens nur als das, was den Rückgang zum heilen Ursprung und die erhoffte Ankunft des Seins gerade verhindert. Dies zeigt sich besonders deutlich auch an Heideggers Stellungnahme zum „Historismus" in seiner Spätphilosophie: Der „Wille zum Willen", der die Metaphysik und dann die modernen Wissenschaften hervortreibt, so lesen wir in Überwindung der Metaphysik, „verhärtet alles in das Geschichtslose. Dessen Folge ist das Ungeschichtliche. Dessen Kennzeichen ist die Historie. Deren Ratlosigkeit ist der Historismus." Unter Historismus versteht Heidegger die moderne Geschichtswissenschaft, die aporetisch und prekär wurde, weil sie das „Geschick" und das „Ereignis" nicht denken könne. 54 Das wird noch deutlicher in seiner Abhandlung Der Spruch des Anaximander von 1946:

52 Ich bin mir bewußt, daß dies nicht Gadamers Selbstverständnis ist. In einem späten Aufsatz über „Geschichtlichkeit und Wahrheit" von 1991 hat er wissen lassen, die Querelle sei sein „Lebensthema" gewesen (Ges. Werke, Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, 247-258). Gadamer schließt sich hier Goethe an. Dessen Diktum „Jeder sei ein Grieche, aber er sei es" meine, daß man die Griechen nicht mehr nachahmen dürfe und es kein „Zurück" gebe (251). Goethe und Gadamer wären demnach Vertreter der Moderne. Aber ich habe Zweifel. Denn nie hätten die „Modernen" der Goethezeit solchen Satz geäußert, und Goethe nannte das Moderne seiner Zeit, das Romantische, „krank"; Gadamer bekämpft ganz analog den modernen Subjektivismus. Deshalb vertreten beide eher die Partei der anciens. Man sieht es auch an Gadamers Darstellung des Historismusproblems: Es entstamme der Antike und könne nur durch Rückgang zu Piaton und Aristoteles gelöst werden (251, 257). Warum? „Hier stellt sich überhaupt nicht das Relativismusproblem." (258) 53 K.Gründer, a.a.O., 41 ff. 54 Heidegger: Vorträge und Aufsätze (Pfullingen 2 1959) 80.

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Alle Historie errechnet das Kommende aus ihren durch die Gegenwart bestimmten Bildern vom Vergangenen. Die Historie ist die ständige Zerstörung der Zukunft und des geschichtlichen Bezuges zur Ankunft des Geschickes. Der Historismus ist heute nicht nur nicht überwunden, sondern er tritt jetzt erst in das Stadium seiner Ausbreitung und Verfestigung. Die technische Organisation der Weltöffentlichkeit durch den Rundfunk und die bereits nachhinkende Presse ist die eigentliche Herrschaftsform des Historismus.55 Der unbefangene Leser ist befremdet, wie hier auch die Geschichtsschreibung ganz offensichtlich den mathematischen und auf Verfügung der Welt abzielenden Naturwissenschaften zugeschlagen wird. Dazu kommt es, wenn man wie Heidegger nur „berechnendes" und „besinnliches" Denken meint unterscheiden zu müssen. Dann erhält man auf der einen Seite rationale Wissenschaften und auf der anderen ein poetisierendes Denken - eine Reduktion der Wissenschaftskultur, die der Positivismus mit Heidegger und vielen Gestaltungen der sog. Postmoderne teilt. Nicht mehr gibt es Natur-, Geistes-, Sozialwissenschaften und Literatur/Dichtung, sondern nur Wissenschaft und Denken (bzw. Literatur). Schon Heidegger aber konnte diese Konzeption nicht durchhalten; er nahm in der zitierten Abhandlung philologisches und historisches Wissen durchaus selbst in Anspruch und widerlegte so die eigene These, „alle Historie errechnet das Kommende". Diese Ambivalenz durchzieht noch - wenn auch abgeschwächt - Gadamers Hermeneutik: Die philologische Gelehrtenkultur, der ältere Historismus qua Objektivismus, wird kritisiert - aber seine Ergebnisse werden ganz selbstverständlich zur Voraussetzung der eigenen Arbeit genommen. 56 Weil gerade die ältere Hermeneutik (und mit ihr der Historismus qua Objektivismus) von unaufhebbaren Epochenbrüchen und Divergenzen in der Geschichte überzeugt war, ist es auch nicht sinnvoll, ihr mit Gadamer die Naivität zu unterstellen, das Vergangene durch Auslegung,restaurieren" zu wollen.57 Nein, man wußte eben sehr wohl, daß man die Antike aus der Perspektive der Moderne anvisierte; gehörte doch dieser Epochengegensatz zu den Selbstverständlichkeiten der sog. Goethezeit. Deshalb auch wurde in den Geisteswissenschaften keinesweg die Gegenwart vergessen. Das wird besonders deutlich im Geschäft der Kritik, die bei Schleiermacher und Boeckh ergänzend zur Hermeneutik hinzutrat. Sie nimmt etwa in Boeckhs Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften genau soviel Raum ein wie die Hermeneutik und gipfelt in der Forderung, ein Phänomen der Vergangenheit und schließlich - in der klassischen Philologie - auch das ganze Altertum im

55 M. Heidegger: Holzwege (Frankfurt/M. 5 1972) 301. 56 Z. B. wird Aristoteles natürlich nach der Akademie-Ausgabe zitiert, die just ein Produkt der Gelehrtenkultur ist, die Gadamer als nihilistischen Historismus bekämpft (s. u.). 57 So Gadamers Kritik an der Hermeneutik Schleiermachers: Wahrheit und Methode, 159. Vgl. dazu Heidegger: „Der Historismus vergegenwärtigt das Vergangene und erklärt es aus dem Vor-vergangenen. Er flieht ins Vergangene, um dort einen Anhalt zu suchen, und rechnet auf Auswege aus der Gegenwart. Es geht ihm um .Restauration' oder aber um ,Eschatologie'. Das bloße .Relativieren' macht nicht das Wesen des Historismus aus." M. Heidegger: Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), hg. von H. Feick (Tübingen 1971) 204. Es ist dieses „Wesen des Historismus", das Gadamer auf Schleiermacher projiziert. Es darf aber kritisch gefragt werden, ob nicht Heidegger und Gadamer in viel größerem Maß „Halt" an der Vergangenheit suchten als Schleiermacher, bei dem wir ja durchaus Grundzüge einer Fortschrittsphilosophie erkennen.

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Kontext der gesamten Geschichte und im Hinblick auf die Moderne einzuschätzen. 58 Steht man diesem Ziel, das einen Blick auf das Totum des historischen Zusammenhanges verlangt, deshalb skeptisch gegenüber, weil für uns „Eintagsgeschöpfe" 59 das Ganze nie gegeben sein kann, 60 so sollte man bedenken, daß dem historisch forschenden Geisteswissenschaftler nolens volens auch ein Bild von historischen Zusammenhängen erwächst, mag dies auch unvollständig und vorläufig sein, und daß fast alle historischen Geisteswissenschaften oft auch ausdrücklich Kontextskizzen oder übergreifende Charakterisierungen entwerfen eine geschichtsphilosophische Ebene mitten in der historischen Detailarbeit. Es ist jene Kritik, durch die sich die ältere Hermeneutik auch dem Vorwurf Gadamers entzieht, sie habe nur noch Meinungen verstehen, aber nicht mehr applizieren wollen oder können. Nein: sie hat nur das Verstehen vom Beurteilen und Anwenden getrennt, sehr wohl aber all dies zur Aufgabe der Geisteswissenschaften gemacht. Dieselbe Konzeption vertritt gegen Gadamer auch wieder E. D. Hirsch, und damit kann er auch der Sachlage Rechnung tragen, daß alle Interpretationen standortgebunden sind und sich eine Rezeptionsgeschichte ergibt: Interpretation zielt auf das Verstehen des intendierten Text-„Sinns", Kritik aber erhellt aus verschiedenen Perspektiven „seine Bedeutung"; jene gilt dem, was wir als konstant voraussetzen, diese unterliegt dem Wandel.61 Auch in seiner späteren, differenzierteren Auffassung hält Hirsch an dieser Unterscheidung und an der Doppelperspektive fest. 62 Mögen diese Ebenen immer faktisch ineinandergreifen, sie lassen sich prinzipiell unterscheiden. Denn es sind zwei deutlich verschiedene Fragerichtungen. Vertritt man mit Gadamer die (problematische) Ansicht, man verstünde schon den „Textsinn" ohne Frage nicht, muß man Hirschs Unterscheidung so abwandeln: Die Fragen, die wir heute an einen älteren Text richten, sind gewöhnlich andere als die, auf welche der Text selbst in seiner Zeit Antwort geben wollte. Die Rekonstruktion der letzteren gehört in den Umkreis der Hermeneutik, die ersten Fragen aber stellt zumeist die Kritik (in einem weiten Sinn), und beide führen zu je anderen Ergebnissen. Ein Gewinn dieser Unterscheidung ist, daß eine fruchtbare und eine richtige Interpretation jetzt nicht beziehungslos nebeneinander stehen, sondern zwei Pole in einem Kraftfeld bilden. Weder die rein historische noch die aktuelle Perspektive, weder der Horizont des Textes noch der eigene werden aufgegeben, und nur so läßt sich vermutlich „Pedanterie" und „Phantasterei", 63 bedeutungslose Richtigkeit und projizierte Bedeutsamkeit vermeiden und damit am ehesten zu einem „Gespräch" gelangen.

58 August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hg. von E. Bratuscheck (Leipzig 2 1886, Repr. Darmstadt 1966) 257. Siehe dazu Axel Horstmann: Antike Theorie und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie (Frankfurt/M. 1992) 186ff. 59 So Johann Gustav Droysen: Historik, hg. von P. Leyh (Stuttgart 1977) 41. 60 So der New Historicism. Siehe in diesem Band die Beiträge von B. Thomas und O. Arnold. 61 Hirsch: Prinzipien der Interpretation, bes. 164ff, 263ff. 62 Hirsch: Three Dimensions of Hermeneutics, bes. 249f. Hirsch erweitert jetzt nur den Begriff des Sinnes. Meaning sei nicht nur original meaning, die Autorintention, sondern auch anachronistic meaning, welche die Autorintention überschreitet und ganz oder teilweise beiseite setzt. Es ist dies, was U. Eco die intentio operis nennt (s. u.). 63 Dies sind laut Schleiermacher Skylla und Chaarybdis des Interpretieren. Hermeneutik, hg. von H. Kimmerle (Heidelberg 2 1974) 124, 149.

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Mag jedenfalls - so können wir gegen den Historismus der Heidegger-Schule sagen sich unser historischer Standort auch wandeln, von jeder Position aus können wir fragen, was erstens ein Text in seiner eigenen Zeit sagen wollte und was er uns zweitens heute sagt, was er in jenem und was er in unserem Kontext bedeutet - eine typisch moderne Unterscheidung, da sie eben mit Geschichtsänderung und divergenten Standpunkten rechnet. Und es dürfte ein dogmatischer Skeptizismus sein, der davon ausgeht, daß die Antworten auf jene historischen Fragen in jeder Hinsicht stets ganz anders ausfallen. Schließlich wurden in allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen auch Erkenntnisse gewonnen, die keiner ernsthaft mehr in Zweifel zieht. Nun haben Heidegger und Gadamer nicht die Möglichkeit bestritten, methodisch nach richtigen Interpretationen und nach einem ursprünglichen Sinn zu fragen; im Gegenteil, diese Möglichkeit sahen sie allzusehr realisiert. Der Streit geht vielmehr nur darum, ob die Geisteswissenschaftler dergleichen überhaupt versuchen sollen. Nach Heidegger endet solches Unterfangen in der „Ratlosigkeit des Historismus" und in der „technischen Organisation der Weltöffentlichkeit" (s. o.). Und Gadamer hat dies zur These um- und ausformuliert, mit solchem wissenschaftlichen und methodischen Bemühen entziehe der objektivistische Historismus die normativen Traditionen der lebensweltlichen Praxis: Verfolgen die Geisteswissenschaften nur das Ziel „richtiger" Interpretationen, dann trennen sich Wissenschaft und Leben, und man endet in Relativismus und Nihilismus: Der Historismus, der überall geschichtliche Bedingtheit sieht, hat den pragmatischen Sinn der geschichtlichen Studien zerstört. Seine verfeinerte Kunst des Verstehens schwächt die Kraft zu unbedingter Wertung, in der die sittliche Realität des Lebens besteht. Seine erkenntnistheoretische Zuspitzung ist der Relativismus, seine Konsequenz der Nihilismus.64 Deshalb kann man Gadamers Intentionen eben auch in die These fassen, wichtiger als die methodisch verfahrenden Kulturwissenschaften ist die Kultur, und deshalb haben jene dieser zu dienen. Diese Reflexion aber ist keine wissenschaftstheoretische, sondern eher eine der praktischen Philosophie, und Gadamer hat ja auch wiederholt betont, daß Hermeneutik als Theorie und als Praxis der Auslegung eng mit der praktischen Philosophie verknüpft ist oder sogar deren Platz einnimmt. 65 Aber auch die Gegenpartei führt für ihre Hermeneutik Argumente ins Feld, die der praktischen Philosophie, genauer der Ethik angehören. Für E. Betti ist eine ethische Haltung sowohl Bedingung als auch Wirkung des hermeneutischen Verfahrens. In einer uns heute schon altertümlich anmutenden Sprache charakterisiert er den für das Verstehen „günstigsten Standort" als „geistige Aufgeschlossenheit":

64 Gadamer: Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953). Kleine Schriften I, 39-45, zit. 40. 65 Gadamer: Wahrheit und Methode, 295ff. Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik. In: Sein und Ethos, hg. von Paulus Engelhardt (Mainz 1963) 11-36; auch in: Kleine Schriften I, 179-191. Practical Philosophy as a Model of the Human Sciences. In: Studies in Phenomenology and the Human Sciences, hg. von John Sallis (Atlantic Highlands, N. J. 1979) 74-85. Hermeneutik als praktische Philosophie. In: Was ist Philosophie? Neuere Texte zu ihrem Selbstverständnis, hg. von Kurt Salamun (Tübingen 2 1986) 108-126. Die Gegenwart der sokratischen Frage in Aristoteles. In: Zur Rekonstruktion der praktischen Philosophie. Gedenkschrift für Karl-Heinz Ilting, hg. von Karl-Otto Apel (Stuttgart 1990) 17-25.

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Es handelt sich dabei um eine sowohl ethische wie auch theoretisch besinnliche Haltung, die man negativ als Uneigennützigkeit und demütige Selbstentäußerung kennzeichnen kann, wie sie in einer ehrlichen und entschlossenen Überwindung der eigenen Vorurteile und etwaiger dem unvoreingenommenen Verstehen hinderlichen Haltung zu sehen ist; in positiver Hinsicht läßt sie sich charakterisieren als Weite des Blickes und Fülle des Gesichtskreises: eine Fähigkeit, die im Hinblick auf den auszulegenden Gegenstand eine kongeniale und sich ihm eng verwandt fühlende Einstellung schafft. 66 Das Studium der Auslegungstheorie, so beginnt Betti seine Grundlegung, sei eine „Gewöhnung an Toleranz und Achtung fremder Meinung", und er ergänzt abschließend, daß kein Studium wie das der Hermeneutik zu Bescheidenheit und Duldsamkeit erziehe: Kein Studium ist daher wie dieses dazu geeignet, von Unverständnis und persönlicher Unbescheidenheit veranlaßte Tendenzen zu jeder Art gewaltsamer Übergriffe zu bekämpfen, den Sinn für das Geschichtliche zu schärfen und die Hochschätzung der Aufgeschlossenheit und der Ausgeglichenheit des Gemüts zu bilden. In der Tat kann die stets auf die Aktualität des Verstehens angewiesene Aufgabe der Auslegung niemals als abgeschlossen und vollendet betrachtet werden; keine Auslegung, so stark und überzeugend sie zuvörderst sein mag, läßt sich als eine endgültige der Menschheit aufdrängen. 67 Auch bei E. D. Hirsch ist es ein dezidiert ethisches Motiv, das ihn für den Versuch der Erhellung des originären Sinnes, den vom Autor intendierten Sinn, plädieren läßt. In der Moderne habe man sich von der allegorischen Auslegung des Mittelalters getrennt und sich für den originären Sinn als den besten und wichtigsten entschieden - keine logisch zu rechtfertigende Entscheidung, sondern eine „ethische Wahl"; denn nur durch diese Richtungsänderung entwinden sich die Texte unseren dogmatischen Vorgaben, und nur durch sie zeigt sich uns die Pluralität der Kulturen, erhalten wir einen „Historismus" als Kulturpluralismus. Nach Hinweis auf die religiöse Färbung der Geschichtsauffassung bei Herder und Ranke fährt Hirsch fort: Obwohl wir unseren Historismus nicht länger mit solchen quasi-religiösen Begriffen abstützen, ist das romantische Ideal des Kulturpluralismus im 19. und 20. Jahrhunderts zumeist die dominante ethische Norm der Interpretation geblieben: es ist gehaltvoller und humanisierender, die Pluralität der Kulturen zu erfassen, als in unsere eigene eingekerkert zu sein. 68 Die Anerkennung von Differenzen und die Überwindung des eigenen engen Blickes lassen also Hirsch nach dem originären Sinn von Texten fragen. Deshalb formuliert er auch eine „ethische Interpretationsmaxime", die er mit Kants kategorischem Imperativ parallelisiert, mit der Forderung, den Anderen nie bloß als Mittel zu gebrauchen, sondern stets als Selbstzweck zu achten:

66 E. Betti: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften (Tübingen 1962) 53. 67 E. Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre. In: Festschr. für Ernst Rabel, Bd. 2 (Tübingen 1954) 79-168, zit. 165. 68 Hirsch: Three Dimensions of Hermeneutics, 248 (Übers.: G. Sch.).

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Wenn kein wichtiger übergeordneter Wert uns zur Mißachtung der Autorintention (d. h. des originären Sinnes) zwingt, sollten wir, die zu interpretieren unser Beruf ist, sie nicht mißachten. 69 In dieser Weise stehen sich die beiden Historismen in der Hermeneutik nicht als zwei Methodologien gegenüber, sondern als zwei ethische Stellungnahmen. Die erste, die Theorie der Geschichtlichkeit, fordert als Wichtigstes die Fortsetzung der Tradition, die zweite, die Theorie eines möglichst objektiven Verstehens, die Erkenntnis und Anerkennung fremder Meinungen und fremder Kulturen Ich gestehe, daß es mir nicht schwer wird, mich in diesem Streit zu entscheiden. (1.) Sowohl Betti als auch Gadamer 70 gehen für ihre so verschiedene Hermeneutik von der Situation des Dialoges aus. Ein solcher aber dürfte nur Zustandekommen, wenn sich die Dialogpartner bemühen, möglichst genau die Meinung, die Intention des jeweils Anderen zu erfassen, mögen sie darüber hinaus auch Implikationen und Konsequenzen bemerken, die dem Sprecher selbst entgingen. Denn nur durch solches Verstehen der Intention wird ihnen klar, ob sie überhaupt dieselbe Sache im Blick haben - also das, was Gadamer für das eigentliche Proprium des Verstehens und für wichtiger als die Erfassung von Meinungen hält. Denken wir uns einen Dialog über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, etwa als Briefwechsel, ist die Einbeziehung aller nötigen philologischen und sprachwissenschaftlichen Hilfsmittel im Dienst des Verstehens keine illegitime „Vergegenständlichung" 71 des Sinnes, sondern das, was der Schreiber selbst nur wünschen kann. Niemand hat m. W. die so oft wiederholte Behauptung erläutert, daß eine methodologische Hermeneutik wirklich analog zu den Naturwissenschaften das Werkzeug einer „Vergegenständlichung" sei. Wenn z. B. U. Eco vom „Text-Objekt" und seiner „Intention" handelt (der intentio operis), tut er der Sprache Gewalt an, da eben Objekte keine Intentionen haben oder verfolgen. 72 Einleuchtender als die Objektivierungsangst aber ist die Besorgnis, es werde ohne Beachtung der Intention des Anderen gar kein Dialog in Gang kommen. Gadamer hat denn auch seiner von Heidegger übernommenen Auffassung, die Meinung des Sprechers/Autors sei unwichtig und nur was „die Sage, die sie [= die Überlieferung] uns sagt" 73 habe Bedeutung, nicht über-

69 A. a.O., 259 (Übers.: G. Sch.). 70 Betti: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, bes. 102ff. Gadamer: Wahrheit und Methode, bes. 349ff, 361 ff. 71 Vgl. z. B. Gadamer: Geschichtlichkeit und Wahrheit, 257: „Objektivität bedeutet Vergegenständlichung [...]"• 72 Zur Kennzeichnung von Texten spricht Eco von „Dynamischen Objekten"; ein solches könne „nicht nur ein Element der Ausstattung der physischen Welt sein, sondern auch ein Gedanke, ein Gefühl, eine Geste, eine Empfindung, eine Ansicht." Eine „Intention" aber habe ein „Text-Objekt" insofern, als „man annimmt, daß es gemäß kulturell festgelegten semiotischen Gesetzen interpretiert werden wird." Man sieht, daß beide Begriffe nicht im gewöhnlichen Sinn verwendet werden (Die Grenzen der Interpretation, 436f). 73 Gadamer: Vom Zirkel des Verstehens. Kleine Schriften IV: Variationen (Tübingen 1977) 54-61, zit. 60.

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all treu bleiben können. 74 Da ein Dialog nur dort statthat, wo es Dissens gibt, kann also das erste nur die Klärung sein, worauf die Dialogpartner hinauswollen, und beide müssen beide Intentionen realisieren. Eben deshalb ist Hirsch zuzustimmen, der die Hermeneutik an die „goldene Regel" anknüpft: Man solle Texte und Aussagen so behandeln, wie man die eigene Rede behandelt wünscht. 75 Kaum steht zu erwarten, daß die Dekonstruktivisten sich danach sehnen, dekonstruiert zu werden. Die Ethik des Dialogs kann also nicht darin bestehen, daß jeder die Aufgabe übernimmt, die Aussagen des Anderen zu applizieren und für die eigene Lebenspraxis nutzbar zu machen, sondern nur darin, daß jeder das Recht hat, gehört und verstanden zu werden. Und dies setzt die Anstrengung voraus, den eigenen Standpunkt zeitweilig zu verlassen und hypothetisch und versuchsweise den des Anderen einzunehmen. Dazu aber leitete stets die philologische oder methodologische Hermeneutik an. Alle Kritiker, die sich gegen die Hermeneutik richten, weil sie den Anderen mit Interpretationen zudecke, sollten hinzufügen, daß sie nur die Heideggersche Fundamentalhermeneutik im Blick haben, die naturgemäß einen „Universalitätsanspruch" stellt. Der Vorwurf ist gegenüber jener anderen Hermeneutik gegenstandslos, da es nach ihr darauf ankommt, die Sprache des Anderen zu lernen und den Anderen gerade nicht in die eigenen Denkweisen einzuzwängen. Sollte aber auch solcher Lernvorgang als Beraubung und Überwältigung (als „Wille zur Macht") angesehen werden, bricht man alle Brücken zwischen den Standpunkten ab und bereitet so - im Namen höchster moralischer Sensibilität - den Boden für den Krieg der Kulturen. (2.) Die methodologische Hermeneutik wird erst recht wichtig, wenn - wie überwiegend in den Geisteswissenschaften der Fall - nur noch ein uneigentlicher Dialog mit dem Autor möglich ist und er sich gegen die Interpretationen seiner Aussagen nicht mehr wehren kann. Schon deshalb sind mehrere Interpreten wünschbar - das erhöht die Chance des Autors, selbst zu Wort zu kommen. Natürlich wird jeder Interpret nicht den Text wiederholen, sondern etwas anderes sagen. Aber er wird etwas über ihn sagen und so natürlich voraussetzen, daß der Text kein Nichts ist. Aller Streit der Interpreten und aller Perspektivismus setzen Zeichen mit Sinn und Bedeutung voraus, mag man darunter die intentio auctoris oder die intentio operis verstehen (auf dieser Ebene fällt dieser Unterschied noch nicht ins Gewicht). Je pluralistischer die Geisteswissenschaften, ihre Verfahren und Ausgangspunkte, desto wichtiger dürfte die Kultur des Fragens nach der ursprünglichen Intention von Aussagen werden. Denn erstens ist es diese - oder zumindest der wörtliche Sinn 76 - , worüber sich am ehesten noch Einigung erzielen läßt, wohingegen alle Einschätzungen und Bewertungen

74 Dies zeigt z. B. Gadamers Diskussion mit Denida. Text und Interpretation, hg. von Ph. Forget (München 1984) 38f. - Wenn die „eigentliche Aufgabe" der Sprache das „Sagen des Gemeinten" ist - wie es bei Gadamer an anderer Stelle heißt - , muß es dann nicht auch Aufgabe des Verstehens sein, das Gemeinte zu verstehen? Gadamer: Geschichtlichkeit und Wahrheit, 253. 75 Hirsch: Three Dimensions of Hermeneutics, 260. 76 Siehe zur Verteidigung des wörtlichen Sinnes U. Eco: Die Grenzen der Interpretation, 40ff. Daß der wörtliche Sinn nicht mit dem ursprünglichen Sinn oder der Autorintention zusammenfallen muß, zeigt sich schon am Phänomen der Ironie.

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stets kontrovers bleiben dürften. Außerdem wird ohne solche Kultur, auf Intentionen zu achten, auch die Kommunikation zwischen den Interpreten abgebrochen. So haben wir ohne die Bemühung, die aller methodologischen Hermeneutik zugrundeliegt, weder einen Bezugspunkt der Interpretationen noch eine Diskussion der Interpreten, sondern nur einen Wirrwarr an Phantasieprodukten. Dieser ist durch die Gadamersche Versicherung, wir seien von der Tradition und der Sprache getragen, nicht überwindbar oder in Grenzen zu halten. Und man sollte solchen Wirrwarr auch nicht als Freiheitsfortschritt herbeiwünschen. Denn wenn alle Interpretationen in gleicher Weise richtig sind, dann sind sie auch alle falsch. Und wer dies letztere behauptet, befindet sich im Paradox, die wahre Interpretation zu kennen, 77 und er hat das Genre der Interpretation abgeschafft. 78 Wer dies wiederum befürwortet, verbietet auch die Lektüre - da eben Lesen und Interpretieren zwar unterscheidbar, kaum aber scharf abgrenzbar sein dürften. 79 Die interpretierenden Wissenschaften werden jedenfalls ebenso zerstört, wenn sie an die Leine einer despotischen Ideologie gelegt werden, die sie nötigt, aus allen Hüten dasselbe Kaninchen herauszuzaubern (es mag politisch oder ganz unpolitisch aussehen), wie durch die Anarchie der völligen Beliebigkeit; im ersten Fall wird das Interpretandum in die wahre Lehre, im zweiten Fall in die subjektiven Einfälle aufgelöst. Die zweite Position arbeitet dabei der ersten vermutlich in die Hand; denn ist einmal kulturell eingeübt und zur Selbstverständlichkeit geworden, daß Texte keinen Sinn haben - warum sollte dann z. B. der Staat nicht vorschreiben, welchen Sinn man zum Nutzen des Gemeinwesens und zur Orientierung der verwirrten Bürger hineinlegen muß? J. Grondin hat Heideggers Sein und Zeit entnommen, hier werde die Beliebigkeit von Interpretationen durch „das gemeinsame Geschick des Miteinanderdaseins", durch die „kollektive Geworfenheit" überwunden. 80 Hingegen endet Ch. R. Bambach seine Ausführungen über Heideggers Historismusüberwindung mit der Aussicht, die Heidegger-Lektüre könne uns heute zu einem Neubeginn führen, der die Möglichkeit birgt „for an arche goverened by an anarchy born of tolerance".81 Ich wage aber zu zweifeln, ob man Objektivität oder „Verbindlichkeit" in den Geisteswissenschaften dadurch erreichen kann, daß man sich vorsätzlich einer Schicksalsgemeinschaft zugehörig weiß; und ich zweifle, ob man die Subjektivität in den Geisteswissenschaften zur Anarchie forttreiben soll; ebenso, ob die allgemeine Norm der Toleranz Anarchie ermöglicht und ob Heidegger die Toleranz lehrte. Solche Toleranz forderte vielmehr ausdrücklich Betti in seiner Hermeneutik (s. o.), und nur eine solche Position kann als tolerant gelten, die die Autoren zu Wort kommen läßt.

77 U. Eco: Die Grenzen der Interpretation, 52f. 78 Zu den neueren Diskussionen über das Problem der Interpretation in den Literaturwissenschaften siehe bes. Axel Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien (Paderborn 1995). 79 Wir können und sollten die Begriffe Lesen, Verstehen, Auslegen/Interpretieren, Deuten unterscheiden. Sie zeigen in dieser Folge die gradweise wachsende Produktivität des Rezipienten an. Dennoch sind die Bereiche nicht scharf trennbar; ins Lesen wird sich Interpretieren schon einschieben, will man nicht sogar die Auffassung vertreten, daß alle Lektüre auch schon Interpretation sei. 80 J. Grondin: Hermeneutische Wahrheit? 82. 81 Charles R. Bambach: Heidegger, Dilthey, and the Crisis of Historicism (Ithaca, London 1995) 273.

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(3.) In ihrer Abkunft von Heidegger gehört auch Gadamers Hermeneutik zu den Versuchen, den Historismus zu überwinden, d. h. den historischen Objektivismus, der in den Wertrelativismus geführt zu haben schien; deshalb Gadamers Verweis auf das, was als das Allgemeine alle wissenschaftlichen Bemühungen schon trägt und so den Pluralismus eindämmt: Sprache, „Sage", Mythos, Tradition; deshalb die Kritik am bloßen Verstehen und die Hinwendung zur „Applikation": die Vielfalt der gewußten Wertsysteme, unter der man leidet, wird auf diejenigen reduziert, mit denen man leben und die man anwenden kann. Daß Menschen Kultur und Tradition benötigen, bestätigt sogar die Verhaltensforschung,82 und es dürfte sich nicht bestreiten lassen. Aber es fragt sich, ob die methodologische Hermeneutik wirklich „nihilistisch" und kulturzerstörerisch ist oder nicht vielmehr selbst eine Form der Kultur darstellt, die man nicht zerstören sollte. Wenn man vom Baum der Erkenntnis der historischen Vielfalt gegessen hat, läßt sich schwer zum Verstehen nur der eigenen Tradition zurückkehren. Und die Anwendung des Verstandenen wird schwierig, wenn selbst die Divergenzen der eigenen Kultur ins Bewußtsein traten. Wie man besonders an der Bibelwissenschaft seit der Aufklärung ablesen kann, wird in solchem Fall die eigene Reflexion zur Konstitution eines anwendbaren Wissens, d. h. hier einer Dogmatik, unerläßlich, und man muß die Möglichkeit von verschiedenen Dogmatiken einräumen. Das aber heißt, Auslegung allein kann jetzt auch die Rolle der praktischen Philosophie nicht spielen, so wie sie das auch vorher nie getan hatte. Man überfordert die Hermeneutik, wenn sie auch praktische Philosophie sein soll; das historisch-philologische Gewissen gerät dann in Konflikt mit dem ethischen. 83 Hingegen läßt sich mit guten Gründen behaupten, daß ein Wissen und Verstehen von einer Fülle divergenter Wertsysteme sich erst auf der Grundlage eines Ethos ergibt: durch die Bereitschaft, solche der eigenen Orientierung fremden Wertsysteme überhaupt zu erkennen und anzuerkennen. Eine solche Ethik der Toleranz und Anerkennung lehren die hermeneutischen Methodologen. Wendet man ein, solche Ethik sei unnötig, da es sich doch um Wissenschaft handeln soll, so übersieht man, wie leicht sich in unsere Interpretation voreilige Bewertungen einschieben 84 und es eben einer eigenen Anstrengung bedarf, zunächst ein kulturelles Phänomen nur an seinem eigenen Maß zu messen. Daß sodann eine zweite beurteilende Perspektive möglich und nötig ist, die Kritik, wurde bereits gesagt. Nur diese methodologische Hermeneutik kann auch als Basis für ein interkulturelles Verstehen und so z. B. in Europa für die Ostasienwissenschaften taugen, während die Heidegger-Schule nur eine Hermeneutik der eigenen Tradition ausgebildet hat. Daß aber nur Texte

82 Konrad Lorenz: Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen. Gesammelte Arbeiten, hg. von I. Eibl-Eibesfeldt (München, Zürich 4 1983). 83 Deshalb ist es wichtig, sich daran zu erinnern, daß z. B. bei Schleiermacher die Hermeneutik noch im Kontext einer systematischen praktischen Philosophie stand. Siehe vom Verf.: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M. 1995). 84 Deshalb enthielten schon die Hermeneutiken der Aufklärung für die Interpretation auch ethische Richtlinien. Wolfgang Künne: Prinzipien der wohlwollenden Interpretation. In: Intentionalität und Verstehen (Frankfurt/M. 1990) 212-236. Oliver R. Scholz: „Hermeneutische Billigkeit" - Zur philosophischen Auslegungskunst der Aufklärung. In: Beate Niedermeyer, Dirk Schütze (Hg.): Philosophie der Endlichkeit. Festschr. für E. Ch. Schröder zum 65. Geb. (Würzburg 1992) 286-309.

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der eigenen Tradition zugänglich oder zumindest stets verständlicher als die der Fremdkulturen sein sollten, leuchtet nicht ein. Eine Heraklit-Interpretation ist für einen Europäer nicht deshalb schon leichter als eine Laudse-Interpretation, weil Heraklit zur europäischen Philosophiegeschichte zählt und wir ihn „immer schon" verstanden hätten. Allenfalls ist aufgrund der altphilologischen Forschungen unser historisches Kontextwissen im Falle Heraklits besser und deshalb solche Interpretation weniger kontrovers als die Laudses. Jedenfalls ist Hirsch zuzustimmen: Wir erkennen nur am Leitfaden jener methodologischen Hermeneutik die Pluralität der Kulturen und gewinnen nur durch sie Einblick in die Divergenzen der Geschichte, während Gadamer sich nur mit dem Verhältnis zur eigenen Tradition befaßt. Verachtet man aber alle methodologische Hermeneutik als „konservativ" und gibt sie auf, droht sich die menschliche Welt mit ihren Divergenzen im Nebel der eigenen Konstruktionen aufzulösen.

Personenregister

Abbagnano, N. 61 Acham, K. 11,155 Adam, H. 163 Adams, H. B. 48 Adamson, M. 36 Ajami, F. 41 Albert, H. 193, 199f Alembert, J. le Rond d' 158 Altdorfer, A. 202 Althaus (Althusius), J. 166 Althusser, L. 25 Anderson, B. 42, 49 Andre, J.-M. 177 Angehrn, E. 174f Ankersmit, F. R. 124f, 188 Antimon, D. 61 Antoni, C. 58-61, 67, 69, 102, 108 Apel, K.-O. 200, 208 Apter, D. 54 Arac, J. 27 Aries, Ph. 177 Aristoteles 204-206 Arnold, O. 8, 12, 23, 207 Auerbach, E. 15, 17f,44, 53 Augustin, A. 78 Avineri, Sh. 169 Badaloni, N. 86 Bahne, S. 122 Bahr, E. 46 Balabkins, N. W. 137 Balfour, A. J. 159 Balibar, E. 25 Bambach, Ch. R. 110, 114f, 212 Banton, M. 53 Barner, W. 47 Barnes, H. E. 48, 52

Barth, H. 197 Barth, K. 107,114,180 Baudrillard, J. 19 Baumgartner, H. M. 190 Beard, Ch. A. 20, 45, 49 Becher, U. 177 Beck, R. N. 13,24,102,109 Becker, C. L. 45, 49, 52f Behler, E. 193 Beister, H. 37 Bellah, R. N. 168 Below, G. v. 116,123 Benjamin, W. 41 Bennington, G. 128 Bentham, J. 172 Bercovitch, S. 15 Bergmann, K. 175 Betti, E. 192, 196, 199, 208-210, 212 Bielefeld, U. 165 Bircher, M. 47 Bismarck, O. v. 116,176 Blackmur, R. 17 Blanke, H.-W. 110, 117, 119f, 122f Blaschke, J. 149 Bloch, E. 21 Blondel, M. 70 Bloom, A. 45f, 49 Bobbio, N. 70 Bodammer, Th. 179 Bödeker, H. E. 46,122 Bodin, J. 166 Boeckh, A. 94, 196, 206 Böhme, J. 201 Bolin, W. 194 Bollnow, O. F. 51 Bondy, F. 197 Booth, W. J. 129

216 Borries, B. v., 175 Bourdieu, P. 34-38, 126 Boyen, H. v. 60 Brackert, H. 50f BraniB, Ch. J. 103, 194 Bratuscheck, E. 206 Braudel, F. 177 Brentano, L. 134 Brewster, B. 25 Brink, B. van den 169 Brocke, B. v. 49 Brook-Rose, Ch. 201 Brooks, C. 17 Broszat, M. 117 Brumlik, M. 172 Brunkhorst, H. 172 Bruno, G. 94 Buckle, H.Th. 104,121 Biicher, K. 134, 136 Buhler, A. 200 Bultmann, R. 82, 107 Burckhardt, J. 123,180 Burg, A. 179 Burger, Th. 32 Burgess, J. W. 48 Burke, K. 17, 53f Burke, P. 177 Cacciatore, G. 9, 76, 84, 86f, 92, 96, 108f, 183 Callagher, C. 17 Camden, W. 29 Campanella, T. 94 Cantillo, G. 9 , 6 8 , 8 7 , 9 7 , 1 8 3 Cantimori, D. 61 Capograssi, G. 9, 62, 68, 75 Cassirer, E. 17, 45f, 50-54, 109, 122 Cattaneo, M. 89 Cecil, R. 159 Cesarmi, R. 43 Chabod, F. 61,67 Chalybaus, H. M. 195 Chartier, R. 177 Chaunu, P. 177 Chickering, R. 47 Chladenius, J. M. 46,122 Ciliberto, M. 95 Clark Hine, D. 26 Clifford, J. 42, 47, 52 Cohen, W. 31

Personenregister Cohn, G. 136 Coleridge, S. T. 17 Colli, G. 106 Collingwood, R. G. 103, 108, 111, 128, 134 Collini, St. 201 Colpe, G. Della 61 Conrad, Ch. 188 Constant, B. de Rebecque 87 Cortese, N. 89 Craig, G. A. 49 Croce, B. 9, 13, 20, 55-61, 67,69, 95f, 103, 108f, 111, 181, 183, 190, 192, 195, 197-200 Culler, J. 184, 201 Cuoco, V. 9, 87-90 Damton, R. 126 Darwin, Ch. 135 Davis, N. Z. 25,125 De Giovanni, F. 86 Dehio, G. 148 Delbrück, H. 116 Derrida, J. 28, 32, 46, 210 De Ruggiero, G. 61,67 De Sanctis, F. 9, 60, 87, 89-94 De-Shalit, A. 169 Dewey, J. 48 Diaz, F. 61,67 Di Costanzo, G. 183 Dierse, U. 186 Dilthey, W. 45-17, 52, 59f, 65, 69, 77, 81, 87, 90, 92-94, 105, 114, 122, 124, 128, 130, 179f, 183, 189f, 192, 195, 200, 202f, 212 Dinzelbacher, P. 177 Dodd, W. E. 48f, 52 Dove, A. 104 Dow, E. 47 Droysen, J. G. 45, 48, 60, 87, 94, 104-106, 113, 115, 120-122, 126, 180, 183, 186f, 206 Du Bois, W. E. B. 25f Duby, G. 177 Duerr, H.-P. 177 Diihrung, E. 105 Dülmen, R. v. 177 Dürenmatt, F. 182 Durkheim, E. 138,168 Dutton, R. 110 Dworkin, R. 169, 172 Eco, U. 201,207,210-212 Eggers, W. 51

217

Personenregister Eggert, H. 110,184 Eibl-Eibesfeldt, I. 213 Eichendorff, J. Frhr. v. 41 Eichhorn, K. F. 103 Elias, N. 177 Eliot, T. S. 17 Elisabeth I., Königin v. England Elton, G. R. 28, 34 Empson, W. 17 Engelhardt, P. 208 Engels, Fr. 136,158 Ennen, E. 177 Erbe, M. 182 Etzioni, A. 129f, 168 Eucken, R. 194-197 Eulenburg, Fr. 139

29-34, 38

Faber, K. G. 180, 187 Fallows, J. 129-131, 135, 143 Fechner, J.-U. 47 Feick, H. 206 Ferrari, G. 89 Ferretti, S. 53 Feuerbach, L. 103, 194 Fichte, I. H. 103, 195 Fichte, J. G. 60,103 Finney, G. 42 Firpo, L. 67 Fleischer, D. 110 Fohnnann, J. 43 Forget, Ph. 210 Foster, St. W. 45 Foucault, M. 17, 26f, 46 Fox, R. G. 47 Franchini, R. 61 Franklin, J. H. 26 Freud, S. 41 Frühwald, W. 179 Frye, N. 45, 201 Fukuyama, F. 22,129,143 Fustel de Coulanges, N. D. 123 Füßmann, K. 178 Gadamer, H.-G. 105, 192f, 195f, 199-208, 210-212, 214 Galasso, G. 67, 98, 109 Gardiner, P. 149 Garin, E. 69 Gates, H. L. Jr. 26f Gatterer, A. 122

Geertz, C. 17f, 42, 53f, 125f, 184 Gehlen, A. 51 Geldsetzer, L. 200 Gentile, G. 60f, 109 Gerdes, D. 149 Gervinus, G. G. 180,183 Ghia, W. 80 Giarrizzo, G. 86 Gibbon, E. 124 Giddens, A. 34-36, 38 Ginzburg, C. 125f Giovanni, P. di 86 Glozer, L. 153 Goethe, J. W. v. 59, 108, 204 Goetz, H.-W. 177 Gogarten, Fr. 107 Goldberg, J. 29, 34 Gombrich, E. 50 Gothein, E. 138 Graf, F. W. 196 Gramsci, A. 95f, 109 Greenblatt, St. 8, 14-17, 21-25, 27, 29-32, 35f, 38f, 43, 183-185 Gries, R. 178 Grondin, J. 192, 199f, 212 Grotius, H. 166 Gründer, K. 180,203,205 Gründerode, K. v. 133 Grushin, B. A. 102, 109 Grütter, H. T. 178 Gunn, G. 25, 184 Habermas, J. 32, 41, 171, 176, 180, 185 Haigh, Ch. 33 Halperin, D. 27 Hamburg, C. H. 51 Hammerstein, N. 123 Hardtwig, W. 104, 110-114, 117, 120-122, 178 Harnack, A. v. 48 Harris, E. P. 46 Haussmann, Th. 188 Haym, R. 103, 194 Hegel, G. W. F. 55f, 59f, 65, 69, 75, 88-90, 104, 106, 108f, 129f, 135, 139, 142, 180, 187, 190, 203 Heidegger, M. 64, 73, 79-81, 107, 114f, 180, 193, 196, 198f, 201-206, 208, 210-212 Hennis, W. 131,138 Heraklit 213

218

Personenregister

Herder, J. G. 47, 52, 59, 130, 172, 209 Hermanni, F. 190 Herrigel, H. 51 Heuling, C. 178 Herzfeld, H. 181 Hesse, H. 41 Heussi, K. 20, 108, 180f Hildebrand, D. v. 134 Hillen, G. 47 Himmelfarb, G. 28 Hinrichs, C. 181 Hintze, O. 107f, 116, 183 Hirsch, E. D., Jr. 192f, 196, 199, 201, 207, 209-211,214 Hitler, A. 108 Hobbes, Th. 166,172 Hölderlin, Fr. 155 Hölscher, L. 166 Hösle, V. 85 Hofer, W. 61,181 Hoffmeister, J. 187 Holl, H. G. 201 Holt, Th. 26 Holub, R. C. 47 Honneth, A. 169,171 Horstmann, A. 184,206 Horstmann, U. 184 Howard, J. E. 31 Hübner, R. 121 Hughes, R. 154 Hughes, W. M. 159 Hügli, A. 186 Humboldt, W. v. 9, 60, 65, 87f, 94, 105, 109, 121, 125, 180, 183 Hume, D. 158 Hunt, L. 27 Huntington, S. P. 22, 40, 42, 162 Huse, N. 148 Husserl, E. 73, 114f, 197

Jarausch,K. 122 Jaspers, K. 9, 64, 69-73, 75, 79-81 Jauss, H. R. 153, 179 Jay, M. 42 Jeismann, K. E., 175 Jencks, Ch. 154 Jeimann, Chr. 85 Jodl, Fr. 194 Johnson, B. 27 Johnson, M. 43 Jonas, H. 203 Jungwirth, N. 178

Iggers, G. G. 10, 12f, 23, 46, 102, 104f, 117, 120-122, 124, 131, 134, 188, 193 Ihering, R. v. 75 Eting, K.-H. 208

Koselleck, R. 150, 176f, 179, 202 Koslowski, P. 127, 129, 137, 185 Kosthorst, E. 175 Krampf, W. 51 Kremnitz, G. 37 Kromschröder, G. 178 Kuhn, Th. S. 110,114,142 Künne, W. 213 Kurze, D. 147 Küttler.W. 120,188

Jacobmeyer, W. 176 Jaeger, F. 110,117-119 Jaffé, E. 139 Jakob I., König v.England u. Schottland Jameson, Fr. 13,28

34

Kaes, A. 44,184 Kallscheuer, O. 158 Kant, I. 9, 55, 59f, 63, 66, 72, 74, 76, 103, 130, 133, 141, 190, 198, 209 Kaplan, R. D. 41 Kastan, D. S. 29-31, 33 Kehr, E. 117 Kelley, D. R. 102 Kenkmann, A. 175 Kessel, E. 104 Kessel, M. 188 Kierkegaard, S. 79,114 Kimmerle, H. 207 Kirkpatrick, J. 41 Kleinfeld, G. 41 Kleist, H. v. 47 Kloppenberg, J. T. 128 Kluckhohn, P. 103,193 Knapp, G. F. 134 Knieper, R. 161f Knies, K. 105, 134, 136f Knigge, V. 175 Knudsen, J. B. 46 Kocka, J. 117 König, Chr. 47, 52 Koo, W. (Gu Weijun) 159 Korff, G. 178

Personenregister

219

Labriola, A. 95f Ladurie, E. L. R. 25 Lakoff, G. 42f Lämmert, E. 47, 52 Lamprecht, K. 18, 45-50, 52, 59, 183, 187, 194 Larnaude 159 Laudse 213 Lee, D.E. 13,24,102,109 Le Goff, J. 177 Lehmann, H. 48 Leibniz, G. W. 59, 157 Lenger, Fr. 140 Lepenies, W. 129,145 Lerner, G. 25 Lessing, G. E. 46f, 130 Levin, C. 29f Levy.M.J. 166 Leyh, P. 105,206 Lichtenberg, G. Chr. 201 Lincoln, A. 20 Lissa, G. 67, 74 List, Fr. 130,143 Liu, A. 28 Locke, J. 94, 166, 172 Lomonaco, F. 89, 96 Lorenz, K. 213 Loria, A. 19 Lowenthal, D. 45 Löwith, K. 194, 198 Lübbe, H. 10, 146f, 151, 185f Lübcke, P. 186 Liidtke, A. 117 Luhmann, N. 50 Lukäcs, G. 133 Luporini, C. 61 Lutz, H. 177 Lützeler, P. M. 110,184 Lyon, L. G. 47 Lyotard, J.-F. 128,133,143

Mande ville, B. de 166 Mannheim, K. 10, 26, 106f, 112,131-134, 140f, 143-145, 180, 189 Mareks, E. 116 Marcus, G. E. 42, 47 Marini, G. 97 Marquard, O. 152,186 Marx, K. 41, 49, 56, 109, 123, 129, 131, 135, 139f, 158,171, 187 Massumi, B. 128 Mastellone, S. 86 Masullo, A. 76 Matthews, F. 45f Mayer, S. 51 Mazzarella, E. 64, 80 Medick, H. 125 Meinecke, Fr. 9, 24, 26, 58-61, 65, 69, 81, 87, 94, 104-106, 108f, 115-118, 121, 124, 131, 134, 180-183, 199 Meitzen, A. 134 Memmert, G. 201 Mendelssohn, M. 46 Menger, C. 105, 131, 135, 137, 139 Mercier, L.-S. 158 Meyer, E. 66,137 Meyerhoff, H. 127 Mill, J. St. 92,135 Mittelstraß, J. 179 Mommsen, W. J. 112,117,181,189 Montesquieu, Ch. de 11, 156, 166, 172 Montinari, M. 106 Montrose, L. A. 8, 14f, 25, 34, 184 Morelly 158 Mörsch, G. 148 Muhlack, U. 111, 117-124, 179, 190 Mullaney, St. 29-33 Münsterberg, H. 48 Murrmann-Kahl, M. 189 Mütter, B. 175

MacCaffrey, W. T. 29 Machiavelli, N. 53,92f, 150, 166 Maclntyre, A. 169,171 Maier, H. 148 Mainusch, H. 185 Maiorca, B. 80 Makino, Baron N. 159 Malachowski, A. 143 Man, P. de 42,46,184 Mandelbaum, M. 102, 134

Nabrings, A. 180-182 Narr, K. J. 150 Nebe, K. 178 Nicolini, F. 85, 87-89 Nida-Rümelin, J. 186 Niebuhr, R. 59,66,94,107 Niedermeyer, B. 213 Niethammer, L. 188 Nietzsche, Fr. 41,45, 90, 92, 106, 111, 114, 127, 129, 140f, 151, 175, 180, 196f

220

Personenregister

Nipperdey, Th. 116-118, 121, 124, 147, 176 Nixon, R. 20 Noble, D. W. 20 Nolte, E. 176 North, D. C. 130 Novalis (Hardenberg, Fr. Frh.v.) 103, 193 Novick, P. 28 O'Connor, M. 31 Oelmüller, W. 146 Oexle, O. G. 10, 102, 110-114, 117, 120-123, 174, 180f Olt, R. 160 Oncken, H. 116 Ortega y Gasset, J. 108,111 Orth, E. W. 50f Ottmann, H. 186 Otto, St. 85 Paetzold, H. 51 Palliser, D. M. 31 Pandel, H.-J. 110,178 Panofsky, E. 53f Park, R. E. 168 Parsons, T. 50f, 166, 168 Pascal, B. 72 Paschen, J. 178 Patzig, G. 150 Peele, G. 34 Pendel, H.-J. 175 Perrot, M. 177 Perthes, F. 121 Pialoux, C. 35 Piovani, P. 9, 61-82, 85f, 90, 96-99, 183 Piaton 157,204f Plessner, H. 51 Pöggeler, O. 85 Polanyi, K. 130 Popper, K. R. 13, 109, 127f, 135 Powell, J. 105 Prantl, C. 103, 195 Preuss, U. K. 161f Prini, P. 80 Prinz, W. 179 Profitlich, U. 184 Pufendorf, S. Frh. v. 166 Pye, Chr. 29 Rabel, E. Rabinow, P.

47

Ranke, L. v. 18, 45, 48, 53, 59, 64-66, 94, 104-106, 108, 113, 115f, 120f, 124-126, 130, 183, 209 Raphael, L. 177 Rawls, J. 169,172 Raymond, G. 36 Reagan, R. 46 Reh, A. M. 47 Reill, P. H. 46,105,122,131 Renthe-Fink, L. v. 202 Revel, J. 177 Rex, J. 165 Rickert, H. 50, 105, 107, 114, 141, 197 Riegl, A. 148 Rilke, R. M. 41 Ritsehl, A.B. 107 Ritter, G. 117,121 Ritter, J. 51,180,186,193 Robinson, J. H. 44f, 4 7 ^ 9 , 52 Rodbertus, U. 136 Rodi, Fr. 203 Röhl, J. 196 Romagnosi, G. 89 Rorty, R. 128, 133, 143, 182, 201 Rosa, R. de 70 Rosaldo, R. 18 Roscher, W. 66, 105, 134, 136f Rosmini, A. 69, 75 Rossi, P. 61, 67, 69, 108f, 134, 139 Roth, G. 112 Roth, M. 178 Rothacker, E. 102, 130, 193 Rothermund, R. 191 Rousseau, J. J. 168,171 Rüsen, J. 10, llOf, 113, 117-120, 123f, 175, 178, 182, 185-188, 191 Russo, L. 90 Ryles, G. 183 Sabean, D.W. 126 Sacks, S. 42 Sahlins, M. D. 126 Salamun, K. 208 Sallis, J. 208 Samuel, R. 193 Sandel, M. J. 169f Santinello, G. 200 Savigny, F. C. v. 103, 105, 156 Scaff, L. A. 10, 12, 127, 136, 138 Schapp, W. 151

221

Personenregister Scheibe, E. 150 Scheler, M. 51,202-204 Schelling, F. W. 60 Scherpe, K. R. 184 Schiller, Fr. v. 47 Schlechte, K. 140, 197 Schlegel, Fr. D. E. 32, 103, 151, 155, 193 Schleiermacher, Fr. 52, 59, 64, 94, 195f, 205-207, 213 Schmidt-Biggemann, W. 191 Schmoller, G. v. 105, 116, 127, 131, 134, 137-139 Schnädelbach, H. 18, 110, 180, 183, 189 Schnur, H. 200 Scholtz, G. 155, 157,179f, 191f Scholz, O. R. 200, 213 Schopenhauer, A. 89 Schörken, R. 175 Schom-Schütte, L. 47, 49 Schröder, E. Ch. 213 Schulin, E. 48,120,188 Schulze, W. 177,188 Schumpeter, E. B. 134 Schumpeter, J. A. 134f, 138, 142 Schütze, D. 213 Schwibs, B. 35 Scott, D. 116 Scott, J. W. 25-27 Seeba, H. C. 8, 17f, 40, 42f, 45, 52, 184 Seligmann, E. R. A. 49 Selznick, Ph. 129 Sen, A. 129 Senger, H. v. 159 Shakespeare, W. 32, 34, 38, 184 Sheehan, J. J. 48 Shils, E. 50 Shionoya, Y. 129 Shklar, J. N. 168 Simmel, G. 141, 168 Simone, G. de 72 Simpsons, D. 46 Smith, A. 130,166 Snyder, Ph. L. 52 Sokrates 114, 132f Solf, W. 116 Sombart, W. 134, 139f Sontheimer, K. 140 Spahr, B. L. 47 Späth, A.A. 192 Spaventa, B. 89

Spaventa, S. 89 Spenser, E. 34 Spitzer, L. 18,44 Spree, A. 212 Srbik, H. Ritter v. 117 Staiger, E. 44 Stallybrass, P. 29 Stark, W. 116 Steenblock, V. 11, 134, 174,186,189, 191 Stein, L. v. 123 Steinfels, P. 41 Steinwachs, B. 179 Stern, A. 156 Stierle, K.-H. 191 Stimmann, H. 179 Strauss, L. 46 Süssmuth, H. 175 Sybel, H. v. 180 Taylor, Ch. 11, 133, 145, 167, 169, 171f Telman, D. A. J. 111, 122f Tennenhouse, L. 29 Tessitore, F. 9, 55, 67f, 73-77, 79f, 84f, 87-90, 94, 96-98, 100, 109, 183 Thomas, B. 8, 12f, 44f, 47, 54, 110, 184f, 185, 207 Thompson, J. B. 36 Tieck, L. 32 Tocqueville, A. de 123 Toderov, T. 201 Toellner, R. 185 Tönnies, F. 168 Tortarolo, E. 109 Treitschke, H. v. 176 Troeltsch, E. 24, 48, 55, 61f, 65, 69, 81, 93f, 106f, 111, 114, 116, 131, 133-135, 139, 181, 183,195-197 Trommler, F. 41, 183 Tugendhat, E. 199 Turgot, A. R. J. 166 Turner, F. J. 19f Uffelmann, U. 175 Ulbricht, W. 178 Veblen, Th. 131 Veeser, H. A. 14,44, 110, 184 Verrà, V. 68, 76, 80f Viano, C. A. 68 Vico, G. B. 9, 56, 59, 63, 65, 69, 72, 75, 85-90, 94, 103

222 Villari, P. 92 Voßkamp, W. 43 Voßler, K. 195 Wach, J. 105 Wagner, A. 105 Walzer, M. 169,171 Warburg, A. 50f Warning, R. 191 Weber, A. 138 Weber, M. 9f, 48, 55, 58, 65f, 69, 106f, 109, 111-114, 123, 126, 128, 130f, 134-140, 142, 157, 168, 181 Weber, W. 120 Wefelmeyer, F. 50f Wehler, H.-U. 117, 176f Weingart, P. 179 Weiß, J. 157 Wenz, G. 196 Werner, K. 103 White, H. 46,188 Wieland, W. 150 Wiener, Ph. P. 23

Personenregister Williams, B. 143 Williams, P. 31,33 Wilson, R. 110 Wilson, Th.W. 158,160 Winckelmann, J. 106f, 128 Winckelmann, J. J. 46, 103 Wind, E. 50 Windelband, W. 105,114 Winkel, H. 137f Wittgenstein, L. 53 Wittkau, A. 105,110-114, 181f Wittkowski, W. 47 Wohlleben, M. 148 Wolf, K. H. 106 Wolff, K. 131 Yorck v. Wartenburg, Graf P.

Zahlmann, Ch. 169 Zammito, J. H. 110 Zanfarino, A. 98 Zimmermann, R. 194

202

Autorenverzeichnis

KARL ACHAM

Prof. Dr., Institut für Soziologie. Abtlg. für Soziologische Theorie, Ideengeschichte und Wissenschaftslehre. Karl-Franzens-Universität Graz OLIVER ARNOLD

Prof. Dr., Department of English. Princeton University GIUSEPPE CACCIATORE

Prof. Dr., Dipartimento di Filosofia „A. Aliotta". Università degli Studi di Napoli Federico II GIUSEPPE CANTILLO

Prof. Dr., Dipartimento di Filosofia „A. Aliotta". Università degli Studi di Napoli Federico II GEORG G . IGGERS

Prof. Dr., Department of History. Faculty of Social Sciences. University at Buffalo, State University LÜBBE of New York. HERMANN Prof. Dr., Philosophisches Seminar der Universität Zürich LAWRENCE SCAFF

Prof. Dr., Department of Political Science. College of the Liberal Arts. The Pennsylvania State University GUNTER SCHOLTZ Prof. Dr., Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. HINRICH C . SEEBA

Prof. Dr., Department of German. University of California, Berkeley VOLKER STEENBLOCK

Dr., Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum

224

Autorenverzeichnis

FULVIO TESSITORE

Prof. Dr., Dipartimento di Filosofia „A. Aliotta". Università degli Studi di Napoli Federico II BROOK THOMAS

Prof. Dr., Department of English and Comparative Littérature. University of California