Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910-1940: Ausgewählte Aufsätze 9783666359965, 9783647359960, 9783525359969

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Kapitalismus, Klassenstruktur und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910-1940: Ausgewählte Aufsätze
 9783666359965, 9783647359960, 9783525359969

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KRITISCHE STUDIE N ZUR GESCHICHTSWISSENSCHAF T

Herausgegeben vo n Helmut Berding , Jürge n Kocka , Hans-Ulrich Wehle r

Band 3 9 Emil Ledere r Kapitalismus, Klassenstruktu r un d Problem e der Demokrati e i n Deutschlan d 1910-194 0

GÖTTINGEN · VANDENHOECK & RUPRECH T · 197 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Kapitalismus, Klassenstruktu r und Probleme der Demokratie in Deutschland 1910-194 0 von

EMIL LEDERE R

Ausgewählte Aufsätz e mit eine m Beitra g vo n Han s Speie r und eine r Bibliographi e vo n Bern d Uhlmannsie k herausgegeben vo n Jürgen Kock a

GÖTTINGEN - VANDENHOEC K & RUPRECH T - 197 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

CIP-Kurztitelaufnahme de r Deutschen Bibliothe k Lederer, Emil

[Sammlung] Kapitalismus, Klassenstruktu r un d Problem e de r Demokrati e i n Deutschlan d 1910-1940 [neunzehnhundertzeh n bi s neunzehnhundertvierzig]: ausgew . Aufsätze / vo n Emi l Lederer . Mi t e. Beitr . vo n Hans Speier u . e . Bibliogr . von Bernd Uhlmannsiek , Hrsg . vo n Jürgen Kocka . - Göttingen : Vandenhoeck un d Ruprecht , 1979 . (Kritische Studien zu r Geschichtswissenschaft ; Bd . 39) ISBN 3-525-35996- 9 © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttinge n 1979 . - Printe d i n Germany. Ohn e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen.-Satz un d Druck: Guide-Druck, Tübingen . - Bindearbeit : Huber t & Co., Göttinge n

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

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Emil Ledere r (1882-1939 ) 1935 in Ne w Yor k

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Inhalt Einleitung 7 1. Di e Gesellschaft de r Unselbständigen. Zu m sozialpsychische n Habitus der Gegenwart(1913/19) 1

4

2. Klasseninteressen , Interessenverbänd e un d Parlamentarismu s (1912) 3

3

3. Di e Angestellten im Wilhelminischen Reich (1912) 5

1

4. Di e ökonomisch e un d sozial e Bedeutung de s Taylorsystem s (1914) 8

3

5. Problem e de s Sozialismu s i m Zeitalte r de s sic h organisierende n Kapitalismus: am Beispiel der Handelspolitik un d des Plans einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1916 ) 9

7

6. ZurSoziologiedesWeltkriegs(1915 ) 11

9

7. Di e ökonomische Umschichtung im Krieg (1920) 14

5

8. Problem e der Sozialisierung. Red e im „Verei n fü r Sozialpolitik " am 16. Sept. 1919 15

5

9. Di e Umschichtung de s Proletariats un d di e kapitalistische n Zwischenschichten vor der Krise (1929) 17

2

10. ProblemedesdeutschenParlamentarismus(1929 ) 18

6

11. Gege n Autarki e un d Nationalismus . Red e im „Verei n fü r Sozialpolitik" am29. Sept. 1932 19

9

12. Di e Weltwirtschaftskrise- ein e Krise des Kapitalismus. Ursachen und Auswege (1932) 21

0

13. Ha t der Kapitalismus versagt? Notwendigkei t un d Schwierigkei t der Planung (1934) 23

2 5

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14. End e der Klassengesellschaft ? Zu r Analys e de s Faschismu s (1938/39) 23

9

Emil Lederer: Leben und Werk (von Hans Speier) 25

3

Anmerkungen 27

3

Verzeichnis der Originaltitel und ursprünglichen Druckorte 29

1

Verzeichnis der Schriften von Emil Lederer 29

2

6 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Einleitung de s Herausgebers Die Traditionen, an die eine als historische Sozialwissenschaft betriebene Geschichtswissenschaft anknüpfe n kann , finde n sic h bekanntlic h wenige r i m Bereich der Fachhistorie selbst als in der älteren, noch nicht enthistorisierten Staats- un d Sozialwissenschaft . Hie r gib t e s noc h vie l wiederzuentdecke n oder übe r de n Krei s von Spezialiste n hinau s bekann t z u machen , zuma l i n Deutschland manche lohnende Traditionslinie 1933 aus politischen Gründen verschüttet und auch nach 1945 nicht wieder freigelegt wurde . Dies trifft auf das Werk de s Wirtschafts- un d Sozialwissenschaftlers Emi l Lederer zu, de r 1882 in Pilsen geboren wurde, vornehmlich in Wien studierte, später in Heidelberg un d Berli n lehrte, 193 3 emigrierte und bis zu seine m Tod 193 9 der neugegründeten Graduat e Facult y de r Ne w Schoo l o f Socia l Researc h i n New Yor k angehörte . Interessant un d wichtig erschein t Lederer s Werk aufgrun d einige r seine r thematischen Schwerpunkte , di e in den Diskussionen vo n wirtschafts-, so zial- und gesellschaftsgeschichtlich orientierte n Zeithistorikern gegenwärti g zentral sind . Sei n zugleic h systematische s un d historische s Vorgehe n ver dient heut e ebenso Beachtung wi e seine spezifische Verknüpfun g vo n Wissenschaft un d praktische m Interesse . De r demokratisch e Sozialis t Ledere r vertrat ein e wissenschaftlich-politische Orientierung , dere n Leistungsfähig keit und Entwicklung auf dem Weg vom Kaiserreich zum Dritten Reich auch jene Interess e entgegenbringe n dürften , di e ih r inhaltlic h ferne r stehen . Vier thematisch e Schwerpunkt e lasse n sic h i n seinen Arbeite n heraushe ben. Da sind zum einen seine volkswirtschaftlich-theoretischen Studien , di e den größten Teil seines gedruckten Werkes ausmachen. Die Schrift „Grund züge der ökonomischen Theorie" (1922), ihre Überarbeitung als „Aufriß der ökonomischen Theorie " (1931 ) und sein e Abhandlung „Technische r Fort schritt und Arbeitslosigkeit" (1931 , 193 8 auf englisch) stammen neben vielen Aufsätzen un d kleinere n Schrifte n au s diesem Arbeitsgebiet . Ledere r hatt e bei Böhm-Bawer k un d andere n Vertreter n de r Wiene r Grenznutzenschul e studiert. Zu m andere n wa r e r früh un d dauerhaf t vo n austromarxistische n Denkern beeinfluß t worden . E s gelang ihm , dies e beide n prägenden Anre gungen fruchtbringend z u verknüpfen. Mi t Schumpeter wa r er befreundet . Lederer vermocht e da s theoretisch e Rüstzeu g de r zeitgenössische n Wirt schaftstheorie vol l z u benutzen ; zugleic h strebt e e r danach , di e Stati k de r überlieferten Systeme zugunsten einer dynamischen Analyse zu überwinden. Er versuchte, di e angewandte n Kategorie n i n ihre r Historizitä t un d ihre r Verknüpfung mi t soziopolitische n Dimensione n z u begreifen. E r interes 7 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

sierte sic h vo r alle m fü r Störungen , weitertreibend e Moment e un d Funk tionsgrenzen des kapitalistischen Systems in seinem sozialen und politischen Zusammenhang. Darau s wie natürlich auch aus den Erfahrungen seine r Zeit wird verständlich, daß er viel Mühe auf die begriffliche Erfassun g von Wettbewerbs-Unvollkommenheiten, Monopolen , Beschäftigungslosigkei t un d auf di e sozio-ökonomische n Wirkunge n de s technische n Fortschritt s ver wandte. E r legt e ein e eigen e Konjunkturtheori e vor , i n de r di e i m Auf schwung nachhinkend e Massenkaufkraf t sowi e di e unterschiedlich e Ent wicklung von Produktions- und Konsumgüterindustrien im Konjunkturverlauf besonder s beton t wurden . Wenige r vo n geld - un d kreditpolitische n Heilmitteln erwartet e Ledere r Abhilf e i n de n Wirtschaftskrise n de r Zwi schenkriegszeit, ehe r scho n vo n eine r aktive n Lohnpolitik , vo n Einkom mens-Umverteilung un d vo n vorsichtige r Planun g au f demokratische r Grundlage. De r unte n al s Nr . 1 2 abgedruckte Vortra g übe r di e Weltwirt schaftskrise von 1932 stellt eine auch für Nicht-Ökonomen verständliche Zusammenfassung seine r hauptsächlichen Einsichte n au f diesem Arbeitsgebie t dar. Die meisten seiner nationalökonomisch-theoretischen Arbeite n entziehe n sich einer knappen Auswahl, sin d wohl auc h eher an den nationalökonomi schen Fachman n gerichtet , de r manch e vo n ihne n veralte t finde n mag ; si e werden im vorliegenden Band nur am Rande berücksichtigt1. Doch stellen sie die Grundlage für stärker empirisch orientierte sozialökonomische Ausfüh rungen dar, die ins Zentrum dessen reichen, was heute unter dem Stichwort: Herausbildung de s „organisierten Kapitalismus" 2 oder unter ähnlichen Fra gestellungen diskutier t wird . I m mikro-ökonomischen Bereic h beschäftigt e sich Ledere r frü h mi t de r ökonomischen un d soziale n Bedeutun g innerbe trieblicher Rationalisierun g un d unternehmensinterne r Durchorganisation ; sein Aufsatz übe r da s System „Taylor " (Nr . 4 ) ist ein gute s Beispiel dafür . Zum anderen behandelte er Probleme des Verhältnisses von Wirtschaft un d Politik, s o i n seine m Aufsat z übe r de n sic h verändernde n Stellenwer t de r Handelspolitik und die Versuche der sozialistischen Theorie, damit ins Reine zu kommen (Nr. 5) . Weiterhin stieß er zu reflektierten Gesamteinschätzun gen des kapitalistischen Wirtschaftssystem s vor , di e zugleich di e Erfahrun gen de r Umbruchsituatio n 1918/1 9 un d de r Kris e 1929-3 3 widerspiegel n (Nr. 8,1 2 und vor allem 13). Kritisch stand Lederer dem Kapitalismus vor allem deshalb gegenüber, weil dieser seines Erachtens die eigenen Ansprüche je später dest o wenige r einzulöse n vermocht e - nich t zuletz t aufgrun d seine r Tendenz zu zunehmender Organisatio n un d Verfestigung. Fü r obsolet un d zusammenbruchsträchtig hiel t e r ih n nicht . Da s de m Marktprinzi p eigen e Steuerungspotential hielt er für schwer ersetzbar, wenn auch für ergänzungsbedürftig. Schließlic h beschäftigte sic h Lederer, vor allem 1918-20, konkre t mit Alternative n zu m kapitalistische n System . Al s Mitglie d de r Sozialisie rungskommissionen in Österreich und Deutschland, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion der Zeit (siehe seine Rede im Verein für Sozialpoliti k 8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

von 1919, unten Nr. 8 ) propagierte er die Sozialisierung großer Wirtschaftsbereiche, u m „di e Arbeite r al s aktive s Elemen t i n de n Produktionsappara t einzufügen" un d „da s Prinzip eine r demokratischen Wirtschaft, welch e von allen Klassen gewollt und getragen wird, zu realisieren". Er plädierte für ein flexibles System von Marktmechanismen, Arbeitnehmermitbestimmung un d Planung, i n seh r sachkundige r un d praxisbezogene r Weise . Sein e Ausfüh rungen sin d wichti g fü r di e Beurteilun g de r Chance n mögliche r gesell schaftspolitischer Alternative n nac h de m End e de s Erste n Weltkrieg s wi e auch fü r di e heutig e Diskussio n übe r da s sinnvoll e Verhältni s vo n Markt , zentraler Planun g un d dezentrale r Mitbestimmung 3. Einen zweite n Schwerpunk t vo n Lederer s Arbei t stell t di e Analys e vo n Klassenstrukturen in ihrer Veränderung dar. Sicherlich lag das Ausgreifen in soziologische Arbeitsfelde r fü r eine n Ökonomen , de m di e sozial e Dimen sion wirtschaftlicher Prozess e immer bewußt war, nicht allzu fern. Doch die Intensität und Breite seiner soziologischen Arbeite n erkläre n sich aus anderen Quellen, seinem frühen sozialistischen Engagement und seinen anti-spezialistischen Erkenntnisinteresse n überhaupt . E r wurd e zu m erste n un d vielleicht bis heute - wichtigste n Soziologen der frühen Angestellten, die sich in den ersten Jahren von Lederers wissenschaftlicher Karriere , am erfolgrei chen Kamp f u m ei n spezielle s Angestellten-Versicherungsgeset z (190 6 i n Österreich, 191 1 im Deutschen Reich) als soziale Gruppe herauskristallisier ten. Was diese Zweiteilung der Arbeitnehmer in Arbeiter und Angestellte mit Blick au f di e von Marxisten prognostizierte zunehmend e Polarisierung de r kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaftsordnun g bedeute n un d wi e si e di e Perspektiven sozialistischer Politi k beeinflussen würd e - da s dürfte letztlic h das treibende Interess e hinter Lederer s umfangreiche n Angestelltenstudie n gewesen sein. E s war das Interesse eines Sozialisten, de r imme r bereit war , überlieferte marxistisch e Erklärungsmuste r au f ihr e Übereinstimmun g mi t der gegenwärtige n Wirklichkei t z u überprüfe n un d gerad e au s de r Nicht Übereinstimmung vo n Erklärungsmuster und Wirklichkeit wissenschaftlic h und politisc h weiterführende , unorthodox e Konsequenze n z u ziehen . Ei n Auszug aus dem Buch „Die Privatangestellten in der modernen Wirtschafts entwicklung" vo n 191 2 und eine ebenfalls vo n Angestellten handelnde Un tersuchung vo n 192 9 werden unte n al s Nr. 3 und 9 abgedruckt 4. Von der Angestelltenanalyse griff Lederer auf andere Aspekte der Klassenstrukturen aus . Von ih m un d seine m Mitarbeite r Jako b Marscha k stamm t ζ. Β . der den Umfang und die Dichte eines selbständigen Buchs erreichende, ungemein informationsreich e un d bi s heut e unverzichtbar e Beitra g „Di e Klassen auf dem Arbeitsmarkt" i m „Grundriß der Sozialökonomik" (1927) , eine Darstellun g de s Verhältnisse s vo n Arbeiterschaf t un d Unternehmer n bzw. Kapitaliste n (einschließlic h de r Organisationsgeschicht e un d relevan ten Gesetzgebung) vom 19 . Jahrhundert bi s zur Mitte der 20er Jahre 5. Ei n Ökonom wie Lederer war natürlich nicht in der Gefahr, die sozialökonomische Dimensio n vo n Klassenbildun g un d Schichtun g z u vernachlässigen . 9 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Aber andererseits gelang es ihm, das in die Analyse einzubeziehen, wa s man heute als „kollektive Mentalitäten" bezeichnen würde. Sein 1913 geschriebener und 191 9 veröffentlichter Aufsat z über den „Sozialpsychologischen Ha bitus der Gegenwart" (unte n Nr. 1 ) versucht, sozialpsychisch e Akzentver schiebungen in breiten Gruppen der Bevölkerung festzustellen, di e als Folge zunehmender Durchorganisation de r Gesellschaft un d verbreiteter Arbeit in abhängiger Stellung zu begreifen sind. Unselbständigkeit und Sicherheitsbedürfnis werde n nicht in kulturkritischem Räsonnemen t beklagt, sonder n im Rahmen einer sozialökonomisch fundierten , nuancenreiche n Untersuchun g beschrieben und erklärt , di e orthodoxere Forme n der Klassen-, Interessen und Ideologieanalys e eindrucksvol l hinte r sic h läßt . Sowohl mi t seinem Interess e a m immer meh r organisierte n Kapitalismu s wie mit seinen Forschungen zur Klassenstruktur und Schichtenbildung hängt Lederers dritter Themenschwerpunkt auf s engst e zusammen: di e politische Soziologie. Di e Transformation de s politischen System s unter dem Einflu ß sozialökonomischer Wandlungen, di e Einwirkung staatlicher Politik auf das Verhältnis der Klassen und Schichten zueinander, das Verhältnis von Interessenorganisationen, politische n Parteie n un d Parlamente n - da s waren Themen, di e Ledere r i n frühe n Pionierstudie n vo r 191 4 untersucht e un d i m Schatten der nahenden Krise 1930 wieder aufnahm. E r erkannte, daß die zunehmenden staatliche n Interventione n i n Wirtschaf t un d Gesellschaf t un d umgekehrt di e zunehmend e „Sozialökonomisierung " de r Politik di e Parla ments- und Parteienwirklichkeit i n einer Weise veränderten, die mit der Idee eines Parlaments unabhängiger, nu r ihrem Gewissen verantwortlicher und in vernünftiger Diskussio n da s allgemein e Woh l suchende r Abgeordnete r schwer vereinbar war. Doch wandte er diese Einsicht nicht in die so übliche und regelmäßi g z u kur z greifend e - Prinzipienkriti k a m Parlamentarismu s und Parteienstaat um , wen n e r auch rätedemokratische n Ergänzunge n zu m parlamentarischen System wenigstens vorübergehend zuneigte . Zunehmen d scheint ih m vielmehr de r englische Parlamentarismu s al s Modell gedien t zu haben, an dem er den deutschen kritisch maß. Abgedruckt werden sein mittlerweile fast klassisch zu nennender Aufsatz aus der „Zeitschrift fü r Politik " aus de m Jahr e 191 2 (Nr . 2 ) un d desse n Fortführun g au s de m Jahr e 193 0 (Nr. 10) 6. Als vierter , unte r heutige n Gesichtspunkte n besonder s interessan t er scheinender, Themenschwerpunk t sin d Lederer s Arbeite n zu r Entstehun g und Eigenart de s Nationalsozialismus z u nennen . Daz u zo g Ledere r einig e Konsequenzen au s seine m frühere n Wer k un d macht e i n andere m Zusam menhang entstanden e Einsichte n fü r di e Analys e de s Nationalsozialismu s nutzbar. Das gilt, wie Hans Speier (unten S. 255-56) zu Recht betont, für seine Untersuchung über das Verhältnis von Sozialstruktur und Staat im Ersten Weltkrieg (Nr . 6) ; das gilt auc h für sein e Analysen de r angestellten Mittel schichten, i n denen er 192 9 (Nr. 9,S. 172-85) - i m Unterschied z u 1912 - di e Gedanken des Faschismus Wurzeln schlagen sah; und 1934 sah er die psychi10 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

schen Bedingunge n de s Faschismu s au s de r wirtschaftliche n un d soziale n Krise des Kapitalismus erwachsen (Nr. 13, S. 232-38). Doch erst aus den Erfahrungen der 1930e r Jahre entstand das posthum herausgegebene Buch „Stat e of the Masses" (siehe den Auszug unte n als Nr. 14) , in dem Lederer seine n lange benutzten klassenanalytischen Zugriff weitgehend aufgab und die Zerstörung sozialer Klassen und Gruppen - di e soziale Entstrukturierung sozu sagen - al s Voraussetzung un d Folg e des totalitären faschistische n System s analysierte. Aufgrund de s heutigen Forschungsstandes wir d man im Unterschied dazu auf die Grenzen totalitärer Nivellierung überkommener soziale r Differenzierungen i m Nationalsozialismu s verweise n un d di e unterschied lich starken Beiträge der sozialen Gruppen und Klassen zum Aufstieg dieser Bewegung betonen. Doch ist Lederers „State of the Masses" mehr als ein faszinierendes Dokument für die Umakzentuierung i m Denken dieses Gelehrten bei der Verarbeitung neue r Erfahrungen. Vielmehr ist das Buch zugleich voll vo n treffsichere n Einsichten , etw a übe r di e permanente Mobilisierun g als Mittel de r Herrschaftserhaltung i n jenem System, übe r seinen darin be gründeten Drang zur Aggression nach außen und seine Unfähigkeit zu überdauern, über den Zusammenhang von sozialpsychischer Desintegration und Führer-Diktatur und über eine Vielzahl anderer Aspekte des nationalsozialistischen Herrschaftssystems , di e i n de r Ta t klassenanalytisc h nich t hinrei chend z u fasse n sind . Lederer verstan d es , weitgreifend e Theori e un d sorgfältigst e empirisch e Detailargumente miteinander zu verknüpfen. E r hatte Marx studiert und viel von ihm gelernt. Das zeigte sich in seinen Erkenntniszielen und seiner grundsätzlichen methodischen Orientierung deutlicher als in den einzelnen Ergebnissen seiner Arbeit: Er interessierte sich für die Verknüpfung vo n Ökonomie, Herrschaft un d sozialer Ungleichheit- nicht so sehr für „reine Ökonomie". E r kannt e di e Historizität wirtschaftswissenschaftliche r Kategorien , die sich so häufig allgemeingültig-unhistorisc h geben . Er begriff die Ökonomie als Sozialwissenschaft, wirtschaftlich e Vorgänge als Momente eines umgreifenden soziale n Prozesses . Marxistisch e Erklärungsmuste r hiel t e r fü r gewichtig genug , u m einen guten Teil seines Werkes zur impliziten und expliziten Auseinandersetzung mi t ihnen zu verwenden. Dies macht den Reiz seiner Arbeite n aus : vom Marxsche n Paradigm a hinreichen d beeinfluß t z u sein, um sich seiner mit Gewinn zu bedienen, und ihm zugleich kritisch und frei genu g gegenüberzustehen, u m es vorbehaltlos empirisc h z u prüfen, z u verfeinern, z u überschreite n un d - wen n nöti g - z u vergessen . Mit wissenschaftstheoretischen Ausführunge n hiel t sic h Lederer nu r we nig auf. Weit war er von jeder Tendenzwissenschaft entfernt . Di e empirische Überprüfung und die argumentative Kraft sicherten für ihn die Geltung wissenschaftlicher Aussagen , nich t aber de r Werte - und Interessenzusammen hang, aus dem sie stammten, noch die Aufgabe, de r sie dienen mochten. Wie selbstverständlich trat er ein für Prinzipien wissenschaftlicher Objektivität für unbestechlic h klar e Argumentation , fü r strikt e methodisch-empirisch e 11 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Überprüfbarkeit un d Prüfung; dafür , da ß wissenschaftlich e Aussage n Gel tung auch unter politisch und weltanschaulich divergenten Wissenschaftler n beanspruchen können und müssen. Damit teilte Lederer, Mitherausgeber des „Archivs für Sozialwissenschaften un d Sozialpolitik" - i m folgenden als ASS abgekürzt - , wichtig e Grundsätz e de s wissenschaftstheoretische n Pro gramms, das Max Weber 190 4 für dies e Zeitschrift formulier t hatte 7. Doch deutlicher als Weber es aussprach, erkannt e er, wie stark die Wissenschafte n - un d schon gar die Sozialwissenschaften - vo n bestimmten freiheitlich-de mokratischen Grundbedingunge n abhingen , dere n Zerstörung auc h sie selber gefährdet e un d fü r dere n Erhaltun g de r Wissenschaftle r qu a Wissen schaftler deshal b eintrete n kan n un d muß . Besonder s nac h 193 3 betonte er diese wertbezogen-praktische Verwurzelung aller Wissenschaft und das daraus folgende Recht der Wissenschaft - j a ihre Pflicht - zu m grundsätzliche n gesellschaftlich-politischen Engagemen t gege n all e solch e Tendenzen , di e ihre eigene n Existenzgrundlage n zerstören . Eine n falschen Objektivismus , der zur Zerstörung der Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft bei trug, bekämpft e er ; er reihte ihn unter die Aufstiegsbedingungen de r faschistischen Diktatur ein (siehe Nr. 14 , S. 239-52) 8 . Lederer war Vertreter einer engagierten Sozialwissenschaf t un d zugleic h ei n Feind jede r wissenschaftsfremden Parteilichkeit . Lederer wa r Sozialist . Aufklärerische n Geis t un d soziale s Engagement , austromarxistische Prägung und demokratische Liberalität verband er in seiner Person. Es ist interessant zu verfolgen, wi e ein scharf beobachtender und aufnahmebereiter Vertrete r diese r Orientierun g di e Umschwünge un d Ein brüche der Zeit verarbeitete, i n der e r lebte und sic h engagierte : da s vordemokratische, vorparlamentarische Kaiserreich ; die Radikalisierung a m Ende des Krieges, die ihn in die USPD führte; di e Resignation danac h be i fortgesetzter Arbei t i n de r sozialdemokratische n Gewerkschaftsbewegung ; di e Krise des Kapitalismus mit dem Durchbruch des Faschismus in Zentraleuropa, de r ih n wi e viele andere zu r Emigratio n zwang ; di e Erfahrung , da ß die Traditionen, für die er politisch gelebt hatte, ohne viel Widerstand einer barbarischen Alternative wichen; und in den USA das Erlebnis eines durch und durch kapitalistische n Landes , da s nich t faschistisc h pervertierte . Lederer s Sozialismus wa r niemal s dogmatisch , un d i n diese n gesellschaftlich-politi schen Wandlunge n ändert e e r sich zutiefst . Ledere r blie b lern - un d wand lungsfähig bis zu seinem Tod. Man vergleiche seine Rede über Sozialisierung und Kapitalismu s vo n 191 9 (Nr . 8 ) mi t seine r Arbei t übe r de n totalitäre n Massenstaat von 1939 (Nr. 14) , um zu begreifen, wi e weit diese Wandlungsfähigkeit ging: Von Kapitalismus und Klassenanalyse war nun kaum mehr die Rede, vo m „inhaltslosen" , verselbständigte n Staa t un d vo n strukturlose n Massen um so mehr - jedoc h ohn e die beim Gebrauch diese s Begriffs übli chen konservativ-elitären, romantisch-kulturpessimistische n Obertöne . Wie sehr Lederer s Wer k andererseit s i n alle m Wande l mi t sic h identisc h blieb , zeigt der Vergleich von „State of the Masses" (Nr. 14 ) mit dem Aufsatz über 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

den sozialpsychischen Habitu s de r Zeit vor dem Ersten Weltkrieg (Nr . 1) : Schon 191 3 vorhandene Ansätze zur Analyse von massenhafter Anomie und Desintegration wurden 193 9 ausgearbeitet, allerding s zugleich etwa s aus ihrem einstmal s schärfe r gesehene n sozialökonomische n Bedingungszusam menhang gelöst . Die im wesentlichen 9 chronologische Anordnung de r Aufsätze soll e s erleichtern, die Entwicklung von Lederers Denken zu verfolgen. Die Auswahl bringt nu r Stücke zur deutschen Gesellschaftsgeschichte , di e nach Meinun g des Herausgebers ihre wissenschaftliche Relevanz behalten oder gar seit ihrer Entstehung vergrößert haben. Verlegerische Notwendigkeiten machten eine scharfe Auswahl nötig, auf die Einfügung des nicht auf Deutschland bezogenen breiten und vielfältigen Werk s wurde ganz verzichtet. Doch wird diese r Teil vo n Lederer s Arbeite n i n de r angefügte n Bibliographi e dokumentier t und in der ausführlichen Würdigung umrissen, die Lederers ehemaliger Assistent und langjähriger Kollege, Hans Speier, dankenswerterweise z u diesem Band beigesteuer t hat . Die Überschriften wurde n beim Abdruck leicht verändert, di e Zwischenüberschriften hinzugefügt . Auslassunge n i m Text sind durch . . . gekennzeichnet. Die Anmerkungen stammen, soweit nicht durch (d. Hg. ) gekennzeichnet, aus dem Originaltext; si e wurden, wenn nötig, ergänz t und formal dem in dieser Reihe Üblichen angepaßt. In einigen wenigen Fällen wurden im Text au s Gründe n de r Verständlichkei t einzeln e Wort e hinzugefüg t un d dann in eckige Klammer gesetzt . Schreibfehle r un d veraltete Schreibweise n wurden stillschweigend korrigiert. Sperrungen im Originaltext wurden in aller Regel aufgelöst . Für Hilfe beim Sammeln der Texte und Informationen danke ich Gertrude Lederer, Han s und Elizabeth Todd Staudinger und vor allem Hans Speier alle New York. Das Universitätsarchiv Heidelber g gewährte Einblick in Lederers Personalakte, di e New School of Social Research in einschlägige Unterlagen. Hans J. Ginsburg übersetzt e die Stücke 1 3 und 1 4 aus dem Engli schen. Bernd Uhlmannsiek hal f be i der Redaktion un d mit der Herstellun g der Bibliographie. De r DFG danke ich für eine Reiseunterstützung un d der Gewerkschaft ÖT V fü r eine n Übersetzungs - un d Druckkostenzuschuß . J.K.

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1. Di e Gesellschaft de r Unselbständigen. Zum sozialpsychischen Habitu s der Gegenwart (1913/19)1 I. Man pfleg t al s de n charakteristische n Grundzu g de r wirtschaftliche n Ent wicklung, weiterhi n der gesamten Entwicklung i m Geistesleben in den letzten Jahrhunderten die Verdrängung alle s instinktiven, traditionel l gebunde nen, unbewußten oder unbewußt gewordenen Handelns zu bezeichnen, das ersetzt wird durch ein bewußtes, aufgehelltes, planmäßiges , rationale s Vorgehen. Dem Handwerker mit seinem traditionellen, oft unbeholfenen Werkzeug, mi t seine r vo n de n Vorväter n ererbten , of t traumhaf t sichere n Ge schicklichkeit wir d da s Taylorsystem gegenübergestellt , welche s nich t nu r Material und Maschine, sondern auch den Menschen mit seiner persönlichen Begabung und Neigung, insofer n sie eben für das jeweilige Produktionsver fahren von Belang sind 2, als sichere Quantität in die Rechnung einstellt. Der phantastische un d phantasierend e Alchymis t ha t sic h i n eine n amerikani schen Fabrikchemike r verwandelt , un d selbs t da s groß e Geheimni s de r menschlichen Entwicklun g übe r die Jahrhunderte hi n hat ma n versucht, i n den geschichtsphilosophischen Theorien wenigstens gedanklich zu rationalisieren; allerding s of t i n eine r derar t niederdrückende n Nüchternheit , da ß sich feinere Geister aus einer tiefen Beunruhigung, es könnten die geheimnisvollen Quellen de r Seele ganz verschüttet werden , i n mystische Spekulatio nen flüchten, un d so die Ergebnisse eines jahrhundertelangen intellektuelle n Lebens preisgeben. Aus dieser allgemeinsten Entwicklungstendenz vo m traditionellen, historisc h gewordene n organische n Sei n zu m rationalen , kon struierten, bewußten Handeln hat man den geistigen Habitus gezeichnet, der unsere Zeit beherrscht. Die angedeutete Wandlung ist für die psychische Einstellung aller Menschen in der Gegenwart - i m Gegensatz zur Vergangenheit - wesentlic h und in dieser Linie hat sich die Physiognomie der neueren Zeit immer schärfer entwickelt. E s fragt sich aber, ob wir mit dieser allgemeinsten Feststellung das Auslangen finden, wen n wir uns ein bescheideneres Ziel setzen, al s di e gesamt e geistig e Physiognomi e un d di e kulturell e Attitüd e z u zeichnen, wen n wi r nämlic h etwa s aussage n wolle n übe r di e sozialpsychi schen Typen der neueren Zeit, wen n wir also nicht die allgemeinsten Diffe renzen de r seelische n Verfassun g gegenübe r vergangene n Epoche n aufzei gen, sondern nur untersuchen wollen, wie sich die sozialen Gruppen als sol14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

che in ihrer Einstellung zum Leben gewandelt haben - wa s ohne ein näheres Eingehen auf die Formen, in welchen die Inhalte ihres Lebens gegeben sind, augenscheinlich nicht möglich ist. Und wenn wir der Ansicht sind, daß diese Formen de s Leben s wesentlic h au s der ökonomischen Sphär e mitbestimm t werden, dann müssen wir die allgemeinsten Umformungen des Wirtschaftli chen, un d zwa r diejenige n Umformunge n betrachten , welch e direk t psy chisch wirksa m werde n könne n und welche jenseits des ökonomischen Ni veaus, jenseit s des Gegensatzes von arm und reich, also ohne Rücksicht au f die individuelle ökonomische Situation, ganz allgemein ins Bewußtsein wir ken. Die neuer e wirtschaftlich e Entwicklun g is t - sowei t di e Einstellun g de r Menschen in die Wirtschaft betrachte t wir d - dadurc h gekennzeichnet , da ß in immer größerem Umfang die dauernde Verbindung der Menschen mit den sachlichen Produktionsmittel n gelös t is t un d a n Stelle dessen Beziehunge n der Mensche n untereinande r imme r entscheidender e Bedeutun g erlangen . Im folgenden soll hiervon ausgegange n werden. E s sollen also nicht die mit der Rationalisierung de s Arbeitsprozesses, d . h . also , nach der technische n Seite hin, die mit der durchgreifenden Kommerzialisierun g der Betriebe, mit der Maschineneinführung , de r Arbeitsteilun g usw . gegebene n Konsequen zen erörtert werden. Hingegen soll untersucht werden, was es bedeutet, daß die eng e Verknüpfun g de s einzelne n Mensche n mi t bestimmte n Produk tionsmitteln, di e eng e persönlich e un d dauernd e Beziehun g zu r Produk tionsunterlage, z u Haus und Hof, z u Grund und Boden, zu Werkstatt un d Werkzeug gelös t wir d un d daß rasch wachsende Massen von wirtschaftlic h Berufstätigen unselbständi g Berufstätig e werden , welch e di e Produktions mittel nu r als fremde tot e Elemente anwenden, j a vielfach vo n diesen angewendet werden. Diese Frage ist deshalb wesentlich, wei l wir uns unwillkürlich i n unserem Urteil, wi e die ökonomische Sphäre auf den Menschen ein wirkt, noch aus dem Gesichtspunkt des selbständig Berufstätigen orientiere n und dahe r di e Konsequenzen , welch e wi r d a un d dor t sehen , nich t richti g einstellen, nicht mit der tatsächlichen Ursache verknüpfen. Be i der Untersuchung dieses Momentes sollen, wie nochmals betont sei, nicht die ökonomischen Konsequenzen , sonder n di e Folgen fü r di e seelisch e Verfassun g de r einzelnen soziale n Klasse n aufgezeig t werden . Wir gehe n als o von de r Tatsache aus , daß trotz rascher Vermehrung de r sachlichen Produktionsmitte l imme r größer e Massen von Menschen diese n Produktionsmitteln lediglic h al s Träger vo n Arbeitskraf t gegenüberstehen . Das ist nur die andere Seite des Prozesses, welcher immer mehr Menschen zu unselbständig Berufstätige n macht . I n diese r Entwicklun g wurde n zwa r nicht selbständig Berufstätige in Unselbständige verwandelt, abe r es ist doch sehr wichtig, daß der Bevölkerungszuwachs und die Nachkommen der Selbständigen nicht mehr den Zugang zur Beherrschung von Produktionsmitteln finden konnten . Die entscheidende Konsequenz dieser ökonomischen Um schichtung, welche die große Masse zu dauernd Unselbständigen macht, be15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

steht in einer andern Periodisierung des Lebens; der Selbständige alten Stiles, und das war der ökonomisch und sozial ausschlaggebend e Typus, sieht sich und sein Leben prinzipiell in ein unendliches Kontinuum hineingestellt . Al s Repräsentant eine r Familie , di e ihrerseit s wiede r mi t sachliche n Produk tionsmitteln unlösbar verknüpft ist , hat er ein Gefühl de r Stabilität, fü r welche e r sic h auc h verantwortlic h fühlt . Diese s Gefüh l de r Stabilitä t is t ih m nicht positiv bewuß t - insofer n is t e s ein Lebensgefühl , da s erst in das Bewußtsein gehobe n wird , wen n dies e Form de r Existen z bedroh t erscheint . Die Zeiteinheit mit welcher er rechnet, ist das ganze Leben, innerhalb dessen sich die Tätigkeit wieder harmonisch gliedert. Alle wirtschaftlichen Situatio nen beurteilt er von diesem Hintergrund aus 3. Diese ökonomische Stetigkeit und die Notwendigkeit, ih r Rechnung zu tragen, sie zu erhalten, ist von ausschlaggebender Bedeutun g auc h fü r sein e ganze seelisch e Verfassung , wel che, dem Wechsel abgeneigt, einen organischen Aufbau und eine ebenmäßige Entwicklung de s Lebens erstrebt, dessen Grundlage die einheitliche Familie bildet4. Ganz anders ist die Periodisierung de s Lebens bei den unselbständig Be rufstätigen. Wen n wir bei den Beamten beginnen, welche ihrer ganzen ökonomischen Lage nach den Selbständigen am nächsten stehen, so fehlt hier von vornherein die enge Verknüpfung mi t einem sachlichen Element der Produktion. De r Selbständige repräsentiert wirtschaftlich e Mach t durch das Eigentum an Produktionsmitteln, e r gewinnt dadurch ein über seine persönlichen Kräfte und Fähigkeiten hinausreichendes Schwergewicht, das ganz real wirksam ist5. Der Unselbständige, hier der Beamte, existiert trotz aller Sicherheit seiner ökonomischen Lage nur kraft einer Beziehung seiner Person, die in einem rechtsgültigen Vertragsverhältni s ihre n Ausdruc k gefunde n hat . Auc h hängt die Breite seiner Existenz durchaus von der Entwicklung des Geldwertes ab, so daß eine Organisation der Gütererzeugung bei relativer Einschränkung der Erzeugungsmengen seine wirtschaftliche Basis beeinträchtigt. Seine ökonomische Existenz ist weiters nur für ihn gegeben6. Wenn sie auch bis an das Ende seiner Tage gesichert ist , s o reicht si e doch nicht darübe r hinaus . Ebensowenig als ihm diese ökonomische Existenz schon gegeben war, kan n er sie an seine Nachkommen übertragen. Was für den selbständig Berufstäti gen, namentlic h alte n Stils , zeitlic h i n Vergangenhei t un d Zukunf t unbe grenzt ist, die Art und die Form der ökonomischen Existenz, wird hier eingeschränkt au f da s Lebe n de r individuelle n Person . Fü r de n Beamten is t als o sein persönliches Leben als Ganzes genommen die Hauptperiode seiner Existenz, nach welcher er rechnen muß; es gibt nichts, was darüber hinausweist. Und innerhalb dieser Einheit für ihn gibt es wieder eine Periodisierung, wel che sic h abe r nich t nac h irgen d welche n natürliche n Kriterie n entwickelt , sondern i m Gehaltsschema , i m Vorrückungstempo begründe t ist . Wieder ander s verläuf t di e Periodisierun g de s Leben s be i de r nächste n Schicht unselbständig Berufstätiger, de n privaten Angestellten. Auch sie beruhen ökonomisch nicht auf der Verknüpfung mi t den Produktionsmitteln , 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

auch ihre ökonomische Basis ist ein Vertrag. E r unterscheidet sic h aber von dem des Beamten durch seine zeitliche Begrenzung oder wenigstens die zeitliche Unbestimmtheit . Di e vertragsmäßig e ode r erfahrungsgemä ß real e Dauer de s Vertragsverhältnisses be i eine m konkrete n Unternehme n is t di e Hauptperiode seine r Existenz, so daß sein ganzes Leben in mehrere solcher Perioden zerfällt. Di e ökonomische Situation kann sich beim Übergang von dem einen Unternehmen zu m ander n grundsätzlic h verschieben . Innerhal b dieser Hauptperioden werde n die Einheiten, i n welche das Leben der privaten Angestellten gegliedert ist, durch die Fristen gebildet, welche für die Lösung de s Vertragsverhältnisses maßgeben d sind . Und endlic h be i den Arbeitern. Hie r ist die Beziehung zu m industrielle n Unternehmen, z u de n Produktionsmittel n noc h lockerer , di e Lösun g de s Vertragsverhältnisses noc h häufiger. Scho n die wechselnde Beschäftigung j e nach de r Saiso n un d Konjunktu r schaff t eine n rasche n Rhythmus . Di e Hauptperiode seine r Existen z schwank t un d auc h währen d ihre s Verlauf s sind die in seinem Bewußtsein gegebenen Einheiten sehr kurz. Sie deckt sich, wie bei den Angestellten, mi t den Fristen, di e zur Lösung de s Vertragsverhältnisses ausreichen . Wenn wir das bisher Gesagte zuspitzen wollen: Die Hauptperiode der Existenz ist für den selbständig Berufstätigen zeitlich, in Vergangenheit und Zukunft, unbegrenzt , un d innerhalb dieses Kontinuums ist es das Menschenleben, welches als Einheit gefaßt und gefühlt wird. Für den Beamten ist sein individuelles Lebe n di e Hauptperiod e - di e Vorrückungsfristen teile n diese s Kontinuum, und das Jahr wird von ihm als Einheit seiner Ökonomischen Existenz gefühlt. De r private Angestellte rechne t seine Hauptperiode nac h der durchschnittlichen Daue r des Vertragsverhältnisses, da s Jahr bildet bei ihm in den günstigen Fällen die Gliederung dieses Kontinuums, und ökonomisch als Einheit fühlt er - j e nach der Situation - da s Jahr, öfters wohl das Quartal oder einen Monat. Der Arbeiter schließlich kann mit der Dauer des Vertragsverhältnisses ode r de m Jahr schwerlic h i n de m Sin n rechnen , da ß sie sein e Existenz gliedern. Hier verschwimmt alles ins Unbestimmte, und von außen kommende Kräft e (Konjunktur , Saiso n usw. ) atomisiere n sei n Leben . Di e Jahreszeiten sind für ihn wohl die Hauptperioden seiner Existenz, die Woche die Einhei t seine s ökonomischen Lebens . Die Loslösun g de s Mensche n vo n de n Produktionsmittel n un d di e ver schiedenartige Periodisierun g seine s Leben s bedeute t psychisc h di e Auflö sung des Verhältnisses zu r ferneren un d insbesondere näheren Umwelt; di e Beziehungen, welch e de n Mensche n mi t andere n Mensche n verknüpfen , werden infolge des Mangels einer sachlichen, reales Schwergewicht besitzenden Unterlage labiler. Wi e rein juristisch fü r dies e Massen der neueren Zeit das Sachenrecht an Bedeutung verliert, das Obligationenrecht a n Bedeutung gewinnt, so daß der Mensch, der früher durch das Medium sachlicher Unterlagen sich in die menschliche Gesellschaf t einordnete , nunmeh r ausschließlich in einem Netz der Beziehungen von Mensch zu Mensch verhaftet ist - s o 17

2 Lederer , Aufsätz e

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hat das wieder umgekehrt fü r de n Menschen die Konsequenz, sich lockere r und loser in das Gefüge der Dinge einzubetten. Das wird um so mehr der Fall sein, je kürzer der Rhythmus der Periodisierung ist; dort, wo noch das ganze Leben al s Einheit empfunde n wir d un d werde n kann , wir d sic h noc h ehe r eine Annäherun g a n ein e dauernd e Beziehun g z u de n Dinge n ergebe n al s dort, wo schon nach einem Vierteljahr, ode r selbst nach Monatsfrist, di e Basis des Leben s verändert werde n kann . Das Wesentliche in dieser Wandlung liegt darin, daß dieses Leben (aus der Wirtschaft her ) weder Stabilitä t noc h Kontinuitä t erhält . W o sie doc h be steht, ist sie zufällig, nich t notwendig, noch die Regel, geschweige denn konstitutiv. Is t der Mensch de r früheren Tag e mit der Arbeitsstätte und seinem Tun über sein individuelles Leben hinaus dauernd verknüpft (a m festesten in der Landwirtschaft, doc h prinzipiell ebens o im Gewerbe), so haben die Beziehungen zu den Produktionsmitteln nunmeh r einen anderen Sinn und andere Gestalt. Sie binden nicht mehr so fest und tragen auch nicht mehr so sicher. J e größer die Betriebe, u m so kälter di e Beziehung zwische n Produk tions- und Arbeitselement. De r Arbeitende wird nur nach seiner Leistungsfähigkeit herangezoge n oder abgestoßen. E r bedeutet nur genau soviel, als er leisten kann. Dadurch verliert der einzelne ganz realiter immer mehr an Gewicht, weil ihn nicht mehr die Produktionsunterlage trägt und stützt, er nicht mehr di e Produktionsunterlage, d . h . seine n Betrieb , sei n Handwerkszeu g repräsentiert. E r ist nu r nötig , dami t di e Produktionsmitte l funktionieren , aber dazu is t nicht gerade er nötig. Dadurc h werde n aber auch alle Produktionselemente u m ih n he r un d fü r ih n a n Gewich t un d Substan z verlieren . Der einzelne is t nicht meh r identisc h mi t dem , wa s er tut, un d all sein Tun fließt auch nicht mehr aus seinem Wesen. Es hält ihn nicht mehr sein Tun und Schaffen gefangen, seine Existenz verliert ihre Wucht und Schwere, alles wird um ih n leichter , wir d aufgelös t un d verflüchtigt . Den n e r repräsentier t j a nicht meh r - wi e der Selbständig e frühere r Zei t - ei n Attraktions - un d Le benszentrum i n seine r Produktionsunterlage . Währen d e r nu r Arbeitslei stung ist , hatt e der Selbständig e frühere r Zeite n nich t nu r di e Möglichkeit , seine Produktionsunterlage z u verbreitern, sonder n e r konnt e auch alle s in diese hineinziehen, direk t und indirekt alle s Erleben auf diese Produktionsunterlage beziehen, privates Tun und privaten Besitz mit der Produktionsunterlage verknüpfen, un d dadurch sein Tun in seiner Bedeutung hinauswach sen lassen über die Wichtigkeit für sein individuelles Leben. Das mußte nicht immer der Fall sein, abe r die feste Verankerung i n der sachlichen Unterlag e seines tätigen Leben s hat ihn doch auf Schrit t und Tritt gehalte n un d getra gen. Dies e Möglichkeite n de r psychische n Einstellun g sin d fü r di e große n Massen nicht mehr gegeben. Alle s is t um sie und für si e locker und lose geworden, wei l sie selbst nur locker und lose in die Produktionsunterlage ein gebettet sind, weil oft blinde Zufälle über ihre Existenzform entscheiden. Für die innere Einstellung des Arbeiters zur Umwelt wird e s nicht unwesentlic h sein, daß er von heute auf morgen zu Veränderungen seiner Existenzform ge 18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nötigt sei n kann, welch e bei bürgerlichen Daseinsforme n scho n als tiefgrei fende, lebensentscheidende Umwälzungen zu betrachten sind. Ebenso wichtig un d bezeichnen d abe r hierbe i ist , da ß solch e Veränderungen (ζ. Β . der Arbeitsstelle, de s Wohnorts, de s Berufes, ferne r Arbeitslosigkeit, Aussper ­ rungen, Streiks) oftmals (namentlic h Wechsel der Arbeitsstelle) gar nicht als so wesentlich empfunden werden, weil sie nicht an feste und innerste Lebens­ inhalte rühren. E s fehlt also den Massen heute die Basis, auf welcher sie äußerlich fußen könnten, und infolgedessen auch die innere Kraft, nunmehr die in ihr Leben tretenden Dinge mit sich dauernd zu verknüpfen. Sie muß ihnen in um so höherem Maße fehlen, je kürzer die grundlegende Periode ihres Lebens ist, je labiler sie stehen, je stärker die Erschütterungen und Wandlungen ihrer Existenz sind, die sie aus einer ihnen unzugänglichen Sphäre her erfahren und über sich ergehen lassen müssen. Denn all das bedeutet, daß sie nur einen dürftigen inneren Besitzstand haben, wenn man so sagen kann, und infolgedessen nu r eine schmale Basis, auf der sich ihr Erleben aufzubauen ver mag. Je schneller der Rhythmus des Lebens ist, desto mehr wird vom Menschen die momentane Situation und Stimmung empfunden, werden die Sachen bloß auf ihre momentane Leistung und Funktion hin gesehen und gewertet. All e Aktivität un d all e Wertschätzungen hänge n notwendigerweise engsten s zusammen mi t de r Periodisierun g de s Lebens . Den n di e Einheitsperiod e de s Lebens stellt den psychischen Raum dar, innerhalb dessen sich seine Inhalte entfalten können 7. J e kleine r daher dieser psychische Raum ist, dest o mehr werden sic h die Lebensinhalte von einer natürlichen For m entfernen, dest o weniger werde n si e in eine m organische n Wachstumsproze ß gegebe n sein . Wenn wi r dies e aus der ökonomischen Sphär e stammenden Veränderun gen ihrer Wirkung nac h näher kennzeichnen wollen , s o werden wir finden , daß di e Lebensinhalt e nich t nu r a n Intensität einbüßen , sonder n auc h ein e Formveränderung erfahren : Di e Massen der Menschen werden immer mehr so ins Leben hineingestellt, daß die Elemente ihres Daseins, welche früher auf dem Besit z a n Produkionsmittel n beruhten , i n Leistunge n umgewandel t werden, welch e kontinuierlich erworbe n werden müssen. Es tritt also an die Stelle de s Besitze s ein e Leistung , de r ein e dauernd e Gegenleistun g gegen überstehen muß . Konkret : di e Mietwohnun g stat t de r Eigenwohnung , di e Leihbibliothek statt der eigenen Bücher, letztlich sogar die gemieteten Möbel anstatt der eigenen. In einer ökonomischen Schicht tiefer noch: die Anschaffung aller Bedarfsartikel, dere n Gebrauchsdauer länger ist als die kleinste Lebensperiode, au f Ratenzahlunge n (natürlic h mi t Eigentumsvorbehal t de s Lieferanten). Ganz deutlich ist hier die ökonomische Quelle dieser veränderten Einstellun g z u fühlen : Ein e neu e Periodisierun g de s Lebens , welche m außerdem ei n regulierender Ausgleichsfonds , ein e Reserve, fehlt, rück t di e Menschen in eine ganz andere Beziehung z u den Dingen; eine relativ kurz e Zeitspanne wird psychisch zur Einheit des Lebens und Erlebens, die ökonomische Basis bei gleiche m Einkomme n (! ) verflüchtig t sic h un d kan n nich t 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

mehr die Dinge selbst tragen, höchstens deren Funktionen, welch e von Fall zu Fall gekauft und erworben werden müssen. Wenn man es kraß ausdrückt, kann man vielleicht sagen , da ß der selbständig Erwerbstätig e sovie l ökono misch wert und tragfähig ist , sovie l ökonomisc h bedeutet , al s sein Einkommen, die s zu m landesübliche n Zinsfu ß kapitalisiert ; de r Beamt e soviel , al s sein Gehalt, kapitalisiert , unte r entsprechendem Abzu g fü r das Ablebensrisiko; der Angestellte un d Arbeiter jedoc h nu r soviel, al s die Verdienstsummen fü r di e Lebensperiod e ausmachen , i n welche r si e momenta n stehen . Nicht nu r für de n Kredit is t das ein Maßstab, e s ist ein Maßstab für di e Attraktionskraft un d Tragfähigkeit ihre r Existenz und findet seine n Ausdruck in einem Lebensgefühl , da s scho n vo n sic h au s z u schwac h geworde n ist , z u entwöhnt, um eine gesonderte, volle Existenz mit allen Verantwortlichkeite n ertragen z u können . Worau f ic h hie r de n Hauptwer t lege n möchte : Dies e psychische Verfassung der Labilität und Enge zugleich, welche für die davon Betroffenen außerde m eine ertötende Nüchternheit und fast notwendig ein e große Leere an unmittelbar gegebene n Inhalte n bedeutet , häng t nu r höchs t indirekt mi t dem Rationalisierungsprozeß de r Wirtschaft zusammen . Si e ist auch nicht schon gegeben mit der größeren Bewußtheit, welche als Folge des Rationalisierungsprozesses de r Wirtschaf t anzusprechen ist . Den n sons t müßten diese Formen de r psychischen Einstellun g auc h i n den Kreise n de r ökonomisch Selbständige n Ausbreitun g gefunde n haben . Vielmehr is t diese psychische Umprägung eine Folge der Hinausdrängung au s den Zentren der Produktionsunterlagen. Dies e Produktionsunterlagen abe r sind zugleich die allgemeinen Lebensunterlagen , wenigsten s fü r di e breite n Massen . Dies e Massen sind also entwurzelt und ihr Verhältnis zur Umwelt ist aufgelockert . Diese veränderte Einstellung hat auch nichts mit dem Drang zum Surrogat zu tun. Den n diese r Zu g zu m Surroga t is t vielmeh r charakteristisc h fü r all e Schichten, di e einer sozial höheren Schicht gleichzukomme n trachte n - fin det sich namentlich stark auch in der kleinbürgerlichen Sphäre . Der Zug zum Surrogat is t ei n allgemeine s soziale s Phänomen , währen d de r hie r gekenn zeichnete psychisch e Sachverhal t sic h darstell t al s Auflösun g de r Existenz , die nich t meh r i m Bewußtsei n al s ein e Einhei t zusammengehalte n werde n kann. Sie wird daher in verschiedene, nicht nach organischen Gesichtspunk ten getrennte Teile aufgelöst. Diese r Auflösung müsse n sich dann weiterhi n das ganze persönliche Leben (infolge der zwingenden Gewalt der Periodisierung) und auch die Beziehungen de r Menschen zueinande r anpassen . Wen n man schon von einem allgemeinen Lebensgefüh l spreche n und dieses unter suchen will, wen n man weiterhin zugibt , da ß in der Gegenwart mi t die wesentlichsten Impulse von der die soziale Struktur bestimmenden wirtschaftli chen Sphäre ausgehen, dann liegt der Gedanke sehr nahe, daß für die einzelnen Klasse n ei n verschiedene s Lebensgefüh l anzunehme n ist . De r Grund , weshalb die einzelnen Klasse n sic h auc h innerlic h s o wenig verstehen , lieg t dann nicht nur an der Verschiedenheit der Inhalte des Lebens, sondern insbesondere daran, daß die allgemeinste Form des Lebens und daher auch Art des 20 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Erlebens durc h ihr e Gestaltun g au s de r Ökonomische n Sphär e he r s o ver schieden be i de n einzelne n Klasse n gearte t sind . Um e s noch einmal z u wiederholen: Durc h die kurze Einheitsperiode im Leben, nich t als Konsequenz eine s allgemeinen Rationalisierungsprozesses , auch nicht als Konsequenz einer besonderen, von anderswoher kommende n Tempobeschleunigung, sonder n al s Konsequenz eine r zwingenden ökono mischen Gewalt, wir d die Loslösung von der sachlichen Substanz des Wirtschaftslebens, wird die innere Schwere und das Eigengewicht des Lebens aufgehoben, der Mangel an Substanz macht das Leben leichter, flüchtiger (ohn e es natürlich subjektiv z u erleichtern, da ja die innere Schwere zugleich Festigung bedeutet) , mach t die Form des Provisorischen zu r allgemeinen Form . Der Unterschied diese s am meisten in der arbeitsteiligen Industrieorganisa tion entwickelten Lebenszustande s zum alten Typus des selbständig Berufstätigen läß t sic h auc h dahin ausdrücken: I n einem Leben, welche s au f eine r sachlichen Unterlage beruht und in eine Familienkontinuität eingeschlosse n ist, di e ihrerseits durch di e sachliche Unterlage gehalte n wird , ha t eine jede Tatsache und ei n jedes Element de s Lebens, Geburt wie Tod, Gütererwer b wie Verlust, Berufsausübung un d -Wechsel usw., ein e doppelte Bedeutung erstens a n sic h un d zweiten s durc h di e Beziehun g au f jene n Untergrund . Ganz anders in der hier charakterisierten moderne n Existenzform . D a wirken alle Tatsachen un d Erlebnisse nur für und durch sich . Sie können zwa r untereinander ein e Verbindung eingehen , di e Lebenstatsachen stehe n in einem Zusammenhang für das Subjekt, sie bilden untereinander eine Totalität, aber diese ist losgelöst, quas i freischwebend, da s Leben wird psychisch flä chenhaft. S o ist auch das Lebensgefühl, wen n man es übersteigernd ausdrük ken will, al l dieser neuen Schichten, un d insoweit sich ihre Situation imme r klarer und eindeutiger entwickelt, ein freischwebendes, und die Lebensform, welche sie erreichen können, ist zwar vielleicht auch die einer Totalität, aber diese erschöpft sic h in einer Summe von Beziehungen, e s fehlt de r schwere, der innere Untergrund, und die Existenz entbehrt des Zentrums mit stärkerer Attraktionskraft. An diesem grundlegenden Sachverhal t wird durch die Häufung un d Massenhaftigkeit diese r Existen z nicht s geändert . Nu r al s Ganze s genomme n wird dadurc h de r ökonomische un d gesellschaftlich e Zustan d stabiler : Au f der Grundlage dieser massenhaften (wenngleich für sich beträchtlich labilen ) Existenzen kann sich ζ. Β . ein Staatswesen aufbauen, da s fester, leistungsfä higer, Träger größerer Macht ist als die Staaten der Vergangenheit, welche auf Bauern un d Bürgerschafte n aufgebau t waren . Desgleiche n is t di e oben be schriebene Lebensfor m mi t al l ihre n Wechselfälle n fü r da s individuell e Schicksal die Grundlage gewesen, auf welcher sich eine breite kapitalistische Wirtschaft mi t eine r größeren, stet s wachsenden Gütererzeugun g aufbaue n konnte, welch e jede m Kaufkräftige n di e Befriedigun g de r Bedürfniss e er möglicht. Aus demselben Grunde wird auch die Schaffung vo n Kollektivbesitz i n immer größere m Umfan g ermöglicht . Dies e Entwicklun g heb t abe r 21 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

die Eigenart des hier gezeichneten Typus nicht auf; denn je geringer die Tragfähigkeit der individuellen Existenzen, je enger der ökonomische Bezirk, den sie erfüllen und gestalten, je ärmer das Leben des einzelnen an Substanz wird (im eigentlichsten Sinn genommen), und weiter je breiteren, sozia l differen ten Schichten das kollektive Eigentum dienen soll, desto mehr verliert es den speziellen Charakter und hört auf, sic h mit und in der Existenz der Menschen zu verwurzeln. Konkre t gesagt : Der städtische Park ist auch nicht in einem entferntesten un d abgeleiteten Sinn für den einzelnen, noch weniger für eine Familie ein Garten, und ebensowenig ha t die Straßenbahn für den Benutzer (von der Bequemlichkeit und Schnelligkeit völlig abgesehen) den Wert eines Wagens. Soviel ökonomische Substanz i n diesen Fällen de s Kollektiveigen tums und anderen gesammelt sein mag, sie ist doch gleichsam atomisiert. Die ins Gigantische angehäufte ökonomisch e Substanz verliert auch dadurch an Schwerkraft un d büßt ihre psychische Bedeutung dadurch ein, daß das Kollektiveigentum nich t mehr Gegenstand persönlicher Unternehmungen [ist] , gleichsam fre i i m Raum e schwebt , da ß sein e Entfaltun g un d Entwicklun g nicht Existenzfrag e fü r konkret e Personen ist . S o bildet e s nirgends für ei n psychisches Leben einen Schwerpunkt, is t kein psychisches Attraktionszen trum, es ist nicht nur äußerlich, sondern auch psychisch lediglich ein Durchgangspunkt fü r di e atomisierte, nirgend s verwurzelt e Mass e de r einzelnen . Deutlich kann man den Unterschied dieses kollektiven Eigentums fühlen gegenüber eine m Kollektiveigentu m frühere r Zeiten , da s individuell e Wirt schaft ergänzte oder ermöglichte, wie etwa die Gemeindemark. Und je mehr die Massenhaftigkei t de r atomisierte n Existenze n i n Produktion un d Kon sum wächst, j e gigantischer infolgedesse n di e kollektiven Eigentumsmasse n rein de r Substanz nac h werden , dest o augenfälliger wir d da s Mißverhältni s zwischen der Masse dieser Substanz und ihrer psychischen Bedeutung, desto augenfälliger wir d di e immer weite r fortschreitende , gerad e im Gebiete des kollektiven Eigentum s weite r fortschreitend e Entseelung , Atomisierun g auch der Produktions- un d Lebensunterlagen, i n welchen wi r darin stehen . Denn diese s Kollektiveigentu m is t i m Bewußtsei n etwa s vie l Losere s un d Schwächeres als genossenschaftliches Eigentum , der Anteil daran im wörtlichen Sinn ist etwas viel Abstrakteres. Schon die Massenhaftigkeit de r Teilhaber läßt keine intensive Verknüpfung de s einzelnen mi t dem kollektiven Ei gentum aufkommen. und die häufige Fluktuation gerad e der breiten Massen wirkt i n derselbe n Richtung . Der Sozialismu s bedeutet , vo n diese r Seit e he r gesehen , eine n Versuch , durch die Übersteigerung de s kollektiven Eigentum s ins Grenzenlose, dies e Verknüpfung mi t der ökonomischen Substanz, mit der allgemeinen Lebensunterlage, au f erweiterte r Stufenleite r wiederherzustellen . E r verknüpft di e Produktionsmittel mit den arbeitenden Massen, ordnet sie ihnen zu. Es fragt sich aber, ob nicht die bisherigen Beispiele des kollektiven Eigentum s dieser Art beweisen , da ß in dieser Form ein e Verknüpfung vo n Mensch un d Produktionsmittel i n der dauerhaften Art , wi e sie früher bestand , mit den Kon22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Sequenzen, welch e si e früher fü r di e gesamt e Lebensgestaltung hatte , nich t möglich ist . Diese r Zweifel is t um so eher geboten, al s sich doch die neuen Formen kollektive n Eigentum s vo n dene n frühere r Zeite n dadurc h unter scheiden, da ß ehemals (im Eigentum der Kirchen, de r Staaten und Gemeinden) ei n transzendentale r ode r überpersönliche r Eigentüme r angenomme n wurde, der aber wiederum mit den einzelnen Personen stark und untrennbar verknüpft war . Durc h dieses Medium eines überpersönlichen Eigentümers , welchem sic h der einzelne wiederum gan z verbunden fühlte, hatt e auch das Kollektiveigentum de r früheren Zeite n in einem gewissen Sinne eine stark e psychologische Wirkung: Es war ganz konkret jedem in der Gemeinschaft zu eigen. Diese Verbindung zwische n dem einzelnen und dem Eigentum ist im modernen kollektive n Eigentu m un d in den Vorstellungen de s Sozialismu s insbesondere z u eine r Abstraktio n verblaßt . S o wird e s für de n einzelne n immer mehr Träger von Funktionen, ohn e psychisch erfaßt und damit wirksam werde n z u können . Das kollektive Eigentum des Sozialismus unterscheidet sic h also von dem kollektiven Eigentum der früheren Zeiten dadurch, daß es in erster Linie und hauptsächlich Produktionsunterlag e ist . E s hat als o wirtschaftlich e Bedeu tung, dien t lediglic h de r Bedürfnisbefriedigung . De r abstrakt e Charakte r dieses Kollektiveigentums könnt e also nur verschwinden, wen n gleichzeiti g mit der Sozialisierung di e neue gesellschaftliche Existenzfor m un d Produk tionsweise an sich die Menschen in ihrer eigensten persönlichen Sphäre erfassen könnte. (Der Anarchismus als soziales System und Reaktionserscheinung gegen die Folgen de r kapitalistische n Warenproduktio n bekomm t vo n hier aus eine neue Bedeutung: al s Versuch, wiederu m de n Menschen mi t seinen Lebensunterlagen, de r produktive n Substanz , z u verknüpfen. ) Da s is t di e schwerste Aufgabe für den Sozialismus. Ohne ihre Lösung würde die Sozialisierung kein e wesentlich e Änderun g i n de m Zusammenhan g zwische n Mensch und Umwelt bringen: denn auch jetzt, im Kapitalismus, ist ja dieser Zusammenhang fü r di e große n Masse n zerrissen . Un d auc h dort , w o di e Verbindung zwische n Mensche n un d produktive r Substan z noc h erhalte n ist, ist die Beziehung eine andere geworden und daher auch die sozialpsychische Bedeutung de s Eigentum s geändert . (Darübe r sieh e weite r unten. ) II. Die bisher geschilderten psychischen Einwirkungen , welch e die Folgen de r loseren Beziehung zwischen Menschen und Produktionsmitteln sind , lassen nun manch e ökonomische n Tatsache n i n ihre n Verursachunge n klare r er scheinen. Denn die Menschen sind ja jetzt durch die Eigenart des kapitalistischen Prozesses un d die technischen Formen , i n welchen e r sich vollzoge n hat, (di e gleichbedeutend sin d mit einer Trennung der Arbeiter von den Betriebsmitteln) ganz anders in das Wirtschaftsleben hineingestell t als in irgend 23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

einer frühere n Zeit . Ein e de r Reaktionserscheinunge n au f di e gewaltsam e Umformung se i hier kurz betrachtet, wei l sie zeigt, welc h große Bedeutung auch fü r da s ganz e Wertungssyste m de r Mensche n dies e Zerbrechun g de r Kontinuität hat. Als eine solche Reaktionserscheinung is t das Sparen und die Versicherung anzusehen , allerding s nich t i n seinem ganze n Umfang . E s sei zunächst festgestellt, welch e Spar- und Versicherungsfälle unter dem hier erörterten Gesichtspunkt nicht in Frage kommen, und weiterhin, wie die übrigen Fäll e de r Versicherun g vo n diese m Gesichtspunkt e au s z u beurteile n sind. Als unabhängig vo n den hier behandelten psychischen Konsequenzen des kapitalistischen Systems sind folgende Spar- und Versicherungsfälle anzuse hen: 1. Überal l dort , w o ein e sachlich e Produktionsunterlag e gegebe n is t al s Basis der Existenz, sind Bedrohungen derselben möglich, welche durch Verteilung des Risikos ausgeglichen werde n - all e Versicherungen gege n Feuer, Wasser, Einbruch , Transportversicherun g (i n de r Landwirtschaf t Hagel und Viehversicherung) usw . usw . gehöre n hierher . Ferne r gehöre n hierhe r diejenigen Fälle der Versicherung, in welchen der Selbständige einen Teil seines Einkommens spart, um zu gegebenem Zeitpunkt ein separates Vermögen zur Verfügung z u haben, das bei einer ökonomischen Bedrohung seiner Unternehmung ih m di e Existen z au f andere r Basi s ermögliche n würde . Di e Masse der Unselbständigen, soweit sie in ihrer Existenz gefährdet ist, reagiert durch Einrichtungen , welch e gestatten , di e Zwischenpause n de r Arbeits und Stellenlosigkei t z u überdauern . Dadurc h soll di e Kontinuitä t de r Exi stenz erhalten werden, denn dem Besitz an Produktionsmitteln de s Selbständigen steh t fü r de n Unselbständige n di e Erhaltun g seine r Arbeitskraf t un d Arbeitsstelle gleich . All e Sicherhei t de s Unselbständige n al s eine r aktive n wirtschaftlichen Persönlichkei t besteht darin, diesen Anteil am Wirtschaftsleben zu stabilisieren und möglichst dauernd zu sichern. Nicht anders als die erwähnten Sachversicherunge n de s Selbständigen (di e für di e Sachgüter de s persönlichen Lebens ja auch ganz allgemein geworden sind) sind bei den Unselbständigen auc h di e Kranken - un d Unfallversicherunge n hierherzurech nen. 2. sin d auszuschließen bestimmt e Formen der Spartätigkeit, welch e in allen sozialen Schichte n vorkommen , imme r vorgekommen sin d und nur gegenwärtig di e For m de r Versicherung angenomme n haben . All e jen e näm lich, wobei in der Zukunft ganz bestimmte, voraussehbare größere Aufwen dungen zu machen sein werden, die aus dem normalen Einkommen nicht bestritten werden können. Hierfür werde n Einkommensteile (in der Form der Versicherung) zurückgelegt . Hierhe r gehör t Militärdienst-, Aussteuerversi cherung usw. , be i Selbständige n un d Unselbständige n vorkommend ; ei n Sparen für ei n bestimmtes einmalige s Bedürfnis, da s mit einer gewissen Re gelmäßigkeit i n jedem Lebe n z u befriedige n ist . Über dies e beide n Forme n de r Sicherung, welch e von alle n ökonomisc h 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

veranlagten Mensche n angewende t werden , hinaus , ha t ma n jedoch di e Sicherung und Versicherung un d das Streben danach als ein charakteristische s Merkmal unsere r Zei t bezeichnet , ha t darin ein e Abschwächun g de r Kraf t und des Wagemuts, eine bedauerliche Dekadenzerscheinung de r Gegenwart erblickt. Un d tatsächlic h is t di e Form de r Versicherun g i n diese r Ausdeh nung ein Novum. Allerdings , ei n erheblicher Teil der Versicherung be i den Unselbständigen ersetz t di e Sachversicherung de r Selbständigen, wi e schon oben erwähnt . Abe r auc h wen n wi r Arbeitslosen- , Kranken- , Unfallversi cherung nicht berücksichtigen, bleibt immer noch genug übrig, und es ist daher berechtigt z u fragen, o b nicht die Universalität de s Strebens nach Versicherung mi t de n allgemeinste n Einwirkunge n de s kapitalistische n System s für die Menschenmassen, welch e in den Prozeß hineingezogen werden , zu sammenhangt. Als den wesentlichen ökonomischen Grundzug der Gegenwart haben wir den Mangel a n ökonomischer Substanz, an sachlicher Produktionsunterlag e bezeichnet, als die psychisch wichtigste Konsequenz: die veränderte Periodisierung des Lebens. Über die grundlegende Periode des Lebens hinaus, ökonomisch existen t z u werden , is t der Sin n alle r Versicherung . Darau s folgt , daß die selbständig Berufstätigen, sowei t sie noch im alten Sinn bestehen, zu einer Versicherung überhaup t keinen Anlaß haben; das Sachvermögen, abe r nicht als solches, als abstraktes Vermögen, sondern als Produktionsunterlage sichert sie. Dabei braucht die Sicherung durchaus nicht im Bewußtsein eine s Gefühls des Geborgenseins zu bestehen, es ist vielmehr die selbstverständliche Form der Existenz, daß sie dauert; die Dauer ist keine besondere Qualität an der Existenz des Selbständigen. Un d zwar deshalb nicht, wei l die Kontinuität der Existenz über das individuelle Leben hinausreicht. All e Sicherungen und Versicherungen des Selbständigen alten Stiles bestehen daher nicht in Versicherung in diesem prägnanten Sinn - ein e solche ist nicht notwendig; sie bestehen i n eine r Verbreiterung de r Existenzbasis , eine r Verbreiterung de r Produktionsmittelunterlage, s o daß diese auch eine verbreiterte Existenz der Familie z u tragen vermag . Wen n dennoc h Versicherunge n vorkommen , s o entspringen si e eine m gesteigerte n Sparsinn ; si e solle n ein e ökonomisch e Ausbalancierung de r Sterbemöglichkeit darstellen , wei l diese das Unternehmen des Leiters berauben könnte. Diese Sterbemöglichkeit wird durch Kapitalversicherung kompensiert . I n alle n diese n Fälle n de r Versicherun g abe r wird entweder die Produktionsmittelbasis verbreitert oder, was häufiger ein tritt, danebe n ein e besondere Rentenquell e geschaffen . Nac h wi e vor abe r bleibt di e Produktionsmittelbasis Haupterundlae e de r Existenz . Anders bei den Unselbständigen. Hier bekommt der Begriff der Versicherung wirklic h ein e neue Bedeutung , di e Versicherung is t nich t nu r Ergän zung, bzw . wi e bei der Verteilung des Risikos ein e technische Einrichtung . Für den Selbständigen soll die Versicherung lediglic h ein e möglichst breit e Kapitalbasis, di e aber vorhande n ist , garantieren , hingege n soll si e für de n Unselbständigen seine n Einkommensstro m z u eine m dauernde n machen . 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Sein Interess e is t notwendigerweis e au f dauernde , fortlaufend e Bezüg e gerichtet. Das zeigte sich schon oben bei den Versicherungsformen, welch e wir ausscheiden konnten. Während der Selbständige naturgemäß Versicherungsformen eingeht, welche seinen Kapitalstock restituieren, s o der Unselbständige Versicherungen, welch e seinen Einkommenstrom weiterfließe n lassen . Es ist eine Reaktion gege n die dem Unselbständigen aufgezwungen e imme r kürzere Periodisierun g seine r Existenz . Dort , w o sic h di e Versicherunge n darauf richten , ein e plötzlich eintretend e Hemmun g de s Einkommensstro mes auzugleichen, ha t man diesen Charakter auch erkannt; man betrachtet Unfall-, Kranken- , Arbeitslosenunterstützun g doc h im Wesen al s das, wa s sie sind: Versuche, diese gewaltsame Periodisierung i n einem gewissen Um fang zu überbrücken. Aber man hat vielfach nicht gesehen, daß, selbst wenn die Krankheits- und Unfallgefahren i n ihren Konsequenze n gemilder t wer den, für den Unselbständigen die Zeit seines Lebens die Grundperiode seiner Existenz bildet, innerhal b welcher die Existenz auch zu Ende gehen kann während für den Selbständigen prinzipiell sein Leben die Einheitsperiode einer viel längeren , dauerhaftere n Kontinuitä t darstellt . Ma n ha t übersehen , daß sich in der Existenz des einzelnen Unselbständigen der Zeitpunkt einstellen muß , i n welche m e r au s de m wirtschaftliche n Proze ß gan z herausge drängt wird, un d die natürliche Form, dagege n zu reagieren, besteh t darin , den immer schwächer werdenden Einkommensstrom doch irgendwie zu erhalten und nicht ganz versiegen zu lassen. Es ist außerordentlich wichtig und charakteristisch, da ß diese Versicherungen i n der Form der Rente erfolgen , also das Prinzip des Einkommens als konstitutiver Form der Existenz akzeptiert haben, daß diese großen Massen auf Kapitalansammlun g verzichte t ha ben, weil si e darauf verzichte n mußten. Den n Kapitalversicherungen wäre n ökonomisch fü r di e Versicherte n gleichbedeuten d mi t Rentenversicherun gen, weil da s Kapital für sie nur den Sinn des Rentenfonds (nich t einer Verbreiterune de r Produktionsmittelbasis ) habe n könnte . So spiegelt auch die Form der Versicherung der Unselbständigen ganz rein das Wesen ihrer Existenz wider: daß sie ihr Ende, ihr absolutes Ende, innerhalb ihrer individuellen Existenz erwarten müssen, daß innerhalb dieser Existenz Periodisierungen einschneidendster Art gegeben sind, daß sie keine innere Schwere und Substanz besitzen, auf welcher sich ihre Existenz gründet, daß sie ökonomisch eine n Einkommensstro m darstellen , gege n welche n si e nur einen Strom von Leistungen, aber wiederum keine Substanz, keine dauernden ökonomische n Wert e eintausche n können . Es ist schwer zu glauben, daß angesichts dieses Tatbestandes eine Parallele gezogen wurde zwischen den Versicherungen - freiwillige n un d Zwangsversicherungen - , di e imme r klare r unse r Wirtschaftssyste m charakterisieren , und der französischen Rente . Verleitet durch die Tatsache, daß bei der Versicherung wi e be i der Rente eine Geldsumme jährlich garantier t werde n soll , sind alle Konsequenzen der französischen Rent e auch der Tendenz nach Versicherungen zugeschriebe n worden : di e Entwicklun g eine s stupiden , kon 26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

servativen, a n seine m Besit z haftende n Kleinbürgertypus , de r alle n Regie rungspraktiken zustimme , wei l e r für de n Kur s Rente, de r ein Index ist fü r die Höhe seines Vermögens, fürchtet. Wi r können jetzt sagen: Bei der fran zösischen Rente handelt es sich um kleinbürgerliche Mittelschichten, welch e ihre Produktionsmittelbasi s verbreitern , welch e sic h zwa r Rentenquelle n schaffen wollen , abe r doch immer noc h ihr sachliches Zentrum i n der Produktion haben; es sind ökonomische Gruppen, die an sich schon stabil, konservativ, au s der ganzen Natur ihres nationalen Wirtschaftslebens herau s zu dieser Geldanhäufung gelange n müssen (weil sie ihre Produktionsmittelbasis im Realen ga r nicht verbreitern können) , insbesondere sowei t e s agrarische Kreise betrifft. Und demgegenüber: in Deutschland, Österreich, England, in allen Ländern des uferlosen, ins Weite schießenden Kapitalismus: eine immer stärker anschwellende Masse ohne ökonomischen Untergrund, ein e Lockerung un d Lösun g alle r Verknüpfunge n mi t de r wirtschaftliche n Substanz ; angewiesen au f di e Möglichkeit, ei n Einkommen dauern d z u erhalten, un d dabei versuchend, den durch die Natur gegebenen Ablauf der menschlichen Existenz mi t de r zwangsweise n Periodisierung , wi e si e von de r Wirtschaf t ausgeht, i n Einklang zu bringen. Wer da ein Gemeinsames sieht, ein Analoges oder gar ein Identisches, ha t die wesentlichsten Züge unseres ökonomi schen Leben s überhaup t nich t gesehe n un d versperrt sic h mi t apriorische n Gesichtspunkten de n Ausblic k au f di e Wirklichkeit . Die Ausdehnung de r Versicherungen aller Art hat von verschiedenen Gesichtspunkten he r ein e ungünstig e Beurteilun g erfahren. De m eine n is t si e eine Gefahr, weil sie die Entfaltung starker, freier Persönlichkeiten verhindere, de n konservative n Typu s verallgemeinere . De m andere n i m Gegenteil , weil sie die Begehrlichkeit erhöht , de n Anspruch auf Rente verallgemeinert, den Wirtschaftserfolg infolg e Überlastun g i n Frage stellt. De r eine fürchte t also die Versicherung wegen ihrer konservativen, der andere wegen ihrer destruktiven Tendenzen. I n beiden Fällen ist die Beurteilung au s zu allgemei nen Erwägungen gezogen . Bedeutet doch die Versicherung, vo n der Hauptmasse der Versicherten her gesehen (bei allen Unselbständigen), lediglich einen günstigeren Rhythmus in der Periodisierung de s Lebens. Und die Form der Versicherung, de r Rentenversicherung, deute t an , da ß die große Mass e nicht imstande ist, ökonomisch e Substan z zu attrahieren , sic h dauern d mi t irgend eine m Produktionselement z u verknüpfen; da ß sie auf die Sicherheit in abstrakter Form, eben auf die Rente, angewiesen ist. Hinter diesen Versicherungen mögen noch so viele Sachgüter stehen (Krankenhäuser und Invalidenheime in natura, Straßenbahnen und Markthallen, wofü r die Kapitalien der Versicherungsanstalten a n Kommunen ausgeliehe n werden, Eisenbahn und Telephonanlagen, sofer n Staatsanleihe n übernomme n werden) , e s gibt keine direkte, nur eine ganz abstrakte Verknüpfung zwischen den Versicherten und diesen Institutionen. Daz u kommt, daß die Rente der Versicherung auch nicht in irgend einem entfernten Sinn Ertrag dieser durch die Versicherungskapitalien ermöglichte n ode r finanzierten Investitione n is t - den n di e 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Rente is t sowoh l de r versicherungsmathematischen Konstruktio n nac h wi e auch tatsächlich periodenweise Rückzahlung eingelegter Beträge, im Grunde eine Spareinrichtun g mi t zwangsweise r Abhebun g de r Guthabe n i n be stimmten Fällen , i n welche n ein e Konsumtio n de s Guthaben s notwendi g wird. Di e Form der Versicherung bedeute t lediglich , da ß nicht individuell e Einzahlungen erstatte t werden . Wen n di e von den Versicherungsinstitutio nen finanzierten Unternehmunge n sic h vermehren un d die in ihnen verkör perten Werte infolgedessen wachsen , s o ist das nur ein Symptom dafür, da ß die unmittelbare Verknüpfung de s einzelnen mit der Produktionslage immer lockerer, di e reale Basis, welch e vom Menschen beherrsch t wird , schmale r wird. Di e Einkommenspartikel, welch e auf die Versicherungseinrichtunge n als Beiträg e übergehen , fließe n zwa r z u Vermöge n zusammen ; abe r diese s Vermögen ist nur dauernd, weil immer wieder neue Beiträge der Versicherten zuströmen und dadurch eine Kontinuität entsteht. Hingegen ist es, individuell betrachtet , lediglic h ei n Konsumtionsfonds . S o bedeute t di e Zunahm e dieser Vermögensmassen nur in bedingtem Maße dasselbe wie Zunahme des Volksreichtums, insofer n al s die Verknüpfung de r einzelnen mi t diesen Beständen ein e ungemei n locker e ist , al s ei n stet s wechselnde r Komple x vo n Wirtschaftssubjekten Ansprüch e au f die Vermögensbestände ha t und als jeder einzelne im Verlauf seines Lebens im günstigsten Falle nur zum Konsum der aus seinen und fremden Beiträge n angesammelten Bestände gelangt. Zur Zeit mag die Form der Versicherung die einzige Möglichkeit einer Demokratisierung de s Volksvermögen s sein . Jedenfall s beseitigt si e nich t di e Tren nung de r große n Masse n vo n de n Produktionsmitteln , vo n de r ökonomi schen Substan z (di e privat e Spartätigkeit , welch e überdie s vielfac h über schätzt wird, tut es ebensowenig) und so hat diese ganze Entwicklung, sowei t sie greift, nu r eine weitere Lockerung in der Verknüpfung de r Menschen mit der Produktionsunterlage zur Folge. Die Versicherung ist eben einerseits die notwendige Konsequen z eine r Lebensperiodisierung, be i der eine ungebrochene Einheit des menschlichen Einzelleben s ers t durch besonder e Einrich tungen herbeigeführ t werde n muß , un d si e erfolgt andererseit s (notwendi gerweise) in Formen, welch e diese Lockerung und Loslösung des Menschen von de r Produktionsmittelunterlag e verewigt . Hingege n is t ebensoweni g eine konservative als eine destruktive Wirkung der sozialen Versicherung z u konstatieren. Von den nicht hierher gehörenden Konsequenzen für die sozialen Organisatione n abgesehen , bedeute t di e soziale Versicherun g de n Ver such, das individuelle Leben wieder, auch subjektiv, zu einer Einheitsperiode zu machen, insbesonder e di e Zeit des Alters organisch mi t den übrigen Le bensstufen z u verknüpfen. Bishe r ist dies, infolge der großen Differenzen i n der Erwerbsfähigkei t fü r jugendlich e un d alt e Arbeite r nu r i n geringste m Maße gelungen. (Auch eine Arbeitslosenversicherung fehlt ja noch für den allergrößten Teil der Arbeiter und Angestellten.) Es ist also bisher lediglich der Anfang mit der Wiederherstellung de r Einheitsperiode im menschlichen Le ben gemacht. Aber selbst wenn das Prinzip der Versicherung z u diesem ihm 28 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

immanenten Ziel gelangen würde, ließen sich die letzten Einwirkungen nicht ohne weiteres durc h Vergleich mi t analog scheinende n Einrichtungen , wel che auf andere Klassen einwirken, erschließen. Die Tatsache, daß nirgends in der Versicherun g ein e Verknüpfun g de r Versicherte n individuel l (j a nich t einmal kollektiv! ) mi t de r produktiven Unterlag e gegebe n ist , sonder n da ß die Sicherhei t nu r durc h objektiv e Institutione n garantier t ist , deute t nich t darauf hin , daß eine weitgehende Versicherung konservative Wirkungen auslösen würde ; ebensoweni g abe r läßt sich sicher sagen, o b die Einwirkunge n destruktive, genaue r gesag t revolutionäre wären . Den n die psychische Ent wicklung de r Versicherten brauch t nich t in allen Gruppe n dieselb e zu sein, etwas Genaue s ließ e sich ers t nach eindringliche n Untersuchunge n darübe r feststellen, wi e die Versicherungen auf die einzelnen Gruppen einwirken. Es läßt sich i m voraus nichts darüber aussagen , o b bei einer gewissen Ausdeh nung de r (private n und öffentlichen) Versicherungseinrichtunge n gewisser maßen eine ökonomische Sättigung der sozialen Strömung eintritt, so daß sie nunmehr stagniert ode r sich nur langsam weiterentwickelt , ode r ob im Gegenteil, wenngleic h mi t Rückschlägen , jed e Besserun g i n de r Positio n de r Versicherten nur zum Motor der sozialen Bewegungen wird. Das mag in den verschiedenen Arbeiter - un d Angestelltenschichte n verschiede n sein , häng t auch sehr von der Höhe der versicherten Renten ab. Letzten Endes entscheidend dürfte für diese Frage nicht die Versicherung, sonder n die Position der Arbeiter i m Betrieb sein; je mehr dort die Trennung vo n den Produktionsmitteln, die Loslösung von dem industriellen Unternehmen, die Fluktuation und die damit gegebene zwangsweise Periodisierung sic h ausbreitet (und die letzten Jahrzehnte zeigen deutlich die Tendenz zu einer solchen Ausbreitung neben de r Ausbildun g neue r Versicherungen), u m so schwächer dürft e di e (für den einzelnen, individuell doch erst nach Jahrzehnten aktuell werdende) Versicherung da s psychische Verhalten de s Unselbständigen wesentlic h be einflussen. Fü r den einzelnen i n seinem psychischen Bewußtsein wird so die Versicherung auf die Dauer nur peripherische Bedeutung haben, ihn nicht in seinem Bewußtsein , i n seiner Position zu r Wirtschaf t un d zu m Lebe n um formen. Ander s ausgedrückt: De r „Idealtypus " des Proletariers (i m einzel nen: des Arbeiters, de s Angestellten) erfähr t kein e entscheidende Veränderung durc h di e Versicherung, wei l dies e von den grundlegende n ökonomi schen Tatsachen die Trennung von den Produktionsmitteln gar nicht und die geänderte Periodisierung de s Lebens bisher nu r in unerheblichem Maß e beeinflußt hat . Bisher wurde zu zeigen versucht, welche Elemente im ökonomischen Tatbestand sozialpsychisch wirksa m sind . Weiterhi n wurde n dies e Wirkunge n im Schema aufgezeigt. Endlic h wurde eine der wichtigsten Reaktionserscheinungen, gleichfall s i n ihrer sozialpsychischen Bedeutun g analysiert . Di e sozialpsychische Bedeutung erwies sich als sehr geringfügig. Be i dieser Analyse zeigte sich auch, daß zur Beurteilung der sozialpsychischen Wirkungen in einer Gesellschaft, welch e einen scharf gegliederten Klassenaufba u besitzt , all29 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

gemein menschlich e Psychologi e nich t ausreicht . Den n selbs t zugegeben , daß die Menschen einander in allen Klassen ähnlich sind, daß überall diesel ben Charakter e un d Type n vorkommen , s o reagieren doc h ebe n dieselbe n Menschen nicht in gleicher Weise auf verschiedene Situationen. Die Aufgabe der soziologischen Betrachtung aber ist es, gerade die Eigenart der Situation, in welcher sich alle Menschen einer Klasse befinden, z u charakterisieren, und zu untersuchen , inwiefer n dadurc h alle s Handel n un d all e Zielsetzungen unabhängig vo m individuellen Charakte r de r einzelnen Personen - ein e besondere Färbun g ode r Richtun g erhalten . Zweifello s bezweck t ei n solche r Versuch ein e Rationalisierung de s menschlichen Innenleben s und Handeln s zu wissenschaftlichen Zwecke n un d wird infolgedesse n vo n all denen skeptisch betrachtet werden, welche das Einmalige, das Spontane, das schlechthin Individuelle de s menschliche n Erleben s al s das Wesentlich e sehen . Ebens o werden all diejenigen Einwände erheben, welche auf die stete Wiederkehr der menschlichen Charaktere, au f die ewigen Typen als die Triebkräfte alle s gesellschaftlichen Geschehen s hinweisen . Diese n beide n Anschauungsarte n gegenüber, welch e das Soziale im Gesamtbild des menschlichen Geschehen s zurückdrängen, e s in seiner Bedeutun g aufheben , wir d hie r mit vollem Bewußtsein der Standpunkt vertreten, daß auch das psychische Geschehen ganz entscheidende Einwirkungen aus der sozialen Sphäre her erfährt. De r soziale Charakter einer Zeit entscheidet über die Struktur des gesellschaftlichen Ge bäudes, gleichsa m übe r seine n Grundriß , de r unabhängi g vo n de r Ar t de s Baumaterials unse r Interess e erregt . III. Es wurd e obe n di e For m de s kollektive n Eigentum s nähe r analysier t (Parks, Eisenbahnen, Wasserleitungen usw.). Hierbei ist wesentlich, daß der Typus de s Eigenbesitze s fü r di e Einkommensträge r durc h Nutzun g vo n Dauergütern ersetz t wird , welch e ihne n i n de r Gesamthei t (al s Staat , Ge meinde usw.) gehören, ohne daß jedoch eine reale Verknüpfung mi t der Substanz des Eigentums gegeben wäre. Ferner ist dieses Eigentum vielfach nich t ein freies, sonder n belastet , wen n die Gesamtheit dies e Einrichtungen nich t aus eigenen Mitteln geschaffen ha t (etwa durch Aufbringung de r hierfür notwendigen Beträge im Wege der Steuern), sondern hierzu fremdes Kapital (als Anleihen) i n Anspruch nimmt , da s nun entsprechen d verzins t un d amorti siert werden muß. In der Regel wird ja kollektives Eigentum in dieser Weise entstehen. Dann liegt ökonomisch meis t folgender Tatbestand vor: Der Kapitalist, resp . (abstrakt gesprochen ) de r Kapitalmark t stell t di e notwendig e Geldquantität zur Verfügung; di e „Gesamtheit" erwirbt daran Eigentum. Sie ist lediglic h verpflichtet , au s dem Einkommensstro m de r Gesamtheit eine n bestimmten Tei l alljährlic h de n Kapitaliste n zuzuführen . Irgendwelch e di rekte Verknüpfung de s Kapitalisten , de s Darleiher s mi t irgen d eine m kon 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

kreten Sachgüterbestan d is t nich t gegeben . Di e Gesamthei t wiederu m ha t zwar da s Eigentu m a n ihren Einrichtungen , abe r es ist belastet , un d i n de r Regel dienen die Überschüsse dieser Einrichtungen zur Verzinsung des Anlagekapitals. Di e speziell e Sach e aber , ζ. Β . die Eisenbahn , Wasserleitun g usw., welch e öffentliches Gu t ist, ha t sich verflüchtigt, si e ist sozial leichter geworden, ha t sozia l a n Schwere , a n Attraktionskraft, a n Wirkun g einge büßt. Denn weder der Reisende hat irgendwelche subjektive Beziehungen zu der Bahn , di e e r benützt , ebensoweni g wi e de r Inhabe r eine r Staatsrente , selbst wenn sie sogar direkte Eisenbahnanleihe sein mag. Vollends ist bei keinem der Staatsbürger, welche m di e Nettoüberschüsse diese r Einrichtunge n etwa di e Steuerlas t verringern , i m Bewußtsei n lebendig , da ß di e Ersparni s seinem ideellen Anteil an den Bahnen entstammt. In all diesen und ähnlichen Fällen sin d di e ökonomische Substan z und di e Produktionsmittel gan z abstrakt geworden . S o schwindet, trot z Vermehrung de s Sachgüterbestandes, immer meh r sachlich e Unterlag e au s der Welt, eine m immer größere n Tei l des Kapital s entsprich t ökonomisc h (mi t de m Wachstu m de r öffentliche n Schulden un d de m Wachstu m de r gemeinnützige n Unternehmungen ) ei n kontinuierlicher Einkommensstrom . J e massenhafter , j e wichtige r i m So zialprodukt de r Einkommensstrom de r Unselbständigen, u m so mehr muß auch de r Reichtum , da s Vermögen fü r di e Besitzer di e Form de s Einkom mens annehmen. De m Kapitalbesitze r komm t da s insolange nicht zum Bewußtsein, als jederzeit auf dem Kapitalmarkt eine Zurückverwandlung diese r Rechte auf Einkomme n i n Vermögen stattfinde n kann . Fü r die Gesamthei t der Kapitalbesitzer kann aber eine solche Zurückverwandlung ihre s Rechtes auf Einkomme n i n Kapitalsubstan z nich t i n Frag e kommen , fü r si e is t di e Loslösung von der produktiven Unterlage , die Reduktion de s Kapitaleigentums, de s Vermögens au f eine n Einkommensstro m ei n dauernde s Resulta t dieser Entwicklung . So nimmt in immer größerem Umfange das Kapitalvermögen die Form des dauernden Einkommen s an 8. Auch die Rechtsform de r Aktiengesellschafte n hat ja für die große Mehrzahl alle r nachträglichen un d auch für viele der ersten Erwerber von Aktien diese Reduktion eines realen Vermögens mit allen Möglichkeiten de r Wertveränderung , au f eine n bloße n Einkommensstro m allgemein gemacht . De r Aktionä r fühl t sic h imme r wenige r verknüpf t mi t seinem Unternehmen; auch wenn er die Aktie nicht bloß erwirbt, u m an der Wertbewegung zu profitieren, sin d ihm doch in der Regel der Fälle höchstens die Rentabilitätsaussichten de r Gesellschaft un d deren Gründe bekannt. Di e Aktie repräsentiert ei n Einkommen , un d zwa r die s gerad e für de n ruhige n Besitzer, de r nich t au s spekulative n Erwägunge n di e Akti e erworbe n hat . Immer mehr lenkt nebe n der Gesamtgütermenge , welch e als Sozialproduk t für den Konsum eines Jahres zur Verfügung steht, die Gliederung des gesamten Einkommensstrome s di e Aufmerksamkei t au f sich ; de r Geldausdruc k der Kapitalisteneinkommen is t immer mehr entscheidend für die Bewertung aller Sachkapitalien. De r Ausdruck für das Volksvermögen wir d damit zum 31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Teil fiktiv, wenigsten s i n dem Sinne, da ß seine in Geld ausgedrückt e Höh e auch nicht einmal meh r prinzipiell mi t dem Kostenbetrage der Kapkaigüte r zusammenhängt. Denn der übliche Zinsfuß ist z. Β. von größerer Bedeutung für den Geldausdruck des Volksreichtums. Seine Ziffer erhält dadurch immer mehr eine bildliche Bedeutung, welche stark schwankt. Hierzu tragen insbesondere auch die Veränderungen in der Rentabilität der einzelnen Industriegruppen bei , welch e durc h di e tiefgehend e Organisierun g de r Volkswirt schaft gegeben sind. Jede Kartellbildung ζ. Β . steigert den Geldausdruck des Volksvermögens. Wen n frei e Konkurren z un d Entfaltungsmöglichkei t de r Produktivkräfte gegebe n sind , s o ist wachsende r Reichtu m de r Volkswirt schaft gleichbedeutend mit steigender Bedarfsdeckung i n allen Schichten der produzierenden Bevölkerung . Infolg e de s Zusammenschlusses z u Kartelle n ist grundsätzlic h möglich , da ß da s Volksvermöge n wächst , währen d de r Reichtum im Sinne von Güterausstattung de r Volkswirtschaft stagnier t oder sogar zurückgeht . Deshal b is t für di e Erkenntnis de s volkswirtschaftliche n Zustands di e Verteilung de r Einkomme n au f di e soziale n Klasse n da s Ent scheidende. Die Art, wie sich der Jahresgüterstrom auf die einzelnen Klassen verteilt, ist neben der Ausrüstung mit Produktionsmitteln die wichtigste, für die Gesamtsituation de r Wirtschaft entscheidende und bezeichnendste Tat sache. Si e hängt mi t de r obe n erörterte n Loslösun g de r Menschen vo n den Produktionsmitteln zusammen: dadurch ist die Lebensperiodisierung für die großen Massen eine grundlegend ander e geworden. Aber nicht nur die Massen sin d i n Flu ß gekommen ; di e Bewegung , welch e di e Masse n vo n ihre r Produktionsunterlage losriß , ha t auch diese produktive Substanz gleichsa m aufgelockert. Vo n beiden Seiten her, i n allen Klassen, ha t sich die psychisch enge Verknüpfung de r Menschen mit ihrer sachlichen Produktionsunterlag e gelöst, di e Volkswirtschaft is t abstrakt geworden . Wa s das Heraufkomme n der Geldwirtschaf t andeutet e - da ß di e Wirtschaftseinheite n abstrak t wer den, sich von der spezifischen naturale n Form loslösen und sich immer mehr im Geldausdruck erschöpfe n - da s bedeutet in der sozialen Sphäre: klassenmäßig gegliederte Gesellschaft, Trennun g der Arbeitenden von den Produktionsmitteln. Hie r wurd e versucht , di e erste n psychische n Einwirkunge n dieser ökonomischen Umformunge n de r Gesellschaf t anzudeuten . E s wird Aufgabe weitere r Untersuchungen sein , vo n dieser Grundlage aus zu erfor schen, wie sich aus den elementaren Lebensbedingungen und deren Veränderungen de r Klassenaufba u de r moderne n Gesellschaf t gestalte t hat , welch e Formen die Klassen angenommen haben, welche Einwirkungen au f die psychische Verfassung der einzelnen Klassen im besonderen aus ihrer ökonomischen Situation heraus zu konstatieren sind. Soweit kann sich eine vom Wirtschaftsleben he r orientierte Untersuchun g de s Klassenaufbaues de r moder nen Gesellschaf t erstrecken , ohn e i n da s Gebie t andere r Wissenschafte n überzugreifen9.

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2. Klasseninteressen , Interessenverbänd e und Parlamentarismus (1912 ) Der Parlamentarismus gehört zu denjenigen Institutionen, welche in ihrer rationalistischen Konstruktion dem Prinzip der Entwicklung keinen Spielraum geben. I n der Diskussion über den Parlamentarismus als Institution handel t es sich meist um Mehr oder Minder, um graduelle Differenzen gegenübe r einem abstrak t konzipierte n Ideal , u m Differenzen , di e abe r nich t au s eine r verschiedenen Auffassun g übe r di e Funktio n de s Parlamentarismus , sein e Aufgaben und Wirkungsmögichkeiten herstammen , sondern die sich aus den verschiedenen Auffassungen über das Material, aus welchem die öffentlichen Vertretungskörper geform t werden , erkläre n lassen . Di e buntscheckige n Wahlsysteme, sovie l ihre r auc h sei t Entstehe n de r Parlamente zu r Anwen dung gelang t sind, stamme n nicht aus einer verschiedenen Auffassun g übe r die Aufgaben un d Zwecke der Parlamente (deren sachliche Kompetenzen im wesentlichen einander gleichen und deren größere oder geringere Macht den Regierungen gegenübe r in den Bestimmungen über Ministerverantwortlich keit, Interpellationsrech t usw . i n Erscheinung tritt) , sonder n au s einer verschiedenartigen Beurteilun g de r Volksmasse, al s des Materials, das zur Gestaltung de s Gesamtwillens i n Aktion tritt , un d alle die Wahlsysteme haben auch nu r de n Zweck , diejenige n Volksteil e vorwiegen d zu r Abgab e ihre r Meinung z u veranlassen , dere n Urtei l di e Entscheidunge n übe r da s Staatswohl anvertrau t werden können . Di e „Idee" des Parlamentarismus is t also, wenn man so sagen kann, eine rein „intellektualistische", un d überall geht sie von der Voraussetzung aus, daß eine Mitwirkung der „Allgemeinheit" an der Regierung möglic h ist ; geh t weiterhi n vo n de r Meinun g aus , da ß be i eine r Wahl die Wähler auf das antworten, worum sie gefragt werden, also, daß sie ihre Meinung über ein allgemeines staatspolitisches Programm abgeben, nach ihrem beste n Wissen un d Gewissen di e Tendenzen kennzeichnen , nac h denen regier t werde n soll , un d die Männer i n die Parlamente senden , welch e diese Tendenzen am ehesten zu realisieren imstande sind. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß überall wenigstens die ersten Parlamente derart betrachtet wurden , da ß insbesonder e di e Ideologie n de r meiste n Parteien , also der unmittelbaren Exponente n de r parlamentarischen Körperschaften , von derartigen Voraussetzungen konstruiert sind - gan z gleichgültig, welch e Stellung zu m konkrete n parlamentarische n Syste m di e betreffend e Parte i einnimmt, insbesondere ob sie mit der speziellen Grundlage des Parlaments, dem Wahlsystem, einverstanden ist oder nicht. Alle Parteiprogramme gehen 33

3 Lederer , Aufsätz e

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von der Voraussetzung aus , daß sich ei n Gesamtwill e (ei n Wille de r Allgemeinheit) realisieren und daß diese Realisierung in einem Parlament erfolge n könne. Dem einheitlichen Willen der Allgemeinheit, wie er in der idealen Konzeption de s Parlamentarismus zu m Ausdruc k komm t un d wi e e r anscheinen d ζ. Β . in den ersten Stadien parlamentarischer Entwicklun g auc h wirklic h i n Erscheinung trat , diese m einheitliche n Wille n de r Allgemeinhei t entsprac h auch eine einheitliche Direktive der Politik, ein Prinzip. Und so kommt auch ein Parlament der Idee des Parlamentarismus am nächsten, i n welchem bloß Parteien als Verkörperung von Prinzipien auftreten, in welchem konkrete Interessen ausgeschalte t sin d un d all e Entscheidunge n nac h de r prinzipielle n Auffassung de r herrschende n Mehrhei t getroffe n werden . Aus dieser Auffassung de s Parlaments al s der Verkörperung prinzipielle r Ideen über das Wesen des Staates und die Richtlinie der staatlichen Entwick lung erklär t e s sich auch , da ß der Parlamentarismus i n seinen Anfängen di e Menschen überhaup t nich t al s konkrete sozial e Existenze n erfaßt , sonder n als abstrakte Staatsbürger, als Träger einer juristischen Qualität. Die Voraussetzungen für die juristische Qualität, an welche sich das Wahlrecht zum Parlament knüpft, sind sehr verschiedenartige. Aber sie haben ihren Grund nicht in verschiedenen Auffassunge n vo m Parlamentarismus, die vielmehr überal l dort, w o er anerkannt wird , ziemlic h übereinstimmen , sonder n in den verschiedenen Auffassunge n vo n den Staatsbürgern - di e Auswahl de r Bürger , welche an der Bildung de s Gesamtwillens mitzuwirke n haben , is t nich t bestimmt, i n den Anfängen sicherlic h nich t bewußt bestimmt, vo n irgendwel chen Interessen, sondern von dem Bestreben, nur diejenigen Kategorie n der Bürger zu r Bildun g de r öffentliche n Meinun g zuzulassen , dene n ei n Urtei l über di e öffentlichen Angelegenheite n zugetrau t werde n kann . Aus dem Gesichtspunkt rei n prinzipieller Entschließunge n un d Entschei dungen erklären sich also die formalen Elemente, welche dem modernen Parlamentarismus eignen, erklärt es sich insbesondere, daß alle Entscheidungen , die au f di e Bildun g eine r öffentliche n Meinun g un d eine s öffentliche n Be schlusses abzielen , durc h Mehrheitsbildunge n realisier t werden : vo n de r Wahl der Abgeordneten in den Wahlkreisen angefangen bis zu den Beschlüssen de r Parlament e selbst . Auc h diese s Verfahren folg t au s de r Vorausset zung, da ß alle n Entscheidunge n letzte n Ende s nich t Interessen , sonder n Prinzipien zugrund e liegen. Den n eine allgemeine Idee, ein Prinzip (letzte n Endes eine politische, ein e staatliche und eine Weltanschauung) kan n sich in einem konkreten Staat praktisch nicht anders realisieren als durch das Kriterium de r größeren Zahl , de r Majorität , ei n Kriterium , da s um so mehr zu r Anwendung gelange n kann , al s verfassungsmäßi g (vo n welche r Basi s au s man imme r auc h rechne n mag ) die Qualitäten de r Staatsbürger ausgelösch t werden un d die Gesamtheit nu r als Quantität erscheint . - Überdie s wir d j a jede Majorität nur als vorläufig gedach t und denkt sich jede Majorität nur als vorläufig, d a jed e Parte i i m ursprüngliche n Sinn e de s Parlamentarismu s 34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

hofft, allmählic h alle Bürger „auf den rechten Weg zu bringen". Und so wendet sich auch jede Partei an die Gesamtheit - selbs t die Konservativen a n die Arbeiter - un d propagiert jed e Partei Maximen, di e mit dem Anspruch de r Allgemeingültigkeit auftrete n - se i es, daß diese Allgemeingültigkeit sic h auf den Anspruch einer Autorität auf Anerkennung stützt, oder aber daß die Partei durch rei n logische Argumentation ihr e Idee als die allgemein gültig e zu erweisen sucht . So wie daher logisch ei n Prinzip nach Herrschaft ringt , und so wie mi t seine r Anerkennun g di e Ablehnun g alle r dami t ih m widerspre chenden Postulat e gegeben ist , s o streben di e alten „Parteien" , di e Parteien im Sinn e de s alten , frühe n Parlamentarismu s nac h Herrschaft , nac h Aus schaltung der ihnen feindlichen ode r widersprechenden Tendenzen, sie streben nach Verwirklichung eine s Absoluten, da s in ihrer Ideologie Formulie rung un d Ausgestaltun g gefunde n hat . Un d sie wollen diese s Ziel erreiche n entweder durc h eine n intellektualistischen Proze ß oder durch Berufung au f eine Autorität , wobe i ohn e weitere s einleuchte n dürfte , da ß di e Parteien , welche den Parlamentarismus geschaffen haben, konkreter gesagt, die liberalen Parteien auf einem intellektualistischen Proze ß basieren wollen. O b und inwieweit ei n solcher überhaup t möglic h is t und stattfindet, is t eine andere Frage, und welche Gestalt dieser Prozeß realiter angenommen hat, bildet den Gegenstand de r folgende n Ausführungen . Die gedanklich e Grundlag e de s Parlamentarismus , da ß sic h nämlic h ei n Gesamtwille realisieren könne und daß er es in der Form des Parlaments tun müsse, dieser Gedanke, welcher als Voraussetzung auch den Programmen aller größere n Parteie n zugrund e liegt , - de n Parteien i m eigentlichen Sinne , welche au f di e Beherrschun g de s Staatsganze n abziele n - diese r Gedank e wird auch noch anerkannt von den Parteien, welche den Ideengehalt des Sozialismus im Parlament vertreten. Es geschieht das in einer so eigentümlichen Form und ist so charakteristisch für die weitere Entwicklung de r politischen Parteien, da ß darau f wenigsten s kur z verwiese n werde n soll : Die Sozialdemokrati e al s politisch e Parte i wende t sich , wi e di e übrige n Parteien, gleichfall s a n das Volksganze, abe r in erster Linie doch an die Arbeiter. Si e ist also nicht Partei i n dem obe n gekennzeichneten Sinn , derart , daß sie an die Staatsbürger al s Träger eine r juristischen Qualitä t herantritt , sondern sie erscheint in der Form einer Interessentenbewegung, eine r Interessentenbewegung de s vierten Standes . Ih r Auftrete n al s politische Partei , trotzdem sie Interessentenbewegung ist, wird ihr wesentlich dadurch erleichtert, da ß die Konstruktion de r geschichtlichen Entwicklung , di e sie vertritt, zwar zunächst und in erster Linie eine Entwicklung i m Interesse der Arbeiterschaft ist, aber sich infolge der ihr zugrunde liegenden geschichtsmateriali stischen Auffassung ersten s mit geschichtlicher, unentrinnbarer Notwendig keit vollzieht, un d zweitens als Resultat di e Aufhebung alle r Klassenunter schiede, die ökonomische Unabhängigkeit aller , verheißt. Trotzdem der Sozialismus also auftritt un d beginnt al s Interessenbewegung, kan n er sich infolge de r ih m zugrund e liegende n geschichtsmaterialistische n Anschauun g 35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

auch an die Klassen mi t andere n Interessen , insbesonder e auc h an die wirtschaftlich Selbständige n un d die Intellektuellen wenden. Denn er bejaht nur die Konsequenzen der geschichtlichen Notwendigkeiten, die als solche, ganz unabhängig vo n der Klassenlage, anerkann t werde n müssen . Daz u kommt , daß die Vertretung de r Arbeiterinteressen (di e ja überdies ursprünglich nu r von de n Mitglieder n de r „bürgerlichen " Parteie n ausgin g un d ausgehe n konnte) an und für sich schon ideologischen Charakter s w a r- durc h die gedankliche eng e Verknüpfung mi t de m Humanitätsideal . Endlich wirkte mit, daß der Sozialismus nirgends als bloße wirtschaftlich e Interessentenforderung auftritt : daß er sich also keineswegs in den konkreten Forderungen a n di e sozial e Politi k erschöpft , sonder n di e Verwirklichun g seiner Postulate auffaßt al s Vorstufe z u weiteren kulturelle n Zielen , die mit dem Schlagwor t de r „Emanzipatio n de s Proletariats " angedeute t werde n mögen. All das erklärt es , daß die Sozialdemokratie nebe n die anderen Par teien treten konnte, trotzde m si e ihre Hauptkraft un d Stärke, di e Grundli nien ihrer Anschauun g nich t i n eine r spezielle n Auffassun g vo m Staate er blickte, wie die übrigen Parteien, trotzde m sie in erster Linie Interessentenpartei wa r - eben , wei l si e doch nich t nur al s Interessentenparte i auftrat . Daß schließlich die Arbeiterschaft selbst für die sozialdemokratische Partei und deren Geschichtsauffassung gewonne n werden konnte , erklär t sic h neben de m Interessentencharakte r de r Sozialdemokrati e i n erste r Lini e auc h daraus, daß sich die ganze soziale Funktion de r Arbeiterschaft i n ihrer Stellung innerhalb der Wirtschaft erschöpft und der Arbeiterschaft auc h in ihrem Bewußtsein di e Rolle, Produktionsfaktor , j a geradez u ei n Adne x de r Pro duktionsweise z u sein, a n erster Stelle steht- jedenfall s i m Bewußtsein ihr e Rolle als Staatsbürger überragt. Daher ist die Arbeiterklasse ganz besonders disponiert, ein e geschichtsmaterialistisch e Auffassun g al s ihre n Lebensver hältnissen adäqua t z u empfinden . So stellt der Sozialismus als Potenz des politischen Leben s eine eigenartige Verknüpfung von Klassenvertretung und politischer Partei dar, welcher auch das Fundament eine r Weltauffassun g nich t mangelt , un d e s kann als o nach dem gan z allgemeine n Charakte r de s Parlamentarismu s nich t wunderneh men, wenn er in dieser Verknüpfung i n der politischen Entwicklung ein e besonders stark e Wirkun g übe n konnte . E s kann nich t wundernehmen , da ß sich auch di e übrigen politische n Parteie n nac h ih m orientiere n un d da ß so der Sozialismus eine der stärksten Triebkräfte für die Gestaltung auch der übrigen Parteien bildet. Und das Wesentliche dieser Umgestaltung dürfte darin zu erblicke n sein , da ß auc h i n den übrige n Parteie n di e Interessengesichts punkte nunmehr zum Bewußtsein und zur Betonung gelange n und daß sich demgemäß Wandlunge n i n de n politische n Parteie n vorbereiten , di e ihre n einheitlichen Aufba u un d ih r Gefüe e stören . Nun bin ich nicht der Meinung, da ß diese Entwicklung vo m Sozialismu s ausgeht und in ihm ihre Ursache hat, wen n sich auch zeigt, da ß dort, w o es keine ausgesprochen e sozialistisch e Parte i gibt , di e angedeutet e un d weite r 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

auszuführende Wandlun g de s politischen Leben s un d de r politische n Par teien insbesondere weniger rasc h eintritt. Di e wesentliche Triebkraft diese r Entwicklung is t vielmeh r dari n z u erblicken , da ß sic h bal d nac h de r Zer trümmerung de s gebundene n Wirtschaftssystem s durc h de n Kapitalismus , nach de r Zersprengun g de r vorhe r organisierte n wirtschaftliche n Kräfte , nach der Auflösung de r alten Stände in Individuen, die ohne inneren Zusammenhang eine n möglichs t große n Antei l au s der volkswirtschaftlichen Gesamtgüterproduktion z u erlange n trachteten , kur z nac h de r Atomisierun g der wirtschaftlichen Wel t doch sofort wieder Gruppen in Interessengemeinschaften zusammenfanden un d die Gemeinsamkeit des ökonomischen Interesses, wenn auch nicht in den alten Formen, so doch in der Form der Organisationen, zu r lebendige n Wirksamkei t gelangte . Dies e Organisationen sin d nun in zweierlei Art zur Ausbildung gelangt. Zunächst als Zusammenschluß wirtschaftender Individue n zu m Zweck der Steigerung de r wirtschaftliche n Macht im Wirtschaftskampf selbst . I n dieser Form sind die Organisatione n sozial ohne speziellen Charakter, neutral und sind einfach eine Reaktion des wirtschaftlichen Denken s gege n die aufgezwungene frei e Konkurren z (als o z. Β . Kartelle). Neben diese n sozia l neutrale n Organisationen , dere n Wir ­ kung analog ist der einfachen Konzentratio n wirtschaftlicher Mach t in einer Hand, bildete n sich aber (und das ist ein späteres Stadium, eine zweite Entwicklung, dere n Anfan g wi r gegenwärti g erleben ) ander e Organisationen , welche zunächst dieselben Funktionen hatten , wi e die sozial neutrale n Ag gregationen gleich interessierter Wirtschaftssubjekte zur Eroberung größerer Macht i m wirtschaftliche n Kampf , abe r außerdem weite r al s diese reichte n und ihre Wirkungen auc h auf die Allgemeinheit erstreckten , di e Allgemeinheit für ihr e speziellen Interesse n i n Bewegung z u setzen suchten. In diesen Organisationen beginn t di e Sozialpolitik , al s künftig e Politi k de r Klassen , und diese sozial betonte n Organisatione n sin d es, denen für di e Weiterent wicklung auc h de r politische n Zuständ e di e entscheidend e Roll e zufalle n dürfte. Daher lohnt es sich, be i diesen Organisationen eine n Moment zu verweilen, die als Organisationen der gesellschaftlichen Klasse n immer größere Bedeutung erlangen, - scho n deshalb, weil die Organisation nur einer oder weniger Klassen als solcher die Organisation auch der übrigen zur notwendigen Konsequenz hat. Tatsächlich gibt es keine gesellschaftliche Schicht mehr, die derartiger Organisatione n entbehrt , un d beginnen d vo n de n unselbständi g Berufstätigen, de n Arbeitern , Angestellte n un d Beamten , bi s z u de n selbständig Berufstätige n - un d hier wiederum nac h ihrer wirtschaftliche n un d daher auch ihrer sozialen Position geschieden, von den Kleinbauern, Hand werkern, Kaufleuten bis zu den Großgrundbesitzern und selbst den Standesherren - finde n wi r eine Fülle von Organisationen, deren Charakteristische s ist, daß sie nicht bloß die wirtschaftlichen Interesse n ihrer Mitglieder gegenüber den anderen Klassen unmittelbar vertreten, wie es die Aufgabe de r Berufsorganisationen im strengen Sinne wäre, sondern daß sie auch in das große 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Ganze, in das Allgemeine zu wirken trachten, weil sie ihre Forderungen gegenüber ihre n unmittelbare n Klassengegner n nu r mi t Hilf e de r Allgemein heit verwirkliche n könne n ode r wei l ihr e spezielle n Klassenforderunge n überhaupt nu r von de r Allgemeinhei t befriedig t werde n können . In diesen Organisatione n erhalte n di e gesellschaftlichen Klasse n ers t ihre Formung und konkrete Gestalt. Hier einigen sich im Laufe der Entwicklung (die für die Arbeiterschaft durch den Sozialismus enorm beschleunigt wurde ) die ökonomisc h gleic h interessierte n Berufsschichte n z u soziale n Klasse n und lassen das Wesen derselben klare r hervortreten. Wi r dürfen e s vielleicht am ehesten darin suchen, daß die Klasse sich im Staatsganzen und gegenüber dem Staat, de r Gesellschaft, nich t bloß wirtschaftlich, al s Einheit fühlt, da ß aber diese Einheit im Gegensatz zu den politischen Parteien nicht in der Anerkennung eines allgemeinen Prinzips, sondern in einem gemeinsamen wirt schaftlichen Interesse wurzelt. Trotzdem erschöpft sich die Wirksamkeit und Bedeutung de r Klass e nich t i n ihre n wirtschaftliche n Interessen , sonder n greift übe r dieselben wei t hinaus . Ersten s weil infolg e de r konkurrierende n wirtschaftlichen Interesse n auch sehr weitabliegende Gebiet e staatlicher Tätigkeit die wirtschaftliche Positio n beeinflussen; zweiten s auch, weil die Gemeinsamkeit de r wirtschaftlichen Interesse n un d ihre Gegensätzlichkeit ge gen ander e wirtschaftlich e Interesse n gan z unmittelba r da s Bewußtsein de r Zusammengehörigkeit färbt, ihm eine soziale Nuance gibt; endlich, weil eine Vertretung de r wirtschaftlichen Interesse n gegenübe r de r Allgemeinheit ga r nicht ander s al s au s allgemeineren Gesichtspunkte n erfolge n kann . S o ent steht di e Klass e au s eine m gemeinsame n wirtschaftliche n Interess e - wen n auch dies zur Klassenbildung nicht ausreicht. Zu einer solchen kommt es nur dann, wen n all e einander analoge n wirtschaftlichen Interesse n wirklic h zusammengefaßt werde n könne n bi s zu de r Grenze , w o si e an ander e gegen sätzliche Interessen stoßen, und wenn diese neu entstehende Gemeinsamkei t (die viel von den konkreten Forderunge n der Einzelgruppen i n allgemeinere aufgelöst hat ) sic h auc h gegenübe r de n gegensätzliche n Interesse n andere r Klassen spezifisc h beton t un d wen n durc h dies e beide n Umständ e ei n Ge meinsamkeitsgefühl entsteht , da s weite r reich t al s da s blo ß wirtschaftlich e Interesse - wen n es auch in jeder seiner Äußerungen mi t diesem zusammenhängt - ein e Entwicklung, wi e wir sie ζ. Β . bei den Privatangestellten gerad e jetzt miterleben . Was unterscheidet nu n die Organisationen de r Klassen i n der Gegenwar t zunächst von denen der „gebundenen Wirtschaftsepoche", z . B . de s Mittelalters, welch e Organisatione n de r Klasse n gleichfall s bereit s kannte ? A m prägnantesten vielleich t de r Umstand, da ß zur Zeit der „gebundene n Wirt schaft" di e Fragen wirtschaftlicher Existen z und des Anteils der Klassen am gesellschaftlichen Gesamtertra g i n eingelebter Weise gelöst wurden, vo n einer Bedrohung oder Erschütterung des Gleichgewichtszustandes kein e Rede sein konnte, so daß sich die Organisationen (z. Β . die Zünfte) auch nicht als Instrumente de s Kampfe s de r Klasse n bewuß t waren . Di e nach Auflösun g 38 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

der Bindungen wieder neu entstehenden Organisationen sind aber gerade Instrumente de r Klasse n zu r Eroberun g wirtschaftliche r Macht , se i e s durch Einflußnahme au f die Allgemeinheit selbst. Die ökonomischen Interessen aller Klassen sin d durch da s kapitalistische System , durch die Auflösung alle r bisher bestehenden Schichtungen selbs t den gefestigsten Existenze n bewuß t geworden, sei es weil sie direkt bedroht waren (wie die Interessen des Mittelstandes, die agrarischen Interessen usw.), sei es weil sie einer Bedrohung zugänglich wurden ; da s kapitalistisch e Syste m ha t s o die ökonomische Emp findlichkeit alle r Klassen erhöht, ins Unermeßliche gesteigert und so erst die psychischen Voraussetzunge n fü r di e mannigfaltigen , weitreichenden , durchgreifenden Organisationsbildunge n mi t sozialem Einschlag, die Träger der moderne n soziale n Politi k geschaffen . Für diese Interessentenorganisationen ist - was in diesem Zusammenhang besonders wichtig- charakteristisch eine Ideologie, deren Form bei allen Interessentenorganisationen gleicharti g ist ; eine Ideologie nach innen und eine nach außen : Di e Ideologie nac h inne n is t so gebaut, da ß die Interessenten organisationen eine , wenn auch nur vorläufige Zurücksetzun g individuelle r Interessen gegenübe r de n allerding s rech t beschränkte n Gemeininteresse n postulieren. So wird das Interesse eines jeden einzelnen mit dem Interesse der Gesamtheit verknüpf t un d di e Förderun g de r Interesse n de r einzelne n ge knüpft a n die Förderung de s Gemeininteresses, de s Gruppeninteresses. Di e Ideologie aller Interessentenorganisationen, di e sich nach innen wendet, behauptet ein e Interessensolidaritä t de s einzelne n mi t seine r Grupp e derart , daß das unmittelbare Gruppeninteresse immer dem Sonderinteresse dient. Ist diese Ideologie darauf bedacht , den einzelnen an die Gruppe zu fesseln, un d versucht sie es, indem das Einzelinteresse abhängi g vo n un d korrespondie rend mi t de m Gruppeninteress e dargestell t wird , s o verläuft di e Ideologi e nach außen hin formal i n entgegengesetzter Richtung : Sie postuliert der Gesamtheit gegenübe r ei n Einzelinteresse , wei l sic h a n desse n Wahrun g di e Verwirklichung de s Gemeininteresses knüpfe . Diese s Einzelinteress e wird , in de r nac h auße n gerichtete n Ideologie , niemal s u m seine r selbs t wille n postuliert, sonder n imme r mi t de m allgemeine n Interess e motiviert , wobe i jedoch durchgehend zu beobachten ist, - wa s eben die Organisationen zu Interessenorganisationen macht - da ß die weitergehenden, übe r die speziellen Interessen hinausreichenden Gesichtspunkte noch immer mit dem speziellen Interesse in strikter Übereinstimmung bleibe n und von diesen speziellen Interessen aus konstruiert werden. Oder, um es noch anders auszudrücken, das allgemeine Interesse ist in der Ideologie der Interessentenorganisationen un d in ihren konkreten Postulate n imme r Motivation, abe r nie Motiv. Moti v is t immer da s Sonderinteresse, un d nu r wei l diese s als koinzidierend mi t de m allgemeinen Interess e vorausgesetzt , i n der Psych e de r Interessente n selbs t sicherlich dauernd vorgestellt wird, tritt in der Motivation, welche ja auf die außenstehenden Kreis e wirken soll , da s allgemeine Interess e al s Motiv auf . Die Interessentenorganisationen wirke n als o nach innen auf ihr e Mitglie39 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

der, indem sie das Interesse der Gesamtheit der Interessenten als individuelles Interesse jede s einzelne n darstellen , un d si e wirken nac h außen , inde m si e nachzuweisen trachten , daß das Interesse der ganzen großen Gesamtheit gerade a n das Interess e de r spezielle n Grupp e geknüpf t ist , di e sie vertreten. Dieses Widerspiel, daß , trivial gesagt , nac h innen mi t dem Egoismus, nac h außen mit dem Altruismus argumentiert wird, daß das individuelle Interesse durch Hingabe an das allgemeine (Gruppeninteresse) gefördert wird, wohingegen wiederu m da s allgemein e Interess e di e Wahrun g eine s spezielle n Gruppeninteresses erforder t (da s de m allgemeine n Interess e gegenübe r ei n Individualinteresse ist) , charakterisiert jed e Interessentenbewegun g al s solche und unterscheide t si e scharf vo n de n politische n Parteiströmungen . Der eben gekennzeichnete Charakter der Ideologien dieser Interessenten organisationen erklär t auch ihren überraschenden Erfolg , ihre , im Vergleich zu politische n Parteirichtunge n betrachtet , gan z erstaunlich e Ausdehnun g und Herrschgewal t übe r di e ihr angehörige n Mitglieder . Di e Ideologi e de r Interessentenorganisationen knüpf t für ihre Mitglieder an andere wirtschaft liche Interesse n an , un d e s schlägt ebe n ein e ausgebildet e Gesellschaftsan schauung, die vom Gesichtspunkt der Interessen aus konstruiert ist, ungleich leichter, rascher und dauernder Wurzel als eine andere, welche Maximen von einem al s allgemei n anerkannte n Prinzi p ableitet . Davon noch später - be i der Einwirkung dieser Organisationen auf die politischen Parteien . Hier se i anschließen d allgemei n übe r di e Interessenorganisatione n noc h aus dem bisher Gesagten gefolgert, da ß die Ideologien der Interessenorganisationen genau so entstehen, wi e die extreme Formulierung der materialisti schen Geschichtsauffassung di e Ausbildung vo n Ideologien überhaup t - al s Überbau vo n Interessen , vo n wirtschaftliche n Situatione n - mi t Anspruc h auf generell e Geltung , vorstellt . Damit ist eine Beziehung angedeutet , de r m. E . für die Erkenntnis diese r Erscheinungen, nämlic h de r Ausbreitun g un d imme r größere n Bedeutun g der Interessentenorganisationen, ein e entscheidende Wichtigkei t zukommt : Die materialistisch e Geschichtsauffassun g al s Method e zu r Erkenntni s de s geschichtlichen Geschehens , der Erkenntnis de s Seienden und des Werdenden, beansprucht universelle Geltung und behauptet damit implizite, daß alle Klassen zu allen Zeiten auf die ökonomischen Gegebenheiten in gleich intensiver Weise reagierten - se i es bewußt, sei es unbewußt, und zwar stets in der Richtung ihre r Klasseninteresse n reagierten . Wie immer man sich zu dieser Auffassung stelle n mag, di e allein erst eine geschichtsmaterialistische Konstruktion auch der Vergangenheit ermöglicht , das eine ist sicher, da ß in der Erscheinung de r Interessentenorganisationen , in den ersten Stadien gleichfalls vielfach unbewußt, namentlich den einzelnen unbewußt, abe r doch immer klarer un d der Erkenntnis zugänglich, ei n immer weiterer Ausschnitt des sozialen Geschehens ganz nach dem Schema der materialistischen Geschichtsauffassung verläuft . Schon die Form der Ideolo40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

gie ließ das erkennen, aber auch an sich ist es natürlich, daß umfassende Or ganisationen, die ökonomische Gründe und Hintergründe haben, die auf die Allgemeinheit wirken wollen und müssen, daß solche Organisationen, deren Zwecke un d Ziel e ökonomisch , i n de r Richtun g de s Klasseninteresse s bewußt orientiert sind oder mit fortschreitender Entwicklung immer bewußter orientiert werden - s o sehr auch die Motivationen de r Allgemeinheit gegenüber aus allgemeinsten Gesichtspunkten heraus gewählt werden mögen - da ß diese ihre Ideologien auc h ganz i n der Richtung ihre r Interesse n ausbauen , was in der Richtung de r Interessen liegt, als sein sollend, und zwar mit dem Stempel allgemeine r Gültigkei t versehen, darstellen . Je mehr nun alle Interessentenorganisationen i n eine n wirkliche n Kamp f u m di e wirtschaftlich e Geltung hineingezoge n werden , j e mehr eine jede Schicht, ein e jede Klass e durch die Ansprüche der anderen wirklich bedroht wird, je mehr sich also die ökonomische Empfindlichkei t aller , auc h de r frühe r stabilen , vo n alle n Wechselfällen und steigender Macht anderer Klassen unberührten Schichten, steigert, in desto höherem Maße trachten nunmehr alle Schichten danach, das gesellschaftliche Geschehe n zu beeinflussen un d insbesondere in die ökonomische Entwicklung einzugreifen. Desto mehr wird die Organisation der sozialen un d wirtschaftlichen Klasse n nac h wirtschaftliche n Interessenge sichtspunkten z u einer allgemeinen Erscheinung , dest o geschlossener trete n die Organisatione n mi t ihre n Ideologie n auf , dest o tiefe r faß t auc h dies e Ideologie in den einzelnen Individuen Wurzel, was um so leichter geschieht, als sie in deren Bewußtsein auf keinerlei Widerstand stößt, im Gegenteil eine große Disposition zur willigen Aufnahm e derselbe n findet. S o wirken diese Organisationen wiederum vermöge ihrer Ideologien sehr bis in das individuellste Tun und Wollen ihrer einzelnen Mitglieder und beeinflussen s o immer mehr - zu m Unterschied von den politischen Parteien - di e einzelnen Aktionen des täglichen Lebens , influenzieren di e bis dahin neutralen sozialen und wirtschaftlichen Akt e aus ihren speziellen Interessentengesichtspunkten her aus. S o verbreitert sic h imme r mehr der Spielraum de s Geschehens, in welchem die Abfolge der einzelnen Aktionen, so individuell sie auch im subjektiven Bewußtsein bleiben mögen, immer mehr in der Richtung der Wirkung von Interessenorganisationen liegt , un d wechselseitig steiger n die Aktionen die Ideologien und legen umgekehrt die Ideologien die einzelnen wirtschaf tenden Subjekte auf bestimmte Aktionen fest. Und so eng uns auch die materialistische Geschichtsauffassun g erscheine n mag , da s ein e is t nich t z u be Streiten, daß sich in der Gegenwart ein immer weiteres Segment des Geschehens klar herausbildet, innerhalb dessen für die Aktionen die „Produktionsverhältnisse" i m Marxsche n Sinne , deutliche r vielleich t gesagt , di e wirt schaftlichen Interessen, wirklich entscheiden, innerhalb welches die materialistische Geschichtsauffassun g di e einzig e sicher e Method e zu r Erkenntni s des Geschehen s bildet . Innerhalb dieses immer breiteren Segmentes entstehen die Ideologien tat sächlich als Konsequenzen der wirtschaftlichen Klasseninteressen , sind sie de 41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

facto ein „Überbau", desse n Entstehung sich für jede einzelne Schicht nachweisen ließe; innerhalb dieses Segmentes verlieren Prinzipien und Argumentationen aus einer Weltanschauung heraus eine jede Bedeutung, büßen insbesondere politische Argumentationen, di e sich auf eine spezielle Staatsauffas sung stützen , a n Stoßkraf t un d Wirkungsmöglichkei t ein ; innerhal b diese s Segmentes wird, vo n außen gesehen, s o sehr im Innern subjektiv alle s mannigfaltig erscheine n mag , s o sehr im psychischen Proze ß ethisch e Postulat e auftreten mögen, alles vom Gesichtspunkte des ökonomischen Interesses aus rationalisiert. Un d da dieses ökonomische Interesse nicht nur innerhalb der engen Sphäre des Wirtschaftslebens wirkt , sonder n hinübergreift i n die des sozialen und staatlichen Geschehens, da das Ökonomische Interesse bedingt ist und gestaltet wird durch soziales und staatliches Geschehen, so erstrecken sich die Ideologien, späterhi n auch die Aktionen innerhalb dieses Segmentes immer weiter. S o rückt soziales Leben und Politik in immer weiterem Umfange in die Einflußsphäre de r Interessentenorganisationen, s o wird di e Tätigkeit diese r Organisationen imme r wichtiger für Organe , di e bis dahin im öffentlichen Lebe n die Führung hatten , als o die politischen Organisatione n insbesondere. Und je tiefer die Interessentenorganisationen greifen , j e mehr sie alle ihnen zugänglichen Interessenten wirklich umfassen und wirklich erfassen, dest o intensiver wirk t auc h ihr e Ideologi e selbst über die Kreise der Mitglieder hinaus , scho n deshal b wei l si e ihre r ganze n Konstruktio n nac h den Interessen der großen Masse viel adäquater ist als etwa die Ideologien der politischen Parteien . Und so ist auch die Politik, sowei t sie soziale Politik ist, also die Verhältnisse der Klassen zueinander bestimm t un d die Einflußsphäre de r einzelnen gesellschaftlichen Schichte n abzugrenze n sucht , j a i n da s Wirtschaftslebe n selbst direkt eingreift, i n der neuesten Zeit im wesentlichen das Resultat der Aktionen diese r Interessenorganisationen geworden . Frühe r waren die politischen Parteie n di e Träger jeder , als o auc h de r sozialen Politik . Nunmeh r greifen di e Interessentenorganisationen übe r ihre spezielle Interessensphäre , die Sozialpolitik, hinaus und influenzieren durc h ihren Einfluß auf die politischen Parteie n auc h di e Parteipolitik . Am deutlichsten spiegel t sic h diese Wandlung, da s Übergreifen vo m bloßen beschränkten Gruppeninteress e i n die Allgemeinheit, i n den Ideologie n der Interessentenorganisationen wider , un d je deutlicher si e sich ausbilden , desto genauer ist zu erkennen, wi e das treibende Motiv und der zentrale Gedanke ein Interessengesichtspunkt ist . Eine Ausnahmestellung nehme n insofern die Gewerkschaften ein , als ihre größte Gruppe, die freien Gewerkschaften, die sozialistische Ideologie akzeptiert haben. Aber auch hier mit der Nuance, daß die extremen parteipolitischen Forderungen abgeschwächt werden und daß die Ideologie de s Sozialismus al s lebendig wirkende s Gedankensy stem reduziert wird auf Postulate, die in der gegenwärtigen Wirtschaftsord nung realisierbar sind. Die Motivation nach außen hin wird geschöpft aus einem produktionspolitischen Idea l un d au s dem Ideengehalt de r demokrati 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

sehen Staatsauffassung . S o wird da s Klasseninteress e de r Arbeiterschaf t a n höheren Löhnen , kürzere r Arbeitszeit , bessere n Arbeitsbedingungen, end lich auc h a n billigen Preise n vo n Nahrungsmitteln un d Industrieprodukte n eingebaut in eine allgemeinere Auffassung, au s der dann die speziellen Forderungen al s Konsequenze n fließen . Noch deutliche r zeig t sic h da s Prävalieren de s Interessengesichtspunkte s in der Ideologie der Unternehmerverbände. Diese konnten nicht ohne weiteres die Ideologie einer politischen Partei, wie die Gewerkschaften, akzeptie ren. So wird das Interesse der Unternehmer als herrschendes postuliert, zu nächst aus einem produktionspolitischen Idea l heraus. Die Motivation geh t dahin, da ß nur die dominierende Stellung de r Unternehmer i n der Produktion, die Herrschaft im Betriebe und ihr Einfluß im Staat den Erfolg der Produktion garantiere . Daß in der Ideologie der Unternehmer kein allgemeine s Prinzip herrscht , au s welchem di e Interesse n de r Unternehmer al s Konse quenz fließen, folgt daraus, daß die Unternehmer allüberall prinzipiell entgegengesetzte Forderungen auch aus gegensätzlichen Prinzipien heraus in aller Naivität vertreten, da ß sie gegen die schrankenlose Konkurren z de r einzel nen Unternehme r untereinande r auftreten , di e al s „schädlich " abgelehn t wird, hingege n di e „Freiheit des Arbeitsvertrages" postulieren un d den Zusammenschluß der Arbeiterschaft ode r der Arbeitnehmer überhaupt zweck s Ausschaltung de r „mörderische n freie n Konkurrenz " perhorreszieren ; da ß sie de n Koalitionszwan g de r Unternehme r untereinande r al s notwendige s Ergebnis de r solidare n Interesse n billigen , de n Koalitionszwan g innerhal b der Arbeiterschaft al s „Unterbindung des freien Willens der Persönlichkeit" ablehnen; da ß sie Zölle und Einfuhrverbot e al s „Schut z der nationalen Ar beit" verteidigen , hingege n Schutzbestimmunge n gege n übermäßig e An wendung der Arbeitskraft ebens o entschieden als Eingreifen i n die Selbständigkeit de r Staatsbürger , i n de n „natürliche n Verlau f de r wirtschaftliche n Entwicklung" ablehnen . Al s Ausflu ß allgemeine r Prinzipie n widersprich t sich als o die Ideologie de r Unternehmer i n den einzelnen Postulate n (meh r als die der Arbeiterschaft, welch e auf der einheitlichen sozialistischen Ideo logie fußt ) un d stell t sic h al s widerspruchslose s Syste m nu r da r vo m Ge sichtspunkt de r Unternehmerinteressen al s Oberziel. Si e ist daher auch nur von diesem Gesichtspunk t au s zu verstehen, un d jeder Versuch, di e einzelnen Forderungen al s Ergebnis einer einheitlichen Anschauung mi t dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit hinzustellen , is t von vornherein unmöglich . Am ehesten ist die Ideologie de r Unternehmer noc h verwandt mi t der konservativen Auffassung. Abe r doch in erster Linie nur wegen des autoritativen Charakters dieser Anschauung. Immerhi n zeige n sich noch am ehesten Berührungspunkte zu r organische n Staatsauffassung ; nu r gege n di e Arbeiter schaft, de n Arbeitnehmer überhaup t wird si e hie und da durchbrochen un d gelegentlich die „wohltuende Sturmluft wirtschaftliche r Freiheit " gefordert . In ähnlicher Weise läßt sich zeigen, da ß die Ideologie der privaten Angestellten sich aus ihrer Stellung in der Produktion, ihrer „Klassenlage" ergibt . 43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Die Situation de r Angestellten is t technisch dadurch charakterisiert , da ß sie „zwischen den Klassen" stehen, zwischen de r Klasse der Arbeiterschaft un d der Unternehmer und daß sie nicht nur technisch, sonder n auch sozial ein e analoge Zwischenstellun g einnehmen . Wen n auc h da s entscheidend e Mo ment in ihrer Situation das der unselbständigen Berufstätigkeit is t und daher alle Forderungen de r Arbeiterschaft ihre m sachlichen Inhal t nach in der Sozialpolitik der privaten Angestellten wieder erscheinen, so fehlt doch auf der anderen Seite nicht ei n mittelständischer, j a direkt konservativer Einschlag . Es fehlt nich t das Streben, di e Position der Angestellten, wen n auch nur auf der Basis einer unselbständigen Berufstätigkei t z u stabilisieren , dauern d z u gestalten, so wie alle Mittelstandspolitik darauf ausgeht, eine möglichst große Anzahl „gesicherter Existenzen" zu schaffen. Wie also die Interessen und die praktischen Postulate, was näher zu detaillieren zu weit führen würde , ganz entsprechend de r ökonomische n un d soziale n Positio n ein e Zwischenstel lung einnehmen , s o auch die Ideologi e de r Angestelltenorganisationen , di e sich weder mit der der Gewerkschaften, noc h der der mittelständischen ode r Unternehmerorganisationen deckt , sonder n i m wesentlichen di e ökonomi schen un d politische n Vorrecht e de s Besitze s beseitige n möcht e un d ein e stärkere Betonun g de r persönlichen Qualitäte n auc h al s politische r Fakto r anstrebt. Ein weitere s Eingehe n auc h au f di e übrige n Klassen , di e Ideologie n de s Mittelstandes, de r Agrarie r (wobe i wiederu m mehrer e Schichte n z u unter scheiden sind) , endlic h das sich immer mehr und deutlicher herausbildend e spezielle Wirtschaftsinteresse de r Konsumenten, würde zu weit führen. Nu r sei al s speziell e un d interessant e Spielar t eine r Interessentenideologi e noc h kurz die des Mittelstandes charakterisiert. Der Mittelstand ist nicht eine ökonomisch determiniert e Schich t wi e di e übrige n Klassen , ebensoweni g ein e technisch determinierte . Sei n Kriteriu m is t ein soziales: umfaßt e r doch all e mittleren un d kleinere n selbständi g Berufstätige n i n Gewerb e und Handel . So ist auc h ein e Ideologi e nac h auße n hi n nich t wi e di e Ideologie n andere r Schichten produktionspolitisc h fundamentiert , sonder n sozial . Is t den Un ternehmern z. B . das Oberziel ihr Unternehmerinteresse und verknüpfen sie damit in der Motivation die „möglichste Ergiebigkeit der nationalen Produktion", s o fehlt diese Argumentation bei m Mittelstand, weil sie als in sich widerspruchsvoll nich t möglich ist. Das Oberziel der „Mittelstandsinteressen " wird vielmehr nach außen sozial motiviert : von der Voraussetzung aus , daß ein „gesunde s Wirtschaftsleben" ein e größtmögliche Anzah l mittlere r selbständiger Existenzen verlange, als Gegengewicht gegenüber dem „Flugsand " der Arbeiterschaf t un d de r Kapitalsübermach t de r Großindustrie . Durc h diese soziale Argumentation wir d es ermöglicht, di e mannigfachsten prinzi piell einande r widersprechenden praktische n Postulat e zu erheben , d a es ja gar nicht im Widerspruch mi t dem sozialen Postulat der Erhaltung des Mittelstandes steht, wenn zu dessen Durchsetzung sehr verschiedenartige Maß nahmen erforderlic h sind , zu m Tei l solche , welch e da s Prinzi p de r freie n 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Konkurrenz ausschalte n sollen (sobald es sich um die Konkurrenz des Mittelstandes in den eigenen Reihen handelt), und wieder solche, welche es vertreten (de r Arbeiterschaft gegenüber) , solche , welch e die Staatshilfe i n Anspruch nehmen (wenn es sich um den Mittelstand handelt) und die sie ablehnen, wenn es sich um die Arbeiterversorgurig handelt . Dadurch, daß die Interessentenforderung - Erhaltun g de s Mittelstandes - auftrit t i n einer sozial gefärbten Ideologie , is t es möglich, gerad e die Mittelstandsforderungen, di e sich prinzipiell am meisten widersprechen, doch zu vereinheitlichen, ohne sie als bloße Interessentenforderung demaskiere n zu müssen. Und gerade in den Kreisen de s Mittelstandes is t die Umsetzung vo n Interessentenforderunge n in politische und ethische Postulate auch mit der größten Intensität erfolgt . Bisher wurde versucht, einige Anhaltspunkte dafür zu geben, wie sehr die Interessentenorganisationen allmählic h imstand e waren , di e erwerbstätig e Bevölkerung unter ihre Einflußsphäre zu bringen, wie sie die einzelnen Mitglieder i n ihrem Handeln entscheiden d z u beeinflusse n verstanden , wi e sie den Gedankengänge n ihre r Mitgliede r mi t Erfol g de n spezielle n Charakte r einer Interessentenideologie aufzuprägen wußten, deren charakteristischste s Element da s ist, da ß die Beurteilung de s öffentlichen Leben s von den ökonomischen Interessen aus, und zwar bewußt mit dem Anspruch der Priorität für das eigene Interesse, erfolgt. So kann es nicht wundernehmen, da ß diese Organisationen z u immer stärkeren Potenzen erwachsen sind und daß diese Organisationen, di e freigebildeten Verbänd e der Staatsbürger, imme r mehr die Träger zunächs t de r sozialen Politi k werde n - ein e Tatsache, di e schon längst ihren deutlichen Ausdruck darin gefunden hat, daß nicht mehr die Regierungen nac h einem vorgefaßten Program m zu r „Ausgleichun g de r Klassengegensätze" oder zur Erzielung eines Staatszweckes, ζ. Β . zur Verwirkli­ chung de s „praktische n Christentums" , Sozialpoliti k treiben , wi e noch vor wenigen Jahrzehnten , sonder n ausschließlic h unte r de m Druc k und , ma n kann sagen, dem Zwang der Organisationen, die immer größeren Einfluß auf die Gesetzgebung un d Regierun g erlangen , un d zwische n dere n Wünsche n die Regierungen i m beste n Fall e ein e Resultierend e z u finde n trachten . So ergibt es sich von selbst, daß die wirtschaftlichen, di e Interessentenorganisationen mi t de n politischen Parteie n i n Fühlung treten , un d hie r setz t die Einwirkung ein , welche von den Interessenten, also von Seite der Träger ökonomischer Interessen , au f da s moderne Parteiwese n un d dami t au f de n Parlamentarismus überhaup t ausgeüb t wird . Solange die Parteien der Parlamente von allgemeinen Prinzipien aus gebildet wurden , solang e wirtschaftlich e Klasseninteresse n i n ihne n höchsten s unbewußt wirkten, bestanden zwar auch bereits die wirtschaftlichen Organi sationen. Es waren aber noch nicht Organisationen von Klassen, von großen ökonomisch einheitlic h orientierte n Schichte n mi t soziale r Betonung , son dern erst von Berufen, welch e die Parteien „informierten" , d . h . ihnen Mitteilungen übe r ihr e Wünsch e un d Notwendigkeite n machten , di e von de n Parteien ihrerseits wiederum an dem Kriterium des allgemeinen Prinzips ge45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

prüft wurden , u m zu erkennen, o b sie realisierbar seie n oder nicht. Fü r die Verfassung abe r un d gesetzlic h existierte n dies e Organisatione n überhaup t nicht, juristisc h ware n un d sin d noc h jetz t di e Abgeordneten Vertrete r de r Volksgesamtheit, unverantwortlich , nu r ihre m eigene n Gewisse n Rechen schaft schuldig . De r Einflu ß de r Wähle r erschöpf t sic h i n de r Abgab e de s Stimmzettels am Wahltage, sowie sich der Einfluß de r politischen Partei auf die Wähler erschöpft e i n einer Einflußnahm e au f die Art de r Abstimmung . Nach dem Wahltag war die politische Partei, ware n die Abgeordneten gan z losgelöst vo n den Wählern. Nich t nu r rechtlich beka m die Willensmeinun g der Wähler ein selbständiges Leben, so daß erst eine neue Wahl eine Korrektur vornehme n konnt e - auc h faktisc h gin g da s einigend e Ban d zwische n Wählern und Partei über die kurze Zeit der Wahlagitation nich t hinaus, und alle die Ideologien, welch e die politischen Parteien trugen, die in die tiefsten Tiefen de s Bewußtseins zu wirken suchten , si e waren in den Wählern eben sowenig lebendig al s de jure de r Wille de r Wähler i n den Abgeordneten le bendig un d wirksa m war . Nunmehr aber stellten sich neben diese Parteien, entstande n aus der Wirkung eines autonomen, gleichgerichteten Interesses, Interessenverbände, of fizielle und nicht-offizielle Korporationen , zuerst in der Form einer gutachtlichen Tätigkeit, späterhi n immer wichtiger und ausschlaggebender auc h fü r die Parteie n un d dere n politisch e Erfolge , wei l dies e Organisatione n ihr e Mitglieder wirklic h dauern d i n der Hand haben , dauern d beherrsche n un d ihren Einflu ß au f die Bildung der politischen Meinun g erstrecken. S o haben sich die einzelnen Interessentenorganisationen imme r deutlicher bestimmte n politischen Parteien koordiniert, un d wie heute kaum mehr eine Interessentenorganisation denkba r ist , welch e nich t z u politische n Parteie n Fühlun g hat un d dere n öffentlich e Wirksamkei t z u beeinflusse n sucht , s o ist umgekehrt auc h kau m meh r ein e politisch e Parte i denkbar , dere n Wähle r nich t auch Interessentenorganisationen nähergebrach t werden und mit ihnen enger verbunden sind. Jeder, der das öffentliche Lebe n beobachtet, muß die immer mehr präponderante Stellung dieser Organisationen erkennen, wie die Macht der politischen Parteie n immer mehr eingeschränkt wird , wi e in den Aktionen der politischen Parteie n nebe n de n politischen, de n programmatische n Gesichtspunkten, de n Prinzipien, imme r mehr die hinter der Partei stehen den Interesse n prävalieren , mu ß sehen , wi e di e Äußerungen de r offizielle n Interessentenorganisationen de n Parteie n un d de n Kandidate n gegenübe r immer meh r de n ihne n ursprünglic h zukommende n Charakte r de r unver bindlichen Meinungsäußerung verlieren, wie die Kandidaten bzw. Abgeordneten z u Mandataren de r Interessentenorganisationen werden . S o ist durc h die Interessentenorganisatione n ein e Umbildun g de s öffentliche n Leben s eingetreten, die sich vielleicht noch nie so deutlich wie bei den letzten Wahlen zum Deutschen Reichtstag [1912] gezeigt hat- wo große politische Strömungen sich des Vehikels der Interessentenorganisationen bediene n mußten, um im Wahlkamp f überhaup t mi t Aussich t au f Erfol g auftrete n z u können . 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Diese Machtverschiebun g zwische n politische n Parteie n un d Interessen organisationen verdien t weiterhin deshal b ein besonderes Interesse, weil dadurch die Art und Form des politischen Lebens durchgreifende Wandlunge n erfährt: Di e politischen Parteie n vertrete n j a ei n Prinzip , welche s mi t de m Anspruch au f Allgemeingültigkei t auftritt . Di e Interessentenorganisatione n vertreten die gemeinsamen Interessen ihrer Mitglieder, als o der in ihnen vereinigten Bürger , un d wen n si e dieses auch koinzidierend mi t dem allgemeinen Interesse darstellen un d vorstellen, s o beanspruchen sie doch nicht, di e Gesamtheit de r Staatsbürger - wi e die politische Parte i - i n sich zu vereinigen. Sie erkennen als o prinzipiell di e Existenzberechtigung andere r Interessentenorganisationen nebe n sich an - wa s eine Partei im strengen Sinne nicht tun kann und de facto auch nicht tut. So ist der Interessentenorganisation das formale Ziel ihres Kampfes ein Gleichgewicht der Interessen- der politischen Partei is t da s Ziel: di e Herrschaf t eine s Prinzips . Wenn und insofern als o die Interessentenorganisationen i n die politischen Parteien eindringen, ihnen gegenüber einen Einfluß ausüben, schaffen sie das Bedürfnis nac h neuen politischen Formen . Den n die politischen Idee n alte r Richtung, di e in die Parteien bi s dahin herrschten, einigten , reduzierte n di vergente Interessen au f Prinzipie n - di e Interessentenorganisationen i n und neben de n Parteie n differenzieren , betone n da s Trennende und di e überragende Wichtigkei t de s Trennende n un d müsse n prinzipiel l ein e Majorisie rung vo n Interesse n grundsätzlic h ablehnen . Wenn ma n als o das prinzipiell Neu e diese r Entwicklun g gegenübe r de m Parlamentarismus „alten Stils" darin erblickt, daß hier die Autorität des Staates, wie sie sich im Parlament verkörpert und wie sie von den Parteien getragen wird, nurmehr auftreten kann in der speziellen Färbung eines Klasseninteresses, so wird man finden, da ß an der zentralen Stelle des öffentlichen Le bens, also in der Gesetzgebung, sic h nunmehr ein Prinzip durchzuringen beginnt, da s bisher unbeachtet i n der gleichen, gan z analogen Weise in Rechtsprechung un d Verwaltung scho n nahezu vollständi g zu r Anerkennung ge langt ist. Ich meine die „speziellen" Gerichtsständ e und die Mitwirkung de r Interessenten an den Akten der Verwaltung, di e Mitwirkung de r Verwaltung an den Organisationen un d autonomen Aktione n de r Interessenten. Diese r spezielle Gerichtsstand is t etwas grundsätzlich Verschiedene s ζ. Β . von der dem alte n Parlamentarismu s analoge n Erscheinun g de s Geschworenenge ­ richtes, da s gewissermaße n di e „Volksstimme " gegenübe r de m gelehrte n Richtertum repräsentiere n sollte , wi e da s Parlamen t di e allgemein e Volks meinung gegenübe r de r absolute n Regierung . De r speziell e Gerichtsstan d aber hat den Effekt, Interessentengesichtspunkt e zunächs t in das allgemeine bürgerliche Recht einzuführen, e r macht Ernst mit dem Satz, daß jeder „nur von Seinesgleichen" gerichtet resp. beurteilt werden dürfe. Die Richtersprüche dieser spezielle n Gerichtsständ e schaffe n s o eine Atmosphäre, vo n de r aus eine immer weitergehende partikularistische Gesetzgebung un d Verwaltung mit Notwendigkeit folgt. So ruht denn nicht nur das öffentliche Leben , 47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

soweit es in den Parlamenten zum Ausdruck gelangt, auf einer Fülle von Interessenorganisationen, sonder n es bildet sich auch eine Fülle von Instanzen aus, welch e all e di e Autoritä t de s Staates , de r Allgemeinhei t zu r Geltun g bringen sollen, aber es doch nur können, nicht anders können als in der Färbung eine s Klasseninteresses . War aber im Mittelalter de r Grundsatz, da ß jeder nur von Seinesgleiche n beurteilt werden könne, ein Weg zur Rechtsbildung, so bedeutet er heute die Abdikation de s Staates auf die Oberherrschaft. S o wirken auch in diesen untersten Instanze n staatliche r Tätigkei t lebendig e Kräft e nac h de r gleiche n Richtung wie im politischen Leben: Sie erheischen die Ausschaltung von allgemein herrschende n Prinzipie n un d setze n a n deren Stell e di e Vertretun g von Sonderinteresse n „i m Rahmen de r Gemeininteressen" . So hat das öffentliche Lebe n einen geänderten, vielfach differenzierte n In halt gewonnen. E s ist kein Zweifel, da ß er mit den hergebrachten Forme n in Widerspruch trete n wird, mi t Formen, welch e den adäquaten Ausdruc k ei ner ganz anderen Verfassung, eine s ganz anderen Zustandes des öffentlichen Lebens bilden. Di e Konflikt e sin d bishe r zu r vollen Schärf e noc h nich t er wachsen, wei l di e Parteien selbst imme r meh r zu Interessentenparteie n ge worden sind, so daß die Interessentenorganisationen i m Rahmen der bisherigen, „alten " Parteien zur vollen Geltung gelangen konnten. Aber gerade dadurch wurde es nur noch absurder, daß ganz disparate Interessengruppen als Gesamtheit der Wähler in einem Wahlkreis eine Einheit bilden sollen, innerhalb dere n sic h ein e Meinun g al s di e herrschend e erweist , wa s be i eine m Kampf vo n Parteien , di e nach Prinzipie n orientier t sind , insbesonder e von zwei Parteien, di e man in der Regel im Auge hatte, ganz natürlich wäre . Sobald sich aber das öffentliche Leben , die staatlichen Machtmitte l und Aktionen in den Dienst wirtschaftlicher Sonderinteressen stellen, ist diese Form für die Produzierung eines Gesamtwillens mit den wirkenden Kräfte n im Widerspruch, schon deshalb, weil erhebliche Schichten, die überall in der Minorität sind, niemal s z u eine r Vertretun g i m öffentliche n Lebe n gelange n können , weil dies e Schichte n al s ständiger Sprengstof f i n de n Parteie n wirken . Mit de r steigende n Mach t diese r Interessentenorganisatione n wir d da s Problem ihres Verhaltens zu den politischen Parteien immer dringlicher werden müssen. Von dieser Seite her wird der Parlamentarismus überhaupt problematisch, und die Anschauungen, di e mit dem Schlagwort de s Syndikalismus gekennzeichnet werden, weisen auf Tendenzen, die dahin abzielen, den Organisationen die entscheidende soziale Macht anzuvertrauen un d die Parlamente überhaupt auszuschalten. Di e politischen Parteien ihrerseits, im Innern zerspalte n un d bedräng t vo n de n diverse n Interessentenströmungen , nach außen von einer verwirrenden Füll e von Parteien umgeben , mi t deren praktischen Forderungen sie größtenteils übereinstimmen, genötigt, allüber all alle Interessen i n sich zum Austrag, nac h außen zu r Vertretung z u brin gen, trete n für ein e Umformung de s politischen Leben s ein , welch e si e der willkürlichen un d blin d wirkende n Maschineri e de s jetzige n Wahlsystem s 48 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

und Verfahrens entrück t un d ihnen ein e Vertretung sichert , di e dem realen Einfluß au f die Wählerschaft, als o der Anzahl der Stimmen, entspricht . Di e politischen Parteien , je schwankender die Verhältnisse werden, treten so allmählich, selbs t di e konservativen , wen n si e i n de n Hintergrun d gedräng t werden (wie die Christlich-Sozialen in Österreich) für ein Proportionalwahlrecht ein , da s naturgemäß di e Einwirkung de r Interessenorganisationen au f die politischen Parteie n verstärken, j a zu einer vollständigen Herrschaf t de r Interessenorganisationen mi t Notwendigkei t führe n muß . So gehen die Tendenzen, welche auf eine Umformung des öffentlichen Le bens abzielen, welche die Voraussetzungen des Parlamentarismus sowohl als auch seine formalen Element e problematisch machen , all e in der Richtung , die Einflußsphäre un d Intensität i n der Wirkung de r Interessenorganisatio nen zu steigern. Und es sind Entwicklungen denkbar, welche die Parlamente selbst wichtige r Kompetenze n entkleiden : Wi e j a scho n jetz t vielfac h di e konkreten Entscheidunge n nicht von den herrschenden Parteien gefällt wer den, sonder n vo n den Interessentenorganisationen , di e hinter ihne n stehe n und welche die Partei mehr beherrschen als umgekehrt, s o wäre es denkbar, daß die Entscheidungen übe r die Fragen sozialer Machtverteilung, übe r die Fragen, welch e di e wirtschaftliche n Interesse n de r Klasse n berühren , de n Parlamenten entzogen und gesonderten Vertretungskörpern anheimgegebe n würden, i n welchen di e Interessenten al s solche, nicht als Staatsbürger, nu r als Vertrete r ihre r eigene n Interessen , sitze n un d entscheiden . Au f dies e Entwicklungsmöglichkeit ha t i n seine r Schrif t übe r Verfassungsänderun g und Verfassungswandlung bereit s 190 6 Georg Jellinek hingewiesen. Hier ist es nicht angezeigt, di e Organisation un d Kompetenz solcher spezieller Par lamente zu erörtern; es kann nur soviel als sicher angenommen werden, da ß dann eine jede Interessentengruppe i n den sie unmittelbar betreffende n An gelegenheiten entscheide n würde, wenigstens insoweit, da ß nichts gegen ihren Willen, wenn auch nicht alles durch ihren Willen allein geschehen könnte. Jelline k z . Β . stellt sic h di e Entwicklun g s o vor, da ß sic h Spezialparla mente (entsprechend woh l den einzelnen Klassen ) bilden, dere n Beschlüss e durch das allgemeine Parlament angenommen oder verworfen werden. Vielleicht verläuf t di e Entwicklun g abe r auc h i n de r Richtun g de r Ausbildun g universeller Parlamente , in denen alle Interessentenschichten al s solche vertreten sind und jeder einzelne n Schich t in ihren Angelegenheiten da s Vetorecht zuerkann t wird . Würde sic h dies e Entwicklun g realisieren , dan n würd e au f de m breite n Boden de s wirtschaftliche n un d darübe r hinausgreifend auc h soziale n Ge schehens das ökonomische Element herrschen, - mi t Ausschaltung der politischen Idee- würden die Parteien „alten Stils" zurückgedrängt sein von den Vertretern ökonomischer Interessen, würden die Ideologien de r Interessenorganisationen immer weiter und tiefer greifen. So würde sich in der konkreten Gegenwart da s Gebiet erweitern, da s von den Interessenorganisatione n beherrscht wird und in welchem alles Denken und Wollen sic h als Überbau 49

4 Lederer , Aufsätz e

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wirtschaftlichen Geschehen s manifestiert . Ni e ware n di e Vorbedingunge n dafür s o gegeben wie gegenwärtig, w o die wirtschaftlichen Organisationen , eben weil die Klassen im Kampfe um die Verteilung des Produktionserfolge s stehen, ihre Mitglieder beherrschen und in ihrem Denken und Handeln entscheidend bestimmen - die s deshalb, weil die neutrale Zone wirtschaftliche n Handelns immer engeren und die soziale Aktion immer breiteren Spielrau m einnimmt. Man mag es bedauern, daß die demokratische Entwicklung gerad e die „großen Gesichtspunkte" aus dem öffentlichen Lebe n verdrängt und Interessengesichtspunkte a n die Stelle gesetz t ha t (un d ic h möchte, u m jeden Zweifel auszuschließen , betonen , da ß hier die Entwicklung nu r konstatiert , nicht wertend hervorgehoben werden sollte); man mag es bedauern, daß sich alle Politik un d aller Wille der Gesamtheit nu r realisiert al s wirtschaftliche r Wille- daß politische Interessen und politisches Leben, wirklich eingreifen des, di e Entscheidungen bestimmende s politisches Erlebe n nu r möglic h is t auf Basis wirtschaftlichen Geschehen s und Wollens und als Ausdruck wirt schaftlichen Geschehen s und Wollens. Wer die Entwicklung de r Dinge aufmerksam beobachtet , wir d z u keine m andere n Resulta t gelange n können : Die modern e wirtschaftlich e Entwicklung , welch e all e Klasse n zu r Aktio n bringt, die früher passiven Interessen lebendig und aktiv macht, mußte im öffentlichen Leben die intellektualistischen, prinzipiellen Parlamente und Parteien umbilden, mußte an Stelle der politischen Idee die ökonomischen Interessen setzen , wei l di e i m Wirtschaftskamp f stehende n Staatsbürge r au f di e Dauer un d tiefgreifen d keine r andere n al s eine r wirtschaftliche n Organisa tion sich zugänglich erwiese n haben . Di e Parteien müsse n an Boden verlie ren, weil ihre Einflußsphäre i m Denken und Wollen der Staatsbürger gegen über der Interessentenideologie nicht Stand halten kann. Die Parlamente sind also in die Einflußsphäre von Organisationen gelangt, an deren Existenz oder Einfluß ma n bei Schaffung de r Verfassung überhaup t nicht dachte, das ökonomische Prinzip , da s wirtschaftlich e Elemen t is t i m Vordringen : Z u wel chem End e di e Entwicklun g führt , darübe r Vermutungen anzustellen , möchte ich a n dieser Stell e nicht versuchen. Ic h möcht e nur andeuten , da ß m. E . in Konsequenz dieser Ausführungen i n immer höherem Maße das politische Lebe n rationalisier t un d berechenbar wir d un d daß im selbe n Maß e das politische Leben immer weniger als Exponent der allgemeinen Entwick lung angesehen werden kann. Es wirft sic h aber die Frage auf, o b nicht vielleicht die oben angedeutete Differenzierung i n den Organen des öffentliche n Lebens gerad e ein e Entwicklun g inauguriere n könnte , wi e si e vo n de n Schöpfern de s moderne n Parlamentarismu s ersehn t worde n ist .

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3. Di e Angestellten im Wilhelminischen Reic h (1912) Zur Klassenlage de r Angestellten Als Ergebni s de r statistische n Daten 1 sei festgestellt : 1. Das rapide Anschwellen der Angestelltenschichten seit 1882, mehr noch seit 1895 , ist di e Konsequen z de r Betriebskonzentration , de r Entwicklun g zum Großbetrieb; es schließt zugleich für die große Masse den Übergang zur Selbständigkeit aus ; die Klassenzugehörigkeit zu r Angestelltenschaft wir d auch individuel l - ein e dauernde . 2. Da s Wachstum der Angestellten und die damit gegebenen Tatsachen (1) sind a m stärksten i n de r Industrie . 3. Di e Beschäftigun g kaufmännische n Personal s auc h i n de r Industri e schafft eine n Konnex der beiden großen Angestelltengruppen 2, de r auch organisatorisch vo n Bedeutun g z u werde n beginnt . 4. Di e Bedeutung der Angestellten wird gesteigert durch ihre lokale Verteilung, durc h di e Konzentratio n überdurchschnittlic h große r Masse n vo n Angestellten (i m Verhältni s zu r berufstätige n Bevölkerung ) i n de n Groß städten. 5. Di e rasch e Vermehrun g de r Angestellte n i n Industri e un d Hande l drückt i n manchen Gruppe n di e Zahl der Arbeiter relati v herab . Nicht nu r politisch, sondern auch im Betrieb sind dadurch Tendenzen gegen die sozialen Wirkunge n de r radikale n Konzentratio n wenigsten s möglich . Übe r di e Art diese r Wirkunge n kan n a n dieser Stell e zunächs t nicht s ausgesag t wer den. Die genannten Umstände, insbesondere aber die Konzentration der Angestellten in wenigen großen Industrien, abgesehen davon die Konzentration in den Großbetrieben de s Handels und der Industrie (eine Konzentration, di e relativ viel weiter geht als die der Arbeiter), endlich die Konzentration in den Großstädten begünstigt die Möglichkeit, sozia l und politisch zu wirken, au ßerordentlich. Und das erklärt es auch, daß die Angestelltenschicht, de r rein numerisch immerhi n noc h kein e besondere Wichtigkeit zugesproche n wer den kann, al s real wirkender Faktor immer mehr zur Geltung gelangt . Ein e Geltung, di e allerding s i n entscheidende r Weis e durc h ihr e technische n Funktionen un d ihr e Stellun g i n de r Volkswirtschaft gesteiger t wir d . . . Auch die wissenschaftlichen Vertreter des Sozialismus beginnen zu sehen, daß i n de r Differenzierun g de r unselbständi g Berufstätige n ei n neue s Ele ment gegebe n ist , welche s mi t de n Formeln : Industrialisierun g de r Agrar staaten, Konzentratio n de r Industrie, Akkumulatio n vo n Reichtum, gesell 51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

schaftlicher Macht in den Händen einer kleinen Zahl, Anhäufung von Pauperismus ode r wenigsten s relative r Armu t i n imme r wachsende n Proletarier massen- nicht gedeckt erscheint. Un d wenn selbst ein Vertreter der Wiener sozialistischen Schule 3, di e besondere n Antei l a n de r Weiterbildun g de s Marxschen Systems und der Auswertung seiner Grundsätze für die Komplikationen des modernen Lebens (ζ. Β . für die Nationalitätenfrage) hat , wen n selbst ein Vertreter dieser Schule sich genötigt sieht, von ausschlaggebende n „Kulturinteressen der Intellektuellen" zu sprechen (mit denen er doch neben den freien Berufe n vorwiegend di e Oberschicht der Staats- und Privatbeamtenschaft meint) , so ist das ein deutliches Sympto m dafür , da ß hier eine soziologische Entwicklun g anerkann t wird , di e nicht meh r den Formeln ent spricht, welche Marx für die Weiterentwicklung de r Gesellschaft konstruier te. Besonders bezeichnend deshalb, weil Vertreter der materialistischen Geschichtsauffassung sic h z u Konzessione n a n di e entgegengesetzt e Betrach tungsweise veranlaßt sehen - nich t aus der Notwendigkeit der Tatsachen heraus, sonder n wei l gerad e di e Einführun g nicht-materialistische r Bestim mungsgründe für die Entwicklung das spezielle Schema des Sozialismus noch als möglich erscheinen läßt, während gerade die Orientierung der neu auftauchenden und sich abschließenden gesellschaftlichen Schich t nach materiellen Interessen die konkreten Ziele der speziellen sozialistischen Entwicklun g i n Frage stellen könnte. Dieser Widerspruch, de r gewiß von „orthodoxer" so zialistischer Seit e als solcher empfunde n wird 4 , zeig t deutlich , da ß die Absonderung dieser neuen „Zwischenschicht" nicht ohne weiteres mehr als Differenzierungsprozeß de r Arbeiterschaf t empfunde n wir d (wi e noc h Mar x Gelehrte und Künstler als bezahlte Lohnarbeiter des Kapitals kategorisierte). Die Abhängigkeit vom Kapital erweist sich eben nicht als ausreichend für die eindeutige Bestimmun g eine r Schicht. Un d s o bezeichnend e s war, da ß di e Differenzierung innerhal b der manuellen Arbeiterschaft (di e Herausbildung einer Arbeiterelite ) vo n nicht-sozialistische r Seit e al s Argumen t gege n di e von Mar x konstruiert e Entwicklun g gebrauch t wurde , ebens o bezeichnen d ist es, daß jetzt nach der anderen Seite von sozialistischer Seite die wirtschaftlich und sozial sich deutlich abhebende Schicht der Angestellten und gar der öffentlichen Beamten einfach als Appendix der Arbeiterschaft angesehen und für die Entwicklung al s solche gewertet wird . Ebenso , daß andererseits von seiten des Mittelstandes und der „staatserhaltenden" Parteien eben dieselben Schichten als konservative, mi t ihre n Interessen mi t allem Bestehenden auf s engste verknüpfte , betrachte t un d reklamier t werden . Die Andeutung dieser entgegengesetzten, allgemei n bekannten Konstruk tionen - einerseit s di e Beamtenschaf t al s „Lohnarbeiter" , andererseit s al s neuer „Mittelstand" - genügt , um zu zeigen, wie sehr schon die Betrachtung neu auftauchende r Schichte n ode r Klasse n durc h di e Interessenkämpfe de r bestehenden influenzier t wird . Diese m Bestrebe n gegenübe r is t es notwendig, auf die numerischen Verhältnisse und die Entwicklung der Angestelltenund Beamtenschaft hinzuweisen , welch e eine ganz gesonderte, selbständig e 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Beobachtung begründet und notwendig macht. In je größerem Umfange das öffentliche Lebe n die Regelung de r Wirtschaft zu m Gegenstand e hat , wir d die Massenhaftigkeit eine s Interesses, schon durch seine natürliche Schwere, zu eine m bestimmende n Faktor . Angesichts der Tatsache, daß dieses Interesse mit dem so heterogener Klassen — wie es Arbeiter und Mittelstand sind - ohn e weiteres identifiziert wer den konnte, is t es notwendig, au f Momente hinzuweisen, welch e eine ganz differente und eigentümliche Interessensolidarität der Angestellten- und Beamtenschaft konstituieren . Die erwähnten Versuche einer Aggregierung a n das Proletariat respektiv e die Kleinbourgeoisi e habe n j a seh r real e Untergründe : au f de r eine n Seit e (benachbart de r Arbeiterschaft ) di e überwiegen d groß e Zah l de r i n ihre m Einkommen proletarische n Angestellte n un d Beamten , welch e da s Wor t vom „Stehkragen-Proletariat" entstehe n ließ, und auf der anderen Seite wiederum die Zusammenhänge mit der Bourgeoisie, das (namentlich im Handel) Vorkommen eine s Aufsteigen s i n dieselb e un d Gemeinsamkeite n de r Le benshaltung. All e diese in ihrem Effekt entgegengesetzte n Momente wirke n gewiß mit, aber es fragt sich , o b sie entscheiden; ob sie nicht bloß den Standard o f life , sonder n de n ganze n Umkrei s de r Interesse n un d di e Stellun g zum öffentlichen Leben genau so bestimmen, daß es dem des Proletariats, respektive des Mittelstandes analog wird. Auc h beim Proletariat ist es ja nicht der Standard of life allein und nicht einmal die Unsicherheit der wirtschaftli chen Position, die seine ganze Klassenlage determinieren: Seine Stellung zum Staat und die Art, wi e es seine Interessen wahrnimmt, ruh t gewiß auf dieser Grundlage, wir d abe r wesentlich bestimm t un d gefärbt durc h sein e technische Position, durc h die Art, wie es im Betriebe steht, wie es sich in demselben aufbaut un d wirken kann. Di e drückende materielle Not und die Unsicherheit de r Existen z schaffen nu r di e Voraussetzungen fü r ei n Proletariat , aber nicht dieses selbst in seiner heutigen Form. Die psychischen Qualitäten , die es charakterisieren (zu m Unterschied ζ. Β . vom „Lumpen-Proletariat" , das ja noch unter kräftigeren ökonomische n Voraussetzungen für die Proletarisierung lebt), stammen ebensosehr aus diesen elementaren ökonomischen Voraussetzungen als aus seinen speziellen Färbungen: aus der Akkumulation in den Fabriken, aus der Monotonie und Enge seiner Tätigkeit, aus der relativen Bedeutungslosigkeit seine r individuelle n Existen z un d de r (demgegen über), wenigsten s i n seine m Bewußtsein , gigantische n Höh e seine r gesell schaftlichen Leistung - alle s Momente, welche die Psyche und die Ideologien bestimmen und sogar mit fortschreitenden gewerkschaftliche n Erfolge n und relativer Sicherung der Existenz immer mehr an Bedeutung gewinnen und im sozialen Sein der Angestellten gewiß nicht in dieser Weise, in dieser Intensität und in der speziellen Färbung wie bei der industriellen Arbeiterschaft gege ben sind . Und ebensowenig sind die Analogien (hie r sind es wirklich nicht mehr als Analogien, w o e s doc h vo n de r Seit e de s Proletariat s au s gesehe n gewiss e 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Gemeinsamkeiten sind) zwischen Mittelstand und Beamtenschaft derart, daß diese Momente beim Mittelstand selbst ausreichen würden, um ihn in seiner heutigen Form und Verfassung zu konstituieren. Die rapide Vermehrung der Angestelltenschaft schließ t imme r meh r eine n reale n Zusammenhan g mi t dem Mittelstand durc h Aufsteige n respektiv e Übergehe n i n denselben aus . Und wenn auch die Bestrebungen beider Klassen, des Mittelstandes wie der Angestellten (nich t nur der öffentlichen Beamten , sonder n auch der Privat angestellten) derzeit auf Sicherung einer „mittelständischen" Lebenshaltun g und deren dauernde Garantierung durch öffentliche Gewalte n hinauslaufen , so sind das nur Gemeinsamkeiten des Zieles, aber keineswegs ein e Identitä t des Interesses. Im Gegenteil, die Interessen sind durchaus diamentral: Es ist der Interessengegensat z Produzen t - Konsument , de r vielleich t zeitweis e durch analog e politische Interesse n gegenübe r andere n Klassen überbrück t werden kann, aber prinzipiell so groß ist, daß der Antagonismus immer wieder ganz deutlich hervorbricht5. Die Klasse, welche eine „gesicherte Lebenshaltung" al s Produzent vo m Staate postuliert, ende t konsequenterweise i m „Recht auf di e Kundschaft" - un d ein e Klasse, welch e ein e „gesichert e Le benshaltung" als Konsument postuliert, gelangt zur Forderung der Garantie eines Existenzminimums durc h de n Staat. Da s „Rech t au f die Kundschaft " aber ist ökonomisch mit der „gesicherten Lebenshaltung der Beamtenschaft" nur vereinbar auf Grund eines Fonds, aus dem beide Klassen befriedigt wer den können. Solang e dieser nicht existiert , sin d tiefgehende Gegensätzlich keiten unvermeidlich 6. Abgesehen davon, daß die erwähnten Gemeinsamkeiten, respektiv e Ana logien, mi t de n beide n abgeschlossene n Klassen , mi t de m Proletaria t un d dem Mittelstand, die Situation der Angestellten keineswegs erschöpfen, is t es wichtig, scho n jetz t z u betonen , da ß bereit s di e i n de n statistische n Date n aufscheinende Gliederung de r Angestelltenschaft erkenne n läßt, da ß die erwähnten Momente , welch e zu r Aggregierun g a n di e bestehende n Klasse n führten, nicht der Gesamtheit zukommen, sondern nur gewissen Gruppen in der Angestelltenschaft . S o sin d e s insbesonder e groß e Gruppe n de r kauf männischen Angestellten, namentlich das Ladenpersonal, hingegen nicht das Kontorpersonal, da s ein e seh r stark e Annäherun g a n da s Proletaria t zeig t (auch in seinem Bewußtsein), während hinwiederum technisch e Angestellt e (und öffentliche Beamte ) vielfach daz u tendieren , sic h al s „Mittelstand " z u fühlen. Keinesfall s abe r is t e s so , da ß di e ein e ode r ander e diese r große n Gruppen oder innerhalb der Gruppen eine numerisch oder sozial ausschlag gebende Schicht für die Gesamtheit entscheidet - s o etwa wie die großindu strielle Arbeiterschaft weit über den Bereich der Großindustrie hinaus bis tief in da s Handwer k un d i n di e Heimarbei t all e Lebensbeziehunge n verrenk t und auf seine hervorstechendsten Qualitäte n hin orientiert hat oder wie umfangreiche kleingewerblich e un d Kleinhandelsgruppe n einfac h de n Mittel stand repräsentieren und ihnen gegenüber die anderen Teile des Mittelstandes nicht nur der Zahl, sondern auch ihrer Aktivität nach spurlos verschwinden. 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Während i n de r Arbeiterschaf t trot z reiche r Gruppenbildun g un d Gliede rung da s Lebensschicksa l de r Arbeite r unte r ihne n ein e weitreichende Ge meinsamkeit schafft , fehl t die s i n diese m Maß e be i de n Angestellten . Di e Gemeinsamkeit is t hie r zunächs t ein e mehr negative ; derart, da ß ga r kein e Gemeinsamkeit mit Gruppen der übrigen Klassen besteht. Aber die speziellen „Angestelltenqualitäten", di e in allen Kategorien vorhanden sind, haben es bisher doch noch nicht zu einer deutlichen Interessensolidarität, z u einer deutlichen Einhei t alle r Angestellte n komme n lassen . Wenn nu n i m folgende n versuch t werde n soll , di e ökonomische n un d technischen Momente hervorzuheben, welche die psychische Verfassung der Angestellten und ζ. Τ . auch der Beamtenschaft charakterisieren , welche we­ nigstens ausschlaggebend e Gruppe n derselbe n sowei t bestimmen , da ß au s ihnen die Aktionen verständlich gemach t werden können, s o muß das doch mit all der Reserve und den Vorbehalten geschehen, welche einer neu entstehenden Interessentengrupp e diese s Umfange s un d diese r Differenzierun g gegenüber geboten erscheinen. Di e Situation für die Beurteilung und zurei chende Charakterisierung de r Angestelltenschaft is t weitaus schwieriger al s ζ. Β . gegenüber de r Arbeiterschaf t un d de m Mittelstand. I n diesen beide n Klassen sind es sehr scharf ausgeprägte, der Zahl oder wenigstens ihrer Aktivität nach ausschlaggebende führende Gruppen, welche für die übrige Masse bestimmend werden , se i es weil (wi e bei der Arbeiterschaft) de r noch nicht großindustriell orientierte Teil doch auf dem Wege dahin ist und neuere Entwicklungen auc h di e Arbeiterschaft de r Kleingewerbetreibende n mi t denen der Großindustri e i n Interessengemeinschaf t bringe n (sozial e Gesetzge bung!), se i e s wei l (wi e bei m Mittelstand ) gan z analog e Postulat e fü r all e Gruppen mit ihrer Klassenlage gegeben sind, di e nur bei den verschiedene n Gruppen nich t mi t derselbe n Dringlichkei t auftreten . Trotzdem se i versucht , wenigsten s einig e Gesichtspunkt e aufzuzeigen , welche so erhebliche Gruppen der Angestelltenschaft, namentlic h der Techniker, ζ. Τ . auch ihre Gesamtheit betreffen, da ß sie zum Ausgangspunkt ei ner Betrachtung dieser Gruppen als Klasse, d. h . als Interessengemeinschaft , welche sic h von de n übrigen schar f abhebt , genomme n werde n können . Wenn wir die großen Gruppen der industriellen Angestelltenschaft beob achten, so können wir feststellen, un d das ist vielleicht charakteristisch, da ß dieselben in recht eigentümlicher Weise „zwischen den Klassen" stehen. Dies ist technisch schon dadurch gegeben, daß die kompakten großen Massen der industriellen Angestelltenschaft (sowoh l mit technischer als auch kaufmännischer Tätigkeit ) i m Betrieb e al s unselbständi g Berufstätig e wirken , ihre r technischen Leistun g nac h jedoch dirigiere n ode r wenigsten s organisieren , zusammenfassen. E s sind spezielle Elemente unselbständiger und selbständiger Berufstätigkeit vermengt und damit zugleich Elemente heterogener Klassenlage gegeben. Es wurde - von mittelständlerischer und konservativer Seite - bekanntlic h wiederholt darau f hingewiesen, da ß eben diese Eigentümlichkeiten der Tätigkeit: zu dirigieren, welch e gepaart sei mit einer gewissen Be55 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ständigkeit un d Dauer , eine n „neue n Mittelstand " konstituieren . Abe r ebenso wie schon oben abgelehnt wurde, au s der Gemeinsamkeit de s Zieles eine Identitä t de r Interesse n z u folgern , is t jetz t darau f hinzuweisen , da ß auch diese Eigentümlichkeiten der Tätigkeit eben entscheidend mitbestimm t und beeinflußt werde n durch die Position der Angestellten als unselbständig Berufstätige. Umgekehr t wir d ma n hervorhebe n müssen , da ß di e Unselb ständigkeit de r Tätigkeit, di e Bindung i m Betriebe, di e Ausschaltung eine r über den anvertrauten Pflichtenkreis hinausgehenden Initiative, die Unmöglichkeit eine r individuelle n freie n Tätigkei t un d eine s originale n Streben s doch wiederum gefärb t und beeinflußt wir d i n der Mechanisierung und Rationalisierung de r ganze n Berufstätigkei t durc h di e Tatsach e de r Uberord nung über die letzte Kategorie der unselbständig Berufstätigen - se i es direkt als Vorgesetzter, se i es indirekt durch die technisch oder organisatorisch höhere Stufe de r Leistung . E s fragt sich , welche s diese r beide n Element e da s stärkere, nämlic h i n de m Sinne , da ß e s die ganze Lebenslag e beeinflußt . Trotz des immer notwendigen Vorbehaltes hinsichtlich der „individuelle n Eigentümlichkeiten des Falles" wird man doch sagen können, daß diejenigen Elemente der Tätigkeit von größerer Bedeutung sind (da wir ja von der ökonomischen Seite des gesamten Komplexe s de r Angestelltenfrage ausgehen) , die für die ökonomische Position und infolgedessen die Gestaltung der Interessen in erster Linie in Betracht kommen. Und da kann man wohl sagen, daß sich die Tatsache der unselbständigen Berufstätigkeit vie l schärfer zu m Ausdrucke bringt als die der Art der Tätigkeit i m Betriebe. Rein individualöko nomisch is t der Angestellte (un d nicht nur prinzipiell, sonder n in der überwiegenden Mehrhei t auc h faktisch ) Arbeitnehmer , un d wi e seh r auc h di e speziellen Verhältnisse der Industrie und selbst des Betriebes diese Parallelität mit dem Arbeiter i n den Hintergrund dränge n mögen , si e bleibt wenig stens latent immer vorhanden, ist aber in den meisten Fällen durch die Überfüllung des Arbeitsmarktes auch eine ganz real wirkende Kraft. Die Stärkung des gewerkschaftlichen Gedanken s in der Angestelltenschaft, di e wir in den letzten Jahren zu verzeichnen haben, das rasche Wachstum gerade derjenigen Organisationen, welch e die Prinzipale ausschließen un d reine Angestellten interessen, Interessen der Angestellten als unselbständig Berufstätige, vertreten, zeig t deutlich , wi e seh r i m Bewußtsei n de r Angestellte n selbs t imme r mehr die Antithese selbständi g - unselbständi g wirk t un d immer meh r zu rückgedrängt wir d di e Antithes e höher e - nieder e Arbeit . Und was vielleicht noc h mehr besagen will: Auch die Elemente der Position der großen Mehrzahl der Angestellten, welch e zu einer Parallelsetzun g mit der Klassenlage des Mittelstandes Anlaß geben könnten (also die Arbeitsleitung, höher e Qualifikatio n de r Arbeitsleistung , Antei l a n de r Betriebs organisation ode r wenigsten s di e Beteiligun g a n eine r vorgeschrittenere n Produktionsstufe usw.) wirken doch ökonomisch nur durch das Medium des Arbeitsmarktes (abgesehe n natürlic h vo n de n psychischen Wirkungen , au f welche wir gleich kommen), werden ökonomisch von den Angestellten nu r 56 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

im Preise der Arbeitskraft auszuwerte n versucht , ebens o wie die Unternehmer diese rein ökonomisch durc h Beeinflussun g de s Angebotes a n Arbeitskräften und durch Hemmung der Organisationsbestrebungen möglichst auszuschalten trachten. Was also an „mittelständischen" Elementen , wie durchaus nicht verkann t werde n soll , wirklic h vorhande n ist , komm t doc h ökonomisch für die Beteiligten, für die Angestellten selbst nicht in andersartigen, speziellen Aktionen zum Ausdruck. Die soziale Politik der Angestellten (als aktive Klassenpolitik) is t im großen ganze n das Spiegelbild de r Arbeitersozialpolitik, nu r daß jede der einzelnen Forderungen eine n speziellen mittel ständischen Einschla g erhält . Diese r „mittelständische " Einschla g is t durc h eine Analyse de r Angestelltensozialpoliti k nachweisbar . Si e würde dartun , daß die Grundtenden z de r aktive n Sozialpolitik , sowei t si e von den Angestellten betriebe n wird , durchau s eigentümlic h gefärb t ist . Diese Grundtenden z kan n ma n a m besten al s „konservativ " bezeichne n oder als konservierend: Die Maßnahmen der Angestelltensozialpolitik haben alle den Zweck, ökonomisc h ein e „mittelständische" , „gesicherte " Lebens haltung z u garantiere n - stelle n ein Endziel auf . Gan z im Gegenteil di e der Arbeiterschaft: welch e einen Anfang bedeuten und auch insofern, al s sie materiell nicht so weit gehen, nur einen Stützpunkt schaffen wollen. Die Sozialpolitik der Angestellten erstrebt Sicherung: Sie ist eine Reaktionserscheinung auf die zerstörenden Wirkungen des Industriesystems hinsichtlich der Angestelltenschaft. Di e Sozialpolitik soll eine „gehobene Lebenshaltung" der Angestelltenschaft garantieren ; di e Forderun g au f Mindestgehälter , di e Pen sionsversicherung, Schut z de r Erfindunge n un d wa s imme r ma n a n Angestelltenforderungen registriere n mag , träg t diese n Charakter . Zu m Unter schied vo n de n Forderunge n de r Arbeiterschaft , dere n Erfüllun g auc h i m Bewußtsein de r Fordernde n nu r ein e Etapp e darstell t - ein e Etapp e nich t bloß für die radikalsten und aktivsten Teile. Die soziale Politik der Angestellten strebt (auch im Bewußtsein der Angestellten selbst) einem Beharrungszustande zu, de r die Elemente der „mittelständischen " Lebensweise , de r gesicherten, mittelständischen Existenz auf Basis einer unselbständigen Berufstätigkeit realisieren soll. So finden sich in der Sozialpolitik der Angestellten die Elemente der Klassenlage wieder und um so reiner, je klarer sich diese Position wirtschaftlich und technisch für die spezielle Gruppe gestaltet - a m reinsten vielleicht be i den technischen Angestellte n - scho n vielmehr „radikali siert" un d proletarische n Verhältnisse n un d Ideologie n verwand t be i de n Handlungsgehilfen. Da s hat ζ. Τ . seinen Grund darin, da ß die Handlungsgehilfen in ihrer großen Mehrzahl proletarischen Verhältnissen materiell sehr nahe stehen6a, ferner daß bei den Handelsangestellten die Distanzierung von der Arbeiterschaft fehlt . Si e stehen dem Unternehmen direk t gegenübe r al s „letzte Hand" im Betriebe, verkörpern nicht selbst eine Organisation, noc h sind sie im Verhältnisse der Überordnung wie die industriellen Angestellten . Trotzdem abe r als o der Handel ei n „Angestelltenbetrieb " is t und daher fü r die Angestellten di e Position de r der Arbeiter technisc h a m ehesten analo g 57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ist, finde n sic h doc h dieselbe n Unterschied e zu r Sozialpoliti k de r Arbeite r und is t e s bezeichnend, da ß die überwiegende Mehrzah l de r Handelsange stellten fü r di e gewerkschaftlich e Bewegun g bishe r noc h nich t gewonne n werden konnte . Und um das Verhältnis mit einem Schlagwort zu charakterisieren: Das von Naumann geprägte Wort der Schaffung eine s Industrie-Konstitutionalismu s an Stelle eines Industrie-Feudalismus ha t nirgends s o lebendigen Widerhal l gefunden al s in der privaten Angestelltenschaft . Die s ist die Formel, z u der alle kräftigen , rasc h wachsenden , di e kompakte n Masse n de r industrielle n und kaufmännischen Angestelltenschaf t umfassende n Organisatione n drän gen: Sie zeigt das Streben nach eine m Gleichgewichtszustande, i n welchem die Angestellten au s der Sphäre der Unselbständigkeit herausgehobe n wer den und ihne n wenigsten s i n den Fragen de r eigene n Grupp e ei n Mitbera tungs-, vielleicht auch ein Mittbestimmungsrecht gewähr t werden soll. Dieser Industrie-„Konstitutionalismus" is t so recht eigentlich der präzise Ausdruck fü r di e Position de r Angestellten, di e unselbständig Berufstätig e sin d und ihre r Positio n al s solch e doc h all e die mittelständische n Element e zu r Geltung bringen möchten, di e ihre Stellung technisch enthält und der sie ihrer Herkunft un d ihrer ganze n Einstellun g i n den Produktionsprozeß nac h zustreben. Gan z deutlich spring t hie r der Unterschied zu r Stellung de r Ar beiterschaft i m Fabrikbetrie b i n di e Augen : I n de r extremste n For m de r Arbeiterinteressenvertretung handel t es sich um Beherrschung de s Produktionsprozesses, u m imme r weitergehend e Ausschaltun g de s Unternehmer s und Ersetzung desselben durch einen Funktionär, de r infolge der modernen Entwicklung de s Industriesystems sehr wohl auch ein Vertrauensmann ode r ein Angehörige r de r Arbeiterschich t sei n könnte . Weiterhin : Dies e Ände rung i n de r Stellun g de r Arbeiterschaft , wi e si e die Arbeiterorganisatione n anstreben ode r wi e si e wenigsten s i n de r Konsequen z ihre r Bestrebunge n liegt, ist für sie nur der Ausdruck der Umwälzung des gesamten öffentliche n Lebens, de r gesamte n ökonomische n Situation , di e mi t fortschreitende m Kapitalismus immer mehr auf der Arbeit der Proletarier beruht. Der Kapitalismus wir d z u eine r historische n Etappe . Di e Orientierun g de r Interesse n auf dieses Ziel influenziert di e Ideologien, wi e ja nicht weiter auseinandergesetzt zu werden braucht. Wie also das kapitalistische System als solches in der Vorstellung der Arbeiterschaft ei n Durchgangsstadium darstellt , s o auch die sozialpolitischen Forderunge n un d Wünsche nu r die Art un d Weise, diese s Durchgangsstadium de n eigentümliche n Bedürfnisse n de r Arbeiterschaf t möglichst anzupassen . Di e Angestelltenschaf t steh t ihre r ganze n Positio n nach nicht in diesem Verhältnis zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung - si e erstrebt nu r ein e Reform , nich t ein e Umstürzun g un d Änderun g vo m Grunde aus. Das Charakteristiku m de r Angestellte n wär e demnach : Vereinigun g de r Merkmale der unselbständig Berufstätigen , abe r beeinflußt durc h die (technisch bedingte ) Vorzugsposition gegenübe r de r Arbeiterschaft. I n weitere r 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Konsequenz desselben: Konservativismus, Sozialpolitik als Mittel zur Erhaltung un d Hebun g de s Standard o f life. Da s Ideal, welche m di e Privatangestellten zustreben, ist bereits in der Position der Staatsbeamten zum größten Teile verwirklicht. Nu r daß das wesentlichste Merkmal, di e dauernde Position, nicht unmittelbar postuliert wird. Läßt sich durch den Hinweis auf die Staatsbeamtenschaft di e Richtung gut kennzeichnen, in welcher sich fast alle Angestelltenpolitik bewegt, so ist sie doch als Politik unselbständig Berufstätiger, wie bereits erwähnt, genötigt , fast alle Mittel der Arbeitersozialpolitik auch für sich auszuwerten und auf den verschiedensten Wegen dem Ziel zuzustreben, das die geschichtliche Entwicklung schon seit langem allen Staatsbeamten gegebe n hat , un d zwar durc h einfach e Übertragun g de r Normen , welche ursprünglich für die Träger der höchstqualifizierten Leistunge n aufgestellt wurden, auf die Gesamtheit der Staatsbeamten7. Als Argument wird hierbei von seiten der Angestellten stet s in erster Linie das ihrer Position in der Produktion gebrauch t - analo g wie seitens der Arbeiterschaft. Dies e parallele Argumentation wird immer allgemeiner durch die technische Umwälzung im Industriesystem, wie sie bereits mehrfach erwähnt wurde und wie sie für die deutsche Industrie besonders charakteristisch ist. Das Eindringen der amerikanischen Methode n de r Fabrikorganisatio n rück t di e Angestellten , welche längst nich t mehr, auc h ihrem Bewußtsein nach nicht, künftig e Un ternehmer sind , i n eine Position , i n de r si e technisch viel meh r al s ökonomisch bedeuten: Sowie aus der Diskrepanz zwischen dem persönlichen und privaten Lebe n de r Arbeiterschaf t un d ihre r Leistun g i m Betrieb e (wenig stens wie sie ihnen - u m ganz objektiv zu bleiben - subjekti v erscheint), wie aus der Fülle von wirtschaftlicher Mach t und Luxus und Bedürfnisbefriedi gung, die unter der Mitwirkung de r Arbeiterschaft entsteh t und demgegen über dem bedrückenden Mange l de r Proletarierfamilien, all e die Kräfte immer wieder neu quellen, welche die Weltanschauung des Sozialismus stützen, die rastlose praktische Betätigung de r Arbeiterschaft i n den Organisatione n ermöglichen un d die Fülle von Aktivität, di e in den Berufsverbänden liegt , schaffen, s o liegen auch in der Diskrepanz zwischen der rein technischen Bedeutung [und ] de r ökonomischen Positio n de r Angestelltenschaf t (wi e sie , um wiederum ganz objektiv zu sein, gewiß in ihrem Bewußtsein immer größeren Spielrau m einnimmt ) Spannungen , di e bishe r noc h nich t bekannt e Kräfte auszulöse n vermögen . Un d wen n auc h au f de r eine n Seit e (im Verhältnis zur Arbeiterschaft gesehen) der ungeheure revolutionäre Antrieb, der in der imposanten und immer mehr anschwellenden Masse der Arbeiterschaft liegende Impuls, der politisch wirkt, fehlt, so ist doch andererseits wiederum die technische Überlegenheit gegeben, die Tatsache, daß in der Angestelltenschaft al s Gesamtheit scho n der Betrieb auch technisch verkörpert ist - vo n ihm nicht bloß abhängt, sondern ihn schon konstituiert. Trotz dieser weitgehenden Parallelität zur Politik der Arbeiterschaft wird man die der Angestellten sehr wohl vo n ihr unterscheiden können . Si e wird doc h wesentlich da durch bestimmt, daß die Angestellten vom Mittelstand herkommen, und da59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nach streben, ein e mittelständische Existen z zu erhalte n resp . zu erreichen . So wie eine derartige Existenzform etwa s Zwiespältiges in sich birgt, so auch die ganze Politik, die mit Mitteln, welche zu ganz anderen, weiterreichende n Zielen streben , i n dere n letzte r Konsequen z ein e Umformun g de r Wirt schaftsordnung liegt , ei n Resulta t erreiche n will , da s diese n Mittel n doc h nicht adäqua t ist . Un d s o kann e s auch kommen , da ß die Angestellten vo n den radikalsten wie konservativsten Parteie n reklamier t werden, da ß sich in der Angestelltenschaft gan z heterogene Ideologien vorfinden. Di e radikalen Ideologien sin d eben die Konsequenz aus der offenkundigen Parallelitä t mi t der Arbeitersozialpolitik ; di e konservative n sin d di e Konsequen z au s de m mittelständischen Einschlag , de n all e Postulate zeigen . Ers t ein e eingehen dere Analyse der Umstände, unte r denen die Angestellten leben , kann viel leicht die Bedeutung der erwähnten zwiespältigen Tendenzen klären. Dahe r ist dies e Analys e Aufgab e de r nächste n Kapitel .

Die Herkunft de r Angestellte n Die Materialie n zu r Erkenntni s de r Herkunf t de r Privatangestellte n sin d recht spärliche; wir müssen uns damit begnügen, auf einige private Erhebungen hinzuweisen, die für die größeren Gruppen, also Handlungsgehilfen un d Techniker, einig e Daten liefern. Vo n größte m Interess e ist in dieser Bezie hung di e Erhebun g de s Deutschnationale n Handlungsgehilfenverbandes 8, die zwa r nu r unte r de n Mitglieder n de s DH V vorgenomme n wurde , abe r doch ein relativ zuverlässiges Bild bietet, da ja die Ortsgruppen dieses großen Interessenverbandes übe r ganz Deutschland verbreite t sin d und sich alle an der Erhebun g beteilig t haben . Auc h is t das Material, da s der Erhebung zu grunde liegt, immerhi n schon so groß, daß es Schlüsse auf die Allgemeinheit gestattet9. Die Erhebung gib t folgendes Bil d von der Herkunft de r Handlungsgehilfen: Beruf de s Vaters (de r Mutter) : Selbständiger Kaufman n Selbständiger Gewerbetreibende r Selbständiger Landman n Freie Beruf e Öffentliche Beamt e Privatangestellte Gehilfen, Arbeite r Ohne genau e Angab e Summe:

Anzahl

Von j e 10 0 der Beschäftigten

3 324 9836 2 659 809 5386 3 986 6210 531

10,16 30,04 8,12 2,66 16,45 11,99 18,96 1,62

32 741

100,00

60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Danach stehe n als o a n erste r Stell e selbständig e Gewerbetreibende ; vo n Selbständigen überhaupt stammen 48,32 % der Handlungsgehilfen ab; wenn man freie Berufe , öffentlich e Beamt e und Privatbeamte noc h hinzurechnet , so stammen 79,4 2 % , als o 4/5 aller Handelsangestellte n vo n Berufskreise n ab, dere n Angehörige n al s „bürgerlich " bezeichne t werde n können . Ma n kann als o annehmen, da ß nicht nur die von Haus aus gewohnte Lebenshal tung, sondern die ganzen Ideologien, welch e 4/5 der Handelsangestellten er füllen (sofer n di e Erhebun g de s DH V wirklic h di e typische n Verhältniss e widerspiegelt), typisch mittel- und kleinbürgerliche sind, daß der größte Teil der Handlungsgehilfen ein e Proletarisierung, als o eine rechtliche und soziale Gleichstellung mi t dem Proletariat al s Deklassierung empfinde n würd e und an mittelbürgerliche n Gewohnheite n un d Auffassunge n auc h noc h festzu halten sucht, wenn auch die äußeren Gegebenheiten, insbesonder e die materiellen und Gehaltsverhältnisse ihn entschieden in die Klasse der Lohnarbeiter verweisen würden . Da ß die Handelsangestellten j e nach ihrer Herkunf t schon auc h de r Mechani k de s Arbeitsmarkte s eine n verschiedene n Wider stand entgegensetzen, da ß also die Herkunft nich t bloß als ideelles Moment, sondern zugleich al s materielles mitspielt , darau f weis t die folgende Tabell e hin10. Es hatten ei n Stellungseinkommen : von j e 10 0 Befragte n folgender soziale r Herkunf t freie Beruf e selbständig. Kaufman n öffentl. Beamte r selbständ. Gewerbetreibend e Privatangestellte selbständ. Landman n Gehilfen, Arbeite r ode r ähnl .

bis 2400 M .

mehr al s 2400 M .

82,39 84,30 85,77 87,23 88,29 89,39 91,05

17,61 15,70 14,23 12,77 11,71 10,61 8,95

Der Einfluß de r Herkunft al s solcher könnte ers t dann exak t erfaß t wer den, wenn zugleich auc h die verschiedene Vorbildung und das verschiedene Alter berücksichtigt würden. Es liegt allerdings kein Anlaß vor anzunehmen, daß die der Herkunft nac h von selbständigen Kaufleute n un d Gewerbetrei benden stammenden Handlungsgehilfen älter sind als die von Arbeitern usw. stammenden. Hingegen kann sicherlich eine Differenz in der Ausbildung angenommen werden. Aber auch das würde die Wirkung der Herkunft al s bestimmenden Faktor nicht ausschließen, da ja dann gerade die Ausbildung von dieser vorwiegend beeinfluß t erscheint . E s läßt sic h als o konstatieren, da ß immerhin i n erhebliche m [Maße] 10a di e Herkunf t de r Handlungsgehilfe n von mittelständisch orientierten Berufsschichten oder direkt aus dem Mittelstand insofern wirkt , al s diese wahrscheinlich die Erreichung eine s höheren 61 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Bildungsniveaus ermöglicht, abe r auch an und für sich durch einen gewissen Standard of life die nivellierenden Tendenzen des Arbeitsmarktes retardiert . Wie weit die s aber wirklich reicht , da s zu beurteilen gestatte t di e erwähnt e Erhebung leider nicht. Einen Einblick in die Herkunftsverhältnisse de r Kontoristinnen eine r Großstad t gestatte t da s Buc h vo n Id a Kisker 11. Si e ver mochte diese für 4/5 der Kontoristinnen Leipzig s an der Hand des Urmaterials zu r Betriebszählung i n folgender Tabell e festzustellen . Beruf de s Vaters

abs.

%

Höhere Beamte, selbst . Fabrikante n usw . Mittlere Beamt e u. kaufm . Angestellt e Selbständige Gewerbetreibend e Unterbeamte Werkmeister un d gelernt e Arbeite r Diverse

122 296 344 136 400 214

8 20 23 9 26 14

1512

100

In höherem Maß e als die männlichen Handlungsgehilfen stamm t als o die Kategorie weiblicher Angestellter von Arbeitern, und zwar gelernten Arbeitern ab. Die Ziffern könne n allerdings nich t als typisch bezeichne t werden ; erstens wegen der hochqualifizierten Arbeiterschaf t Leipzigs , deren Töchter wohl in überdurchschnittlichem Maße Handlungsgehilfinnen werden , zwei tens deshalb, weil die Herkunft vo n 1/5 der Kontoristinnen, di e nicht bei ihren Elter n wohnen, nich t erforsch t werde n konnte . Dies e gehören, wi e die Verfasserin behauptet, weit höheren Ständen an. Jedenfalls ist in dieser Kategorie weiblicher Angestellte r de r Zusammenhang mi t de m Mittelstande ei n sehr enger . Di e Beziehungen zwische n de r Herkunft un d den übrigen Ver hältnissen der weiblichen Angestellten können dem in dem genannten Buche gebotenen Materia l nich t entnomme n werden . Über di e Herkunf t de r technische n Angestellte n orientiere n blo ß einig e Angaben in Jäckels Statistik über die Lage der technischen Privatbeamten in Groß-Berlin12. Diese Erhebung erfaßt zu 3/4 Beamte ohne und zu 1/4 Beamte mit Hochschulbildung , un d zwa r zu m große n Teil e (6 5 % ) Angestellte i n großen und größten Betrieben (2121 in 24 Betrieben) in relativ jüngeren Jahren (6 4 % der Angestellte n sin d wenige r al s 30, 94 % weniger al s 40 Jahr e alt). Das weist darauf hin, daß die Herkunftsverhältnisse diese r Angestellten charakteristisch sind für die gegenwärtig in den Beruf eintretenden Angestellten. Daß die technischen, wi e die Handelsangestellten, j a noch mehr als diese, vorwiegen d au s dem Mittelstand , z u erhebliche m Teil e aus dem Hoch bürgertum stammen , zeig t folgend e Tabelle :

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%

Angestellte mit Hochschulbildung

120 360 78 432 89 299 362 171 249 94 149

5,00 14,98 3,25 17,98 3,70 12,44 15,06 7,12 10,36 3,91 6,20

146 110 32 86 54 228 62 68 11 45 20

2403

100,00

862

Angestellte ohne Hochschulbildung Höhere Staatsbeamte , Gelehrte, Schriftstelle r Subalterne u. Unterbeamt e Volkschullehrer Privatbeamte Großkaufleute Kaufleute Handwerker Landwirte Arbeiter Sonstige Beruf e Beruf unbekann t Summe:

%

Zusammen

%

16,94 12,76 3,71 9,98 6,26 26,45 7,19 7,89 1,28 5,22 2,32

266 470 110 518 143 527 424 239 260 139 109

8,15 14,39 3,37 15,86 4,38 16,14 12,99 7,32 7,96 4,26 5,18

100,00 3265 100,00

Jäckel selbst bezeichnet diese Tabelle aus mehreren Gründen als nicht ganz zuverlässig; s o sei die Rubrik Kaufleute al s Sammelposten zu bezeichnen für diverse Berufe, welche nicht separat, ζ. Τ . aus Schamgefühl, angegebe n werden; di e groß e Besetzun g de r Rubri k Privatbeamt e se i darau s z u erklären , daß viele ihren eigenen Beruf auc h als den des Vaters angegeben haben. Immerhin läßt sic h erkennen , da ß sich di e technischen Angestellten , auc h di e der Großbetriebe, be i dene n ma n am wenigsten eine n organische n Zusam menhang mit einer bestimmten sozialen Gruppe vermuten würde, zum allergrößten Teile aus dem Mittelstand, zu m geringen Teile aus höheren Schichten rekrutieren . Vo n Arbeiter n stammen , sowei t Angabe n vorliegen , nu r 8 % der technische n Angestellten ; 4 0 % stammen vo n selbständi g Berufs tätigen ab und ein überraschend großer Teil (40 %) von unselbständig Berufstätigen. E s ist also die Mehrzahl der Angestellten (wenigsten s in den großen und größte n Betrieben ) scho n in der zweite n Generatio n unselbständi g be rufstätig, ei n Prozentsatz, der übrigens in analoger Weise auch bei den Handlungsgehilfen konstatier t werde n konnte . Dies e Ermittlunge n sin d keines wegs als generell für alle technischen Angestellten gültig anzusehen. Zweifelsohne stamm t z.B . ei n erhebliche r Tei l de r Werkmeiste r vo n de r Arbeiter schaft ab, ebenso wie aus den Ziffern selbs t hervorgeht, da ß die technischen Angestellten mi t Hochschulbildun g i n vie l höhere m Maß e al s de r Durch schnitt de m Hochbürgertu m entstammen . Fü r di e Beziehunge n zwische n Herkunft un d Gehaltshöh e könne n nac h den Erhebunge n Jäckels keinerle i Daten gewonne n werden .

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Die Einkommensverhältniss e de r Angestellten Für die Einkommensverhältnisse de r Angestellten besitzen wir sehr zahlreiches, in der Verwertbarkeit allerding s sehr verschiedenartiges Material. Von Wichtigkeit zur Beurteilung der Klassenlage der Angestelltenschaft is t es, für die großen Kategorie n derselbe n feststelle n z u können , wi e sich di e durch schnittlichen Gehaltsverhältniss e gestalte t haben , welch e Einwirkun g di e Konjunktur au f die Gestaltung de r Gehaltsverhältnisse übte , wie die Bewegung der Besoldung im Verhältnis zu den Löhnen der Arbeiterschaft verlief , in welcher Weise die Gehaltsbewegung mit der Preisbewegung überhaupt parallel läuft . Di e Kenntni s al l diese r Moment e würd e eine n Einblic k i n di e wirtschaftliche Positio n de r Angestelltenschaf t gewähren , wär e abe r nu r möglich aufgrund fortlaufender eingehende r Beobachtung der Bewegung der Gehälter für die einzelnen Kategorien der Beamtenschaft unter Berücksichtigung der für Angestellte in Betracht kommenden Umstände (z. Β . Betriebs­ größe usw.). Solche Erhebungen, wie sie fortlaufend vo n den Gewerkschaften für die Arbeiter der wichtigeren Branchen bestehen, wie sie durch die Tätigkeit der Gewerkschaften al s solche an und für sich schon notwendig sind , fehlen leider in größerem Umfange für die Privatbeamtenschaft, un d es bleibt daher nichts übrig, als zunächst die für einzelne große Gruppen bestehenden Ermittlungen i n ihre n Resultate n zusammenzustelle n un d z u untersuchen , ob diese einen Einblick in den Prozeß der Gehaltsbildung z u gewähren ver mögen. Dabei wird man überdies immer beachten müssen, daß die Gehaltsbildung und Entwicklung heutzutage in erheblichem Umfange noch eine individuelle ist, von der Situation de s Betriebes, dem persönlichen Verhältnis de s Chef s zu seinen Angestellten, z . Τ . auch von deren persönlichen Verhältnissen und Fähigkeiten abhängt. Das erschwert naturgemäß die Feststellung allgemeinerer Tendenzen. Aber auch wo große, gleichmäßig vorgebildete und entlohnte Angestelltengruppen bestehen , is t di e Entwicklun g de r Besoldungsverhält nisse nu r schwe r festzustellen . Erst die Bestrebungen der Privatbeamtenschaft nac h Schaffung eine r staatlichen Pensions- und Hinterbliebenenversicherung (di e mit dem Jahre 190 1 einsetzten) haben daz u Anla ß gegeben , di e Besoldungsverhältnisse de r Privatbeamtenschaft amtlic h festzustellen , un d (besonder s fü r di e Techniker ) die Berufsverbände und deren Bestrebungen nach Aufhellung der wirtschaftlichen Lage der Beamtenschaft datiere n ers t so kurze Zeit zurück, da ß fort laufende Erhebunge n übe r eine n größere n Zeitrau m noc h nich t existiere n können. Der Mangel wird andererseits (wieder besonders für die technischen Angestellten) dadurch etwas ausgeglichen, da ß - wi e aus den oben mitgeteilten statistischen Date n hervorgeht - di e Angestellten al s große geschlossen e Gruppe erst sehr jungen Datums sind und daher auch Erhebungen der allerletzten Zei t noc h dies e Grupp e mitte n i n ihre r Ausbildun g un d Ausgestal tung erfasse n können . 64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Die erste größere Erhebung über die Einkommensverhältnisse de r Privatbeamten, veranstaltet im Jahre 1903 von Organisationen der Privatangestellten, wurde vom Reichsamt des Innern verarbeitet; die Ergebnisse wurden in einer Denkschrift dem Reichstag übermittelt 13. Von den Organisationen der Privatangestellten wurde n 20 0 000 Frageboge n versendet , vo n welche n 157 390 zurückgelangten; 15 4 84 3 konnten der Darstellung zugrunde gelegt werden. - Di e Erhebung und deren Verarbeitung erfolgte hauptsächlich mi t Hinblick auf die Pensions- und Hinterbliebenenversicherung der Privatangestellten. Daraus erklärt sich, daß sich verheiratete Privatangestellte in erheblichem Maße beteiligten, in höherem Prozentsatz als der Anteil der Verheirateten nac h de r Berufszählun g de s Jahres 189 5 gewesen wäre 14 . - Vo n de n männlichen Privatangestellten, welch e sich an der Erhebung beteiligten, gehörten 37 % dem technischen Personal an. Den Hauptanteil unter den technischen Angestellten bildeten die Werkmeister: sie umfassen 24 % aller Privatangestellten, welche sich an der Erhebung beteiligten15. Weit störender als die relativ zu starke Beteiligung de r Werkmeister ist für die Beurteilung de r Besoldungsverhältnisse technische r Angestellte r jedoc h de r Umstand , da ß die Denkschrift i n de n speziellen Tabellen übe r die Besoldungsverhältniss e die sämtlichen Angestellte n de r Gruppe II (Industrie, Bergbau , Hüttenwe sen) gemeinsam behandelt, als o keine Scheidung zwische n kaufmännische n und technischen Angestellten eintreten läßt. Nun sind aber von den mehr als 90 000 zu r Erhebun g herangezogene n Angestellte n diese r Grupp e II ca. 35 000 „kaufmännische s un d Verwaltungspersonal" , un d daraus , da ß di e Angestellten i n Grupp e III (Handel) ei n durchschnittlic h vie l geringere s Einkommen aufweisen al s die der Gruppe II, ist zu schließen, daß die Besoldungsverhältnisse de r „rei n technischen " Angestellten , sowei t si e vo n de r Erhebung erfaß t wurden , günstige r gewese n sein dürften, al s es die Durchschnittsziffern fü r di e Besoldung de r Angestellten i n Gruppe II erscheinen lassen. Vielleicht kompensier t sic h dieses, die Gehälter drückende Momen t mit de m bereit s hervorgehobene n Umstand , da ß infolg e stärkere r Beteili gung verheirateter Angestellter die Gehälter wahrscheinlich höher ausfallen , als sie realiter i m Durchschnitt waren . In der Gruppe II (Industrie, Bergbau, Baugewerbe) wurden folgende Besoldungsverhältnisse ermittel t (un d zwar für di e männlichen Angestellten siehe Tab. S . 6 6 oben). Es betrug demnach das Durchschnittsgehalt (unte r Zugrundelegung der in der Denkschrif t getroffene n Annahme , da ß da s Durchschnittseinkomme n der ersten Gehaltsstuf e 76 4 Mk. , da s der höchsten Gehaltsstuf e 380 0 Mk . betrage16) de r männlichen , i n de r Grupp e II beschäftigten Angestellte n 2156,77 Mk. , währen d das Durchschnittseinkommen alle r in der Erhebung erfaßten männlichen Angestellten 2064,51 Mk . betrug (gleich + 92,26 Mk. , d. s . 4,47 % ) . Da , wie bereits erwähnt wurde, das Durchschnittseinkommen der kaufmännischen Angestellte n erheblic h geringe r ist , ferne r auc h i n der Gruppe II in sehr hohem Maße kaufmännische Angestellte sich an der Erhe65

5 Lederer , Aufsätz e

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Der Gehaltstuf e gehörte n a n

absolut

relativ

unter 100 0 Mark : 1000-1250 Mark : 1250-1500 Mark : 1500-1800 Mark : 1800-2100 Mark : 2100-2400 Mark : 2400-2700 Mark : 2700-3000 Mark : 3000-3600 Mark : 3600 Mar k un d darübe r ohne Angab e

1516 7910 10460 15104 16419 11699 10524 4500 6857 8101 297

1,62 8,47 11,20 16,17 17,58 12,53 11,27 4,82 7,34 8,67 0,33

93387

100,00

bung beteiligten, so ist anzunehmen, daß sich das Durchschnittseinkommen der technischen Angestellten (als o der Werkmeister, un d der übrigen Kate gorien) noch etwas höher stellte als auf 2156,77 Mk . Nimmt man, um hierfür einen Maßstab zu gewinnen, an, daß das Durchschnittseinkommen der in der Industrie beschäftigte n kaufmännische n Angestellte n de m der Angestellte n in Gruppe III gleichkommt, dan n erhält ma n als Durchschnittseinkomme n der i n Grupp e II beschäftigten technische n Angestellte n di e Summ e vo n 2279,33 Mk . Analoge Ergebnisse für das Jahr 1907 liefert die von Jäckel verarbeitete Statistik über die Lage der technischen Privatbeamten in Groß-Berlin. Ihr e Gehälter läß t folgend e Tabell e erkennen 17:

Unter 90 0 Mar k 900-1200 Mar k 1200-1 500 Mar k 1500-1800 Mar k 1800-2100 Mar k 2100-2400 Mar k 2400-2700 Mar k 2700-3000 Mar k 3000-3300 Mar k 3300-3600 Mar k 3600-4200 Mar k 4200-4800 Mar k 4800 u . meh r Mar k unbekannt

Technische Privatbeamte

%

24 115 478 511 590 331 281 158 176 69 144 54 101 233

0,74 3,52 14,64 15,65 18,07 10,14 8,61 4,84 5,39 2,11 4,41 1,65 3,09 7,14

3265

100,00

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Am stärkste n sin d als o di e Einkommensstufe n vo n 1800/210 0 un d vo n 1500/1800 Mk . besetzt . Einen summarische n Überblic k gib t di e folgend e klein e Zusammenstel lung18. E s hatten 190 6 ein Einkommen : % Unter 120 0 Mar k 1200-1800 Mar k 1800-2400 Mar k 2400-3000 Mar k 3000-3600 Mar k 3600 u. darübe r

139 989 921 439 245 299

4,58 32,61 30,38 14,48 8,09 9,86

3032

100,00

Das Durchschnittseinkommen nach den zu diesem Zwecke verwendbaren Fragebogen betrug : 2228,2 9 Mk ; un d zwa r fü r Angestellt e ohn e Hoch schulbildung : 2091,23 Mk. , fü r Angestellt e mi t Hochschulbildung : 2630,22 Mk . Di e Einkomme n selbs t schwankte n zwische n 48 0 un d 10 800 Mk . bei Beamten ohne Hochschulbildung, zwische n 540 und 16 400 Mk. bei Beamten mit Hochschulbildung- ein Symptom für die ungleich größeren Niveaudifferenzen, welch e hier vorkommen und möglich sind (gegenüber de n Arbeitern ) . . . 19 Abschließend läß t sich daher über die Besoldungsverhältnisse de r technischen Angestellten nur so viel sagen, daß, trotzdem generelle, den größeren Teil de r Angestelltenschaf t umfassend e Erhebunge n nich t vorliegen , mi t großer Sicherheit vermutet werden kann, daß die Besoldung im Durchschnitt 2500 Mk . auc h i n den Großstädte n un d i n den großen Betriebe n nich t er reicht; daß die Situation de s Arbeitsmarktes gan z mechanisch wirk t und infolgedessen di e günstig e Positio n de r akademisc h vorgebildete n Angestell ten, zumal es einen Befähigungsnachweis fü r die Bekleidung irgen d welcher Stellungen nicht gibt 20, gan z beseitigt hat; daß aus diesen Umständen heraus die wirtschaftliche Lag e der technischen Angestellte n s o prekär ist , da ß si e vielfach ihre n Kinder n nich t mehr dieselbe Bildung angedeihe n lasse n kön nen, als sie selbst genossen haben21, alles Umstände, welche auf eine stärkere Betonung de r Arbeitnehmerqualität i n der Situation de r technischen Angestellten tendieren . Im Bewußtsein de r Angestellten selbs t hingegen - un d da s sei noch zum Schluß de r Erörterun g übe r di e Besoldungsverhältniss e technische r Ange stellter hervorgehoben - wir d die Frage der Besoldung noch durchwegs vom mittelständischen Standpunk t au s aufgefaßt. Di e Bestrebungen nac h Schaffung eine s Mindestgehalts gehe n zwa r von denjenigen Organisatione n aus , welche sic h direk t al s gewerkschaftliche bezeichne n un d auc h ihre r Politi k 67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nach den Gewerkschaften a m nächsten stehen. Das Mindestgehalt abe r fordern diese Organisationen nicht (wie die Gewerkschaften etw a die Mindestlöhne), um damit ein absolutes Existenzminimum z u garantieren. Sie fassen die technische n Angestellte n auc h nich t al s Arbeitnehmer schlechthi n auf , wie sie z. Β. von den Arbeitergewerkschaften aufgefaß t werden , sondern als spezielle Kategorie von Arbeitnehmern, welche durch eine besondere Qualität ihrer Tätigkeit scharf herausgehoben wird und der auch ein relatives Existenzminimum entspricht. Hingegen muß betont werden, daß diese gewerkschaftlich organisierte n Angestellten doch die Angestelltenschaft i n Hinsicht der Gehaltspolitik al s Einheit erfasse n möchte n (im Gegensatz zu den oben erwähnten Bestrebungen der akademisch vorgebildeten Techniker), und die Wiedereinführung „zünftlerischer , di e Erwerbstätigkei t hemmende r Ein richtungen" perhorreszieren 22. Di e Statuierung einer speziellen Tätigkeit als Voraussetzung für das Mindestgehalt und dessen Ableitung aus der „standesgemäßen Deckun g de r Bedürfnisse " bedeute t als o nu r ei n Postula t fü r di e Gesamtheit de r Angestellten, unterscheide t abe r diese doch scharf vo n den manuellen Arbeitern einerseits, der Mannigfaltigkeit de r Handlungsgehilfe n andererseits und fördert so die Herausbildung geschlossener , ihre r Tätigkeit nach charakterisierter Berufsgruppen. Ähnlich e Leitsätze charakterisieren ja auch die Mittelstandspolitik, und wenn bei dieser die von den erwähnten Angestelltenorganisationen perhorreszierte n „zünftlerische n Gesichtspunkte " prävalieren, s o ist das doch kein prinzipieller Unterschied . Si e ergeben sic h als einfache Konsequenz des Postulates einer großen Schicht selbständig Berufstätiger nac h einer „standesgemäße n Existenz" , di e durch di e ungeheur e Differenzierung de r Produktion bedrängt , ihr e „bürgerlich e Nahrung " nu r durch Schaffung zahlreicher, den einzelnen Berufstätigkeiten entsprechende r (technischer un d lokaler ) Monopol e sicher n können . Da s Endzie l - Siche rung der mittelständlerischen Lebenshaltun g - is t hier wie dort das gleiche. Nur kann es für die Gewerbetreibenden, d a einmal das Verbot des Großbetriebes undurchführbar , blo ß durc h Schaffun g besondere r Berechtigunge n (und zwa r fü r jede s Gewerbe gesondert ) un d allem, wa s damit zusammen hängt, realisiert werden- soweit es überhaupt realisierbar ist. Anders bei unselbständig Berufstätigen, die als relativ einheitliche Masse einer ebenso (relativ) einheitlichen Unternehmermasse gegenüberstehen oder gegenüberstehen können. Das Bestreben nach Schaffung von Mindestgehältern kann auch nicht ohne weiteres mit den Forderungen der Arbeiterschaft nach Mindestlöhnen - di e ja überdies in der Regel nach der Berufstätigkeit abgestuf t werden - vergliche n werden. Den n di e Mindestlöhn e de r gewerbliche n Arbeiterschaf t werde n stets für eine spezielle Industrie oder ein spezielles Gewerbe statuiert, schließen sich stets an die tatsächlichen Verhältnisse an und bezwecken nur eine Sicherung nac h unte n i n dem sich weite r fortsetzende n ständige n Kamp f u m Verbesserung de r Arbeitsbedingungen. Di e Mindestlöhne der gewerbliche n Arbeiterschaft sin d nicht als prinzipielles Ziel gedacht, habe n auch nicht ei68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nen besonderen Standard of life zur Basis, sondern sind nur eine für die Jahre der Geltun g de s Tarifvertrage s kodifiziert e Vereinbarun g de r streitende n Parteien. Und vielleicht ist die prinzipielle Differenz zwische n den Mindestlöhnen der Arbeiterschaft und dem Mindestgehalt der technischen Angestellten (analog auch bei den Handelsangestellten) am deutlichsten daraus ersichtlich, daß das Mindestgehalt als Ziffer, als Symbol einer Lebenshaltung bei der Arbeiterschaft ebe n gar nicht existiert, da ß es nicht eine prinzipielle Forderung ist, wie etwa der Achtstundentag oder Postulate hinsichtlich der Arbeiterversicherung etc . Die Lebenshaltung de r Arbeiterschaft is t eben von dem Endziel einer jeden - nich t bloß der radikalsten - Arbeiterpoliti k so weit entfernt, di e i n jede r Arbeiterpoliti k steckende n Tendenze n reiche n s o in di e Ferne, da ß irgendein e Festlegun g au f ein e allgemein e Lebenshaltung , auc h auf ein e Unterstufe , ein e unterst e Grenz e diese r Lebenshaltung , gan z un möglich ist : Al s Gegenwartsforderun g schien e sie selbst de r Arbeiterschaf t zu absurd, um überhaupt verwirklicht werden zu können, und hinwiederum die Formulierung eine r solchen Lebenshaltung , di e erreichbar wäre , müßt e mit den Endzielen in solchem Widerspruch stehen , daß schon aus agitatorischen Gründe n ein e solche Forderung überhaup t nich t auftauche n könnte . So könnte also die Forderung eines Mindestgehaltes für die Arbeiterschaft al s Ganzes gar nichts bedeuten. Anders bei den Angestellten: Die relative Kleinheit der Gruppe, .der noch lebendige Zusammenhang mi t dem Mittelstand , infolgedessen di e starke n Tendenze n i n de r Angestelltenschaft , dies e Zu sammenhänge aufrecht zu erhalten, erklären es gerade, die Statuierung eine r deutlichen Abgrenzun g gegenübe r de r Gesamthei t de r Arbeitnehme r i m Standard of life zu einer prinzipiellen Forderung zu erheben. Dem entspricht auch der Inhalt de s Postulates. Da s Mindestgehalt soll gewährt werden nu r bei eine r spezielle n Leistung : nämlic h a n Angestellte , „welch e praktisch technische Arbei t selbständi g gestalten d leisten" 23. Un d di e Höh e de s al s Mindestgehalt festgesetzte n Betrage s geht, einheitlic h fü r all e Berufsschich ten und einheitlich für ganz Deutschland, von einem spezifischen Standar d of life aus 24 , vo n de n elementare n Bedürfnissen , dere n Bedeckun g ebe n di e Mindestgehaltssumme ermöglicht 25. Die bereits be i der Diskussion de r Besoldungen technische r Angestellte r erörterte Denkschrift de s Reichsamts des Innern aus dem Jahre 1907 enthält auch beachtenswerte Date n über die Besoldung de r kaufmännischen Ange stellten. In der Gruppe III, welche den Handel umfaßt, wurde n die Verhältnisse von 35 380 Angestellten erhobe n (davon 32 78 3 männliche Angestell te). Die männlichen Angestellten verteilen sich folgendermaßen au f die einzelnen Gehaltsstufen :

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unter 100 0 Mark 1000-1250 Mar k 1250-1500 Mar k 1500-1800 Mar k 1800-2100 Mar k 2100-2400 Mar k 2400-2700 Mar k 2700-3000 Mar k 3000-3600 Mar k 3600 und darübe r ohne Angab e

absolut

relativ

1519 5274 4 736 5339 4618 3 005 2 590 970 1 983 2377 372

4,63 16,09 14,45 16,29 14,09 9,17 7,90 2,96 6,05 7,25 1,12 100,00

32 783

Das Durchschnittsgehal t de r i m Hande l beschäftigte n Privatangestellte n beträgt nach dieser Erhebung: 1947,7 0 Mark. A m stärksten ist die Stufe von 1500-1800 Mar k besetz t (be i de n technische n Angestellte n vo n 1800-210 0 Mk. 2 6 ). Da - wi e bereits hervorgehoben wurde- mit den technischen Angestellten zugleich die in industriellen Betrieben beschäftigten kaufmännische n Angestellten vereinigt sind, s o ist wohl die Differenz zwische n dem Durchschnittsgehalt technischer und kommerzieller Angestellter noch erheblicher, als si e in dieser Erhebun g erscheint . Zwei Moment e seie n scho n a n diese r Stell e hervorgehoben : 1 . da ß da s Durchschnittsgehalt kaufmännische r Angestellte r nac h diese r Erhebun g ei gentlich höher erscheint als es tatsächlich ist; das erklärt sich daraus, daß diese Erhebung ausschließlich Kontorangestellte erfaßt hat 27, hingegen die Ladenangestellten nicht mit einbezog. Deren Gehalte sind nun vergleichsweise viel niedriger und würden den Durchschnitt senken. Hingegen wirkt 2. ein anderer Umstand in der entgegengesetzten Richtung (im Verhältnis zu der Besoldung der Techniker betrachtet) : Die Tätigkeit der Handlungsgehilfen bilde t für viele derzeit individuell noch ein Durchgangsstadium, so sehr auch im allgemeinen de r Zuwach s de r Selbständigen i m Hande l keinesweg s imstand e ist, einen bedeutenden Teil der Angestellten zu absorbieren. Aber immerhin wird dadurch der Kräfteaustausch ei n viel intensiverer, al s es bei den technischen Angestellten der Fall ist, die jüngeren Jahrgänge sind bei den kaufmännischen Angestellten noc h stärker besetzt als bei den technischen (trotzde m diese sich ja viel rascher vermehren), und das erklärt wiederum eine relativ geringere Höh e de r durchschnittliche n Gehaltssätze 28. Zu ähnlichen Ergebnissen wie die Erhebung der Denkschrift gelange n di e bereits erwähnte n „Wirtschaftsrechnunge n minderbemittelte r Familie n i m Deutschen Reich". Nach diesen betrug nämlich das durchschnittliche Gehalt der Handlungsgehilfe n (e s handel t sic h hie r durchweg s u m verheiratet e Handlungsgehilfen) 187 7 Mark29 , bleib t also noch etwas hinter dem Durchschnitt de r Erhebun g de s Jahres 190 3 zurück 30. 70 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Das umfangreichste Material, da s schon wegen seiner Größe und deshalb, weil die Erhebung Handlungsgehilfen alle r Orte und Gehaltskategorien umfaßte, al s überau s wertvol l zu r Beurteilun g de r Gehaltsverhältniss e de r Handlungsgehilfen bezeichne t werde n muß , wurd e de r Erhebun g de s Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes 31 zugrund e gelegt. Ausge geben wurden ca. 115 000 Fragebogen. Als Stichtag der Erhebung wurde der 22. März 190 8 festgesetzt. De r Bearbeitung konnten 33 611 Fragebogen zugrunde gelegt werden. Hiervon entfallen ca. 14 000 auf Großstädte, ca. 8000 auf Mittelstädt e (vo n 2 0 bis 10 0 000 Einw.) , ca. 700 0 auf Kleinstädt e (vo n 5-20 00 0 Einw.) und der Rest von 5000 auf Landstädte. Für die ausreichende Berücksichtigung de r verschiedene n Territorie n spricht , da ß i m ganze n Handlungsgehilfen au s 2941 Erhebungsorte n sic h beteiligten . Hervorgehoben z u werden verdient, da ß anscheinend die Erhebung nach der Richtung nich t ganz typische Verhältnisse erfaßte , al s ein relativ große r Prozentsatz de r Befragte n unverheirate t war , ei n größere r Prozentsat z al s dem Durchschnitt de r Handlungsgehilfen entspricht . Das erklärt sich zwanglos daraus, da ß der Deutschnationale Handlungsgehilfenverband noc h ein e junge Organisation ist, vorwiegend junge Handlungsgehilfen z u Mitgliedern zählen dürft e un d da ß dahe r unte r seine n Mitglieder n de r Prozentsat z de r Verheirateten wahrscheinlich geringe r ist als im Berufsdurchschnitt32. Dies e Tatsache aber ist insofern von Bedeutung, al s gerade die Gehalte der unverheirateten Handlungsgehilfen vie l geringer sind (im Durchschnitt) als die der verheirateten, - un d daher dürfte da s Gehaltsniveau de r Handlungsgehilfe n vielleicht ganz im allgemeinen doch im Durchschnitt etwa s höher liegen, als es die Erhebun g vermute n lasse n würde . Nach Gehaltsklasse n entfiele n au f Gehal t vo n bis 900 Mar k 901-1200 1201-1800 Mar k 1801-2400 Mar k 2401-3000 Mar k 3001-3600 Mar k über 360 0 Mar k

6,71% 20,94 % 39,39% 20,63 % 7,98 % 2,49% 1,86 % 100,00%

Der Schwerpunkt lieg t i n den Einkommensstufe n vo n 1200-180 0 Mark , welche 39,3 9 % de r Handlungsgehilfe n mi t eine m wirkliche n Durch schnittseinkommen vo n 1533,2 0 Mar k umfassen . Unterhal b de r Versiche rungsgrenze vo n 2000 Mark sin d mehr als 3/4, nämlich 75,0 9 % der Hand lungsgehilfen. Das Durchschnittseinkommen de r befragte n Handlungsgehilfe n is t also, wenn man diese Erhebung als typisch für große Kreise von Handlungsgehil71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

fen ansieht und mit einer gewissen Fehlergrenze selbst den Durchschnitt der Erhebungen de s Jahres 190 3 als tatsächliche Durchschnitte annehme n wür de, nur unwesentlich entfern t von dem Durchschnittseinkommen gelernter , regelmäßig beschäftigte r Arbeite r (dere n bare s Lohn-Einkomme n allei n zwar noch erheblich geringe r ist). Es steht ihm jedenfalls nähe r als das Einkommen der technischen Angestellten. Aber auch hier wird man nicht verallgemeinern dürfen und wird annehmen müssen, daß die Durchschnittsgehäl ter der in Kontoren beschäftigten Angestellte n höher sein dürften als die der Ladenangestellten33 . . . Früher noch als seitens der technischen Angestellten zeigt sich ein Vorgehen i n de r Gehaltsfrag e be i einzelne n Kategorie n de r Handlungsgehilfen . Ζ. Τ . liegt es gewiß daran, daß die reine Berufsinteressen vertretenden Handlungsgehilfenverbände schon älter sind als die „gewerkschaftlichen" Organi sationen de r Techniker , z.T . woh l abe r auc h daran , da ß di e Gehälte r de r kaufmännischen Angestellte n ebe n doch auc h gan z absolu t genomme n be deutend geringe r sind als die der technischen Angestellten . A n dieser Stell e würde es zu weit führen, di e Stellungnahme der einzelnen Verbände im Detail zu besprechen und daran die charakteristischen Unterschied e der Vereinigungen zu demonstrieren. Es sollen vielmehr nur, wegen des Umfanges der Aktion und wegen der ausführlichen Begründung , mi t welcher sie erfolgten, und schließlich wegen des Einblickes, die sie selbst in die Ideologie kaufmännischer Gehilfenkreise eröffnen , di e Bestrebungen der Allgemeinen Vereinigung Deutsche r Buchhandlungsgehilfe n gestreif t werden . Die Aktio n zu r Anerkennun g loka l abgestufte r Mindestgehälte r wurd e von de r Allgemeine n Vereinigun g Deutsche r Buchhandlungsgehilfe n i m Jahre 190 7 (nach bereits vorangegangenen Versuchen ) erneu t in Angriff ge nommen34. Gan z ähnlich, abe r noch betonte r al s späterhin bei m Bun d de r technisch-industriellen Beamten , geh t di e Aufstellung de r Mindestgehälte r von eine m Existenzminimu m un d zwa r eine m relativen , standesgemäße n Existenzminimum aus , desse n einzeln e Poste n vo m Verban d fü r di e ver schiedenen Städt e berechne t wurden . Demgemä ß wurde n Mindestgehälte r von 90 bis 125 Mark für deutsche Städte, etwas höhere Sätze für die Schweiz und Österreich aufgestellt . Irgen d eine Mindestleistung wurde , wi e ja auch technisch selbstverständlich , nich t i n Vorschla g gebracht . Di e Ansätz e fü r Mindestgehälter zeige n i n ihre n einzelne n Positione n deutlic h - wi e noc h späterhin erörtert werden soll - da s Bestreben nach Aufrechterhaltung eine r mittelständlerischen, relati v gesicherte n Existenz , di e auch di e Möglichkei t eines späteren Aufsteigens i n die Klasse der Selbständigen nich t ausschließt . Die Verhandlungen über die Postulate, die von einzelnen Prinzipalsvereine n entgegenkommend aufgenommen , vo n der Gesamtheit- insbesonder e dem Börsenverein Deutsche r Buchhändle r - nich t anerkann t wurden , könne n hier nicht zur Darstellung gelangen . Woh l abe r sei erwähnt, da ß auch hier , wie imme r bei sozialpolitische n Forderunge n de r Angestellten, welch e mi t einer Steigerun g de r Produktionskoste n verknüpf t sind , di e Interessenge 72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

meinschaft zwische n Prinzipalen und Gehilfen nicht soweit reicht, um deren mittelständischen Forderungen entgegenzukommen. (Ebenso wie prinzipiell den Prinzipalen z . Β . die Versicherung der Angestellten in einer Sonderkasse willkommener sein müßte und ebenso wie es auch angestrebt wurde, solange die Kosten einer solchen Vereinigung nicht bekannt waren, ferner ebenso wie nach Bekanntgab e de r Koste n entwede r di e Versicherun g gan z abgelehn t oder wenigstens di e Reduzierung au f eine n Ausbau de r allgemeinen Invali denversicherung, de r Zusammenschlu ß mi t de r Arbeiterversicherun g vo n den Prinzipale n geforder t wurde , werde n di e Unternehmerverbände i n der Frage der Mindestgehälter gewiß prinzipiell den Standpunkt der Angestellten teilen und sie politisch nach wie vor zum Mittelstand rechne n wollen, wäh rend di e Kehrseit e eine r solche n politischen Auffassung , di e Abhebung i m Gehalte von der Arbeiterschaft nu r sehr ungern gesehen wird.) Ganz im allgemeinen läßt sich sagen, daß die Vertreter mittelständischer Politik, sobal d es sich um die Postulate der Angestellten in der Gehaltsfrage handelt, die letzten Endes doch auch nur mittelständische sind und auch in den Mitteln, welche sie propagieren, mittelständische n Bestrebunge n seh r analog sind (ζ. Β . Festlegung eine s bestimmten Verhältnisses zwische n de r Zahl der Gehilfe n und Lehrlingen usw.), doch wieder lieber auf die Mechanik des Arbeitsmarktes zurückgreifen un d dessen Wirksamkeit eine r planmäßigen Regelung vorziehen. So zeigt sich aber auch in diesem Punkt, daß im sozialen Charakter der Angestellten da s Moment de r Unselbständigkeit da s stärkere ist. Von der Gestaltung des Verhältnisses zu den Prinzipalen, von der Möglichkeit, di e Gehälter entsprechen d z u steigern, häng t es ab, ob die Angestellten al s mittelständische Schicht in Zukunft werde n existiere n können . Die Widerstände, welche sich in der Angestelltenschicht gege n die Proletarisierungstendenze n auslösen, un d zwar gerade die kräftigsten Widerstände , liegen in der Umbildung de s Verhältnisse s z u de n Prinzipalen . D a diese s aufgehör t hat , ei n Durchgangsstadium zu sein, ist es das zentrale Problem aller Angestelltenpolitik geworden. Eine n Teil desselben bildet auch die Gehaltsfrage. Zeig t sich hier auch erst der Beginn einer allgemeineren Aktion, so ist doch kein Zweifel, daß diese Frage der Angestelltensozialpolitik am meisten zur Klärung des Verhältnisses zwischen Unternehmern un d Angestellten beitragen wird. An dieser Frage wird e s sich entscheiden, o b die Angestellten, se i es auf eigen e Faust, se i es Hand in Hand mit der Arbeiterschaft, san s phrase Arbeitneh merpolitik treiben oder aber ob sie, bei prinzipiellem Entgegenkomme n sei tens der Unternehmer, in ihrem Bewußtsein und ihrer Wirksamkeit eine mittelständische Schich t bleibe n werden . Di e Entscheidun g wir d woh l nich t gleichzeitig un d auc h nicht in gleichem Sinn e für all e Angestellten-Katego rien fallen .

73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Alter, Gebal t un d Arbeitslosigkeit Die Besprechung de r Gehaltsverhältniss e de r Privatangestellten kan n nich t abgeschlossen werden, ohne eines Momentes Erwähnung zu tun, das gerade für die Entwicklung de s sozialen Charakters der Angestelltenschaft vo n großer, in manchen Kategorien vielleicht ausschlaggebender Bedeutung ist: Für die Besoldung der von öffentlichen Körperschaften , vom Staat oder Gemeinden angestellten Beamten ist es charakteristisch, da ß sie die Leistungsfähig keit de s Individuum s i n de n verschiedene n Lebensalter n nich t berücksich tigt; di e Entlohnun g de s Arbeiter s is t bekanntlic h absolu t a m höchste n i n jüngeren Jahren, in welchen auch die Leistung ein e höhere ist; sie sinkt sehr bald mit der Abnahme der Leistungsfähigkeit un d erfordert daher für die Regel di e Inanspruchnahm e eine r staatliche n Versicherun g ode r de r Armen pflege. Die Besoldung des öffentlichen Beamte n ist prinzipiell in jedem Zeitpunkt mindestens ebenso hoch wie in den früheren Jahren ; eine Herabminderung des Gehaltes würde dem Begriff des Beamten und dem daraus abgeleiteten Besoldungsschema widersprechen , da s im allgemeinen für den Einsatz der ganzen Persönlichkeit ein e standesgemäße, der Tätigkeit im allgemeinen entsprechende Existen z garantiere n soll . Dari n zeig t sic h ei n charakteristi sches Moment der Beamtenexistenz, da ß eine bestimmte Lebenshaltung di e Voraussetzung bildet; da diese mit fortschreitendem Alte r niemals geringere, eher höhere Mittel erfordert, is t die Gehaltsskala eine steigende. Sie verwirklicht dadurch auc h das Streben der mittelständischen Kreise : mit fortschrei tenden Jahre n di e Basi s eine r sicherere n un d breitere n Existen z z u gewäh ren35. Solange di e Position de s Privatangestellten entwede r ei n Durchgangssta dium darstellte oder regelmäßig in eine leitende Stellung führte, welch e spezielle Unternehmertätigkeit erforderte , ware n de facto dieselben Prinzipie n für di e Privatangestellte n maßgeben d wi e fü r di e Staatsbeamten. Di e Mög lichkeit, sic h selbständig z u machen un d die Arbeitskraft i n freiem Wettbe wert i m eigene n Interess e zu verwerten, sichert e ein e den Forderungen de r Angestellten entsprechende Entlohnung. Ers t als die Privatangestellten in ihrer Positio n dauern d festgehalte n wurde n (i n höhere m Maß e is t e s bei de n technischen Angestellte n de r Fall , wi e bereit s hervorgehobe n wurde) , tauchte die Frage nach der Entwicklung de r Gehälte r mi t fortschreitende m Alter al s Proble m auf . Zunächst sei festgestellt, da ß sich schon derzeit ein bedeutendes Sinken der Gehälter mi t fortschreitende m Alte r konstatiere n läßt . All e di e genannte n Erhebungen, welche zur Beurteilung der Besoldungsverhältnisse obe n erörtert wurden, beweisen dies klar. Die Erhebung des Jahres 1903 hat die Gehälter de r Privatangestellte n auc h nac h de m erwähnte n Gesichtspunk t unter sucht un d da s Resulta t zutag e gefördert , da ß di e Gehälte r de r technische n Angestellten vom 45. Jahre ab sinken, zuerst mimimal, dann rascher vom 55. Jahre ab. Für die Handlungsgehilfen lieg t die Grenze etwas höher, die Gehäl74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ter sinken im Durchschnitt vom 55. Jahre ab, vom 60. ziemlich rasch . Während aber die Gehälter der Handlungsgehilfen (nac h dieser Erhebung) auch in höheren Lebensaltern noch (unwesentlich) über dem Durchschnitte bleiben, sinken sie bei den teschnischen Angestellten selbst unter diesen. Ein das Alter von 6 5 Jahren erreichende r technische r Angestellte r ha t i m Durchschnitt e zur Aussicht, knapp so viel zu verdienen als ein Angestellter zwischen 25 und 30 Jahren 36. Die übrigen, be i Besprechung de r Gehaltsverhältniss e bereit s erwähnte n Erhebungen hatten ein ähnliches, ζ. Τ. für die Angestellten noch ungünstigeres Resultat: Die erwähnte Gehaltsstatistik de r Berliner Eisenkonstrukteur e kommt zu dem Ergebnis, daß sich die Gehaltskurve bereits nach dem 35. Lebensjahr und im 12. Jahr der Büropraxis zu senken beginnt37. Di e Erhebung des Deutschnationale n Handlungsgehilfenverbande s übe r di e Besoldungs verhältnisse im Jahre 190 8 kommt ebenfalls zum Resultat, da ß vom 40. Lebensjahr ab die Gehaltsentwicklung de r Handlungsgehilfen di e Tendenz zu einer allmählichen Verminderung de s Einkommens zeige 38. Daß die Schrif t Jäckels dies e Eigentümlichkei t de r Gehaltsentwicklun g nich t hervorhebt , liegt daran, daß die von ihm befragten Angestellten zu 63 % zwischen 20 und 30 und zu 94 % unter 40 Jahre alt sind39. Diese Tendenz zeigt sich gegenwärtig wohl deshalb noch nicht in ihrer ganzen Schärfe, weil gerad e den älteren Privatangestellten die Möglichkeit gegeben war, in leitende Stellungen aufzusteigen oder sich selbständig zu machen. Das Problem wird in seiner ganzen Schärfe ers t aktuell werden , sobal d die große Masse der Angestelltenschaft , wie sie nach den Ergebnissen der Berufszählung gerad e in den letzten Jahren in den Beruf treten, in ein höheres Lebensalter kommen und damit eine Minderung ihre r Leistungsfähigkeit erfahre n - die s um so mehr, al s ja die große Masse der Angestellten immer mehr zu mechanischen Dienstleistunge n ver wendet werden muß , in denen naturgemäß i n jüngeren Jahren ein e Überlegenheit besteht . b-Personen i m Ε ergbau, Hütten wesen. Industrie, Baugewerb e unter 1 6 J. 16-20 J . 20-25 J . 25-30 J . 30-40 J . 40-50 J . 50-60 J . 60-70 J . 70 J . u . darübe r unbekannt

1895

%

5207 23 559

1,98 8,93

77694

29,46

73 092 47763 25986 8 787 1657

27,71 18,11 9,85 3,33 0,63

263 745

100,00

1907 19679 74 146 101 116 116211 183300 114353 55362 18 785 2 970 85 686007

%

b-Personen im Hande l und Verkeh r 1895

2,87 5 967 10,81 31678 14,74 ] 9130 3 16,94 26,72 67563 16,67 39142 8,07 19578 2,74 5760 0,44 916 100,00

261907

%

1907

%

2,27 12,10

13 706 69919 88 255 82 825 130133 72314 35066 11744 1704 243

2,71 13,83 17,44 16,37 25,72 14,29 6,93 2,32 0,34 0,05

34,86 25,80 14,94 7,48 2,20 0,35 100,00

505909 100,00

75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Gruppe E : Militär- , Hof- , b ürgerl. u . kirchl. Dienst, frei e Berufe 41 1907 1895 % % unter 1 6 J. 16-20 J. 20-25 J. 25-30 J. 30-40 J. 40-50 J. 50-60 J. 60-70 J. 70 J. u. darübe r unbekannt

15099 51514

1,83 6,26

202 868

24,65

220563 152885 105992 56490 17538

26,80 18,58 12,88 6,87 2,13

822949

100,00

Gesamtzahl de r Erwerbstätigen 1895 1907 % %

23 443 70488 126557 167 525 292 829 226091 133187 65079 17 544 268

2,09 1313176 6,32 1765 768 6,58 6,27 2 848 424 13,71 3 475162 12,96 11,27 5513 121 26,5 4 710718 3 26,4 9 14,92 26,08 3 955383 19,04 5496319 20,49 20,13 3 089009 14,88 4218 743 15,73 11,86 2 371428 11,42 2852210 10,64 5,80 1263414 6,08 1489678 5,55 1,56 416920 2,01 419513 1,56 0,02

123011

100,00 20 770 875 100,00 26827362 100,00

In welchem Maße erst in Zukunft di e Frage der Gehaltsentwicklung zu m brennendsten Problem werden muß, geh t aus [den obigen] Daten hervor 40. Diese Ziffern zeige n einiges , wa s i m Zusammenhang mi t de r Erörterun g der Gehaltsverhältniss e vo n Wichtigkeit : Der Aufba u de r b-Persone n ist , wi e sic h i n de r Gesamthei t sowoh l un d noch prägnanter i n den einzelne n Industriezweige n zeigt , seh r verschiede n vom Altersaufba u de r Erwerbstätige n überhaupt . E s ergebe n sic h au s de r obigen Tabell e folgend e Verhältniszahle n fü r de n Altersaufbau : b-Personen i n b-Personen i n Industrie, Bergbau Handel u . Verkehr Alter unte r 2 0 J. 20-40 J . 40 J . u . darübe r

1895 10,91 57,17 31,92

1907 13,68 58,40 27,92

1895 14,37 60,66 24,97

1907 16,54 59,53 23,93

Erwerbstätige überhaupt 1895 190 20,03 19,5 45,58 46,9 34,39 33,4

7 4 8 8

Es sind also die Altersstufen vo n 20-40 Jahre n be i den Angestellten we sentlich stärke r besetzt , al s e s dem Durchschnit t de r Erwerbstätige n über haupt entsprechen würde. - Be i diesen ist der Anteil de r Jugendlichen, abe r auch der über 40 Jahr e alten Personen größer. Die Zahl der neu eintretenden Angestellten, als o die jüngeren Altersklassen , steig t rasch ; noch rasche r al s die Gesamtzah l de r Angestellte n sic h vermehrt , wächs t dahe r di e Zahl de r jüngeren Angestellten ; namentlic h di e Altersstufen unte r 20 Jahre n bewei sen dies. Ebenso spricht dafür der relative Rückgang der Angestellten über 40 Jahren. Gerade diese Gruppen müssen in Hinkunft, wen n erst die in der Periode 1895-190 7 ne u eingetretene n Berufstätige n (di e zu m größte n Tei l i n den Altersstufe n 20-4 0 Jahr e stehe n dürften ) älte r werden , wiede r relati v wachsen. Namentlich, da ja die geringere Häufigkeit de r Unfälle und Berufs76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

krankheiten be i de r Angestelltenschaf t wahrscheinlic h ei n höhere s Durch schnittsalter als bei der Arbeiterschaft bedingt. Derzeit aber sind - un d das ist eben nu r di e Kehrseit e davon , da ß di e Angestelltenschaf t sic h ers t aufzu bauen beginnt (ode r in den Jahren 1895-190 7 zum großen Teil erst neu aufgebaut hat) - di e Altersstufen von über 40 Jahren relativ schwächer besetzt als im Durchschnitt de r Erwerbstätige n überhaupt . Überdie s is t zu bedenken , daß von diesen älteren Angestellten relativ viel mehrere in höhere Gehaltsstufen gelangt sind, als die derzeit in den Altersstufen von 20-40 Jahren befindli chen Angestellte n erreiche n z u könne n hoffe n dürfen . De r Vermehrung i n den Altersklassen über 40 Jahren wird also noch mehr als bisher eine Senkung der durchschnittliche n Gehälte r paralle l gehe n müssen . Di e Gehaltsfrag e wird noch aktueller werden, wenn alle die aus der Entwicklung zum Großbetriebe notwendig gewordenen, bloß für die speziellen Tätigkeiten geschulte n Angestellten i n di e höheren Altersklasse n einrücke n un d si e an Stelle eine r mittelständischen, de n wachsenden Bedürfnissen angepaßten Lebenshaltun g mit eine r realiter und sogar nominell geringere n Bezahlung vorlie b nehmen müssen. Dieser Altersaufbau is t deshalb von Wichtigkeit, weil er zeigt, daß diejenigen Tendenzen, welch e den mittelständischen Charakte r der Handlungsgehilfenschaft z u bedrohen geeignet sind, insbesondere die Minderung der Gehälter mi t fortschreitende m Alter , notwendigerweis e ers t i n de r Zukunf t ganz zur Geltung kommen werden. Erst jetzt bilden sich - un d mehr noch in nächster Zukunft , Verhältniss e heraus , welch e fü r di e Angestellte n ein e große Ähnlichkeit mi t den Konsequenzen de r Industrialisierung fü r di e gewerblichen Arbeite r haben . De r Prozeß wir d fü r di e Angestellten, ähnlic h wie seinerzeit fü r die gewerblichen Arbeiter , dadurc h beschleunigt, da ß die Unternehmungen be i Fusione n sic h de r ältere n Kräft e entledige n un d da durch allein schon automatisch eine Verringerung der Gehälter dieser herbeiführen. Danebe n wirkt natürlich mit die Auflösung de r Angestelltentätigkeit in gan z abstrakt e Manipulationen : Di e Erfahrun g de s ältere n Angestellte n wird bei vollständiger Mechanisierung des Produktionsprozesses in den meisten Fällen überflüssig, of t direkt schädlich - wei l ein Hindernis in der Fortbildung der Organisation. Es ist überflüssig, noc h besonders zu betonen, daß dieses Moment in der Entwicklung, da s erst in Zukunft voll zur Wirksamkeit gelangen wird 42 , di e Ausbildun g eine s intensive n Gemeinsamkeitsgefühls unter de n Angestellte n seh r z u förder n geeigne t ist . Bei Betrachtung der objektiven Momente, welche auf die Lage des Privatangestellten von Einfluß sin d und das Bewußtsein bestimmen, ihn insbesondere auch in seiner Klassenlage gegenüber der Arbeiterschaft und den übrigen Klassen der Gesellschaft determinieren , dar f die Arbeits-, besser gesagt, di e Stellenlosigkeit nich t übergangen werden . Sowei t die Stellenlosigkeit erfaß t werden kann, besitze n wir in ihr ein Kriterium für das Maß der Bedrohung, welcher die Angestellten ausgesetz t sind , deklassiert , de r Möglichkeit, ein e mittelständische Lebenshaltun g z u behaupten , beraub t z u werden. J e öfte r 77 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

30, 30. 31. 31. 30. 30. 31. 31. 30. 30. 31. 31. 30.

6. 9. 12. 3, 6. 9. 12. 3. 6. 9. 12. 3. 6.

1908 1908 1908 1909 1909 1909 1909 1910 1910 1910 1910 1911 1911

1,6 1,7 1,6 1,7 1,4 1,8 1,6 1,4 1,4 1,6 1,3 1,4 1,1

51,2 52,2 50 56 65 57 56 59 56 54 54 54

1,6 1,7 1,6 1,4 1,4 1,6 1,4 1,2 1,2 1,5 1,2 1,3 1,0

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4,6 2,9 2,7 2,7 3,2 2,9 2,4 2,0 2,0 1,9

2,9 2,7 4,4 3,5 2,8 2,1 2,6 1,8 2,0 1,8 2,1 1,9 1,6

| Daue r der Stellenlosigkei t bei de n Fachverbände n

bei de n deutsche n Fach verbänden (Arbeiter )

bei de n Techniker verbänden allei n

bei de n kaufmännische n Verbänden allein

| Daue r der Stellentosigkeit [ be i de n unterstützten Stellenlosen (Tage )

%

i

1758 2770 2445 3154 3543 3705 4650 4697 4541 5254 4257 4582 4283

i

Zahl de r Stellenlosen

155391 160611 156562 183472 209233 203436 296841 324490 329 581 329293 332325 339005 371001

i

Mitgliederzahl de r berichtenden Verbänd e

die Stellenlosigkeit eintritt und je schwerer sie ist, desto mehr verschwinden diejenigen Element e aus dem Bewußtsein de r Angestellten, welch e ihre Situation - auc h bei gleicher Bezahlung - gegenüber der Arbeiterschaft günsti ger erscheinen lassen. Sowie die unbedingt dauernde Anstellung im allgemeinen Bewußtsei n di e Positio n de s Staatsbeamte n al s hervorstechendste s Merkmal charakterisiert , bedeute t di e Abhängigkeit de r Privatangestellte n von der Lage des Arbeitsmarktes, vom Wechsel der Konjunktur, das Ausgeliefertsein a n di e Gesetzmäßigkeiten i n de n Schwankungen de s Beschäfti gungsgrades gewi ß nebe n de n bereit s erörterte n Besoldungsverhältnisse n und der Entwicklung der Gehälter mit steigendem Alter eines der Momente, welche am ehesten eine Annäherung an die Situation der Arbeiterschaft (auch im Bewußtsein de r Angestellten ) herbeiführe n könnten . Die s auc h scho n dann, wenn die Stellenlosigkeit, ihre Häufigkeit und Dauer der in der Arbeiterschaft herrschenden noc h gar nicht gleich käme. Denn die Angestelltenschaft dürfte , gan z im allgemeinen, auc h auf die vorübergehende Stellenlo siekeit noch schärfer reagiere n al s die Arbeiterschaft . Zur Beurteilung, i n welchem Umfang in der Angestelltenschaft Stellenlo sigkeit besteht, sollen zunächst die Daten mitgeteilt werden, welche von den Privatangestelltenverbänden selbs t zur Ermittlung gelangen. Regelmäßig berichten über die Stellenlosigkeit seit Ende 1909 6 kaufmännische, 2 Bürobeamten- und 3 Technikerverbände. Die Zahl der Stellenlosen im Vergleich zur Zahl der Mitglieder betrug bei diesn Verbänden und bei 52 Arbeiterfachverbänden43:

16,3 17,6 22,7 17,8 18 17 18 15 13 14 16 14

Die Ziffer n tu n dar , da ß sic h di e Arbeitslosigkei t de r Privatangestellte n zwar durchaus nicht parallel der der berichtenden Arbeiterfachverbände be wegt, obzwar eine gewisse Übereinstimmung i n den Schwankungen konsta tiert werden kann. Insbesondere zeigt sich, daß auch der Beschäftigungsgra d der Angestellten sehr großen Differenzen unterworfen ist, besonders bei den technischen Angestellten , au f welch e die Konjunktu r vie l unmittelbare r z u wirken scheint . Die Dauer der Stellenlosigkeit is t begreiflicherweise be i den Angestellten länge r als bei den Arbeitern, abe r es muß doch besonders hervorgehoben werden, daß die Relation in den meisten Fällen wie 1: 4 ist. Daraus folgt, da ß die Stellenlosigkeit, sobal d sie eintritt, in das Leben der Angestellten meist viel tiefer eingreifen wird als in das der Arbeiter: Trotz der Stellenlosenunterstützung is t di e Bedrohun g de r wirtschaftliche n Existen z be i eintretender Stellenlosigkei t ein e viel imminentere . Am wichtigsten wäre, um den wirklichen Umfang der Arbeitslosigkeit zu berechnen, als o die Gesamtzah l de r arbeitslose n Tag e zu r Gesamtzah l de r „Mitgliedertage", d . h . die Zahl der Mitglieder mal der der Tage des Vierteljahres in Beziehung zu setzen. Das Reichsarbeitsblatt stellt diese Relation für die Arbeiterfachverbänd e auf . Fü r di e Angestelltenverbänd e sol l hie r ein e Schätzung versuch t werden, un d zwar derart, da ß die Dauer der Arbeitslosigkeit per Kopf, wi e sie bei denjenigen Privatangestellte n ermittel t wurde , welche Stellenlosenunterstützung erhielten , auf die Gesamtzahl der Arbeitslosen übertragen wird . Dan n erhält ma n als mutmaßliche Zahl der Arbeitslosentage unte r 10 0 Mitgliedertagen 44:

I. Vierteljahr 190 8 IL Vierteljah r 190 8 III. Vierteljahr 190 8 IV. Vieneljahr 190 8 I. Vierteljahr 190 9 IL Vierteljah r 190 9 III. Vierteljahr 190 9 IV. Vierteljahr 190 9 L Vierteljah r 191 0 IL Vierteljah r 191 0 III. Vierteljahr 191 0 IV. Vierteljahr 191 0 I. Vierteljahr 191 1 IL Vierteljah r 191 1

in Privat angestelltenverbänden

In Arbeiter fachverbänden

2,0 1,7 1,5 1,5 2,0 1,4 1,2 1,3 1,5 1,1 1,3 1,0

3,2 1,9 1,6 1,4 1,7 1,7 1,2 1,2 1,8 1,0

Auch dies e Aufstellun g zeig t zwa r nich t eine n ausgesprochene n Paralle lismus mit der Arbeitslosigkeit i n den Arbeiterfachverbänden. Abe r es geht 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

daraus wenigstens soviel hervor, daß die tatsächliche Arbeitslosigkeit i n den Angestelltenfachverbänden, sowei t si e statistisc h erfaß t wurde , meis t ga r nicht bedeutend von der in den Arbeiterfachverbänden vorkommende n ab weicht. I n Zeiten schlechter Konjunktur oder aus anderen Gründen ungün stiger Lage des Arbeitsmarktes steigt die Arbeitslosigkeit (auf die Gesamtzahl der Arbeitstage berechnet) bis auf 2 % und macht sich daher in manchen Kategorien, welch e besonder s de r Arbeitslosigkei t ausgesetz t sind , seh r fühl bar. Di e Stellenlosenversicherung, welch e von den meisten Privatbeamten verbänden eingeführ t wurde , is t ebenfall s ei n Symptom dafür , wi e sehr die Notwendigkeit, gege n die Mechanik de s Arbeitsmarktes Schut z zu suchen , anerkannt wird .

„Neuer Mittelstand'' ode r Tei l des Proletariats? [Oben] wurde, schon bloß aus der technischen und sozialen Position des Angestellten heraus, festzustellen versucht, daß , soweit sich von einer einheitlichen Ausgestaltun g de r Angestelltenschaf t spreche n läßt , dieselb e dadurc h charakterisiert sei , daß sich Elemente der selbständigen un d der unselbstän digen Berufstätigkei t i n eigentümliche r Weis e mischen , da ß dementspre chend auch das Gemeinschaftsgefühl, welche s die Angestelltenschaft besitze , sich sowohl von dem des Mittelstandes als auch von dem der Arbeiterschaf t deutlich abheb e un d ein e Zwischenstufe darstelle . Auch die konkreten Verhältnisse, welche in diesem Kapitel mitgeteilt werden konnten , entspreche n diese m allgemeine n Charakte r de r Angestellten schaft. Der Herkunft nach - sowei t hierfür das sehr dürftige Material als ausreichend befunde n werde n kan n - rangiere n di e Angestellten zu m größte n Teil unte r de n Mittelstand . Immerhi n zeig t de r erheblich e Prozentsat z de r aus Arbeiterkreise n stammende n Angestellten , da ß wi r e s hier keinesweg s mit einer aus sozial einheitlichem Milieu stammenden Schicht zu tun haben. Die Gehaltsverhältnisse vollends zeigen ein Bild größter Mannigfaltigkeit . Die Differenz zwische n de n Gehaltssätze n de r einzelnen Angestelltenkate gorien ist wohl größer als zwischen den üblichen Arbeiterlöhnen, insbeson dere wenn ma n die organisierte ode r di e gelernte Arbeiterschaf t einerseits , die ungelernte andererseit s al s sich deutlich voneinander abhebende Schich ten auffaßt. Seh r große Teile - de r Zahl nach gewiß die Majorität - de r Angestellten gehören ihren Gehaltsverhältnissen nac h zum Proletariat (besonder s Handelsangestellte), abe r e s mu ß doc h hervorgehobe n werden , da ß de r Durchschnitt de r Angestelltengehälte r noc h imme r de n Durchschnit t de r Arbeiterlöhne übersteigt und jedenfalls da ß die vergleichsweise gering e Differenz, welch e zwischen Angestelltengehältern un d den Löhnen qualifizier ter Arbeiter besteht , de n Privatangestellten doc h viel höher erscheint . Sub jektiv wird die Differenz viel schärfer empfunden, al s sie es in der Tat ist, um 80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

so mehr, al s ja gewiß die Tendenz zur Ausgleichung de r noch vorhandenen Differenzen (durc h Senkun g de r Gehälte r de r ältere n Angestellten ) seh r wirksam ist . De r Grund hierfür ma g auch darin liegen, da ß die Gehaltsverhältnisse imme r noc h al s individuell e angesehe n werde n können : sowoh l nach der Richtung, da ß die Gehälter in den verschiedenen Unternehmunge n sehr variieren (je nach der Beanspruchung, de r Eigentümlichkeit des Unternehmens, seinen Geschäftsprinzipien nac h usw.), währen d bereits ein weitgehender Ausgleich der Arbeiterlöhne stattgefunden haben dürfte, - al s auch nach der Richtung, daß noch immer spezielle Befähigung in der Angestelltenschaft (zwar infolge der fortschreitenden Arbeitsteilun g stets weniger) zu einer individuellen Entwicklun g de s Gehaltes führen kan n und wohl auc h zu führen pflegt. Di e Wirkung derartige r individueller Schicksale pflegt j a stets ihre faktische, der Zahl nach abgemessene Bedeutung weitaus zu übersteigen, was natürlich bei der Beurteilung des Gemeinschaftsgefühls de r Angestellten von Bedeutun g wird . So sehr als o auc h di e Entwicklun g de r Gehälte r solch e Moment e i n da s Bewußtsein der Angestellten rückt, welche die Unselbständigkeit der Berufstätigkeit vor allem empfinden lassen , so fehlen doch auch nicht ganz die Elemente, welche der Angestelltenschaft ei n mittelständisches Gepräg e zu verleihen geeignet sind. Mehrere derselben wurden bereits genannt. E s sei noch hervorgehoben, da ß bei den Angestellten viel häufiger al s bei den Arbeitern die Tatsache der Gewinnbeteiligung ist, des unmittelbaren Interesses am materiellen Erfolg des Unternehmens. Dieses Moment spielt im Bewußtsein der Angestellten ein e sehr große Rolle, hat es wenigstens noc h vor ganz kurzer Zeit getan. Wurde doch gerade in Angestelltenkreisen di e Idee der Gewinnbeteiligung mi t de r größte n Wärm e empfohlen , al s bereit s weit e Arbeiter kreise darauf verzichte t hatten, i n der Gewinnbeteiligung ei n geeignetes Instrument de r Ausgleichung de r Interessengegensätz e zwische n Kapita l un d Arbeit z u erblicken . I n der amerikanische n Literatu r übe r Fabrikorganisa tion wir d di e Gewinnbeteiligun g gan z generell , abe r fü r europäisch e Ver hältnisse woh l nu r allgemei n richti g fü r di e Arbeiterschaft, al s Prämiensy stem bezeichnet, wa s sie nach der Tendenz, welche den Angestelltenkreise n innewohnt, natürlich nicht sein soll. Da ist sie vielmehr ein Symptom für die Stellung de r Angestellten zwische n Unternehmer n un d Arbeitern. Da s Bestreben der Angestellten, diese r Idee Eingang zu verschaffen, is t nicht blo ß auf ein anderes Gehaltssystem gerichtet, sonder n der Versuch, ein e Entlohnungsform zu finden, welche dem Bewußtsein der Angestellten ganz adäquat ist. Alle die Momente, welche also unmittelbar auf die materielle Position der Angestelltenschaft einwirken , tu n dies in der gleichen Richtung . Di e Situation der Angestellten wird dadurch immer deutlicher zu einer „zwischen den Klassen" fixiert. E s wird immer klarer, daß keines der beiden Momente, weder die Unselbständigkeit de r Berufstätigkeit noc h die mittelständische Le benshaltung und Herkunft, ausreicht, um die Angestellten als Gemeinschaft, 81

6 Lederer , Aufsätz e

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als Klass e eindeutig z u bestimmen . Wi e di e Dinge heute liegen , würd e sowohl die (soziale oder politische oder auch nur ideologische) Verschmelzung mit der Bourgeoisie al s auch mit der Arbeiterschaft nu r bei gewissen Kom plexen der Angestellten möglic h sein , nich t aber bei der Gesamtheit. I n der Gesamtheit wirken noch zu sehr Elemente beider Kategorien, als daß sie wirkungslos bleibe n könnten . Vo n de r Entwicklun g de r einzelne n Momente , welche für die Klassenlage der Angestelltenschaft ausschlaggeben d sind, wird es abhängen , o b si e i n ihre r Gesamthei t ode r überwiegende n Mehrhei t schließlich sic h de r Bourgeoisi e ode r de m Proletaria t werde n aggregiere n können. Daher.läuf t di e gesamte sozial e Politik , welch e fü r ode r gegen di e Angestellten gemacht wird und die auch von den einzelnen Gruppen der Angestellten selbst gemacht wird, nur darauf hinaus, die eine oder andere Kategorie von Elementen, welche die Position bestimmen, zu beeinflussen. Des halb hat die Angestelltenpolitik al s staatliche Politik gleichfalls keine n anderen Sinn als in der Beeinflussung de s Komplexes der Angestelltenschaft nac h einer bestimmten einheitlichen Richtung . Be i der eingehenden Besprechun g der Angestelltensozialpolitik, insbesonder e bei der Erörterung der Frage der Pensionsversicherung wir d darau f noc h ausführliche r hinzuweise n sein 45. Von de r Entwicklun g de r einzelne n fü r di e Klassenlag e ausschlagebende n Momente wird e s endlich abhängen , o b die Angestelltenschaft z u einem ihr allein eigentümlichen Interessengebie t un d damit zu einer einheitlichen Ge meinschaft gelange n wir d ode r o b si e wirklic h al s „neue r Mittelstand " di e Reihen der numerisch geschwächten Bourgeoisi e ergänze n oder als Verstärkung zum Proletariat stoßen wird. Man kann wohl schon jetzt sagen, daß die Entwicklung de r wirklichen oder vermeintlichen wirtschaftlichen Interesse n auch die politische Orientierung de r Angestelltenschaft entscheiden d beein flussen wird . Gerad e politisch bilde n heute die Privatangestellten noc h ein e flottante Schich t und eine Fixierung is t erst von einer Klärung ihrer Interessen un d ihre r Klassenlag e z u erwarten .

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4. Di e ökonomische und soziale Bedeutung des Taylorsystems (1914 ) Die reich e Literatu r übe r da s Taylorsyste m ha t e s bishe r fas t al s ihr e aus schließliche Aufgabe angesehen , den Gedanken des Taylorismus zu popularisieren. W o man eine Kritik des Systems findet, knüpf t si e an das eine oder andere Moment an, ohn e es in allen seinen Konsequenze n z u untersuchen . Die Unternehmer sind ebenso schnell bereit, das System zu akzeptieren, weil es die Produktivität steiger t (vom Interessenstandpunkt au s gesehen: die ersten Anwender des Systems werden gegenüber den anderen Betrieben begünstigt), die Sozialpolitiker, ζ. Τ . auch die Gewerkschaften sind skeptisch oder ablehnend, wei l e s di e Arbeitsintensitä t steiger t un d all e ungünstige n Ne benwirkungen de r Arbeitsteilung, welch e schon mit dem Fabrikbetrieb ge geben sind , außerordentlic h vermehrt . I m folgenden se i nu n versucht , di e Konsequenzen dieses Systems im einzelnen klarzulegen, seine Wirkungen im ökonomischen und Sozialen zu entwickeln und sodann festzustellen, welche Position sic h de m Taylorsyste m gegenübe r fü r di e einzelne n Interessen standpunkte nac h diese n Konsequenze n ergebe n müßte . Das technische Wesen des Taylorsystems braucht nicht weiter erörtert zu werden. Sein Effekt besteht , nac h den hier nicht weiter zu prüfenden Anga ben von Taylor, darin , da ß durch bessere Organisation de r Arbeit die Produktivität eine s Betriebes , d . h . als o die technisch e Leistungsfähigkeit , di e erzielte Produktionsmenge , be i gleiche r Arbeiteranzah l u m da s Drei - bi s Fünffache vermehr t werde n kann . Di e Durchrationalisierun g de r Betrieb e steigert au f dies e Weise de n Effek t be i i m Wesen gleichbleibende m techni schem Niveau resp. gleichbleibender Maschinenausrüstung. Ein e Eigentümlichkeit de s Taylorsystems besteh t als o darin, da ß mit ihm die Möglichkei t gegeben ist , di e gesamte Industri e eine s Lande s binnen wenige r Jahr e auc h ohne neue technisch e Erfindunge n i n ihre r Produktivitä t z u vervielfachen . Hier zeigt sic h bereits ein wesentlicher Unterschie d gegenübe r der Anwen dung resp. Einführung vo n Maschinen. Diese mußte in den einzelnen Indu strien sukzessiv e erfolgen. Di e Maschienn mußte n allmählic h erfunde n un d verbessert werden . Noc h heut e arbeite t z . Β . das ganz e Baugewerb e ohn e Maschinen ode r setzen sic h in ihm die Maschinen nu r sehr langsam durch . Die Setzmaschine im Buchdruckereigewerbe ha t erst in der letzten Zeit den Handsatz abgelöst. Die Einführung vo n Maschinen, s o rasch sie erfolgt sei n mag und so große Probleme technisch darin bewältigt wurden, hat sich doch auf ein e sehr lange Zeit hin verteilt, un d das ganze Industriesystem konnt e 83 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

allmählich werden und wachsen. Beim Taylorsystem is t die Umänderung in ein System anderer, wenn man will, höhere r Ordnung mit einem Schlage, in wenigen Jahre n fü r di e gesamt e Industri e möglich . (Di e Landwirtschaf t bleibt allerdings auch hier, bi s auf indirekte Einwirkunge n durc h vermehrt e Herstellung landwirtschaftliche r Maschine n auße r Betracht.) Und e s ist daher das Problem, welche Konsequenzen für die Volkswirtschaft un d die einzelnen sozialen Schichte n hat es, wenn wir uns das Taylorsystem allgemei n durchgeführt denken , und wir dürfen hinzusetzen, wenn wir es uns in einem raschen Temp o durchgeführ t denken 1. Die erst e allgemeinst e ökonomisch e Konsequen z de s Taylorsystem s is t (dasselbe radikal und allgemein durchgeführt): daß sich die Warenmasse, die der Unternehme r au f de n Mark t bringt , vervielfach t (verdrei - bi s verfünf facht). Diese s Wachstum de r Warenmassen, verallgemeinert , bedeute t Verringerung der Herstellungskosten fü r die Produktionseinheit, als o die Möglichkeit für den Unternehmer, die Preise zu reduzieren. Soweit läuft die Entwicklung paralle l mi t der Einführung vo n Maschinen auc h insofern , al s die Verbilligung der Waren zunächst nur von dem einzelnen Unternehmer insoweit vorgenommen werde n wird , al s es notwendig ist , um sein ganzes Produkt abzusetzen, daß er also eine viel größere Rente für eine gewisse Zeit gegenüber de n andere n Unternehmer n erziele n wird , solang e noc h di e alt e Produktionsform vorherrscht . Da s wir d be i Einführun g vo n Maschine n recht lange der Fall sein - di e ganze Umänderung wir d sic h allmählic h voll ziehen2. Das Taylorprinzip, einma l in der Industrie durchgeführt, bring t zunächs t vervielfachte Produktionsmasse n un d dami t sinkend e Preise . Di e Produk tionsmassen dringen in die Kanäle des Verkehrs und können hier aufgenom men werden, insofer n zahlungsfähig e Kaufkraf t vorhande n ist . Di e Volkswirtschaft i m ganze n betrachtet , mu ß di e Relation zwische n de r Kaufkraf t der Arbeiterbevölkerung, überhaup t der in der Produktion tätige n Gruppe n (also auch der Angestellten) und der gesamten Produktionsmasse sinken, da ja da s Taylorsyste m scho n rei n technisc h au f eine r Verminderun g de r Ar beitskosten per Produktionseinheit beruht. In jedem einzelnen Falle wird bei Einführung de s Taylorsystems der Geldbetrag der Arbeitslöhne und Gehälter diese s Unternehmen s eine n geringere n Prozentsat z vo m kalkulierte n Austauschwert de r Produkt e ausmache n al s vor Einführun g de s Systems 3. Soweit ist die Parallele zur Einführung de r Maschienen vollkommen. Den n auch bei Einführun g de r Maschinen wir d i n demselben Betrieb e de r Antei l des Lohnes a n den Gestehungskoste n sinke n müssen . Doc h is t bei Einfüh rung de r Maschine n ei n seh r wesentliche r Unterschie d gegeben . Zunächs t das Tempo: Dieses hängt doch sehr stark ab von der Möglichkeit der einzelnen Unternehmen, investiere n z u können . S o stark de r Anreiz eine s neuen Verfahrens sei n mag, s o wird es sich doch meist nicht sofort und allgemein , eben aus Mangel an verfügbarem Kapital , durchsetzen. Insoweit aber die Industrie sich technisch neu ausrüstet, so ist das doch kein Prozeß, der auf den 84 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Rahmen dieser Industrie beschränkt bleibt. E s geht die Herstellung der Maschinen, de r Umbau der Fabriken u. a . voran. Je wichtiger und allgemeine r die technische Neuerung, dest o größer und umfassender di e vorbereitenden Stadien, die, auf das Quantum der Arbeit hin angesehen, zunächst eine Steigerung de r notwendige n Arbeitszei t un d eine Erhöhung de r Lohnsumme n bedeuten. Wenn wir das Tempo der Maschineneinführung al s ein regelmäßiges und harmonisches denken, so ist - trot z aller Reibungsverluste, die dieser Prozeß mit sich bringen muß - ein e gewisse Kompensation in der Vorbereitung der Maschineneinführung gegeben . Und wenn wir annehmen, da ß der Prozeß sich etappenweise durchsetzt, s o können die jeweils in einer Periode freigesetzten Arbeite r in den Vorbereitungsstadien der technischen Prozesse späterer Jahr e Verwendun g finden 4. Wen n wi r daz u annehmen , da ß di e Volkswirtschaft nich t geschlossen ist, sondern ζ. Τ . auf ausländischer Kaufkraft basiert , welch e gleichfalls wächst , un d zwar nicht nur organisch, son dern durc h Eroberun g neue r Absatzgebiete , wen n wi r weiterhi n dazuneh men, daß in den letzten Jahrzehnten in größerem Umfange Investitionen auf der Kreditgrundlage kapitalisierten Einkommens , nicht bloß auf individuel len Ersparnisse n resp . Überschüssen konkrete r Unternehmungen basierte n (alle Investitionen de r öffentlichen Körpe r gehören hierher) - dan n können wir ein Schema der Entwicklung zeichnen, in welchem eine allmählich wachsende Lohn- und Gehaltssumme imstande war, sich mit allmählich wachsenden Produktmassen auszutauschen. Das waren aber einesteils speziell bei der Maschineneinführung gegeben e Begleitumstände (insbesonder e Produktio n der Maschine n un d neue baulich e Anlagen) , andernteil s einmali g gegeben e Tatsachen der Entwicklung (hierhe r rechne ich namentlich Investitionen der öffentlichen Körper, Verkehrsanlage n usw.) . Hingege n habe n wi r i m Tay lorsystem eine Umorganisierung de r Betriebe vor uns, die auf der einen Seite keine teilweise Selbstkompensatio n i n anderen Produktionsstadie n mi t sich bringt, andererseit s i n ei n Stadiu m de r Entwicklun g fällt , i n welche m da s Wachstumstempo auf keinem Gebiete der Tätigkeit mehr ein so rapides sein kann wi e zu r Zei t de r Maschineneinführung 5. Wir müssen also sagen: Die allgemeine Einführung de s Taylorsystems i m Gebiete eine r Volkswirtschaf t - un d zunächs t al s geschlossen e Volkswirt schaft betrachtet - ha t die Wirkung, die verfügbaren Gütermasse n zu vervielfachen, ohn e im ökonomischen Prozeß an anderer Stelle neue Kaufkraft ver einigt mit Konsumtionsbereitschaft z u schaffen. Sie bedeutet daher in hohem Maße Freisetzun g de r Arbeitskraft , ohn e da ß au f eine r andere n Stell e de s Wirtschaftslebens ein e Kompensatio n diese r Wirkunge n erfolge n könnte . Bei gleichem Kapital, gleiche r Ausrüstung mi t Maschinen wird die Arbeitseinteilung un d die Auswahl de r Arbeiterschaft geändert , dadurc h allei n de r Betriebserfolg vervielfacht, un d es werden Arbeiter freigesetzt6. Di e wesentliche rei n ökonomisch e Konsequen z i m Taylorsyste m besteh t ebe n darin , daß es an der Substanz des Betriebes keine Veränderung hervorruft , da ß an vielen Stellen im Betrieb ein rationelleres Verfahren einsetzt , durc h welche s 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Arbeiter erspart werden. Gewiß kann es Hand in Hand gehen mit einer Ausdehnung de s Betriebes, abe r notwendi g wir d da s nich t sein . Ein grundsätzlic h andere r Tatbestan d wir d nu r dor t vorliegen , w o ein e Ausweitung des Exportes möglich ist; in diesen Fällen wird nicht neue Kaufkraft geschaffen , sonder n bereit s bestehend e genutzt . Wen n wi r abe r vo m Falle de s Exportes absehen, wir d di e in sich beruhende Volkswirtschaft be i plötzlicher ode r sehr schnelle r Einführun g de s Taylorsystems i n sich kein e Kompensationen gege n die Verminderung de s Arbeiterbedarfes entwickel n können. Die Folgen der überstürzten Einführun g vo n Maschinen - Arbeits losigkeit, Absatzstockung , Krise n - werde n daher hier in verstärktem Maß e auftreten (imme r unter der Voraussetzung einer allgemeinen raschen Durchführung des Systems, also unter der Voraussetzung, daß es nicht die Form ist, in welche r di e Produktion eine r größere n Nachfrag e entgegenkommt , wi e das ja bei der Maschineneinführung häufi g der Fall ist). Sie werden besonders dort sic h einstellen , w o da s Taylorsystem al s Auswe g i n eine r Depressio n gewählt wird (weil es Produktion zu billigeren Preisen und mit verminderten Arbeitskräften gestattet) . Nicht nu r die Größe des Arbeitsbedarfes wir d durc h di e Einführung de s Taylorsystems beeinfluß t un d zwar i m allgemeinen vermindert , sonder n es wird auch ein anderer Typus der Arbeiterschaft, de r angelernte Arbeiter, der herrschende. Schon die letzte Betriebszählung (1907), mehr noch die Veränderungen i n den Industriebetrieben seither , habe n da s für Deutschlan d ge zeigt, wie ja in Deutschland überhaupt das Taylorsystem bereits in einem erheblichen Umfang in praxi besteht, wenn es auch noch nicht so genannt wird und vielleicht auc h nicht bi s in die letzten Konsequenze n durchgeführ t ist . Die unmittelbaren Einwirkunge n der Einführung de s Taylorsystems sin d daher fü r di e Arbeiterschaft ausgesproche n ungünstige . Ihr e Tätigkeit wir d mechanisiert und intensiviert; der Bedarf a n Arbeitern wir d vermindert und die Konkurrenz um die einzelne Arbeitsstelle gesteigert. Bei Einführung de s Systems steigen wohl die Löhne. Es ist aber sehr fraglich, o b bei seiner Verallgemeinerung - wen n dan n de r Arbeitsmark t unte r de m Druc k de r Ar beitsuchenden steht- diese Lohnsteigerungen aufrechterhalten werde n können. Namentlich wird für immer größere Gebiete das Auf und Ab der Konjunktur entscheidend. Wen n wir gegenwärtig annähern d sagen können, da ß in den Tarifgewerben, als o in der mittleren Industri e und im Gewerbe, di e Konjunktur au f die Lohnhöhe vergleichsweise weni g Einflu ß hat , vielmeh r in erste r Lini e de n Beschäftigungsgra d bestimmt , wei l di e Lohngestaltun g eine stabile ist, so ist das nicht der Fall in der Großindustrie. Wie man aus den fortlaufend erhobene n Lohnziffer n i m Kohlenbergba u entnehme n kann , steigen und sinken dort die Löhne mit der Konjunktur. Dieselben Bedingungen aber , welch e fü r di e Großindustri e gan z allgemei n jetz t gegebe n sind , werden durc h da s Taylorsystem fü r di e gesamt e Industri e geschaffen . Di e Distanz zwische n de m Unternehme r bzw . de m leitende n Betriebsbeamte n und de n einzelne n Arbeiter n wir d vergrößert , di e Funktio n de s einzelne n 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Arbeiters mechanisiert, bedeutungsloser, de r ganze Prozeß wird zwangsläufig organisiert . Alle s da s - besonder s abe r di e inner e Strukturveränderun g auch der mittleren Betriebe - mach t den Arbeitsmarkt empfindliche r fü r die Veränderungen de r Konjunktur , un d di e Lohnentwicklun g wir d sic h aus schließlich nac h den dann wesentlich zuungunsten de r Arbeiterschaft geän derten Machtverhältnisse n au f de m Arbeitsmarkt e bestimmen . Inde m da s Taylorsystem di e Arbeitsbedingunge n de r Großindustri e verallgemeinert , verschlechtert es intensiv die Position der Arbeiterschaft. Dies e allgemeinen Wirkungen sind die Unterlage, auf welcher dann noch andere Konsequenzen des Systems sichtba r werden . Von diese n sin d zwe i i n de m Aufsat z vo n Kochmann 7 erwähnt : 1 . Di e technischen Schwierigkeiten , unte r de m Taylorsyste m ein e weitgehend e Verkürzung de r Arbeitszei t eintrete n z u lassen , wei l be i kürzere n al s acht stündigen Schichten di e Verluste beim Arbeitswechsel bereit s zu groß wer den; 2 . di e ungünstig e Einwirkun g au f di e Lohngestaltun g de r Arbeiter schaft, welch e darin besteht, daß für eine Lohnsteigerung (Maximum 60 % ) nunmehr all e Steigerungsmöglichkeiten i n der Zukunf t dahingegebe n wer den. Denn die Leistung des Arbeiters bleibt unter dem Taylorsystem stets die gleiche: Da s Maximu m a n Arbeitsintensivität , a n Verbrauch vo n Muskel n und Nerven ist aus ihm herausgeholt und zu einem entsprechenden Satz entlohnt. Es gibt in dem einmal taylorisierten Betrieb keine Mehrleistung, auc h bei technischem Fortschritt nich t - d a (schematisch gesagt ) die Qualität de r Arbeitsleistung gleichgülti g is t un d alle s au f di e Quantitä t un d da s Tempo ankommt, die sich nicht ändern. Diese zwei Momente wurden in der Diskussion, sowei t z u sehen , bishe r nich t hervorgehobe n un d müßte n di e ableh nende Position de r Arbeiterschaf t zu m Taylorsyste m noc h steigern . Neben den rein ökonomischen Wirkungen des Taylorsystems aber stehen andere, soziologische r Natur . Di e gelernte n Arbeite r werde n durc h ange lernte ersetzt; der Berufsinhalt spielt also, auch im Bewußtsein des Arbeiters, nicht meh r di e gleiche Rolle . Wen n gegenwärti g noc h ei n sehr erhebliche r Teil de r Arbeiterschaf t au f di e besonder e Tätigkei t durc h ein e langjährig e Lehre vorbereite t wird , s o is t e s für taylorisiert e Betrieb e nich t meh r notwendig. Zwar sind auch hier am besten solche Arbeiter verwendbar, die über große Allgemeinfähigkeiten , Geschicklichkeit , Anstellbarkeit , Beweglich keit usw. verfügen . Abe r es sind mehr diese allgemeinen Qualitäten al s spezielle Vorkenntnisse un d spezielle Geschicklichkeiten, di e notwendig sind . Auch ist der Bezirk der individuellen Tätigkeit ein viel begrenzterer. Al l das wirkt zusammen , u m de n Arbeite r di e Tätigkeit al s solche, fre i vo n ihre m speziellen Inhalte , gan z abstrak t empfinde n z u lassen . De r speziell e Beru f tritt zurück. Da s Bewußtsein, Arbeite r zu sein, herrsch t vor. Da s Gemeinsamkeitsgefühl, bi s dahin in erster Linie auf die Sphäre des speziellen Berufes konzentriert, wird ein allgemeineres. Die Solidarität der Arbeiterschaft eine s Betriebes, einer Industrie wird stärke r als das Zugehörigkeitsgefühl de r Arbeiterschaft eine s und desselben Berufes, de r durch alle Industrien verstreu t 87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ist. Im Bewußtsein der Arbeiterschaft beginnt, aus ihrer geänderten Tätigkeit heraus, das Klassenbewußtsein in prägnantem Sinne an Realität zu gewinnen. Diese Einwirkung ist keineswegs als eine absolut günstige für die Arbeiterschaft zu bezeichnen. Denn sie erschwert zunächst infolge der derzeit noch bestehenden Organisation nach Berufsgruppen die Interessenvertretung der Arbeiterschaft, mach t den Überblick über die Arbeits- und Betriebsverhältnisse der einzelnen Gruppen zu einem Problem, macht Konflikte zwischen Unternehmern und Arbeitern für letztere gefährlich. - Auf der anderen Seite wird die Interessensolidarität de r Arbeiterschaft gesteigert , und die Beteiligung großer Massen an allen Konflikten läß t die Auseinandersetzung zwi schen Unternehmern und Arbeitern auch im Bewußtsein des einzelnen Arbeiters als Klassenkampf erscheinen. Trotz alledem kann man sagen, daß die Einführung des Taylorsystems für die Arbeiterschaft un d ihre Organisationen große Schwierigkeiten im Gefolge hat und sowohl in den Arbeitsbedingungen nachteilige Veränderungen auf die Dauer mit sich bringt, als auch die allgemeine Position der Arbeiter zum Unternehmer verschlechtert. Da s ist nur die Konsequenz der durchgreifenden Verschiebungen in der technischen Sphäre. Wie in dieser die Tätigkeit des Arbeiters ihrer konkreten Inhalte entlehrt und sie ganz auf abstrakte Leistun g reduzier t wird , verschiebe n sich auch die sozialen und organisatorischen Kräft e zuungunsten der Arbeiterschaft. Und nur soweit könnten beim Taylorsystem diese bisher erwähnten Nachteile für di e Arbeiterschaft vermiede n werden , wen n ein e starke gewerkschaftliche Organisatio n sein e Durchführung kontrolliere n un d in ihrem Umfan g un d de m Temp o de r Einführun g entscheiden d bestimme n könnte. Gerade dort jedoch, wo das Taylorsystem am ehesten und raschesten durchgeführt werde n dürfte, in der Großindustrie, reicht die Kraft der Gewerkschaften daz u nicht aus. Und selbst im Gewerbe (ζ. Β. Baugewerbe), wo noch bisher die Gewerkschaften sich als recht stark erwiesen, werden sie, auch wen n si e e s wollten, sicherlic h kein e Möglichkei t haben , direk t di e Formen, in welchen das System Eingang finden dürfte, zu bestimmen, ebensowenig als sie die Möglichkeit haben werden, auf die Dauer eine erhebliche Lohnsteigerung de n „taylorisierten" Arbeiter n zu sichern 8. Nun drängt sich die Frage auf, warum die Gewerkschaften bisher das Taylorsystem zwar diskutiert, abe r so gut wie keine Stellung dazu genommen haben? Warum sie zaghaft die Einführungdesselben beobachten , auch immer wieder von seiner Wichtigkeit sprechen, ohne jedoch sich zu einer entscheidenden Stellungnahm e aufzuraffen ? Di e Schwierigkeit n fü r di e Ge werkschaften, hier wirksam einzugreifen, können nicht die alleinige Ursache sein. Sie liegt tatsächlich tiefer. De r ausschlaggebende Zweig der Gewerkschaften in Deutschland, die freien Gewerkschaften, stehe n ideologisch auf dem Boden des Sozialismus, und auch die übrigen Gewerkschaftszweige haben in ihrer Ideologie das hier in Betracht kommende Element der sozialistischen Anschauung übernommen: daß die Entwicklung kausal, automatisch, mit unentrinnbarer Notwendigkeit sich abspiele und weiterhin (was hier am 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

wichtigsten), da ß diese Entwicklung letzte n Endes zugunsten der Arbeiterschaft verlaufen müsse . Jeder technische Fortschritt insbesondere, so sehr er auch im Moment für große Arbeitergruppen schädlich sein mag, ist in der sozialistischen Ideologie eine Etappe auf dem Wege, die gesellschaftliche Pro duktivität zu steigern und so die technische Möglichkeit de s sozialen Staates näherzubringen. Und ebenso ist jeder technische Fortschritt in der Ideologie der übrige n Gewerkschaftsgruppe n gleichfall s willkommen , wei l dadurc h die nationale Produktion vermehrt und die Möglichkeit der Lohnsteigerungen geschaffe n wird 9 . I n diese n Auffassunge n is t als o ei n jede r technisch e Fortschritt ohn e weitere s akzeptiert , un d di e ungünstige n Einwirkunge n technischer Fortschritte auf die Arbeiterschaft sin d von vornherein als zeitweise, vorübergehende bezeichnet. Der technische Fortschritt wird ganz allgemein seinem Effekt nach so vorgestellt, wie die steigende Maschinenausrüstung gewirk t hat . Dies e hat wohl ein e Steigerung de r Unternehmermacht , aber zugleich auch eine ganz veränderte Position der Arbeiterschaft ebe n im kooperativen Großbetrieb geschaffen, die auf ganz neue wirtschaftsorganisatorische un d politisch e Möglichkeite n hindeutete . Da s Taylorsyste m wir d grundsätzlich ebens o angesehen ; e s wir d ga r nich t di e Möglichkei t i n Be tracht gezogen , da ß e s eine Phase technischen Fortschritts gebe n könne, in welcher die Unternehmermacht weiterhin wächst, ohn e daß gleichzeitig parallel ein e Umformun g de r Arbeiterpositio n i n günstige m Sinn e erfolgt . Diese Einstellung auf den technischen Fortschritt als Motor der Entwicklung zugunsten de r Arbeiterschaf t ha t zweifelsohn e di e Positio n de r Gewerk schaften dem Taylorsystem gegenüber in ihrer Entfaltung gehemmt 10. So ist aus de n Kreise n de r Gewerkschafte n bishe r ein e elementare , radikal e Ab wehrbewegung gegenüber dem Taylorsystem nicht hervorgegangen; man hat aus de n allgemeine n Tendenze n de r Gewerkschafte n herau s sic h zunächs t neutral und abwartend verhalten und wird, wo es möglich ist, das Tempo und die Ar t de r Einführun g z u beeinflusse n trachten , abe r gerad e dor t wahr scheinlich auc h grundsätzlic h dafü r sein . Nirgend s wird , sowei t z u sehen , das System wegen seiner allgemeinen Einwirkungen glattweg abgelehnt, und es ist auch fraglich, o b das mit Rücksicht au f die ausländische Konkurrenz , ohne ein e völlige Umstülpun g de s Wirtschaftssystems möglic h wäre 11 . Immerhin wird das Taylorsystem und die Beschäftigung damit für die Gewerkschaften nich t ohne Konsequenzen bleiben . Mit de r Erkenntnis seine r für di e Arbeiterschaf t ungünstige n Einwirkunge n is t ein e gan z verändert e gedankliche Einstellung gegeben. Es ist zunächst die Entwicklung i n ein objektiveres Licht gerückt und wird nicht ohne weiteres als günstig angenom men werden. Ma n wird sic h i n den Kreise n de r Gewerkschafte n dara n gewöhnen, da ß die automatische Entwicklun g nich t bereits eine Entwicklun g für die Arbeiterschaft ist . Man wird sich zu den gesellschaftlichen un d ökonomischen Tatsachen freier stellen und seine Position aus der Interessenlage und den letzten Zielen wählen können, ohne durch die „naturnotwendig gegebene" Entwicklung sich gebunden zu fühlen. So wird die Bahn für eine vo89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

luntaristische Einstellung frei un d grundlegende Auffassungen de s orthodoxen Sozialismus, di e Auffassungen übe r die Richtung de r Entwicklung sin d damit problematisc h geworden . Au f di e letzten Konsequenzen hi n angese hen, bedeutet sogar das Taylorsystem, wenn die ungünstigen Konsequenze n sich durchsetzen und es vom Gesichtspunkt gewerkschaftlicher Politik abzulehnen ist, eine Loslösung der Gewerkschaften vo m Sozialismus, wie er von der politische n Parte i vertrete n wird . Den n fü r dies e is t da s Taylorsyste m nicht unvereinbar mi t ihren allgemeinen Auffassungen; i m Gegenteil, e s erweist sich, daß die optimistischen, revisionistische n Anschauunge n de n Zustand eine r Zwischenetappe i n der kapitalistischen Entwicklun g voreili g al s definitiv annahmen , da ß selbst di e Verelendungstendenz z u Rech t besteh t usw. De r vo n de r Gewerkschaf t vertreten e Sozialismu s abe r mu ß di e Ge werkschaftsbewegung al s wichtigstes Glied auffassen, kan n auch die technische Entwicklung nu r anerkennen und mitmachen, sowei t sie mit den Tendenzen der Gewerkschaften paralle l läuft. Dadurc h aber wird mit dem Taylorsystem di e gewerkschaftlich e Politi k vo n ihre r ideologische n sozialisti schen Grundlage gelöst, selbständig etabliert, und, aus den Gegenwartsinteressen der Arbeiterschaft heraus , als Industriearbeiter - nich t vom Gesichtspunkt eine r künftige n politisch-ökonomische n Diktatu r de s Proletariat s muß die Lösung der gewerkschaftlichen Problem e gesucht werden. Hie r sei nur angedeutet , da ß mi t diese r Einstellun g zu r technische n Entwicklung , welche einen eindeutigen günstigen Charakter derselben nicht ohne weiteres annimmt, sehr wesentliche Berührungspunkte mit dem Syndikalismus, einer gleichfalls i n erste r Reih e voluntaristische n Bewegun g gegebe n sind . Es fragt sich nun, worin die Reaktion der Arbeiterschaft, wen n sie das Taylorsystem i n seinen Hauptwirkungen al s ungünstig erkenne n un d ablehne n würde, bestehe n könnte? Wi e sic h die Arbeiterschaft au f da s Taylorsyste m einzustellen vermöchte? Zunächst ändert sich die Organisationsform in Konsequenz des Taylorsystems. Den n so wie der Betrieb ein unteilbares stren g organisiertes Ganze s bildet, is t auch nu r ein e einheitliche Organisatio n de r Arbeiterschaft i m Betriebe möglich. Die Gewerkschaften knüpfe n nu n auch heute noch meistens an den Berufsgedanken an . Die Tätigkeit de s Arbeiter s ist di e Grundlag e dafür , wi e e r sic h organisiert . Darau s resultiere n di e Schwierigkeiten, die ungelernten oder angelernten Arbeiter mit zu organisieren. Daher kommt es auch, daß in den meisten Fabriken Arbeiter, welche den verschiedensten Organisatione n angehören , nebeneinande r arbeiten . Dies e Organisationsform wir d unerträglich , sobal d der Betrieb nach dem Taylor system organisiert ist. Denn dann existieren nicht mehr die einzelnen Gruppen de r Arbeiterschaft al s solche. All e Teile des Betriebs sin d i n innigste m Konnex. Die Tätigkeit aller Betriebsgruppen wird eine analoge. Es ist, schon rein technisch, ausgeschlossen , da ß irgendwelche Gruppe n i m Betriebe ge sonderte Forderungen erheben . So wird die Arbeiterschaft i m Betrieb enge r zusammengeführt, si e bildet nicht nur technisch, sondern auch ihren Interessen nac h nunmeh r ei n Ganzes . Un d s o wir d ein e Organisationsfor m not 90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

wendig, i n welche r all e Arbeite r eine s Betriebe s zusammengefaß t werde n müssen. Da ist nicht mehr der Standpunkt maßgebend, daß dann die Interessenvertretung günstiger erfolgen kann, sondern es ist einfach auf andere Weise, in den Berufsverbänden, in den Spartenvereinen eine Interessenvertretung unmöglich; di e Berufsverbände werden ei n untaugliches Mittel zur Interessenvertretung der Arbeiterschaft, wei l sich die Arbeitsbedingungen der einzelnen Gruppen, wen n sie sich auch noch ihrer Tätigkeit nach heraushebe n mag, gar nicht isoliert behandeln lassen. Auch ist vom Gesichtspunkt der Arbeiter aus , selbs t be i Kooperatio n de r einzelnen Gruppen , ein e Interessen vertretung durc h di e verschiedenartige , finanziell e Kraf t de r einzelne n Gruppen ungemei n erschwert . Dies e Veränderun g i n de r reale n Situatio n führt zur Entwicklung vo n Industrieverbänden. Si e ist nicht, wie man allgemein anzunehmen scheint, glatt und reibungslos möglich. Auch ist sie nicht schon damit gegeben , da ß die Gewerkschaften z u größere n Verbänden zu sammengelegt werden. Das ist nur in besonders gelagerten Fällen möglich z. Β . im Baugewerbe - ode r nicht mehr notwendig, wei l di e Berufsbildun g von vornherein nach der Industrie erfolgte (Chemisch e Industrie, Bergbau , auch Holzgewerbe usw.). I n sehr zahlreichen Industriezweigen jedoch , na­ mentlich de r Fertigfabrikateindustrie , sin d Arbeitergruppe n de r verschie ­ densten Berufe nebeneinander beschäftigt. E s wären also Gewerkschaften z u schaffen, di e sich nicht durch bloße Zusammenlegung bestehender Verbände bilden lassen, sonder n die durch Zusammenschluß vo n Arbeitergruppen z u bilden wären, die da und dort in anderen Verbänden stehen (z. Β . für die Automobilindustrie, Maschinenindustri e - hie r arbeite n Metallarbeiter, Holz arbeiter, Maler und Lackierer usw. nebeneinander - kur z im allgemeinen die großen Gruppen der Fertigfabrikate überhaupt) . Das ist mehr als eine bloße Konzentration - ein e solche Umformung bedeutet eine totale Umschichtung der gesamten Arbeiterschaft und stellt die Gewerkschaften vor die schwierigsten Probleme finanzieller, organisatorische r Art usw. Gerade die starre zentralistische For m de r deutschen Organisatione n verstärk t di e Schwierigkei ten dieser Umbildung , welch e sic h imme r meh r al s notwendi g erweist . Schon gegenwärtig, auc h vor Einführung de s Taylorsystems, erweis t sich die Form der Berufsverbände vielfach als ein Hindernis der Interessenvertretung. E s wird also die Überführung i n eine Organisationsform notwendi g vom Gesichtspunkt der Arbeiter aus—, welche auch für die Organisation den speziellen Inhalt der Berufstätigkeit i n zweite Linie rückt. Auch die Organisationen werden ihrem Wesen nach - sowi e die einzelnen Arbeiter - z u Klassenorganisationen, in höherem Maße noch als bisher. Sie werden untereinander homogen, weil sie alle Arbeiter sehr verschiedenartiger Berufe umfasse n und der Berufscharakter nicht mehr entscheidend ist. Sie werden auch finanziell homogener, weil sich leistungsfähige und weniger leistungsfähige Arbeiter in allen Organisationen gemischt vorfinden. Si e geraten allerdings finan ziell i n große Schwierigkeiten, wei l ein e differenzierte Behandlun g von den einzelnen Gruppen je nach ihrer finanziellen Beitragspflicht imme r versucht 91 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

werden wird. Die Zentralisierung ist daher nicht ohne weiteres eine Stärkung nach innen. Abe r auch hier wird, wi e bisher, de r Gegensatz gegenüber de n Unternehmern di e Dismembrationstendenzen , welch e auc h dan n gegebe n sind, abschwächen . Jedenfall s is t für di e Gestaltung de r Organisation dies e Tendenz zu m Industrieverban d di e wichtigst e Konsequen z de s Taylorsy stems Wir habe n als o zwe i wesentlich e Veränderunge n fü r di e Arbeiterschaf t und ihre Organisationen konstatiert. Au f der einen Seite die Möglichkeit ei ner Loslösung von Anschauungen, di e mit dem Sozialismus bishe r wesent lich marxistische r Färbun g gegebe n waren . Zweiten s tiefgehend e Umfor mungen in den Gewerkschaften. Nu n komm t noc h ein Element hinzu, da s für di e Einstellun g de r Arbeiterschaft vo n wesentlicher Bedeutun g ist : Di e vollständige Rationalisierung un d Mechanisierun g de r Betriebe macht zwa r den einzelnen Arbeiter in seiner Funktion noch bedeutungsloser, als er bisher war; jedoch wird die Stellung und Funktion der Arbeiterschaft überhaup t in ihrer Bedeutung eher gesteigert. Allerdings nicht so sehr aus einer Steigerung ihrer inneren Qualität, abe r dadurch, da ß die Funktion der Betriebsleitung , der Dirigierung auch mechanisiert, zwangsläufig aufgebaut wird, - sobal d sie einmal, und auch das nach dem Schema, konstruiert ist. Wie schon die Institution de r Aktiengesellschaf t de n Gedanke n nahelegt , di e Unternehmer funktion nicht mehr als eine persönliche aufzufassen, si e als ersetzbare Funktion bezahlte r Kräft e aufzufassen , s o muß di e Taylor-Betriebsorganisatio n die Unternehmerfunktion, gena u wi e di e des Arbeiters, evakuiere n un d i m Bewußtsein de r Arbeiterschaft relati v bedeutungslos erscheine n lassen. Da durch abe r steigt wiede r di e Abhängigkeit de s Betriebserfolges vo n der Tätigkeit der Arbeiterschaft, un d die allgemeine Disposition für die Gedankengänge de s primitive n Sozialismu s - da ß di e Arbeiterschaf t jede r Industri e selbst di e Produktio n übernehme n könn e - is t wiede r gegeben . Dies e ge dankliche Einstellung, in Verbindung mit den oben erwähnten zwei Momenten und überdies noch kompliziert durch die wachsende Unternehmermacht infolge de r Einführun g de s Taylorsystem s - Hemmunge n de s Koalitions rechtes, die von anderer, politischer Seite her möglich sind, all das würde die Arbeiterorganisationen mi t elementarer Kraf t in eine Richtung lenken, wel che de r syndikalistische n Bewegun g de r romanische n Lände r analo g ist . Wenn man dies e auf ihren wesentliche n Gehal t hin , nich t auf einig e Äußerungsformen un d di e Taktik hin , ansieht , s o würd e da s bedeuten : da ß di e deutschen Gewerkschafte n sic h vo n de r gedankliche n Basi s de s marxisti schen Sozialismus, der die Entwicklung optimistischer ansieht, loslösen, daß sie sic h gegenübe r de n Tatsache n de s Wirtschaftssystem s freie r einstellen , daß ihre Auffassung voluntaristisc h wird , als o relativ unabhängi g wir d vo n der herrschenden Phas e der kapitalistischen Entwicklung , - weiterhin , da ß sie sich als Interessenvertretung de r Arbeiterklasse san s phrase, nich t meh r als Trägerin geschichtliche r Notwendigkeite n sehen 12. Un d rei n inhaltlich , im Wirtschaftliche n führ t e s zu m Bestreben , au f di e Substan z de s Wirt 92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Schaftslebens überzugreifen , di e Betrieb e i n di e Gewerkschafte n hineinzu ziehen, di e ganz mechanisierten Betriebe, welche auch von Beamten geleitet werden können, wie es schon in den taylorisierten Unternehmungen der Fall ist, fü r di e Arbeiterschaft z u expropriieren , se i es direkt, se i es durch Weg streiken de s Unternehmergewinns. Solch e Gedankengäng e liege n be i eine r Mechanisierung und Rationalisierung, welche bis zum letzten Ende durchgeführt ist , nahe . Man kan n als o heute zusammenfassend nu r so viel sagen: Wenn die Gewerkschaften star k genug wären, das Taylorsystem zu verhindern oder zum mindesten außerordentlich z u verlangsamen und in der Form zu regulieren , so müßten sie es wohl aus ihrer Interessenlage heraus tun. Sie müßten es um so mehr, wenn sie die allgemeinen psychischen Einwirkungen des Taylorsystems auf die gesamte Arbeiterschaft in Betracht ziehen - wenn sie in Betracht ziehen, daß das Berufsschicksal doch auch für das gesamte geistige Leben von entscheidender Bedeutung ist und daß im Taylorsystem die Mechanik der gegenwärtigen Wirtschaftsordnun g kein e entsprechenden Äquivalent e für di e Evakuierung der Tätigkeit und die Intensivierung des Tempos schafft wie die Einführung de r Maschinen. Un d man muß auf der anderen Seite sagen: Die Gewerkschaften sin d wahrscheinlich z u schwach, um etwas Entscheidende s in der Angelegenheit tun zu können. Sie sind auch zu schwach, um über die Formen mitzubestimmen, i n welchen sich die Betriebsorganisation vollzieh t oder vollziehe n wird . Si e haben abe r i n de r gegenwärtige n Organisations form un d Anschauungsweis e nich t di e adäquaten Reaktionsforme n au f di e dann herrschende Form der Industrie, und sie stehen vor großen Umwälzungen, welche sie als Konsequenz der Taylorisierung erfahren werden. Gewiß diese syndikalistischen Formen und Organisationsprinzipien, die hier nur ihrem allgemeinsten gedanklichen Inhalt nach angedeutet wurden 13, sind auch nur di e adäquat e For m de r Reaktio n eine r Arbeiterschaf t au f ein e taylori sierte Industrie. Damit ist noch nicht gesagt, daß diese Organisationsforme n dann dasselb e leiste n können , wi e di e Gewerkschafte n alte n Stile s i n de r „empirischen" Industrie leisten konnten. Wenn wir Umformung in syndikalistische Bahnen, Gedankensysteme und Postulate als Konsequenz der Entwicklung ansehen , so ist noch nicht gesagt, daß diese Formen für die Arbeiterschaft tatsächlic h ein e entscheidend e Besserun g ihre r Positio n bringe n können. Wenn sie auch die einzige, die naturnotwendige Form der Reaktion - besonder s bei starken Unternehmerorganisationen - sei n mögen, so ist damit noc h nich t gesagt , da ß si e erfolgreich sei n müssen 14. Auf dies e durc h da s Taylorsystem geschaffen e ode r bevorstehend e pro blematische Positio n habe n die Gewerkschaften bishe r s o gut wie gar nicht reagiert. Das ist auf der einen Seite auf ihre traditionelle Einstellung - Begrü ßung eines jeden technischen Fortschritts-zurückzuführen, ζ. Τ . ein Symp­ tom dafür , da ß si e sich momenta n nich t star k genu g fühlen , u m ein e ent scheidende Einwirkung zu üben. Denn hier handelt es sich nicht um Gestaltung de r ohnehin gegebene n Arbeitsbedingungen , nich t um ei n Mehr ode r 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Minder, sonder n u m da s Prinzi p de r Betriebsform . Endlic h spiel t hierbe i noch ein Umstand mit , de r Erwähnung verdient , da ß nämlich die Gewerk schaften nich t isolier t un d nich t di e einzig e For m de r Arbeiterbewegun g sind. Un d si e könne n ihr e Stellun g zu m Taylorsystem , zu r industrielle n Entwicklung nich t gan z unabhängig, gan z frei, nich t gan z ohn e Rücksich t auf die übrigen Zweige der Arbeiterbewegung, di e politische Partei un d die Genossenschaften wählen 15. Die sozialdemokratische Parte i hat im Beginn ihrer Wirksamkeit di e Gewerkschaftsbewegung argwöhnisc h betrachtet . Si e ha t davo n ei n Hinein wachsen der Arbeiter in den Gegenwartsstaat, ein e Entfremdung vo m Radikalismus, ei n Aufgebe n de s revolutionäre n Gedanken s befürchtet . Dies e Stimmungen sin d allerding s verklunge n un d vergessen . Di e sozialistisch e Partei hat auch für sich die Konsequenzen des historischen Materialismus gezogen. Sie hat gesehen, daß ihre Parteiauffassung nu r auf Basis eines realen, gegenwärtigen, gemeinsame n wirtschaftlichen Interesse s fest begründet und weiter verbreitet werde n könnte. Besonders in Deutschland sind e s die Gewerkschaften, i n welchen sic h die Ideologie de s Sozialismus die machtvoll sten und einflußreichsten Organisatione n geschaffen hat. Schon die Relation in der Anzahl der Gewerkschafts- und Parteimitglieder, die Geldmittel, übe r welche di e beide n Organisationsforme n verfügen , zeige n deutlich , w o de r Schwerpunkt heut e liegt . Un d di e Politi k de r sozialistische n Parte i i n Deutschland, besonder s sei t de n letzte n Reichstagswahle n [1912 , d . Hg.] , steht unverkennbar unter dem Einfluß dieser Situation. Große Kreise der sozialistischen Partei sind keineswegs mit dieser Entwicklung seh r einverstan den und sie entspricht im Wesen auch nicht den ursprünglichen, di e sozialistische Partei beherrschenden Überzeugungen . Da s Taylorsystem un d seine Konsequenzen fü r di e gewerkschaftliche n Organisationen , namentlic h di e Steigerung des Klassencharakters, werde n daher manchen politischen Rich tungen nicht unwillkommen sein . Es bekommt die alte Formel des „revolu tionären Sozialismus" , di e „Zusammenbruchstheorie" , eine n neue n Inhalt . Die Tatsach e de r „Verelendung " wird , wen n auc h i n eine r Umformung , nicht mit Geltung für die gesamte Arbeiterschaft, s o doch für groß e Schichten, und nicht allein in physischer, sondern namentlich in psychischer Beziehung, wieder aktuell; die Funktion der Gewerkschaften al s eines beschränk ten Mittel s i m Gegenwartskampf , nich t al s eine s Mittel s zu m endgültige n Ziel, wird manifest. Di e Rolle der politischen Partei wächst um so mehr, al s auf der anderen Seite der Einfluß un d die Stoßkraft de r Gewerkschaften sin ken. Die Grundüberzeugung aber, welche in der politischen Partei außerdem viel stärker gebunden ist als in den Gewerkschaften, gestatte t gar nicht, gegen das Taylorsystem Stellun g z u nehmen . E s steigert di e wirtschaftliche Pro duktivität un d rück t dami t di e Möglichkeit eine s sozialistischen Staate s nä her. I n diese m werde n di e Formen de r Betriebsorganisatio n dan n de n Be dürfnissen der Arbeiterschaft angepaß t sein, so wie es natürlich ist, daß sie im Gegenwartsstaat de n Verwertungsbedürfnissen de s Kapital s angepaß t wer 94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

den. Wenn also auch die Gewerkschaften gege n das System Stellung nehmen sollten, die politische Partei könnte es gar nicht, ohne wesentliche Punkte ihrer Ideologie und ihrer Auffassung preisgeben , si e wird es gar nicht wollen, weil dies e technisch e Entwicklun g ih r gestattet , a n radikal e unbedingtere , z. T. bereits verlassene Thesen anzuknüpfen, die jetzt wieder in einem neuen Lichte erscheine n können . Und danebe n habe n wi r de n jüngsten Zwei g de r Arbeiterbewegung , di e Genossenschaften. I n der Form der Konsumgenossenschaften habe n sie die Tendenz, einen möglichst großen Teil der nationalen Produktion in sich hineinzuziehen. Si e sin d Unternehme r geworde n un d ihre n Arbeiter n gegen über Arbeitgeber. Wenn auch die Kategorie des Profits hier ausgeschaltet ist, so erscheint e r doch al s Ersparnis wieder. Di e Genossenschaften habe n das intensivste Interesse und müssen es insbesondere gegenüber der Konkurrenz mit de r Privatindustrie haben , i n der Organisatio n ihre r Betrieb e nicht zu rückzubleiben. Si e können auf das Taylorsystem nicht verzichten, wen n die Konkurrenzfabriken e s einführen. Di e Gewerkschafte n selbs t werde n de n Konsumgenossenschaften gegenübe r nich t Forderunge n erhebe n können , welche si e außerstande sind, gegenübe r de n Unternehmern durchzusetzen . Auch is t da s Taylorsyste m i m Genossenschaftsbetrie b i n seine r Wirkun g grundsätzlich anders : E s steigert j a gerad e durc h di e Ersparniss e di e Kon sumkraft de r arbeitenden Schichten und jeder technische Fortschritt und daher billiger e Herstellun g i n Konsumvereins-Eigenbetriebe n bedeute t nich t eine Verlegenheit de s Konsumvereins, sonder n eine Besserung seine r Situation. Die ganze Produktivitätssteigerung wird sofort in den Konsum übergeführt, un d genaus o wi e i n eine m kollektivistische n Gemeinwese n niemal s eine Produktivitätssteigerung ei n ökonomisches Problem ist- ein solches ist stets nur ein e Güterknappheit, niemal s ein e Plethora -, s o ist si e auch kei n ökonomisches Proble m i m genossenschaftlichen Eigenbetrieb . Diese r kan n jeden technischen Fortschrit t i n sich auffangen un d ohne jede Schwierigkeit als Moto r de r Entwicklun g einstellen . Di e Genossenschafte n sin d daher , ebenso wie die politische Partei (wenn auch aus ganz anderen Gesichtspunk ten her) , a m Taylorsyste m direk t interessiert . Di e Gewerkschafte n stehe n isoliert da. Das Taylorsystem kann also die Arbeiterschaft i n ihren Interessen dismembrieren. Ich halte dies nicht für eine starke Wahrscheinlichkeit, den n im Grund e sin d dieselbe n Persone n un d Gruppe n d a un d dor t vertreten . Aber die bis dahin mögliche Einheit der Interessenvertretung un d Anschauung ist doch stark belastet. Es sind Probleme gegeben, an welche man bis dahin nicht dachte, sie sind aus einer Sphäre gekommen, welche man bis dahin als ein e eindeuti g wirksam e ansehe n z u könne n glaubte . Die tatsächliche Entwicklung ma g an dieser flüchtigen Skizz e wesentlich e Veränderungen anbringen. Es kam hier darauf an, zu zeigen, daß aus den entscheidenden Veränderungen de r technischen Unterlag e wesentliche Konse quenzen für die gesamte ökonomische Konstellation und die soziale Struktur erwachsen können , erwachse n müssen . Di e Tatsach e de s Taylorsystem s 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

zeigt un s wieder , da ß wi r di e Entwicklun g nich t i n di e Grundrichtun g al s eindeutig un d absolu t hel l un d durchsichti g ansehe n dürfen , da ß auc h gegenwärtig noc h entscheidend e Richtungsveränderunge n möglic h sind , di e dazu zwingen , grundlegende , allgemei n anerkannt e Auffassunge n z u revi dieren, und die letztlich selbst das Schema der Entwicklung, wi e wir es in der Vorstellung hatten , umgestalten .

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5. Problem e des Sozialismus im Zeitalter des sich organisierenden Kapitalismus : am Beispiel der Handelspolitik un d des Plans einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1916 ) Marx, Engel s und das Problem de r Handelspoliti k Fragen de r Handelspoliti k habe n i m Sozialismu s ni e ein e groß e Roll e ge spielt. Den n eine Lehre, welch e sich auf die Analyse de s inneren volkswirt schaftlichen Prozesse s beschränkt, di e lediglich Warenproduktion au f einfa cher und erweiterte r Stufenleite r analysier t un d im Klassengegensatz inner halb de r Volkswirtschaft (de r ja nur soziale Erscheinungsfor m de r innere n Widersprüche de r kapitalistische n Gesellschaft ) di e entscheidend e sozial e Tatsache erblickt, muß notwendigerweise den Verkehr der Staaten untereinander lediglic h al s peripherisc h betrachten . (Ers t i n de r neueste n Zei t is t hierin eine Wandlung eingetreten . Namentlic h die revisionistische Richtun g hat sich viel mit Schutzzoll- und Kolonialfragen befaßt.) Das ganze Marxsche System, wi e e s im „Kapital " niedergeleg t ist , geh t a n den Fragen de r Han delspolitik vorbei . Is t doc h de r ökonomische Proze ß be i Mar x ei n Aus tauschprozeß von Waren, der unter freier Konkurrenz der Produktionsagenten sich vollzieht. Diese tauschen Äquivalente (genauer gesagt: die Waren zu Produktionspreisen), ein e Relation, welch e durc h di e handelspolitische Si tuation nicht grundlegend geändert, nur verschoben werden kann. Überdies können - au f di e Dauer - handelspolitisch e Maßnahme n nac h Ablau f alle r Überwälzungsprozesse lediglic h Surplusprofite schaffen ; und schon aus dieser theoretischen Einsicht folgt, da ß die Handelspolitik im Wesen etwas ist, was die besitzenden Klassen angeht. Die Verteilung des Mehrwerts auf Rente und Zinseinkommen, un d wieder der Zinsmasse auf di e einzelnen Produk tionszweige, wird durch handelspolitische Maßnahmen verändert, hingege n auf die Dauer die Mehrwertmasse selbst nicht berührt. Diese Grundanschauung handelspolitischen Frage n gegenüber ergab sich um so mehr von selbst, als das Hauptproblem de r Handelspolitik i n der ersten Hälfte de s 19 . Jahrhunderts, mit dem sich die Ökonomie beschäftigte, die englischen Kornzölle bildeten, dere n Aufrechterhaltun g ode r Niederlegun g nac h de r allgemei n herrschenden Lehre (es ist das auch die These Ricardos) lediglich die Verteilung des Mehrwerts zwischen Kapita l und Grundbesitz beeinflußt, ohn e einen Interessengegensatz zwische n Kapita l un d Arbei t z u begründen . Daher is t Freihande l ode r Schutzzol l fü r de n marxistische n Sozialismu s 97

7 Lederer , Aufsätz e

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keine prinzipielle Frage - solang e wir es mit Warenproduktion innerhalb geschlossener Volkswirtschaften z u tun haben, lediglich ein Wandern der Waren, nicht der Kapitalien gegeben ist. Diese Annahme, welche auch Ricard o macht (sie ist bei ihm nicht nur theoretische Annahme, sondern er glaubt, daß der Unterschied de s Staates, de r Gesetzgebung , de s Zinsfußes, de s Risiko s genügendes Hinderni s se i fü r di e Wanderun g de s Kapitals) , is t ers t i n de r modernen sozialistischen Theorie (in der Weiterentfaltung de s Kapitalismus zum Imperialismus) fallengelassen. Ers t da finden wir Wanderung von Kapital und demgemäß weitere Einwirkungen de r Handelspolitik au f die unmittelbare Lage der Arbeiterklasse, ebens o wie auch die stärkere Betonung de r „historischen Elemente " im Arbeitslohn da s Urteil übe r die Wirkungsmög lichkeit de r handelspolitische n Maßnahme n verändert . Marx steht zur Zollfrage theoretisch wie Ricardo. In seiner - a m 9. Januar 1849 in der demokratischen Gesellschaf t z u Brüssel gehaltene n - Red e über die Frage de s Freihandels leg t e r dar, da ß de r Entscheidun g fü r Freihande l oder Schutzzoll - vo m Standpunkt der Arbeiterklasse aus - kein e prinzipielle Bedeutung zukomme . Den n Freihande l wi e Schutzzöll e stehe n j a au f de m Boden de r heutige n Gesellschaftsordnung . Freihande l ode r Schutzzol l al s Prinzip gefaßt , bedeute n Eintrete n fü r Industriekapitalismu s ode r Feudali tät. Keines von beiden kann der Standpunkt des Sozialismus sein. So wie auf dem Kontinen t de n Liberale n di e Demokraten , s o stehe n i n Englan d de n Freihändlern die Chartisten gegenüber. Also auch die Freihändler stehen , so gut wie die Schutzzöllner, jenseit s der Barrikade. Freihandel und Schutzzoll sind (sozia l ausgedrückt ) Gegensätz e innerhal b de r herrschende n Klassen , sind (ökonomisc h ausgedrückt ) ei n Kamp f u m di e Verteilun g de r Mehr wertmasse. D a in einer konkreten Situatio n abe r doch die Entscheidung fü r ein Zollsyste m erfolge n muß , s o kann sic h di e Eigenar t de s sozialistische n Standpunktes nu r darin ausdrücken , da ß die Stellungnahme fü r ode r gege n ein handelspolitische s Syste m au s andere n Gründe n erfolgt , al s sie be i de n bürgerlichen Schichte n maßgeben d sind . Freihande l ode r Schutzzol l kan n vom sozialistischen Standpunk t au s nie prinzipielle Bedeutun g haben , abe r die Positio n daz u mu ß letzte n Ende s doch au s dem sozialistische n Prinzi p gewählt werden . Marx unterläß t e s nicht, dies e Differenzen au f da s Schärfste herauszuar beiten. Er setzt die Wirkung des freien Handels , ganz nach Ricardo, auseinander . Eine Aufhebung de r Zöll e wird i n eine m Lan d mi t Industri e di e Getreide preise herabsetzen und infolgedessen de n Lohn drücken, d a dieser entscheidend vom Preise der Subsistenzmittel abhängt. Man könnte also meinen, daß es für den Arbeiter gleichgültig sei , ob die Getreidepreise hoc h oder niedri g stünden. Au s einem besonderen Grunde aber sei der Freihandel sogar nachteilig: denn hohe Getreidepreise bedingen höhere (Geld-)Löhne, und bei Ersparnissen i n de r Ernährun g erhalt e de r Arbeite r Verfügun g übe r größer e Geldsummen als bei niedrigen Getreidepreisen . Be i gleichen Preisen de r In98 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

dustrieprodukte (gan z i m Zusammenhan g de r Ricardosche n Auffassun g hängen diese von der Höhe der Löhne nicht ab) könne sich also der Arbeiter bei hohe n Getreidepreise n freie r bewege n al s bei niedrigen. Nu n sage n di e Freihändler gege n da s auc h vo n de n Schutzzöllner n vertreten e Argument , daß di e Aufhebun g de r Zöll e di e Löhn e herabdrücke n werde : ma n dürf e nicht nu r di e unmittelbar e Wirkun g de s Freihandels , sonder n müss e auc h seine Fernwirkungen in s Auge fassen. Da s Sinken der Löhne (als Folge des Freihandels) werde den Preis der Produkte senken, da s werde den Konsu m steigern und daher die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöhen . Der Freihandel steigere die Akkumulation, vermehre die Produktionskräfte und sei daher für die Arbeiterschaft günstig . Dieses Wachstum der Produktivkräfte- lautet wiederum da s Gegenargument de r Schutzzöllner, welche s Marx weiter ausbaut - is t gewiß für die Arbeiterschaft außerordentlic h wichtig. Ja, man kann sagen, die Arbeiter leben nur insolange in einer relativ günstigen Lage, als die Produktivkräfte wachsen. Ein Stagnieren derselben löst den härtesten Druck auf die Löhne aus (dies schon eine von Adam Smith erkannte Gesetzmäßig keit). Abe r dieses an sich so erwünschte Wachstum der Produktivkräfte be deutet wieder nur Arbeitsteilung, steigend e Maschinenanwendung, stärker e Beschäftigung ungelernte r Arbeiter, stärkere Konkurrenz der Arbeiterschaft untereinander. Und das kann gar nicht anders sein. Denn der Freihandel - al s Voraussetzung wirklicher internationaler freier Konkurrenz - bedeute t ja die Verwirklichung al l de r Bedingungen , welch e i n de r klassischen Lehr e al s Voraussetzung de r Theorie aufgestell t werden . Di e ganze Welt al s einzige r Markt, alle s in der Welt gehörig zur Kategorie der Waren. Unter dieser Voraussetzung wird das klassisch-theoretische System in die Wirklichkeit über geführt, un d in diesem System hat ja der Arbeiter auf die Dauer als Lohn im Durchschnitt die notwendigen Subsistenzmittel, nich t mehr und nicht weniger. „Wen n der Lohn anfangs den Menschen arbeiten ließ, um zu leben, läßt er ihn schließlich auch noch leben, aber das Leben einer Maschine." Wenn die Arbeiter für Freihandel kämpfen, so kämpfen sie für die Beseitigung der letzten Hemmnisse eine r restlose n Durchsetzun g de s kapitalistischen Systems . Denn der Freihandel ist die Freiheit des Kapitals. Das abstrakte Wort Freiheit darf nich t täuschen, den n stets muß man fragen: Freihei t wessen ? Der Freihandel bring t de m Kapita l di e Freiheit , de n Arbeiter z u erdrücken . Die Kritik des Freihandels bei Marx erfolgt also aus dem Interessenstandpunkt des Arbeiters. Eine Auffassung, welch e die ganze Wirtschaft al s antagonistisches Syste m sieht , kan n natürlic h auc h vo n Wirkunge n eine s han delspolitischen Systems auf die „Volkswirtschaft" nich t sprechen. Wenn der Freihandel di e Situation de r Arbeiter z u ihre n Ungunste n verschärft , s o ist aber damit nicht gesagt, da ß der Schutzzoll günstige r wirkt. Di e Kritik de r Handelsfreiheit bedeutet nicht Eintreten für Schutzzölle. Denn - sag t Marx man kann den Konstitutionalismus bekämpfen , ohn e für den Absolutismu s zu sein . Schutzzoll kan n di e ökonomische Kraf t innerhal b de r besitzende n Klassen verschieben. Tatsächlich ist er nach Marx meist ein Mittel, die Groß99 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Industrie eine s Lande s aufzuziehen . E r schaff t innerhal b de s Lande s frei e Konkurrenz und kann so ein Mittel gegen Feudalismus werden. Der Schutzzoll kan n abe r auc h konservati v sein . Scho n hie r is t angedeutet , da ß de r Schutzzoll verschieden , j e nach de r Entwicklungshöh e de r Volkswirtschaf t wirkt: i n Englan d konservativ , wei l e r Schutzzol l au f Agrarprodukte , i n Deutschland revolutionär , wei l e r Schutzzoll au f Industrieprodukte is t und eine Industri e i m Land e züchtet . Folgerichti g trit t Mar x i n eine m vorge schrittenen Industrieland für den Freihandel ein, weil dieser die soziale Revolution beschleunige. Wi r sehen also: Schutzzoll un d Freihandel sin d für di e besitzenden Klasse n kein e eindeuti g wirkende n Mitte l - di e Arbeiterschaf t hat noc h wenige r Anlaß , sic h fü r eine s de r System e prinzipiel l auszuspre chen. Im Gedankengang vo n Marx komm t deutlic h zu m Ausdruck, da ß e r das Dilemma eine r jeden praktischen Politik : de n momentanen Erfol g ode r die Geltung des Prinzips zu opfern, sieht . Aber er entscheidet sich für die Maßnahme, welche ihm prinzipiell die richtigere scheint, hier für den Freihandel, auch wen n e r die Lage der Arbeiterschaf t ungünsti g beeinflusse n mag . Di e ganze Rede ist eigentlich ein e Rede gegen den Freihandel (ein e Verhöhnung des Freihandelshausierburschen), der aber dann doch, nicht etwa als das kleinere, sondern als das größere Übel, und eben deswegen, weil e r- momenta n - da s größere Übel ist, akzeptier t wird. Di e Irrtümter im einzelnen besage n wenig fü r di e grundsätzlich e Bedeutun g diese r Rede . S o die übertriebene n Vorstellungen vo n de r destruktive n Wirkun g de s Freihandels , di e falsch e Einschätzung de s Schutzzolls au s einem Übersehe n de r selbst organisieren den Tendenzen au f Basis des Schutzzolls. Da s Wesentliche a n der Stellungnahme ist, daß Marx augenscheinlich de n Standpunkt vertritt : je schlimmer, desto besser . Das könnte in Widerspruch stehen mit seiner Position zu sonstigen sozialpolitischen Forderungen , ζ. Β . zum Zehnstundenta g i n England , de n j a Marx al s entscheidenden , epochemachende n Erfol g ansieht . De r Wider ­ spruch ist nur ein scheinbarer. Denn hier, im Zollsystem, geht es nicht um die Sache, das Prinzip der Arbeiterschaft. Au f welch e Seite sie immer sich auch schlagen mag , si e dient de n Interesse n eine r herrschende n Schicht . Letzte n Endes is t eben die Zollpolitik kei n taugliche s Mitte l fü r di e Arbeiterschaft , ihre Lage entscheidend z u beeinflussen. E s interessiert si e daher Zollpoliti k nur insofern, als sie die Struktur der herrschenden Klassen verändert - und da ist Freihande l i m Industriestaa t insofer n wichtig , al s e r di e herrschende n Schichten zur „einen reaktionären Mass e zusammenschweißt" un d die Ausbeutungsverhältnisse augenfällig macht. Das Proletariat hat ein Interesse daran, daß dieser Zustand möglichst bald erreicht wird: Es tritt daher für diejenige kapitalistische Form ein, welche dem Sozialismus näher ist. Der Zehnstundentag hingegen ist ein Stück Sozialismus, ist Steigerung der Aktionsfä higkeit fü r di e Arbeiterschaft . Prinzipiel l ausgedrückt , bedeute t das : Nu r solche Verbesserungen de s Zustandes, die zugleich grundsätzlic h Annäher 100 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ungen a n den Sozialismus sind , solle n mi t Einsetzun g de r ganzen Kraf t er strebt werden . Hingege n solch e Verbesserungen, welch e einlulle n (wi e da s Wiederaufleben de s Zunftsystems), welche zurückführen i n frühere, muffig e „gemütliche" Zeiten, sind abzulehnen- um so mehr, als sich ja erweist, da ß solche Verbesserunge n au f di e Daue r ga r nich t möglic h sind . Im Nachla ß vo n Marx-Engels-Lassall e finde n wi r unte r de m Stichwor t „Schutzzoll ode r Freihandelssystem?" i m wesentlichen denselben Gesichtspunkt: dem deutschen Proletarier könne die Frage Schutzzoll ode r Freihandel gleichgültig sein 1. Di e Entscheidung hierübe r bestimmt sich letzten Endes aus seiner revolutionären Haltung. Da ß hier Marx und Engels sich praktisch anders entscheiden (sie treten für Deutschland für den Schutzzoll ein) ist nur scheinbar Inkonsequenz. Denn der Schutzzoll dient in Deutschland der rascheren Entfaltun g de r Industri e au f Koste n de r Agrarwirtschaft . Di e Agrarier de s Kontinent s ware n j a Freihändler , di e Industrielle n ware n Schutzzöllner. Mar x wil l di e industriell e Entwicklun g treibhausmäßi g hypertrophieren, damit um so eher der analoge Zustand wie in England eintritt. Das Wesentlich e a n diese n Ausführunge n ist : Auc h di e Politi k de s Prole atriats muß in die Realität einwirken; abe r sie darf e s nur aus ihrem Prinzi p heraus. Di e Realpolitik dar f nich t aufhören, prinzipiel l z u sein oder prinzipielle Bedeutung z u haben. Sie darf ni e ein Paktieren mi t einer Schich t sein, und wenn sich die Politik des Proletariats mit der einer bürgerlichen Schich t deckt, s o ist das nur Zufall, un d es muß der prinzipielle Unterschied in den Motiven beton t werden . Da s Eintrete n fü r ein e bürgerliche Forderun g be deutet infolgedesse n nie , da ß sic h di e Arbeiterschaf t mi t de r bürgerliche n Schicht solidarisch fühlt, sondern daß sie sie benützt, um andere Schichten zu bekämpfen. Di e Herstellung de r Harmoni e i n einem konkrete n Fal l is t nie das eigentlich Gewollte ; auch dies e Harmonie dien t nur dazu, di e Situation des Klassenkampfes deutlicher zum Ausdruck zu bringen. Der revolutionäre Sinn mu ß jede r Maßnahm e proletarische r Politi k innewohnen . Als Marx und Engels sich um eine Entscheidung in handelspolitischen Fragen bemühten , wa r di e handelspolitische Lag e Europa s seh r übersichtlich : England als Industrieexportland, di e Kontinentalstaaten al s Agrarexportländer. Marx bezweifelte nicht , daß die Entwicklung i n der Richtung eine r Annäherung der kontinentalen Zustände an die englischen verlaufen müss e und lehnte daher Schutzzoll auf dem Kontinent - al s Wegbahner dieser Entwicklung - nich t ab 2 . Kam ja als Zoll auf dem Kontinent nur Industriezoll in Betracht, nicht Agrarzoll; und Zoll auf Industrieprodukte konnte nur temporär aufrechtbleiben, d a die Entwicklung der Industrie bis zur Exportfähigkeit die Wirksamkeit de r Zölle (bei freier Konkurrenz ) aufhebt. Di e Schutzzollpolitik der Kontinentalindustrie is t Beschleunigung de s kapitalistischen Prozes ses, ist Annäherung an die revolutionäre Situation und liegt daher in der Linie der proletarischen Politik . E s traten als o Marx un d Engel s rech t eigentlic h ein fü r Zöll e i m Sinn e vo n List , wenngleic h mi t andere n Zielpunkten . Be i freier Konkurren z müsse n j a all e Industriezölle , sofer n si e überhaup t ein e 101 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

inländische Industri e hervorrufen , mi t de r Zei t vo n selbs t ihr e Wirksam keit verlieren .

Funktionswandel de s Schutzzolls Zwei Umstände führten i n der Haltung der sozialistischen Partei gegenübe r den Frage n de r Handelspoliti k ein e wesentliche Wendun g herbei : nämlic h der Funktionswandel de s Schutzzolls und das unter dem Sammelnamen de s Imperialismus zusammengefaßt e Syste m de r äußere n un d Wirtschaftspoli tik. De r Funktionswandel de s Schutzzolls 3 häng t mi t de r allgemeinen Ent wicklungstendenz de r kapitalistische n Wirtschaf t zusammen . Noc h Mar x stellt immer freie Konkurrenz als selbstverständlich gegebe n vor. Freie Konkurrenz, Anarchi e der Produktionssphäre, Krise n vermindern di e Zahl de r Unternehmer, erleichter n di e Konzentration des Kapitals. Aber in der Auffassung vo n Marx entspricht de r Schätzung un d Organisation de r Arbeiter klasse, welch e durc h de n Produktionsprozeß scho n zusammengefaß t wird , keine analoge Tendenz bei den Unternehmern. Dort geht die Konzentration weiter, bis die Zahl der Expropriateure gegenüber der Masse des ausgebeuteten Volkes so klein wird, daß das soziale System in sein Gegenteil umschlägt . Das alles vollzieht sich - wenngleic h getrage n von dem Willen der Arbeiterklasse - mi t naturgesetzlicher Notwendigkeit , un d namentlich is t von Mar x nirgends ein e Selbstorganisation de s Kapitals vorgesehen (trotzde m auc h e r schon di e Aktiengesellschafte n kennt) . I n eine r solche n Auffassun g wirk t dann de r Schutzzol l au f Agrarprodukt e al s Hemmun g de s Industrialisie rungsprozesses (al s Umwandlun g vo n Kapitalprofi t i n Grundrente) ; de r Schutzzoll au f Industrieprodukt e wirk t beschleunigen d au f di e industriell e Entwicklung. Abe r auc h de r Freihande l beschleunig t di e industriell e Ent wicklung - nu r vielleicht die eines anderen Landes, das in der Industrie heute noch überlegen ist . Nac h der Sachlage, welch e Marx vor Augen hat , is t di e Arbeiterschaft al s Konsument nu r in geringem Maße, al s Produzent gleich falls sehr wenig an der Zollgestaltung interessiert , besonder s wenn man sich auf internationale n Bode n stellt . Die ökonomische Situatio n änder t sich, sobal d unte r dem Schutzzoll da s industrielle Kapita l sic h z u organisiere n beginn t (de r Agrarbesit z brauch t eine solche Organisation nicht, sobald Export von Agrarprodukten aufhört) . Die freie Konkurren z wir d ausgeschlatet . Di e Zöll e könne n al s Mitte l be nützt werden, die Preise der Produkte im Inland über den Gestehungskosten zu halten, und es fehlt ein wichtiger Ansporn für die Industrie, sich technisch fortzuentwickeln. Finde t die Entwicklung doc h statt, s o ist sie für die Konsumenten von keinem Nutzen, d a die organisierten Produzenten di e Marktlage ausnützen wollen. Ausschließlich von der Marktlage, nicht von den Gestehungskosten, häng t dan n de r Produktionsprei s ab . E s wird - nac h de r 102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Theorie der Monopolpreise - diejenig e Absatzmenge und derjenige Preis gewählt werden , welch e de n größte n Gewin n versprechen . Da s wird i n seh r vielen Fällen nur durch Einschränkung des Angebots erzielbar sein. Die Produktion de s Inlandes wird als o möglicherweise - un d das ist dann eine Wirkung de r Zölle - eingeschränkt . Nich t Intensivierung de r Produktion, son dern Rentenbildung in der Industrie ist dann die Folge der Schutzzollgesetzgebung. Di e Schutzzölle wirken dan n wie indirekte Steuern, abe r nicht zugunsten de s Staats , sonder n de r Industrie ; si e verteuern di e Produkt e un d schränken di e Arbeitsgelegenheit ein . Sie steigern zugleich di e Gewinne de r Kartelle und zwingen zum Aufsuchen neuer Anlagesphären für das Kapital. Die erste, direkte Wirkung des Zolls ist jedoch Einschränkung der Nachfrage nach Arbeit , Verringerun g de r Kaufkraf t de s Lohnes . Diese Verschiebung mach t die Arbeiter als Produzenten - abe r auch in ihrer Eigenschaft al s Konsumenten- zu Gegnern der modernen Schutzpolitik , und zwar zu unbedingten Gegnern . (Wi e leicht ersichtlich, is t dabei die Erreichung eine s Lohnniveaus , da s übe r di e bloße n Subsistenzmitte l hinaus geht, vorausgesetzt . Da s is t dan n noc h imme r durchau s i m Rahme n de s Marxschen System s gedacht , nu r mi t stärkere r Betonun g de r historische n Elemente i m Arbeitslohn. ) Überal l finde n wi r di e Arbeiterschaf t eintrete n für Handelsverträge , welch e di e Zöll e ermäßigen , fü r di e Meistbegünsti gungsklausel, welch e jed e Zollermäßigun g verallgemeinert ; überal l wirke n die Arbeiterparteien gegen die Erhöhung der Schutzzölle. Der von Marx vertretene Gesichtspunkt : j e schlimmer, dest o besser; Unterstützung de s handelspolitischen Systems, welches die revolutionäre Situation näherbringt, is t aus de r Diskussio n verschwunden . Ma n wir d nich t fehlgehen , de n Grun d hierfür dari n z u erblicken , da ß Schutzzollpolitik nich t nu r Beschleunigun g des kapitalistischen Systems, sondern zugleich Organisierun g desselbe n und daher größer e Standfestigkei t bedeutet . Annäherun g zu m Freihande l be schleunigt auc h die kapitalistische Entwicklun g un d erhält zugleich di e freie Konkurrenz i n größere m Umfan g aufrecht . Aber noc h wichtige r fü r di e gegenwärtige Situatio n is t da s Eintrete n de r Industriestaaten i n di e imperialistische Phase . De r wissenschaftliche Sozia lismus hat als erster die moderne politische Situation als Ausdruck der Rivalität nationaler Kapitalistenschichten um die Erschließung der Kolonialgebiete aufgefaßt un d darum de n Weltkrieg al s Weltwirtschaftskrieg4 vorausgesagt , eine Anschauung, welch e dan n währen d de s Kriege s zahlreich e Anhänger , auch in den Regierungen, geworbe n hat. Am besten skizziert finden wi r die Anschauung be i Ott o Bauer , weiterentwickel t be i Rudol f Hilferdin g un d Rosa Luxemburg 5. Di e Ergebnisse dieser Publikationen wurde n in den wissenschaftlichen Organe n der sozialistischen Parteie n vielfach erörtert , ohn e daß man sagen könnte, der Gedankengang hab e noch eine wesentliche Vertiefung ode r Bereicherun g erfahren. Der Marxismus ist - i n seinem für die Politik des Sozialismus wichtigste n Teil - ein e Entwicklungstheorie de r kapitalistischen Volkswirtschaft. E r be103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

trachtet dies e im Wesen al s eine national abgeschlossene , un d in der Volkswirtschaft betrachte t er im Wesen den Prozeß der Warenerzeugung un d der Kapitalakkumulation in der industriellen Sphäre. Die Weiterentwicklung de r kapitalistischen Wirtschaf t begegne t au f eine r bestimmte n Entwicklungs höhe den Schwierigkeiten, welche aus der Neuanlage der akkumulierten Ka pitalien erwachsen . Dies e Schwierigkeite n werde n i n eine r Zei t aktuell , i n welcher durch den Übergang zum Schutzzollsystem di e Kaufkraft de s inneren Marktes reduzier t erscheint . Dahe r drängt da s Kapital nac h der Anlag e im Auslande. So mannigfaltig di e Wirkungen dieser Entwicklung sind, darin stimmen di e Theoretiker de s Imperialismu s überein : Letzte n Ende s bring t der Imperialismu s kein e Verbesserung i n der Lag e de r Arbeiterklasse , un d wenn sic h selbs t di e Lag e de r Arbeiterklass e i n de r Är a de s Imperialismu s verbessern mag , s o steigt di e Macht de s Kapitals, steigt die Mehrwertmass e noch rascher. Besonders gefährlich für die Arbeiterschaft wir d die imperialistischen Tendenzen entspringende Erschließung der Goldminen, welche die Kaufkraft de s Lohnes reduziert6. Der Imperialismus ist demgemäß in der sozialistischen Auffassung : Eroberungspoliti k au f Koste n de s Proletariats . Schon Bauer lehnt das Eintreten für die imperialistische Politik, wenngleic h sie zunächst auch im Interesse der Arbeiterschaft z u liegen scheint, ab, zumal das Syste m imperialistische r Wirtschaftspoliti k scho n wege n seine r politi schen un d allgemei n kulturelle n Wirkunge n (insbesonder e Unterjochun g fremder Nationen ) bekämpf t werde n müsse . Die Schutzzollpolitik is t s o das wirtschaftspolitisch e Syste m alle r Bour geoisien geworden. Dieses drängt aber nicht nur zum Kapitalexport in Kolonien, sondern unte r seinem Schutz und Druck zugleich entwickel t sic h ein e gegenseitige kapitalistisch e Durchdringun g de r europäische n Staaten . Da s Schutzzollsystem verhindert , da ß di e nationale n Industrie n sic h au f eine n größeren Markt einrichten, und veranlaßt darum Export von Kapital, Grün dung von Filiale n i m zollgeschützten Auslan d (Zollfabriken) . Nimm t dies e Verflechtung eine n gewissen Umfang an, so wird die Industrie, gegen welche der fremde Zoll eingerichtet wurde, direkt am Zoll interessiert, unte r dessen Schutz die Filiale ihren Betrie b aufbauen konnte . Di e Wirkung de r Schutzzollsysteme hebt sich in diesen Fällen nicht mehr (durch Dumping) auf, son dern steiger t sic h gegenseitig . Diese dre i große n Entwicklungsreihen : Kartellierun g unte r de m Schut z der Zölle, Abstrom der Kapitalien in wenig entwickelte Gebiete, gegenseitige intensive Verflechtung de r nationalen Kapitalien haben eine ganz neue Situation geschaffen. Vo n da ab ist die Welt durc h das Kapital organisiert. Dies e Organisation de s Kapitals ist es in erster Lini e (nicht di e Verbreiterung de r Anlagesphären, welche nur für gewisse Zeit wirken könnte), welche die Krisen in ihrer Bedeutung so außerordentlich vermindert hat. Die sozialistische Theorie räum t diese r Selbstorganisation de s Kapitals wenig Bedeutun g ein . Immerhin hat z.B. O.Bauer 7 sich dahin ausgesprochen, da ß in einer wach senden Volkswirtschaft auc h ohne Erweiterung de s Marktes, ohne Übersee104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ische Anlagesphären, be i entsprechend proportionaler Verteilun g de s Kapitals au f di e einzelnen Anlagesphären , Krise n nich t eintreten müßten . Dies e Selbstorganisation de r kapitalistischen Produktion , welch e zugleich fü r den Waren- un d fü r de n Arbeitsmark t erfolgt , ha t da s vo n Mar x entworfen e Entwicklungsschema für die kapitalistische Wirtschaft nicht nur weitergebildet, sonder n entscheiden d umgeform t un d eine neue Lage für die Arbeiterschaft geschaffen . Die erste ausführliche Formulierun g de s Standpunktes, den die sozialistische Arbeiterbewegun g gegenübe r de m Imperialismu s einnehme n müsse , findet sic h scho n bei O . Baue r und Hilferding 8. Baue r betont , da ß nur auf den erste n Blick der Imperialismus de r Arbeiterschaft vorteilhaf t erscheint , da er den Abfluß de s Kapitals in die Produktionssphäre beschleunigt und die Umlaufzeit de s Kapitals verkürzt un d aus diesen und andere n Gründe n di e Nachfrage nach Arbeitern steigert, wie er auch durch Import von Lebensmitteln die Kaufkraft de s Lohnes erhöht. Hingege n bedeutet er zugleich wege n seiner Verbindun g mi t Schutzzölle n di e Ablenkun g vo m Kapita l i n Indu striesphären mi t hohe r organische r Zusammensetzung , als o geringe m Ar beitsfassungsvermögen; e r begünstigt die Preispolitik de r Kartelle, er bringt hohe Finanzzölle und indirekte Steuern und hat schließlich die Verringerung der Produktionskosten de s Goldes und damit Entwertung des Lohnes (Verminderung des Reallohnes) zur Folge. Diese Argumente finden wi r bei Hilferding wieder. Das Proletariat, führt Hilferding aus , hat ein Interesse an der Ausdehnung des inneren Marktes; diese kann nur bei wachsendem Arbeitslohn und infolgedessen steigende r Nachfrage nach Konsummitteln erfolgen ; der wachsend e Mark t steiger t wiede r di e Arbeitslöhne , s o da ß als o da s Wachstum de r Wirtschaft zugleic h i m Interesse de r Arbeiterschaft erfolge n würde. Hingegen liegt das Interesse der Unternehmer eher bei der Steigerung der Produktionsmittelindustrien . Den n di e Fertigfabrikatindustrie n sin d nicht kartellierba r un d di e Akkumulationsrat e i n ihne n is t infolg e starke r Konkurrenz niedrig. Die Unternehmer fordern daher Ausdehnung des äußeren Marktes , da s Proletaria t mu ß sic h fü r di e Intensivierun g de s innere n Marktes einsetzen . Solang e der Schutzzoll di e Industrieentwicklung i m Innern wachrufe n un d beschleunige n sollte , konnte n sic h di e Arbeiter dami t einverstanden erklären . Den n diese Politik schädigte nur die Kleingewerbe treibenden, nich t die Arbeiterschaft. Mi t dem Funktionswandel de s Schutzzolls erst verliert der Schutzzoll seine Bedeutung für die Kräftigung des inneren Marktes . E r hindert di e Entwicklun g de r Arbeitslöhn e un d dami t di e Kaufkraft de r einheimischen Bevölkerung. E r führt zum Imperialismus, und daher mu ß da s Proletaria t sic h de r moderne n Schutzzollpoliti k gegenübe r anders verhalte n al s Marx un d Engels . „Sowenig die Überzeugung, daß die Politik des Finanzkapitals zu kriegerischen Entwicklungen un d damit zur Auslösung revolutionäre r Stürm e füh ren muß, das Proletariat von seiner unerbittlichen Feindschaft gege n den Militarismus und die Kriegspolitik abbringe n kann, ebensowenig kann es, weil 105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

schließlich die Expansionspolitik des Kapitals die mächtigste Förderin seines schließlichen Sieges ist, diese Politik unterstützen. Umgekehrt kann vielmehr der Sieg nu r au s de m beständigen Kamp f gege n dies e Politi k hervorgehen , weil nur dann das Proletariat der Erbe des Zusammenbruches werden kann, zu dem diese Politik führen muß, wobei es sich aber um einen politischen und sozialen, nich t um einen ökonomischen Zusammenbruch handelt, der überhaupt keine rationelle Vorstellung ist. "8a - Kan n das Kapital keine andere Politik machen (heißt es weiter), als die imperialistische, so kann das Proletariat nicht mi t eine r frühkapitalistische n (Freihandel ) darau f antworten . Den n diese ist überwunden. Di e Antwort de s Proletariats auf die Wirtschaftspoli tik des Finanzkapitals, den Imperialismus, kann nicht der Freihandel, nur der Sozialismus sein. Nicht Schutzzoll ode r Freihandel, sonder n weder Schutzzoll noc h Freihande l sonder n Sozialismus . De r Sozialismu s . . . wir d we sentlicher Bestandteil der unmittelbaren praktischen Politi k des Proletariats. Beim Vergleich mi t de r Brüsseler Red e von Marx fällt auf , da ß von Ott o Bauer un d Hilferdin g di e höher e Phas e de s Kapitalismu s bekämpf t wird , trotzdem ja der Durchgang durch sie das Ende der kapitalistischen Wirtschaf t häherbringen müßte , wen n ma n da s Entwicklungsschem a nac h Mar x auf recht erhält. Niemals hat sich Marx, noch hat sich die sozialistische Partei abhalten lassen, mit einem Teil des Bürgertums gemeinsame Sache zu machen, denn wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. So kann Marx, ohne Mißverständnissen ausgesetz t z u sein , formulieren : „I n diese n revolutionäre n Staaten stimme ich für den Feihandel." Die Ablehnung der imperialistischen Politik müßt e also aus dem sozialistischen Gedankengan g herau s anders begründet werden . Die Begründung is t bei Hilferding angedeutet , wenngleic h nich t zur vollkommenen Klarhei t gebracht. E s ist gesagt, daß der Sieg des Proletariats nur aus dem beständigen Kamp f gege n dies e Politi k hervorgehe n kann , e s wird angedeutet, daß dieser Kampf ein politischer sein müsse, weil ein „Ökonomischer Zusammenbruch überhaupt keine rationelle Vorstellung ist". Die Selbstorganisation de r kapitalistische n Wirtschaf t is t als o auc h fü r Hilferding , wenngleich nicht ausdrücklich gesagt, die neue, große Tatsache der Entwicklung. Rechnet e Mar x noc h mi t de n Krisen , al s de n erschütternde n Todes kämpfen de s Kapitalismus , sa h e r jede Kris e al s Etapp e au f de m Weg e zu r Konzentration de s Kapital s un d dami t zu r Steigerung de r Widersprüche i n der kapitalistische n Wirtschaft , s o ist dies e Vorstellung nich t meh r mi t de r Realität vereinbar. Rei n ökonomisch heb t sich der Kapitalismu s nicht selbst auf - di e gesellschaftliche Ordnun g wir d nich t z u en g für di e Produktions kräfte, dies e sprengen nicht die Fesseln ihre r gesellschaftlichen For m - , die neuen Tatsachen der Wirtschaft zeige n vielmehr die Möglichkeit einer Regulierung, di e Möglichkeit eine r regulierte n staatskapitalistische n Wirtschaft . Die automatische Weiterentwicklung de r Wirtschaft stabilisier t diese, macht sie widerstandsfähiger, stärker . De r Sozialismu s sieh t sic h nicht , wi e noc h Marx in der Frage der Getreidezölle, in der Lage, zwischen reaktionärer und 106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

revolutionärer Entwicklun g z u wählen, seit es in der Wirtschaftspolitik die sen Kampf nicht mehr gibt und alle Triebkräfte des Kapitalismus auf Regulierung, mi t harmonische r Berücksichtigun g alle r besitzenden Schichten , zie len. Eine r solche n Entwicklun g gegenübe r wir d de r voluntaristisch e Ein schlag gerad e im radikalen Sozialismu s notwendigerweis e stärker , währen d der revisionistische , reformistisch e Sozialismu s de n Standpunk t vo n Mar x übernimmt un d (mit dem Vorbehalt andere r Motive) die Situation un d ihre Entwicklungstendenz akzeptiert . Dieser voluntaristische Einschlag, der sich in den verschiedensten Erscheinungsforme n zeigt - als syndikalistische Taktik gegenüber den erstarkenden Unternehmerverbänden; al s Progapanda fü r den Generalstreik , d a vereinzelt e Aktio n z u machtlos ; i n de r politische n Sphäre bald als Ablehnung de r Parteipolitik, sofer n diese Trägerin reformi stischer Gesinnung , bal d wiede r al s Befürwortung de r radikalsten , revolu tionären inneren Politik -, de r sich hier bei Hilferding i n der Vertretung der sozialistischen Idee gegen den Imperialismus ankündigt, ist ein Symptom für diese grundlegend e Wandlun g de r Lage . E r ist Sympto m fü r di e Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen Kapital und Proletariat und dafür, da ß der automatisch e Verlau f de r Entwicklun g nac h de n neue n Tatsache n di e Stabilität de s kapitalistische n System s steigert . Das oben bereits gestreifte Ökonomische Argument gegen den Imperialismus ist in der letzten Zeit (vor dem Kriege) besonders stark betont worden. Der Kapitalexport vermindert den inländischen Lohnfonds. Indem das Kapital in die ganze Welt auseinanderfließt und sich neue Ausbeutungssphären erschließt, setz t e s die Arbeiterschaf t de r entwickelte n Industrielände r matt . Wenn die englischen Fabrikanten ihr e Konkurrenten schlagen , s o haben davon die britischen Arbeiter keinen Vorteil. Vielmehr würde sich bloß der britische Kapitalist mehr und mehr zum Rentner entwickeln, de r von ausländischen ode r koloniale n Zinse n lebt , währen d de r britisch e Arbeite r sehe n müßte, wi e e r Arbei t bekäme 9. Derselb e Gedankengan g finde t sic h dan n gleichfalls i n Abhandlunge n de r „Neue n Zeit" , di e während de s Kriegs er schienen sind . Dari n wir d de r Kolonialpoliti k gegenübe r ei n ähnliche r Standpunkt eingenomme n wi e seinerzeit vom englischen Liberalismus . Kolonien - wir d ausgeführt - förder n nich t die wirtschaftliche Entwicklun g ei nes Landes, sondern hemmen sie eher; auch entscheide der Besitz von Kolonien noch nicht über ihren Markt. Der „Sinn" der Kolonien besteht vielmehr lediglich in großen Profiten für die Unternehmer, deren Kartellen sie die Kartellrente sichern 10. Dahe r strebe n nu r Industrielände r au f eine r gewisse n Stufe der Entwicklung unte r dem Einfluß de s Kartellkapitals Besitz von Kolonien an, während Lände r mit höher qualifizierter Industri e in erster Lini e am Absatz nach Industrieländern interessier t sind. Die technische und wirtschaftliche Entwicklun g würd e also zur engeren Verbindung gerad e der Industrieländer untereinande r führen , währen d di e Bestrebunge n de r rück ständigen und kartellierten Industriezweig e diese r Entwicklung i n den Weg träten. Der Imperialismus sei daher gar nicht die „höchste Entwicklungsstu 107 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

fe" de s Kapitalismus . I m allgemeine n drück e vielmeh r de r wirtschaftlich e Imperialismus di e Tendenze n de r rückständige n Industriezweig e un d de r Kartelle aus , di e au f eine r gewisse n Stuf e de r Entwicklun g z u Fessel n de r Produktivkräfte werde n usw. 11 . Au s dieser Auffassung heraus , welche frei lich im Kreise der revisionistischen Richtung - namentlich von Schippel und Quessel - seh r bekämpft wird, folgt dann natürlich um so mehr ein voluntaristischer Einschlag. Denn die sich selbst überlassene Entwicklung de r kapitalistischen Wirtschaft is t dann nicht zielstrebig zur Selbstaufhebung au s ökonomischer Gesetzmäßigkeit. Sie schlägt Wege ein, welche eine Steigerung des Wachstums de r besitzende n Schichte n mi t gleichzeitige r Festigun g ihre r ökonomischen Positio n bedeuten . Gerad e der Imperialismu s verringer t di e Schwere der Krisen, stabilisiert das Wirtschaftssystem un d führt ökonomisch nicht de m Abgrund e zu . Au f de r Basi s de r Ausbeutun g primitivere r ode r wehrloser Völkerschafte n ruh t da s neu e imperialistisch-kapitalistisch e Sy stem. Seine Standfestigkeit wächs t durch die politische Übermacht des Mutterlandes gegenüber dem Kollonialland. Indem der Kapitalismus - müßt e die Konsequenz eine r solche n Auffassun g sei n - wiede r i n ei n politische s Zwangssystem mündet, entwindet er sich auch der Selbstbewegung des ökonomischen Prozesses . Die Bedeutung diese r Wandlun g fü r di e sozialistische Takti k kan n nich t gut überschätz t werden . Den n wen n di e Stabilitä t de s kapitalistische n Sy stems wächst, so ist der günstigste Moment für die sozialistische Aktion nicht eine fern e Zukunft , sonder n di e Gegenwart . Di e Entwicklun g dar f dan n nicht sich selbst überlassen bleiben, sondern es muß in ihr das Proletariat stets seine Interesse n wahrnehmen , e s muß scho n jetz t sein e „Komponent e de r Entwicklung einzeichnen" 12. E s muß den Sozialismus „stückweis e realisie ren", e s mu ß sic h ständi g i n de r Revolutio n fühle n un d danac h handeln . Konnte sich das Proletariat auf Basis der Marxschen Anschauung selbst schulen, disziplinieren , i n seinen Organisatione n un d i n seinem Kamp f mi t de n Unternehmern sic h für den „letzte n Schlag" vorbereiten , s o ist die Situation des Kampfes , un d zwa r de s prinzipielle n un d endgültige n Kampfes , jetz t ständig gegeben. Das, was sich in der ganzen Welt als social unrest so deutlich vor dem Kriege fühlbar machte , is t nur ein Symptom dafür, da ß die ökonomische Situation de r des Frühkapitalismus - mi t de m weiten Abstan d zwi schen Kapitalmacht un d Leistungsfähigkei t de s Proletariats - wiede r analo g geworden ist . S o sehr, absolu t genommen , di e Kräfte de r organisierten Ar beiterschaft gewachse n sei n mögen - relati v sind sie zurückgeblieben. Dies e Verschiebung stärk t di e Tendenze n zu r „direkte n Aktion " i m weiteste n Sinne dieses Wortes, welche nicht mehr einen Zwischenerfolg anstrebt , sondern sich scho n als Beginn de r „endgültige n Auseinandersetzung " begreift . Es bedarf keine s besonderen Nachweises , daß die sozialistischen Parteie n aller Länder vor dem Kriege diese von Bauer und Hilferding formuliert e ablehnende Haltung gegen Schutzzollpolitik und gegen den Imperialismus eingenommen haben, daß sie alle Maßnahmen der Handelspolitik unte r diesem 108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Gesichtspunkt betrachteten . Wenngleic h sic h da und dort - i n revisionisti schen Kreisen - selbs t doch vereinzelte Anhänger des Schutzzollsystems fanden13, s o wurde n Schutzzoll , ebens o wi e Militärkredite , stet s abgelehnt . Darin wa r ebensowenig ein e Meinungsverschiedenheit vorhande n al s in der Ablehnung indirekte r Steuern ; und nirgends finden wi r eine Unterstützung der imperialistischen Handelspoliti k au s der Motivierung, wi e sie Marx fü r den Freihande l i n Englan d un d fü r de n Schutzzol l i n Deutschlan d gibt . Bei diese r Einmütigkei t de r sozialistische n Stellungnahm e z u Fragen de r Handelspolitik spiel t nebe n de n ökonomische n Interesse n de r Arbeiter schaft, nebe n de r Furch t vo r eine r Stärkun g de s kapitalistische n System s noch de r Umstan d mit , da ß die sozialistische Theorie diese Handelspoliti k als Ursache für die bedrohliche Verschärfung de r politischen Lage betrachtete. Di e imperialistische Politi k bedroht e nach sozialistischer Auffassun g di e Welt mit dem Krige und gefährdete dadurch die internationale Solidarität des Proletariats. Insofern nu n bei fortschreitender wirtschaftliche r Entwicklun g die Arbeiterschaf t trachte n mußte , di e Mitte l ihre r Aktio n z u vermehren , mußte sie auch danach trachten, ihr e Organisation au f internationaler Basi s wirksam z u machen . Dies e international e Aktion , da s Zusammengehörig keitsgefühl de s Proletariats alle r Industriestaaten , mußte n i n einem Kriege , der die Arbeiterschaft de r europäischen Länder in feindlichen Schlachtreihe n einander gegenüberstellte , au f da s ärgste gefährdet werden 14. Di e Bekämpfung de s Kriege s ist (in de r sozialistischen Auffassung ) di e Konsequenz des proletarischen Klasseninteresse s un d daher (bei der Auffassung de s Sozialismus über Kriegsursache n i n der Gegenwart) ei n weiteres Motiv fü r di e bestimmte Ablehnung der Schutzzollpolitik, de s Imperialismus. Die Bekämpfung des Schutzzolls ist so in der Gegenwart zu einer prinzipiellen sozialisti schen Forderung geworden - den n sie folgt unmittelbar aus der internationalen Solidarität de s Proletariats, welch e durch die Schutzzollpolitik zerrisse n zu werde n droh t—, s o sehr sich die Theoretiker de s Sozialismus auc h noc h immer a n die Wort e vo n Mar x halte n mögen .

Die Mitteleuropa-Diskussio n i n de r Arbeiterbewegung 1915/1 6 Diese eindeutig e Positio n de s Sozialismus 15 is t durc h de n Krie g au f da s schwerste erschüttert worden. In früheren Zeite n konnte man noch der Meinung sein, daß die Gliederung der sozialistischen Parteien in einen radikalen und einen revisionistischen Flüge l eben nur sichtbarer Ausdruck der problematischen Situatio n sei , i n welche die Realiserung de r sozialistischen Idee n führen müsse . Denn sie muß in der Realität wirken, welch e sie verneint, si e muß an einem System arbeiten, da s sie überwinden wil l und durch ihre Mitarbeit anerkennt, vielleich t soga r kräftigt. Ma n konnte glauben, da ß die der Wirklichkeit nahen , di e Realität liebenden, di e ungeduldigen un d die mora109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

lisch nachsichtige n Persönlichkeite n i m sozialistische n Lager , da ß Men schen, welche n de r Dran g z u nützliche r Tätigkei t eingeboren , ihre r Natu r nach revisionistisc h dachte n - währen d di e unbedingten , di e härteren un d schärferen Naturen , di e mißtrauisch jed e Berührung mi t de r „bürgerliche n Welt" fürchteten, al s Gefahr eines Sündenfalls und einer Verstrickung in gefährliche Verlockungen, in den Reformen bereits die Möglichkeit des bloßen Reformismus sahe n und daher das Prinzip in seiner Reinheit erhalten woll ten. Ma n konnt e annehme n - de r gesprochene n un d gedruckte n Ideologi e nach -, da ß in allem, was als Sozialismus in Erscheinung trat, die eigentliche Idee und die strenge Gesamtanschauun g de s ökonomischen Prozesses , wi e sie Marx erstmals prägte, bestimmen d war, wen n man hinter allem, was gar oft als Gemeinplatz in Erscheinung trat , noc h die Linie aus dem großen Sy stem herausfühlte. Vielleicht ist gerade eine Einzelfrage, wi e Handelspolitik, deren Entscheidung ja doch nicht außerhalb einer Gesamtanschauung erfol gen kann , a m beste n geeignet , u m de n derzeitige n Gehal t de s „sozialisti schen" Denkens ins Bewußtsein zu heben, die Frage zu beantworten, welche nicht durch den Hinweis auf die äußere organisatorische Einheitlichkeit erledigt ist, ob und inwieweit heut e noch die sozialistische Idee in dem, was ihr wesentlich, aufrechterhalte n wird ? Wenn wir eine solche Frage aufwerfen, dar f uns auch die subjektive Überzeugung der als Sozialisten auftretenden Persönlichkeiten nicht als Kriterium ausreichen (den n dies e kan n nu r z u leich t au f eine m Mißverständni s beru hen), sondern es ist zu fragen, o b all das Neue und Seltsame, welches wir hören, noch aus der großen Gesamtanschauung stammt , in der Marx die kapitalistische Welt gesehe n hat, o b es noch als Verlängerung de r Linien gedeute t werden kann , i n di e Mar x di e wahr e Entwicklun g stilisierte . Das Gesamte der handelspolitischen Lag e nach dem Kriege ist bisher noch kaum Gegenstand der Diskussion. Nu r läßt sich als allgemeinste Linie doch feststellen, da ß ein e stärker e Tenden z zu m freie n Hande l al s notwendig e Konsequenz der ökonomischen Bedingungen nac h dem Kriege (auf soziali stischer Seite ) betrachtet wird. Hat sich doch das Preisniveau für agrarisch e Produkte s o weit vom Friedenszustand entfernt , da ß die Voraussetzungen , unter dene n seinerzei t di e Zölle beschlosse n wurden , gänzlic h weggefalle n sind. Di e Kriegskonjunktur bedeutet - auc h fü r di e ersten Jahr e nac h de m Kriege- andauernd hohe Weltmarktpreise. Meinte man anfangs, daß die unverkäuflich geblieben e russisch e Ernt e eine n starke n Druc k au f di e Preis e ausüben werde , s o dürfte dies e Annahme jetzt nich t meh r aufrechterhalte n werden, da auch in Rußland die Produktion durc h die Kriegswirkungen au ßerordentlich verminder t wurd e un d als o di e Ergebniss e de r russische n Agrarwirtschaft zu m größten Teil im eigenen Land verbraucht werden müssen. Die ganze Weltproduktion hat offenbar während des Krieges eine erhebliche Verminderung (durc h Abziehung der Arbeitskräfte i n die Armeen und die Kriegsindustrie n de r neutrale n Länder) , de r Konsu m hingege n ein e er hebliche Steigerung erfahren. Di e notwendigen Rentablierungsarbeite n be 110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

deuten wiederu m Beanspruchun g vo n Arbeitskraf t i n Gewerb e un d Indu strie, so daß mit hohen Preisen für Agrarprodukte wohl noch für längere Zeit gerechnet werden muß, denen überall dort, wo in erster Linie die eigene Arbeitskraft de s Grundbesitzers und seiner Familie verwendet wird, keine entsprechende Steigerung der Kosten gegenübersteht. Dazu kommt noch, daß ja theoretisch Deutschlan d sei t Kriegsbegin n Freihandelslan d fü r Agrarpro dukte ist, so daß es sich gar nicht um Schaffung eine s neuen Systems, sondern um Beibehaltung de s jetzt geltenden handelt. Da auch aus anderen Gründen die Stellungnahm e i n handelspolitische n Frage n vo n de r Dauer , de m Aus gang des Krieges und der politischen Situation nach demselben abhängt, hätten sich offenbar die sozialistischen Parteien allerorten auf die stärkere Betonung de s freihändlerischen Gesichtspunkte s beschränkt , wen n nich t unge fähr i m Frühjahr 191 5 (anknüpfend a n längst verschollene Pläne einer Ausdehnung des Deutschen Zollvereins auf das Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie) die Idee einer Wirtschaftsgemeinschaft zwische n Deutschland und Österreich-Ungarn mit der Tendenz, andere kleinere Staaten anzugliedern, aufgetaucht wäre , eine Idee, welche bereits eine reiche propagandistische, auc h wissenschaftliche Literatu r gezeitigt hat und mit der sich daher auch die sozialistischen Parteien auseinandersetzen mußten. Die Diskussion, welche sei t de m Erscheine n de s Naumannsche n Buche s „Mitteleuropa " [1915] einen besonders großen Umfang angenomme n hat, is t noch im Fluß, läßt abe r di e Hauptgesichtspunkt e bereit s deutlic h hervortrete n . . . 16 Wir sehe n nu n überraschenderweise , da ß gerad e au f sozialistische r Seit e sich der anfangs etwas mißtrauisch betrachtete Plan einer Wirtschaftsgemein schaft rasc h zahlreiche Anhänge r geworbe n hat . Zuma l Vertrete r de r deutschen sozialdemokratischen Parte i in Österreich und der sozialistischen Ar beiterpartei i n Ungarn haben sich immer deutlicher dafür eingesetzt . Insbe sondere hat seit dem Erscheinen des Naumannschen Buches „Mitteleuropa " die Bewegun g groß e Dimensione n angenommen . Aufgrund de r bisherige n Publikatione n könne n di e vo n sozialistische r Seite für di e Wirtschaftsgemeinschaft vorgetragene n Argument e folgender maßen zusammengefaß t werden 17: Die Frage , o b di e sozialistische n Parteie n sic h überhaup t mi t de m Pro gramm Mitteleurop a z u befassen und dazu Stellung zu nehmen hätten, mu ß bejaht werden, und zwar muß die Politik der Partei einheitlich und eindeutig sein. Man kann nicht „mit einer mürrischen Miene negative Abstinenz übend von der Sache wegschleichen"18. Die Verpflichtung, al s große Partei Stellung zu nehmen, sich nicht selbst auszuschalten, steh t am Beginn der Diskussion fest. Die Entscheidung fü r Schutzzol l ode r Freihandel is t für de n Sozialismu s keine prinzipielle Frage 19. I n eine m gewisse n Umfan g ware n di e Sozialde mokraten i n Österreich imme r für eine n gewisse n Schut z (ζ. Β . zugunsten der Farbenindustrie). Di e Stellungnahm e kan n dahe r nich t schematisch er ­ folgen, sonder n nur nach Prüfung de r Sachlage. Nun zeigt die Entwicklun g 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ein Hinstrebe n zu m größere n Wirtschaftsgebiet . Ein e solch e Entwicklun g liegt aber ganz auf der Linie zur geordneten Weltwirtschaft , zu r Internationale. Dahe r is t 1. di e Wirtschaftsgemeinschaf t anzustrebe n al s ein e höher e Organisa tionsform, di e erhöht e Gegenwartssicherhei t un d Zukunftshoffnun g auc h für de n Arbeite r i n sic h birgt 20. Zwa r wir d i n eine m Ate m vo n demselbe n Redner gesagt, di e Wirtschaftsgemeinschaft gleich e dem Kartell, un d „Kar tell is t Ausbeutung , vielleich t ein e erhöht e Ausbeutung , abe r andererseit s eine neue Organisationsform, un d diese begrüßen wi r als die Schale, in de r unser Kern reifen muß " - als o ein Anklang a n die Formulierung vo n Marx, der für Freihandel stimmte, weil er in der revolutionären Lini e lag. Di e beiden Gesichtspunkt e streite n hie r miteinander : Di e Anhänge r de r Wirt schaftsgemeinschaft trete n für sie ein, weil sie ökonomische Vorteile bringt , zugleich aber auch, trotzdem sie weitere erhöhte Ausbeutung bedeutet. Über die unmittelbare n Wirkunge n de r Wirtschaftsgemeinschaf t is t dahe r kein e rechte Klarhei t vorhande n - un d da s wird auc h zugegeben . 2. Immerhi n wir d al s ausschlaggebender Vortei l di e größere Wirtschaft lichkeit des größeren Wirtschaftsgebietes bezeichnet 21. Zwar meldet sich sofort da s Bedenken, da ß wi r hier eine r grundsätzlich neue n Situation gegen überstehen, dere n Wirkun g nich t ohn e weiteres mi t de r Frage , welch e Be deutung beim Entstehen des Kapitalismus die Größe des Wirtschaftsgebiete s spielt, verwechsel t werde n darf . Den n gerade in der sozialistischen Auffas sung spiel t de r Umstan d ein e groß e Rolle , da ß da s Wirtschaftsgebie t ein e wirtschaftliche Einheit wird. Daher stammt ja die ganze nationale und staatliche Ideologie in der sozialistischen Auffassung. Auc h die Vertreter der Wirtschaftsgemeinschaft verkenne n dahe r nicht , da ß e s sic h hie r u m zwe i ge schlossene Zoll- un d Wirtschaftsgebiete mi t ganz besonderer Organisation , gleichsam um die Verschmelzung zweier ausgewachsener Organismen handle 22 . E s ist diese Frage - wa s die Entwicklung zweie r hochentwickelter Indu striestaaten bedeut e - bishe r theoretisc h un d praktisc h noc h a m wenigste n diskutiert. I n ihr liegen meine s Erachtens wesentliche Schwierigkeiten. Au f sie wir d jedoc h nich t weite r eingegangen . (Nich t einma l di e naheliegend e Frage wird aufgeworfen, o b nicht die Nachbarlage bereits eine derartige enge Wirtschaftsbeziehung schaffe , da ß ein e weiter e gegenseitig e Bevorzugun g das bereits erreichte Maß des Warenaustausches nicht wesentlich zu steigern vermöchte.) 3. Di e größer e Wirtschaftlichkei t de s größeren Wirtschaftsgebiete s mu ß sich um so mehr zeigen, wir d weiter argumentiert, j e größer das Gebiet de r Wirtschaftsgemeinschaft. Dahe r is t di e Einbeziehun g Bulgarien s un d de r Türkei unumgänglich notwendig. Nu r dadurch kann Mitteleuropa agrarisc h autark werden. Auch würden auf die Weise die Agrarzölle an Boden verlieren. (Das wäre allerdings nur der Fall, wenn der Export von Agrarprodukten aus de n Balkanländer n un d de r Türke i nac h Deutschlan d zollfre i erfolge n würde, den ganzen Bedarf zu befriedigen vermöchte und das System der Ein112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

fuhrscheine fallengelasse n würde . Abe r dies e Frag e wir d nich t diskutiert. ) Auch für die Industrie ist es besser, je größer das Wirtschaftsgebiet- denn ein größeres Wirtschaftsgebiet is t an sich bereits eine Annäherung zum Freihandel. Je größer das Wirtschaftsgebiet, dest o weniger ist es „nötig", die einzelnen Industrien zu schützen. Je größer und ausgeglichener es ist, desto leichter kan n e s di e Tendenz zu m freie n Hande l annehmen . Wen n ei n kleine r Staat, wie die Schweiz, drei, vier Industrien hat, aufgrund deren er exportiert und eigentlich industriell lebt, dan n muß er diese wenigen Industrien verteidigen. Von diesen allein hängt ja sein Gedeihen ab, er muß sie schützen und muß Schutzzöll e schaffen 23. . . 5. S o eng di e Annäherung handelspolitisc h gedach t ist - bi s zur völlige n Verschmelzung de r Wirtschaftsgebiet e - , si e „darf " nich t ein e „militaristi sche" werden. Der Gedanke der „Schützengrabengemeinschaft", wi e er von Naumann formuliert wurde, wird von sozialistischer Seite entschieden abgelehnt. Diese s ganz e Proble m „müss e al s rein e Wirtschaftsfrage " behandel t werden24. Auc h ei n andere r Redne r trit t fü r di e „Schaffun g eine s einheitli chen große n Wirtschaftsgebietes " ein , abe r ohn e offensive n Gedanken 25. Desgleichen Victo r Adler 26. Den n di e Schützengräben solle n beseitigt un d zugedeckt werden; weder militärisch, noch politisch, noch wirtschaftlich sol l die Wirtschaftsgemeinschaft ein e Offensivstellung einnehmen . Dies e „For derungen" verneinen den Zusammenhang von Wirtschaft und Politik, halten „reine Wirtschaftspolitik " fü r möglic h - währen d bishe r i n de r sozialisti schen Argumentation gerade dieser Kausalzusammenhang als ein unentrinnbarer, notwendiger betont wurde: Schutzzollpolitik, Kartelle , Schutz des Inlandmarktes, hoh e Inlandspreise , Dumping , aggressiv e Wirtschaftspolitik , die aggressive äußer e Politik erzwingt , sin d ja in sozialistischer Auffassun g notwendige Gliede r eine s einheitlichen wirtschaftspolitische n Systems . Ei n anderer Redne r is t scho n konsequenter : E r „sieh t nich t ein , waru m nich t auch eine Schützengrabengemeinschaft geschlosse n werden soll", besonder s wenn ma n den Balkan auc h dafür gewinne . Ein e solche Schützengrabenge meinschaft würd e j a blo ß defensiv , nich t offensi v sein 27. 6. Di e Rückwirkung eine r solchen Wirtschaftsgemeinschaft au f die übrigen Staaten, namentlic h di e Beziehungen z u den jetzt feindlichen Mächten , werde übertrieben. Zunächst wird die Gefahr, daß die ganze Idee in ein hochschutzzöllnerisches Fahrwasse r gerate , meis t überschätzt . Solch e Forme n muß man natürlich bekämpfen 28. Aber „je größer das Machtgebiet, je kräftiger e s ist, u m so geringer di e Gefahr , da ß e s sich gege n da s übrig e Europ a wendet" (!) 29 . Au s diese m Grund e wir d - wen n di e Äußerun g Adler s i m Namen der gesamten Partei gemacht ist - di e Zugehörigkeit des Balkans zur Bedingung gemacht. Ei n solches Bündnis als aggressiv aufzufassen, lieg t gar kein Grun d vor . I m Gegenteil , e s sin d di e Wirtschaftsgemeinschafte n (warum wird dann doch immer der Zusammenschluß zu Imperien beklagt?), als welch e di e analoge n Bestrebunge n de r Ententemächt e dan n aufgefaß t werden müssen, eine „Vorstufe zu r Organisation de r Welt" 30 . Di e vor dem 113

8 Lederer , Aufsätz e

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Kriege vielfach vertreten e Anschauung , da ß di e politischen Bündniss e de n Frieden erhalten , wir d hie r in s Ökonomisch e umgesetzt . Un d selbs t wen n von den heute feindlichen Mächte n da s Wirtschaftsbündnis al s ein aggressiver Ak t aufgefaß t wird , dürfe n si e sich doc h nich t beklagen , den n de r Zusammenschluß zu Imperien zwing t Deutschland, au f dieser Bahn zu folgen . Große Ausführungen sin d dem Nachweis gewidmet , da ß Deutschland un d Österreich als letztes Glied in der Kette der Entwicklung, gege n ihren Willen in die imperialistische Abschließungspolitik hineingezogen werden 31. Es genügt demgegenüber auf Renners Ausführungen selbst 32 und die gegenwärtig sehr zeitgemäßen Abhandlunge n vo n Inama-Sterneg g z u verweisen 33, de m man wede r freihändlerische n Doktrinarismu s noc h Voreingenommenhei t gegen Deutschland und Österreich-Ungarn vorwerfen dürfte. Gerad e dieses Argument, da ß Deutschland zollpolitisc h i n der Abwehr ist, mach t Schule. So wenig wichti g e s ist, i n der neueren Entwicklun g de r Handelspolitik di e Frage nac h de m „Schuldmoment " aufzurollen , is t e s doch nich t uninteres sant, zu sehen, welche Wandlungen die Anschauungen durchgemacht haben. Damit sin d i m Wese n di e Argument e erschöpf t un d di e Anschauunge n über die Interessen des geplanten Wirtschaftsbündnisses wiedergegeben. Auf Einzelheiten, die sich um die Diskussionen herumranken, sei nicht eingegangen . . . Die Argumentation für die Wirtsclulatsgemeinschaft ist , soweit sie von sozialistischer Seite ausgeht, deshalb in sich widerspruchsvoll, wei l sie eine aus sozialistischer Auffassung herau s unzweideutig als imperialistisch zu charakterisierende Entwicklungsrichtung noc h in das Schema der traditionellen sozialistischen Politi k (di e mindestens für di e Agrarprodukte zu m Freihande l drängt un d auc h Kartellschutzzol l ablehnt ) presse n möcht e . . . Aus der Analyse des Imperialismus, wie sie vor dem Kriege gegeben wur de, geht schon die Haltung hervor, welch e der radikale Flügel der Sozialdemokratie, di e „orthodox-marxistische " Richtung , daz u einnimmt . Si e is t noch ausdrücklic h präzisier t i n eine r Auseinandersetzun g Kautsky s mi t Naumanns Buch . Di e Positio n is t schar f formulier t i n folgender Stelle 34: „Unser Charakte r al s international e un d demokratisch e Parte i weis t un s bereits unsern Weg. Wir müssen jede Niederlegung von Schranken zwische n Völkern und Staaten freudig begrüße n und unterstützen, wenn sie ohne Verletzung der Demokratie und nicht zu dem Zwecke vor sich geht, den Aufbau anderer Schranken zwischen Völkern und Staaten herbeizuführen. Di e Herstellung Mitteleuropa s wäre ein sehr zweifelhafter Schritt , wen n sie zu dem Zwecke geschähe, den Gegensatz der Zentralmächte zu ihren Nachbarn aufrecht zu erhalten oder gar zu verschärfen - wen n Mitteleuropa di e Aufgab e hätte, die Kriegspolitik im Frieden mit anderen Mitteln fortzusetzen." - Au s ökonomischen Gründe n lieg e ein Anschluß ode r eine Annäherung a n Rußland und England noch näher 35; nur eine imperialistische Politik spräche für einen vorzugsweisen Anschlu ß an Österreich. Neben diesen politischen Gefahren sprich t auch die von Naumann progagiert e Entwicklun g zu m Trust, 114 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

der das eigene Wirtschaftsgebiet ausbeute , gegen den Plan (S. 24) . - Dieselb e Argumentation finden wir bei Hilferding36. E r hebt besonders die aggressive Tendenz eine s solchen Bedürfnisses hervor , da s dem Schutzzoll i n Englan d den Sieg verschaffen würde , das Rußland geradezu für Frankreich und England reserviere n würde 37 . We r den aggressiven Charakte r leugne , gäb e sich Illusionen hin ; di e herrschenden Schichten , welch e da s Wirtschaftsbündni s machen werden, haben ein Interesse an der Entwicklung de r Industrie. Entwicklung de r Industri e se i heute ei n Teil de r Kriegsrüstun g - dahe r werd e sich jeder der mitteleuropäischen Staaten industrialisieren wollen; die jungen Industrien werde n mi t Erfol g vo n ihre n Regierunge n Schutzzol l verlange n oder behalten wollen gegen Deutschland - un d das ist dann identisch mit einer Erhöhun g de r Zollmauer , welch e gan z Mitteleurop a umschließ t . . . So geschlossen der radikale Standpunkt auf den ersten Blick aussieht, ist er doch nicht in sich widerspruchslos. Gegenübe r der früheren Haltung des radikalen Sozialismu s unterscheidet e r sich durh die kritische Beurteilung de r Vorteile eines größeren Wirtschaftsgebietes. So bemängelt Kautsky 38 die von Naumann gebraucht e Parallele von Großbetrieb und Großstaat und wendet sich namentlic h gege n di e Behauptung, da ß die ökonomische Entwicklun g das stetige Wachstum de s Staatsumfangs erfordere , wei l sie das Wirtschaftsgebiet stetig erweitere . Un d doch stammt gerad e von Hillerding un d Bauer der Hinweis auf die Notwendigkeit größerer Wirtschaftsgebiete für das kapitalistische System. Wen n auc h nicht Staatsgebiet un d Wirtschaftsgebiet zu sammenfallen, s o ist doch offenkundig da s Staatsgebiet (selbst bei freiem Außenhandel) zugleic h volkswirtschaftliche Einheit . Nu n läßt sich gewiß wieder al s Einwan d gege n di e Wirtschaftsgemeinschaf t anführen , da ß di e Bil dung des größeren Wirtschaftsgebietes in der Entwicklungsphase des Kapitalismus, nich t i m Hochkapitalismu s durc h Zusammenlegun g bereit s hoch entwickelter Industriestaaten gemeint sei. Aber auch ein solcher Einwand betont dann im Wesen blo ß Schwierigkeiten de s Übergangs, welche allerdings sehr erheblich und vom ökonomischen Standpunkt ei n Grund gegen die engere Annäherung sei n können . (Daz u komm t be i Deutschlan d un d Öster reich-Ungarn di e Nachbarlage, welch e bereits das Optimum des gegenseitigen Verkehr s un d Arbeitsteilun g herbeigeführ t z u habe n scheint. ) Gründ e und Gegengründe beweisen aber nur, daß das Argument des „größeren Wirtschaftsgebietes" zwa r in der Allgemeinheit gebrauch t werden kann, aber einer Klärun g i m speziellen Fal l bedarf. Da s Wesentlichste in diesem Zusammenhang wär e ein e Untersuchun g darüber , o b auc h ein e weitgespannt e Wirtschaftsgemeinschaft (mi t Einbeziehung der Balkanstaaten) die Wirkung des Zollsystems in wichtigen (Agrar-) Produkten aufhebt. Denn nur dann ist wirksame Spezialisierun g mi t gleichzeitige r bessere r Versorgung z u erwar ten. Wir kommen als o immer wieder zum Resultat, da ß die innere Struktur des Wirtschaftsgebietes auf der einen Seite, die handelspolitische Haltung gegenüber den außenstehenden Staate n au f der anderen Seit e über die Konsequenzen eine r solche n Annäherun g entscheidet . Vereinzelt e Untersuchun 115

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gen oder Ansätze hierzu bringt die neueste Publikation der Schriften des Vereins fü r Sozialpolitik 39. De r radikal e Sozialismu s ha t hieri n bishe r ebens o wenig geförder t al s de r rechtstehend e Flügel . E r kann nu r fü r sic h i n An spruch nehmen , i n seine n Gesichtspunkte n konsequente r z u sein . Doch werden wir auch bei der Haltung des radikalen Sozialismus in einem wichtigen Punkte eine Abbiegung seines Gedankenganges finden (immer mit den Vorbehalten, welch e fü r di e Charakterisierun g eine r große n Richtun g gemacht werde n müssen , welch e au s vielerle i widerstreitende n Elemente n zusammengesetzt ist) . Meh r ode r minde r deutlic h finde n wi r nämlic h al s Einwendung gege n di e Wirtschaftsgemeinschaft , da ß si e de r politische n Konstellation entstamme, „Fortführung der Politik mit anderen Mitteln" sei, daß sie gar nicht um ihrer ökonomischen Zwecke willen, sondern wegen der politisch engere n Verknüpfung gewoll t werde . Da s ist ein e Weiterführun g von Gedankengägnen, die wir vereinzelt in der sozialistischen Kriegsliteratu r angedeutet finden , da ß wi r de n Krie g nich t al s Resulta t widerstreitende r Handelsinteressen, sonder n al s Auseinandersetzung vo n Machtstaaten auf fassen müßten 40, fü r dere n Entfaltung , Bewährun g un d Leistungsfähigkei t im Kriege, ebenso wie für die Formen des Krieges, die Industrialisierung Bedingung sei. Die Vorstellung vom Imperialismus bekommt in dieser Auffassung notwendig einen ganz anderen Inhalt, er ist nicht mehr letzter Ausdruck ökonomischer Strömunge n un d Notwendigkeiten , sonder n zwing t umge kehrt die volkswirtschaftlichen Interesse n in seinen Dienst. Die Wirtschaftspolitik wir d zu m Werkzeu g de r Machtpolitik . I n dieser Schärfe finden wi r diese Auffassung allerding s nicht vor; immerhin liegt sie in der Konsequen z vieler Äußerungen. Ein e derartige Anschauung müßt e die politische Sphäre stärker betonen, die Eigengewicht und Eigenbedeutung neben der ökonomischen erhielte 41. In dieser Auffassung würd e das ganze Problem Mitteleuropas politische n Charakte r habe n un d demgemä ß z u beurteile n sein . Ein Resümee über den Stand der Diskussion zu geben, ist bei der Sachlage sehr schwierig. Wen n die Diskussionen schon in der „bürgerlichen Ökonomie" so außerordentlich zerfahre n sind , trotzde m hier Schutzzoll un d Freihandel noch als Prinzip vertreten werden, so darf nicht die Verworrenheit der Argumentation, da s Durcheinandergehen de r Gesichtspunkte im sozialisti schen Lager überraschen. Da ß die Anschauungen des Sozialismus sich in einer Kris e befinden, geh t darau s hervor, da ß beide Richtungen dort , w o sie ihre Position in allgemeine Anschauungen einbauen sollen, in ihrem Gedan kengefüge brüchi g werden. Di e Vertreter der Wirtschaftsgemeinschaft wol len sie „bloß wirtschaftlich" un d aus Gründen des wirtschaftlichen Vorteils ; sie fassen si e al s isolierte s Wirtschaftsproblem auf , ohn e weiter e politisch e Folgewirkungen i n der nächsten Zukunft, hingege n trotzde m al s „Vorstuf e zur Organisation der Welt", die fern am Horizont erscheint. Die Gegner der Wirtschaftsgemeinschaft betone n gerade im Gegenteil, da ß es sich um einen ausschließlich machtpolitische n Zweck handle, und fassen also ökonomisch entscheidende, ihre r Meinun g nac h schädlich e Entwicklunge n al s Folg e 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

selbständig gegebene r Machtpoliti k auf , di e ihre r Eigenbewegun g unter liegt. Beide Erscheinungen sind Symptome dafür, da ß der Sozialismus zu einer neuen Wendung drängt . Da s zeigt sic h selbst in der Behandlung diese r Detailfrage, di e ja im Rahmen der sozialistischen Auffassungen überhaupt keine prinzipielle Bedeutun g besitzt . Wenn wir diese beiden Anschauungen dann noch am Prinzip des Sozialismus konfrontieren, müsse n wir woh l z u folgendem Resulta t kommen : Die Richtung, welch e di e Wirtschaftsgemeinschaf t ablehnt , ha t ein e Traditio n und ha t eine n Zusammenhan g i n sic h selbst . Si e stell t i n den Mittelpunkt : Sorge für de n Arbeitsmarkt un d Sorge für niedrige Lebensmittelpreise. Di e Akkumulation de s Kapitals soll möglichs t i m Inland erfolgen , di e Grenze n sollen für Agrarprodukte offenstehen, de r Warenexport sol l steigen, ebens o wie der Import von Agrarprodukten. Druc k auf die Grundrente, Druck auf den Profit, höhere r Arbeitslohn - da s schwebt als Ziel dieser Politik vor. Man kann ihr vorwerfen, sie habe keinen Erfolg. Aber dieser Standpunkt hat trotz allem Linie , is t i n sic h geschlosse n un d füg t sic h eine r Gesamtanschauun g über da s Wirtschaftsleben ein . Allerdings : auch dieser Standpunk t is t nich t ganz konsequent; e r bedeutet indirekt eine Absage an alte Anschauungsfor men und drängt nach einer Revision der grundlegenden Thesen über die gesellschaftliche Entwicklung . Abe r e r ist ei n wissenschaftlicher Stankpunkt . Denn er läßt weder die Tatsachen noch die Prinzipien außer acht, wenngleich auch in ihm die kritische Situation, i n der sich der Sozialismus gegenwärti g befindet, nich t völlig überwunde n ist . Die Anhänger der Wirtschaftsgemeinschaft lege n Wert darauf zu betonen, daß Freihandel und Schutzzoll kein e „prinzipiellen Fragen" seien. Das kann aber nu r s o vie l heißen , da ß j e nac h de r Situatio n au s de m sozialistische n Prinzip heraus das eine oder andere Mittel gewählt werden müsse, und nicht bedeuten, da ß Handelspoliti k „nac h de r Situation" z u entscheide n sei , au f Grund eine r „Kenntni s der Sachlage" und wie all die Ausdrücke lauten, di e verschleiern sollen, daß man ohne Grundsatz und doch recht handeln möchte. Anstatt , wi e es Marx versuchte, di e momentane Sachlage und die „Ver hältnisse" mit dem Prinzip zu konfrontieren, werde n wir in einen Wirbeltanz der Argumente hineingezogen, die einander schnurstracks widersprechen, in einem Atem ein und dasselbe behaupten un d bestreiten, gan z nach Art von Politikern, die sich an eine Tagesforderung klammer n und deren letzte Sorge die Gründe sind , di e sic h fü r ein e „gut e Sache" scho n finde n werden . Die Argumentationen für die Wirtschaftsgemeinschaft falle n ganz aus dem Rahmen der sozialistischen Anschauungen heraus. Die Haltung aus dem sozialistischen Prinzi p verschwindet , di e Argumente de r „bürgerliche n Öko nomie" werden übernommen. Es ist kaum mehr zu spüren, daß hier „aus anderen Gründe n dasselb e gewollt wird" . Hie r is t wirklich schwe r z u sagen : Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Wie die Argumente im einzelnen, lös t sich auc h di e ganz e Stellungnahm e zu r Frag e au s de r Gesamtan 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

schauung heraus: Das Problem soll als ein „rein wirtschaftliches" behandel t werden - al s ob nicht gerade die sozialistische Auffassung wäre , daß es „rein wirtschaftliche" Situationen , ohn e Folgewirkunge n fü r di e politisch e un d ideologische Entwicklung nicht gebe. Indem dieser Standpunkt die Orientierung a m Prinzi p verliert , „Realpolitik " treibt , mein t e r ein e Vorstufe zu m Sozialismus zurückzulegen. Di e Spaltung de r Welt in Imperien, di e ökonomische Unterbauun g un d Festlegun g eine s politisc h antagonistische n Sy stems ist ihm nicht Vorbereitung z u neuem Kampf, sondern zum - Sozialis mus. Er sieht nur die Tatsache der Organisation, nicht den Gehalt derselben, sieht nur, da ß eine Ordnung geschaffe n wird , nicht , welch e Kraft un d wel ches Ziel diese r Ordnun g innewohnt . E r sieht: Di e durc h einig e Jahrhun derte unruhige, vulkanische kapitalistisch e Wel t - wir d ei n geordneter, fel senfest gefügter, allseit s gesicherter Prozeß, und blickt wie fasziniert au f die Tatsache der Ordnung schlechthin, die ihm gleichbedeutend mit Sozialismus scheint. Je weiter diese Organisation gedeih t - j e besser sie funktioniert, u m so näher scheint de r Sozialismus. Den n ma n wird j a dieses ganz e Getrieb e „nur umschalten müssen" - mi t einem „Hebeldruck" wir d man das Proletariat a n die Stelle der herrschende n Schichte n setzen . Di e Vorstellung eine s „großen Wunders" steht am Ende aller dieser Auffassungen, sofer n sie heute noch ihrer letzten Absicht nach auf Sozialismus gehen. Nicht eines Wunders im Sinne einer plötzlichen Umwälzung, sonder n einer Wandlung de s „Geistes", de r di e Wirtschaf t beherrscht . Dahe r verzichte t ma n darauf , scho n jetzt „eine sozialistische Linie in die Entwicklung einzuzeichnen", den Sozialismus „stückweis e z u verwirklichen", d a er sich j a vo n selbs t vo r unsere n Augen jetz t scho n realisiert . All e gegebene n Tatsache n sin d geschichtlic h notwendige, die gegebene Entwicklung is t die „natürliche", und da auch der Sozialismus geschichtlich notwendig, so führen die Entwicklungslinien, wel che wi r sehen , schnurstrack s i n de n Sozialismus 42.

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6. Zu r Soziologie des Weltkriegs (1915) Der nachfolgende Versuch, das Problem des Krieges aus soziologischen Gesichtspunkten herau s z u behandeln , kan n nu r mi t eine m ausdrückliche n Vorbehalt bereits jetzt publiziert werden. Im Laufe des Januar [1915] niedergeschrieben, sollten die nachstehenden Ausführungen i n kühler Objektivität einige Fragen aufwerfen, di e man bisher zu stellen versäumt hatte, offensicht lich wei l da s de r Breit e nac h ungeheuerst e Geschehe n de r Geschicht e da s Häuflein selbst der von Beruf „Unparteiischen " in allen Ländern Europas in ein Nicht s zusammenschrumpfe n ließ . Dahe r se i vorwe g gesagt , da ß sic h nachstehende Arbeit absichtlic h bemüh t hat, mitte n im Kriege schon eine n Standpunkt außerhal b desselbe n einzunehmen . Darau s folgt scho n das Bemühen peinlichste r Objektivitä t alle n kriegführende n Staate n gegenüber . Auch ist ein Urteilen über subjektives Verschulden oder subjektive Schuldlosigkeit von den folgenden Ausführungen nich t zu erwarten, nach welchen ja die Ursache n de s Kriege s z u tie f liegen , al s da ß bi s dahi n di e „Schuld " ir gendwelcher Beteiligten reichen könnte. Die Diskussion über den Anlaß des Krieges aber liegt außerhalb meine r Fragestellung un d kann wohl im gegenwärtigen Zeitpunk t überhaup t noc h nich t geführ t werden . - Hie r is t ver sucht, sic h übe r di e Kausalität , welch e zu m Krieg e führte , kla r z u werde n und manche von den Deutungen abzulehnen, mit welchen wir allzu freigebi g in den letzten Monaten beschenk t wurden. Nu r diese kausale Verknüpfun g ist Gegenstan d de r Erörterungen , wobe i nich t ausgeschlosse n werde n soll , daß eben wegen der ungeheuren Breite des Geschehens Wirkungen der einschneidendsten Ar t möglich , j a wahrscheinlich sind . Gewi ß is t historische s Geschehen als solches überhaupt nur aus seinen Wirkungen heraus zu werten und in seinem Rang zu bestimmen; weshalb hier ausdrücklich festgestellt sei, daß die nachfolgenden Betrachtungen eben nicht historisch, sondern zeitgeschichtlich gemein t sin d - al s Analyse de s kausalen Nexus , i n welchem di e europäischen Staate n zu m Krieg e gedräng t wurde n (ode r drängten) . Es ist endlich Gebot der wissenschaftlichen Ehrlichkeit , im voraus festzustellen, da ß diese Ausführungen nich t von jedem Werturteil absehen . E s ist vorausgesetzt (und daher in der Arbeit nicht weiter diskutiert), daß nur eine Ereignung, i n welcher sic h irgen d ei n sichtbarer Kulturgehalt ode r aber ein ökonomischer Sin n auswirkt , „wesenhaft " ist . Vo m Gesichtspunkte diese r Wertung aus ist es zu verstehen, wenn eine in diesem Kriege erblickte andersartige Kausalitä t al s solche (ganz abgesehe n von ihren sonstige n mögliche n speziellen Wirkungen ) mi t eine m negative n Vorzeiche n versehe n wird . Eine solch e Untersuchun g is t trot z ihre r derar t eingeschränkte n Bedeu 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

tung deshalb vielleicht nicht unwesentlich, weil ja die meisten Wertungen des Krieges von seiner Kausalität ausgehen . Der Nachweis, da ß für Deutunge n dieser Art , z . Β . Auswirkungen eine s höhere n Rassen - ode r Kultur - ode r ökonomisch-sozialen Prinzips, kein Raum gegeben ist, könnte daher wichtig sein und (in allen beteiligten Ländern) eine objektive Einstellung vorbereiten. Soweit jedoc h Wertungen und Ausdeutungen de s Krieges an die mögliche n Konsequenzen geknüpf t werden , sin d si e in dem gegenwärtige n Zeitpunk t vorweg abzulehnen . Den n es gibt keine Handhabe, u m diese in irgendeine r Richtung vorauszubestimmen, und auch sind wir anderseits wissenschaftlic h nicht verpflichtet, jede s breit und vielfältig sic h entfaltende Geschehen vornherein al s - i n diesem Verständ e - „sinnvoll " anzuerkennen . Endlich noch eines: So manchem mag es gegen das Gefühl gehen (und auch der Verfasser wei ß sich von derart widerstrebender Gefühlshemmun g nich t ganz frei), daß hier, oder überhaupt, einem Stück Geschichte von irgendwelchem Blickpunkte aus ein wirklicher Sinn, also: tiefere Rechtfertigung, abge sprochen werde. Eine wie immer motivierte Ablehnung könnte wohl voreilig und respektlos anmuten, zuma l ja doch menschliche Sinndeutung un d irdi sche Voraussicht sich nicht vermessen können, jenen letzten, möglichen Sinn zu erschließen, de r etwa jenseit s aller menschlich erfaßbare n Sinnhaftigkei t irgendeiner Phas e de s i n Menschheitsgeschicht e realisierte n Weltprozesse s zugrunde liege n mag . Demgegenüber i n Kürze nu r dies: Alle Geschichtsbetrachtung - ja , auc h eine ausdeutende Geschichtsphilosophie, di e viel tiefer angelegt ist als diese in ihrer Absicht ganz eng umgrenzten und ihrem Gegenstande nach sehr realistischen Untersuchungen - mu ß auf diesen Vorbehalt gegründet sein. Unter diesem selbstverständlichen Vorbehalt e allei n is t e s gestattet, di e Dinge de r gegenwärtigen Welt , un d im besonderen menschlich e Dinge, au s den ihnen eigentümlichen Motive n und Zielrichtungen herau s zu prüfen un d aus zeitlich bestimmten Wertungen dazu Stellung zu nehmen. Wohingegen jede andere Haltung, sofer n sie auf endgültig e Deutung in jenem letzten Sinne ausginge, allerdings unerlaubt und vermessen wäre - un d dies (wie jeder Unbefangene einräume n muß ) in völlig gleiche r Weise , o b sie gegenüber de m i n Frage stehende n Schicksa l überzeugt e Zustimmun g un d demutsvoll e Beja hung ode r abe r verzweifelte Ablehnun g zu m Ausdruc k brächte .

Kriegstechnik , Heeresorganisation un d Sozialstruktu r Wenn wir die Umformung i m Sozialen, welch e der Krie g besonders in de n ersten Wochen mit sich gebracht hat, prägnant ausdrücken wollen, s o können wir am besten an die Begriffe anknüpfen, welche Toennies für die grundlegenden sozialen Formen geprägt hat. Wir können sagen, daß sich am Tage der Mobilisierung di e Gesellschaft , di e bis dahin bestand , i n ein e Gemein 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

schaft umformte . Diese r Umwandlungsproze ß vollzo g sic h nich t blo ß i n Deutschland, sonder n gena u i n derselben Weise in Frankreich, Österreich Ungarn un d wie es scheint selbs t in Rußland und auc h in einigen neutrale n Staaten, zuletz t (wenn auc h nicht im entferntesten mi t der gleichen Intensi tät) in England. E r besteht im Wesen darin, daß alle gruppenbildenden Ein flüsse suspendiert und alles Interesse, aller Wille und alle Tat auf ein Gemeinsames gerichte t wird . Fü r die Gesellschaft is t es charakteristisch, da ß in ih r die Menschen zwar friedlich nebeneinander leben, aber nicht wesentlich verbunden, sonder n wesentlic h getrenn t sind . Di e Mensche n i n de r Gemein schaft bleibe n verbunden trot z alle r Trennungen, di e Menschen in der Gesellschaft sin d getrennt trotz aller Verbundenheit. In der Gesellschaft „finde t keine Tätigkeit statt , welch e aus einer a priori gegebene n Einhei t abgeleite t werden könnte, welche also, auch wenn sie durch das Individuum geschehen, doch den Geist und Willen der Einheit ausdrücken, . . . sondern jeder ist für sich allei n un d i m Zustand de r Spannung gege n all e übrigen " (Toennies) . In der Gemeinschaft is t neben und vor dem einzelnen die Gesamtheit al s tragende und wirkende Einhei t gegeben ; i n ihr kommen Rechtsverhältniss e und streng normierte erzwingbare Verhältnisse nicht vor, wie jede Gemeinschaft nich t in Kontrakten, sondern „wi e die Familie in Verständnissen" be gründet ist . Daß die Völker gegenwärti g i m Kriege, meh r als jemals, sozial di e Form der Gemeinschaft annehmen , lieg t darin, daß das moderne Heer mit der allgemeinen Wehrpflicht , jenseit s aller gesellschaftliche n Bildungen , eine n ei genartigen Komplex sozial ausgebildet hat, innerhalb welches alle soziale Besonderheit suspendier t ist . Wi r sage n ausdrücklic h suspendiert , zeitweis e (für di e Hineingezogenen ) aufgehoben , nich t gelöst , i n eine n andere n Zu stand übergeführt. I n diesem sozialen Komplex ist nun jedermann ers t nach dem Ganzen und als Teil des Ganzen gegeben, existiert nicht vor ihm; allerdings ist diese Gegebenheit eine durchaus zwangsweise, vom Willen des einzelnen nicht nur unabhängig, sonder n ihn, wo er entgegensteht, beugend. So schon in Friedenszeiten. I m Kriege dehnt und reckt sich das Heerwesen zum Volke au s - all e vorübergehend jemal s Erfaßte n un d ei n großer Teil de r i n Hinkunft z u Erfassenden sin d nunmehr sein Teil. E s erweist sic h das Heerwesen als eine soziale Form neben der Gesellschaft, unabhängi g von ihr, und zwar als eine universale soziale Form. Und es ähnelt mit der Mobilmachung der sozialen Form der Gemeinschaft, wei l sie unter der Bedrohung der Existenz aller , unte r Wachrufun g jede r gesellschaftliche n Kraf t zu r nationale n Verteidigung angeordne t wird , un d in diesem Fall als o die Verbindung de s nach sozialen Gruppen gegliederten Volkes in ein einheitliches Heer im Bewußtsein alle r einzelne n nich t al s Zwan g de s Staates , überhaup t nich t al s Konsequenz staatliche r Aktion , sonder n al s übermächtige s Schicksa l er scheint. Nicht als Ausdruck sozialer Solidarität, sondern gegenseitiger intensivster Abhängigkei t vo n einande r schläg t di e Gesellschaf t i n di e Gemein schaft um, verblassen alle vorher bestehenden, als fundamental empfundene n 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

sozialen Gruppen vor der unendlichen Einheit des Volkes, das in grandioser Erhebung aufsteht, den heimatlichen Boden zu verteidigen. Wir dürfen nicht so blin d sein , diese s einmütig e Zusammenstehe n auc h außerhal b Deutsch lands anders zu sehen als innerhalb der deutschen Grenzen . E s drückt sic h darin nur eine für alle identische Lage aus. Die Gemeinschaft, i n welcher die Völker Europa s gegeben sind, ist nicht die der Tat, sonder n die des Schicksals. Eine vorurteilslose Analyse, wi e sie im folgenden zunächs t zu geben versucht wird, dürfte das erweisen1. Ein e solche ist um so mehr notwendig und nach einigen Monaten des Krieges Bedürfnis, als uns sonst die Interessen des Tages, die Schlachtenbulletins und Stimmungsberichte gefangen nehmen und uns der Krieg zu m alltäglichen Milie u wird . Ware n die ersten Tage des August erfüllt von historischer Spannung, de m Gefühl, a m Wendepunkt historischer Epoche n zu stehen, s o ist man jetzt beinahe wieder unhistorisch ge worden, lebt der Situation des Tages, oder überhistorisch, und sieht nur ganz allgemeine, höchsten s geschichtsphilosophisch z u fassend e Prinzipie n i m Weltkrieg realisiert. Gerade die Publikationen dieser Art - ic h sage nicht dieses Gewichts und Kalibers, aber geschichtsphilosophischer Art und Absicht - sin d Legion , un d daru m ma g de r Versuc h nich t unangebrach t sein , da s Phänomen de s Kriege s vo n eine m Zipfel seine r Realitä t au s z u erfassen . Jede kriegsgeschichtlich bedeutsame Zeit hat ihre, sozial bedingten, wenngleich nich t sozia l verursachten, Formen . Di e Phalanx de s Hoplitenheeres, die drei Treffen Friedrich s des Großen, di e Schwarmlinie der französische n Revolution, de r Schützengraben i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert s sind di e Signatu r militärisc h besonder s charakterisierte r Epochen ; di e de r Gegenwart könne n wi r noc h nicht s o deutlich feststellen . E s wird Aufgab e der militärischen Wissenschaft sein . Nur im Umriß sehen wir sie und wolle n sie zuerst betrachten , u m späterhi n ihr e Bedingungen klarzulegen . Soviel ist klar, daß der Charakter des Krieges, selbst von den militärischen Fachleuten, nich t vorausgesehe n wurde ; di e Bedeutun g de r Aufmarsch schlachten wurde überschätzt, - hingege n wurde der Gefechtswert de r Formationen zweite r un d dritter Lini e (namentlich Landweh r und Landsturm ) unterschätzt; die Entscheidungen der ersten großen Schlachten erwiesen sich - i m Gegensatz zu früheren Kriege n - nich t als richtungsgebend für den Verlauf de s Krieges ; un d selbs t Frankreich , desse n militärisch e Literatu r (au s dem Charakter des Volkes heraus) den Aufmarschschlachten entscheidend e Bedeutung beilegt e (daru m di e Wiedereinführung de r dreijährige n Dienst zeit), zeigt sich nach den schwersten Niederlagen eines weiteren, monatelan gen, zähe n Widerstande s fähig . Di e Bedeutun g de r Aufmarschschlachte n liegt daher in erster Linie darin, daß sie über die Lage des Kriegsschauplatzes entscheiden. Auch die Taktik der Schützengräben wurde weder von militärischer Seite gewünscht, noch als Form des künftigen Kampfes betrachtet. Di e Vorschriften für Truppenführung zeige n deutlich das Hinarbeiten auf Steigerung des Elans im Angriff, und gerade die deutschen Theoretiker waren darin 122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

einig, daß die Schützengräben nicht die entscheidende Rolle spielen würden2. Das vernichtende Feuer de r modernen Waffe n abe r mi t seine r gesteigerte n Streuwirkung un d Durchschlagskraf t zwing t di e Truppen, wi e wi r überal l sehen, in die Erde hinein; Angreifer und Verteidiger werden durch Angriffswaffen un d Verteidigungsmittel einande r gleich, der Verteidiger wir d durch die Feuerwirkung seiner Waffen in der Verteidigung überlegen und zum Angreifer, de r Angreifer is t zugleich stet s in der Verteidigung; di e Umfassun g wird dahe r di e beliebtest e For m eine s entscheidende n Schlages . Umfas sungsmanöver sin d e s auch , di e bishe r fas t durchweg s di e Strategi e diese s Krieges bestimmen und somit zur ständigen Verlängerung der Fronten zwingen - die s alles gegen den Willen der Beteiligten, welche hier das Objekt der Kriegstechnik geworde n sind . Dazu kommt dann die Verwendung so ungeheurer Massen (die infolge der technischen Entwicklun g wiederu m wirklic h beweg t un d in s Gefech t ge bracht werden können), daß damit die größten Räume faktisch gedeck t und zum Kampfplat z werde n können . Da s führ t - be i immerhi n begrenzte m Raum - i m Westen zu einem einander aufreibenden Stellungskrieg, i m Osten zu eine m Hin- un d Herfluten, wei l solch e ungeheure Massen , wi e sie dort seitens Rußland s i n Verwendung gebrach t werden , augenscheinlic h i n sich eine solche Stabilität und Regenerationsfähigkeit besitzen , daß die glänzendste strategische Leistung verpufft; e s ist „als schlüge man in rinnenden Sand." (Leuthner)2a. Man wird als o wahrscheinlich di e Reichweite, Streuwirkung un d Durchschlagskraft de r moderne n Feuerwaffe n i n Verbindun g mi t de r Mass e de r Kämpfer als die entscheidenden Elemente ansehen müssen, welche die militärische Eigenart dieses Krieges bedingen. Daz u komm t al s drittes (späterhi n noch zu erörterndes) Moment die hohe Organisationsstufe, au f der die modernen Heere stehen. Die Organisation is t in ganz Europa gleichartig, wen n auch nicht gleichwertig, un d sie ist durchaus Vorbedingung de r Massenver wertung. Dami t aber hat der Krieg eine n anderen Charakter als ehedem. Er entscheidet sich nicht schon, wenn die militärische Überlegenheit eines Teiles klar hervortritt, weil nirgends die Heeresmassen als psychische Einheit gegeben sind, welche sich wirklich geschlagen fühlen können . Sie sind in der Organisation eingegliedert , un d scho n di e technisch e Entwicklungsstuf e de s Heerwesens gestattet, di e Massen bis zu ihrem letzten Teil einzusetzen un d auszuwerten. Daher kann auch, im Gegensatz zu früheren Kriegen, nirgends ein s o entscheidende r Schla g geführ t werden , da ß ein e Weiterführun g de s Krieges für einen Teil unmöglich erscheint. Der wirkliche Zwang, Frieden zu schließen, kann erst gegeben sein, wenn das Menschenreservoir wirklich ausgeschöpft ist , di e Menschenmasse n verbrauch t sind . E s hat dahe r de r mo derne Krieg wieder i n die Form des Vernichtungs-, des Ausrottungskriege s zurückgeführt, un d trot z de r vielhundertjährigen Entwicklun g de r Kriegskunst endig t dies e (aus ihren eigne n immanenten Notwendigkeite n heraus ) im Volkskrieg, de r nur mit völliger Erschöpfun g eine s Teiles sein Ende fin123 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

den kann un d dem gegenüber di e Methoden diplomatische r Aktio n schwe r eine Möglichkeit des Eingreifens bieten. Die allgemeine Wehrpflicht hat eben die Kriege wieder zu Volkskriegen in des Wortes ursprünglichster un d auch schreckhaftester Bedeutun g gemacht . Diese r Volkskrieg unterscheidet sic h nur dari n vo n seinen Vorgängern, da ß er die Massen als organisierte, woh l gegliederte verwendet , da ß die Massen Material i n der höchst entwickelte n Kriegsmaschinerie geworden sind. Gerade diese Maschinerie ist es ja - au f allen Seiten - welch e die oben erwähnte Homogenisierung des Menschen, seine Verwendung al s Material , auc h i n eine m ih m fremde n Medium , möglic h macht; die Kriegsmaschinerie ist damit die größte geschichtliche Homogenisierung von ursprünglich al s soziale Schichten vorhandenen Massen auf den Zweck de s Krieges hin . Diese Steigerung de r Kriegstechnik , Steigerun g de r verwendeten Masse n und wachsende Homogenisierung de r Massen bedingen sich gegenseitig und erwachsen aus der Natur des militärischen Apparates. Dieser hat den Zweck, im Krieg den Feind niederzuschlagen. E s gibt kein Heerwesen und es konnte nie eines geben, welches nicht diesen Zweck hatte; sobald aber ein konstanter und in seinem Wesen so einfacher Zweck gegeben ist, bekommt die Technik, welche diesem Zweck dient, eine immanente Notwendigkeit. Steigend e Leistungsfähigkeit de r Vernichtungsinstrumente und zahlenmäßige Überlegenheit sind daher dem Kriegswesen immanent. Es ist also das Heerwesen, schon aus diese m Zwec k heraus , au s seine r eigene n Immanenz , ei n dynamische s Gebilde3. Fü r di e Leistun g de s militärische n Apparate s is t ni e wesentlich , daß er absolut gut, sonder n daß er relativ besse r ist als der gegnerische, un d hier entsteht daher - lang e vor der kapitalistischen Wirtschaft - di e Form der Konkurrenz4. Jed e Steigerun g de r militärische n Leistungsfähigkei t infolg e technischen Fortschritte s beding t größer e Menschenmassen zu r Bedienun g des militärischen Apparate s un d erforder t andererseit s größer e Masse n zu r Abwehr der gesteigerten Kraft. Militärische Technik und verwendete Massen stehen - bisher 5 - i n einem Verhältnis der Wechselwirkung, wei l ja auch wiederum gesteigert e Mass e au f Vervollkommnun g de r Vernichtungstechni k wirkt. Rein vom Gesichtspunkt „militärische r Notwendigkeit" ergib t sic h daher eine fortgesetzte Steigerung in den Mitteln und verwendeten Massen. Hierbei wird die gesamte technische Entwicklung teilweise als Unterlage des militärischen Apparates in seiner wachsenden Ausdehnun g benütz t - un d nament lich ist es die seit altersher für den Krieg wichtige Verkehrstechnik, welch e in der Gegenwart ein e entscheidende Bedeutung erlang t hat , wei l ohn e sie die Bewegung der Massen nicht möglich wäre. War doch in allen früheren größeren Kriegen diese Bewegung der Massen, auch wenn sie schon vorhanden waren, di e größte Schwierigkeit (napoleonisch e Kriege!) . Der jetzige Krie g is t also ein Eisenbahnkrieg und das charakterisiert ihn ebenso wie die früher an geführten Momente , der hochgesteigerten Vernichtungstechnik, de r großen Massenentwicklung und der hohen Organisationsstufe, welch e erst durch die 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Eisenbahn möglic h geworde n sind , resp . sic h in ihr vollenden. (Eisenbah n für Munitionszufuhr , Verpflegung , Transpor t un d Verwendun g de r Mas sen.) Das Heerwese n ha t i n alle n Staate n denselbe n Charakte r angenommen . Das ist soziologisch außerordentlic h bedeutsam: daß die Struktur nicht bloß und di e Strategie , sonder n auc h di e Leistungsfähigkei t de r Heere einande r immer ähnliche r geworde n ist . Al s die Scharen der französischen Republi k mit den deutschen Heeren zusammenstießen, konnte man fühlen, hier kämpfen zwei Zeitalter miteinander; al s die germanischen Stämm e in das Römerreich einbrachen, war es die gesammelte Kraft des Volkes in seiner ganzen Eigenart, di e sich auswirkte. Auc h die Türkenkriege mögen so aufgefaßt wer den können. Und wir sehen auch: Es sind in diesen großen historischen Auseinandersetzungen nich t nu r di e militärische n Apparat e aufeinandergesto ßen, denn im Heerwesen war, wenn auch noch so abgeblaßt durch das Söldnerelement, - i n de n Persönlichkeite n de r Feldherre n un d Offizier e - de r Geist ihre r Zei t un d ihre s Volkes lebendig un d wirksam 6. Nich t al s ob das jetzt nicht der Fall wäre. Aber wir wissen noch nicht, ob es entscheidend ist. Sehen nur soviel, erstmals, daß sich über einem grundverschiedenen sozialen Überbau, be i der größten Verschiedenheit de r kulturellen Eigenart , de r beherrschenden Ideologien in allen Staaten dieselbe Heeresmaschinerie gebildet hat, welche auch imstande war, sich fast überall vergleichsweise ebenbürtig e Fachleute als Offiziere un d Heerführer und technische Truppen usw. auszubilden. Die Hinaufsteigerung de r Technik also hat überall das Heer, will uns scheinen, von seinem Untergrund losgelöst , e s ist nicht mehr in organischer Verbindung mi t de m Volk , sonder n ei n Mechanismu s geworden , welche r funktioniert. Da s is t nich t psychologisc h gemeint : Gewiß , niemal s is t da s Heer psychologisch s o eng mit dem Volk verknüpft al s gegenwärtig; un d es ist das moderne Heer (von England abgesehen) am engsten und tiefsten verwurzelt i n das eigene Volk; e s hat die Absonderung de s Heeres vom Volke durchaus aufgehört ; abe r al s Heer, al s Kriegsinstrument , is t all da s in glei chartige (wenngleich, wie gesagt, nicht gleichwertige) Energie und Kraft umgeformt; di e nationale Eigenart, de r soziologische Unterbau , di e ökonomische Basis ist gleichgülti g geworde n - ähnlic h wi e eine Baumwollspinnerei , gleichgültig o b in Amerika oder Rußland, dasselb e Garn auf denselben Maschinen leistet. Und wie die Industrie in sich eine Dynamik trägt, welche im „technischen Fortschritt " sic h auswirkt , als o „geschichtslos" , ist , wei l de r Gehalt diese r Entwicklun g selbs t kein e Entfaltung , nu r ein e mechanisch e Steigerung erfahren kann, - un d es ja auch gleichgültig ist, in welchem Material, welche r Produktion usw . dies e Steigerung erfolgt,si e nich t im Zusammenhang steht mit der kulturellen Entwicklung, welch e weder Umfang noch Richtung der Produktion vorschreibt -, s o trägt auch das Heerwesen diese n der kapitalistische n Industri e eigentümliche n Charakte r i n sich . All e Lei stung des Heeres ist zwar solche des Volkes, aber zugleich notwendigerweis e jenseits jeder Volkseigenart, is t abstrakte Energie ; und ist weiterhin überal l 125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Energie, weil die allgemeine Wehrpflicht al s solche den Krieg zur Aktion des Volkes macht, all e an seinem Ausgan g i n gleicher Weise interessiert. (Übe r die ökonomischen Bedingungen dieser Entwicklung weiter unten.) Um jedes MißVerständnis auszuschließen : de r „Geist " de r Truppen , di e si e beherr schende Idee, ist weiterhin wirksam, sofern er als Energie in die Organisation des Heeres eingeht. Daß er aber nicht allein entscheidet, zeigt die unerwartete Tatsache der hohen Qualität des englischen Heeres, trotz seiner „Söldnerverfassung" und trotz des Mangels einer Verteidigungsideologie. Denn der Engländer fühlt sic h in seinem Bewußtsein sicher noch nicht bedroht, besonder s nicht z u Begin n de s Krieges . Trotzdem - infolg e hohe r Organisationsstuf e und glänzender Ausrüstung - wi e allgemein zugegeben wird, sehr hohe Qualität de r militärischen Leistung .

Gesellschaft un d Staa t Die abstrakte Natur des Heerwesens, in welchem sich - nac h außen hin - di e Staatsgewalt letztlich verkörpert, dräng t zu Erwägungen über die Natur des modernen Staates. Es ist ein Gemeinplatz, au f die Omnipotenz de s modernen Staates als charakteristische s Unterscheidungsmerkma l gegenübe r de m feudalen Staat oder selbst dem des Absolutismus hinzuweisen. Un d doch ist diese Allmacht des Staates recht eigentlich nicht erlebt worden, sie ist als solche in den letzten Jahrzehnten des Friedens im Bewußtsein etwas zurückgetreten. Wa s bedeute t schließlic h da s Recht de s Staates, Steuern z u erhebe n oder zu enteignen, für den einzelnen, was bekümmert ihn vollends der Besitz der Bahnanlagen un d der Post? Al l da s ist nicht s Entscheidendes. Ha t ma n doch die Staatsbürgerqualität - da ß der Bürger Träger eignen, vom Staat zwar abgeleiteten abe r auch diesem gegenüber unverletzlichen Rechte s ist - al s so stark und durchschlagend wichti g empfunden, al s so wesentlich für den modernen Staat, daß das allgemeine Gefühl schwerlic h die Allmacht des Staates als sein wesentlichstes Attribut erleben konnte. In den bisherigen Auffassun gen erschein t de r Staat, se i e s als Rechts- ode r Kulturstaat , ode r National staat, i m Dienst eine s übergeordneten Zweckes , de r sich i m und durch de n Staat realisiert . Scho n in der Formulierung diese r letzten Ziele kommt viel fach der einzelne als Staatsbürger und als Zweck des Staats vor; grenzenlos e Allmacht ist ihm nicht gegeben. Noc h gebundener und bestimmter wird die Funktion de s Staates in der Auffassung vorgestellt , welch e den Staat nur als Ausdruck de s gesellschaftliche n Klassenaufbaues , di e Regierun g al s Aus schuß der herrschenden Klassen begreift, denn danach ist der Staat an die Gesellschaft, dies e an die ökonomische Entwicklung geknüpf t - un d daher dem Bewegungsgesetz der ökonomischen Entwicklung unterworfen . J e mehr die Auffassung vo m Staat sic h nac h diese r Richtun g lenkte , dest o mehr mußt e man zu einer engen Auffassung de s Staates kommen. In der Anschauung des 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Sozialismus vollends, in welcher die Entwicklung mi t Notwendigkeit z u einem gewünschte n Endzie l verläuft , is t der Staat Träger de s kapitalistische n Interesses und bringt zugleich die Widersprüche der gegenwärtigen Ordnung voll zur Entfaltung un d damit den Tag der endgültigen Auseinandersetzun g näher. Alle diese Auffassungen sehe n demnach den Staat als etwas Einheitliches. Der Krieg hat uns aber dies Wesen des Staates klarer vor Augen gerückt, indem er uns die Bedeutung staatlicher Institutionen erst in ihrer Wirksamkei t zeigte, di e wir bis dahin in ihrer Wichtigkeit nich t scharf genug gesehen haben. Schon oben sagten wir: das moderne Heer bedeutet eine universale soziale Organisation , de m Umfang nac h fäll t e s mit de r Gesellschaf t zusam men. Das deutet darauf hin, daß der moderne Staat im Heer nicht nur ein Organ, sondern eine spezifische Erscheinungsfor m besitzt , und es sei daher zunächst die These ausgesprochen, daß der moderne Staat eine Doppelnatur besitzt. Nac h innen abhängi g vom Klassenaufbau un d durchaus in seiner Ak tion auch direkt kausal verknüpft mit der sozialen und ökonomischen Struktur - i n seiner Eigenart auch von der Kulturstufe des Volkes abhängig - hie r daher ein e „historisch-politisch e Individualität " vo n verschiedenstem Cha rakter in Ost und West. Nach außen aber Träger von Macht, nach außen über das ganze Volk un d Land gebieten d al s souveränste Gewalt . I m Heer steh t jedem moderne n Staa t alles , Volk un d Land , schrankenlo s zu r Verfügung . Und es ist noch eine offene Frage und derzeit besonders fragwürdig, o b und wieweit der Staat als Träger von Macht nach außen hin in irgendeiner Verbindung mi t der konkreten sozialen und ökonomischen Struktu r ist. Vielleich t ergibt sic h einige s daz u au s de n folgenden Überlegungen : Die Allmacht des modernen Staats hat sich in einer paradoxen geschichtli chen Entwicklun g stabilisiert : De r absolute Staat wa r Allmach t seine m Begriffe, seiner Idee nach. Seine Macht aber war beschränkt, denn die Möglichkeiten seiner Zeit waren enge. Und wenn er auch alle Kraft der Feudalherren gebrochen un d sic h dienstba r gemach t ha t (di e glänzendst e Erscheinungs form woh l die des französischen absolute n Staats) , so bedeutete doch dies e Kraft, mi t modernen Maßstäben verglichen, nich t eben allzuviel. Di e Macht des Staats mit ihre m tiefe n Eingreife n i n das Wirtschaftsleben wa r de r aufstrebenden bürgerlichen Klasse im Wege. Hatte der absolute Staat die Feudalität als selbständige Gesellschaftsform besiegt , so erhob sich jetzt die bürgerliche Gesellschaf t al s neues , revolutionäre s Prinzi p gege n de n absolute n Staat. Das Ziel des Bürgertums ist bekannt. Befreiung der wirtschaftlichen Kräf te, d . h . Beseitigung de r Staatsallmacht au f wirtschaftlichem Gebiet e (freie r Handel, Gewerbefreiheit) . Da s bedeute t - da s wirtschaftlich e Interess e al s zentral und ideologiebildend angenommen - Verminderung der Staatsmacht, andere Stellung zum Staat. Bei dieser ökonomischen Position wird das inhaltliche Naturrecht zu r Ideologie der Bourgeoisie. Ergänz t es doch die Forderung nac h Gewerbefreiheit insofern , al s das Recht de s einzelnen de m Staat 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

gegenüber betont, der einzelne als letztes Element vorgestellt, der Staat daher als Vertrag de r einzelne n gedach t wird . Das Bürgertum sieht den Menschen anders, als er in der Auffassung des absoluten Staats gegeben ist: Wenn wir seine Vorstellung vom einzelnen auflö sen, is t si e eine doppelte. Zunächs t ha t der einzelne ökonomische Existen z (als Unternehmer, Arbeite r usw.) . Nebe n seiner ökonomischen Lage , wel che zugleich über die gesellschaftliche entscheide t und als naturgegeben vorgestellt wird, und unabhängig von ihr ist die Staatsbürgerqualität. E s ist diese abstrakte Staatsbürgerqualität (wei l Staatsbürger = Träger eignen Rechts) als revolutionäre Ideologi e empfunde n worden , un d si e bedeutet j a auch ein e Negation des absoluten Staats. Aber die abstrakte Staatsbürgerqualität, Aus fluß eine r höheren Einschätzung des Individuums, Konsequenz eines ablehnenden Verhalten s zu m absolute n Staat , wir d doc h Unterlag e eine s wenn gleich andere n Staats . Eine s Staats , de r al s Träge r de s freie n Willen s de r Staatsbürger gedach t wird . Geschichtlic h abe r bedeutet dies e revolutionär e Bewegung in ihren Konsequenzen nicht eine Reduktion des Staats auf negative Aufgaben , wi e e s i m Sinn e de s wirtschaftliche n Liberalismu s gelege n war. Dieser wünschte: Loslösung des Staats von seiner gesellschaftlichen Unterlage, Herabdrückun g seine r Funktio n au f ei n Minimum . Danebe n frei e Entfaltung de r Gesellschaft in ihren wirtschaftlichen Kategorien . Dieser Gedankengang begleite t abe r i n Wahrhei t ein e Entwicklung , i n welche r de r Staat sei n Wese n i n de r obe n angedeuteten Weis e durchgreifen d wandelt . Können wir den Staat früherer Epoche n (cum grano salis) als ungebrochene Einheit auffassen, s o bietet un s die letzte Entwicklun g da s Bild eine r Diffe renzierung. Wi r haben hier vorerst di e Antinomie de r Entwicklung festzu stellen, daß der Staat im Innern immer mehr Ausdruck gesellschaftlicher un d wirtschaftlicher Machtverhältniss e wir d - s o daß es eine spezifische, sozial e Natur des Staats überhaupt nicht gibt, es nichts gibt jenseits der Gesellschaft, alle Auffassung de s Staats als eigene soziale Form (Jellinek ) al s Begriffsrea lismus erscheint - nac h außen hin aber immer mehr selbständige, vo n jeder konkreten Unterlage losgelöste Realität mit eigner Intensität und eigner Zielstrebigkeit wird. Dieser Antinomie werden wir im folgenden noch begegnen, ebenso wie wir die Tatsache noch werden würdigen müssen, daß dieser moderne Staat auf einer breiteren gesellschaftlichen Grundlag e ruht und gerade dadurch noch stärker und mächtiger werden kann. Schon hier zeigt sich der Zusammenhang mit der ökonomisch-sozialen Basis, der noch später auseinandergelegt sei n möge . Der Staat in der Zeit des absoluten Fürstentums greift als o noch nicht tief genug in das Reservoir seiner Bevölkerung; di e französische Revolution ers t bringt da s Volksaufgebot. Abe r wi r wissen , welch e Schwierigkeite n selbs t damals noch die Konskriptionen hatten , da ß die jungen Männer (nac h de m russischen Feldzug) in die Wälder flohen. Immerhi n war zum ersten Mal die Ausschöpfung der Volkskraft in weitestgehendem Umfang möglich. Sie wird hinfort für die Zwecke des Staates nach außen hin in allen europäischen Staa128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ten restlos in Anspruch genommen. Das Prinzip der allgemeinen Wehrpflich t (bezeichnenderweise i n Preußen zuers t milizartig : di e Landwehr di e Masse des Heeres, das stehende Heer lediglich die Pflanzschule militärischer Qualitäten) dringt allmählic h durch . Damit ist die grenzenlose Macht de s Staates wirklich realisiert ; jetz t ers t verfüg t e r übe r sein e Bevölkerun g - ungleic h mehr als der absolute Fürst, dem das Land, seine Domäne, die Bürger Untertanen waren . Di e Einwohne r sin d Staatsbürge r geworden , abe r i n diese m Wort liegt eben , wenn wi r di e Natur de s modernen Staates betrachten, ei n Selbstwiderspruch: Bürger , Träge r eigene n Rechts , is t ein e naturrechtlich e Konstruktion, der Realität bar, eine Forderung, der nichts entsprechen kann in einem Staat, welcher auf seinem Territorium, so wie er dasselbe repräsentiert, kein e Grenze der Macht kennt. Das ist der moderne Staat: Macht über alle Grenzen hinaus, in seinem Wesen aber abstrakt, weil jenseits aller gesellschaftlichen un d ökonomischen Verschiedenheiten, di e heute gegeben sind. Das demokratische Frankreich, da s autokratische Rußland, di e Mitwirkung des Parlaments in Deutschland und Österreich-Ungarn - s o verschieden die wirtschaftliche un d politische Struktu r i m Innern , s o gleich da s Wesen de s Staates, wen n e r als ganzer, als o nach auße n hin , i n Erscheinun g tritt . Diese Differenzierung de s Staats, die Entwicklung zur realen Omnipotenz als Träge r vo n Mach t nac h außen , is t ers t mi t de m moderne n Heerwese n möglich. Hie r is t innigste Wechselwirkung gegeben ; das Heerwesen is t Instrument und Substanz des Staats als Träger von Macht. Es ist jedoch ebenso wesentlich fü r da s moderne Heerwesen, da ß es durchaus nur mit dem Staat gedacht werden kann, als sein Instrument, sein Wesen, nicht unabhängig von ihm , und zwar deshalb, weil erst jetzt das Heerwesen ganz und gar Maschinerie geworden ist. Napoleon ist der große Wendepunkt; noch Napoleon ist Heerführer un d deshalb Caesar, deshal b Repräsentant des Staats. Napoleo n aber ist der letzte Casear. Es scheint uns ganz absurd zu denken, daß ein General jetz t in einem Staatsstreich di e Autorität a n sich risse . Das Heerwesen hat eben nicht nur bürokratisiert i n seinem Körper, sonder n auch in seinem Kopf. Manch e Eigenar t diese s Kriege s wir d sic h darau s vielleich t erkläre n lassen, worübe r ma n heute noc h nich t gu t spreche n kann . Wird der Staat in einer seiner Erscheinungsformen Träge r von Macht, s o kommt dami t ein e neue , verstärkend e Komponent e i n di e Dynami k de s Heerwesens, welch e ih m ohnedie s immanen t ist . Wi r könne n jetz t sagen : Staat und Heer stehen in Wechselwirkung; steigend e Staatsmacht - wachsen des Heer; mit dem wachsenden Heer steigende Staatsmacht und so fort. Als o eine Entwicklung, welch e sich gegenseitig steigert und trägt und sich von ihrem gesellschaftlichen Untergrun d schon losgelöst hat. Erst das Substrat des modernen, wohlorganisierte n Staat s gibt dem Heerwesen Stetigkeit un d innere Festigkeit (welch e ihm früher mangelte) . Und ers t das moderne Heerwesen realisier t des Staats aufsteigende un d allumfassend e Macht , zieh t da s Volk al s Material restlo s in das Staatsorgan hinein und garantiert di e gesteigertste Machtaufbietung nac h auße n hin . 129

9 Lederer , Aufsätz e

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Deutlich zeigt sich die oben erwähnte doppelte Natur des Staats, wenn wir ihn i n seinen Organe n betrachten . De r Staat nac h inne n gewende t is t Ausdruck des Klassenaufbaues un d in seiner Entwicklung vo n diesem abhängig . Der preußische Staat wird Teilhaber des Kohlensyndikats und erfüllt mit Unternehmergesinnung, al s Eisenbahnunternehme r desgleichen ; de r französi sche Staat wieder umgekehrt (oder der italienische, englische ) unterliegt der proletarischen Klassenbewegung in seiner Schule, in den Bahnen, Postanstalten usw . Di e Klasse n sin d nich t suspendier t i m Innern , sonder n de r Staa t muß de n soziale n Aufba u irgendwi e mitausdrücken . Verschiedenhei t de s Klassenaufbaues änder t de n Staat i n diese m Aspekt . Nac h auße n hingege n verschwindet alles , is t gelös t i n eine r historisc h bishe r niemal s realisierte n Allmacht, wofür der prägnanteste Ausdruck, daß kein Parlament der Welt in äußerer Politi k zu r Geltun g z u komme n vermag , da ß all e Parlament e de r Welt, wi e wir gesehen, - z u Organen, Instrumente n des Staates nach außen werden, wen n der Fall des Krieges, also der direkten Aktion de s Staats eintritt. Wir haben also eine Wechselwirkung vo n unvergleichlicher Geschlossen heit: Zuerst im Heerwesen, seiner Natur nach, steigern sich gegenseitig technische Entwicklun g un d zahlenmäßig e Vermehrun g de r Heere . Un d dies e ganze Dynami k steh t wiede r i n Wechselwirkun g mi t de r Machtsteigerun g des Staates. Und gerade diese innere Dynamik des Heerwesens ist es, welche die Staatsmacht besonders zu steigern vermag, weil sie nicht nur mehr Macht, mehr Leistungsfähigkeit de s Staats, sondern fortgesetzt steigend e Hineinziehung aller Bürger in das Heerwesen, und damit in ein Staatsorgan, bedeutet . Das heißt aber , da ß de r Staa t nac h außen , de r omnipotent e Staat , auc h al s universale Organisatio n seine r gesamte n Substanz , seine s ganze n Territo riums und seine r ganzen Bevölkerun g aufzutrete n vermag . Verfüg t e r doch im modernen Hee r übe r eine universale soziale Form, di e jede Möglichkei t eines Gegensatzes zwische n Staa t un d Gesellschaf t ausschließt . E s ist dan n der Staat nac h außen hin ebe n ein andrer geworden , ha t ein zweite s Wese n angenommen; wir haben es dann nicht mehr mit der Aktion de s Staats, wi e wir ih n im Inner n kennen , z u tun ; diese r is t suspendiert , reduziert , un d e s realisiert sic h de r Staat i n seiner andere n Natur . E s gibt dann , i m Falle des Krieges, nichts neben diesem Staat und außerhalb des Krieges. Das ist die Situation, in welcher sich Europa jetzt befindet. Si e hat mehrfache bedeutsam e Konsequenzen. Bevor wir zu ihnen übergehen, noch ein Wort über die Bedingungen dieser Entwicklung: Si e liegen, wiewohl nich t allein, doch vorwiegend au f ökonomischem un d soziale m Gebiet .

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Soziale und ökonomische Bedingungen des modernen Krieges Die in der Natur de s Heerwesens liegend e Dynamik kan n i n der Zeit eine s gebundenen Wirtschaftssystems un d des Frühkapitalismus nicht zur Entfaltung kommen . Di e Produktivitä t de r Wirtschaf t un d di e Möglichkei t de r Staatsgewalt, z u Mittel n fü r Machtzweck e z u gelangen , sin d seh r en g be grenzt. I n de m Notschre i de r Staate n nac h Gel d drückt e sic h ebens o ihr e Ohnmacht gegenübe r der Gesellschaft (de n Ständen) aus wie die Armut der Zeit an materiellen Mitteln. Der Kolonialkapitalismus mit Anhäufung gigan tischer Vermögen bedeutet noch nicht für den Staat und seine Machtzwecke verwertbaren Reichtum . Ers t das Industriesystem mi t seiner Steigerung de r Bevölkerungskapazität und der (technischen) Möglichkeit unbegrenzter Warenproduktion, sowei t Rohstoffe zur Verfügung stehen , wird zum tragkräftigen Bode n eine s moderne n Machtstaats . Erzeug t ih n nicht , is t als o nich t seine Ursache, abe r ermöglicht ihn. Wa s dem Kapitalismus, al s besondere r Wirtschaftsgesinnung un d Wirtschaftsgeist, nich t notwendig, sonder n peripherisch [ist] - di e Umwandlung der Technik in die speziell dynamische, kapitalistische (Gottl ) - wir d da s entscheidende Momen t i n dem Zusammen hang Staat - Wirtschaft . Ei n Kapitalismus, in welchem es nur Handelskapital gäbe oder gewerbliches Kapita l i m Verlagsystem, wär e nicht geeignete Unterlage für die höchste Ausgestaltung des Staates als Machtstaat. Dieser ist an das Industriesyste m geknüpft , un d zwa r is t e s die Möglichkei t fortgesetz t steigender, gleichmäßiger , technisc h fortschreitende r Gütererzeugun g i n ihm, welch e de n moderne n Staa t i n seiner Eigenar t ermöglicht . Bei der Verknüpfung vo n Industriesystem und Heerwesen, sowi e diesem und Staat handelt es sich nicht um innerlich verbundene, sondern „zufällige " Zusammenhänge. Das zeigt sich darin besonders deutlich, daß das Industriesystem vom Staat erst in Formen gebracht werden mußte, i n welchen e s die Gefahr fü r di e Ausbildun g de s Machtstaat s verlor . De r Arbeiterschut z al s Hemmung de r Tendenze n zu r Degeneratio n i m Industriesyste m is t dahe r nicht nur sozial, also für die Wesenswandlung des Staats nach innen, sondern auch für die Entwicklung des Staats nach außen hin bedeutsam geworden. So haben die wichtigsten Maßnahmen im Staat, wi e dieser selbst, ei n doppeltes Gesicht: Sie sind Konsequen z sozialer Machtverhältnisse un d steigern auc h zugleich de n Staat als abstrakte Organisation. Und nur solche Maßnahmen, können wi r sagen , werde n realisiert , welch e zugleic h höher e Machtentfal tung des Staats ermöglichen oder diese wenigstens nicht hemmen. Gerade im Industriesystem steh t di e ganz e wirtschaftlich e Gesetzgebun g auc h unte r dem Gesichtspunkt militärischer Machtentwicklung. S o ist auch die Mitwirkung de s Kriegsministeriums un d sein e entscheidend e Bedeutung be i alle n militärisch auch nur entfernt wichtigen Angelegenheiten nicht als Wahrnehmung vo n Ressortgesichtspunkten z u betrachten . I n ihm repräsentiert sic h eben der ganze Staat in seiner zweiten Erscheinungsform 7. Da s drückt sich auch in der Existenz des Militärkabinetts neben dem Kriegsministerium aus. 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Das gesamte Militärwesen is t also dem „Staat" i m Innern gegenübergestell t und unabhängi g vo n ihm . W o ein e Kollision stattfindet , is t e s der stärker e Teil. Durch die Zuordnung zur obersten Leitung des Staats (zum Monarchen oder Präsidenten) fällt es aus der Ressorteinteilung heraus. In allen Einzelheiten der staatlichen Verwaltung zeig t sich das deutlich ebenso wie in der Gestaltung der Staatsfinanzen usw . Besonders prägnant aber im Kriege, wo alles (Menschen un d Dinge ) nu r i n seine r militärische n For m existiert . Erst di e Produktivität de s Industriesystem s un d di e daraus resultierend e Struktur de s Wirtschaftsleben s eröffne t de m Staa t Hilfsquelle n un d Mög lichkeiten de r Aktion , a n welch e vorde m ni e gedacht werde n konnte . Zu nächst die Vermehrung der Bevölkerung: Der moderne Staat besitzt größere Bevölkerungskapazität nich t bloß durch Erzeugung von Waren in der Industrie, sondern auch durch Intensivierung der Landwirtschaft. E r stellt damit ein größere s Bevölkerungsreservoi r dar . Di e Massenhaftigkei t al s Elemen t der Gütererzeugung , al s charakteristisc h fü r di e Bevölkerungsgruppierun g (in de n Städten) , gestattet , übe r all e geschichtlic h bekannte n Grenze n de r staatlichen Aktio n hinauszugehen . Noch zur Zeit Friedrichs des Großen gab es keine allgemeine Wehrpflicht ; wollte man doch nicht die mühsam aufgezogenen Arbeite r und Werkmeister den Wechselfällen des Krieges preisgeben. Zu empfindlich war die neue industrielle Maschinerie, gan z abgesehen davon , da ß die Hilfsquellen de s Staats für eine wirkliche Realisierung der allgemeinen Wehrpflicht nicht ausgereicht hätten. Bei der langen Dauer der Kriege wäre, wie ein späterer Historiker sich ausdrückte, di e allgemein e Wehrpflich t nu r „u m de n Prei s de r Barbarei " möglich gewesen . Un d di e Größ e de s Heeres, di e Ausdehnun g de r Wehr pflicht is t kei n nebensächliches Moment. Den n in ihr übt der Staat wirklic h die Herrschaft übe r seine Bürger, welche damit zu Untertanen werden. Hingegen is t da s Söldnerheer Ausdruc k reale r staatsbürgerliche r Freiheit , zeig t an, daß auch in der Aktion des Staates nach außen die Gesellschaft nich t suspendiert ist; der Staat verfügt übe r seine Bürger wirklich nur kraft Vertrags . Die Industrialisierung is t aber nicht nur wegen der Bevölkerungsvermeh rung Voraussetzung de r allgemeinen Wehrpflicht , sonder n auc h wegen de r gesteigerten Produktivität . Di e reichlichere Versorgun g alle r Schichte n mi t Produkten aller Art bedeutet, daß Arbeitskraft auf Herstellung entbehrliche r Produkte verwende t wird . Ei n reine r Agrarstaa t (dere n gib t e s jetz t nich t mehr; denn auch die Agrarstaaten sind, auf Basis der Industrie anderer Län der, produktive r geworde n - landwirtschaftlich e Maschinen , künstliche r Dünger usw. - erzeuge n Produktenüberschuß fü r den Export) brauchte die Arbeitskraft seiner Bewohner für die Ernährung. Krieg bedeutet für ihn Notstand. Der Agrar-Industriestaat aber (besonders der exportierende) enthält in sich ungeheure Massen von Arbeitskraft, die , vom Gesichtspunkt naturale r Lebensnotwendigkeiten, überflüssi g [sind] . De r Krieg , al s universale r Schock jede r Lebensführung, mach t diese Arbeitskraft auc h überschüssig 8. So paradox e s scheint: De r entwickeltste , de r feinorganisierte Wirtschafts 132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

körper de r moderne n Industriestaate n kan n di e Wehrpflich t au f breiteste r Basis, d. h . die Hineinziehung der gesamten wirtschaftenden Bevölkerung in den Krie g leichte r ertrage n al s de r mittelalterlich e Agrarstaat . Wa s übri g bleibt a n kriegsuntauglichen, junge n und alten Leuten und Frauen, genügt , die „Lebensnotwendigkeiten" z u erzeugen. Und die Produktion aller Güter darüber hinaus würde ohnedies auf große Schwierigkeiten im Absatz stoßen. Denken wir uns einen modernen Industriestaat kommunistisc h organisiert , so sehen wir es sofort: Er kann die großen Massen der „Luxusarbeiter" in das Heer einstellen . Ebe n diese gibt e s auch i m Kapitalismus, i n der unternehmungsweisen Produktion . Un d darübe r hinau s groß e Schichte n solcher , welche im kommunistischen Zustan d al s „notwendig" angesehe n würde n weil si e jetzt fü r de n „Luxus " de r Arme n produzieren . Natürlich ha t die allgemeine Wehrpflicht i m Krieg für das Wirtschaftsle ben entscheidend e Konsequenzen ; d a sie nicht die Heranziehung de r „Lu xus" arbeiter, sonder n gleichmäßig e Heranziehung au s allen Arbeitssphäre n bedeutet, erfordert sie eine mühsame und mit (privatwirtschaftlichen) Verlu sten verbundene Umorientierun g de r Arbeitsleistungen un d de r Unterneh mungen, von welchen viele ganz zugrunde gehen. Daher die „Empfindlich keit" de s Wirtschaftslebens, vo n welcher ma n vor dem Krieg e zu spreche n gewohnt war. Si e besteht aber nur relativ: au f den Zustand des Friedens bezogen. Sie bedeutet im Kriege eine Zurückschleuderung auf einen weit engeren Kreis der Güterproduktion un d -Zirkulation. Von Reibungen abgesehen ist dies aber leichter möglich als die Anspannung der gesamten Volkskraft im Agrarstaat. Je entwickelter das Wirtschaftsleben, j e „reicher" die Volkswirtschaft, dest o leichter fallen di e größten Anstrengungen de s Krieges (Frank reich 1870/71 gegenüber Deutschland, hingegen Japan gegenüber Rußland!); sie bestehen in einem „Zurückwerfen", nich t in einem Vernichten, wobei natürlich di e Bedeutun g eine s blo ß „zurückwerfenden " Kriege s größe r sei n kann al s die eines vernichtenden (e s kommt schließlic h darau f an , we r und was das Objekt des Krieges ist). Die Entwicklung de s Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Phas e ist besonder s widerstandsfähig , wei l zweifelsohn e di e organisierenden Tendenzen im Wirtschaftsleben, wenngleic h unte r Leitun g des Staats, eine Adjustierung de r Volkswirtschaft au f die Daten des Krieges erst möglic h gemach t haben . (Vo n de r Bedeutun g de r gesellschaftliche n Gliederung fü r di e Ausbildung de r abstrakten Staatsmach t noc h weite r unten.) Noch aus einem andern Gesichtspunkt ist der moderne Hochkapitalismu s Voraussetzung fü r di e allgemeine Wehrpflicht un d die Führung eine s Krieges: Nur er ist produktiv genug , um erstmals die Ausrüstung de r modernen Heere mit allen Bedarfsartikeln zu ermöglichen und weiterhin das Kriegsmaterial während des Krieges in genügender Menge bereitzustellen. Die technische und organisatorische Höh e de r modernen Industri e ist Voraussetzun g für eine n mehrere Monate andauernden Krieg ; wo die Industrie diesen Anforderungen nicht genügt, müssen die anderen Staaten eingreifen: Frankreich 133 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

wie Rußland führen gegenwärtig anscheinend bereits nur mehr Krieg auf Basis de r amerikanische n industrielle n Organisation . Ei n entwickelte r Indu striekapitalismus vermag sogar (woran ma n zu Beginn des Krieges gar nicht gedacht hatte ) in seiner größten Steigerun g di e Wirkungen eine r Isolierun g vom Ausland aufzuheben: Die Produktivität vergangener Jahre bietet in den Gebrauchsgegenständen un d Produktionsmitteln alle r Ar t i m Notfall „Alt material" un d dami t ein e reichlich e Reserve 9. Nicht nu r de r materiell e Reichtum , sonder n auc h de r gesellschaftlich e Aufbau i m Kapitalismus is t in diesem Zusammenhang hervorzuheben . All gemein anerkann t is t di e Ähnlichkeit zwische n industrielle r un d Heeresor ganisation, di e Leichtigkei t de r Einordnun g de s Industriearbeiter s i n di e Heeresorganisation. Noc h augenfälliger de r Bedarf des modernen Heeres an gelernten Industriearbeiter n (namentlic h Metallarbeitern ) i n de n rapi d an schwellenden technische n Truppen . Is t das marschierende, hungernd e un d frierende Fußvolk und die Reiterei der früheren Heere am besten aus bäuerlicher Bevölkerung z u rekrutieren , s o wir d de r psychische Habitu s de s modernen Industriearbeiter s (de s gelernte n wi e de s angelernten) imme r ähnli cher dem des Soldaten im modernen Heer 10. Da s ist nicht eine prästabilierte Harmonie, aber es ist wichtig, daß die technische Dynamik, welche der Industriekapitalismus entwickelt , di e Arbeitsmasse s o umformt, wi e sie die Dy namik des Heerwesens gleichfalls braucht. Geradezu symbolisch drückt sich dies in der Umwandlung de r Aufklärungstruppen aus : früher di e Kavalleri e als feinste Blüte einer Agrarwirtschaft; jetz t der Aeroplan als höchste Spitze industrieller Entwicklung . Di e technisch e Weiterbildun g i n de r Industri e und im Heerwesen - di e Umbildung de s Menschen i n der Industrie und im Heerwesen habe n dieselbe Richtung un d dasselbe Wesen; de r Kapitalismu s als allgemeinste Strömung de r Zeit nimmt die Entwicklung de s Heerwesen s als ein e seine r Phase n i n sic h auf 11. An dieser Stelle löst sich dann auch die Antinomie auf, welch e darin gegeben scheint, daß der Staat im Innern an eigener Macht einbüßt, immer mehr Ausdruck de r konkreten Klassenschichtung, als o Ausschuß de r herrschen den Klassen wird, nach außen lediglich als Träger von Macht gegeben ist. Es bedeutet nämlic h die Hingabe des Staates an die eine oder andere Klasse jeweils ein e höhere Organisationsfor m de s Wirtschaftslebens: Steigend e Un ternehmermacht bedeutet zweckmäßige Organisation der Wirtschaft auf den Profit hi n und strenge Fabrikdisziplin. Steigend e Macht der Arbeiterklasse : gehobene Lebenshaltun g de r breite n Masse n un d Zwan g zu r rationellste n Fabrikorganisation. Di e Vertretung des Interesses sowohl der Unternehme r als der Arbeite r bedeute t ei n rasches Tempo der wirtschaftliche n Entwick lung, dahe r Steigerun g de r Vorbedingunge n fü r di e voll e Entfaltun g de s Machtstaats, jedenfalls kein Hemmnis hierfür. Sinkende Macht des Staats im Innern, Beherrschung de r Staatsmaschinerie durc h die Klassen ist vereinbar mit wachsender Kraf t de s Staats nach außen als Machtstaat. Nu r Stagnatio n der ökonomischen Entwicklung ist ihm gefährlich, abe r bis zu einer gewissen 134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Grenze gleichgültig, o b sie zum Trust ode r zur sozialen Demokratie treibt . Selbst diese könnte sich also in einem Staat realisieren, dessen Charakter nach außen hi n ungeänder t bliebe . Selbs t i n eine m s o weitgehende n Sinn e kan n also die Machtverteilung zwischen den Klassen gleichgültig werden, wenn sie nicht ein e Erschütterun g de s Machtstaat s i n seine n wesentliche n Organe n herbeiführt. Es ist abe r nich t nu r fü r de n Machtstaat , imme r unte r de r obige n Ein schränkung, gleichgültig , wi e sich die Macht auf die konkreten Klassen verteilt, er kann nicht nur gerade infolge seiner sinkenden Macht im Innern nach außen hin wachsen; er erfährt eine weitere Steigerung noch durch den Aufbau der Gesellschaft. Da s Wirtschaftssystem de s Kapitalismus ist seinem Wesen nach antagonistisch, und diesem Wesen entspricht der Klassenaufbau de r Bevölkerung. Di e Gesellschaf t de r vorkapitalistische n Zei t (Stände ) is t stet s prinzipiell harmonisch . Die feudale Gesellschaft is t als organisch zu charakterisieren, ebens o di e mittelalterliche Zunftverfassung . Di e Schichtung de r Bevölkerung ist in ihr etwas Definitives und etwas Stabiles. Interessengegensätze sind nicht prinzipieller Natur und betreffen vor allem nicht das Wesen, die Struktur der Gesellschaft. Ers t im Kapitalismus ist mit ihm schon der Antagonismus in Kapital und Arbeit gegeben, und so sehr sich der Klassenauf bau verzweigen mag , Element e aus der früheren Gesellschaftsverfassun g z u Klassen umgestempelt werden , de r antagonistische Charakte r von Kapital Arbeit bleibt doch grundlegend charakteristisch. Demgegenüber entsteht im Bewußtsein aller Klassen ein Begriff von Staat über der Gesellschaft, un d die weitere Steigerung des Staates als abstrakter Machtstaat liegt selbst in der Linie der gesellschaftliche n Entwicklung . Da s geh t dan n sowei t - un d dami t kommen wi r z u de n bedeutsamsten Konsequenze n diese r Entwicklun g de s modernen Staat s -, da ß de r Staa t auc h i n seine r Erscheinungsfor m al s ab strakter Machtstaa t gleichbedeuten d mi t Gesellschaf t gefaß t wird , da ß sic h die Gesellschaft auc h dort, w o sie schon Objekt des Staates ist, noc h immer als Gesellschaft, als o als Subjekt, aktiv fühlt. Al s Träger von Macht nach außen, am gesteigertsten in der Betätigung dieser Macht im Krieg, erscheint das Organ des Staats, das Heer, al s Volk. Da s Volk erscheint sich in seinem Bewußtsein akti v auc h dann , wen n e s plötzlich i n di e Erscheinungsfor m de s Heeres hineingeschleudert wird . Ein e Gesellschaft, welch e gewohnt ist, den Staat in einer Unzahl von Aktionen als Partei bald der einen, bald der andern Klasse zu sehen oder wenigstens zu empfinden, bekommt damit das Bewußtsein einer aktiven Einhei t in der Aktion des Staats. Dieses Bewußtsein eine r aktiven Einhei t is t dann , i n unsere r Auffassung , ein e Ideologie . Si e kan n auch, de m Wesen de r kapitalistische n Gesellschaf t nach , nu r entstehe n al s Einheit einer Gefahr gegenüber, und darum hat im Kriege der moderne Staat durchweg di e Einstellung, e s handele sich um die Verteidigung de r Gesamtheit. Alle Staaten wollen die Angegriffenen sein , weil nur so eine - inhaltlic h nicht weiter bestimmte- Einheit der Klassen zu einer „Gemeinschaft" erziel t wird. Dies daher auch die offizielle Haltun g aller Staaten: den Krieg als Ver135 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

teidigungskrieg aufzufassen . Dan n kann er ein solcher der Gesellschaft sein , können die gesellschaftlichen Kräft e für ih n mit Erfolg aufgerufe n werden , die sich einem Krieg des Staats und ebens o einem Krieg bestimmter Interessen versagen würden. Denn so wenig die Kräfte der gesellschaftlichen Schichten heute auch gegen den Staat vermögen (frühere Zeiten hatten darin ein ausgeprägtes Gefühl und sahen deutlich die Distanz und Wesensverschiedenheit der gesellschaftliche n Schichte n gegenübe r de m Staat) , e s kann diese m da s Verhalten der Gesellschaft nicht gleichgültig sein, und er könnte im Moment der größte n Anspannun g doc h ihre r bedürfen 12. Die gespenstische, abstrakt e Natur des Staates und seiner Betätigung, da s Schicksalhafte de s gegenwärtigen Zusammenstoßes analoger staatlicher Gewalten wird noch deutlicher durch die Tatsache, daß auch jenseits aller offi ziellen Publizistik de r Staat in seiner Aktion über alle geistigen Kräfte in seinen Grenzen verfügt und eine völlige Umbiegung und sozusagen Einexerzierung der Argumentation au f den Krieg in allen Staaten stattgefunden hat . In diesem Sinne ist wirklich de r moderne Machtstaat ei n „Kulturstaat" gewor den, - e r benutzt auch die geistigen und kulturellen Strömungen aller Art als Motor. Der moderne Staat biegt in der ungeheuren Suggestivität seine r ganzen Machtentfaltung alle s Kulturstreben in die Richtung seine r Aktion un d bedarf daher nicht mehr des Zwanges auf die Geister12a; e r gestaltet den Inhalt des Rechts durchaus nach seinen Bedürfnissen und wird so zum Rechtsstaat13. Vergessen ist auch der leiseste Anklang an ein inhaltliches Naturrecht des Individuums, da s die Verfassungsgesetze de r modernen Staaten sichern wollen. Gegenüber dem modernen Machtstaat gibt es keine Verfassung; wir d sie doch auch im Kriege suspendiert. In der jetzt so häufig zu Unrecht zitierten Schrift Fichte s „Vom wahrhaften Kriege " ist das Recht auf die persönliche Freiheit vor allem anderen Recht moralisch anerkannt , un d es wird dem „Vernünftigen" di e Pflicht de r Prüfung un d Kritik nich t abgenommen. Di e Orientierung auf die Idee der Freiheit wird ihm zur unverbrüchlichen Pflich t gemacht. I m moderne n Staa t abe r gib t e s nu r Unterordnun g unte r di e Zwecke des Staats, is t di e selbständige, unantastbar e Rechtssphär e de s ein zelnen ausgetilgt- als Folge dieser Omnipotenz des Staats, welche sich nur in der Form de s Rechtsstaates realisiert . Wie sehr dieser nur Form, zeigt der Widerspruch in der juristischen Situation: daß der Souverän kraft des Rechtes der Mobilisierung und Kriegserklärung wirklich übe r die Gesellschaft verfügt , fü r sich einen „Staat" repräsen tiert - un d daß die Parlamente danebe n doch um Anleihen ersucht werden , deren e s für di e Kriegsführun g j a nich t bedürfte . I m Fall e eine s Konflikt s würde sich sogleich zeigen, da ß hier zwei universale „Staaten" aufeinander stoßen. Wie wei t dies e suggestiv e Mach t de s Staates i n seine r Aktio n i m Krieg e geht, zeigt u. a . auch der Mangel an Standfestigkeit innerhal b der modernen Intellektualität (alle r Länder) und die völlige Instinktlosigkeit de r Wirklich 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

keit gegenüber . Ein e spätere Zeit wird e s kaum begreife n können , mi t welcher Willenlosigkeit , u m nich t z u sage n welche r Unterwürfigkei t sic h all e Strömungen in der Tatsache des Krieges selbst verloren haben und in ihr zu neuem Lebe n wiederfinden z u könne n glaubten . E s gibt kein e geistige und keine kulturelle Strömung in Deutschland und außerhalb desselben, welch e nicht bereit gewesen wäre, dem Kriege als Ideologie zu dienen. Jede möchte den Krie g al s Kraftquell e benutzen . Anschauungen , welch e de n Sin n alle r Entwicklung i n dem Erscheinen und Auswirken von Helden sahen, ebens o wie solche , di e vo n eine m Erwache n de s „Volkes " träumen 14; di e Ge schichtsphilosophie de s nationale n Staats , wi e di e eine r Ablösun g i n de r „Weltharmonie" (hierbe i geschichtsphilosophisc h imme r de m Standpunkt , nicht dem Kaliber und Wert nach verstanden!), möchten den Krieg als Vehikel ihre r Anschauungen , j a al s höchst e Erfüllung , erleben . In s Grotesk e wachsen dies e Bemühungen , wen n si e vo n de n kirchliche n Strömunge n (denn es sind nicht religiöse) unserer Zeit ausgehen; si e erblicken im Krieg e „einen heiligen Kampf für Gott, für das Kommen und Herrschen seines Reiches auf Erden" . Dies eine katholische Stimme. Un d was soll man dazu sagen, wen n ein e Identifizierun g de s Christentum s mi t de m Gedanke n de s Weltfriedens abgelehnt wird, weil dieser hedonistisch, weil diese Verwerfung des Kriege s biologisc h un d soziologisc h veranker t se i un d lediglic h de n Zweck habe, dem Menschen das Leid zu ersparen, während das Christenum die sittlich e Bewährun g de s Menschen unte r alle r Anfechtun g wolle . „Di e Menschen brauchen den Krieg, dami t sie eine Gelegenheit haben, buchstäblich un d wahrhafti g fü r ein e Sache ihr Lebe n z u lassen. " Dies e Auffassun g wirkt um so befremdender, al s sie sich in einer Abhandlung findet, di e im übrigen das religiöse Problem im Kriege sieht 14a und doch in der religisöen Bedeutung de s Kriege s plötzlic h davo n absehe n z u könne n glaubt , da ß de r Krieg doc h auc h gleichbedeuten d is t mi t de r Zufügun g vo n ungeheure m Leid, nicht nur mit Opfern, sondern mit Gewalttaten unlöslich verknüpft ist, und daß die Idee des Krieges ja schließlich au f die Vernichtung de s Feindes, nicht auf die eigne Niederlage hinzielt! Solche Anschauungen stehen daher in einem seltsame n Gegensat z z u de r Auffassun g de s Papstes , de r (i n seine r Ausdrucksweise mit moralischer Wertung der ökonomischen Situation) auf den Krieg eigentlich das Schema der materialistischen Geschichtsauffassun g anwenden möchte (wenn er sagt, daß der Krieg dem Neid der Menschen um irdische Güte r entstamme) . Gan z vereinzel t sin d demgemä ß di e Stimmen , welche den Krieg als unchristlich bezeichnen. Um so nachdrücklichere Hervorhebung verdien t dahe r ein e Äußerun g Fr . W . Försters : Vo n manche n Wortführern de s Christentums sei in den letzten Monaten schon merkwür dig unchristlich geredet und die himmlische Wahrheit an zeitliche Interessen und Erregungen verraten worden . . . „Jeder Krie g ist ein Abfall vo n Christus, auch wenn wir nicht das Wenn, Wo und Wie der Mitschuld jedes Einzelnen gena u anzugebe n vermögen." Derselbe : Der Staat müsse sich in der inneren und äußeren Politik dem Sittengesetz unterordnen. Die hohe Politik 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

war sozusagen nur eine Dependance, ein Anhängsel und Werkzeug des Militarismus. Auch die Verknüpfung de s Staats mit der nationalen Ide e ist gegenwärti g nicht mehr derart lebendig, da ß die Staaten als Träger der nationalen Einheit gegeben sind und aus dieser Funktion ihren Sinn und ihre Kraft schöpfen. Ist doch die Einheit der „Staatsnation", als o gerade des national nich t einheitlichen Volks, noch nie so deutlich in Erscheinung getreten als gegenwärtig, w o allüberall Glieder ein- und derselben Nation gegeneinander kämpfen. E s bedurfte gar nicht der Aufhellung de s Zusammenhanges zwischen Nationalis mus un d Wirtschaftsinteressen , di e wi r de n grundlegende n Schrifte n Ott o Bauers verdanken, d a jetzt mit Händen z u greifen ist, wi e sehr Nation ein e Ideologie, nicht nur eine kapitalistische, sondern jetzt eine staatliche Ideologie geworden ist. Selbst aus der Stellungnahme derer geht es hervor, die den heutigen Staat als Nationalstaat auffassen . S o betont ζ. Β . Meinecke auf das Nachdrücklichste15, da ß der Staatsverband über den Volksverband (gemein t ist: Nation) gehe; daß das Staatsleben von ganz Mitteleuropa in Zukunft eine Mäßigung der nationalistischen Leidenschaften erheische usw. Hier wird der Staatsbegriff al s der übergeordnete gefaßt, wa s im Grunde zu einer Revision des Wesens dieses nicht mehr in erster Linie nationalen Staats führen müßte . Es ist eben auch der Gedanke des Nationalstaats eine Ideologie. Daß der neuzeitliche Nationalismus durchaus nicht mehr die Eigenart der einzelnen Na tionen zu m Ausdruc k bringt , sonder n z u eine r politischen , überal l identi schen Strömung entartet ist, hat wiederum Meinecke (in seiner oben genannten, vor Kriegsausbruch geschriebene n Abhandlung) sehr scharf herausgear beitet; so wenn er davon spricht, daß sich die „nationalen Ideen" in allen Staaten einander angleichen, da ß sie sich überall derselbe n Mitte l bedienen , da ß sie lediglich expansiv werden. „Der Nationalismus kann keine freie, mannig faltige, differenzierte , sonder n nu r ein e schematisiert e un d konventionell e nationale Kultu r gebrauche n . . . e s bildet sic h ein e geistige Schwielenhaut , die gut sein mag zum augenblicklichen Dreinschlagen mit der Faust, aber unfähig macht für feinere Empfindungen un d Tätigkeiten." So werden die Völker einande r i m Nationalismus imme r meh r gleic h - wa s sich vo n de r hie r vertretenen Anschauung au s dadurch erklärt , da ß die nationale Idee, sowei t sie nich t Ideologi e ökonomische n Charakter s (als o i n de r Verstärkung de s Dranges nach Expansion) , staatliche Ideologie geworden ist. Daru m verwi schen sich dann alle Unterschiede, so daß nur „das eingeschmolzene Bronzegesicht des Jockey" übrig bleibt und der Chauvin (wie M. sagt), der über den charakterlosen Mischmasc h de r internationale n Kultu r schilt , of t selbst ei n solches Gesicht trägt. Di e nationale Idee wird i n allen Staaten zur Ideologi e des Staats erhoben, ohne ihren eigentümlichen Gehalt bewahren zu können. Der unmöglich e Begrif f de r „Staatsnation " is t da s sicherste Zeiche n dafür , daß die Nation - ursprünglic h eine geistige Idee, dann die Ideologie des Kapitalismus (Ott o Bauer) — nunmeh r zu r Ideologi e de s Machtstaats geworde n ist. 138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Auch die materialistische Geschichtsauffassung triff t nich t das Wesen dieses Krieges, weil sie den Staat nur als Funktionär der herrschenden Klasseninteressen begreift . Insofer n e r das nicht ist, is t auch die materialistische Ge schichtsauffassung de r Tatsache des Krieges gegenüber „Ideologie" ; der Imperialismus, Rechtfertigung de s Krieges ex post, ist gleichfalls Ideologi e gegenüber der Aktion des Staats als eines abstrakten Machtstaats. Wenngleic h der Krieg ökonomisch e Konsequenze n haben mag, wen n er eine ökonomische Seite haben mag, so ist dies doch jenseits aller konkreten Klassenschichtung und jenseits des ökonomischen Strebens . E s ist die Wirkung eine s der Volkswirtschaft un d ihre m Aufba u durchau s heterogene n Kriege s au f di e Wirtschaft. E s könnten die Kapitalistenschichten des einen oder andern Landes auch stärker aus dem Kriege hervorgehen (wie es wahrscheinlich nicht der Fall sei n wird; denn lediglich di e neutralen Staaten dürften ökonomisc h ei n Übergewicht gewinnen) : Er würde dadurch seine n Charakter, Zusammen stoß abstrakte r Machtstaate n z u sein , nich t einbüßen . Auc h de r Fal l lieg t nicht vor, daß die Kapitalismen der einzelnen Staaten als aktive Potenzen hinter dem Kriege stünden und nur in ihren Erwartungen getäuscht würden - e r ist ihnen etwas Fremdes, sie haben nichts mit ihm zu tun. Er wirkt nur auf sie, und si e müssen ih m dienen . Das Verhältnis des Kapitalismus zur auswärtigen Politik hat sich in der geschichtlichen Entwicklun g verändert : Di e Kolonialkrieg e sin d gan z ausge sprochen kapitalistisch e Kriege ; das Handelskapital mußt e (un d konnte ) in der Zeit vor dem Industriekapitalismus sic h die Wege durch die auswärtig e Politik öffnen. Verleg t sic h der Schwerpunkt in die Industrie und in das Finanzkapital, s o sind die Mittel de r Expansion imme r meh r „ökonomische " („die billigen Preise sind die schweren Geschütze der modernen Industrie" , Marx), die auswärtige Politik wird, je rascher und allgemeiner die kapitalistische Entwicklung, ei n untaugliches Mitte l ökonomische r Expansion 16. So weit noc h „Kolonialkriege " gegebe n un d möglic h sin d (i n de m Sinne , da ß eine Ausbeutung des zu gewinnenden Territoriums für die einheimische Kapitalistenklasse erziel t wird) , liege n si e doch nu r i n de r Interessenrichtun g schmaler kapitalistischer Schichten. Der Sozialismus nimmt die Ideologie des modernen Staates für bar e Münze, wenn e r als Kern des Krieges den „Auf ruhr der Produktionskräfte, di e den Kapitalismus erzeugten, gege n ihre nationalstaatliche Ausbeutungsform " bezeichnet 17. Den n di e quantitati v we sentliche kapitalistisch e Expansio n erfolg t i n freier Konkurren z ode r in nationaler Kartellierung . Da ß zuma l i n de r sozialistische n Auffassun g de r Schwerpunkt der kapitalistischen Expansion in der Ausbeutung de r europäisch-amerikanischen Industriearbeiterschaf t un d nich t i n de r Gewinnun g von Kolonialland liegen müßte, versteht sich von selbst- um so mehr als die Durchkapitalisierung sämtliche r Produktionssphäre n imme r meh r solch e Rohstoffländer kapitalistisc h wichti g macht, die der auswärtigen Politik kein erreichbares Ziel sind. (Vo r allem Amerika als Kupfer- un d Baumwolland. ) Vollends ist es ein Gemeinplatz, daß der ökonomische Verkehr zwischen den 139 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

alten Industriestaate n volkswirtschaftlic h wichtige r al s de r Kolonialhande l oder di e Finanzierun g vo n „Einflußsphären" . Di e Machtstaate n bediene n sich des Finanzkapitals als ihres Mittels für Ziele auswärtiger Politik. Für die Kapitalistenklasse i m ganze n genomme n is t beschleunigt e Finanzierun g ökonomisch tiefe r stehender Staaten ein zweifelhaftes Glück . (O b nicht die wirtschaftsliberale Schul e in England eine n richtigen Instink t mi t ihrer Ablehnung vo n Kolonialpoliti k hatte ? - u m nämlich liebe r dauern d Ware n z u verkaufen al s Kapitalgüter z u exportieren, dere n Produkte Konkurren z des Mutterlandes bedeuten?) Gewiß sind mit der politischen Expansion ökonomische Interessen verknüpft. E s ist aber m. E . verfehlt, di e immer wichtiger werdende Basis aller europäische n Industriestaaten , de n innere n Markt , i n seiner Bedeutung so gering zu sehen und alle Aktivität in der Wirtschaft, all e Expansionstendenz nur in der imperialistischen Wirtschaftspolitik z u erblikken. Dabei wird überdies niemals die innigste internationale Verflechtung al les europäischen Kapital s auch i n seinen „imperialistischen " Anlagesphäre n gebührend beachtet 17a. Auch in der imperialistischen Sphäre entstehen dann reale wechselseitige solidarische Interessen der national verschiedenen Kapitalismen. Wi r können also sagen: Die gegenwärtige Phase des Kapitalismu s ist für die auswärtige Politik nicht mehr und noch nicht reif: Es ist eine Entwicklung möglich , i n welche r infolg e riesenhafte r Standortverschiebunge n der Kapitalismus bevorzugter Länder eine Monopolstellung erlang t (Ameri ka, China nach der Erschöpfung wichtiger europäischer Kohlenlager und bei Reservierung de r Baumwolle fü r di e amerikanische Industrie ) un d die Gegensätze de r kapitalistische n Schichte n ganz e Weltteil e i n politisch e Kon flikte hineinzwinge n - wen n nicht bis dahin die Entwicklung un d Differen zierung der Industrien eine reale Weltwirtschaft konstituiert , di e dann Krieg ausschließt. Di e gegenwärtig e Konstellatio n abe r is t vo n diese r mögliche n Zukunft seh r verschieden. Sie wird hie und da als Kampf um Rohstoff- ode r Absatzgebiete aufgefaßt, un d dabei [wird] übersehen, daß die möglichen Objekte dieses Krieges für die nationalen Kapitalistenschichten weni g bedeute n und be i de n Möglichkeiten, Kapita l z u verwerten, nich t wesentlich sind 18, und daß ferner di e großen Märkt e der Zukunft, vo r allem China , ga r nich t Objekt dieses Krieges sind, der zum Überflu ß di e möglichen Konkurrente n in China: Rußland, Japan und England, als Verbündete zeigt. Die politische Entwicklung, welch e zum Kriege führte, verläuft eben - wenngleich hie und da gekreuzt von Einflüssen au s der Sphäre der Volkswirtschaft - ihre m Wesen nac h unabhängi g vo n dieser . Schon obe n wurd e angedeutet , da ß de r Sozialismu s al s politische Parte i den Imperialismus bekämpft. Hierbe i befindet er sich dadurch in einer etwas unklaren Position, daß er die Entfaltung des Kapitalismus bis zu seiner höchsten Stufe wünsche n müßte . All e Momente, welch e (i m Imperialismus) al s schädlich fü r di e Arbeiterschaf t aufgezeig t werde n können 18a, sin d wir kungslos, sobal d ma n de n Imperialismu s al s di e entscheidend e un d real e 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Kraft i m Krie g sieht . Di e hie r vertreten e Auffassun g gestatte t ein e konse quentere Stellungnahme . Auch die Frage der Kriegskredite löst sich in dieser Auffassung: Si e unterliegen tatsächlich nicht der Beschlußfassung durc h ein Parlament. Die Bewilligung de r Kredit e ist ein hinkendes Recht, wen n da s Parlament nich t auch das Recht der Kriegserklärung un d des Friedenschlusses besitzt. Ablehnun g von Heeresvorlage n is t z u begreife n al s Kamp f de r Gesellschaf t mi t de m Staat; i m Moment de s Krieges ist die Gesellschaft i m Staat suspendiert. Da s Heer, unte r de r Befehlsgewalt de s Staatsoberhaupts ode r Heerführers, be deutet i n seine r Aktivitä t i m Krieg e de n Ausschluß jede r gesellschaftliche n Institution. I m Moment , w o di e „Gesellschaft " au f ei n Minimu m zusam menschrumpft, is t sie einer Aktion nicht fähig - wede r einer positiven noch negativen. Abstimmunge n übe r Kriegskredit e sin d dahe r dekorativ , ohn e entscheidende Kraft, und es könnte aus diesem Gesichtspunkt die Aktion der „Gesellschaft", repräsentier t durc h die Parlamente, währen d de s Krieges in jeder Form abgelehn t werden . Die s nur nebenbei . Die weitere Konsequenz einer solchen Anschauung: daß der Krieg seinem Kausalzusammenhang nac h außerhalb der gesellschaftlichen un d überhaup t der inhaltlich z u charakterisierenden geschichtliche n Entwicklun g verläuft . Er steht außerhalb jedes Seins - un d ist lediglich ökonomisch bedingt , nich t verursacht. E r ist mit de r Natur de s modernen Staate s bereits potentiell ge setzt. Die modernen Staaten als abstrakte Machtstaaten mit ihrem Instrument des Heerwesens bedeuten den Krieg. Sie bedeuten ihn ebenso abstrakt, als sie sind, also ohne konkreten Inhalt, ohn e Ziel - habe n nicht eine Ursache, nu r einen Anlaß 19, entstehe n au s „Spannungen", welch e „unerträglich " werde n (wem?). Alle s Konkret e de s Kriege s ergib t sic h au s de r Entwicklungshöh e der militärischen Organisation, wie sie in der gesellschaftlichen, wirtschaftli chen und kulturellen Substanz operiert. All das ist ihr gleichgültiges Material. Die abstrakte Staatsmacht kann nur charakterisiert werden als höchste Organisation. Tatsächlich miß t sich in diesem Krieg e nur die Organisationsstuf e der einzelnen Staaten. I n diese abstrakte Organisation geh t nichts mehr von dem Wese n eine s Volkes , eine r Kultu r al s Qualitä t ein . Alle s wir d i n ih r quantitativ. Damit ist die abstrakte Organisation zum ersten Male zu welthistorischer Bedeutun g gelangt . Nochmals sei auf das Nachdrücklichste betont, daß mit diesen nüchternen Feststellungen über das subjektive Erleben der Kämpfenden nichts ausgesagt sein soll noch kann. Gerade dieses entfaltet sich , wie oben angedeutet, in der größten Mannigfaltigkeit, wei l ja die eigenartige Natur des modernen Staats es zuweg e gebrach t hat , all e geistige n Strömungen , vo n welche n auc h di e Kämpfenden erfüll t sind , i n dem für ih n kritischesten Momen t de s Kriegsausbruchs zu Kriegsideologien zu machen, die subjektiv als Ideen erlebt werden. Is t es doch ebe n das Besondere der gegenwärtigen Situation , da ß alle s Leben im Kriege als Material „verarbeitet" wird. Jeder dieser lebendigen, mit Zielrichtungen ausgestattete n Materialteil e wir d notwendigerweis e da s Ziel 141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

in seiner Schwimmrichtung liegen d empfinden, j a gar nicht anders die Situation sehe n können . Notwendigerweis e könne n nicht all e diese divergente n Ideologien zutreffen ; Ausdruc k diese r Tatsache: der Burgfriede i n politicis, der allz u hemmungslos e Propagand a divergierende r politische r Ideal e un d dementsprechender Zielsetzungen als Ideologie des Krieges verhindern soll . Demgegenüber wir d di e vollständige Zerfahrenheit i n der ideellen Beurtei lung des Krieges im Gegensatz zu politischen Divergenzen offenbar nicht für gefährlich un d folgenschwer genu g erachtet , u m dagegen staatspolitisc h z u reagieren. All dies e Ausführunge n habe n nu r de n Zweck darzutun , da ß m . E . di e über das „Wese n des Krieges" verbreiteten Meinungen meistens Ideologie n sind. Trotzde m bleib t di e persönliche un d di e Leistung de s ganzen Volke s natürlich die gleiche. Der Krieg hat zweifelsohne (und vermutlich nicht bloß in Deutschland) di e gigantischeste Bewährun g de s Einzelmenschen sowoh l als de r menschliche n Solidaritä t un d de r Leistungsfähigkei t ganze r Völke r gezeitigt un d gezeigt . Kein e Betrachtung kan n so kühl sein , da s zu überse hen, kann verkennen, da ß die Leistung alle r in der Front Stehenden als persönliche, oft erhabenste Leistung alle geschichtlichen Maßstäbe übertrifft, i n ihrer Monumentalität und Würde von den Daheimgebliebenen auch nicht im Entferntesten begriffen und geschaut werden kann. Aber selbst die freudigste und bereitwilligste Anerkennung , j a Demut vor der Leistung, verma g nich t die Erkenntni s übe r da s Wesen diese s Kriege s zu verändern. E r wird nich t dadurch ein anderer- die Ursachen und seine Natur ändern sich nicht, wenngleich das Erlebnis der Kämpfer glühender, di e Entfaltung der Kräfte gewal tiger, di e persönliche Bewährun g höher , di e Hingab e opfervolle r al s i n ir gendeinem Krieg e de r Weltgeschichte . Es könnte aber auch diese Phase der Geschichte ein Paradoxon in sich bergen: Die Organisation „a n sich" ist in allen Staaten entstanden und mißt sich gegenwärtig i m Kriege. Es könnte möglich sein, daß sie, trotz fürchterliche r Verschwendung und Vernichtung an Menschen und Reichtum historisch, in seinen Konsequenzen : - vielleich t - nicht s bedeutet. De r Krie g verarbeite t lebendige Kraf t i n eine r Maschin e un d bedeute t i n gigantische r Steigerun g eine Abwandlung vo n Problemen , di e man als Gefahr de r Versachlichung , der Entpersönlichung, de r Mechanisierung i n den letzten Jahren viel disku tiert hat. E r ruft dann alle, welche an eine Gesellschaft glauben , au f zu einer neuerlichen Stellungnahme gegen die abstrakte Organisation. Sehe n wir das Wesen de s Krieges, s o dann entschleier n sic h un s auch seine Ideologien al s solche. Um z u de m Gedanke n a m Begin n diese r Erwägunge n zurückzukehren : Wir sehen uns dann nicht in einer wirklichen Gemeinschaft, sonder n in einer abstrakten, organisierten Menge, die nur unserem Bewußtsein und die sich in ihrem Bewußtsei n al s ein e Gemeinschaf t erscheint . Nu r jemand , de r selb ständig gewordene s Machtstrebe n anerkennt , ode r glaubt , da ß sich i n de m Kampf de r Machtstaate n di e Weltvernunf t realisiert , wir d dan n auc h dies e 142 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

moderne Erscheinungsform de s Staates, in der alle gesellschaftliche Substan z suspendiert ist , bejahen . (I m Wesen ist dies der Standpunkt Scheler s i n seinem Buch : „De r Geniu s de s Kriege s un d de r deutsch e Krieg") . We r dies e Entwicklung verneint, wird die Zeit für gekommen erachten, den Kampf für die Rechte des Individuums und der Gesellschaft gegenüber dem Staat wieder aufzunehmen ode r fortzusetzen. Für ihn ist der Staat abstrakte Organisation ohne konkrete n Inhal t - mi t abstrakte m Expansionsbetrieb , - un d daru m auch keine Realität su i generis. Gerade im Krieg erweis t e r sich lediglich al s eine universelle Heeresorganisation. Als Realitäten aber würden dann immer deutlicher lediglich erscheinen: der Mensch, und zwar als einzelner wie in der Gesellschaft (al s Klasse) , un d di e Idee . De r Staa t nac h auße n verkörper t nichts davon; e r tut e s weniger al s je in der Geschichte ; un d gerät dami t in Widerspruch mit seiner eignen nach innen gewendeten Natur. Der Staat nach außen ist ganz Maschine geworden (die Krieger im Felde substituieren daher eine vom Staate unabhängig gegeben e Realität: ihr e Angehörigen, ihr e Heimat, das Volk, für welche sie kämpfen). Es könnten also alle zum Staat kritischen Stimmen nach dem Kriege wieder neu aufleben - stet s aber nur auf internationaler Basis . Dabei dürfen wi r uns nicht verhehlen, da ß solche - zu nächst ideelle - Strömunge n auf die größten Schwierigkeiten stoßen müssen, weil sich die gesellschaftlichen Klasse n selbst immer straffer organisieren und charakteristische Merkmal e un d Gefahre n abstrakte r Organisatio n zeigen . Auch ist diese Organisation mit der Natur des gegenwärtigen Wirtschaftssy stems untrennba r verbunden . Auf der gegenwärtigen Wirtschaftsgestaltung beruh t der ganze kunstvolle Auf- un d Ausbau des Staats. Aber es ist nicht nur deren konkreter Inhalt (daß sie kapitalistisch ist) , sondern auch ihre Form (die hohe Organisationsstufe), welche di e Entwicklun g de s Staats un d sein e Machtentfaltun g möglic h ge macht hat . Dara n würd e sic h nu n vielleich t nich t allzuvie l be i eine r Wirt schaftsgestaltung au s dem Gemeininteresse, aber mit Beibehaltung der hohen Organisationsstufe, ändern . Immerhin müßte, was von einem folgerichtige n Sozialismus nac h de m Krie g noc h übri g bliebe , i n dies e Richtun g weisen . Eine utopische Möglichkeit der Lösung aus diesem Dilemma würde dann nur in eine r andere n Wirtschaftsgesinnun g gesehe n werde n können , welch e i n der Wirtschaft nich t unbedingt größere n Reichtum und reichlichere Versorgung (nur größere Gerechtigkeit) erwartet. Denn es ist die Organisation, der Mechanismus der Wirtschaft, de r nun die ganze Hierarchie und letzten Endes auc h de n Machtstaat trägt , ein e Organisation , di e im Staatssozialismu s weiter bestehe n bleibt . Nu r ein e gan z verändert e Haltun g zu r Wirtschaf t könnte die Lockerung der Organisation zur Folge haben und würde auch einer der wichtigsten Ideologien des modernen Machtstaates (dem Imperialismus) de n Boden entziehen . Abseits hiervon zeigt sich nur noch ein-äußerlicher-Weg: di e modernen Staaten in solche Gruppen eng zusammenzuschließen, da ß ihnen kein Spielraum mehr zu eine r dynamischen Tenden z bleibt . Di e staatliche Organisa 143 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

tion, übe r di e Erd e ausgespann t ode r unangreifba r durc h di e Stärke , abe r auch außerstande anzugreifen durch die Stärke des möglichen Gegners, wird kraftlos in ihrer Wirkung, - bleib t freilich al s Organisation erhalte n und bedingt durch die Organisation des Gegners, aber wird nie aktiv und muß daran vergehen. Der größte Krieg der Weltgeschichte wäre somit der unwesenhafteste vo n allen. Und wäre die Geschichte ein Gericht, welches die Dinge der Welt ihrer inneren Wesenhaftigkei t nac h abschätzt , nich t abe r nac h de r Breit e der si e umkreisenden un d überflutende n Wirkunge n un d Nebenwirkungen , s o müßte (mit eine r vielleicht etwa s waghalsigen Hyperbe l gesprochen ) diese r Krieg von eine r solchen utopische n Geschichtsschreibun g i n einer Anmer kung erledig t werde n können , s o wi e si e de n Ereignisse n unhistorische n Charakters - de m Untergang de r Titanic un d de m Erdbebe n vo n Messin a etwa in phantastische r Vergrößerun g - zukomme n mag .

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7. Di e ökonomische Umschichtung i m Krieg (1920) Während des Krieges hat auch hinsichtlich der Verteilung des Reichtums auf die einzelnen Klassen der Gesellschaft eine tiefgreifende Umwälzung stattgefunden. Si e läßt sich ganz allgemein dahin skizzieren1, da ß die Gesamtmasse der Güter, welch e al s „Sozialprodukt" 2 bezeichne t wird , sic h verminderte . Doch geht diese Verminderung des gesamten zur Verteilung verfügbaren Sozialprodukts nicht so weit, al s man nach der Verringerung de r Arbeiterzah l und der Steigerung der Munitionsindustrie annehmen müßte: Die Erzeugung ist z. T . rationalisiert worden (unter dem Druck des Arbeitermangels), ζ. Τ . auf Koste n de r Erzeugun g vo n Halbfabrikaten ausgedehnt ; di e neue n Me ­ thoden, alle s Altmateria l z u verwenden , habe n erheblich e Vermögensteil e mobilisiert, i n den zirkulierenden Güterstro m wieder hineingezogen. S o ist Sachvermögen in erheblichem Umfang ein Teil des „Sozialprodukts" geworden, bzw. von diesem nicht unterscheidbar, vermehrt es die für den Konsum verfügbaren Güterbeständ e un d wirk t s o der Teuerung etwa s entgegen . J e länger der Krieg dauert, um so geringer war mit der Erschöpfung diese r Reserven und der wachsenden Tendenz, alle Gebrauchswerte zu thesaurieren , die Bedeutung dieses Moments. Es ist nicht nur das Sozialprodukt verringert, sondern auc h di e Verteilung verschoben , un d zwa r is t ein e Konzentratio n des Sozialprodukts eingetreten . Die Veränderunge n i n de m Kapitalgüterfond s ware n ähnliche r Art . E s fand zunächs t statt : eine „Liquidation " de r Unternehmungen, nämlic h ein e Verwandlung de r Vorräte sowie der Produktionsmittel i n „abstrakt e Kauf kraft", als o Anleihen oder Geld. Diese r in den einzelnen Unternehmunge n vor sich gehende Prozeß (er spielte sich in Landwirtschaft wi e Industrie ab) vernichtete ode r schwächt e di e sachlichen Vorbedingunge n fü r di e Warenproduktion i m ganzen betrachtet , ohn e jedoch di e wirtschaftliche Existen z der Unternehmungen im Rahmen der Volkswirtschaft zu bedrohen. Denn an Stelle der sachlichen Voraussetzungen und Produktionsbedingungen tritt die Kaufkraft, di e zumindest ein „Kommando über Arbeitskraft" darstellt . Da s heißt, auc h diejenige n Unternehmungen , dere n Sachkapita l sic h z u bloße r „Kaufkraft" umgewandel t hatte , verfügte n ebe n durc h dies e übe r di e Produktionskräfte. Selbs t wen n ma n eine völlige Aufzehrun g de r Kapitalgüte r vorstellt, als o einen wirtschaftlichen Zustand , in welchem nur mehr Fabrikgebäude, veraltet e Maschinen , erschöpft e landwirtschaftlich e Böde n un d Arbeitskräfte vorhanden wären, würde die Produktion bei Wiedereinfügun g in die Weltwirtschaft i m Rahmen de r alte n „Unternehmungen " un d derar t vor sich gehen, daß die Unternehmungen mit großer Kaufkraftansammlun g 145

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den Vorsprung vor den anderen auf dem Markte für Rohstoffe, Arbeitskräft e usw. hätten. Der „Liquidation" parallel ging die Konzentration des Kapitals, da die großen Unternehmungen der Rüstungsindustrie während des Krieges rasch wuchse n (forciert e Kreditgewährun g de s Reich s zu r Errichtun g vo n Erweiterungsbauten!) un d durch die Mobilisierung ihre r großen Vorräte an Rohstoffen un d Fertigprodukte n groß e flüssige Mitte l erhielten . Um die Lage bei Abschluß des Krieges, also im November 1918, richtig zu beurteilen, müßte n die hier schematisch angedeuteten Veränderungen i n ihrem quantitative n Ausma ß bekann t sein . Da s ist leide r nich t de r Fall . Wi r können nu r aufgrund vo n Symptomen uns ein Bild davon machen, welche s Ausmaß di e während des Krieges eingetretenen Veränderungen etw a habe n könnten. Damit soll nur angedeutet sein, wie sich die Volkswirtschaft mögli cherweise umschichtete 3. Hiernac h ergib t sic h folgendes :

Landwirtschaft Die Landwirtschaft gin g ohne Kriegskrise gleich in eine Zeit der Prosperität hinüber. Für das Frühjahr 1916 konnte man mindestens mit einer Preissteigerung von 70 % im Durchschnitt für landwirtschaftliche Produkt e rechnen 4. Bis Herbst 191 6 dürften sich die Preise verdoppelt haben, während gleichzei tig die Kosten nicht in dem gleichen Tempo gewachsen waren5. Blieben doch die Arbeitskosten bis dahin für die Landwirtschaft i m Durchschnitt ziemlic h unverändert. Die Ausfälle durch Einziehungen wurden durch Heranziehung unbezahlter Familienarbei t un d durc h Gefangenenarbei t meis t wiede r we n gemacht. Fü r das Jahr 191 7 muß man wohl de n Steigerungssatz bereit s mi t dem Dreifache n annehmen , insbesonder e wen n ma n di e großen, statistisc h nicht erfaßbaren Mengen in Rechnung zieht, welche zu Schleichhandelspreisen Absatz fanden. Dies e betrugen schon damals bis zum Acht- und Zehnfachen der regulären, gegenüber den Friedenspreisen wesentlich erhöhten amtlichen Preise . Daz u komm t endlich , da ß zahlreich e Produkte , welch e i n Friedenszeiten gar nicht zur Verwendung kamen , zu lohnenden Preisen Absatz fanden, so z. Β. Streu, Kartoffelkraut al s Düngemittel, Stroh, Abfälle als Surrogat fü r Futtermitte l usw. 6 . Neben der Erhöhun g alle r Preis e ist wichti g di e Produktionsmenge. Ge nauere Angabe n fü r dies e fehlen. Di e Preissteigerun g allei n läß t abe r nich t den Schluß zu , da ß die Ernteergebnisse seh r ungünstige gewese n sei n müssen. Denn die Heeresverpflegung erfordert e für mehrere Millionen Mann erheblich größere Mengen hochwertiger Lebensmitte l i m Vergleich zum Kon sum ebe n diese r Masse n i n Friedenszeite n (insbesonder e Fleischkonsum!) . Ferner fiel di e ausländische Zufuhr weg . Auc h be i gleichbleibenden Ernte n hätte man daher damit rechnen müssen, daß sich die für die Zivilbevölkerung zur Verfügung stehende n Lebensmittelmenge n u m 30-40 % verminderten. 146 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Ferner: Die landwirtschaftliche Bevölkerun g schränkte ihren Konsum nicht bloß nich t ein , sonder n steigert e ih n mi t de r wachsende n Entlehrun g de s Marktes a n Industrieprodukten . S o gin g Zunahm e de s Konsum s i n de r Landwirtschaft Han d in Hand mit wachsender Rente. Der Reinertrag wuchs um so schneller, je kleiner vor dem Krieg der Nettoertrag im Verhältnis zum Rohertrag war7 . Eine Einschränkung ist nur insofern geboten, als ein Teil des in Geld erzielte n Ertrages lediglich al s Liquidation vo n Produktionsmittel n (insbesondere Vieh) zu betrachten ist. Immerhin kann man mit Steigerungen des Reinertrags rechnen, welche vom Vier- bis Zwanzigfachen de s Friedensreinertrags gehen 8, i m Durchschnitt vielleicht das Sechsfache desselbe n (gering gerechnet ) betragen . Von dieser Veränderung i m Geldausdruck de r Ernt e und von der Steigerung de s Reinertrags is t verschieden di e Frage, o b die Kaufkraf t de r Land wirtschaft gewachse n ist . Di e Erhöhun g de s Reinertrags , i n Gel d ausge drückt, ist noch nicht gleichbedeutend mit einer Veränderung der Kaufkraft . Es kommt darau f an , o b und i n welchem Umfang sic h die Preise für Indu strieprodukte veränder t habe n (un d innerhal b de r Landwirtschaf t wiede r handelt es sich um das Wachstumstempo für die Preise der einzelnen Agrarprodukte, da s keinesweg s gleichmäßi g ist) . Wen n all e Produkte , di e de r Landwirt seinerseit s kaufen muß, i n demselben Tempo durchschnittlich i m Preise gestiege n wären , s o wäre di e Kaufkraf t de r landwirtschaftlichen Be völkerung unverändert geblieben 9. Sie wäre, allgemein gesprochen, nur dann gewachsen, wenn das Tempo der Preissteigerung in der Industrie hinter dem für Agrarprodukt e zurückbliebe . Dabe i is t allerdings noc h eine Einschrän kung notwendig : Währen d gerad e in der Landwirtschaft, un d zwar beson ders in de r mittleren un d kleinere n Landwirtschaft , de r Produktionsfakto r der Arbeitskraft unte r den Kosten überwiegt, un d weil insoweit de r Steigerungsquotient hinte r de m fü r di e übrigen Produktionsfaktore n z u berech nenden wei t zurückbleib t - s o ist gan z allgemei n auc h ei n relati v raschere s Ansteigen de r landwirtschaftliche n Reinerträg e i n Anschla g z u bringen . Diese Annahme wird auch nicht dadurch erschüttert, daß die Preise für Industrieerzeugnisse wege n de r Knapphei t a n Rohstoffe n un d Arbeitskräfte n vielfach mindesten s ebenso , ζ, Τ . noch rasche r al s di e der Agrarprodukte , gestiegen sind. Das zeigt sich auch in der Entschuldung des landwirtschaftli ­ chen Besitzes im Kriege und der Akkumulation größerer Geldsummen selbst in kleineren Betrieben. Das erklärt sich daraus, daß die Erzeugungsmenge in der Landwirtschaft bedeuten d weniger gesunken ist als in der Industrie. Der Industrie war mit der Absperrung vom Weltmarkt die Produktionsbasis fas t völlig entzoge n worden . Auc h mach t ihre Arbeitsorganisation ein e Anpassung a n den Arbeitermangel vie l schwerer . Infolgedesse n is t die Menge der Produkte in der Industrie rapid gesunken, was soweit geht, daß ganze große Werke ihre Betriebe stillegen mußten . Daz u kommt , da ß die Industrieprodukte für die Bedürfnisse der Kriegführung in Anspruch genommen wurden. Die Menge der in den freien Verkehr tretenden Industrieprodukte ist daher in 147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

noch rascherem Tempo gesunken als die Erzeugung; die Möglichkeit für den landwirtschaftlichen Erzeuge r z u kaufe n wa r außerordentlic h gering . Da s bedeutet aber : wachsend e Aufspeicherun g vo n Barmittel n i n de n Hände n agrarischer Produzenten, dere n Erzeugung trotz des Krieges ihren Fortgang nimmt. Wen n ma n blo ß di e Marktpreis e ansieht , wär e wahrscheinlic h di e Landwirtschaft im ganzen genommen in der Kaufkraft soga r etwas hinter der Industrie zurückgeblieben 10 - abe r dies e Preise de r Industrieprodukt e sin d eben das Resultat einer so geringen Produktion, da ß der Konsum notwendi gerweise außerordentlic h eingeschränk t werde n mußte . Abstrak t ausge drückt bedeute t das : Der relativen Kaufkraf t de s landwirtschaftlichen Pro duzenten fehlt di e Möglichkeit ihre r Anwendung, s o daß das Kaufkraftmit tel, Geld, in der Landwirtschaft akkumulier t wird. In der Industrie hingegen könnte zwa r di e Kaufkraft , i n abstract o betrachtet , infolg e de r enorme n Preissteigerungen noc h rasche r wachsen , abe r e s fehlt ih r di e Möglichkeit , sich auf dieser erreichten Preisbasis wirklich aufzubauen , d a die Mengen der erzeugten Produkte wei t hinter de r Friedenserzeugung zurückbleiben . Ab schließend kan n daher für die Landwirtschaft angenomme n werden, da ß sie durchschnittlich erheblic h mehr den Betrieb aufrechterhalten konnt e als die Industrie. Sie vermochte infolgedessen auch den Umständen angemessen erhebliche Mengen Produkte auf den Markt zu bringen, hatte aber keine Möglichkeit, di e Bedürfniss e nac h Industrieprodukte n z u befriedigen . Infolge dessen konnte sie Kaufkraft, Kapita l akkumulieren. Di e Landwirtschaft tra t daher - gewi ß nac h seh r erhebliche n Entbehrunge n i m Konsu m vo n Indu strieprodukten - mi t eine m gewaltige n Stoc k vo n Ersparnisse n i n die Friedenswirtschaft ein . Diese r Stoc k vo n Ersparnisse n sichert e ih r ei n Kom mando übe r Produktmassen , welch e - relati v genomme n - wahrscheinlic h größer sin d al s de r Anteil , de n di e Kaufkraf t de r Landwirtschaf t vo r de m Kriege am inneren Markt hatte. Das ist ein Ergebnis, welches man bei weit gehendster Vorsich t immerhi n au s de n gegenwärti g bekannte n Date n al s höchstwahrscheinlich ableite n darf .

Die Industri e Die Verschiedenartigkeit der Verhältnisse in der industriellen Produktion gestattet nich t eine auch nur oberflächliche schematisch e Skizzierung de r Verhältnisse während des Krieges, wie sie immerhin für die Landwirtschaft mög lich ist. Schon in Friedenszeiten macht e sich der Mangel eine r Produktionsstatistik seh r star k fühlbar . Immerhi n konnt e ma n sic h fü r einig e Produk tionszweige auf genauere Daten stützen und hatte in den Angaben der Sozialversicherungsinstitute, i n den Arbeiterzahlen für einzelne Produktionszweige, in der Entwicklung de r Lohnsummen, in der Einfuhr- und Ausfuhrstati stik usw . Anhaltspunkt e fü r di e wirtschaftliche Entwicklun g de r einzelne n 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Gebiete. Alle diese Vergleichsmomente fehlen jetzt, und auch für die schwere Industrie liegen, zumal für die späteren Kriegsjahre, nur sehr dürftige Angaben übe r Produktio n un d Rentabilitä t vor . Man konnte drei Gruppen von Industriebetrieben unterscheiden: 1 . Industrielle Unternehmungen mit gesteigertem Beschäftigungsgrad: Rüstungsin dustrie im engsten Sinne des Wortes. Produktionsmenge un d Preise wuch sen. Di e Rentabilität schnellt e empor . Di e Akkumulation de s Kapital s wa r rascher als die Geldentwertung. Diese Werke vermochten während des Krieges (insbesonder e durc h da s Hindenburgprogramm ) ihr e Werkanlage n z u erweitern un d z u modernisieren . Si e ware n vo n militärische n Rücksichte n nicht gehemmt, sondern genossen im Gegenteil den Vorzug, daß die übrigen Industrien mit ihnen nicht in Wettbewerb um Kapital und Arbeitskräfte treten konnten. Zu derselben Kategorie sind jene Werke zu rechnen, welche in den späteren Stadie n de s Kriege s (etw a sei t 191 7 in de n meisten Industrie zweigen) als „Höchstleisungsbetriebe" herausgehoben und vorzugsweise mit Rohmaterialien sowie mit Kohle beliefert wurden, während ihre Konkurrenten aus Gründen besserer Ökonomie ihre Betriebe stillegen mußten. 2. Industrieunternehmungen mi t vermindertem , abe r gute m Beschäftigungsgrad . Deren Tätigkeit war lediglich durch den Mangel an Rohstoffen und Arbeitskräften gehemmt. Ihre Rentabilität war trotzdem meist, gegenüber Friedenszeiten, ein e erhöhte. Den n sie konnten trot z verminderter Produktio n all e Kosten mit hohem Nutzen realisieren. Manche dieser Unternehmungen mögen allerdings, i n Anbetracht de r große n Geldentwertung , un d besonders , wenn sie zu Kriegsbegin n vie l produzierten, be i Kriegsend e mit einem Unterwert abgeschlosse n haben . 3 . Ein , wahrscheinlich kleiner , Tei l der industriellen Unternehmunge n ha t auch schon während de s Krieges mit Verlust gearbeitet. E r wa r nich t imstande , sic h au f Kriegsproduktio n einzustelle n und konnte seine Normalerzeugung nich t fortsetzen. I n Durchführung de r Kohlenverteilung wurd e dann ein großer Teil der Betriebe in Industrien mit geringer Rohstoffversorgung stillgelegt . Das bedeutete aber nicht immer eine Minderung de r Rentabilität gegenüber Friedenszeiten, d a ja erhebliche Entschädigungen bezahl t wurden . I n manche n Industrie n konnte n stillgelegt e Werke größere Gewinne als in Friedenszeiten ausschütten. 4. Da s Handelskapital lag, sowei t Außenhande l un d Handel mi t bewirtschafteten Produk ten, brach . Di e immer größer e Ausdehnung de s „illegalen " Handel s is t die Reversseite der wirtschaftlichen Regelung . An diesem aber waren die großen Handelsbetriebe nicht beteiligt. Deren Kapitalien sind daher am meisten zusammengeschrumpft. Man kan n als o in der Sphäre von Industri e un d Handel nich t von eine m einheitlichen Konjunkturbild e spreche n wi e in der Landwirtschaft. Fü r di e überwiegende Zahl der Betriebe aber mag gelten, daß sie imstande waren, ihren inneren Statu s z u kräftigen , durc h energisch e Abschreibunge n un d di rekte Reserverückstellungen groß e Mittel flüssig z u machen, welche entweder in der Form von Kriegsanleihe n ode r von Guthaben bei den Banken i n 149 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Erscheinung traten. Aber nur wenige Unternehmungen konnten diese Konjunktur z u eine r Ausweitun g ihre r Produktionsunterlage n benutzen . Auch der Umfang, welche n jede der oben genannten Kategorien erreich t hat, laß t sic h schwe r genaue r angeben . Durchschnittlic h kan n ma n anneh men, da ß zu r Rüstungsindustri e i m engere n Sinn e di e Betrieb e folgende r 20 Berufsgenossenschafte n z u zähle n waren : Bergbau , Hütten - un d Walzwerke, Eise n un d Stahl , Maschinen , Feinmechanik , Chemisch e Industrie , Leder-, Nahrungsmittelindustrie , Zucker , Fleischerei , Schmiederei . Dies e 20 Berufsgenossenschaften umfaßte n 1915: 3 326 000 versicherte Persone n („Vollarbeiter"), das waren 44 % der in allen 68 gewerblichen Berufsgenos senschaften ( 7 547 000) überhaupt Beschäftigten. Diese s Verhältnis hat sich wahrscheinlich währen d de s Krieges noch sehr wesentlich zugunsten diese r Rüstungsbetriebe verschoben . Ist die eine Hälfte de r Industrie schon während des Krieges in ihrer wirt schaftlichen Kraft gefestigt, in ihrer Rentabilität gesteigert worden, so erwartete die „Friedensindustrie" wiederu m vom Kriegsende und der Wiederherstellung de r Auslandszufuhre n ein e Hochkonjunktur. D a nirgend s mi t ei nem ungünstigen Kriegsende, sondern höchstens mit einem Remisfrieden gerechnet wurde, kam das auch in der Bewertung der Aktien aller Industrieunternehmungen zum Ausdruck. I m Durchschnitt haben die Industriepapier e während des Krieges gegenüber dem letzten Friedensstand Höherbewertun gen von 80-10 0 % erzielt. Dies e Kurssteigerunge n sin d nachträglic h nich t durch di e Aussichte n de r Industrie , woh l abe r durc h di e Geldentwertun g sanktioniert worden, mit der man zur Zeit der Kursbewegung natürlich nicht gerechnet hatte . Die Steigerung de r Rentabilitä t un d die steigende Bewertun g lasse n abe r noch keinen Schluß darauf zu, ob der Anteil der Industrie am Produktionsertrag der Gesamtwirtschaft gewachse n ist . E r bleibt gleich , wen n de r Ertra g des ursprünglic h investierte n Kapital s sic h lediglic h i m Ausma ß de r Geld entwertung erhöht hat. Dies bedeutet dann nämlich, daß die Industrie durchschnittlich imstand e ist, die Preise für ihre Endprodukte um soviel z u erhöhen, als sich die Kosten gesteigert haben, und bedeutet weiterhin, daß die Erhöhung in demselben Tempo wie für andere Waren auf dem Markte sich vollzieht. Bleib t der Ertrag derart (als Realertrag betrachtet) gleich, s o ist damit bei gleichzeitigem Rückgang der Gesamtproduktion un d gleichzeitiger Verarmung der Volkswirtschaft scho n gesagt, da ß der relative Anteil de r Industrie am Sozialprodukt gewachse n ist . Da s ist auch wahrscheinlic h de r Fall . Er ist gewachsen, weil der relative Anteil breiter Konsumentenschichten zu rückgehen mußte . Ob da s relativ e Wachstu m diese s Industrieanteil s hinte r de m de r Land wirtschaft zurückbleibt , läß t sic h nicht nachweisen , doc h vermuten. Den n die Landwirtschaf t wa r z u s o weitgehende n Produktionseinschränkunge n wie die Industrie nicht genötigt. Di e Bewirtschaftung erfaßt e nich t alle ihre Produkte und griff nicht durch. Die Preissteigerung war für landwirtschaftli 150 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

che Produkte trotz geringerem Produktionsrückgang nicht geringer als in der Industrie. I n der Landwirtschaft wi e in der Industrie haben sich also Kaufkraftmassen akkumuliert ; i n de r Landwirtschaf t relati v höher e Summe n (wenn ma n die Kaufkraft vo r dem Kriege und die Konsumgewohnheiten i n Betracht zieht), in der Industrie in konzentrierterer Weise. Im großen ganzen zeigt sich also eine gleichmäßige Entwicklung für alle Produzentenschichten: Sie sammeln Kaufkraft un d rüsten sich, die kommende Periode der Produktion durch wirksames Kommando über Kapital, also über Arbeitskräfte und Rohstoffe, z u nutzen . Allerdings, auch diese Verschiebungen trugen, selbst wenn man einen Remisfrieden vorstellte, ihre Grenzen in sich. Die Rentabilität war bedroht von wachsenden Kosten , insbesonder e Löhnen . Un d umgekehrt , sowei t di e Löhne sich den steigenden Preisen nicht anpassen konnten, sowei t die kleinen Kapitalisten, Rentner , Beamte n ihre Kaufkraftreserven aufgezehr t hat ten, mußte der Markt fehlen, um die Produkte bei derart gestiegenen Preisen aufzunehmen. Ei n Export konnte , be i de n damals noc h gegebene n Valuta kursen, nicht in Frage kommen. Denn die Preissteigerung im Inland ging im allgemeinen weite r al s die Senkung de s Markkurses und die Preissteigerun g im Ausland. Die überall, selbs t in den Rentnerschichten, abe r noch vorhandenen Kaufkraftreserven ließe n jedoch dieses Marktbild noc h nicht existent werden. Dann hat der plötzliche Zusammenbruch und der Absturz der deutschen Valuta di e ganze Lag e gründlichst verschoben , un d s o sind auc h all e praktischen Vorschläg e au s jene r Zei t (Konsumeinschränkunge n zu m Zwecke de r Exporterleichterung , Bildun g vo n Zwangssyndikaten zu r For cierung de s Exports , Schaffun g vo n Wirtschaftsformen , i n denen billigere r Export möglich wäre , ohne daß dieser die Form des Dumping anzunehme n brauchte usw. ) gegenstandslo s geworden . Die wirtschaftliche Lage im Frühherbst 1918 , die Verteilung der Kaufkraf t auf die Klassen der Gesellschaft un d die einzelnen Produzentenschichten hat infolge der seither eingetretenen Umwälzungen allerding s nur mehr historische Bedeutung. Trotzdem sei im Anschluß an meine früher zitierte Abhandlung11 skizziert , wi e möglicherweise sic h die Verteilung des Sozialprodukts am End e der Feindseligkeiten gestalte t habe n mag. Zunächs t se i angenom men, daß die reale Produktion vor dem Kriege (also das „Sozialprodukt", das zum Konsu m gelangend e Ergebni s de r Produktion i n Industri e un d Land wirtschaft) sic h folgendermaße n au f di e wichtigsten dre i soziale n Gruppe n verteilte: Landwirtschaftliche Unternehmer 100

Industrielle un d kommerzielle Unternehme r 120

Arbeiter, Angestellt e und Beamt e 150

Diese Ziffern solle n zugleic h da s Verhältnis de s Geld- un d Realeinkom mens vor dem Kriege andeuten. Das Einkommen, i n Geld ausgedrückt, ha t 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nun bei allen Schichten ein e erhebliche Vermehrung erfahren. U m di e Verschiebung anzudeuten, se i angenommen, da ß sich das Verhältnis folgender maßen geänder t habe : Landwirtschaftliche Unternehmen 390

Industrielle un d kommerzielleUnternehmen 300

Arbeiter, Angestellt e und Beamt e 300

Diese Ziffern gebe n das Verhältnis des Geldausdrucks der einzelnen Ein kommensmassen. Si e stellen aber nicht ohne weiteres die Verteilung des Sozialproduktes dar . Den n gegenwärti g entsprich t keinesweg s da s Realein kommen genau dem Geldeinkommen. Nu r wenn man annimmt, daß alle sozialen Schichten in gleichmäßiger Weis e Erzeugnisse aller Produktionsphä ren kaufen , auc h i n gleichmäßige r Weis e imstand e sind , sic h de s illegale n Handels zu bedienen, würden sich die Willkürlichkeiten der Preisbildung ineinander aufheben. Würd e man durchschnittlich, bis zum Herbst 1918 , eine Verdreifachung de r Preise annehmen, s o käme man zu folgenden Ziffern al s Indizes der Realeinkommen, die mit den oben gegebenen Ziffern für die Produktion vo r de m Krieg e vergliche n werde n könnten : Landwirtschaftliche Unternehmer 130

Industrielle un d kommerzielle Unternehme r 120

Arbeiter, Angestellt e und Beamt e 100

Diese Ziffern würden andeuten, daß alle Klassen zusammengenommen im Herbst 191 8 be i de m damalige n Preisnivea u mi t ihre m Einkomme n nich t ganz soviel hätte n kaufen könne n al s vor dem Kriege. Das heißt, de r Geldausdruck de r gesamten Einkommen war nicht so rasch gestiegen, da ß (Vorhandensein der Waren vorausgesetzt) ebensoviel als vor dem Krieg hätte konsumiert werde n können. Überdie s konnte, mangel s entsprechender Waren quantitäten, nich t da s ganz e Einkomme n i n Ware n umgesetz t werden . E s wurde z.T . akkumuliert . Die Indize s fü r di e ganze n Produktionsgruppe n (di e hie r nu r beispiels weise gemeint sind, um eine der Möglichkeiten anzudeuten; die jedoch nicht den Anspruch erheben , sic h au f Daten zu stützen!) geben noch nich t eine n Index fü r di e Verschiedenheit de r Einkomme n pe r Kopf . Nehme n wi r di e Daten vor de m Krieg e a n wie : Landwirt 10

Unternehmer 12

Arbeiter 4

so mag sich der Durchschnitt des Geldeinkommens in den einzelnen Schichten bis zu m Herbs t 191 8 verschoben habe n zu : 60

50

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12

oder au f Kaufkraf t reduzier t (dreifach e Preis e gegenübe r 1914) : 20

17

4

Diese letzte Ziffernreihe sol l andeuten, wie sich bis Herbst 191 8 das Realeinkommen gestaltet hätte - wen n genügend Waren zu den damals gegebenen Preisen auf dem Markte gewesen wären. Diese Voraussetzung aber traf schon im zweite n Kriegsjah r nich t meh r zu . Imme r wiede r strömt e zusätzlich e Kaufkraft i n de n Mark t ei n un d macht e Entstehe n eine r neue n Gleichge wichtslage notwendig , z u dere n Herstellung Preisänderunge n hätte n erfol gen müssen. Insowei t sic h jedoch die Inflation noc h nicht ausgewirkt hatte , blieben Kaufkraftmasse n unrealisier t in den Händen der Konsumenten un d mußten für spätere Wirtschaftsperioden aufbewahr t werden, zum Teil sogar in natura , d . h . i n thesaurierte n Noten . Die wichtigste Verschiebung, welch e sich zwischen der Kaufkraft de r einzelnen Schichten während de s Krieges anbahnte, is t die zwischen Industri e und Landwirtschaft . Da s steigend e ökonomisch e Gewich t de r Landwirt schaft, da s relative Zurückbleiben manche r gewerbliche n Gruppe n un d der Arbeiter, insbesonder e abe r de r Angestellte n un d Beamten , mußt e u m s o stärker in Erscheinung treten, je länger der Krieg dauerte. Schon im Herbst 1918 war dies e Verschiebung sowei t gediehen , da ß der Beschäftigungsgra d mancher Industrien infolge Mangels an Rohstoffen un d Kohle zeitweise wesentlich beeinträchtig t war . Di e Kriegskonjunktu r began n selbs t währen d des Krieges in manchen Industriezweigen abzuflauen. Hingegen hielt sich die Konjunktur fü r di e Landwirtschaf t durchgehend s au f ihre m Niveau . Ein e weitere Dauer des Krieges über den Herbst 1918 hinaus hätte diese Verschiebung ers t deutlic h sichtba r gemacht . Di e Gestaltung de r Konjunktu r i n Österreich-Ungarn abe r zeigte klar, wi e sich die Dinge bei weiterer Kriegsdauer hätte n entwickel n müssen 12. Die entscheidenden, währen d des Krieges gesetzten wirtschaftlichen Tat sachen sin d dahe r folgende : Wi r müsse n 1 . feststellen eine n weitgehenden Aufbrauch de r Produktivgüter , ein e privatwirtschaftliche Liquidatio n der selben in den Händen der Kapitalisten. 2 . Gleichzeitig eine Verschiebung des relativen ökonomische n Gewicht s de r einzelne n Schichten . ad 1 . Di e Zerstörung de r Produktionsmittel bedeutet e für di e bisherige n Besitzer privatwirtschaftlich nich t einen Verlust, sondern nur für die Volkswirtschaft. Den n da sich die Liquidation der Produktionsmittel i n privatkapitalistischen Forme n vollzoge n hat , wurd e de n bisherige n Besitzer n de r Produktionsmittel Kaufkraf t zugeschwemmt . Da s war gleichbedeutend mi t dem Kommando über Produktionsmittel, mi t deren Erzeugung in den nächsten Wirtschaftsperioden ma n rechnen konnte . Ebens o bedeutet e e s Kommando über Arbeitskräfte, welch e in den späteren Produktionsperioden zu r Verfügung stehe n mußten. Insoweit als auch eine sachliche Retablierung der Produktionsstätten erfolgen mußte (und nicht bloß Einkauf von Rohstoffen, 153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Vornahme von Reparaturen), waren die Unternehmer durch die Liquidation theoretisch auc h Herre n de r künftige n Produktion , dere n Richtun g si e j e nach de r Lag e (also auch: je nach den politischen Wandlungen ) bestimme n konnten. Dieser Aufbrauch de r Produktionsmittel wa r nur insofern auch für die Kapitalisten, bzw . Unternehmer , mi t eine m Verlust verbunden , al s die Entwertung des Geldes im Inland und demgemäß auch im Ausland eine Reduktion diese s „Gewinnes " bedeutete . ad 2. Di e Verschiebung des relativen Gewichts der einzelnen gesellschaft lichen Klasse n ka m bis zum Herbs t 191 8 gleichfall s nich t voll zu r Auswir kung, d a sich di e Preisrevolution noc h nicht ganz durchgesetz t hatte . Wa s demnach der Laie damals noch als eine „vorübergehende Kriegserscheinung " betrachtete, al s wirtschaftliche Störung , di e nach Aufhöre n de r Feindselig keiten bal d wiede r ausgegliche n werde n könnte , wa r Wirkung de s Krieges, welche noc h voll zu m Austra g komme n mußte . Ers t danach ode r allenfall s parallel damit konnte eine Wiederanknüfpung de r Welthandelsbeziehunge n die Wiederherstellun g eine s geregelte n Zirkulationsprozesse s au f andere m Preisniveau bringe n . . .

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8. Problem e der Sozialisierung. Red e im „Verein für Sozialpolitik" a m 16. Sept. 191 9 Sozialismus un d Kommunismu s . . . Der Bolschewismus is t eine rein voluntaristische Strömung . I n den extremen Formen dieser Bewegung wird von der Beschaffenheit de r konkreten historischen Situatio n abgesehen . E s wir d au f eine n Grundgedanke n de s Marxismus verzichtet, da ß nämlich in der Entwicklung ei n bestimmtes Stadium abgewarte t werde n müsse , bevo r di e Realisierung de s sozialistische n Ziels möglich ist. Der Bolschewismus knüpft an die elementarsten immer gegebenen revolutionäre n Instinkt e an . Da ß dies e Richtung di e Bezeichnun g „Spartakisten" gewähl t hat, ist nicht ganz zufällig, sonder n symptomatisch . Denn di e Bewegun g de s Spartaku s is t au s de n elementarsten , instinktive n Gefühlen eine r Auflehnun g gege n brutal e Herrschafts - un d Machtverhält nisse erwachsen, ih r liegt nicht eine positive Idee eines neuen Gesellschafts zustandes zugrunde , sonder n lediglic h de r heftig e Trieb , di e Fessel n de r Sklaverei z u zerbrechen. Es sind dieselben revolutionären elementarste n Instinkte, welch e sic h i m Bolschewismu s aussprechen . Wei l e r Auflehnung , Revolution, selbs t um den Preis der Zerstörung ist, nimmt in ihm der Sozialismus die Form eines politischen Programms an. Er verkörpert die Revolution gegen jede eingealterte Ordnung, den Protest der menschlichen Seele gegen jede Vergewaltigung; e r betont hingegen erst in zweiter Linie die inneren Widersprüche i m Kapitalismus . Dies e sind ih m nu r Anla ß un d Argument , der Reifegra d de r kapitalistische n Entwicklun g is t ih m gleichgültig . Dahe r stammen die Sympathien, welch e ih m soziologisch ungeschult e Intellektu elle so häufig entgegenbringen . Auch die Sozialisierung ist infolgedessen für den Bolschewismus ein politisches Problem, das man, wenn es nicht anders möglich ist, auf dem Wege der Gewalt realisiere n muß . Un d dari n liegt de r entscheidend e Differenzpunk t zwischen de m Bolschewismu s un d de m wissenschaftlichen Sozialismus : i n der Rolle, welche die Gewalt in der geschichtlichen Entwicklung spielt. Nach der Auffassun g de s Bolschewismu s mu ß de r Sozialismu s erober t werden , aber nicht nur, wie man einen Wahlkreis erobert, mit Überredung, mi t Agitation - sondern , wen n e s not tut, mi t Gewalt, wei l all e kapitalistischen In stinkte, all e gesellschaftliche n Kräft e de r bürgerliche n Schichte n sic h mi t Klauen und Nägeln an die kapitalistische Ordnun g klammer n und diese anders als mit Gewalt nicht gestürzt werden kann. Der Bolschewist steht damit in dem denkbar schroffsten Gegensat z zum Sozialisten (wie ich nun die bei155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

den Type n nenne n möchte) , de r di e Entwicklun g nich t zwingen , sonder n höchstens lenken und beschleunigen will. Der Bolschewist wird dem Sozialisten sagen: Setze einmal den Fall, da ß sämtliche Menschen de n Sozialismu s wollen würden. Nicht bloß die Arbeiter, aus ihrem Interesse heraus, vielfach unklar und triebhaft , sonder n auc h die Angestellten und Unternehmer, di e Kapitalisten und Nutznießer von Grundrente, weil sie alle den Kapitalismus verloren geben und die allgemeine menschliche Würde, die Möglichkeit eines friedlichen Gesellschaftszustande s i m Sozialismus sehen , wei l si e bei eine m Widerstande die Entzündung de r gefährlichsten Kämpf e befürchten , i n denen sie ihre Positio n doc h nich t behaupte n könnten . Setzen wir diesen heute höchst irrealen Fall - könnt e der Bolschewist sagen - un d wer würde bezweifeln, da ß morgen schon Deutschland eine sozialistische Gesellschaft , ohn e arbeitslose s Einkommen , ei n Lan d mi t guter , sic h immer verbessernde r Arbeitsorganisation , ei n Lan d nich t nu r de s soziale n Friedens, sonder n auc h de r ökonomische n Entfaltun g wäre ? Freilich , nie mand kann das bezweifeln. Darau s folgert de r Bolschewist: Wenn die Menschen heute nicht wollen, so kann doch eine politische Situation eintreten, in der ich sie zum Willen zwingen kann. Der Sozialist wird dem Bolschewisten antworten: Dein e These ist richtig, abe r daß viele Kreise heute in Deutschland den Sozialismus nicht wollen, da ß insbesondere alle Mehrwertempfän ger de n Sozialismu s nich t wollen , is t kein e Zufälligkeit, si e ist ein e gesell schaftliche, un d zwa r besonder s gu t fundierte Tatsache ; sie erklärt sic h au s dem gemeinsame n Prinzip , welche s wir d beid e vertreten, au s de m Prinzi p der materialistische n Geschichtsauffassung . Di e Renten - un d Zinsenemp fänger müsse n sic h gege n de n Sozialismu s sträuben , si e könne n au f ihr e Macht nicht verzichten. Deine These ist also kein Argument für die sofortige Realisierbarkeit de s Sozialismus . Trotzdem , d a Sozialismu s nich t nu r ei n ökonomisches, sonder n auc h politische s Proble m ist , s o folgt darau s noc h nicht, da ß e r mi t Gewal t realisier t werde n kann , den n di e Gewal t is t kei n taugliches Mittel , u m de r gesellschaftlichen Entwicklun g ihr e Bahn vorzu schreiben. Und das ist tatsächlich der letzte Differenzpunkt zwische n Bolschewismus und Sozialismus. Der Sozialist könnte sogar mit gutem Grunde sagen: Daraus, daß in der Vergangenheit Gesellschaftsordnungen mi t Gewalt umgestoßen wurden, folgt noch nicht, daß dies auch heute möglich ist. Auch die Widerstandskraft de r Klassen, nicht nur die der Staaten, unterliegt soziologisc h bedingten Wandlungen, un d gerade unser Prinzip müßte uns lehren, welch e Wandlungen de r Klassenkamp f i n der kapitalistische n Gesellschaf t erfährt . Denn diese hat die Klasse in ihrer Stabilität gefestigt, si e zum Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit un d ihrer gesellschaftlichen Mach t gebracht, un d infolgedessen kann heute eine Klasse auf die Dauer nicht die Herrschaft übe r andere Klasse n ausüben , is t si e au f di e Daue r nich t imstande , solang e di e Klassenschichtung noc h besteht , diese r ihre n Stempe l aufzudrücken . Un d der Sozialist könnte mit einer besonders maliziösen Wendung sagen: Gerade, 156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

daß wir di e Gewalt al s unmoralisch un d unmöglich empfinden , da ß unser e Ideologie eine Entwicklung ohn e Gewalt als allein mögliche postuliert, ist ja ein Sympto m dafür , da ß di e Gewal t nich t meh r möglic h ist . Dieselb e Menschheit, welch e Jahrtausende hindurch - dari n hast Du recht - ihr e Geschichte mit Gewalt gemacht hat, wird ihrer überdrüssig, weil sie nichts mehr mit ih r auszurichte n vermag . Für die bolschewistische oder kommunistische Methode, von der heute so viel gesprochen wird, und zwar in einer Bedeutung, als ob es nie ein kommunistisches Manifest gegebe n hätte, is t der ökonomische Zustand vergleichsweise nebensächlich. Taktik und Zuwarten hat für den Bolschewismus lediglich die Bedeutung, daß die politische Situation reif für die Tat sein muß. Daß die Welt für den Sozialismus „reif" ist, bedeutet für ihn nicht, daß ihre Struktur zum Sozialismus drängt, sondern daß psychologische Angstzustände entstehen - se i es wegen Kohlennot ode r wegen Nahrungsmangels, di e als Explosivstoffe benütz t werde n können , mi t dere n Hilf e di e sozial e Ordnun g aus den Angeln gehobe n un d verändert werde n kann . Au s der allgemeine n Voraussetzung des Bolschewismus, daß die Volkswirtschaft mi t Gewalt umgeformt werden kann, ergibt sich dann, daß sich der Bolschewismus vorwiegend der Heimkehrer und Arbeitslosen bedient , da ß er - di e Bewegung de s Proletariats seiner These nach - tatsächlic h zu einer Klassenbewegung inner halb des Proletariats geworde n ist , da s er spaltet; ergib t sic h letzten Endes, daß gar keine ideelle Gemeinschaft meh r besteht zwischen der Gruppe von Führern, welche dem Sozialismus zustreben, und der Masse, die lediglich als Werkzeug gebrauch t un d j e nac h de r Situatio n auc h behandel t wird . So erklären sic h die Forderungen de s Bolschewismus, welch e einem wis senschaftlichen Sozialiste n eigentümlic h un d auc h etwa s absur d erscheine n müssen, d. h. , da ß vorwiegend mit Forderungen operiert wird, welch e dem Sozialismus unwesentlich, ja konträr sind (z. Β . bedenkenlose Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung), alles aus der Intention heraus, das System zu erschüttern, z u zerbrechen, di e politische Macht zu erobern und dann die sozialistische Ordnun g z u etablieren . So wi e da s römisch e Imperiu m di e Gebiete fremde r Völkerschafte n un d damit zugleich Grundrente eroberte, will der Bolschewismus das nach seiner Meinung den Arbeitern zustehende Zins- und Renteneinkommen der Gesellschaft zuführen . Da s Mittel hierz u sol l ih m di e Sozialisierung sein . Die Sozialisierung de s Bolschewismu s umfaß t zwe i Gruppe n vo n Maß nahmen. Ersten s solche, welche die Menschen als Konsumenten, un d zweitens solche, welch e di e Menschen al s Produzente n erfassen . Die Maßnahme n de r erste n Gruppe , ζ. Β . die Requisitio n vo n Bour ­ geois-Wohnungen fü r da s Proletariat , da s Wegnehme n un d Verteile n vo n Gebrauchsgegenständen, laufe n darau f hinaus , all e von der kapitalistische n Produktion geschaffenen Wert e mechanisch in die Hände des Proletariats zu geben. Diese r Konsumentenkommunismu s is t etwa s gan z Primitive s un d 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Elementares. E r knüpf t a n di e Verwilderun g währen d de s Kriege s an . E r kann da s Syste m de r Volkswirtschaf t entscheiden d nich t verändern , wei l heute die Bedingungen, unte r welchen die Gleichheit des Einkommens produktionspolitisch vorteilhafte Wirkungen haben könnte, nicht gegeben sind. Der Bolschewismus muß das Vorhandensein eines großen ethischen Kapitals im Proletariat postulieren, so wie die bürgerliche Revolution des Jahres 1789 durch di e intellektuelle Überlegenheit ihre r Bewegung de n Sieg davontrug . Nur unter dieser Voraussetzung wär e die Gleichheit de s Einkommens ein e sehr starke Triebkraft. Tatsächlic h kann aber der Bolschewismus nicht in einer solchen Situation operieren. Er operiert mit einem Proletariat, welches in seinem moralischen Habitus durch den Krieg verschlechtert wurde, und daher ist der Konsumentenkommunismus eine Maßnahme agitatorischen Cha rakters, di e keine fruchtbare n soziale n Kräft e entfesselt . Die zweite Gruppe von Maßnahmen hat die Produktion zu m Objekt. E s soll i n eine m Moment di e gesamte Produktion i n eine sozialistische umge wandelt werden . Welche s is t di e Methode der „Sozialisierung" ? (Dabe i se i betont: Di e folgenden Ausführunge n stütze n sich lediglich au f di e [aus der Sowjetunion] zu uns gelangten, nich t absolut beglaubigten Nachrichten. E s haftet ihne n daher ein Moment der Unsicherheit an. ) In der agraren Sphär e haben wir im Wesen den Versuch, de n großen Grundbesitz zu zerschlagen . Das bringt den Verlust so mancher produktionstechnischer Errungenschaf ten mit sich. Der Bolschewismus nimmt zwar die Grundrente den bisherigen Nutznießern weg , wen n er das Land den Bauern gibt, abe r er vernichtet si e zugleich. Di e Erträg e sinken . E s wird ein e Kleinbauernagrarwirtschaf t ge schaffen; sein e Politik is t also „inner e Kolonisation", nu r selten Produktiv genossenschaften vo n Landarbeitern . Dies e letzter e Method e hat , wi e be richtet wird , meistens versagt, s o daß in der agrarischen Sphäre die bolschewistische Bewegun g überwiegen d individualistische n Kleinbesit z mi t sic h bringt. Ih r Sinn ist auch überwiegend politisch: die Masse der ländlichen Bevölkerung entwede r fü r da s bolschewistische Regim e z u gewinne n ode r sie wenigstens z u neutralisieren . Interessanter sin d di e Maßnahme n i n de r industrielle n Sphäre . De r Bol schewismus will die ganze volkswirtschaftliche Produktion , die Zirkulation, das Geld- und Kreditwesen erfassen . Wi e geschieht das? Zunächst wird di e Scheidung i n Groß - un d Kleinbetrieb , Fabri k un d Handwerk , akzeptiert . Das Handwerk bleib t als privatwirtschaftliches Rudimen t bestehen und soll späterhin durc h di e Entwicklun g hinweggeschwemm t werden . Hingege n werden die Großbetriebe i n die Hand de r „Gesellschaft " gegeben . Die s erfolgt durch Übergabe der Fabriken an die Arbeiter (in der ersten Phase; jetzt sollen Ansätze zur Organisation der Wirtschaftszweige gegebe n sein). Dies e wählen de n Führer, welche r de n Betrieb leitet . D a keine Entschädigung a n die Vorbesitzer gegebe n wird, auc h kein Teil des Erträgnisses nac h den uns zugekommenen Nachrichte n a n di e Allgemeinhei t abgeführ t wird , s o verwandelt der Bolschewismus di e Produktionsbetriebe i n eine Reihe von Pro158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

duktivgenossenschaften, als o schafft etwas ganz anderes, als was dem sozialistischen Gedanke n ursprünglic h zugrund e lag . Produktivgenossenschaften vo n Kleinkapitaliste n entstehe n also , wen n diese Methode durchgeführt wir d un d gelingt. De r ganze Mechanismus der kapitalistischen Produktion : Markt , Preisbildung , Spie l vo n Angebo t un d Nachfrage, bleib t prinzipiell weite r bestehen, wenngleic h e r starke Störun gen erfährt. Folg t nun aus diesem Resultat, da ß die Sozialisierung al s „Voll sozialisierung", uno actu, nicht möglich ist? Oder könnte sie, wenn auch anders, versuch t werden , un d wi e wär e da s möglich ? Es sind, glaub e ich , nu r zwe i Möglichkeite n denkbar : Die erst e Möglichkei t würd e dari n bestehen , vo n eine r Zentralstell e au s eine Organisation des ganzen Wirtschaftslebens z u schaffen, ein e Organisation, welche sämtliche Produktionszweige in sich schließt und ins Gleichgewicht bringt. Diese Methode könnte in einem Wirtschaftsgebiet, wi e es Rußland ode r Ungar n ist , deshal b nich t zu r Verwendun g kommen , wei l j a ein gewisser Reifegrad kapitalistische r Entwicklun g daz u gehört, un s eine Vororganisation des ökonomischen Prozesses zu schaffen, welche als Grundlage sozialistischer Wirtschaf t diene n könnte . Wenngleic h Rußlan d un d auc h Ungarn groß e Industri e haben , s o ist doc h di e Volkswirtschaft al s Ganze s nicht durchorganisiert. Di e Großindustrie ist gleichsam nur wie Inseln in einem andersartigen Medium der Volkswirtschaft zerstreut . Eine solche Organisation de r ganze n Volkswirtschaft vo n zentraler Stell e aus wäre technisch nur in einer hochentwickelten Volkswirtschaft möglich, aber sie wäre dort an Bedingungen geknüpft, welch e nirgends in Europa gegeben sind und welche durch das Mittel der politischen Aktion nich t ersetzt und geschaffen werde n können. Die zweite Möglichkei t besteh t darin , di e Sozialisierung durc h Mitte l z u machen, welch e eigentlic h de r Marktwirtschaf t angehören . Ma n versuch t also, die Automatik des kapitalistischen Markte s so zu verändern, daß diejenigen Resultat e herausspringen , welch e de r Bolschewismu s postuliert . S o versuchte ma n i n Ungarn di e Preisdaten, welch e für da s Proletariat wichti g sind, so zu ändern, und damit den Verteilungsprozeß so zu gestalten, daß die Kaufkraft de s Proletariats allmählich und rasch die Kaufkraft de r kapitalistischen Schicht überflügelt. Durc h ein e Veränderung de r Löhne und eine Beeinflussung de r Preise sucht man das Resultat zu erreichen, das durch die Organisation de r Wirtschaf t nich t erreich t werde n kann . Diese Methode kann aber das Weiterbestehen des Marktmechanismus, der Preise und des Geldes nicht verhindern, setz t es vielmehr voraus. Sie unterwirft sic h dahe r den Gesetze n dieses Marktes. Dami t aber ist schon gesagt , daß ein solches Beginnen fruchtlo s ist . Wede r Überwälzungserscheinunge n noch Fernwirkungen solcher diktatorisch bestimmten Preisdaten können auf die Dauer verhinder t werden . Tatsächlic h ha t di e Methode, di e in Ungar n praktiziert wurde , u m da s Proletaria t kaufkräftige r z u mache n durc h di e Festsetzung vo n Löhnen , di e gleichkame n de m höchste n kapitalistische n 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Einkommen, nu r z u eine r Reih e vo n wilde n Uberwälzungsvorgänge n ge führt, z u Preisbewegungen, di e nicht mehr gemeistert werden können. Be stenfalls un d letzte n Ende s kommt e s zu eine m Wettlau f zwische n Kapita l und Einkommen, un d es wird ein e Situation geschaffen, i n welcher die Arbeiter durch die zwangsweise zugeteilte höhere Kaufkraft imstand e sind, den größten Teil der Konsumgüter zu verbrauchen, die Produktion überwiegen d für sic h arbeite n z u lassen, wodurc h di e Investitionen un d dami t di e Mög lichkeit einer kontinuierlichen Produktion in Frage gestellt werden. Im günstigsten Falle , wen n di e Gütererzeugun g kein e Unterbrechun g un d kein e Schmälerung erfährt , wen n die Herstellung vo n Produktionsmitteln sicher gestellt würde, würde diese Methode doch zur Naturalwirtschaft, un d zwar zur Sicherstellung von Minima, führen. Dari n ähnelt der Bolschewismus fatal de r Kriegswirtschaft , un d da er bisher historisch stet s nur i m Kriegszu stand gegeben war, so führt er zu einer regulierten Autarkie; er müßte, im politischen Friedenszustand , z u eine m Arbeitermerkantilismu s führen . Den n nirgends sind die Bedingungen, unte r denen er sich auswirkt, derart , da ß er wirklich da s Gesamt e de r Volkswirtschaft z u organisiere n vermöchte , un d daher müßte er im Wettlauf mit der ihm vorerst noch überlegenen ökonomischen Maschine des internationalen Kapitlismus (die immer die Tendenz hätte, ihn wirtschaftlich mattzusetzen ) unterliegen oder den Vorsprung des Kapitalismus durch merkantilistische Maßnahmen auszugleichen trachten . Die Methode de s Bolschewismus is t di e eines isolierte n Sozialismus . Das, wa s heut e di e bolschewistisch e Takti k charakterisiert , würd e i n überwiegendem Maß e von selbst wegfallen, wen n er eine internationale Erscheinung wär e - womi t sich von der andern Seite die Wahrheit de s Wortes zeigt, da ß Sozialismus nu r internationa l möglic h ist . Ferne r zeig t sich, da ß der Bolschewismus , de r Sozialismu s de r Isolierun g un d de s Mangels , nu r dort möglich ist, wo das Proletariat die politische Gewalt erobern kann, und daher gerade überall dort, wo primitivere Zustände herrschen und wo die anderen Klassen leichter überwältigt und zeitweise außerstande gesetzt werden können, ih r politische s un d ökonomische s Gewich t i n di e Waagschal e z u werfen. Darau s folg t di e paradox e Situation , da ß da s Proletaria t u m s o schwerer die Macht erobern kann, j e mächtiger e s ist. Den n je mächtiger es ist, um so mächtiger, u m so kapitalistischer ist auch die Wirtschaft, i n der es steht, un d i n de r höchstgesteigerte n kapitalistische n Volkswirtschaf t sin d Veränderungen durc h Gewal t au f di e Dauer nich t möglich . Den Zug zur Totalität, zu m Wirtschaftsplan, ha t nicht bloß der Bolschewismus, sonder n naturgemäß jeder Sozialismus. E r ist heute nur zurückge treten, wei l di e Reminiszenzen a n die Kriegswirtschaft un d außerde m viel leicht auch manche Vorschläge eines universalen Wirtschaftsplanes daz u beigetragen haben, de n Sozialismus z u diskreditieren. I n diesen Plänen ist der Sozialismus aufgefaß t al s ei n bloße s Organisationsproblem , un d da s ist es, was viel e Sozialiste n veranlaßte , dies e rationalistisch e un d technizistisch e Richtung abzulehnen . Besonder s nah e de n kriegswirtschaftliche n Gedan 160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

kengängen stehen die Sozialisierungsvorschläge Neuraths (Programm Neurath-Konrad-Schumann)1, dere n Durchführun g ein e allgemein e Überein stimmung de s Willens und ungebrochene staatliche Autorität voraussetzt . All diese Pläne sind heute im voraus zum Scheitern verurteilt. Die Kriegswirtschaft hatt e die ganze Autorität des Staates hinter sich und konnte sich auch halb realisieren. Welche Autorität aber hat ein zentralstatistisches Amt? Alle diese Pläne müssen daher letzten Endes den Zwang postulieren. Und der Zwang, nach vierjähriger Kriegswirtschaft, um einen Wirtschaftsplan durchzusetzen, mu ß entweder, ernstlic h gewollt , i n den Bolschewismus führe n oder wirkungslos bleiben. So sind diese Tendenzen einer universalen Sozialisierung bisher nicht zu einer praktischen Bedeutung gelangt. Un d es stellt sich das Problem der Sozialisierung in der anderen Wendung, wenn man die Revolution nicht als Weg zum Aufbau des Sozialismus, sondern lediglich als Wegräumung politischer Hindernisse auffaßt, nac h der erst der Aufbau zu leisten ist, wenn man also das Problem der Sozialisierung als solches der Entwicklung auffaßt, das heute nur schrittweise gelöst werden kann, folgendermaßen: Wie kann aus freiem Willen, in selbstaufbauender Weise, eine Automatik des Wirtschaftslebens geschaffen werden, welche nicht die des Kapitalismus ist, in welcher die Organisation der Gütererzeugung, di e Verteilung der sozialen Gewichte ohne Vermehrung des autoritären Zwangs derart erfolgt, da ß zugleich Produktivität beförder t wir d und jenes Gerechtigkeitsideal der Verwirklichung nähergebrach t wird, das der Sozialismus vertritt?

Schritte zur demokratischen Sozialisierung Diese Art der Sozialisierung, welche (im Gegensatz zum Bolschewismus) die Aufgabe nich t so ausschließlich al s politisches Problem auffaßt, di e vorgeschlagen wurde in den Gutachten der deutschen Sozialisierungskommission, die auch der Regierungsaktion i n Deutschland al s Programm vorschwebt, arbeitet mit zwei Gruppen von Maßnahmen: erstens mit generellen, die auf die ganze Volkswirtschaft wirken, und zweitens mit besonderen, speziellen, deren Objekt nur einzelne Teile der Volkswirtschaft, dere n Wirkungen jedoch mehr als bloße partielle sein sollen. Von den generellen Maßnahmen sind an erster Stelle die Betriebsräte zu nennen. Die Einrichtung de r Betriebsräte schafft i m Wesen das, was man früher die „konstitutionelle Fabrik" oder Betriebsdemokratie nannte und als sozialistische Einrichtung hie und da befürwortete. Diese Fabrikdemokratie ist elementare Forderung jeder Gewerkschaftsbewegung, denn jede Gewerkschaftsbewegung streb t an : Mitbestimmungsrecht i m Betrieb, Mitbestim mungsrecht in den Arbeitsverhältnissen. Jede Gewerkschaftsbewegung fragt bei Lohnverhandlungen nach der Kalkulation, nach der Rentabilität der Industrie. Jede Gewerkschaftsbewegung arbeitet mit Vertrauensmännern, und 161

11 Lederer , Aufsätz e

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im Grund e habe n di e Betriebsrät e zu m Beispie l nac h de m öserreichische n Gesetz (welche s j a scho n i n Kraf t getrete n ist ) i m Wese n di e Positio n be kommen, welch e von de n Gewerkschaften sei t Jahren fü r ihr e Vertrauensmänner gefordert wurde; sie sind im Wesen nichts anderes als legalisierte, mit bestimmten Funktione n ausgestattete , gewählt e Vertrauensmänner . Di e Funktionen diese r Vertrauensmänner gehe n nach den Bestimmungen de s in Deutsch-Österreich in Kraft getretenen Gesetzes um einen Schritt weiter, insofern, al s dort die Betriebsräte im Vorstand der Aktiengesellschaft Sit z und Stimme bekommen sollen, also unmittelbar im Zentrum des Wirtschaftsprozesses theoretisc h gesproche n di e Möglichkeit de r Einflußnahm e haben . Die Forderungen , di e i m Betriebsrätegeset z zu r Erfüllun g gekomme n sind, sind also zwar alt, aber doch würde ich meinen, daß mit diesem Gesetz ein prinzipiell wichtige r Schrit t gegange n ist , insofern , al s hier zu m erste n Mal durc h Geset z und etwa s abweichend vo n der autonome n Entwicklun g der industrielle Großbetrieb als neue soziale Einheit besonderen Charakter s herausgehoben wird . Da s lieg t abseit s vo n de r Gesellschaftsentwicklung , welche de n Arbeite r überwiegen d al s Angehörige n eine s Berufs , nich t al s Angehörigen eine r Industri e erfaß t hat . S o sind zu m Beispie l i n eine r Ge werkschaft sämtlich e Tischler vereinigt, ob sie nun in einer Möbelfabrik ode r in eine r Maschinenfabri k ode r i n eine m Bergwer k arbeiten . Di e Gewerk schaft vereinig t als o alle Berufszugehörigen, i n welcher Industri e immer si e arbeiten mögen ; un d deshal b sin d of t di e Arbeite r eine s Unternehmens i n zahlreichen Gewerkschaften organisiert . De r Betriebsrat aber ist Delegierter der ganzen Arbeiterschaft eine s Betriebes, und damit is t der sichtbare Ausdruck dafür gegeben, daß der Betrieb die soziale Einheit darstellt, daß die Betriebs- und nicht die Berufszugehörigkeit i n der kapitalistischen Industrie die entscheidende Rolle spielt. Di e Gewerkschaften werde n sich diesem Prinzip nähern, und - wa s schon vor dem Krieg angebahnt war - zu Industrieverbänden werden , ebens o wi e dies e zugleic h Organ e de r Gewerkschafte n sei n werden. Mit den Betriebsräten ist der Anfang einer sozialen Durchorganisa tion der Volkswirtschaft gemacht ; sie bedeutet, daß an Stelle der alten, sozialen Gebietseinheiten der Stadt, der Gemeinde, deren Wirksamkeit längst aufgehört hat, nun die Einheit des Betriebs getreten ist, und zwar in um so höherem Maße, je größer der Betrieb ist. Je mehr die Arbeit ihres Inhaltes entleert ist, weil der technische Fortschritt die Funktion des einzelnen reduziert, u m so bedeutsamer ist diese Reaktion: daß nämlich der Betrieb, je größer er ist, um so mehr, auch sozial, eine Einheit zu bilden beginnt. Das Betriebsrätegesetz ist der Ansatz zu einer Organisation der Industrie von unten her und zu einer meh r volkswirtschaftliche n Betätigun g de r Arbeite r i m Betrieb . De r Betriebsrat ist auch die Stätte für einen Schulungs- und Ausbildungsprozeß , in welchem der Arbeiter nicht bloß als Lohnempfänger, sonder n volkswirt schaftlich denkend und gestaltend steht. Gute Betriebsräte machen die Sozialisierung möglich , sowei t si e ein e Mitwirkun g de r Arbeiterschaf t i n sic h schließt, und sie machen sie infolgedessen wahrscheinlich. - Allerding s birg t 162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

die Einrichtung der Betriebsräte eine Gefahr in sich, wenn sie sich auf ein falsches Zentrum richtet : Wen n si e Gewinnbeteiligun g al s individuell e Maß nahme in sich schließt, so kann der Betrieb leicht die Form einer Produktivgenossenschaft annehmen , be i welche r s o leich t di e Einstellun g au f da s Ganze der Volkswirtschaft verlore n geht und der Arbeiter den Typus eines Kleinkapitalisten annimmt . Eine zweit e Maßnahme , welch e imme r häufige r i m Zusammenhang mi t der Sozialisierung genann t wird, kan n in Zukunft von sehr wesentlicher Bedeutung werden, wenn auch heute ihre Bedeutung im Wesen eine potentielle ist. Es ist die Möglichkeit der Verbindung der Vermögensabgabe mit der Sozialisierung. Scho n während des Krieges war von der Vermögensabgabe di e Rede, aber stets nur in Verbindung mit der Abbürdung der Kriegsschuld. Sie war als o ein e innerkapitalistisch e Angelegenheit . Insbesonder e wen n ma n annimmt, daß die Verzinsung und Amortisation der Kriegsanleihe aus direkten Steuern erfolg t wäre , s o ist die Vermögensabgabe ei n Problem, welche s nur die Kapitalisten und die Arbeiter lediglich insofern angeht, al s die Wahl des Steuersystems für die Entwicklung und Gestaltung der Konjunktur nicht ohne Bedeutung ist. Nu n eröffnet sic h bei einer beträchtlichen Vermögensabgabe die Möglichkeit eine s staatlichen Eingreifens i n die Volkswirtschaft : Eine groß e Vermögensabgab e kann , . . . wen n si e übe r di e Kriegsanleih e hinausgeht, in die Vollsozialisierung ohne Entschädigung umschlagen. Aber: . . . zu r „Vollsozialisierung " genüg t ein e Vermögensabgab e nicht . Si e er spart nicht die Lösung des organisatorischen Problems , sie zeigt noch nicht, wie an Stelle des automatischen kapitalistischen Prozesses ein sozialistischer geschaffen werde n kann . Die Verbindung vo n Vermögensabgabe mi t der Sozialisierung is t in verschiedener Form möglich. Wenn die Kriegsanleihe in natura erhoben würde, so könnt e au s de n Erträgnisse n di e Kriegsanleih e verzins t un d amortisier t werden. So würde der Staat allmählich lastenfreier Besitze r der ihm übertragenen Vermögenswerte werden. Ode r er könnte die Vermögenswerte, ζ. Β . Aktien gegen Kriegsanleihe umtauschen und sich das Stimmrecht zurückbehalten. Jede dieser Methoden würde, da ja nur ein Teil des Vermögens abgegeben werde n soll , z u eine r Ar t des gemischtwirtschaftlichen System s füh ren. Dieses gemischtwirtschaftliche Syste m im Zusammenhang mi t der Vermögensabgabe würde etwas anderes bedeuten als das bisher bekannte. Dieses war j a überwiegend ein e Methode de r Kapitalbeschaffun g un d de r Mitver waltung durch Vertreter öffentlicher Interessen . In Verbindung mi t den Betriebsräten lieg t i n dieser angedeuteten Method e der Vermögensabgabe di e Möglichkeit, wesenlic h weiterzugehen . Abe r nu r eine Möglichkeit. Imme r noch ist, trot z der Betriebsräte auch die andere Möglichkeit vorhanden: der Entstehung eines staatskapitalistischen Systems - wen n nämlich die Industrie bei einer hohen Vermögensabgabe, u m diese privatwirtschaftlich leichte r erträglich zu machen, zu staatlich sanktionierten Zwangskartellen zusammen geschlossen wird . - Betriebsrät e un d Vermögensabgab e sin d a n sic h noc h 163 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

keine Sozialisierung; sie würden deshalb allein an der Grundstruktur des Kapitalismus nicht s ändern , wei l de r Kapitalismu s nich t ei n morsche s Wirt schaftssystem ist , da s durch eine leichte Einwirkung von außenher erschüt tert und von innen heraus zerstört werde n könnte . I m Gegenteil, e r ist ein sehr gutkonstruierte s Wirtschaftssystem , a n desse n Gefüg e Vermögensab gabe und Betriebsräte prinzipiell nichts ändern würden. Die These von Marx hat sich als irrig erwiesen , da ß dieses System im Fortgang de r Entwicklun g immer labiler wird. Man kann höchstens von ihm sagen, daß es etwas rück ständig is t un d nich t all e in ih m liegende n technische n Möglichkeite n aus nützt. Hingege n leide t e s an große n inneren psychologische n Krisen , abe r gerade diese könnten durc h di e Betriebsräte un d die Vermögensabgabe ge mildert werden. Diese Maßnahmen würden aber noch nicht oder brauchte n noch nicht eine Sozialisierung einzuleiten. Der prinzipielle Schritt, der Wendepunkt wär e dor t gegeben , w o ma n vo n diese m au f di e ganz e Breit e de r Volkswirtschaft wirkende n Maßnahmen weiter schreiten würde zur Durch sozialisierung einzelne r Wirtschaftszweige . Das ist meines Erachtens der prinzipielle Schritt, ei n Schritt, welche r von der Berline r Sozialisierungskommissio n geforder t wurde , ζ. Β . für de n Bergbau un d wahrscheinlic h geforder t worde n wär e fü r ander e wichtig e Wirtschaftszweige, ei n Schritt, welcher gefordert und in einer Regierungser klärung angekündig t wurd e fü r di e wesentlichsten Produktionszweige , di e Deutsch-Österreich besitzt: Kohle, Eisen und Forsten. Die Durchsozialisierung ode r Vollsozialisierun g solche r Wirtschaftszweig e wirf t ei n Proble m auf, nämlich: Welcher Gesichtspunkt soll dafür maßgebend sein, in welchem Wirtschaftszweig sol l man zuerst beginnen? In der Berliner Sozialisierungskommission haben wir bei der Unterhaltung mit den Experten stets folgende Erfahrung gemacht: Diese waren immer der Überzeugung aus subjektiv sehr gut gemeinten Gründen, daß ihre Industrie, ihr Betrieb für die Sozialisierung absolut nich t in Frage kommen könne, daß sich jedoch andere Wirtschafts zweige eher dafür eignen würden. E s ist daher sehr wichtig, nac h einem objektiven Kriterium zu suchen, welches uns angibt (unter der Voraussetzung, daß man überhaupt sozialisieren will), welche Wirtschaftszweige sich hierfür besonders eignen. Solcher Kriterien werden zahlreiche genannt, so die technische Stufe der Entwicklung, di e Bedeutung de r persönlichen Leistun g i m Unternehmen usw . Meine s Erachtens mu ß di e Fragestellung ander s gefaß t werden. Jetzt wird in der Regel gefragt, ob sich der Betrieb für die bürokratische Verwaltung eignet und er wird danach als reif zur Sozialisierung oder als unreif betrachtet. Hingegen müßte meines Erachtens entscheidend dafür, o b der Wirtschaftszweig sozialisier t werden kann, der Umstand sein, ob er imstande ist, auc h als sozialisierter das Kommerzium mit der übrigen kapitali stischen Wirtschaft un d Welt aufrechtzuerhalten , o b ζ. Β . der Wirtschafts ­ zweig seh r vie l Kredi t brauch t un d imstand e ist , al s sozialisierte r Wirt ­ schaftszweig Kredi t z u erhalten . A n sic h is t ei n sozialisierte r Wirtschafts ­ zweig ebenso kreditwürdig wi e eine private Industrie; er kann sogar - wen n 164

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es sich um Auslandkredite handelt - di e Ausfuhr in noch höherem Maße sicherstellen und damit die Abdeckung der Kredite gewährleisten. Abe r bei dem allgemeinen Mißtrauen der kapitalistischen Welt gegen die Sozialisierung wird derjenige Wirtschaftszweig i m Vorsprung sein, der Kredit wenig in Anspruch nehmen muß, dessen Produkte glatt Absatz finden, dessen Verhältnisse leicht durchblickt werden können. Weiter ist wesentlich, ob der sozialisierte Wirtschaftszweig nicht etwa in eine Marktsituation hieneingestellt wird, in welcher die Konkurrenz überlegener Unternehmer imstande wäre, den Wirtschaftszweig, weil er sozialisiert ist, zu unterbieten und zugrunde zu richten. Eine solche Fragestellung ist, weil die Sozialisierung auch ein politisches Problem ist, geboten. Hingegen würde ich die Frage, ob die Zentralisation weniger oder weiter vorgeschritten ist, ob die Betriebe überwiegend als Großbetriebe gegeben sind oder nicht, ob eine technische Entwicklung noch möglich oder ob sie schon abgeschlossen ist, nicht für entscheidend halten, weil ich nicht zugeben möchte, daß die sozialisierte Wirtschaft sic h prinzipiell langsamer entwickelt oder daß sie schlechter funktioniert als die kapitalistische. Die Organisationsproblem e de r durchsozialisierte n Wirtschaftszweig e sind in der letzten Zeit vielfach diskutiert und behandelt worden; so von Otto Bauer in seinem „Weg zum Sozialismus", im Bericht der deutschen Sozialisierungskommission übe r de n Kohlenbergba u un d di e Hochseefischerei , jetzt auch in den früher erwähnten Arbeiten der Herren Eulenburg und Heimann2. Ich darf mich wohl darauf beziehen und mich auf die Bemerkung beschränken, daß eine solche Durchsozialisierung zu r Voraussetzung hat die Enteignung, das heißt die Ausschaltung des privaten Kapitals (das ist prinzipiell de r bedeutsamst e Schritt) , un d da ß zweiten s al s Organisationsfor m heute überwiegend di e bürokratische Verstaatlichung abgelehn t wird, da ß die Leitung der Industrie vielmehr unterstellt werden soll dem Einfluß aller in den Betrieben Tätigen, zu denen sich Vertreter der Verbraucher und der Allgemeinheit gesellen - abe r diese Organisation (in der Literatur: Gildenprinzip genannt) nicht so gedacht, daß ein großer Körper alle Entscheidungen fällt, sondern daß eine Geschäftsleitung aus dem allgemeinen Vertrauen aller beteiligten Schichten bestellt wird, welche weitestgehende Vollmachten genießt, solange sie das Vertrauen ihrer Auftraggeber genießt- also das demokratische Prinzip übertragbar auf die Industrie. Hierbei wird für die Entfaltung de r Initiative , fü r di e Bewährun g wirtschaftliche r Talent e of t meh r Spielraum gegeben sein als heute in der privaten Industrie, die in ihren Kartellen bürokratisierte. Darauf ist auch - gerad e von den radikalen Mitgliedern in der Sozialisierungskommission stet s hingewiesen worden. Ebenso kurz möchte ich mich mit der Frage der Kapitalbeschaffung fassen: Eine Inanspruchnahme de s Kapitalmarktes fü r di e Aufbringung de r Entschädigung wird nicht eintreten, wenn die Vorschläge der Sozialisierungskommission (die auch in das österreichische Gesetz über gemeinwirtschaftliche Anstalten im Wesen übergegangen sind) beachtet werden. Anders liegt es 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

bei der Beschaffung vo n Betriebskapital 3. Deshal b muß man genau überle gen, welche Wirtschaftszweige zuerst sozialisiert werden sollen, und nur solche auswählen, welch e sic h da s notwendig e Betriebskapita l ähnlic h z u be schaffen imstand e sind wi e private Unternehmungen . Die durchsozialisierten Wirtschaftszweig e solle n sich zunächst so benehmen wie die privaten Unternehmungen . Si e müssen kaufen un d verkaufen , ihre Kosten realisieren. Auc h dar f e s für si e keine staatlichen Subventione n geben, weder offene noch versteckte. Denn die kapitalistische Rentabilität ist ein so wichtiges Symptom für zweckmäßiges Arbeiten, daß nicht darauf verzichtet werde n kann, solang e nicht die überwiegende Mass e der volkswirt schaftlichen Gütererzeugun g sozialisier t ist und andere Methoden der Kontrolle entwickel t werden . Es werden nun manche fragen: Wenn sozialistische Wirtschaftszweige zu nächst s o aussehen werden wi e kapitalistische - woz u dan n die ganze Um wälzung, di e j a doc h nich t i n al l ihre n Konsequenze n übersehe n werde n kann! Und damit komme ich zur Frage, aus welchen Gründen eine Sozialisierung angestrebt wird und warum die Bewegung zu Sozialisierung von vielen, die nicht au f sozialistische m Bode n stehen, geforder t wurde . Die Vertreter der Sozialisierung - un d das sind nicht nur Sozialisten - wei sen darauf hin, daß der politische Zusammenbruch im Spätherbst des Jahres 1918 und die wirtschaftliche Unmöglichkeit , sofor t zu einer geregelten Friedensproduktion überzugehen, eine solche Desorganisation des Produktionsapparates un d de r Arbeitskräft e mi t sic h gebrach t hat , da ß nu r durc h ei n großzügiges und starkes Mittel gehoff t werde n konnte, wiede r die Arbeitslust zu wecken und die Arbeiter als ein aktives Element in den Produktionsapparat einzufügen, un d im Grunde liegen die Verhältnisse heute noch nicht viel anders . Das Postulat war also , die Arbeitslust z u heben, weite r au f da s Ausland einzuwirken und endlich die organisatorische Aufgabe des Wiederaufbaues zu lösen. Das waren die Motive, warum die Sozialisierung geforder t wurde. Die Sozialisierung einzelne r Wirtschaftszweige wir d - insbesonder e solange diese Bewegung noch nicht eine internationale geworden ist- in den einzelnen Länder n verschiede n wei t gehe n können . Da s ist auch de r groß e Unterschied zwische n Deutschlan d un d Deutsch-Österreich . I n Deutsch land kann die Frage aufgeworfen werde n und sollte sie meines Erachtens studiert werden für folgende Industrien: für den Kohlenbergbau, di e Erzförde rung un d Verhüttung , Erzeugun g vo n Roheise n un d Halbzeug , Kaliberg bau, einige Zweige der chemischen Industrie, den Schiffsbau, di e Spinnerei, weiter fü r Leder , Zement , de n Großgrundbesitz , di e Forstwirtschaft , di e Elektrizitätswirtschaft un d da s Versicherungswesen . Al l da s sin d Wirt schaftszweige (vielleich t werde n ander e di e Auswah l de s vorläufige n Ar beitsprogramms anders treffen), welche meines Erachtens daraufhin geprüf t werden müßten , o b Sozialisierun g i n de m erörterte n Sin n möglic h un d zweckmäßig, un d wi e si e erfolgen sollte . Den n da s Organisationsproble m muß für jede Industrie besonders gestellt und konkret beantwortet werden . 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Für Deutsch-Österreich is t die Liste (aus politischen und sehr triftigen wirt schaftlichen Gründen , die aus den Diskussionen des gestrigen Tages hervorgingen4) vie l kürzer . Die Methode der Durchsozialisierung einzelne r Wirtschaftszweige begeg net nun noch einem Einwand, welche r von der bolschewistischen Richtun g und gelegentlich auch von sozialistischer Seite erhoben wird, nämlich ob das noch Sozialismu s i m Sinn e de r Durchführun g eine s Wirtschaftsplane s ist ? Jeder Sozialismus hat doch nur einen Sinn, wird dann gesagt, wenn er auf das Ganze der Volkswirtschaft, als o auf einen Plan für die Volkswirtschaft geht . Es wird gefragt, o b beim Nebeneinanderbestehe n diese r beiden Arte n vo n Betrieben, de r sozialisierte n un d de r kapitalistischen , etwa s Vernünftige s herauskommen kann, ob man nicht zwei Systeme mischt, welche unverträglich sind wie Feuer und Wasser, so daß sie sich gegenseitig hemmen oder daß im besten Fall die sozialisierten Betriebe nur maskierte kapitalistische wären? Die Frage, ob diese Methode gangbar ist, hängt offensichtlich davon ab, ob in der kapitalistischen Wirtschaf t di e einzelnen Unternehmungen ode r Unternehmungsgruppen (Kartelle ) regello s nebeneinande r bestehe n ode r o b di e Volkswirtschaft ein e einheitliche planmäßige Struktur zeigt. Meine Meinung geht dahin, daß die kapitalistische Wirtschaft - un d das trifft fü r die Gegenwart un d di e Zeit vor dem Kriege viel stärke r z u al s für di e Zeit nach de m Kriege - tatsächlic h eine n Wirtschaftspla n realisier t hat . Auc h de r zweit e Band des „Kapital" von Karl Marx kommt zu dem Resultat, da ß jeweils eine bestimmte Relatio n bestehe n müss e zwische n konstante m un d variable m Kapital und daß auch die einzelnen Produktionszweige i n einer bestimmte n Relation zueinander stehen müssen. Das alles ist kein Geheimnis für den, der die kapitalistische Wirtschaf t nich t bloß in ihrem Marktbil d betrachte t un d sie ansieht al s ein e ungeregelte , wild e Konkurrenz , sonder n welche r unte r der scheinbar aller Regel spottenden Fülle von Einzeltatsachen die innere Gesetzmäßigkeit diese r Wirtschaft anerkennt . Be i Marx ist diese Gesetzmäßig keit etwas anders vorgestellt, viel mehr von weither wirkend und von Zeit zu Zeit sic h durchsetzen d au f de m Weg e der Krise . Wi r sehen , da ß diese Gesetzmäßigkeit, de r regelmäßig e Ablauf , di e Reproduktion de s Wirtschafts prozesses als konstanter und in sich stabiler Prozeß klar zutage liegt. Das ist zum Teil Folgewirkung de s Marxschen Gedankenganges, den n der Organi sationsgedanke (al s Folg e de r Klassenkampfideologie ) ha t auc h di e Unter nehmerschicht erfaßt. Infolgedesse n könne n wir von einer Anarchie der kapitalistischen Produktion keinesweg s sprechen, um so mehr als die kapitalistischen Großorganisationen z u einer Art selbsttätigen Regelung , z u eine m innerkapitalistischen Beharrungszustan d geführ t haben . Wen n einzeln e Wirtschaftszweige sozialisier t werden , s o handelt e s sich als o nicht darum , daß die erste n Stück e eine s umfassenden Plane s i n ei n Chaos hineingebau t werden, gleichsa m i n ei n wilde s Meer , welche s di e Pfeile r eine r Ordnun g wieder wegreißen könnte, sondern darum, daß ein bestehender Wirtschafts plan ersetzt wird oder umgeformt wird zu einem andern Wirtschaftsplan. I n 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

diesem neuen , ander n Wirtschaftspla n würd e zum Beispie l di e Frage der Produktion, nämlic h wa s produziert wird, i n welchem Tempo produziert wird, ander s gelöst werden; es würde auch der Inhalt der Produktion dadurch modifiziert werden, daß die entscheidenden Antriebe zur Produktion, die Bestimmung darüber, welche Waren produziert werden sollen, jetzt von anderen Kräften, auch von anderen politischen und ökonomischen Kräften ausgehen. Aber alle diese Umformungen können sich vollziehen, ohne daß die kapitalistisch e Wirtschaf t un d ih r Mechanismu s aufgehobe n werde n müßte. Es ist ein Sichhineinbauen in das bestehende Wirtschaftssystem oder ein allmählicher Umbau zur sozialisierten Wirtschaft eben deshalb möglich, weil die kapitalistische Wirtschaft eine n Plan, einen regelmäßigen Kreislauf in sich schließt. Eine solche Hineinflechtung sozialisierter Wirtschaftszweige in den Kapitalismus könnte natürlich nicht die von mancher, wenig unterrichteter Seite gehegten Hoffnungen au f weitgehend e Besserun g de r wirtschaftlichen Lage erfüllen, aber schließt doch auch nicht die Gefahren in sich, die jetzt mit solchem Nachdruck hervorgehoben zu werden pflegen. Dies e werden offenbar vo n den leitenden Stellen in Deutschland s o hoch eingeschätzt, daß bisher tatsächlich noch keine Sozialisierungsaktion in die Wege geleitet wurde. Man kann vielleicht sogar sagen, daß selbst das Wort „vorsichtig" für die bisherige Politik ein zu kühner Ausdruck ist. Es scheint, daß auch i n Hinkunf t ein e Durchsozialisierun g einzelne r Wirtschaftszweig e nicht in Aussicht genommen wurde. Wenn sich die Gesetzgebung auf die Betriebsräte und die Vermögensabgabe beschränkt, so werden diese Eingriffe bei der Stärke des kapitalistischen Systems die Wirkung von sozialpolitischen Maßnahmen haben. Das kapitalistische System wird also weiterbestehen, es wird in seinem Wesen keine Veränderung erfahren. Wenn man umgekehrt bloß die Durchsozialisierung einzelner Wirtschaftszweige vornehmen würde, etwa Kohlenbergbau oder Versicherungswesen, ohn e den Blick auf das Ganze zu richten, ohne Maßnahmen zu treffen , welch e in der ganze n Breit e der Volkswirtschaft wirken , dann würden wir den kapitalistischen Produktionsprozeß zerschlage n und umformen in eine große Masse von Produktivgenossenschaften, welch e sich erst wieder auf dem Markt einen Platz suchen müßten. Erst die Verknüpfung dieser beiden Maßnahmen ergänzt sich sinnvoll zu einem System der Sozialisierung. Auf diesem Wege - und damit möchte ich meine Ausführungen schließen ist meines Erachtens die Möglichkeit gegeben, das Prinzip einer demokratischen Wirtschaft, welch e von allen Klassen gewollt und getragen wird, zu realisieren. Ausdrücklich sage ich, auc h die Durchführung dieser beiden Gruppen von Maßnahmen, auch die Beschreitung dieses Weges noch nicht Sozialismus ist, sondern eine wirtschaftliche Zwischenform schafft, aber eine Zwischenform, welche aus ihrer eigenen Weiterentwicklung heraus zur klassenlosen Gesellschaft führt . 168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Α us der Debatt e [Auf Stellungnahme n un d Kritik , di e in der folgenden Debatt e des Vereins für Sozialpoliti k geäußer t wurden 5, antwortet e Ledere r u . a.: ] . . . Ic h möcht e nu n au f einig e Einwendunge n zurückkommen . Der wesentlichste , de r von mehrere n de r Redner ausgesproche n wurde , zielte darau f ab , da ß ic h zwar i n de r Kriti k de s bolschewistischen System s manches Wesentliche gesagt, jedoch eine positive Darstellung der sozialisierten Wirtschaft nich t gegeben hätte. Mit diesem Einwand muß ich mich auseinandersetzen. Man kann das Problem der Sozialisierung gedanklich durcharbeiten für di e Maßnahmen, welch e als allgemeine in Frage kommen, un d ich versucht e z u skizzieren , welch e Bedeutun g solche n allgemeine n Maß nahmen zukomme. Handelt es sich dann weiter um die Durchsozialisierung einzelner Wirtschaftszweige , de s deutsche n Kohlenbergbaue s ode r de r Ei senwirtschaft, s o ist es unmöglich, hierfü r ohn e weiteres ei n Rezept aufzu stellen, das morgen durchgeführt werden kann. Es war ζ. Β . dies die Aufgabe der Sozialisierungskommission, un d ich glaube, si e hat es auch für einzeln e Wirtschaftszweige bis zu einem wesentlichen Punkte gefördert. Aber es kann die Aufgabe eine s Referates nich t sein, z u weitere n Rezepte n diese r Art zu gelangen, welche von den Herren, die die Freundlichkeit hatten, herzukommen, in die Tasche gesteckt und morgen durchgeführt werde n können. Das ist eine Überschätzung der Kraft des spekulativen Denkens, weil man nicht in der Lage ist, au s einem Grundgedanken herau s eine n konkrete n Vorschla g für di e Industri e eine s Lande s auszuarbeite n . . . Ich komme zu einem zweiten Punkt, welcher in der Diskussion eine große Rolle spielte, zu der Frage der Produktivität. Hie r ist mein Standpunkt ein fach. Es gibt nicht ein, sondern zwei „ideale" Wirtschaftssysteme, wen n man den Gesichtspunkt der Produktivität allein ins Auge faßt, nämlich das System der freie n Konkurren z un d das einer durchorganisierten Wirtschaft . Wen n die freie Knokurren z wirklich frei e Konkurren z ist, wen n sie nicht bloß im luftleeren Rau m konstruier t wird , sonder n wen n sic h di e individuelle n Kräfte frei zur Geltung bringen könnten, wenn diese Abstraktion eine Realität wäre, dann ist die freie Konkurrenz ein Weg, um zum Maximum der Produktivität z u gelangen . Dasselb e halte ich für möglic h be i eine r planmäßi g organisierten Volkswirtschaft . . . I n beiden Systemen bleib t da s Problem : Wie können all die Reibungen und Störungen beseitigt werden, welche sich der Durchsetzung de s Prinzips i n den Weg stellen ? (Zuruf: Un d di e regulierte frei e Wirtschaft?! ) Die regulierte freie Wirtschaft , wen n ic h diesen Zwischenruf aufnehme n darf, halte ich deshalb für eine schwierige Form, weil sie entweder bloße bürokratische Wirtschaftsorganisation wäre , eine Fortführung de r Kriegswirt schaft, ode r - wen n das nicht der Fall wäre - wei l die Organisation der Wirtschaftszweige dan n s o aufgebau t werde n müßte , da ß beid e Prinzipie n 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

hemmungsloses Auswirken persönliche r Kräft e un d zentraler Organisatio n der Produktivkräfte - sic h gegenseiti g hemme n un d störe n würde n . . . Eine weitere Frage, welche in der Debatte eine große Rolle gespielt hat, ist die der Betriebsräte. Mein e Ausführungen darübe r habe n meinen geschätzten Kollegen Vogelstein z u einigen sehr scharfen Bemerkunge n gege n mic h veranlaßt. Er erinnerte mich daran, daß ich in der Sozialisierungskommission genauso gestanden hätte wie er, daß ich auch die Stelle über die Zechenräte in unserem Kohlenbericht mitunterschrieben hätte und daß ich jetzt einem Gedanken das Wort rede , de r diesem dort vertretene n ins Gesicht schlägt. Zu meiner Ehrenrettun g dar f ic h vielleicht anführen : Ic h habe in Wien, al s der Entwurf sein e endgültige Fassung bekan, bewirkt, da ß aus dem Gesetz über die Betriebsräte das in der ersten Fassung noch vorgesehene Prinzip der obligatorischen Gewinnbeteiligung ausgemerz t wurde, un d ich habe dies getan, weil ja letzten Endes dieses Prinzip eine Umwandlung sämtlicher industriellen Betriebe in Produktivgenossenschaften bedeute n könnte. Bei obligatori scher Gewinnbeteiligung wär e eine Entwicklung angebahnt , i n welcher de r Betriebsrat zum Mitregenten des Betriebs, auch in seiner Geschäftsgebarun g werden könnte. So waren meine Ausführungen als o nicht gemeint, und wenn sie so verstanden wurden, dann habe ich mich sehr schlecht ausgedrückt. Al lerdings glaub e ich, geh e ich in der Beurteilung de r Betriebsräte wesentlic h weiter al s Kolleg e Vogelstein 6, un d zwa r insofern , al s ic h i n de r heutige n Form der Betriebsräte, die sich an die Einzelbetriebe anschließt, nur ein Provisorium sehe n kann , da s nich t haltba r ist . Wen n si e z u eine r Bedeutun g kommen sollen, dann muß ein Zusammenschluß der Betriebsräte jeder Industrie stattfinden, s o daß die Fabrikdemokratie auf breiter Basis auch noch vor der Durchsozialisierun g de r Wirtschaftszweig e zu r Durchführun g gelangt . Daß dieser Zusammenschluß au f breiter Basis heute noch nicht realisiert ist , das liegt in Österreich a n dem Widerstand de r Gewerkschaften, welch e von der Durchsetzung der Betriebsräte in dieser Form eine Beeinträchtigung ih rer Organisation un d ihres Einflusses befürchten . Abe r auch in dieser Frage wird sic h - nac h de r meine s Erachten s bevorstehende n Umwandlun g de r Gewerkschaften au s Berufs- z u Industrieverbände n - bal d di e Haltung de r Gewerkschaften ändern. Und gerade wenn die Betriebsräte derart organisiert werden, wenn sich also der Blick der Arbeiter nicht allein auf die Verhältnisse des Einzelbetriebes, sondern der Gesamtindustrie richtet, ist eine Chance dafür gegeben, daß die Arbeiterschaft eine n Blick für die volkswirtschaftliche n Zusammenhänge bekommt, mehr als es bisher der Fall ist, und ihre ganze Position in der Volkswirtschaft besse r zu ergreifen in der Lage ist, als das bisher der Fall war . Gerade die Herren, welche sich nicht genug tun können in der Skepsis gegenüber der Arbeiterschaft, ode r die es schmerzlich empfinden, da ß der Arbeiter nur für seinen Vorteil arbeitet und nicht seinen Blick auf das Ganze zu richten vermag, diese Herren sollten nicht übersehen, daß in den Betriebsräten eine Einrichtung gegeben ist, welche in hohem Maße erzieherisch wirken 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

kann. Wir werden dazu kommen, da ß Schulen für die Betriebsräte errichte t werden, in denen das Interesse der Arbeiter auf die Probleme ihrer Industrie und der Volkswirtschaft gelenk t wird. I m Betriebsrat wird der Arbeiter von der oberflächlichen Ar t zu denken und abzuurteilen geheilt werden, er wird konkret, nüchtern sehen lernen, frei von schematischen Doktrinen, die sich bei eine m Wande l de r sozialen Machtverhältniss e u m so sicherer einstelle n müßten, je mehr die soziale Macht der Arbeiterklasse wuchs, ohne daß sie in die wirtschaftlich e Maschineri e Einblic k gewinne n konnt e . . .

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9. Di e Umschichtung de s Proletariats und die kapitalistischen Zwischenschichte n vor der Krise (1929) „In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h . das Kapital, entwik kelt, i n demselben Maße entwickelt sic h das Proletariat, di e Klasse der modernen Arbeiter, die nur so lange leben, als sie Arbeit finden, un d die nur so lange Arbeit finden, al s ihre Arbeit das Kapital vermehrt . . . Die Arbeit der Proletarier hat durch die Ausdehnung der Maschine und die Teilung der Arbeit allen selbständigen Charakter und damit allen Reiz für den Arbeiter verloren . . . I n demselbe n Maße , i n de m di e Widerwärtigkei t de r Arbei t wächst, nimmt daher der Lohn ab. Noch mehr, in demselben Maße, wie Maschinerie und Teilung der Arbeit zunehmen, in demselben Maße nimmt auch die Masse der Arbeit zu, sei es durch Vermehrung der Arbeitsstunden, sei es durch Vermehrung der in einer gegebenen Zeit geforderten Arbeit, beschleu nigten Lauf der Maschinen usw. . . . Arbeitermassen, i n der Fabrik zusam mengedrängt, werde n soldatisc h organisiert . Si e werden al s Industriesolda ten unte r di e Aufsich t eine r vollständige n Hierarchi e vo n Unteroffiziere n und Offiziere n gestell t . . . Je weniger die Handarbeit Geschicklichkeit und Kraftäußerung erheischt , d. h. , j e mehr di e modern e Industri e sic h entwickelt , dest o meh r wir d di e Arbeit de r Männe r durc h di e de r Weibe r un d Kinde r verdrängt . Die bisherigen kleine n Mittelständ e di e kleinen Industriellen , Kaufleute , Rentiers, di e Handwerker un d Bauern, all e diese Klassen fallen in s Proletariat hinab . . . S o rekrutiert sich das Proletariat aus allen Klassen der Bevölkerung. Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Monoritäten. Di e proletarische Bewegung is t die selbständige Bewegung de r ungeheure n Mehrzah l i m Interess e de r ungeheure n Mehr zahl." 1 Von de n erwerbstätige n Persone n ware n i n Deutschlan d i m Jahre 1925: Arbeiter einschließlich Hausangestellte : 1 5 759 000 (davon 4 814 00 0 weibliche); Erwerbstätige überhaupt: 32 000 000. Die Masse der Arbeiter ist also knapp 5 0 Prozent (genau : 49 Prozent). Si e umschließt abe r auc h sämtlich e Hausangestellte ( 1 325 000), ferne r all e landwirtschaftliche n Arbeite r un d Gesinde, endlic h all e Arbeite r i n de n kleine n un d kleinste n Betrieben . Si e umschließt ferne r alle Lehrlinge. Die Zahl der gewerblichen Arbeite r (nich t 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nur der industriellen) beträgt 1925 : nicht einmal 1 0 Millionen, davo n 2 Millionen Frauen. Die „Kerntruppen des Proletariats" sind also eine Minderheit der Bevölkerung. Man mag noch einige Tausend Hausgewerbetreibende hinzuzählen, di e statistisch als Selbständige erfaßt sind, man wird den Sachverhalt nich t wesentlic h ändern . Wächst aber nichtwenigstens de r Anteil de s Proletariats? Di e Ziffern de r Berufszählungen verneine n es : Der Antei l de r Arbeite r (ohn e mithelfend e Familienmitglieder) unte r allen Erwerbstätige n betrug : 1895 : 56,8 Prozent ; 1907: 55,1 Prozent; 1925 : 45,1 Prozent. In diesen dreißig Jahren ist also der Anteil de r „Arbeiter " i n Industrie , Gewerbe , Hande l un d Verkehr, Land wirtschaft s o sehr zurückgegangen, daß sie heute nicht einmal die Hälfte aller erwerbstätigen Persone n umfassen . Dies heißt: Vor dreißig Jahren waren die Arbeiter in Industrie, Gewerbe , Handel und Verkehr, Landwirtschaf t ein e Mehrheit der erwerbstätigen Be völkerung, heute erreichen sie nicht die Hälfte. Dabei ist die Aufspaltung der Arbeiter selbs t noc h ga r nich t berücksichtigt . Wie steht es in Industrie und Bergbau? Da sind die Arbeiter natürlich di e große Mehrheit aller Erwerbstätigen. Aber ihr Anteil hat sich verschoben. Er betrug 1895 : 71,9 Prozent, 1907 : 76,3 Prozent; hingegen 1925: 74 Prozent. Auch hie r als o ein e Stagnation , j a i n de r letzte n Zei t ei n Rückgan g i n de r Quote de r Arbeiter . Auch di e Zahl der Unternehmer i n Industrie und Gewerbe ist relativ zu sammengeschrumpft - vermehr t abe r haben sich di e „kapitalistische n Zwi schenschichten", wi e ma n si e nenne n möchte , als o di e Angestellte n alle r Grade, da s technisch e Persona l bi s hinunte r z u de n Funktionären , welch e zwischen Arbeiter n un d Angestellte n stehen , abe r ihrem Bewußtsei n nac h eher z u de n Angestellte n rechnen . Wir sind in der Vorstellung eine r ständig steigenden Arbeiterarmee aufge wachsen. I n den Fabriken des 18 . Jahrhunderts arbeitete n die Menschen an den Werkzeugmaschinen ode r dem mechanischen Webstuhl in ohrenbeteu bendem Lärm, in quälender Hitze, stauberfüllter Luft , zusammengepferch t in Räumen, welch e ehemals Werkstätten waren. In London kann man diese Art vo n Fabrike n noc h heut e allerorte n finden . I n de r gute n Konjunktu r mangelte es an „Händen", un d man ließ die Maschinen Tag und Nacht laufen. Wer fragte nach Müdigkeit, we r kümmerte sich um die Sterbenden, di e Verwundeten, dere n Glieder von der Maschine zerschmettert wurden? Das Jahrhundert de s neuen Reichtums fand sic h nur allzu leicht auch mit dieser Wirkung de s „Naturgesetzes " ab . So war die Industrie ein Schlachtfeld de r Arbeit, auf dem das Proletariat, erwachsene Männer wie Frauen und Kinder, unter dem brutalen Kommando der „Unteroffiziere" - unterworfe n de r psychischen Gewalt und Züchtigung - fremd e Märkte für ihr e Herren erober n und märchenhafte Profite schaffe n mußten . Genau wie ehedem die Soldaten in de r Armee de s 17 . und 18 . Jahrhunderts fürchte n di e Arbeiter nieman d mehr als ihre Vorgesetzten. Sind sie doch nicht nur ihrer Brutalität, sonder n 173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

auch der Entlassung, de m Verhungern ausgesetzt. Dieses Bild der Arbeiterarmee finden wir noch in den chinesischen Fabriken, in denen die Vorarbeiter oder Werkmeister oft mit dem Revolver das Arbeitstempo halten - nich t anders als auf de n Schlachtfeldern de s Bürgerkrieges, w o au s der Fabrik un d von der Straße geholte Kulis, notdürfti g eingedrillt , di e Maschinengewehr e der eigene n Polizeitruppe n i m Rücken , zu m Kamp f ausschwärmen . Die spontane Empörung i n den Zeilen de s Kommunistischen Manifeste s gilt dieser verschleierten Sklaverei der frühen Fabrik, in der die ganze Bevölkerung, nu r nominel l frei , durc h de n unerbittliche n Lau f de r Ding e zu r Fronarbeit fü r ein e klein e Herrenschich t verurteil t schien . „De r modern e Arbeiter dagegen, statt sich mit dem Fortschritt der Industrie zu heben, sinkt immer tiefer unter die Bedingungen seiner eigenen Klasse herab. Der Arbeiter wird zum Pauper, und der Pauperismus entwickelt sich noch schneller als Bevölkerung un d Reichtum." 2 Sombart hat auf der Versammlung de s Vereins für Sozialpolitik in Zürich (Herbst 1928 ) ausgesprochen, e s sei leichter, vorauszusagen, wa s in sechzig Jahren al s was morge n sei n werde. Zeig t aber nicht gerad e di e genial e Ge samtansicht des Kommunistischen Manifestes, wie unmöglich es ist, aus der Erkenntnis der Situation von heute die Phasen fernerer Zukunft z u erschauen? Die moderne Industrie heißt: Maschine. Maschine heißt: Ersparnis an Arbeitern. E s wär e abe r ein e seh r „vulgärökonomische " Ansicht , da ß ei n Wachstum des maschinellen Apparats an sich schon einen Rückgang der Arbeitermasse ode r auch nur ihres Anteils an der Zahl der Erwerbstätigen be gründen würde. Denn so sehr es richtig ist, daß die Maschinen Arbeiter au s ihren Arbeitsplätzen drängen, ebenso ist es wahr, daß der automatische Gang des kapitalistischen Wirtschaftsprozesse s ebe n diese Arbeiter i n de r Erzeu gung von diesen Maschinen und in anderen Produktionszweigen beschäftigt . Denn jed e neuartige Maschine steiger t entwede r de n Profit (wen n de r Produktpreis nicht herabgesetzt wird) und schafft dahe r Nachfrage in den Händen der Unternehmer - ode r sie verbilligt den Preis, und die Konsumente n werden die so ersparte Kaufkraft andere n Waren, die erst produziert werden müssen, zuwenden. Ma n kann also sagen, daß grundsätzlich gesproche n di e Kaufkraft eine r Volkswirtschaf t durc h de n technische n Fortschrit t über haupt nicht vermindert wir d und daß sich für alle Arbeiter immer eine Verwendung finden wird . Zwar wird e s an Reibungen nicht fehlen, abe r auf die Dauer gesehen wird die Quote der Arbeiter sogar steigen können, da mit dem anschwellenden gesellschaftliche n Reichtu m ei n wachsender Teil des Sozialprodukts in der Industrie und nicht in der Landwirtschaft erzeug t wird. I n den hohen und weiten Fabriksälen sind zwar die Arbeiter heute anders als vor Zeiten mit genügend Ellbogenspielrau m a m Werke - abe r es wäre eine optische Täuschung, wollte man annehmen, daß die Zahl der Arbeiter überhaupt durch de n technische n Fortschrit t verminder t würde . Di e Produktmasse , welche auf den einzelnen Arbeite r entfällt , ma g sich noch so sehr erhöhen. 174 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Selbst wen n si e aufs Drei - un d Vierfache steige n würde, s o läge dari n kei n Grund fü r ein e Verminderung de r Arbeiterzahl. Di e „allgemein e Überpro duktion" is t nur die Angstvorstellung eine s inkonsequenten Theoretisierens. Sie ist weder grundsätzlich haltbar, noch hält sie der Erfahrung stand. Produzieren wir nicht in märchenhaftem Tempo und sind die Arbeiterarmeen nicht überall ihre r Zah l nac h enor m gewachsen ? Es sind vielmehr andere Wirkungen der Maschine, welche die Struktur der proletarischen Klass e un d de n Klassenaufba u de r Gesellschaf t bestimme n und verändern . Prüfe n wi r sie . Das Proletariat ist nur von außen gesehen eine „graue Massenschicht". Die Gruppierung i n Berufe ist nicht aufgehoben. Fü r alle gelernten Arbeite r is t sie selbstverständlich. De r Habitus des Bergarbeiters ist von dem des Schusters oder Uhrmachers dauern d verschieden . Keinesweg s sind alle Arbeite r „Zubehör" der Maschine im Sinne einer Automatisierung ihrer Leistung. Bei manchen Berufe n trit t da s Gegenteil ein : Der Chauffeur is t ganz Spannun g und ebensoseh r Meister wie Diene r seine r Maschine. Hingege n konnt e der Postillon auf dem Kutschbock schlafen oder träumen, da seine Schimmel auf der Landstraße den Weg allein fanden. Di e Lokomotivführer (wi r brauche n nicht bloß an den Flying Scot t zu denken), ein großer Teil der Bauarbeiter , die Arbeiter a n den Präzisionsmaschinen, di e Bergarbeiter, di e Dreher und Schlosser in der Maschinenfabrik, u m nur einige Beispiele zu nennen - si e alle sind nicht Automaten. Vielleicht schrumpft da s Feld der automatischen Ar beit heute sogar ein. Die Arbeit wird zwar ermüdender, sie braucht die letzte Körperkraft, si e erfordert Kompensationen, um geleistet werden zu können, aber si e bleibt au f weite n Gebiete n ein e differenziert e Berufstätigkeit , un d demgemäß ist der Einfluß der Arbeit auf den Menschen verschieden. Von innen gesehe n is t di e Arbeiterschaf t ein e reichgegliedert e Klasse , mi t ihre r Hierarchie und ihren eigenen Stufungen - ohn e daß diese Differenzierung di e Geschlossenheit de r Klasse und ihre Solidarität in der Aktion nach außenhin aufheben könnte . Is t doch das Generelle der Lebenslage allen Arbeitern gemeinsam: Elemen t im Produktionsprozeß z u sein, di e Arbeit al s Ware verkaufen z u müssen, nu r als Glied eine r Gruppe ökonomisch un d daher auch menschlich z u zählen . Die kapitalistisch e Wirtschaf t is t ei n Wettrenne n de r einzelne n Betrieb e (oder Betriebsgruppen ) au f de m Markte . U m da s Renne n z u gewinnen , braucht ma n besser e Maschineri e ode r besser e Organisatio n ode r beides . Damit drängt aber die Entwicklung au f Verfeinerung und Ausbau des Apparats. Je größer die Betriebe, um so wichtiger wird die technische Leitung. Sie bedarf zahlreiche r Organe , der Direktoren, Ingenieure , Werkmeister. Wir d der Betrieb wissenschaftlich durchgearbeitet , s o treten „Funktionsmeister" , Vorarbeiter u. a . hinzu. Ein großes kommerzielles Büro studiert den Markt, kontrolliert de n Betriebserfolg. Fortdauern d wir d a n der Verbesserung de s Betriebes gearbeitet, weil jede Verbesserung die Kosten herabsetzt und damit den Profit erhöht . Of t zwingt die inländische und ausländische Konkurren z 175 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

dazu, de n letzten Grosche n i n die Organisation hineinzustecken . Zu r Produktion gehört der Vertrieb. Da muß der Absatz studiert werden, um mit der Massenproduktion nich t ins Leer e zu stoßen , e s müssen di e Möglichkeite n steigender Konkurren z i n Menge und Preis erwogen werden . Da s Studium des ausländischen Marktes schließt sich an, die allgemeine Tendenz der Wirtschaft - j e nach Art und Ware mehr oder weniger wichtig - mu ß im voraus gefühlt werden . Die industrielle Produktion ist eben nicht mehr, wie ehedem, in eine nebelverhüllte Zukunft gerichtet. Jeder Betrieb wird sich, wenn seine Dimensionen wachsen , aufgrun d eingehendste r Studie n übe r Absat z un d Verbrauch, von der Lage des Marktes ein Bild machen müssen. Diese Durchleuchtung un d Aufhellun g de r eigene n Möglichkeite n abe r bedeutet : Stati stik, Ermittlungsorgane , kommerziell-technische n Apparat . Kein e Ausgabe für diese n Apparat ist zu hoch. Denn sie warnt vor übereilten Betriebsaus dehnungen und spart so an dem meist gefürchteten Passivposte n des modernen Unternehmens: der Zinslast für stilliegendes Kapital. Er ermuntert auch zu wirtschaftlich aussichtsreiche n Investitione n un d ist ein Führer au f de m Glatteis de r Konjunktur . So wächst und wächst ständig die Quote der Nichthandarbeiter, de r technischen und kommerziellen Funktionäre in der modernen Großproduktion . In der Tat schwillt ihre Zahl rascher an als die der Arbeiter, und ihr Anteil an den Massen de s geschlossene n Großbetrieb s wir d allmählic h erstaunlich . Dafür einige Daten: Die Zahl der Industriearbeiter (ohne Bergbau) stieg in Deutschland von 1907 auf 1925 um 12 Prozent; die Zahl der Angestellten um 111 Prozent. In den Vereinigten Staaten von 1909 auf 1919 : Vermehrung der Arbeiter um 38 Prozent, der Angestellten um 83 Prozent; in Großbritannien (1907-1924): Vermehrung de r Arbeiter um 7 Prozent, de r Angestellten u m 56 Prozent. In Deutschland wuchs also die Zahl der Angestellten am raschesten. Die „Angestelltendichtigkeit" is t heute in den Vereinigten Staaten und Deutschland etw a gleich hoch, in allen übrigen Staaten weitaus geringer. E s entfallen nämlich auf 100 Industriearbeiter Angestellte in Deutschland: 15,4, in den Vereinigten Staaten 15,9; hingegen in Großbritannien: 10,8 , in Frankreich 10, 7 usw. Oder : in Deutschland komm t heute auf je 6½ Arbeiter bereits ei n Angestellter , i m Jahre 190 7 aber ers t au f 1 2 Arbeiter . In einzelnen Industrien ist die Angestelltendichtigkeit vie l größer; sie verwandeln sich geradezu allmählich in Angestelltenbetriebe. So finden wir nach der Betriebszählung von 192 5 in Deutschland auf 100 Arbeiter in der chemischen Industrie 38,2 Angestellte, i n der Nahrungsmittelindustrie immerhi n 20,5, i m Maschinen - un d Apparateba u 22,8 . I n manchen diese r Industrie n hat sich die Zahl der Angestellten vervielfacht, z.B . in der chemischen Industrie und im Maschinen- und Apparatebau fast vervierfacht; abe r in einer Industrie, wie im Baugewerbe, mi t fast stationärer Arbeiterschaft, ha t sie sich beinahe verdoppelt, i n der Nahrungsmittelindustrie, w o die Arbeiterschaf t um 10 0 000 sank , meh r al s verdoppelt . In diesen Ziffern is t zu lesen : Ein e modern e Fabrik is t ein kontrollierte r 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Betrieb. Ei n allgegenwärtiger Intellekt , ei n unermüdlicher Scharfsinn , ein e unerbittliche Exakthei t regulier t i n ihm den Arbeiterprozeß. Kei n Mensch, der an einem falschen Platz stehen dürfte, kein Handgriff, der nicht im voraus bekannt und berechnet wäre, kein Produkt, dem nicht die Bahn des Absatzes vorgezeichnet wäre . Rationel l un d zwangsläufi g is t de r modern e Betrieb , aber d a e r kei n Automa t ist , sonder n ei n Aggrega t vo n Tausende n un d manchmal Zehntausende n Menschen , s o ist die Bedingung seine r Möglich keit: die Erziehung des Arbeiters zum Funktionieren und die Kontrolle und Führung des Teilarbeiters durch den Apparat, d . h . aber durch: Angestellte. Wenn schon im Durchschnitt der Gesamtindustrie (Handwerk eingeschlos sen!) auf je sechs Arbeiter ein Angestellter entfällt, wen n in den modernsten Industrien nebe n 3- 5 Arbeite r bereit s ei n Angestellte r gesetzt ist , s o heißt das: De r Arbeitskörpe r de s Betrieb s is t vo n Elemente n de r Angestell tentätigkeit überal l durchwachsen, de r Arbeitsprozeß is t ohne die Tätigkeit der Angestellte n überhaup t nich t meh r denkbar . Dabe i handel t e s sich ga r nicht mehr bloß um Leitung der Arbeit, sondern um ihre Organisierung, um ihre Formung , Bestimmun g i n jede m Detail , i n Temp o un d Ausführung . Diese Leitun g un d Kontroll e ist of t nich t ein e menschliche, is t nicht Kon trolle von Menschen durch Menschen, sonder n durch Apparate. Aber diese Apparate un d di e gelochte n Kartenblätter , Registe r un d Leistungskurven , welche als Resultat der Kontrolle kontinuierlich produziert werden, werden wieder registriert, bearbeitet und verarbeitet, wenn auch in noch so mechanischer Weise, durch die Angestellten, in Büros, an Schreibtischen oder in Korridoren mit Kartothekschränken. Sie werden dort als Material verarbeitet, sie liefern i n den Gesamtübersichten ei n genaues Bild des Prozesses, enthülle n die fehlerhaften Stellen, bereiten eine noch straffere Durcharbeitung und Rationalisierung vor. Mit ihnen arbeitet das Hirn, das für alle denkt, und die unsichtbare Hand , welch e di e Element e de r Produktion ne u anordnet . Die technische Entwicklung und die unerbittliche Intellektualisierung de s Betriebs, di e Ausmerzun g alle r empirischen , „historischen " Element e de s Prozesses zugunsten eines immer exakteren, vorgedachten und vorgeplanten Gefüges verändert den technischen Habitus der Produktion, steigert (je kostspieliger die Arbeit wird, um so schneller) den Umfang un d die Kostspieligkeit des Apparates. Die Arbeitsräume werden immer weiter und immer menschenleerer. Da neben die Arbeiter in der Werkstatt eiserne Kameraden treten, heute noch Sklaven der Unternehmer, so wächst die Armee der Arbeiter nicht so rasch, als es dem Tempo der Produktionsentwicklung sons t entsprechen würde. Hingegen werde n vorerst di e Büros immer größe r und immer stärker besetzt. Noc h s o mechanisiert, bleib t im Fabriksaal di e Arbeit doch ein Erzeugungsprozeß, bleib t Arbeit der Hand, wen n noch so sehr auf Maschinenkontrolle beschränkt . I m Büro hingege n wir d si e unentrinnbar ab strakt, gerade für die Angestelltenmassen entleert sie sich fortdauernd des Inhalts, wird apparathaft exakt e und damit unbeseelte Funktion, ohne Zusammenhang mi t eine m Werkstück , besonder s i n jene n registrierende n un d 177

12 Lederer , Aufsätz e

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kommerziellen Über - un d Unterbaute n de s industrielle n Produktionspro zesses, de r imme r neu e Kräft e i n sic h hineinzieht . Im Produktionsprozeß werde n dergestalt auch die Angestellten eine Massenschicht. Ih r Sein uniformiert ih r Bewußtsein. W o Hunderte an Registraturen un d Kartotheke n arbeiten , w o da s Formula r di e Büro s beherrscht , schrumpft di e Zahl derer schnell zusammen , di e ihre Tätigkeit al s individuelle Leistung empfinden können . Die Monotonie der Arbeit in diesen Büros ist nicht zu überbieten: Man denke an jene Stenotypistinnen, die des Abends kein Buc h un d kein e Zeitun g zu r Han d nehme n können , wei l ihne n jede s Wort, das sie lesen, sofort in seine Buchstaben zerfällt. E s kommt hinzu, daß die Bezahlung de r unteren Angestelltenmasse n (de r große n Mehrheit ) seh r gering ist; ihr Gehalt erreicht meist nicht den Lohn eines gelernten Arbeiters. Entsteht da nicht eine neue Schicht des Proletariats? Eine Schicht in der ökonomischen Positio n un d i n de r Bewußtseinslag e de r Arbeiterschaft ? Wenn das Unternehmen seinen Absatz noch so sehr vorbereitet - e s bringt seine Ware meist doch nur bis zum Händler. Dieser muß sie, als Großhändler, i n die Kanäle des Verkehrs leiten. Schließlich müsse n die Produkte den letzten Konsumente n erreichen . Da s gesamt e Volkseinkommen , sowei t e s dem Verbrauch dient, wandert durch die Hände des Kaufmanns, wen n man von der Ausgabe für Wohnungsmiete absieht. Die Funktion des Kaufmann s aber ist nicht rationalisierbar. Bi s heute ist noch kein System erfunden wor den, durch das der Verkauf vo n Waren fordisiert werde n könnte. (Der Einheitspreisladen, ei n erste r Anfan g hierzu , is t seine m Wese n nac h außeror dentlich beschränkt.) Wie soll man auch den Verkäuf er durch einen Automaten ersetzen? Was immer verkauft werden soll - de r Verteilungsapparat mu ß mit der Masse des erzeugten Produkts wachsen. Die Anzahl der Schuhe, welche ein Verkäufer zu verkaufen vermag (es gibt darüber eingehende amerikanische Untersuchungen), kann nicht so schnell gesteigert werden als die Anzahl de r Schuhe , di e ein Arbeiter produziert . Dasselb e abe r gilt vo n Auto mobilen, von landwirtschaftlichen Maschinen , von Häusern, vo n Tuch und Seide und selbst von landwirtschaftlichen Produkten . Nur wenn wir die Produktion völli g standardisiere n würden , s o würd e sic h di e für de n Verkau f notwendige Zeit wesentlich herabsetzen. Abe r ist es möglich, all e Waren in die Uniform der Markenartikel z u stecken? Und wirkt dem nicht wieder die steigende Quot e de r Luxusprodukt e entgegen ? Der kommerziell e Appara t de r moderne n Volkswirtschaf t wächs t abe r über dies e Notwendigkeiten hinaus . Di e Zahl de r Erwerbstätige n i n Indu strie und Handwerk stie g von 190 7 bis 192 5 um 32 Prozent; i n Handel un d Verkehr um 61 Prozent. Von je fünf junge n Leuten, welch e sich den städtischen Berufen (Industrie, Handwerk, Handel und Verkehr) zuwandten, tra ten drei in einen Produktions- und zwei in einen Handels- und Verkehrsbetrieb ein! Hier entstehen neue Massenschichten, abe r nur zum kleinsten Teil Arbeitermassen. Dies e Zehntausende und Hunderttausende sitze n vielmeh r in Büros, stehe n hinter Ladentische n ode r sin d ständig au f de r Reise . Ein e 178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Riesenarmee, mi t der Front gegen den Konsumenten gerichtet. Da die Konzentration i n de r Industri e de n Aufstie g zu r Selbständigkei t erschwert , d a auch die meisten Gewerbe entweder ein erhebliches Kapital oder selten anzutreffende Sachkund e erfordern , s o dränge n sic h imme r meh r Handelsbe triebe in den Markt hinein, ohn e daß die Konkurrenz stark genug wäre, ih r Wachstum zu verhindern oder gar die zu groß gewordenen Massen wieder zu reduzieren. Welch e gan z ander e Atmosphär e abe r herrsch t i m Handelsbe trieb - vergliche n mit der Produktion. Kann der Handel je revolutionär werden? Werden die Massen der Angestellten in ihrem Lebensgefühl sic h je dem Proletariat angleichen ? Ist aber nicht gerade diese Arbeit des Angestellten im Handel in den großen kommerziellen Büro s der Banken und auch der Industriebetriebe über alles monoton, sinnentleert , ein e Fron , di e überstande n werde n muß , u m de s Abends in di e Mußestunden z u gelangen ? Im kürzesten Aufriß der Gesellschaft von heute darf nicht übersehen werden, da ß sic h d a ein immer größere r bürokratische r Staatsappara t aufbaut . Die Träger der autoritären Gewalt kommen zwar zahlenmäßig kau m in Betracht, abe r di e Verwaltung i n Reich, Staa t un d Gemeind e wächst mi t de r steigenden Verwicklung der Wirtschaft rasch an. Die ökonomische Großorganisation bedingt, wie Max Weber zuerst eindringlich nachwies, eine komplizierte Verwaltung. Di e moderne Großstadt z . Β . ist ein höchst verwickeltes Gebilde , dere n Verkehrswesen , sanitär e Sicherheit , Wohnungspolitik , Beleuchtung, Fürsorgeeinrichtungen usw . einen wachsenden Apparat erfor dert. (In der Verwaltung allein - ohn e Verkehrsbetriebe - ware n 1925 in Berlin hauptberuflich täti g 17 0 000 Personen, in Hamburg 37 000, in München 38 00 0 usw. Da s sind für München mehr als 1 0 % der Erwerbstätigen!) Das gleiche gil t abe r fü r de n Staat , desse n Funktione n sic h i n de r Differenzie rungs- und Integrationstendenz der Gesellschaft von heute überall in Europa so weit verzweigt haben. Daß sich die Ausgaben der öffentlichen Han d weit rascher erhöhen, als der allgemeinen Preisbewegung etw a entsprechen wür de, is t ei n Beweis dafür, da ß öffentliche Funktione n eine n immer größere n Sektor alle r Berufstätige n i n Anspruc h nehmen . Wen n e s i n Deutschlan d nach der Berufszählung (1925 ) auch nicht mehr als eineinhalb Millionen waren (ohn e Verkehrsmittel!) , als o etw a 5 Prozent de r Berufstätige n über haupt, so ist diese Gruppe doch in der Balance der gesellschaftlichen Klasse n von größter Bedeutung wegen des Einflusses, den sie auf die Bildung der öffentlichen Meinun g ausübt . Noch größe r wir d di e Bedeutun g al l diese r Zwischenschichte n i n de n Zentren de s öffentliche n Lebens , de n Großstädten . I n Berli n ζ. Β . ist de r Anteil der Arbeiterbevölkerung 41, 3 Prozent, de r der Angestellten un d Beamten 27,8 Prozent ; 1 Millionen Arbeiter n stehe n 665 000 Angestellte und Beamte (und 336000 Selbständige) gegenüber. In Karlsruhe z.B. ist die Zahl der Angestellten und Beamten größer als die der Arbeiter! Selbst in der „reinen Arbeiterstadt " Ludwigshafe n is t de r Antei l de r Arbeiterbevölkerun g 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nicht größer als 49,3 Prozent. Zum Teil spielt mit, daß die Arbeiter in Landgemeinden wohnen. Aber auch wo das nicht der Fall ist, drückt die Ausdehnung des Handels und der große Verwaltungsapparat in Verbindung mit dem Wachstum der Angestellten in der Industrie den Anteil der Arbeiterschaft im engeren Sin n de s Wortes seh r herab . Die moderne Gesellschaft ist also weit davon entfernt, sich in wenige große und homogen e Klasse n z u spalten . Vo n de n 3 2 Millione n Erwerbstätige n sind nu r 14, 4 Millione n Arbeiter , di e ihre r Kategori e wi e auc h ihre n Ein kommensstufen nac h seh r groß e Unterschied e aufweisen . Wen n sic h di e Tariflöhne de r ungelernten männlichen Arbeiter zwischen 65 und 11 1 Pfennig die Stunde bewegen, di e der gelernten zwischen7 % un d 13 4 Pfennig, s o drückt das nur sehr unvollkommen di e Verschiedenheiten de r individuelle n ökonomischen Situationen aus. Sowohl die Tätigkeit als der Rang der einzelnen Arbeitergruppen wir d differenziert empfunden . Di e Verschiedenheiten des Arbeitsprozesses von Industrie zu Industrie sind zu groß, als daß sie nicht entscheidend i n da s Bewußtsein hineinwirkten . Ganz fundamenta l abe r ist de r Unterschie d zwische n de n Arbeiter n de s Betriebs und den Angestellten des Büros. Die Verschiedenheit der Herkunft , Vorbildung und damit auch des ganzen menschlichen Habitus bis zu den Unterschieden der Kleidung und der Lebensgewohnheiten, die räumliche Trennung, di e Andersartigkei t de r Arbeitsbedingungen , di e Unterschied e de r Rechtslage sin d Tatsachen , welch e durc h di e Gleichhei t de s Einkommen s nicht kompensier t werden . Weit wenige r homoge n al s di e Arbeiterschaf t is t di e Angestelltenschaf t selbst. Man kann nicht annehmen, da ß die Differenzen zwische n den Kategorien, besonders im öffentlichen Dienst , aber auch in der großen Industrie, welche imme r meh r bürokratische n Charakte r gewinnt , ausgelösch t sind . Folgendes ward auf dem Angestelltenkongreß im Sommer vorigen Jahres erzählt: I n eine m große n industrielle n Unternehme n wurd e da s Bür o eine s Prokuristen frei und einem Beamten niedrigeren Grades eingeräumt. Vorhe r aber ist die Einrichtung für fließendes Wasser aus dem Büro entfernt worden. Noch stärker ist diese Differenzierung i n der Beamtenschaft. Da ß vor dem Kriege die Gliederung in Kategorien und Unterkategorien, besonder s im öf fentlichen Dienst, schlechthin der entscheidende Gesichtspunkt war, daß um die kleinste n Unterscheidungen , Abzeichen , Anzah l un d For m de r Uni formknöpfe erbitterst e Kämpfe geführ t wurden , is t bekannt. Di e Tendenz, sich nach unten hin zu distanzieren, war bei jeder Gruppe so groß, der Wettlauf de r Kategorie n untereinande r s o unermüdlich , da ß da s Regim e e s ga r nicht nöti g hatte , di e Kategorie n durcheinande r z u hetzen . Schie n e s doch einmal erforderlich, so war es ein leichtes, die nötige Distanz herzustellen. So geschah das ζ. Β . konsequent in der alten Marine, wo immer wieder, noch im Jahre 1918 , durch besonder e Erlass e den Seeoffizieren eingeschärf t wurde , daß sie absolut jeden persönlichen Verkehr mit den technischen Schiffsoffi zieren (Ingenieuren ) z u meide n hätten . Besondere , häufi g wiederholt e Er 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

lasse suchten darauf hinzuwirken, „da ß sich Ingenieuranwärter nur aus dem Mittelstand un d Familie n unte r de m Mittelstan d ergänzen" . „Wi r werde n damit erreichen" - s o lautete die Begründung - „da ß die Ingenieure von selbst in die untergeordnete Stellun g zurückkehren, di e ihnen zukommt". Al s die Ingenieure beantragten , ihre n Nachwuchs (Ingenieuraspiranten ) a n den für den Nachwuchs der Seeoffiziere vorgesehene n Sprachkursen teilnehme n zu lassen, beschäftigt e sic h ei n besondere r Erla ß de r zuständige n Dienststell e auch mit dieser Frage. Man liest da: „Di e Anmaßungen der Ingenieure werden immer größer . . . Ich habe einmal den Fall erlebt, daß ein verheirateter junger Ingenieu r be i einem Seeoffizier mi t seiner Frau Besuch machte! Der Seeoffizier fragt e mich , wie er sich zu verhalten habe. Ich riet ihm, de n Besuch zu erwidern, de n Ingenieur aber darauf aufmerksam z u machen, daß er eine Wiederholung nich t wünsche. Gleichzeiti g soll e er den Fall nac h oben melden. Ein Kommandant soll sogar den leitenden Ingenieur zu sich in seine Familie eingeladen haben!" usw. - Da ß infolgedessen die Schiffsingenieure in den Kasinos für Seeoffiziere keine gern gesehenen Gäste waren, daß sie an der Offiziersmesse au s Gründe n de r Ernährungsno t i n Kriegszeite n zwa r teil nehmen durften, si e aber nach der Mahlzeit sobald wie möglich zu verlassen hatten u . ä. , gehör t i n diese s Bild 3. Die Zwischenschichten der staatlichen Beamten wie auch der privaten Angestellten (zusammen 1925: 5,2 Millionen) bilden auch heute ein Gefüge von unübersehbarer Mannigfaltigkeit . E s ist außerordentlic h schwer , au f dies e Millionenmasse den Begriff de r Klasse anzuwenden. Denn in ihr finden sic h die Heerscharen de r Stenotypistinnen, de r kleine n Angestellte n hinte r den Ladentischen, der Eisenbahn- und Trambahnschaffner, de r Gaskassierer wie der Ingenieure von Kraftwerken, de r Beamten in Eisenbahndirektionen, de r Schutzleute und der hohen und niederen Regierungsfunktionäre, di e Stäbe in den Kommunalverwaltungen, di e großen Körper der Ministerien, jede s fü r sich mit eigene n Ressortinteressen un d inneren Stufungen , di e Armeen de r Verkehrsbeamten jede r Art , vo m Radiooperateur, de r die neueste Technik handhabt, und vom Flugzeugführer bis zum kleinen Postschaffner und Briefträger, der den Dienst in entlegenen Gebirgsdörfern versieht, und zum Weichensteller un d Bahnwärter, de r an einer kleinen Lokalstrecke dem vorbeikriechenden Zug mit der roten Fahne seine Aufwartung macht . Begegnen wir hier nich t eine r unendlic h bunte n Mannigfaltigkeit , ohn e innere n Zusam menhang? Ist es vielleicht überhaupt unrichtig, daß sich in der modernen Gesellschaft imme r größere Massen formieren un d ein einheitliches Gesicht erhalten? In der Tat ist dieses die entscheidende Frage der sozialen Entwicklun g i n unserer nächsten Zukunft: Kann sich in diesen Tendenzen zur immer stärkeren Aufgliederung un d Zerspaltung der modernen Gesellschaft zugleich eine Integration zu Klassen durchsetzen? Is t der Berufsgedanke, ist die konkrete Funktion, die Aufgabe im Wirtschaftskörper da s schlechthin Entscheidend e für die Gruppierung, die Gestaltung des Bewußtseins? Sind also die Gruppie181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

rungen nach Berufen und Berufsfunktionen, hierarchisc h geordnet, die letzten Formungsprinzipie n de r moderne n Gesellschaft , welch e sic h darübe r hinaus dan n nu r noc h i n der Natio n zu r Einhei t gestalte n könnte ? Immerhin, es gibt ein Band, welches alle diese in sich so verschiedenartigen Schichten untereinande r un d mi t de m gewerblich-industrielle n Proletaria t zusammenschließt: E s ist das „Kapitalverhältnis". Di e Tatsache also, daß in der moderne n Wel t di e Verfügun g übe r di e Produktionsmitte l un d dami t bisher auch die reale Macht in Wirtschaft un d Gesellschaft be i einer kleinen Gruppe von Kapitalisten und Leitern der großen Unternehmungen und Unternehmungsgruppen konzentrier t ist . Dami t ha t di e überwiegende Mass e den Boden unte r de n Füße n verloren , si e steht nich t „au f eigne r Scholle" . Dieses Schicksal abe r teil t si e mi t große n Massen , welch e von de r Statisti k heute noch als „Selbständige" geführt werden , ζ. Β . mit den Hausgewerbe­ treibenden, abe r auc h mi t zahlreiche n kleine n Gewerbetreibende n un d Handwerkern. Ein Beispiel für viele: Die Statisik weist aus, daß die Zahl der Gastwirtschaften zurückgeh t - gewi ß ei n erfreuliches Zeichen . Abe r nicht , weil sich etwa die Bedingungen für den Gastwirtsbetrieb mehr als für andere Gewerbe verschlechtert hätten , sonder n weil di e Brauereien i n einem Kon zentrationsprozeß begriffe n sind , de r automatisc h di e Zah l de r Gastwirt schaften vermindert . Dies e besitzen j a nur ein e Scheinselbständigkeit, sin d im Wesen Agenten der Brauereien, daz u geschaffen, u m den Absatz zu för dern und ein gut Teil des Risikos der Brauereien zu tragen. Fragen wir: we r hat heute in der modernen Wirtschaft sein Schicksal noch in der Hand? Wessen Existen z ruh t au f feste m Grund ? - s o müsse n wi r dies e Frag e fü r di e ganze Schicht der Unselbständigen, di e Beamten eingeschlossen, un d groß e Teile der kleinen Betriebe, aber auch für die kleinen Kapitalisten und Rentner verneinen. Denn auch die Beamten können - seitde m es einmal einen Abbau gegeben hat - nich t mehr glauben, außerhal b des ökonomischen Prozesses , jenseits aller seiner Wechselfälle zu stehen. Notstände großen Stils, aus einer zu temperamentvolle n Entwicklun g de r Produktivkräft e heraus , werde n immer ihre Position zurückwerfen, werde n zum mindesten ihr e Lebenshal tung durch die Wirkung de r Preisbewegungen empfindlic h verändern , wer den sogar, wi e die jüngste Vergangenheit zeigte, ihre Existenz entscheiden d gefährden können. In ähnlicher Lage wie die Beamten sind aber die Kleinkapitalisten, dere n Einkomme n vo n de r Bewegun g de s Zinsfuße s un d dere n Rente- wenn man an Aktien denkt- entscheidend von der Geschäftspoliti k der Unternehmungen abhängt, auf die sie keinen Einfluß haben . Ist es heute nicht schon selbstverständlich, da ß der Aktionär de m Unternehmen gegen über als Fremder betrachtet wird, dem man doch nicht „das Geld zum Fenster hinauswirft", wi e sic h ei n witzige r Berline r Bankie r ausdrückte . Mindestens aber kann man sagen, daß Arbeiter und Angestellte wie Beamte, i n gleiche r Weis e vo n de n Produktionsmittel n getrennt , grundsätzlic h keinen Einfluß auf die Gestaltung ihrer Tätigkeit im Betrieb haben. Das Gesetz ihres Tuns wird ihnen vom Kapital her vorgeschrieben. Dami t auch der 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Rahmen, i n welchem ihr persönliches Lebe n steht. Ist daher die Schichtung innerhalb des Proletariats und innerhalb der Angestelltenschaft noc h so sehr differenziert un d mögen zunächst Angestellte wesensmäßig noc h so anders sein und empfinden al s Arbeiter, s o teilen sie doch das Schicksal des Proletariats. Di e Angestellten habe n sic h das in ihrer große n Mehrhei t noc h nich t zum Bewußtsein gebracht, sie wollen diese Tatsache immer noch nicht anerkennen, ihr e ganz e Ideologi e - historische s Residuu m - streite t dagegen . Aber durc h da s Tatsächliche de r Berufsarbeit wir d dies e Lebenslage imme r sichtbarer, die Leistung des Angestellten wird für immer größere Massen des persönlichen Gehalts entleert. Werden sie imstande sein, innerhalb des Kapitalismus diese Situation zu ändern? Und wird sie sich nicht- wenn sie unentrinnbar is t - auc h im Bewußtsein auswirken , un d zwar i m Bewußtsein de r ganzen Masse , wi e si e sich schon in einer radikalen Avantgard e ausgewirk t hat? All e Schichte n de r Unselbständigen zusammengenomme n (auc h ohn e die mithelfende n Familienmitglieder ) sin d abe r 1925 : 21 Millione n vo n 3 2 Millionen Erwerbstätige n überhaupt , als o reichlic h zwe i Drittel . Der Mensch von heute, der ein Element der Masse ist, der Masse mit ihrem standardisierten Berufsschicksal , de n (wenigstens gruppenweise ) standardi sierten Gewohnheiten , de n standardisierte n Möglichkeite n de r Ausgestal tung des Lebensraumes und den standardisierten Katastrophen , sieh t sich ja einem Fatum gegenüber , da s um so unerbittlicher ist , je weniger e s von der religiösen Weihe hat. Zu wem soll man beten - zu m Trustkönig etwa? Eigene Aktivität eines Elements der Masse rennt sich wund an den Grenzen des Betriebs, an den Wänden des Laboratoriums, in dem auch den Ingenieur jeden Morgen sein e zugewiesen e Aufgab e erwartet . I n diese r beherrschte n un d exakt geführten Wel t ist weder Spielraum für persönliche Leistung noc h für die Gnade Gottes noch für die Vorsehung - w o und wie sollte sie eingreifen ? Auch die Vorstellung de r besonderen Gnadenwah l wir d zu m Irrsinn in der Welt des organisierten Kapitalismus und der vorbestimmten Lebensbahnen in einer Welt, in welcher die Zahl der Erfolgreichen vo n der Organisationsstufe de r Produktion abhängt . Kan n ma n ein e prästabilierte Harmoni e mi t den obersten Absichten Gottes und den Aufstiegschancen der modernen Industrie un d de s Bankwesens annehmen ? Ei n triviales , abe r unentrinnbare s Schicksal fäng t de n Menschen scho n vor seiner Gebur t ein : In der Tat ent scheidet schon die Bildung von Konzernen und Trusts über das Schicksal der Generationen, welch e heute noch die Schulbank drücken. Schon heute werden die Arbeitsräume geplant, die Arbeitsmethoden ersonnen, das ganze Gefüge des sozialen Körpers vorbereitet, in das sich die Erwachsenen scheinbar freiwillig einordne n werden . S o fällt auc h der Schein der Selbstbestimmun g allmählich dahin . Abe r gleichzeiti g organisier t un d schul t de r Fabrikraum , das Büro, das Laboratorium di e Millionen dieser Funktionäre, de r Arbeits prozeß selbst klärt sie - j e durchsichtiger er wird - übe r die Zusammenhänge ihrer Existenz auf; das leidenschaftliche Interesse der jungen Generation aller Schichten für die Technik, welch e auch das private Leben erfaßt und umge183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

staltet, zerstör t vieles von den Geheimnissen diese r Welt. Di e Ausbreitun g des Sports vollends macht sicher , lös t Komplex e auf ode r läßt sie gar nicht erst entstehen und schafft ein e Vororganisation der Masse, in welche der einzelne sich aktiv einfügt, sein e Funktion erhält, die er betätigt, in der ein freier und gemeinsamer Wille alle eint. Dies alles gibt eine Ahnung von der Möglichkeit gesellschaftliche n Handeln s bei gleichzeitiger Entbindun g persönli cher Kraft. Sol l ma n annehmen, da ß Menschen, di e in ihrer Wel t Beschei d wissen, sie immer besser bewältigen un d übersehen, daß diese in der Sphäre praktischer Lebensgestaltun g da s ihnen gesetzt e Schicksal ohn e einen Ver such der Umgestaltung dauernd ertragen werden? Oder liegt hier nicht einer der Ansatzpunkte dafür, daß sich diese ganze Masse im Kapitalverhältnis, das ihnen au f gezwungen ist , zu r Überwindun g de r Wirtschaftsordnun g eint ? Allerdings sind wir noch weit von einer solchen bewußten Ralliierung aller nichtkapitalistischen Schichte n entfernt . Un d die Entwicklung verläuf t kei neswegs - da s geht gerade aus der kritischen Betrachtung der heutigen gesellschaftlichen Schichtun g hervor - mechanisc h zwangsläufig . Teile n auc h die kapitalistischen Zwischenschichte n heut e bereit s da s Schicksal de s Proleta riats, so hat ihre Mehrheit doch noch nicht ihre bürgerliche Ideologie aufge geben. Sie lehnt sich leidenschaftlich au f gegen dieses Fatum der kapitalistischen Welt , un d ih r erste r Schla g triff t di e Bestrebungen, welch e übe r di e heutige historische Phase hinaus auf gemeinwirtschaftliche sozialistische Bildungen hindeuten. I n diesen kapitalistische n Zwischenschichte n is t di e soziale Romantik zu Hause, und die Gedanken des Faschismus von dem Aufbau eine r ständische n Welt , i n welche r di e aktivistisch e Jugen d de r alte n Schichten herrsch t un d bestimmt e Arbeitergruppe n mi t sic h reiße n will , schlagen am leichtesten in diesen Zwischenschichten Wurzel . Kei n Wunder, daß sich der sozial bedrohte Kapitalismus, wenngleich zögernd, in die Arme dieses Faschismus wirft un d viel Neigun g zeigt, ei n Herrschaftssystem auf zurichten, in welchem die bewußt gewordene Massenexistenz der Zwischenschicht gerade dazu benütz t wird, u m die noch größere Masse des Proletariats z u beherrschen . So erscheint au f de m Horizon t unsere r soziale n Zukunf t ei n Syste m al s Möglichkeit, i n welchem die Schichtung und Stufung innerhal b des Kapitalismus zu m Prinzi p de s gesellschaftliche n Aufbau s i n neue r hierarchische r Form gemacht wird. Wer getraute sich heut zu sagen, welche Kräfte ein solches System z u entfessel n vermöchte ? Unschwer erkenn t man aber auch, wi e im mittleren Europ a sich die Idee des Sozialismus - di e so seinsverbunden ist, wie es alle sozialen Ideensysteme sind - unte r dem Druck dieser Tatsachen wandelt . Wi e die allgemeine Ide e konkret und durch den Zwang zum Handeln zu einer sozialen Kraft wird, die an Gegebenes anknüpft und Gegebenes umzuformen versucht. (Die Einrichtung der Betriebsräte, die starke Anteilnahme des Proletariats an den öffentlichen Unternehmungen, die rasche Ausbreitung der von Gewerkschaften un d Genossenschaften aufgebaute n Betrieb e - au f de r anderen Seite die Durch 184 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

setzung des Tarifvertragsgedankens sin d einige Beispiele für diesen grundlegenden Wandlungsprozeß unserer Wirtschaftsstruktur.) Da sich das mittlere Europa nach den großen Katastrophen des Jahres 1918 nicht zum revolutionären Umbruch entschloß, so befindet es sich seit zehn Jahren auf dem Wege einer langsamere n ode r schnellere n Evolution , dere n Tragweit e bereit s ei n flüchtiger Vergleic h de s sozialen un d ideenhaften Zustande s vo n heute mi t der Zeit vor zeh n Jahren erweist . I n dieser Evolutio n wir d alle s darauf an kommen, o b e s gelingt , i n Ideologie , politische r Haltun g un d Aktio n de r Massen, welch e dasselb e Schicksa l eint , völlig e Übereinstimmun g un d da s Bewußtsein vo n einem gemeinsamen Ziel zu schaffen. Nu r dies böte die Sicherheit für eine Evolution in Wirtschaft un d Lebensschicksal, i n der die inneren Strukturwandlunge n unsere r Epoch e Gestal t un d Ausdruc k finden . Fällt aber diese Masse auseinander, s o stehen wir im Anbeginn einer universalen Krise, i n deren Spannungen di e fundamentalen Gegensätz e bis in den Bürgerkrieg treibe n können .

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10. Problem e des deutschen Parlamentarismus (1929 ) In dem Disraeli-Roman Andr é Maurois ' - eine m mit leichter Künstlerhan d und kluger Einfühlung fei n und suggestiv abgewogenen , überau s reizvolle n Gemälde - trit t uns die Politik Englands als der Florett- und manchmal auch Keulenkampf der parlamentarischen Helden entgegen, denen die Parteien als Heerhaufen Gefolgschaft leisten . Könnte man Maurois glauben, so wäre das Großbritannien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer noch die unbestrittene Domän e zweie r Clique n gewesen , welch e nac h traditionelle n Spielregeln einande r den Ball zuwerfen. E s gilt, de n Gegner in eine Falle zu locken, ihm parlamentarisch eine Niederlage zu bereiten und so sich selbst in den Besitz der Macht zu setzen. Hat man sie errungen, so muß man sie möglichst lange behaupten, darf in der Behandlung und Führung der parlamentarischen Maschine nicht erlahmen, muß immer auf dem Quivive sein - bi s einen schließlich der gefürchtete Gegner über kurz oder lang doch aus dem Sattel wirft oder , bei Neuwahlen, di e Mehrheit der Wahlkreise abtrünnig wird . Die Politik is t nich t ei n Kamp f große r Prinzipien , di e miteinande r ringen , mißt sich auch nicht an der Logik der sozialen oder ökonomischen Konstellation, sondern ist Spiel einer Oligarchie, deren Träger keinen Moment zögern, einen Grundsatz fallen zu lassen oder einen neuen zu ergreifen, wen n sie dadurch di e Macht z u erringe n ode r z u behaupte n vermögen . Um die Gestalt Disraelis, als Heros der viktorianischen Epoche , von hellstem Licht umflossen gan z vorn an die Rampe stellen zu können, läß t Maurois all e übrige n gesellschaftliche n Mächt e i m Halbdämme r zurücktreten . Gewiß, we r wollte auch bezweifeln, da ß die englische Politik vo r dem Eindringen de s industrie-kapitalistischen nouvea u rich e wirklich auc h als „Gesellschaftsspiel" oligarchische r Klub s gesehe n werde n kann ? Ebens o wie in Ungarn vor der Erweiterung de s Wahlrechts Adelscliquen di e Gewalt innehatten, welche den Kampf um die Macht nicht mehr in Turnieren oder blutigen Fehden, sonder n nach parlamentarischen Spielregel n ausfochten . Auc h eine Ar t „Parlamentarismus" , be i de m abe r nu r di e „öffentliche " Meinun g einer sorgfältig abgegrenzte n Cliqu e gilt , di e über mannigfache Mitte l ver fügt, u m am Tage der Wahl die Scheinbestätigung durch das wiederum sorg fältig aus der Gesamtmasse herausgelesene „Volk" zu erhalten. Zwar werden in einer solche n Oligarchi e di e Cliquen de n Charakte r von Parteien anneh men, sie werden in einer Welt, die vom Streit der Weltanschauungen beweg t ist, in der große Interessen miteinander ringen, sich in der Öffentlichkeit un d für di e Öffentlichkeit sowoh l de n Prinzipien wi e den Interessen zuordnen . Aber in dem Halbdämmer der Couloirs, auf den weichen Teppichen und in 186 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

den bequemen Fauteuils der Sitzungssäle wird noch lange ein schulgerechtes Rededuell als die eigentliche Wirklichkeit gelten, werden die Regeln der parlamentarischen Takti k triumphiere n - bi s die neuen breite n Wählermasse n von noch so geschmeidigen, redebegabte n Aristokrate n un d ihrem Anhan g nicht meh r gemeister t werde n können , gan z neu e Mensche n i n di e Parla mente entsandt werden und durch die hüllenlose Betonung ihre r Interesse n das sorgfältig aufgebaut e Gleichgewich t störe n - di e Sitzungssäle de s Parlamentes zum Abbild der Wirklichkeit gestaltend, in der es nicht nach Spielregeln hergeht und in der traditionale Schulung und Orientiertheit, Elastizitä t und persönlich e Kultu r noc h nich t di e Macht sichert . Im Parlamentarismus alten Stils verfügt wie nach einer geheimen Verabredung di e Mehrheit de s Parlaments, of t ein e geringe Mehrheit, gewähl t vo n einer verschwinden d kleine n Schich t de s ganze n Volkes , übe r sämtlich e Machtmittel de r Nation, selbs t übe r die Krone, di e nach der Entscheidun g des Kabinett s bestimmt , i n welche m Augenblic k e s fü r di e herrschend e Gruppe zweckmäßig sei n wird, sic h das Mandat durch Wahlen erneuern zu lassen. E s entspricht die s einem gesellschaftlichen Zustand , i n dem der Gedanke, da s eigene Schicksal durc h Formung de s Staatswillens mitzubestim men, noc h nich t durchgedrunge n ist . Di e Lage änder t sic h ers t durchgrei fend, wen n neben die agraren und feudalen Mächt e die kapitalistischen Ge walten treten . So ist der Parlamentarismus alten Stils eine Rationalisierung durch das Mittel der Majoritätsbildung1. Wobei die Fragen, wer politisch zählt und wie die politisch Zählenden für die eine oder andere Seite gewonnen werden können, nach Grundsätzen beantwortet werden, die den weitgehend parallelen Interessen der herrschenden Cliquen entsprechen. In einem solchen System wer den sich höchste persönliche Ehrenhaftigkeit , fairst e Kampfesweis e i m Parlament mit dem Grundsatz vertragen, daß Wahlen eine Sache des Geldbeutels seien. Oder es wird (wie im englischen System) die Erhaltung eines Zustandes möglich sein , in dem der Besitz eines Landgutes die tatsächliche Verfügun g über ei n Manda t gibt . I n Englan d wa r j a di e assimilierend e un d formend e Kraft de r alten , traditionelle n Bildungsstätte n s o groß (un d si e ist e s z . Τ . noch heute), daß diese oft nur historisch verständlichen „Spielregeln" , wel che den bevorzugten Familien einen entscheidenden Einfluß geben, sich auch noch i n de r kapitalistische n Zei t behaupteten . Es ist eine spätere Phase der Entwicklung, i n der die soziale Homogenität und der Glaube an die Macht der Vernunft, ei n für alle gleiches „Allgemeine s Beste" zu finden, zerbricht . Jetzt wird jede politische Entscheidung zu einer vorläufigen. Di e Träger dieser Entscheidungen sind jetzt politische Parteien, welche als Vertreter letzte r Grundsätze staatlicher Formung einande r nich t mehr in der alten Art gleichberechtigter Klubs gegenüberstehen können, um so weniger, als die letzten politischen Prinzipien sich mit Gruppeninteressen verbinden, di e nich t au f ein e Forme l reduzierba r sind , sonder n höchsten s 187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

vorläufig und zeitweise, bis auf weiteres, in einem Kompromiß gegenseitig in Schwebe gehalte n werde n können . Das politische Leben der Vorkriegszeit in Deutschland kennt Parteien, die sich selbs t al s Träger letzte r staatspolitischer , j a weltanschaulicher Grund sätze betrachten , u m s o mehr , j e geringe r de r Einflu ß de s Parlament s ist . Aber schon damals konnte es dem Beobachter des politischen Werdens nicht entgehen, da ß sich den politischen Grundsätze n Interesse n zuordnete n - j a daß diese bei der Entscheidung den Primat innehatten. So waren die preußischen Konservativen, solange Ostpreußen noch in hohem Maße Getreide exportierte und die Erfindung de r Einfuhrscheine noc h nicht gemacht worden war, entschiedene Vertreter des Freihandels, der für sie damals keinen revolutionären Nebenakzen t trug . Da s inner e Wirtschaftsgebie t wurd e i n de r konservativen Auffassung erst dann ein Wert, der Außenhandel erst dann suspekt, al s ma n i m Zollsyste m ei n taugliche s Mitte l erblicke n konnte , da s landwirtschaftliche Grundrenteneinkomme n zu steigern. Solche Fälle zeigen deutlich, ebens o wie ja auch die schwankende Haltung städtischer Gruppe n in den Fragen des Zolls, aber auch der Dosierung staatsbürgerlicher Recht e an die breite Masse der Bevölkerung, da ß ein grundsätzliches Bekenntnis zu einem Prinzip noch nicht dessen Vertretung in allen Fällen sichert. Kann man von breite n Masse n erwarten , da ß sie gegen ihr e Interesse n entscheiden ? In einem Aufsatz „Da s ökonomische Elemen t und die politische Ide e im modernen Parteiwesen" 2 habe ich einige Jahre vor dem Kriege das Vordringen de r geschlosse n organisierte n Interessentengruppe n i n da s Gefüg e de r Parteien hinei n erörtert . Ei n zähe r Kamp f of t zwische n ideologisch , wen n man will ideell, eingestellte r Partei und nüchternem Interessentenwollen , i n dem die politische Partei nicht der stärkere Teil sein konnte, weil sie ihre Mitglieder nich t fest band , wei l si e mit ihne n nu r gelegentlich i n Fühlung trat , weil si e nicht in allen Fällen mi t periodischen Journalen ihr e Mitgliedschaf t erfaßte (wichtig be i der großen Ausdehnung der parteilosen Presse) und weil sie es vor allem häufig nicht auf einen Konflikt mit den wirtschaftlich und organisatorisch viel stärkeren Interessentenverbände n ankomme n lasse n durfte. Bei manchen Parteien wa r daher von vornherein geradezu ein e Deckung zwischen politischer Partei un d Interessentenorganisationen garantier t (wi e bei de n Konservative n un d de r sozialdemokratische n Partei) , be i anderen , wie bei m Zentrum, wa r di e Balance zwischen de n beide n Mächten wieder holt in Frage gestellt, wei l diese Partei die heterogensten Interessengruppe n in sich vereinigte und insofern eine n Sonderfall de s deutschen Parteiwesen s darstellte. An de m Verlauf de r Wahlkämpfe i n der Zeit vor dem Kriege, zuletz t i m Jahre 1912, war deutlich zu sehen, wie groß bereits die Abhängigkeit der politischen Parteien von den Interessentenverbänden geworde n war 3 . Flosse n doch aus deren Kreisen die Mittel für den Wahlkampf, ware n doch die Mitgliedermassen de r großen Verbände nur a n die Urne zu bringen , wen n di e Partei sich die Forderungen der Verbände zu eigen machte. Aber das wurde 188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

doch überwiegen d al s unkorrekt , al s mi t de r Unabhängigkei t de r Parteie n unvereinbar empfunden, un d grundsätzlich waren ja auch die Interessenverbände unpolitisch, wollte n sic h „nur " de n wirtschaftlichen Interesse n ihre r Mitglieder widmen . Nur nebenbei se i betont, da ß die scharfe Scheidung zwischen politische n und unpolitischen „blo ß wirtschaftlichen" Verbänden , zwischen politischen und unpolitische n „blo ß wirtschaftlichen " Aktione n ga r nich t aufrech t z u halten ist . Wirtschaftlich e „Einzelfragen " könne n seh r woh l prinzipielle n Charakter tragen, politisch werden. Waren die Bauernkriege keine politische Massenbewegung, wei l di e Artikel de r aufrührerische n Bauer n gan z über wiegend ein e Sicherung un d Verbesserung ihre r Wirtschaftslage forderten ? War nicht bei der Erringung des Minimalarbeitstages, um mit Marx zu sprechen, der „Sieg auch Prinzip" ? Ein politischer Grundsatz wird überhaupt nur Massen in Bewegung setze n können, wen n er sich mit deren massivsten In teressen verknüpf t - wi e umgekehr t erhebliche , sponta n hervorbrechend e und zum Erfolg geführte Masseninteressen das politische Gesicht der Nation verändern. Be i jeder radikale n Agrarreform , als o bei der Sättigung de s primitiven Landhunger s der Bauern, ist das evident: Landaufteilung vernichte t eo ipso die politischen Privilegien des großen Besitzes. Aber auch in der industriellen Sphär e z . Β . wäre eine reale Mitwirkung de r Arbeiterschaft a n der Gestaltung de s Produktionsprozesse s mi t eine r autokratische n Herrschaf t auf politischem Feld e unvereinbar. Jed e Gestaltung de r Wirtschaft ha t als o auch eine n politischen Nebensinn , de r Sieg materiellster Interesse n Konse quenzen in der Struktur des Staates. Eine Trennung dieser beiden Sphären erscheint heute schon unmöglich. Damit soll nicht etwa behauptet werden, daß es „reinpolitische" Frage n überhaupt nich t gäbe. Der Kampf um die Schule z. Β . ist gewi ß seh r wei t vo n ökonomische n Interesse n entfernt . Auc h be i außenpolitischen Problemen wird mitunter bei einzelnen Schichten die Stellungnahme nicht rein aus ökonomischen Interesse n herau s zu erklären sein . Doch is t kla r z u sehen , da ß di e Parteigruppierun g i m große n un d ganze n nicht mi t Hinblic k au f solch e rein politische Entscheidunge n erfolgt . Der Verlauf des letzten Wahlkampfes [1928 ] in Deutschland mag die Entwicklung, welch e hier nur objektiv skizziert, nicht wertend beurteilt werden sollte, noc h vo n eine r andere n Seit e her beleuchten : Es ist vielen Politikern aufgefallen, da ß die Technik der letzten Wahlen sich von de r frühere r un d besonder s de r Vorkriegswahlen grundsätzlic h unter schied. Frühe r wa r di e Wahlbewegung ein e ununterborchene Kett e große r Versammlungen. Ich selbst habe als junger Student die Wahlen 1903 in Berlin miterlebt und beobachtet, mit welch steigendem Interesse durch höchste Anspannung der glänzendsten Redner aller Parteien die Massen in die Versammlungen gezogen wurden. In den letzten Wahlen gab es fast keine großen Versammlungen mehr, und ebensowenig gab es, wie noch vor 20 Jahren , große prinzipielle Vorträg e anerkannte r Führer , di e bishe r indifferente , schwan kende Schichte n a n sich heranzureißen vermochten . 189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Das konnte nicht bloß darin seinen Grund haben, daß die großen Parteien fürchteten, i n große n Versammlunge n be i freie r Diskussio n de n kleine n Splitterparteien grati s Versammlungsräum e un d ei n Publiku m z u bieten , sondern in dieser Zurückhaltung gegenübe r der breiteren Öffentlichkeit , i n dieser Stummheit der großen Parteien spiegelt sich eben zweierlei: daß man über di e eigene n Masse n schlechterding s verfüg t un d nich t z u fürchte n braucht, sie an beredtere Parteien zu verlieren. Und zweitens: daß man auch nicht imstande ist, über die eigene Masse hinauszugreifen und neue Anhänger in de n große n Versammlunge n z u gewinnen . Das aber ist höchst bedeutsam: Hierin spricht sich aus, daß die politische Versammlung großen Stils nicht mehr der Ort ist, an dem Anhänger der Partei geworbe n werden . Abe r auc h ein e intensivere Tätigkei t de r Parteie n i n kleineren Versammlungen gibt es ja nicht mehr. Ein Studium der Tätigkeitsberichte unserer großen Parteien würde das nachweisen. Zwar verfügen di e politischen Parteie n noch über eine große Presse, aber die parteilose Presse dringt doch immer weiter vor. Wo und wann und wie vollzieht sich also der Anschluß der Massen heute an die politischen Parteien? Offenbar doch noch anders al s 1918 , al s di e groß e un d klein e politisch e Versammlun g noc h durchaus de r sozial e Rau m war , i n de m sic h di e Meinunge n formten . Da man nicht annehmen kann, daß die Gruppierung der „jungen Wähler" automatisch erfolgt, d a sie schwerlich aufgrund eine r ausgebreiteten privaten Lektüre un d eine s sic h darau s gebärende n Urteil s zustand e kommt , s o is t wohl di e Einwirkun g vo n Man n z u Mann , di e unmittelbar e Gewinnun g durch Vertrete r eine r bestimmte n Gesinnun g anzunehmen . Di e Entschei dung erfolgt also wahrscheinlich in dem geschlossenen Lebens- und Arbeitsraum, innerhalb dessen sich der einzelne bewegt, i n den kleineren gesellige n Verbänden, wi e Sportvereinen, un d in den Berufsorganisationen, abe r nicht so sehr- wie ehedem - i n breiterer Öffentlichkeit. E s ist nicht die dramatische Spannung öffentlicher Diskussionen , welche die neuen Wähler in ihren Bann zieht, sondern die Wahl der politischen Position vollzieht sich eben überwiegend auf der Arbeitsstätte oder in Zusammenhang mit ihr und wächst derart aus der Lebenslage des künftigen Wähler s hervor. Wi e anders noch in England, wo die Parteien jetzt um die Stimmen der jungen Mädchen, welche das Wahlrecht neu erhalten haben, in einer Massenflut von Versammlungen werben. Wenn sic h di e Gruppierung un d di e Umgruppierung de r Wähler i n den kleinen Kreise n des Berufs, de r Arbeitsstätte usw. vollzieht , s o werden di e reinen Weltanschauungsparteien a m schwersten ihren Bestand steigern oder auch nur erhalten können. Daß z. Β. die Demokraten [DDP] so sehr an Ter­ rain verloren haben und noch fortgesetzt verlieren, folgt wohl aus der Tatsa­ che, daß sie unter allen Parteien am wenigsten eine beruflich ode r klassenmäßig gekennzeichnete Massenschicht in sich bergen, da ß keine Arbeitssphär e der Volkswirtschaft al s ihre Domäne betrachtet werden kann. Der demokratische Wähler ist mehr als der Wähler in allen übrigen Parteien ein einzelner, 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

an dessen Überzeugung appelliert wird. Er kann „nur" als Volks- und Gesinnungsgenosse angesprochen werden, e r kommt nicht auch deshalb zur Partei, weil er einer bestimmten sozialen Schicht angehört, im Gegenteil verlangt die demokratische Parte i von ihren Wählern die Verleugnung ihre r Interessen, inde m si e vo n de n bürgerliche n Wähler n weitestgehend e Rücksicht nahme au f sozial e Forderungen , vo n de n proletarische n weitestgehende n Verzicht auf ihre Interessenwahrnehmung erwartet . E s gibt - auße r der Gemeinsamkeit i n der Überzeugung - kei n Band, da s sich um die demokrati schen Wähler schlingt, si e leben - prinzipiel l - nich t in demselben soziale n Raum. So hat der Auftrieb der Revolution, der allen linksstehenden Parteien zugute kam , sofor t nac h dem Jahre 191 9 nachgelassen. Di e demokratisch e Partei konnte nirgends eine soziale Massenschicht finden , i n der sie sich zu verankern vermöchte. I m Gegensatz dazu zeige n die Kommunisten - trot z eines auffallenden Mangel s an fähigen Führern , trot z einer Zickzackpolitik , trotz eine r gan z sterilen , keine n einzige n praktische n Erfol g aufweisende n Taktik - eine , ungeachte t einige r Rückschläge, überraschen d günstig e Ent wicklung. Lieg t e s nicht nahe , dies e mit de r Tatsache ihre r Organisations technik in Verbindung z u bringen? De r Aufbau i n Zellen setzt die Partei in die Lage, in jedem Betrieb und in jedem Dorf ganz unmittelbar durch kleinste Kleinarbeit Mitgliede r z u gewinnen . Inde m auc h die Führer gehalte n sind , Zellenarbeit zu tun, ist eine Fühlung innerhalb der Gesamtpartei hergestellt. Während die demokratische Partei also ihre Anhänger nur bei den seltenen Ortsversammlungen un d etwa durch die Presse erfaßt, währen d auch die sozialdemokratische Parte i ihre Mitglieder i n allgemeinen Versammlungen a n sich heranzieht , ha t die kommunistisch e noc h wei t prinzipielle r al s die sozialdemokratische Partei den Schwerpunkt auf den Betrieb als denjenigen sozialen Raum gelegt, in dem die Einwirkung von Mann zu Mann am unmittelbarsten un d wirksamste n ist , wei l di e gemeinsam e Erlebensgrundlag e di e Agitation au s dem jeweiligen Interessenzentru m herau s möglic h macht . Es ist auch kein Zweifel, da ß alle Massenparteien sich diese Technik werden aneignen müssen, da nur so die Politik abgesehen von ihrer prinzipiellen Seit e auch in ihrer praktischen Bedeutun g begriffe n werde n kann . Und nur Politik, di e auch i m Allta g praktisch e Bedeutun g hat , bleib t lebendig . Eine solche Entwicklung mag die Tendenz haben, das ökonomische Interesse in der politischen Sphäre sehr zu steigern. Je kleiner und je homogener die Gruppen, die als letzte Organisationszentren de r Parteien sich aufbauen, um so lauer di e Begeisterung fü r di e Idee, die psychologisch al s Uberkom pensation auseinanderlaufende r Gruppeninteresse n i n eine r größere n Ge samtheit angesehen werden kann, und um so stärker die Interessen. In einer interessanten und amüsanten, bishe r noch nicht publizierten Red e über den Einfluß der Aristokratie sagt John Stuart Mill4 : Individuais have been known to make great sacrifices o f their private interest to the good of their country , but bodies of men, never. When the glory of doing right and the shame of doing wrong ar e to be shared amon g s o many tha t the share of eac h ma n i s a 191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

trifle, n o principl e remain s o f sufficien t strengt h t o counterac t th e unite d force of the two great Springs of human action, the love of money and the love of power . Je homogener aber die Sozialkörper der Partei werden, um so vollkommener wird jede Bremsung des Eigeninteresses durch Interessengegensatz in der Partei ausgeschalte t un d um so mehr werden di e Parteien gezwungen , sic h selbst interessenmäßi g z u organisieren . Hier ist interessant zu sehen, wie die Änderung der Organisationstechni k bis in die Frage: Interessen- ode r Weltanschauungspartei? hineinreich t un d den Charakte r de r Politi k überhaup t mitbestimm t - abe r freilic h nich t al s letztes Datum , sonder n auc h al s Ausdruc k de r sozialökonomische n Ent wicklung überhaupt . E s sprich t sic h dari n keinesweg s blo ß di e stärker e Durchschlagskraft de s Ökonomische n au s gegenübe r de r Idee , auc h is t e s keineswegs bloß der Ausdruck dafür, da ß nur Ideen ihre Durchschlagskraf t verloren hätte n und die Welt dadurc h „materialistischer " geworde n wär e sondern diese Entwicklung is t auch geschuldet der großen Zeitströmung, i n der Unmittelbarkeit, Lebendigkeit , Einbekenntni s des Seins wie es ist, Sachlichkeit und Echtheit, ein e Forderung auch der Politik geworden ist. Forderung des Wählers, der sich selbst gegenüber die Lüge verschmäht, sic h nicht besser machen will, al s er ist, sich nicht mit billigen Ideologie n seine r selbst drapiert und sich nicht schämt, wenn er in dieser Lebensbeziehung eben als Interessent dasteht. Gewiß ist das nicht bewußte Reaktion der Massen auf die mehr ideologisch e Politi k de r Vergangenheit, vielmeh r ei n heut e natürlic h gewordenes Verhalten - i n deutlicher Korrespondenz auch zum Maschinensystem. Die s rei n sachlich e Verhalten , diese r eingestanden e Wirklichkeits sinn macht erst jede Meinungsbildung i m engsten sozialen Räum e möglich , wie e s durch si e immer wiede r reproduzier t wird . Das Proportionalwahlrecht - ursprünglic h gerade gefordert, um jedem allgemeinen Standpunkt e z u seinem Recht e zu verhelfen - ha t diese Entwick lung wesentlic h mitgetragen . Mußt e frühe r di e politische Partei , u m eine n Wahlkreis zu gewinnen oder zu behaupten, möglichst die Mehrheit der Wähler an sich fesseln, mußt e also der Kandida t bei der bunten sozialen Schich tung viele r Wahlkreis e of t mehrer e Wählergruppe n au f sic h vereinigen , s o war scho n dadurch da s einigende Band der Idee postuliert, da s sich oft mi t konkreten lokalen Interessen, wenn auch ohne inneren Zusammenhang, ein fach i n de r Perso n de s Kandidate n auf s glücklichst e vereinige n ließ . Das Proportionalwahlrech t wil l grundsätzlic h di e „echt e Demokratie " sein. Kein e Stimme darf verlore n gehen , un d jede Meinung soll ihren Aus druck finden. Al s ob es in der Politik und im Parlament darum ging, ei n getreues Spiegelbil d alle r politische n Ideen , alle r nichtpolitische n Idee n un d Schrullen und aller großen und partikularen Interesse n zu gewinnen, und als ob das Parlament nicht in erster Linie ein Organ für die Willensbildung sei n müßte, wen n e s überhaupt etwa s sei n will . Doc h davo n noc h unten . Das Proportionalwahlrecht hat also die in einer geschichteten Gesellschaf t 192 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

einigermaßen allei n noc h möglich e Basi s de r soziale n Zusammenfassun g den lokalen Wahlkreis - zersprengt , es hat jedem Standpunkt die Möglichkeit gegeben, im Lande weit verstreute Grüppchen und selbst einzelne (als ob Politik nich t de r Natu r de r Sach e nac h Gruppenangelegenhei t wäre! ) z u Par teien un d z u Parlamentssitze n zusammenzuschweißen , un d e s ha t derar t grundsätzlich der Idee den weitesten Spielraum gegeben. Allzu deutlich aber zeigt sich jetzt, daß dieses Proportionalwahlrecht in einem bisher ungekannten Maße geradezu ein Monopol der Interessentenparteien schafft , wei l sich die Masse be i den Wahlen nu n ers t recht nac h den soziale n Räume n grup piert, um so mehr als jedes Interesse, auch ein beschränktes, in diesem Wahlsystem quer über das ganze Reich hin doch so viel Stimmen sammel n kann, daß es einige Mandate erhält. (Bedeutun g de r großen Wahlkreise in diesem Zusammenhang!) Wie schrumpfen i n dieser Situation die Weltanschauungsparteien zusammen, und wie glatt übersetzt sich das Parteiprinzip in die Interessentenideologie de r kleine n homogene n Gruppe ! Diese Wirkun g de s Proportionalwahlrecht s erschein t al s unentrinnbar , wenn man erkannt hat, da ß die Politik zwa r au f die „großen Gegenstände" geht, abe r des festen Ankergrundes in der Wirklichkeit, de r Erlebnisgrundlage nich t entrate n kann . Dies e Grundlag e kan n i m Bewußtsein de r Mass e weder der Staat noch die Nation noch eine Idee wie Freiheit oder Sozialismus sein. Diese „Idee" muß sich vielmehr mit der konkreten Existenz verbinden. Ehedem wa r e s der lokale Wahlkreis. Noc h heut e haben wir i n Frankreic h ζ. Β . diese engste Verknüpfung zwische n Dor f ode r Stadt und Reich in der Tatsache, daß jeder Politiker von Gewicht, jeder Deputierte zumal, traditionellerweise Bürgermeiste r eine r Gemeind e ist , z u de r e r gehört . Auc h di e große Politik kreis t in Frankreich, wi e neulic h i n geistreicher Weis e gesag t wurde, rund um den Kirchturm. Es gehört die ganze Abstraktheit politischer Theorie, di e ganze Raison-Gläubigkeit de s 18. Jahrhunderts un d moderner Intellektueller, auc h a n Idee n un d Ideologie n (dabe i werde n di e eigene n Ideologien stet s al s Ideen , di e Idee n de s andere n al s Ideologie n gesehen ) dazu, u m zu meinen, daß Bauern, Arbeiter, Kaufleut e und Unternehmer in ein Gremium , da s auch un d i n erste r Lini e übe r ihre konkrete n Interesse n entscheidet, Träge r einer „Staatsidee " entsenden werden. Sie werden natür lich genötigt sein, sich Sachwalter zu wählen- schon deshalb, weil es die andern tun - un d ein Wahlsystem muß daher so aufgebaut sein, daß es trotz eines genügend weiten Spielraumes für die Interessen doch deren Gliederung in große Gruppen garantiert . J e größe r die Parteien, u m so wahrscheinlicher , daß aus den Aufgaben, di e sich stellen, au s der Verantwortung herau s ein e Einschränkung de s eigenen Interesses , ein e Orientierung a n der „Idee " er folgt, wa s in praxi nichts anderes sein wird als Respektierung der Ideologie n anderer Parteien . Je mehr das Wahlsystem zu „berufsständischer" Gliederun g die Möglichkeit bietet, um so mehr muß sich das Parlament in Grüppchen aufspalten. J e größer und radikaler hingege n das Interesse ist, welche s eine Partei vertritt, 193

13 Lederer , Aufsätz e

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um so mehr wird e s mit anderen konfrontiert. E s handelt sich also gar nicht darum, die Interessen aus der Politik auszuschalten. Das wäre das Ende jeder Politik. Si e würd e Angelegenhei t bedeutungslose r Gruppen , un d de r Schwerpunkt des gesellschaftlichen Handeln s würde sich in außer-politische Sphären verschieben . E s handelt sic h vielmehr darum , di e Interessen s o zu gruppieren, daß sie sich nicht in sich versteifen, daß sie genügend weit und lebendig sind, um zur ganzen Wirklichkeit Beziehung zu haben. Wenn es eine Partei fü r Aufwertun g gibt , s o könnt e e s mit ebens o ode r noc h vie l meh r Recht eine Partei der Eisenbahner geben, aber beide wären gleich absurd, da es wohl ein e Unternehmer- ode r Arbeiter- , abe r kein e Aufwertungs - ode r Eisenbahnerpolitik gebe n kann . Das Proble m de r moderne n Parteipolitik , di e Frag e nac h de r richtige n Struktur der politischen Partei kann nur gelöst werden, wenn die realen und ideellen Gruppierungszentren so gewählt werden, daß sie noch einen inneren Zusammenhang haben . S o daß man also vom Interesse noch zur Ide e kommen kann, daß das Interesse ideologiebildende Kraft hat. Nur große Interessen aber haben solch e wahrhaft ideologiebildend e Kraft . D a aber das große Interesse die partikularen Interessen nie voll in sich zur Auswirkung bringe n kann, mu ß es sie wenigstens organisatorisch a n sich heranholen. Inde m das Proportionalwahlrecht geradez u ein e abstrakt e Ralliierun g vo n einzelne n und Grüppche n gestattet , di e nichts al s ein partikulares Interess e eint , zer schlägt es die Willensbildung i n der großen Linie. Auf der anderen Seite aber hat es gerade in den großen Interessengruppierungen di e Bedeutsamkeit und das Gewich t de r kleine n Grupp e verringert , inde m e s die Oligarchie n de r Parteien z u eine m Mißbrauc h ihre r Mach t herausfordert . D a endlic h de r Wahlkreis in diesem System keine Einheit bildet und nichts bedeutet, besteht die Notwendigkeit , ander e „letzte " Gruppe n z u schaffe n - wa s aber , wi e oben erörtert, nicht allen Parteien i n gleicher Weise gelingt und nur die Zersplitterung fördert . Da s Proportionalwahlrecht is t also heute die Grundlage zersplitterter, oligarchisc h beherrschter Interessenparteien, denen die innere Energie und Anteilnahme der Wähler fehlt, wen n sie kein Gruppenleben i n sich entfalten , un d die sich um so interessenmäßiger orientiere n müssen , j e lebendiger si e sind , d a sich di e Grupp e i m soziale n Rau m un d nich t loka l formt. S o zwing t Wahlsyste m un d dami t zusammenhängend e Organisa tionstechnik i n ein e Sackgasse , au s de r herau s politisch e Führun g imme r schwieriger wird. Was aber ist eine Demokratie ohne die Möglichkeit große r politischer Führung ? Zwischenbemerkung: Di e Bedeutung der letzten, kleinsten Gruppe in der größten Organisation hat der Weltkrieg gezeigt. Die Regimenter sind landsmannschaftlich zusammengesetzt . Di e Kompani e is t da s kämpfend e Dorf . Die taktische Einheit ist vielfach - gerad e in den Truppen, welche die Massen in sich schließen - zugleic h Nachbarschaftsgemeinschaft. S o wird der Weltkrieg getragen von der homogenen Gruppe; so nur findet de r Bauer und Arbeiter wie der kleine Geschäftsmann sic h eingefügt i n ein Mileu, i n dem die 194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

phantastischste Spannung und Leistung durch Gemeinsamkeit des Erlebenskreises, de r Sprach e un d de r heimatlichen Landschaf t balancier t werden . Im Deutschland von heute treibt das politische System auf eine Sandbank zu, wei l e s sich nicht der großen Strömung der Interessen frei überläßt . Au s einem abstrakte n Doktrinarismu s herau s - gestütz t durc h ein e absurd e Wahlkreisgeometrie i n der Zeit vor dem Kriege - wurd e eine Wahlordnung aufgebaut, dere n Konsequenzen jedenfalls nicht den Interessen dienten, welche es schufen. Und das Schwergewicht einer einmal geschaffenen Form steht jeder Änderun g hemmen d entgegen . Nichts lehrreicher, al s den Zustand des Deutschland von heute aus englichen Gesichtspunkte n z u betrachten : In de r Politi k handel t e s sich fü r jed e Partei darum , in s Governmen t z u kommen. Parteibildung und Parteipolitik ohne Beziehung zum Government ist Irrsinn, mindesten s verschwendete Zeit, die besser dem Golfspiel gewid met würde. Schon der Wähler wird daher für eine Partei stimmen, die entweder die Chance hat, in die Regierung zu kommen, d. h . die Mehrheit der Sitze auf sic h z u vereinigen , ode r di e „offiziell e Opposition " z u bilden , welch e demnächst zu r Regierun g berufe n ist , sobal d di e regierend e Parte i ihr e Mehrheit verliert . Daher ist die Aufspaltung i n kleine und kleinste Parteien absurd. Könne n sie doch nie zum Government kommen. Koalitionen verschiedener Parteien aber sin d unmöglich . Den n Politi k un d Regiere n zuma l is t „Teamwork" . Wie solle n Vertreter verschiedener Parteie n i n der Regierung zusammenar beiten, wen n sie sich bei den Wahlen gegenseitig Mandat e abgejagt haben wie sollen plötzlich di e verschiedenen Mannschaften , di e gegeneinander gespielt haben , dere n jed e ei n andere s Temp o besitzt , jetz t plötzlic h zusam menspielen? Homogenität und gegenseitiges Vertrauen scheint dem Engländer in der Regierung unentbehrlich. Wie kann man regieren, wenn das Kabinett nicht eine einheitliche Partei und geschlossene öffentliche Meinun g hinter sich hat, sonder n Fraktionen , di e selbst i n der Regierung versuch t sind , sich gegenseiti g ei n Bei n zu stelle n mi t Hinblic k au f künftig e Wahlen ? Ebenso homogen wi e die Regierung mu ß aber auch die Opposition sein . Denn sie ist ja die künftige Regierung . Wi e kann diese handlungsfähig wer den, wenn die Opposition aus den verschiedensten Parteien besteht, die sich gegenseitig in Positionen hineinmanövrieren, welche bei Übernahme der Regierung sofor t - möglichs t unbemerkt vom Wähler - geräum t werden müssen? Und welche Lage entsteht gar (ein Angsttraum für den englischen Politiker), wenn die verschiedensten Koalitionen nach links oder rechts durch die Mannigfaltigkeit der Parteien möglich werden? Da steht man doch überhaupt vor keinem faßbaren ode r gestaltbaren Ausdruck der öffentlichen Meinung . Und wa s dann ? So ist heute in England die Auffassung wei t verbreitet, da ß für die liberale Partei trot z ihre r letzte n Wahlerfolg e un d trot z de s Geschicks , mi t de m Lloyd Georg e die Kampagn e führt - kei n Spielrau m meh r sei . Di e liberal e 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Partei kan n ni e hoffen, nebe n Labou r und de n Konservativen (di e ja heute den Freihandel i n Lebensmitteln ebens o vertreten wi e di e Liberalen) j e zur Regierung z u kommen . Si e wir d als o auc h ni e Oppositionsparte i i n de m Sinne werden , da ß si e offiziell di e Anwartschaft au f di e Regierung besitzt . Und da soll man dulden, daß sie eventuell als kleinste Partei das Zünglein an der Wage bildet und darüber entscheidet, o b Labour oder die Konservativen zur Regierung komme n und wie lange sie sich in der Regierung halten ? Das sind alle s für englisch e Begriff e unmöglich e Situationen , welch e nu r durc h Rückkehr zum Zweiparteiensystem überwunde n werde n können. U m wieviel sinnloser erscheint aber dann das deutsche System, das in seiner Zersplitterung die Bildung einer homogenen Mehrheit überhaupt ausschließt, das die Politik geradezu zu einer Kette gerade noch glücklich vermiedener Katastrophen macht. Ich glaube auch nicht, daß irgendein Engländer, wede r ein Demokrat noch ein Sozialist, Angs t vor einem „Bürgerblock" hätt e - e r würde das unter der Voraussetzung eines fair play als natürliche Kombination empfinden. Namentlic h abe r dürft e ih m lächerlic h erscheinen , sic h au f grund sätzliche Prinzipien, seien es auch Ideologien, also lebensnahe Grundsätze zu versteifen, da es sich im Government ja doch nur darum handle, das Vernünftige zu tun. D a der Engländer überdies noch immer an die Vernunft glaubt , so ist er überzeugt, daß sie sich in einer Abfolge der Regierungen, welche bald die eine, bald die andre Seite der Sache mehr berücksichtige, doc h durchsetzen würde. Hingegen würde die Linie bei mehreren Parteien verloren gehen Nebenpunkte, Interesse n vo n Koterie n käme n zu r Geltung . Es sind als o gewisse Grundvorstellungen , welch e di e englische Konzep tion eines „guten" politischen Systems voraussetzt: so der Glaube an die Vernunft, di e für alle das Richtige finden werde, der Glaube, daß die „Logik der Tatsachen" deutlich genug zu uns spricht, u m uns den richtigen We g finde n zu lassen , un d daher letzten Ende s die Ablehnung eine s prinzipiell tiefgrei fenden Gegensatzes . Diese Grundeinstellung is t sicher auch in der Tatsache verankert, da ß schon die Verantwortung fü r die Erhaltung des Empire jeder Regierung bestimmt e Entscheidungen aufzwingt. Un d bisher hat diese Meinung auc h rech t behalte n - wobe i allerding s nich t übersehe n werde n darf , daß di e Labou r Part y nac h englischer Terminologi e zwa r i n government , nicht aber in power war, die sie ja jeden Augenblick mit den Stimmen der Liberalen gestürz t werde n konnte . Und wie stellt sich (muß man, von Deutschland her gesehen fragen) die Situation dar, wenn die Labour Party - nac h Ausschaltung der Liberalen - zu r Regierung kommt, als Mehrheit, und die Macht bald an die konservative Partei, bald an Labour fällt? Ist dann nicht - trot z Zweiparteiensystem - doc h die Lage verzweifelt, und bietet nicht das deutsche System mit seinem Zwang zur Koalition von vornherein den Boden für einen Kompromiß, der auch das radikale Prinzi p i n kleine n Dosierunge n allmählic h i n di e Wirklichkei t ein führt? In der Tat befindet sich auch England, selbst wenn es wieder zum Zweipar196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

teiensystem kommen sollte, in einer neuartigen Situation. Denn der Wechsel zwischen Konservativen und Liberalen bedeutete nicht so sehr den Wechsel zwischen Vertreter n verschiedene r Gesellschaftssysteme , al s vielmehr ver schiedener, se i es auch sehr gegensätzlicher Interessen . Vo n Prinzipien wa r dabei nich t allzuviel di e Rede. Ist doch in England, ohn e daß man sich darüber aufgeregt hätte , heute die Liberale Partei die Vertreterin der staatlichen Regulierung, währen d die Konservativen di e Wirtschaft sic h selbst überlassen wolle n un d jeden Staatseingrif f vo n größere r Bedeutun g ablehnen . Di e Liberalen sin d fü r Landreform , fü r groß e öffentlich e Arbeiten , di e mi t Staatshilfe finanziert werden, sie verweisen auf die wachsende Bedeutung öf fentlicher Unternehmungen al s Zeichen dafür, da ß die Epoche des bloß privaten Kapitalismu s vorüber sei ; sie glauben nicht meh r an die Wirksamkei t des System s freie r Konkurren z un d schwärme n fü r industriell e Organisa tion. Die Konservativen aber sind Freihändler, wenigstens für Lebensmitteleinfuhr jeder Art, und sie haben eben den unpopulären Teezoll, eine wichtige indirekte Steuer aufgehoben. S o bewegt sich die Politik jeder dieser Parteien von Schritt zu Schritt tastend im Gelände, sie hält Fühlung mi t der öffentli chen Meinung, bindet sich aber an kein Prinzip. Das alles zeigt, wie breit der gemeinsame Boden ist, auf dem diese beiden „historischen" Parteien stehen. Bedeutet demgegenüber nicht Labour etwas ganz Neues? Wird eine Kette von Konservative n un d Labour-Regierunge n nich t ei n Widersin n sein , d a jede Labour-Regierung - wirklic h einmal in power - prinzipiell e Schritte zur Umgestaltung de r kapitalistische n Wirtschaf t unternehme n wird , di e ein e nachfolgende konservativ e Regierun g wiede r ungeschehe n mache n muß ? Ganz z u schweige n vo n de n Frage n de r Kolonialpolitik , de r Außenpoliti k usw. Aber auch das ist - s o scheint e s - kein e imminente Sorge der englische n Politiker. Auch die Labour-Leute werden fühlen - s o ungefähr denkt man -, daß eine restlose Durchführung ihre s Prinzips (ζ. Β . sofortige Aufgab e de r Kolonien ode r sofortig e Enteignun g de r große n Industrien) , eine n Bürger krieg entfesseln müßte, und werden also schrittweise vorgehen. Diese nächsten Schritte kann man schon sehen und sie sind durchaus im Zuge der Zeit, obwohl sie vor 50 Jahre n eine Revolution bedeutet hätten. Also: die Zukunft wird schon dafür sorgen, daß das Government nicht die Schranken der Vernunft überspringt . Di e Regierung - s o hofft ma n in England - wir d imme r einheitlich sein und doch das Ganze der Nation in all ihren Interessen vertreten und berücksichtigen. Und nun tritt wohl der Unterschied in der Auffassung und in der Struktur der englischen und der deutschen Politik klar her aus: Es fällt der englischen Politik gar nicht ein, „prinzipieller" zu sein als die deutsche, wei l sie sich nur in zwei ode r drei Parteien bewegt. Den n auch in den große n Parteie n komme n i n erste r Lini e di e Interesse n zu r Geltung , Klassen- wie lokale Interessen, und von den Prinzipien ist selten die Rede. Es kann sich ja auch gar nicht darum handeln. Da s wäre Spekulation ode r Romantik. 197 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Die Interessen aus der Politik auszuschalten, darum geht es hier auch nicht - den n wa s könnte sons t ihr aktive r Inhal t sein ? Di e Aufgabe besteh t viel mehr darin, und das leistet das englische System, die Interessen so zu homogenisieren, die Ausrichtung auf die Probleme der Regierung derart allgemein zu gestalten, daß sich daraus klare, große Gruppierungen ergeben. Dann erst wird wieder das Majoritätsprinzip ein e mögliche, allgemei n anerkannt e Ra tionalisierungsform de s politischen Wirkens. Ist es das aber nicht, so wird es eine latente Gefahr für die Demokratie, da es ja keine Modifizierung de s Majoritätsprinzips gibt, die nicht zur Tyrannei führen könnte. So erweisen sich selbst die elementaren organisationstechnischen Fragen, von denen hier u. a . die Rede war, al s entscheidend wichti g für den „Geis t der Politik", de r sich nicht i m Reich e de r Ideen , sonder n i n de r tägliche n Wirklichkei t forme n muß.

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11. Gege n Autarkie und Nationalismus, Rede im „Verei n für Sozialpolitik " a m 29. Sept. 1932 Die wirtschaftlich e Unmöglichkei t deutsche r Autarki e . . . Di e Autarkiebewegun g . . . ha t da s Zie l de r völlige n Unabhängigkei t des deutschen Wirtschaftskörpers vo m Ausland. Wenigstens wird dieses Ziel den Laie n vorgegaukelt , di e sic h nich t de r tausendfältige n Verflechtun g Deutschlands mit dem Weltmarkt und vor allem nicht unserer unentrinnba ren Abhängigkeit in der Rohstoffversorgung bewuß t sind. Deshalb sprechen die Autarkieschwärmer sehr wenig von dieser Frage. In der Tat habe ich meines Erinnern s nirgend s ein e ernsthaft e Auseinandersetzun g darübe r i n den Schriften der Anhänger einer Autarkie gefunden. Um so stärker rückt in den Vordergrund di e Frage der Landwirtschaft, de r durch die Autarkie ein Monopol au f dem inneren Markt gegeben werden soll. Da s sei der einzige Weg zu ihre r Rettung . Darübe r hinau s soll die Autarki e da s Volk z u edle r Ein fachheit erziehen, Körper und Seele stählen und die verderblichen kulturellen Einflüsse de s Auslandes (sowoh l die Einflüsse au s dem Westen wie die vom „Kulturbolschewismus" he r drohend e Gefahr ) fernhalten . Endlic h sol l si e noch das Arbeitslosenproblem lösen, weil die Fernhaltung der Milliardeneinfuhr die übermächtige fremde Konkurren z beseitigen und jedem Deutschen seinen Lebensspielrau m wiedergebe n würde . Aber all e diese Ziele schrumpfen i n der Konkretisierun g allerding s etwa s zusammen, un d wir lande n schließlich i n der Wirtschaftspolitik, wi e schon angedeutet, be i immer höhe r geschraubten Forderunge n nac h Zöllen, Ein fuhrerschwerungen alle r Art , neuerding s nac h Kontingenten , di e gewisser maßen de n Königseedanke n de r neue n Wirtschaftspoliti k darstellen . Die Autarkiebewegung mi t de r Agrarpolitik al s Zentrum ha t zwe i Ziele : 1. da s der Reagrarisierung, 2 . di e Schaffung eine s Großwirtschaftsraumes , der sich nach dem Südosten hin erstrecken soll . Diese Ziele werden vielfac h nebeneinander, als ob sie einander nicht störten, vertreten. Sie seien nunmehr näher in s Aug e gefaßt . I. Di e Reagrarisierung, Dies e Richtun g de r Wirtschaftspoliti k sieh t wi e hypnotisiert von der Einfuhr nur die Quote der Lebensmittel-, insbesonder e der Getreide - un d Futtermitteleinfuhr . Vo n de n Rohstoffe n is t weni g di e Rede. Gena u genomme n bedeute t di e Forderun g de r Reagrarisierun g di e Wiederherstellung des Verhältnisses von städtischer und ländlicher Bevölkerung, wi e es vor der Industrialisierung bestand . Allerdings dürfte heute niemand so toll sein, diesen Gedanken ernsthaft z u vertreten. Den n wenn man 199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

in Deutschland wieder denselben Teil der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigen wollt e wie etwa Ende der 1870er Jahre, vor Beginn der Schutz­ zollpolitik, die ja bekanntlich den Industrialisierungsprozeß von der Basisin­ dustrie he r seh r beschleunigte , s o müßt e di e landwirtschaftlich e Bevölke ­ rung, gering gerechnet, um 40 % ihres heutigen Bestandes vermehrt werden. Wo und wie diese Millionen i n landwirtschaftlicher Beschäftigun g unterge ­ bracht werde n un d wie dann ihr e Produkte au f dem städtischen Markt e z u lohnenden Preise n verkauft werde n sollen , is t ei n bisher ungelöste s Rätsel . Eine solche Anschauung is t aber auch vollkommen unhistorisc h und schlägt der deutschen Tradition direk t ins Gesicht. Den n die deutsche Wirtschafts ­ politik hat sich ja vor dem Krieg e in der einmal für Deutschlan d gegebene n geographischen un d wirtschaftlichen Lag e aus guten Gründen für di e Indu­ strialisierung entschlossen . Ja , ma n kann ehe r sagen , si e wurde be i de r ra­ schen Steigerun g de r Bevölkerun g un d be i de n günstigen Vorbedingunge n für di e Schaffun g eine r Industri e au f di e Bah n de r städtisch-industrielle n Entwicklung getrieben . Di e deutsch e Wirtschaftspoliti k ha t auc h vo r de m Kriege niemal s eine r Autarki e nachgestrebt , sonder n si e ha t i m Gegentei l durch ih r Schutzzollsyste m un d durc h künstlich e Mittel , wi e di e Einfuhr ­ scheine, die Zölle nicht als Erziehungszölle, sondern als Erhaltungszölle auf­ gebaut, u m das Preisniveau i m Innern dauernd übe r dem des Auslandes z u halten. Man war sich wohl auch im Vorkriegsdeutschland darübe r klar, daß die Steigerung der Produktion bi s zu Produktionsmengen, di e für den eige­ nen Bedarf ausreichen , au f die Dauer eine Senkung de r Preise auf das Welt­ marktniveau notwendi g mi t sic h bringe n müßte . Wir haben nun zu prüfen, inwiewei t di e Tendenz der Entwicklung selbs t wenigstens z u eine r Annäherung a n das Ziel de r Autarkie führt. E s könnte sein, da ß Strukturwandlunee n diese r Ar t i m Gang e sind . In der Tat hat sich die Einfuhr von Agrarprodukten dem Volumen und vor allem dem Werte nach in den letzten Jahren wesentlic h verringert. Abe r der Anteil de r Einfuhr a n Nahrungs- und Genußmitteln betru g auch im Januar 1931 noch, wie vor dem Kriege, etwa 40 % der Gesamteinfuhr, di e eben im ganzen un d ziemlic h paralle l mi t de r Senkun g de r Inlandserzeugun g ge ­ schrumpft is t . . . Alle Tendenzen zur Verbesserung un d Vermehrung de r Agrarerzeugung , soweit si e durc h Erziehun g de s landwirtschaftliche n Nachwuchse s un d durch Verfeinerun g de r Produktionsmethode n erziel t werden , sin d z u be ­ grüßen und, wi e die Entfaltung de r heimischen Produktivkräfte überhaupt , die wichtigste Aufgabe der inneren Wirtschaftspolitik. Ma n muß nur wissen, daß dies e Steigerun g de r heimische n Produktio n bal d a n di e Grenze n de r Kaufkraft de s inneren Markte s stoßen mu ß und daher nu r aufrechterhalte n werden kann, wenn sie im Rahmen des Preisniveaus und womöglich bei sin­ kenden Kosten erfolgt. Ich bin auch der Meinung, und ich habe diese Auffas­ sung immer vertreten, da ß gewisse Anlaufschwierigkeiten de r inneren Pro ­ duktion in geeigneten Fällen durch Subventionen überwunden werde n kön200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nen. Diese spielen dann die Rolle der Erziehungszölle, wenn sie ausdrücklich als vorübergehende Subventionen gewährt und dort angesetzt werden, wo sie wirklich Erfol g versprechen . Si e müssen abe r gerad e deshalb begrenz t un d streng befristet sein . Hingegen halte ich es für volkswirtschaftlich schädlich , die Entfaltun g de r Produktio n durc h mechanisch e Erhöhun g de r Zöll e z u bewirken, welch e di e Tendenz haben , da s Preisniveau de s Inlandes imme r mehr von dem des Auslandes z u entfernen. S o betrug doch vor dem Krieg e der Getreidezol l etw a 2 0 % de s Weltmarktpreises , währen d e r heut e au f mindestens 30 0 % dieses Preises hinaufgeschnellt ist . Noc h schlechter abe r sind Einzelangriff e au f besonder e Einfuhren , welch e da s ganze System de r Verflechtung de r deutschen Wirtschaft mi t dem Ausland in Frage stellen. Es ist also falsch zu behaupten, daß die Gegner der Autarkie einer Entwicklun g der deutschen Landwirtschaf t ablehnen d gegenüberstehen ; si e fordern nur , daß dies e au f de m normale n Wege , nich t abe r durc h Zertrümmerun g de r Märkte angestreb t wir d . . . Im Mai 193 1 betrug di e Arbeitslosenzahl 4 Millionen be i einem Produk ­ tionsindex von 74 % (gegenüber 1928= 100), im Mai 1932 haben wir 5½ Mil­ lionen Arbeitslos e be i eine m Produktionsinde x vo n 5 8 % . Das heißt, der Produktionsindex ist um 21 % , der Beschäftigungsgrad u m 28 % gesunken. Gleichzeitig sank das Volumen der Einfuhr auch um 21 % , das de r Ausfuh r de m Volume n nac h u m 3 3 %. Wi r habe n als o eine n Schrumpfungsprozeß vo r uns , de r i n Einfuhr , Ausfuh r un d Produktio n gleichmäßig vo r sic h geht , hingege n keine n Fortschrit t zu r Autarkie . Di e Schrumpfung de r Einfuhr erfolgte nicht planmäßig, etwa durch ein systema­ tisches Einfuhrmonopo l wi e i n Rußland , sonder n i m Zug e de r kapitalisti ­ schen Marktwirtschaft . Darau s ergib t sic h auch , da ß keinesweg s nu r ode r überwiegend Luxusgüte r un d Genußmitte l vo n de m Einfuhrrückgan g be ­ troffen werden. Vielmehr entfallen von dem Einfuhrrückgang in diesem Zeit­ raum 140 0 Millionen au f die Einfuhr notwendige r Produkt e gegenübe r 315 Millionen auf Luxus- und Genußmittel. Keinesweg s wurde also der Konsum „moralischer“ gestaltet , sonder n di e Senkung de r Luxuseinfuh r is t nu r di e Folge eine s allgemeinen Verarmungsprozesses . Wen n ma n heute befriedig t auf di e Verringerung de r Luxuseinfuhr hinweist , s o wäre das dasselbe, wi e wenn man über eine Feuersbrunst frohlocken würde, weil sie auch das Unge­ ziefer mit vernichtet. Jedenfall s kan n von einer Schrumpfung de r Weltwirt ­ schaft1 keine Rede sein. So lag zwar der Welthandel im Jahre 1931 dem Werte nach um 40 % , de m Volumen nach um 20 % unter dem Niveau vo n 1929. Die Produktion de r wichtigste n Lände r san k abe r in dem gleichen Tempo. Eine „strukturelle Ablösung von der Weltwirtschaft** ha t daher bis in die Ge­ genwart hinein nicht stattgefunden. Di e Autarkie-Ideologie ist daher nur die Begleitmusik eines Prozesses der Weltwirtschaftskrise; di e Schrumpfung de s Außenhandels is t keine primäre Entwicklungslinie, sonder n eine abhängige Größe. Wir haben aber noch besonders zu prüfen, welche Konsequenzen der Ge201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

danke der Autarkie in der spezifischen Gliederun g des deutschen Außenhan­ dels hat . Konkre t gewende t bedeute t das , welche Folge n di e Berücksichti ­ gung der Agrarinteressen, neuerding s insbesonder e de r Kontingentierungs ­ politik, i n radikaler Form für die gesamte Volkswirtschaft hat . Auch hier ist wieder die besondere geographische und wirtschaftliche Lag e Deutschlands, der Aufba u seine s Produktivkörper s vo n entscheidende r Wichtigkeit . Ic h möchte zwei These n vertreten : 1. De r deutsch e Außenhande l is t i m Expor t besonder s empfindlich , 2. di e Struktur de s deutschen Außenhandel s bedingt , da ß die angestrebte n und möglichen Einschränkungen der Einfuhr erheblic h größere Opfer in der Ausfuh r hervorrufen , d . h . di e Bilanz pe r Sald o passivieren . ad 1. De r deutsche Außenahndel is t im Export im allgemeinen sehr emp­ findlich, beträg t doc h de r Anteil de r Luxusproduktio n i m Expor t noc h i m Jahre 1931 ca. 1 Milliarde . An Fertigwaren überhaupt wurden noch im Jahre 1931 6,2 Milliarden , da s sin d zwe i Dritte l de r Gesamtausfuhr , exportiert . Dazu kommen noch fast 2 Milliarde n gewerbliche Zwischenprodukte. Es ist also, von der geringfügigen Agrarausfuh r abgesehen , nu r die Urproduktio n und die Industrie, welche die Ausfuhr bestreitet, zumal die unsichtbaren Po­ sten nunmehr ein e geringfügige Roll e spielen . D a nun die Rohstoffausfuh r mit den Halbfabrikaten nur ein Drittel ausmacht, so ist die deutsche Ausfuh r sehr empfindlich, jedenfall s empfindliche r geworde n als sie war, da sie in je­ dem Zweige de r Konkurren z de s Auslandes begegnet . Di e Entstehun g de r Industriestaaten ha t di e Ausfuhr nich t gehemmt , sonder n i m Gegenteil ge ­ fördert, abe r zugleich empfindliche r gemacht , wei l jeder Lieferant durc h ei­ nen anderen ersetzt werden kann. E s ist zwar richtig, da ß die deutsche Aus­ fuhr bei weitestgehender Spezialisierung der Produktion und hervorragender Anpassung an die Wünsche der Abnehmer sehr geschickt vor dem Winde la­ vierte und sogar um so besser vorankam, j e höher die Wellen de r Kris e gin­ gen. Das verdankt sie aber wieder besonderen historisch gegebenen Umstän­ den, un d sicherlic h sin d di e Einfuhre n ein e unentbehrlich e Voraussetzun g für die Ausfuhren gerade in Beziehung zu einigen Ländern, die heute im Mit­ telpunkt de r Diskussio n stehen . Bevor ich darauf eingehe, muß ich noch darauf hinweisen, daß uns die Ge­ schichte die Möglichkeit de r Veränderung vo n Einfuhre n i n längeren Zeit ­ räumen deutlic h zeigt . S o kann melancholisc h stimme n di e Gestaltung de r englischen Maschinenausfuhr, di e noch im Jahre 1880 65 % der Maschinen­ ausfuhr der Welt betrug. Im Jahre 1913 waren es nunmehr 28 % und im Jahre 1930 1 8 %. Dabei ist freilich da s Volumen der Gesamtausfuhr a n Maschinen wesentlich gestiege n (vo n 2 ½ au f 5½ Milliarden Mar k i n de n Jahre n 1913-1929). Abe r di e englische Maschinenausfuh r is t de m Wert e nac h vo n 1913-1929 nur von 721 auf 925 Millionen gestiegen. In der gleichen Zeit stieg die deutsche Maschinenausfuhr vo n 700 auf 140 0 Millionen. Schon diese Zif­ fern lassen vermuten, daß sich Deutschland den Wandlungen des Weltmark202 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

tes geschick t anpaßte . Di e deutsch e Ausfuh r is t durc h ei n außerordentlic h reiches Sortimen t ausgezeichne t un d verfüg t übe r zahllos e Kräfte , di e de n Markt gewonne n haben und ihn auc h unter ungünstigen Bedingunge n fest ­ zuhalten wissen. Wenn aber die Stützen dieses Marktes wegfallen, dan n wird er auf der ganzen Breite brüchig, weil, wie schon erwähnt, fast kein Ausfuhr­ posten konkurrenzlo s dasteht . Di e Hauptgründ e fü r di e deutsch e Überle ­ genheit bestehe n nu n nebe n de r Anpassungsfähigkei t de s deutsche n Inge ­ nieurs und Kaufmanns in den qualifizierten un d relativ billigen Arbeitskräf­ ten. In den Vereinigten Staaten und in Großbritannien, in der Schweiz und in Schweden sind die Löhne erheblich höher als in Deutschland. Die Mechani­ sierung de r Produktion, welch e da s ausgleichen könnte , ha t ihre Grenzen . Aber dieses deutsche Lohnniveau ist bei Aufrechterhaltung de r Leistungsfä ­ higkeit der Arbeiterschaft au f die Dauer nicht haltbar, wenn das Preisniveau der Agrarprodukte sic h mehr und mehr von dem des Weltmarktes entfernt , d. h . wir sehen mindestens in großen Konkurrenzländern auf der Grundlage sinkender Nahrungsmittelpreis e ei n Abbröckeln un d soga r ei n starke s Zu ­ rückgehen de s Lohnniveaus , da s diese n Vorsprung de r deutsche n Produk ­ tion trot z alle r Lohnsenkunge n i n Deutschlan d gefährdet . Diese s Zurück ­ bleiben des Lohnes in der deutschen Produktion war sehr beträchtlich, zumal die deutsche Industrie in den letzten Jahren mit einem höheren Zinsfuß un d im Durchschnitt wohl auch mit einer höheren Steuer- und Sozialbelastung als der ausländisch e Produzen t z u rechne n hatte . Trotzde m wa r de r deutsch e Export wenigstens relativ im Vordringen. Insbesonder e wurde die englische Verfeinerungsindustrie i n der Krise zurückgedrängt, wei l der englische Pro­ duzent überwiegen d au f di e Erzeugun g hochwertige r Produkt e entspre ­ chend de n Konsumgewohnheite n de s englische n Publikum s eingestell t is t und weil diese in der Krise keinen Absatz finden konnten . Auch das ist aber eine historische Eigentümlichkei t de r englischen Produktion , di e sich unte r dem Druc k de r Wirtschaftsno t änder n mag , worau s wiede r ein e Erschwe ­ rung de r deutsche n Konkurren z resultiere n würde . Zusammengefaßt : De r deutsche Export ist in seiner Mannigfaltigkeit un d in seinem Umfang nu r zu danken de m außerordentlic h differenzierten , i n Jahrzehnte n aufgebaute n Apparat der Produktion und der Exportfirmen. De r Verkauf von Fertigpro­ dukten, besonder s aber von Produktionsmitteln, erforder t ein e ganz andere Rührigkeit und Findigkeit, Studiu m des Marktes, Wettlauf mi t den produk­ tiven Ideen der Konkurrenten als etwa der Export von Rohstoffen und Halb­ zeug. Dieser Strom von Exportwaren entsteh t aus kleinen Einzelposten . E s ist abe r bishe r noc h ni e ein e Antwor t darau f gegebe n worden , wi e den n Deutschland aussehe n würde , wen n ih m diese r Expor t durc h di e Vernich­ tung aller Importe unmöglich gemacht würde, und was dann von dem feinge­ gliederten Ba u de r deutsche n Wirtschaf t übrigblieb e . . . ad 2. [Der ] Aufbau der deutschen Bilanz zeigt übrigens auch, daß die The­ se, welch e gester n erörter t wurde , wonac h di e Industrialisierun g fü r Deutschland eine gefährliche Konkurrenz schafft, falsc h ist. Die größten Po203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

sten des deutschen Ausfuhrüberschusses entstehen im Verkehr mit Industrie­ ländern: Für 193 1 mit Englan d Für 193 1 mit Hollan d Für 193 1 mit Frankreic h Für 193 1 mit Schwei z ergibt

+ 68 0 Millionen R M + 57 0 Millionen R M + 50 0 Millionen R M + 37 0 Millionen R M 2310 Millionen R M

Das sin d ungefäh r 7 3 % des Aktivum s de s deutsche n Außenhandels . Die Vorstellung, da ß die Industrialisierung eine s Landes seine Aufnahme­ fähigkeit fü r Industrieprodukt e verringert, verflieg t i n nichts bei einer reali­ stischen Betrachtun g de s Industrialisierungsprozesses . I n de n heutige n Agrarländern, wi e z . Β . Rußland, späterhi n China , entsteh t doch , wi e ich selbst gesehen habe, zunächst die Basisindustrie und die mechanisierte Groß­ industrie. Hingegen fehlen noch die Zwischenformen, di e zahllosen Speziali­ täten, die eine entwickelte Industrie für die Aufrechterhaltung ihre s Produk­ tionsapparates braucht , un d insbesonder e is t noc h ei n sehr weite r We g bi s zur Erzeugun g de s reiche n un d beständi g wachsende n Sortiments , da s der Verbrauch eines entwickelten Lande s nachfragt. Wen n man den Aufbaupro ­ zeß einer Industrie aus der Nähe sieht, dan n versteht ma n erst, wa s an Im­ portmöglichkeiten gerad e der Industrialisierungsprozeß i n sich schließt. E s ist überhaup t wahrscheinlich , da ß di e neue n Lände r . . . Monoindustrie n schaffen werden , fü r welch e sie die Voraussetzungen i n sich haben. Gerad e das bedeute t abe r Differenzierun g de r Produktio n un d Steigerun g de s Au ­ ßenhandels . . . Die industriellen Gebiet e konsumieren . . . einen größere n Tei l auc h der inländischen industriellen Produktion al s die Agrargebiete, wei l ja die Indu­ striegebiete di e höheren Wertsumme n erzeuge n un d daher auc h über meh r Kaufkraft verfügen . Gena u da s gleich e zeig t sic h abe r i m internationale n Maßstabe, d . h . di e Industrielände r könne n meh r a n Industrieprodukte n aufnehmen al s di e Agrargebiete. Di e Vorstellung, da ß de r Austausc h zwi ­ schen Stadt und Land die Hauptmasse der Austauschakte in sich schließt, traf vielleicht vor 10 0 Jahren zu. Heute sind die Industriegebiete bzw. die Stadt­ gebiete di e Hauptabnehme r de r industrielle n Produktion : De r „inner e Markt“ fü r industriell e Produkt e lieg t dahe r vorwiegen d i n de r Stad t un d nicht auf de m Lande. Dies e Verschiebung de s inneren Markte s is t di e not­ wendige Konsequenz der Tatsache, daß sich die Welt überhaupt industriali ­ siert. Je stärker die Weltproduktion steigt und je erfolgreicher die neue Tech­ nik i n de r Landwirtschaf t wird , ein e u m s o geringer e Quot e wir d di e Le ­ bensmittel- un d Rohstofferzeugung i n der Gesamtproduktion de r Welt be­ anspruchen können un d um so geringer is t daher di e Kaufkraft diese r Pro­ duzentenschichten. Da s ist ja nur derselbe Tatbestand, der, von der anderen 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Seite her gesehen, zeigt , da ß die Menschen mit fortschreitender Industriali ­ sierung eine geringere Quote ihres Einkommens für die Ernährung ausgeben. Wobei auch noch ein erheblicher Teil dieser Ausgaben in die Industrie (Nah­ rungsmittelgewerbe) strömt. Mach t man sich einmal diese Zusammenhänge klar, s o sieht ma n deutlich, da ß die Besorgnis, durc h di e Industrialisierun g der Welt könnten die Märkte für die Industrieprodukte zusammenschrump ­ fen, ei n Phantom ist. Umgekehrt aber ergibt sich daraus, daß die Landwirt­ schaft nach einer Autarkisierung der inländischen Industrie keinen Ersatz für den Verlus t de s Weltmarkte s biete n kann . Die landwirtschaftlich e Produktio n befinde t sic h tatsächlich , wen n wi r ihre Entwicklun g i n diese m Zusammenhang e betrachten , i n eine r Zwick ­ mühle: Sie ist bedroht von den Einfuhren zu billigen Preisen, die mindestens einen Teil ihre r Produktion , de r sich nicht anzupasse n vermag , mattsetze n kann. Schalte t si e aber die ausländische Konkurren z in Verfolgung de s Au­ tarkiegedankens aus , so versperrt sie die Ausfuhrwege, verringer t de n Um­ fang der inländischen Erzeugung, steiger t die Arbeitslosigkeit und schwächt damit de n eigene n Markt . Si e schießt also , wen n ma n da s sagen kann , de n Markt, de n si e erobern will , be i de r Eroberun g i n Bran d . . . II. Großraumwirtschaft. Nebe n dem Schutz der inländischen Landwirt ­ schaft wir d etwa s widerspruchsvol l zugleic h i m selbe n Ate m ein e Groß ­ raumwirtschaft vertreten, welche die mittel- und südosteuropäischen Staaten mit Deutschlan d z u eine m große n einheitliche n Wirtschaftsgebie t zusam ­ menschließen soll . Wen n wi r di e Tendenz de r Entwicklun g i n de n letzte n Jahren betrachten, s o weist sie jedenfalls nicht auf eine Großraumwirtschaf t dieser Art hin. Manch e Import- un d Exportbeziehungen sin d zwar sehr er­ heblich, aber es ist ja die Mittlerstelle Österreichs, das einen guten Teil dieser Länder frühe r mi t deutsche n Ware n versorg t hat , inzwische n weggefallen . Nur scheinba r dring t als o deutsch e War e au f einige n diese r Märkt e vor . Wenn ma n sich einmal di e Bedeutung diese r Gebiete für di e deutsche Han ­ delsbilanz zusammenstellt , komm t ma n z u überraschende n Resultaten . Ich habe - seh r weitherzig - di e Importe und Exporte fast aller deutschen Nachbargebiete i m Oste n und Südoste n zusammengefaß t un d fand folgen ­ des: E s betru g di e Einfuh r au s de r Tschechoslowakei , Rumänien , Polen , Österreich, Ungarn , Jugoslawien, de r Türkei, Litauen , Lettland , Bulgarie n und Estlan d zusamme n 14, 2 % der Gesamteinfuh r nac h Deutschland . Di e Ausfuhr dahi n beträgt 14, 9 % . Wer weiß, was es bedeutet, die Einfuhr nac h einem Gebiet um ein Drittel ode r gar um die Hälfte zu erhöhen, welche Ar­ beit es erfordert, um für industrielle Produkte den Markt in diesem Ausmaße zu erweitern , de r wir d de n Gedanke n gan z phantastisc h finden , da ß de r Schwerpunkt de r deutsche n Handelsbilan z i n diese Lände r verlegt werde n soll. Wen n heut e gesag t wird , un d auc h Geheimra t Serin g ha t da s gester n verkündet2, da ß Mitteleuropa kommt , s o kann ic h nicht sehen, wori n dies e Zuversicht begründe t ist . Ebensoweni g abe r seh e ic h politisch e Kräft e i n diesen Gebieten, di e auf eine n Zusammenschluß i n so weitem Rahmen und 205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

vor allem au f eine n Zusammenschluß unte r deutsche r Führung hinarbeite n würden...

Die soziopolitische Bedeutun g de r Autarkieforderun g Aber alle diese Argumente sind, wird man sagen, aus dem Gebiet des Ratio­ nalen geholt un d daher dem Glauben gegenüber nicht beweiskräftig. I n der Tat kann man die Strömungen für Autarkie nicht bloß mit Argumenten be ­ kämpfen. Man muß, da sie aus Gefühlen stammen, und sofern sie aus Gefüh­ len stammen und nicht bloß Verbrämung von Interessen sind, auch Gefühl e dagegensetzen. Ic h bin mir also vollkommen bewußt , daß auch das Denken gegen die Autarkie letzte n Ende s nich t aus einer gan z voraussetzungslose n Grundhaltung stammt , di e sic h darau f beschränkt , ausschließlic h di e öko­ nomischen Tatbeständ e z u prüfen , de n Wirtschaftskörpe r z u seziere n un d die Wirkung von Maßnahmen ohne inneren Anteil nur mit einem Interesse an der reinen Erkenntnis abzuleiten. Trotzdem ist die Haltung gegen die Autar­ kie, auch wenn sie letztlich von einem irrationalen Kraftfel d he r ihre Sicher­ heit und Schlagkraft erhält , nich t unwissenschaftlich, brauch t nicht der Ob­ jektivität z u ermangeln . Di e Objektivität , auc h i m Sinne Ma x Weber s ver ­ standen, ist ja nicht eine vollkommene innere Leere und Kälte, sie erfordert nur eine ständige Prüfung de r Richtigkeit de s Denkens, der Zuverlässigkei t der Beobachtung. Wäre n wi r doc h ohn e eine innere Einstellun g überhaup t nicht imstande, etwas zu sehen, bekommen doch die Tatsachen ihre Akzente und Gewichte, ihre richtigen Verhältnisse zueinander erst auf der Grundlage einer inneren Position. In diesem Sinne ist also jedes Denken seinsgebunden . Aber es ist doch wieder in der Bestimmung des Denkens durch die innere Po­ sition begründet, daß nicht jeder Standpunkt dieselbe Chance der Erkenntnis bietet. Der Standpunkt de r Autarkiegegner gestattet , ein e Fülle von Zusam­ menhängen zu sehen, aus denen ich einige darzubieten versuchte, und er ge­ stattet, viel e Zusammenhänge richti g z u sehen, die sich vom Gesichtspunk t der Autarkie au s gar nicht darbieten, wei l di e Autarkiegegner, wen n ic h so sagen darf, hinter der Säule sitzen. Wenn ich also, die rein objektive Deduk ­ tion transzendierend , mic h de n geistige n Hintergründe n de s Problems zu ­ wende, so kann das meines Erachtens das Gewicht meiner Argumente nich t verringern, di e natürlic h genaus o geprüf t werde n müssen , al s wen n si e scheinbar losgelös t vo n diese m Hintergrund e auftrete n würde n - di e abe r Argumente bleiben, auch wenn sie einen allgemeinen geistigen Hintergrun d haben. Die Tradition Deutschlands und in größerem Rahmen die Tradition Euro­ pas, auch aus unserem Unbewußten und aus unseren tiefsten Notwendigkei ­ ten geworden, weist deutlich gegen jede Abschließung hin. Nie hat es in Eu­ ropa eine Autarkie gegeben. Zwar hat sich jedes Land vor der Industrialisie206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

rung de s Kontinents , vo n kleine n Gebiete n dichte r Besiedlun g abgesehen , aus der eigenen Scholle erhalten. Abe r immer zeigt e Europa, wi e schon aus seiner geographische n Struktur , au s de r Vielzahl seine r Völker un d Staate , aus der enge n Nachbarschaft , au s all den Gegensätzen , di e zugleich z u Be ­ rührungen führten , hervorgeht , eine n Kontinent , i n welche m nac h de m schönen Wort Mannigfaltigkeit i n der Einheit und Einheit in der Mannigfal ­ tigkeit herrschte. Immer war Europa ein Kontinent der Völkerindividualitä­ ten, die sich gegenseitig brauchen, die miteinander geistig und wirtschaftlich, nie ließ sich das trennen, kommunizierten. Genausoweni g wie ein Robinson ein Origina l sei n kann, hätte n sic h di e europäischen Völke r un d hätt e sic h insbesondere das deutsche Volk zu seiner Eigenart entfalten können, wenn es die Berührun g mi t de n Nachbarnatione n gescheu t hätte . Scho n di e Antik e zeigt diesen regen Verkehr noch vor der Erschließung des größeren Teils un­ seres Kontinents, un d nur die Germanenstaaten, di e sich nach dem Zusam­ menbruch des römischen Reiches aufbauten, sanke n . . . in jenen beinahe ge­ schichtslosen Zustan d rei n agrarische r un d unbeholfe n gewerbliche r Pro ­ duktion zurück , au s dem si e erst allmählic h nac h de r Rezeption de r römi ­ schen Kultur wieder erwachten. S o ist die ganze abendländische Kultu r nur als Kultu r Gesamteuropa s entstande n un d denkba r . . . So bietet Europ a in der Vergangenheit i n einem gewisse n Sinn e kulturel l eher eine Einheit dar als in der Gegenwart. Wi r brauchen nur einmal zu fra­ gen, was denn aus der deutschen Architektur geworden wäre, wenn wir uns ängstlich gegen den Süden abgesperrt hätten. Wer würde heute wagen, fran ­ zösische ode r italienisch e Architekte n heranzuziehen , währen d i m benach­ barten Prag, aber auch hier in Dresden, die entscheidende Prägung des Stadt­ bildes italienischen Architekten zu verdanken ist. Noch weniger könnte man es heute in Italien wagen, eine n Deutschen z u rufen. Diese r geistigen Kom ­ munikation entsprac h trotz aller Zollschranken ei n reger Wechselverkehr in feingewerblichen Produkten , s o daß ganz Europa nicht nur ein einheitliches Kulturgebiet, sonder n zugleich ei n Gebiet regster wirtschaftlicher Kommu ­ nikation bildete . Al s man a m Tage höchstens 15 0 km zurücklegen konnte , war der Geist jeder Nation in ganz Europa beheimatet, zuers t bildete die la­ teinische Sprache , späterhi n di e französisch e di e Brücke . Jedenfall s dacht e niemand a n grundsätzlich e Absperrung , un d wede r Luthe r noc h Goeth e brauchten ein e Devisenzentral e z u bemühen , bevo r si e nac h Ro m gingen . Der Deutsche zumal war international. Deutsch war die Hansa, die im Stahl­ hof in London, im Fondaco tedesco in Venedig ihre wirtschaftlichen Fühle r tief i n das Ausland gestreck t hatte . Selbstverständlich wa r jener fernen Zei t das jahrelange Wandern der jungen Kaufleute und Handwerker. Drei bis fünf Jahre sind sie auf der Reise, u m sich zu bilde n und sic h zu formen, u m di e heimische Engigkei t seelisc h z u überwinde n un d a n de r Kenntni s fremde r Nationen sich selbst sehend zu machen. E s folgt die Entdeckung des Seewe­ ges nach Ostindien, die Entdeckung Amerikas, die Flut der neuen Sensatio­ nen, die Überschwemmung Europas mit den Bildern und Gesichten der Tro207 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

pen, mit all den Vorstellungen ungeahnter Länder in ihrer bunten, aufregen ­ den Pracht, mit all den Einflüssen de r neuen Religionen. So strömte nach der geistigen Flut der Renaissance eine Fülle neuer Einflüsse übe r diesen Konti ­ nent dahin, ers t jetzt wurde die Welt wirklich i n Besitz genommen un d der Orbis pictus erschlossen . Di e Gegenwell e de s Merkantilismus wa r nu r di e Wendung gege n di e rasch e Steigerun g eine s internationale n Verkehr s au s dem Standpunkt bequemer Interessenten, und sie war nicht stark genug, um die Entwicklung der Völkerbeziehungen auch nur zu verlangsamen. Je lauter das Geschrei wurde , u m so stärker stie g de r Handel, de r sich mi t de n Ver­ kehrsmitteln, mi t de r Technik , mi t de r Sicherheit , mi t de r Formun g de r Großstädte und mi t den Idee n des 18 . Jahrhundert s von Freiheit un d Hu ­ manität imme r rasche r entfaltete . So wird de r ganze Erdball übersehbar , da s Geheimnis verkriecht sic h bi s nach Tibet un d in die arktischen Zonen . Ganz e Völkerwanderungen baue n neue Reiche auf, un d die Gütermassen, welch e über die Grenzen geworfe n werden, übersteige n die Gesamtproduktion vergangene r Zeiten. Di e Ratio­ nalisierung de r Industri e steiger t de n Außenhandel , de r Großhande l wie ­ derum organisiert sich und steigert die Rationalisierung. Die alten Märkte ge­ stalten sich um, alle Börsen der Welt sind in dauerndem Kontakt , di e Blitz­ schnelligkeit der Nachrichtenübermittlung durc h Radio bis zum letzten Pro­ duzenten hi n mach t au s de r Wel t eine n einzige n große n Wirtschaftsraum , trotz de r Zölle , de r Präferenze n un d de r Kontingente . Das alles soll ei n Irrtum gewese n sein ? Diese n Weg solle n wi r zurückge ­ hen? Un d gerad e i n Deutschland , desse n Produktio n i n ihre m wundervol l gewobenen Flechtwer k au f di e Weltverbundenhei t hinweist ? Besonder s Sachsen hat in seiner Industrie, aber z . Β . auch in seiner einzigartigen Orga ­ nisation de s deutschen Buchhandel s i n Leipzi g bewiesen , da ß gerad e dies e Weltverbundenheit de r Erzeugun g nich t eine m schachernde n Krämergeis t entspringt, sonder n da s wichtigst e Mitte l ist , durc h da s Deutschlan d sic h nicht nur seine Existenz in der Welt geschaffen un d erweitert, sonder n diese Welt zugleic h wirksa m beeinfluß t hat . Und was sind denn die Werte, die wir eintauschen sollen? Dieser Gedanke der Autarkie ist kein deutscher, sondern ein chinesischer Gedanke. China hat sich, genauso wie Japan, diese s allerdings unter ganz anderen Bedingungen , von Europ a hermetisc h abgeschlossen . Chin a is t wirklic h autar k mi t alle n notwendigen Produktione n i n seinen Grenzen. E s hat fremde Einflüss e be­ wußt abgelehnt, wei l diese seine eigen gewordene Welt nur gefährden konn ­ ten. Al s die Engländer de n Abschluß eine s Handelsvertrages mi t Chin a er ­ zwingen wollten , d a ließ de r chinesische Kaise r dem englischen Köni g ant ­ worten, daß das chinesische Volk zwar alles in seinen Grenzen habe, was es brauche, und daß es glücklich in der Isolierung wie bisher weiterleben würde. Er wisse aber sehr wohl, da ß die westlichen Barbare n da s Verlangen habe n müßten, die chinesischen Produkte zu erwerben, die bei ihnen nicht erzeugt würden, da s Porzellan , di e Seid e un d besonder s de n Tee . Deshal b hab e 208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

China sic h au s Mitlei d un d u m di e Barbare n diese r Kulturgüte r teilhafti g werden z u lassen , zu m Abschlu ß de s Handelsvertrage s entschlossen . Nie abe r wa r ein e solch e Haltun g europäisch . Scho n wei l kei n europä ­ isches Gebiet die Weite und Mannigfaltigkeit de r asiatischen Reiche besitzt . Wie bald würden wir überdrüssig werden einer romantischen, kleinbürgerli ­ chen Gemütlichkeit, di e man uns schmackhaft mache n will durch eine impe­ riale Geste nach dem Südosten hin, der keine innere Kraft und keine spontane Tendenz in der Entwicklung entspricht . Durc h eine Literatenidee, di e nicht nur der Politik Bismarcks widerspricht, sonder n allen tatsächlichen Tenden­ zen, di e in der deutschen Wirtschaft wohnen . Dies e deutsche Wirtschaft is t auch ein Lebensprozeß, hat auch ihre innere Linie, erhält ihre Kräfte auch aus unbewußten Hintergründe n de r Existenz, au s dem Lebenswillen de r vielen Millionen, di e in ihrer Arbei t mi t de r Wel t verbunde n sind . Wer heute für Autarkie eintritt, mu ß wissen, wa s er tut. E r tritt ei n öko­ nomisch für die Ausblutung der Wirtschaft, fü r die Schrumpfung de r Erzeu­ gung, für Verelendung und politische Schwäche. Er tritt ein für eine geistige Selbstgenügsamkeit - den n darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hinge­ ben, daß die Abschnürung des Verkehrs zugleich ein Ende setzt der geistigen Kommunikation, besonder s abe r de m Wander n übe r di e Grenzen.Kei n deutscher Mann, der sich einen weltoffenen Blic k und eine Weltkenntnis im eigentlichen Sinne des Wortes erwerben könnte! Verrammeln wir den Frem­ den den Eintritt in unser Land, so nehmen wir uns selbst die Mittel, ins Aus­ land zu ziehen. Dieses eine möchte ich noch hinzufügen fü r diejenigen, wel­ che glauben, daß wir uns auf uns selbst zurückziehen und nicht nur alle Ener­ gien, sonder n auc h all e Lieb e unsere m Land e zuwende n müssen . Nicht s und dabei spreche ich auch aus eigener Erfahrung - nicht s führt so sehr in die eigene Heima t zurüc k al s langjährige s Lebe n un d besonders : Arbeite n i n fremden Zonen , al s intime Versenkung i n fremde Kulturen , vor deren Hin ­ tergründen die Farben des eigenen Landes erst ihre wahre Leuchtkraft erhal ­ ten. S o bekämpfe n wi r als o den Autarkiegedanken , nich t nu r wei l e r wär e eine Schrumpfung de r Erzeugung, sonder n auch unseres Herzens und unse­ rer Seele. Weil wir uns nicht bannen lassen wollen in den engen Umkreis eines Kirchturms, weil wir nicht darauf verzichten wollen, die Welt umzugestalten mit unseren Gedanken, mit den Erzeugnissen unserer Hand, den Kulturfor ­ men, die wir ihr aufprägen, wei l wir erhalten wollen unsere Weltverbunden­ heit, von der abhängen das Gewicht und der Rang Deutschlands in der Welt!

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14 Lederer , Aufsätz e

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12. Di e Weltwirtschaftskrise - ein e Krise des Kapitalismus. Ursachen und Auswege (1932) Die kapitalistisch e Wirtschaf t is t reic h a n kostspielige n Paradoxien . Auc h jetzt türmen sich hinter den Spiegelscheiben der Läden in der Flut des Lichtes alle Herrlichkeiten de r Welt, abe r nur für jene , welche zahlen können , un d Arbeit ist heute zu einem Geld geworden, da s einen guten Teil seines Kurs­ werts eingebüßt hat. Vor kurzem sagte Dr. Schach t in einer seiner Reden vor dem amerikanischen Publikum , di e deutsche Industri e könnt e binnen kur ­ zem ihre Produktion verdoppeln . Heut e aber sind viele Hochöfen erkaltet , der Winte r brich t herei n un d trotzde m mu ß de r Bergman n Feierschichte n einlegen, di e Kälteperiod e nah t un d trotzde m arbeite n di e Webereie n mi t verkürzter Schichtdauer. Dieser empörende Widersinn, der jedem menschli­ chen Verstand und jeder planenden Vernunft ins Gesicht schlägt, ist zugleich Lebensgesetz de r kapitalistische n Produktion , Erscheinungsfor m jene r be ­ rühmten Wellenbewegun g de s Wirtschaftslebens , u m desse n Deutun g sic h die Ökonomen seit mehreren Jahrzehnten bemühen. Ebe n wurden wir wie­ der in ein Wellental hinunter gerissen, dessen Niveau durch die Verschärfung der Saison-Arbeitslosigkei t noc h gesenk t wird . Warum ist die gegenwärtige Kris e so schwer und warum dauert sie so lan­ ge? Sie ist eine Weltwirtschaftskrise; zahllos e Wirtschaftsgebiete sin d von ihr ergriffen. Sowoh l da s Freihandelsland Englan d wi e das Hochschutzzollan d der Vereinigten Staaten , da s Gläubigerland de r Vereinigten Staate n wi e da s Schuldnerland Deutschland , di e Länder der hohen Löhn e wie die Vereinig­ ten Staaten ode r England , di e Länder de r niedrige n Löhn e wie Italie n ode r Österreich, Industriestaate n wi e Agrarstaate n un d neu e Wirtschaftskörper , wie die Vereinigten Staaten oder Japan, in gleicher Weise wie die alten Indu­ striestaaten Englan d ode r Deutschland . Nu r wenig e glücklich e Insel n de r Prosperität ode r eine r leichtere n Depressio n zeichne n sic h a b wi e ζ. Β . Schweden ode r insbesondere Frankreich . Waru m gerad e Frankreic h s o be­ vorzugt ist , davo n später . Die schwerere Krise ist einer groβen Anzahl sich gegenseitig verstärkender Ursachen geschuldet, deren quantitative Bedeutung sogar in einzelnen Fällen ermittelt werde n kann . Ich möcht e eine n Katalo g diese r Ursache n voranstellen :

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Die Ursache n de r Krise I. Wir haben es heute zweifellos auch mit einer „normalen“ Krise zu tun, wie sie im Zuge der Entwicklung be i großen technischen Veränderungen aus der notwendigen Disproportionalität, d . h . dem verschieden raschen Wachstum der Wirtschaftszweige entsteht . Ic h möchte mich au f die Natur diese s Pro­ zesses nicht näher einlassen, sonder n nur auf einen Umstand hinweisen, de r die periodische Wiederkeh r solche r Krise n scho n von der technischen Seit e unseres moderne n Produktionsprozesse s he r fast unvermeidlic h macht . I m Zuge de s gute n Geschäftsgange s werde n di e Produktionsanlagen , di e Ma ­ schinenkörper, Gebäude , Transportanlage n usw . ausgedehn t werde n müs ­ sen. Neue Erfindungen gebe n in diesen Jahren meistens den Anstoß zum völ­ ligen Umbau des Produktionsprozesses, oder auch ganz neue Betriebe treten ins Leben. Nun fordert auc h die Erhaltung eines Produktionskörpers scho n einen bestimmten Umfan g derjenige n Betriebe , welch e die vernutzten Pro ­ duktionsmittel durc h neue ersetzen. In der Zeit guten Geschäftsganges mu ß aber neben diesem Ersatz die ganze Ausweitung des Produktionskörpers er­ folgen. Dazu kommt, daß die Produktionsstätten, welche Produktionsmittel herstellen, ihr e Leistungsfähigkeit nu r steigern können, wenn auch ihre An­ lagen sich erweitern. Wi r sehen daher in jeder Konjunktur ei n sprunghafte s Ansteigen der Produktionsmittelindustrie, wofü r da s rasche Wachstum de r Roheisenerzeugung un d in früheren Konjunkturperiode n auc h der Kohlen­ förderung da s sichtbarste Zeichen ist. So stieg ζ. Β . die Roheisenerzeugun g von Deutschland vom Jahre 192 6 auf das Jahr 192 7 um 35 % und war sogar um 20 % höher als die Roheisenerzeugung vo r dem Kriege auf dem Gebiete des heutigen Deutschland . Auc h di e Steinkohlenproduktion stie g von 192 6 auf 192 7 um ca. 21 % , also etwas weniger, d a die Rationalisierung de s Koh­ lenverbrauchs, da s rasch e Wachstu m de r Braunkohlengewinnun g un d di e wachsende Heranziehun g de r Elektrizitä t al s Kraftquell e de n Anstie g de r Kohlenproduktion verlangsamte . Diese r rasch e Produktionsanstie g erklär t sich ebe n daraus, daß in den Konjunkture n stoßweis e di e gesamte Produk ­ tionsunterlage erweitert und gleichzeitig transformiert wird . Da ß sich dieser Wachstumsprozeß gewissermaße n ruckweis e vollzieh t un d nich t i n eine r gleichmäßig fortschreitende n Ausgestaltun g alle r Erzeugungszweig e be ­ steht, is t ein e Eigentümlichkei t de r unternehmungsweise n Produktion , di e hier nicht näher begründet sei, die aber als Tatsache schon aus dem Auf und Ab der Schwerindustrie abgelesen werden kann. Niemals steigt die Industrie der Verbrauchsgüter i n diese m Temp o an , wi e auc h i n der Depressio n de r Rückgang i n de r Schwerindustri e besonder s drastisc h ist . Daß einer solchen ruckweise n Erweiterun g de s Produktionskörpers ein e schwere Hemmung nachfolgen muß, ist vor allem auch in den Eigentümlich­ keiten unseres modernen Kreditsystems begründet. Dieses gestattet nämlich in den Zeiten der Konjunktur die äußerst schnelle Erweiterung de s Produk­ tionsprozesses au f de r Grundlag e de s Kredits , de r sich , innerhal b gewisse r 211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Grenzen elastisch , rasche r ausdehne n kann , al s die Bildun g wirkliche r Er ­ sparnisse fortschreitet . Sowei t da s geschieht, schließ t jed e Konjunktur Ele ­ mente einer Inflation in sich mit den notwendigen Begleiterscheinungen einer solchen, nämlich Überhöhung der Gewinne, Auseinanderklaffen de r Renta­ bilitäten in den einzelnen Wirtschaftszweigen, Fehlleitunge n von Kapital, al­ les Erscheinungen, die nur durch ein Sinken des Preisniveaus, durch Wieder­ herstellung richtige r Preisbeziehunge n zwische n de n einzelne n Produkte n korrigiert werde n können . Ein e Fortdauer de r Konjunktur , di e ja meisten s eine Investitionskonjunktur ist , würde die Preise der Produktionsmittel im ­ mer schnelle r dene n de r Konsumgüte r voraneile n lassen , würd e dami t z u immer rascherer Ausdehnung de r Basisindustrie führen, würd e das gesamte Preisniveau immer schneller ansteigen lassen, bis die Volkswirtschaft de n Zu­ sammenhang mit dem allgemeinen Preisniveau der Weltwirtschaft verlöre . In diesem Augenblic k bleib t nu r di e Wahl, durc h Umkehrun g de s Prozesses, die Konjunktur z u bremsen, ja , ein e Krise heraufzuführen ode r in Fortset ­ zung der Inflation auch die gesunden Grundlagen des Produktionskörpers zu zerstören. So zieht jede Konjunkturperiode, und je angeregter sie war um so heftiger, eine Einschnürung des Erzeugungsprozesses nach sich. Die Depres­ sion wird meistens eingeleitet durch eine Hemmung des Kreditstroms, durch eine Zurückhaltung de r Banken in der Verlängerung alte r und insbesonder e in der Gewährung neue r Kredite. Da s macht die Weiterführung de r Erzeu ­ gung i m bisherigen Umfan g unmöglich , führ t z u Einschränkungen , Arbei ­ terentlassungen, Rückgang des Konsums insbesondere von Produktionsmit­ teln und erzwingt eine Senkung, of t einen Sturz der Preise. Vom Blickpunkt des Geld - un d Kreditsystem s au s gesehen , verwandel t sic h da s Verhältni s zwischen Ersparnisse n un d Investitionskredite n in s Gegenteil , di e Erspar ­ nisse werden entwede r als Depositen oder als freie auf dem Markte schwim­ mende Geldmenge sichtbar; der Geldmarkt wird , wi e man sagt, flüssig , di e auf dem Markt ausgeübte Kaufkraft schrumpf t ein . So zeigen die Notenban­ ken als sichtbares Symptom dieses schrumpfenden Produktionsprozesses ei ­ nen sinkenden Notenumlauf , de r außerde m langsame r zirkulier t al s i n den Zeiten der Konjunktur be i steigenden Preisen. So folgt der Inflation ei n De­ flationsprozeß, ein e notwendige Phase des Wellenspiels unserer Wirtschaft , die auc h al s Geldbewegun g dargestell t werde n kann , abe r i n ihre m Wese n eine höchst schmerzhafte Operation innerhalb des Erzeugungsprozesses dar­ stellt. Diesen „normalen“ Verlauf zeigt auch die Gegenwart, und zwar ist das Wellental heute auch deshalb so tief, weil die Überhöhung der Produktions­ mittelindustrie i n den vergangenen Jahren besonder s stark war und weil di e technische Effizien z de s Produktionsumbaus ein e unverhältnismäßige Stei ­ gerung zahlreicher Kapazitäten mit sich brachte. Zu den „normalen “ Grün ­ den eine r solche n Wellenbewegun g trete n abe r heut e noc h ander e hinzu , welche i n ihre m Zusammenwirke n ers t di e Schwere de r Kris e verständlic h machen. II. Wir stehe n heut e vo r de r Tatsach e grundlegende r Veränderunge n i n 212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

den Erzeugungsbedingungen de r industriellen Rohstoffe und Nahrungsmit ­ tel. Ers t jetzt wirken sic h die technischen Veränderungen i n diesen Produk ­ tionszweigen vol l aus . Galubt e ma n vo r de m Krieg e un d auc h noc h nac h demselben, da ß die Rohstoffgrundlagen mi t dem Wachstum der Nahrungs­ mittelerzeugung un d mi t de r wachsende n Bevölkerun g nich t Schrit t halte n würden, s o müssen wir heute zugestehen, da ß gerade das Gegenteil der Fall ist. O b e s sich um den Abbau vo n Kohle n ode r Erzen , u m die Produktio n von Öl, Kupfer, Gummi , um die Getreideproduktion oder die Fleischerzeu­ gung handeln mag, überall sehen wir eine furchtbare Überschwemmun g de r Märkte, verbunde n mi t hemmungslose m Abstur z de r Preise. I n dem eine n oder andern Fall mag sogar ein Raubbau vorliegen , un d es könnte sein, da ß die Ölgewinnun g un d auch die Kohlenförderung späterhi n durc h Erschöp ­ fung de r natürlichen Lage r vor schwierigen Probleme n stehe n wird . Heut e aber is t e s so, da ß di e Entwicklun g de r Produktionsmethode n all e Märkt e überfüllt. Is t es doch in der kapitalistischen Wirtschaftsrechnung begründet , daß Erträge, die etwa in 20 bis 30 Jahre n zu erwarten sind, bei einer Diskon­ tierung auf die Gegenwart, besonders bei hohem Zinsfuß, auf lächerliche Be­ träge zusammenschrumpfen. Selbs t übermäßige Ausdehnung der Erzeugung in der Gegenwar t sicher t dahe r i m System diese r Bewertungsmethode n of t einen Gewinn, un d diese Tatsache führt be i freier Konkurren z zu einer An­ spannung de r Produktion, di e auf da s ganze gesehen und auf lange Zeit hin nicht Wirtschaftlichkeit , sonder n geradez u Verschwendun g ist . In anderen Erzeugungszweige n freilic h ha t sich einfach di e Produktions­ fähigkeit seh r erhöht , ζ. Τ . gleichzeitig mi t eine r Senkung ode r wenigsten s einem Gleichbleibe n de s Bedarfs. S o muß z . Β . der Getreideverbrauch we ­ nigstens relativ sinken, wenn die Bevölkerung i m Vergleich z u ihrem frühe ­ ren Wachstu m annähern d stationä r bleibt , ihr e Ernährungsweis e sic h vo n den voluminösen und schwerverdaulichen Nahrungsmitteln auf Gemüse und Fleisch umstell t und den Verbrauch i n mancher Hinsicht infolg e geänderte r Lebensweise einschränkt . Gleichzeiti g mi t diese r Entwicklun g sin d abe r in den Vereinigten Staate n und Kanad a die Anbauflächen seh r gestiegen. Der ­ selbe Prozeß bereite t sic h i n Rußlan d un d Sibirie n vor , un d wa s besonder s wichtig ist, steigende Produktmassen werden jetzt mit sinkenden Kosten er­ zeugt. Au f de n riesigen „Getreidefabriken“ Kanada s wird heute die Bestel­ lung de r Felder sowoh l wi e di e Ernt e maschinell bewältigt : Si e haben viel ­ leicht schon manchma l au f eine m Film den Mähdrescher gesehe n (de r auch bereits auf einigen ostpreußischen Güter n Eingang gefunden hat), eine kom­ binierte Maschinerie größten Umfangs, die das Getreide mäht, sofort drischt und in Säcke füllt, die , in langen Reihen auf der Ackerflur niedergelegt , nu r aufgesammelt werde n müssen . Gleichzeiti g wir d da s Stroh gepreßt und ge­ packt. Nehmen Sie hinzu, daß diese Maschinen vielfach mit Motoren bewegt werden, s o ist das Rätsel der Getreideüberschwemmung gelöst . Di e Kosten dieser Produktion sin d nicht nur stark gesunken, sondern gleichzeitig hat ja die Verminderun g de s Arbeitsvieh s un d ζ. Τ . auch di e Verminderung de r 213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

menschlichen Arbeitskräft e groß e Masse n vo n Getreid e au f de n Mark t ge ­ führt, die früher in der Landwirtschaft selbst verbraucht wurden. Kein Wun­ der, daß heute Zehntausende von Farmen in den Vereinigten Staaten verlas­ sen sind, da ß alle Mittel, de n Getreidestrom einzudämmen , vergeben s blie ­ ben, daß die Stützungsaktionen de r Landwirtschaft selbs t und der Regierun­ gen i n Amerik a un d Europ a zusammenbrachen . Herrsch t doc h i n der Ge­ treideproduktion ungehemm t die freie Konkurrenz, bauen sich doch immer neue Betriebe auf, di e bei den niedrigsten Preisen noch ihre Renten finden, s o daß die technisch rückständigen Gebiete, vor allem aber die alte europäische Landwirtschaft, unmöglic h die Kosten ihrer Produktion aus den Preisen her­ ausholen konnten. Da der Getreidekonsum selbst nicht rasch wächst, finde t der Preisdruck, de r von jeder neuen Getreidemenge ausgeht, keine n Gegen ­ druck au f de m Markte. Zöll e sowohl al s Versuche, de n Konsum z u heben , sind ohnmächti g gegenübe r diese r Oberfüllun g de s Marktes . Die s nu r ei n Beispiel neben vielen für die tieferen Gründe der heutigen Rohstoffkrise un d die hoffnungslose Lag e alle r ältere n Produktionsstätten . Ähnlich liegt es in der Baumwollproduktion, ähnlic h in der Gummierzeu­ gung. Vo r dem Kriege konnte man befürchten , da ß die Automobilproduk ­ tion eines Tages an der Menge der Kautschukerzeugung ihr e Schranken fin ­ den würde. Heute ist es fraglich, o b die Automobilproduktion sic h jemals in dem Tempo der ansteigenden Gummiproduktio n entwickel n wird . Seitde m in den tropischen Gebiete n di e intensive kleine Landwirtschaf t nebe n ihre r sonstigen Produktio n zu r Pflanzun g vo n Gummibäume n überging , is t da s Angebot an Gummi von Jahr zu Jahr gestiegen und seine Entwicklung voll ­ kommen unübersehbar. S o ist heute der Gummipreis auf den achten Teil des Vorkriegsstandes gestürzt , ohn e daß dadurch di e Produktion de r Zwergbe­ triebe gehemmt würde. Di e großen Plantagen freilic h könne n nu r mehr mit großen Verlusten arbeiten; eines der Beispiele dafür, wi e wenig bisher die na­ türlichen Produktivkräft e de r tropischen un d subtropischen Gebiet e ausge ­ nutzt wurden und welchen Marktzusammenbrüchen die Wirtschaft entgege n gehen mag, wen n erst einmal die subtropische Landwirtschaf t vol l entfalte t sein wird . Namentlic h di e afrikanische n un d südamerikanische n Gebiet e mögen in Hinkunft mit Produktmassen auf den Markt kommen, die eine völ­ lige Umlagerung de r Produktionsgebiete zur Folge haben könnten, verbun ­ den mi t schwere n Kapitalverluste n ältere r Betriebe . Di e Kaffeeproduktio n bietet ei n andere s Beispie l rascheste n Wachstum s de r Erzeugung . Die europäische Agrarwirtschaft ist , wie angedeutet, durc h diese Umwäl­ zungen aufs ärgste bedroht, und zwar sowohl die alten Überschußgebiete des europäischen Südosten wie Ungarn, der Balkan usw., abe r auch die Bedarfs­ gebiete Deutschland, Österreic h usw . I n vergrößertem Maßstab wiederhol t sich die Agrarkrise, di e in der zweiten Hälfte des 19 . Jahrhunderts von dem Erscheinen de s amerikanischen Getreide s au f dem europäische n Markt e ih ­ ren Anfang nahm . Heute ist aber diese Krise besonders gefährlich, d a sie ja auch di e europäische Industri e in ihre n Wirbe l zieht . Is t doch die Gesamt 214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Produktion der überseeischen Wirtschaftsgebiete s o rasch gestiegen, daß der Preissturz di e Kaufkraf t diese r Gebiet e lahmlegte. Ihr e Nachfrage au f de m europäischen Markt e schrumpft ein , un d wenngleich di e europäische Indu ­ strie von der Senkung viele r Rohstoffpreise Nutze n zog , vo r allem auch die deutsche Industrie , s o war der Nachteil woh l größe r al s der Vorteil, d a der organisatorische Aufba u unsere r Industri e di e Auswirkungen diese r sensa ­ tionellen Preissenkunge n de r Rohstoff e i n de n Fertigprodukte n hemmte . Eine Stützung diese r deroutierten Märkt e abe r liegt auße r de m Bereich de r Möglichkeit, solang e di e Produktio n i n private n Unternehmunge n erfolg t und die Ausdehnung der Erzeugung noch immer einzelnen Betriebsgruppe n Vorteil bringt . III. Für Deutschland speziel l spielt eine erhebliche Rolle der Wegfall de r allgemeinen Wehrpflicht, di e vor dem Kriege etwa 500 000 Männer arbeits­ fähigen Alters mehr als im heutigen Deutschland vom Arbeitsmarkte fernge­ halten hat . Di e Zahl der Arbeitslosen wär e um diese Armee geringer, aller ­ dings der Gesamtzustand der Volkswirtschaft ehe r schwieriger, da ja die Mit­ tel, welche die allgemeine Wehrpflicht erfordern würde, viel höher wären, als etwa heut e di e Arbeitslosenunterstützun g fü r dies e halb e Millio n beträgt . Außerdem sei hingewiesen au f die Veränderung i m Altersaufbau de r Bevöl­ kerung, die meines Erachtens von ganz entscheidender Bedeutung ist. So hat sich die Zahl der erwerbsfähigen Bevölkerung , d . h . der Bevölkerung im Al­ ter zwischen 1 5 und 60 Jahren , in Deutschland von 1900-1925 von 32 auf 40½Millionen erhöht, d. h.um2 5 % , in England und Wales von 1901-192 1 von 197 2 auf fast 24 Millionen, d . h . um 22 % , hingegen i n Frankreich von 2372 auf 242/3 Millionen, das sind nur 5 % . Da diese Daten für den jeweiligen Gebietsstand gegebe n sind, s o ist das Wachstumstempo der erwerbsfähige n Bevölkerung i n Deutschland noc h rascher, al s es in diesen Daten zu m Aus­ druck kommt, i n Frankreich abe r erheblich langsamer . Nu r Japan zeig t mit 27 % Wachstum ein e noc h rascher e Zunahm e de r Erwerbsfähigen . Diese Daten bedeuten, daß in den letzten Jahrzehnten trotz der Kriegsver­ luste, die ja dieselben Jahrgänge betreffen , ein e rasche Veränderung de s Al­ tersaufbaus stattgefunden hat . Die sinkende Kindersterblichkeit ha t zu einer geringeren Besetzun g de r niedrigen Altersstufe n geführ t un d hat den Antei l der Erwachsenen an der Gesamtbevölkerung seh r stark erhöht. Die erwerbs­ fähige Bevölkerung ist daher überall rascher gestiegen als die Gesamtbevölke­ rung und daher der Andrang au f den Arbeitsmarkt. Hierz u komm t sowoh l für Deutschland wie für England, da ß die Verarmung der Mittelschichten i n Verbindung mit dem rasch ansteigenden Frauenüberschuß den Zudrang zum Arbeitsmarkt wesentlic h erhöh t hat. Den n heute sucht zweifellos ein e grö­ ßere Quot e de r erwerbsfähige n Bevölkerun g Beschäftigun g al s vo r de m Kriege. In Deutschland speziell sehen wir einen starken Zustrom auf den Ar­ beitsmarkt aus der ehemaligen Rentnerschicht, so daß ein erheblicher Teil der Arbeitslosenunterstützung heut e al s ein e „Aufwertun g au f Umwegen “ be ­ trachtet werden kann. (Dies zugleich ein Beweis dafür, da ß Wertvernichtun215 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

gen großen Stils immer Fernwirkungen nac h sich ziehen, welche bei der Be­ urteilung de r Folge n mi t i n Rechnun g gestell t werde n müßten. ) All e dies e Umstände zusammengenommen habe n die Wirkung, da ß selbst ein Anstei­ gen in der Zahl der Beschäftigten noc h eine sehr erhebliche Arbeitslosigkei t in sich schließen kann . E s wächst ebe n de r Zustrom zu m Arbeitsmarkt ra ­ scher al s di e Aufnahmefähigkeit de r Produktion . IV. Die Wirkung de s technischen Fortschritts in dieser letzten Konjunk ­ turperiode ist ein weiterer verschärfender Krisenfaktor . Meis t erwartet ma n vom technischen Fortschritt eine Verbilligung der Erzeugung oder eine Stei­ gerung der Gewinne. Dadurch soll neue Kaufkraft entstehen , die die Grund­ lage für die Heranziehung neuer Arbeitskräfte bildet. Ich glaube nun, daß die letzte Konjunkturphase durch zwei Umstände gekennzeichnet wird , welch e diese generelle Wirkun g abschwächen : 1. Di e Wirkungen des technischen Fortschritts hängen stark davon ab, auf welchen Gebieten sie sich vollziehen. So hat sich ζ. Β . das europäische Indu­ striesystem i m 19 . Jahrhundert gleichzeiti g mi t de m Auf - un d Ausba u de s Eisenbahnnetzes entfaltet . Diese r Ausba u de s Eisenbahnnetze s ha t gan z große Arbeitsarmeen viel e Jahrzehnte hindurch gebunden, gleichzeiti g abe r die Produktionsbedingunge n alle r Industrie n verbessert . Ma n kan n sagen , daß das Eisenbahnsystem erst weitestgehende Arbeitsteilung durch Senkung der Transportkosten au f eine n Bruchtei l ihre r frühere n Höh e ermöglichte , ebenso wie die Umsiedelung und Neuschaffung vo n Industrien an günstigen Standorten und die Verwertung schwere r Massengüter auf weite Distanzen . Das alles ist ja bekanntlich ers t die Grundlage rasc h steigender Produktio n und steigender Bevölkerung gewesen . In der letzten Konjunktu r abe r über­ wogen di e Investitionen, di e eher arbeitssparend sind , al s daß sie eine neu e Produktion ermöglichen würden. In ihrer Struktur mögen sie am ehesten mit der Einführung de r mechanischen Spindel und des mechanischen Webstuhl s in di e englisch e Wirtschaf t vergleichba r sein , di e massenhaft e Vernichtun g von handwerkerlichen Existenze n und lang andauernde schwerste Arbeitslo­ sigkeit i m Gefolg e hatte . 2. Daz u kommt , da ß di e technische n Fortschritt e i n gan z besonder s schnellem Tempo erfolgten un d von größter Durchschlagskraft waren . Da s hat stark e Rückwirkunge n au f di e Höhe der Abschreibunge n un d verlang ­ samt di e Bildun g neuen , zusätzliche n Kapitals . Diese s besonder s schnell e Tempo des technischen Fortschritt s is t meines Erachten s fü r di e besonder e Schwere de r gegenwärtige n Kris e seh r bedeutsam . V. Insoweit der technische Fortschritt die Produktionskosten herabsetzt , könnte e r- se i es durch Steigerung der Gewinne, sei es durch Herabsetzun g der Preise - wiede r ein gewisses Antriebselement in der Entwicklung bilden . Der Aufbau imme r straffere r Organisatione n wirk t abe r dieser Kompensa ­ tionstendenz entgegen . Den n di e Kartell e un d marktbeherrschende n Pro ­ duktionsgruppen (Konzerne, Trusts) können die Preise so festsetzen, da ß sie 216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

bei einigermaße n befriedigende m Geschäftsgan g seh r erheblich e Profit e z u erzielen vermögen . Si e leiten nun meist diese Gewinne wieder i n die eigene Produktion, s o daß sich ihre Leistungsfähigkeit außerordentlic h schnel l er ­ höht. I n de r Konjunktu r wir d selbs t ein e sehr erheblich e Ausbreitun g de r Kapazität i n den Basisindustrien noc h nicht als Nachteil fühlbar, wei l ja die Vergrößerung de r Basisindustrie selbst ihrer eigenen Produktion ein e starke Stütze bietet. E s jagt eine Investition di e andere, und auch bei abklingende r Konjunktur werden sich die Basisindustrien noc h rasch ausdehnen können , da sie bei de r Lebensnotwendigkei t ihre s Produkts (Kohl e und Eisen ) auch aus schwächere m Absat z ihre Rentabilitä t aufrechterhalte n können . Dami t wird aber die Grundlage zu Disproportionalitäten geschaffen, wie sie bei völ­ lig freie r Konkurren z kau m entstehe n könnten . D a di e Rentabilitä t de r Kompaß ist, a n dem sich die Kapitalanlagen orientieren , s o ist es nur natür­ lich, daß eine künstliche Steigerung de r Rentabilität auch zu überhöhten In ­ vestitionen führt . J e meh r aber die Leistungsfähigkeit übe r die tatsächlich e Produktion hinauswächst, u m so größer werden die Schwierigkeiten be i zu­ rückgehendem Bedarf . Überdie s wächs t gleichzeiti g di e Kapitalintensität , also die organische Zusammensetzung de r Produktion. J e mehr Kapital auf den einzelnen Arbeiter entfällt, u m so kostspieliger wird die Einschränkun g der Produktion, d a die Lohnersparnis immer mehr gegenüber dem Zinsver­ lust au f da s stillgelegte Kapita l zurücktritt . Darau s folgt aber , da ß die Pro­ duktionskosten i n diesem Fall mit jeder Einschränkung de r Erzeugung seh r schnell ansteigen und daß daher im Kartell die Preise mit sinkendem Absat z möglichst gehalten , ja , wen n es geht, soga r hinaufgesetzt werden , wodurc h natürlich der Absatz weiter sinkt, was neuerlich eine Tendenz zur Preiserhö­ hung auslöst . S o gerä t di e Produktio n durc h di e Organisatio n - den n be i freier Konkurren z wäre das ja unmöglich - i n einen falschen Zirkel, i n einen Zauberkreis, au s dem si e nicht herauszutreten vermag . Si e fährt sic h i n ei n niedriges Produktionsquantu m be i höhere n Preise n fest , anstat t i n der De­ pression durch Preissenkung die Umekhr zu einer normalen Wirtschaftslag e - se i e s auch mi t Verluste n - vorzubereiten . Davo n noc h später . Die Übersteigerun g de r Dimensione n ha t i n manche n Industriezweige n dahin geführt, da ß - besonder s bei hohem Zinsfuß! - di e Produktionskosten in den modernsten Betriebe n höhe r sin d als in den kleinere n un d mittlere n Werken. Ein e groteske und doch logische Konsequen z einer zu weit getrie­ benen Ausdehnung der Kapazität. So haben ζ. Β . letzthin die Berliner Brot­ fabriken erklärt , si e könnte n di e vo n de n kleine n Bäcker n vorgeschlagen e Preissenkung nicht tragen. Was soll man zu einem Produktionssystem sagen, das zu solchen widersinnigen Konsequenzen führt! Liegt doch darin das Ein­ geständnis, daß alle Investitionen i n diesen Betrieben Fehlinvestitionen wa ­ ren. Eine moderne Fabrik, die vom Handwerk ökonomisch geschlagen wird, läßt wirklich zweifeln , o b die privaten Unternehmer die richtigen Treuhän ­ der de s „gesellschaftliche n Kapitals “ sind . Welche r Widersin n lieg t i n de m Aufbau eine r Produktion , di e weder höher e Gewinn e erzielt , noc h niedri 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

gere Preise bietet als das Handwerk, gleichzeiti g aber die Arbeiteranzahl her­ absetzt! VI. Di e Reparationszahlungen sin d ein weiterer Grund für die Verschär­ fung de r Wirtschaftskrise. Freilic h wird ma n nicht so weit gehen, darau f al ­ lein di e Wirtschaftskris e zurückzuführen , zuma l wi r j a i n eine r Weltwirt ­ schaftskrise stehen, deren Dimensionen außer allem Verhältnis zu den Repa­ rationszahlungen sind . Nehme n wi r gan z schematisc h an , da ß die 1, 7 Mil ­ liarden Jahreszahlungen des Young-Planes, die in den Anfangsjahren z u ent­ richten sind , i n Deutschlan d selbs t al s Kapita l angesammel t un d investier t werden könnten, und nehmen wir an, daß 1 Million Kapital im Durchschnitt ausreicht, u m einen Betrieb für 10 0 Arbeiter aufzubauen, s o könnten dami t theoretisch jährlic h Betriebsgruppe n geschaffe n werden , di e je 17 0 000 Ar­ beitern Rau m geben . Ode r es könnte, u m es anders auszudrücken, di e Ge­ samtsteuerlast i n Reich , Länder n un d Kommune n u m 1 2 % herabgesetz t werden. (Die Kriegslasten betrage n 25 % unseres Budgets, die je zur Hälft e auf äußer e un d inner e Kriegslaste n entfallen. ) Da s sin d scho n erheblich e Größen, di e be i de r Verschärfun g de r Kris e in s Gewich t fallen . Freilic h würde auch eine Aufhebung ode r Minderung der Reparationslasten nich t im ganzen Betrag e kapitalerhöhen d wirken . Wahrscheinlic h würd e de r Ver ­ brauch etwas steigen (was ja sehr erwünscht wäre), so daß eine dauernde Er­ höhung de s Beschäftigungsgrade s nu r i n geringere m Umfan g z u erwarte n wäre. VII. Zölle, international e Kartell e hinder n ein e weiter e Differenzierun g der nationale n Produktionen , hemme n de n Warenaustausch , erhöhe n di e Kosten de r nationale n Produktionen , begünstige n abe r insbesonder e di e Entstehung von privaten Monopolen und damit die unter V berührten Fehl ­ leitungen de s Kapitals. Insbesonder e sind die Zölle die Grundlage eine r be­ sonderen Ausbeutung des inländischen Marktes, ermöglichen erst Dumping, das Hochhalten de r Preise im Innern des Landes, umständliche Ausfuhrver ­ gütungen, un d letztlich ebe n künstlich e Preisverhältnisse zu r Folge hat. In ­ sofern, al s da s übersteigert e Schutzzollsyste m di e politische n Gegensätz e verschärft, di e internationale Atmosphäre verdirbt, steiger t es auch das Miß­ trauen der nationalen Wirtschaftssysteme gegeneinander , hemmt infolgedes­ sen den freien Stro m de r Kapitalie n un d hindert jen e Ausgleichsbewegung , die so viel zur Behebung selbst einer internationalen Wirtschaftskris e beitra ­ gen könnte . VIII. Hingegen glaub e ic h nicht , da s - angeblich e - Zurückbleibe n de r Goldproduktion hab e etwa s Entscheidende s mi t unsere r gegenwärtige n Krise zu tun. Diese These, welche gegenwärtig in England viel vertreten wird und auch ihre Anhänger auf dem Kontinent hat, verweist auf das Zurückblei­ ben der Goldproduktion. Dadurc h werd e di e Basis der Währungen schmä ­ ler, bzw . si e könnte nicht in einem Tempo verbreitert werden , da s die Vor­ aussetzung einer rascheren Steigerung des Geldumlaufs und der Kreditmenge wäre. Dadurch werde aber die Weltwirtschaft i n einen Deflationsprozeß hin 218 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

eingezwungen, desse n Auswirkunge n wi r i n der scharfen Preissenkun g vo r uns sehen . Diese r roheste n For m eine r monetäre n Theori e gegenübe r läß t sich abe r der durchschlagende Einwan d erheben , da ß sich die Goldschätz e der Notenbanke n j a seit Kriegsbegin n nich t nu r durc h steigend e Goldpro ­ duktion, sonder n auch durch die Rückziehung de s Goldes aus dem Verkehr außerordentlich erhöh t haben . Dies e Refor m de s Bargeldverkehr s ha t di e Währungsbasis überal l gan z erheblic h verbreiter t (i n Europ a allei n ver ­ schwanden ca . 9 Milliarde n Gol d au s de m Verkehr ) un d is t j a währungs ­ technisch bei einem Deckungsprozent von 40 % von derselben Wirkung wi e die Neugewinnung eine r Menge von etwa 6 Milliarde n au s dem Abbau de r Goldminen. Auffallender un d tatsächlich von größerer Bedeutung ist die un­ gleiche Verteilung de s Goldes über die Welt hin, di e Massierung de r Geld ­ horte vo r alle m i n de r Ban k vo n Frankreic h (Okt . 1930 : 8, 3 Milliarde n Goldmark) und in den Vereinigten Staaten (ca. 19 Milliarden), bei einem Ge­ samtbestand de r monetäre n Goldmeng e i n de r Wel t vo n 48 Milliarden . Diese ungleiche Verteilung ist ein Zeichen dafür, da ß auch auf diesem Ge­ biete de r alt e Automatismu s de r kapitalistische n Wirtschaf t nich t meh r wirkt. Sie ist geschuldet teilweise verschiedenartigen Zahlungsgewohnheite n des innere n Verkehr s (gering e Entwicklun g de s bargeldlose n Verkehr s i n Frankreich!), teilweise abe r ist sie nur der sichtbare Ausdruck für die Hem­ mung der Kapital- und Warenwanderungen, von denen ich unter VII gespro­ chen habe. Die monetäre Maschinerie dürfen wi r dafür nich t verantwortlich machen. Im Gegenteil, diese ist ja (von überflüssigen Steigerunge n der Dek ­ kungsprozente abgesehen ) heut e vie l leistungsfähige r al s vo r de m Kriege . Insbesondere hat die Devisendeckung, di e ja in zahlreichen Währungsgeset ­ zen zugelassen ist, die Ausgabe von Währungsgeld erleichtert, un d es hat die Einbürgerung de s bargeldlosen Zahlungsverkehr s i n vielen Staaten die Mas­ senumsätzc zwische n Unternehmer n vo n de m Notenumlau f unabhängi g gemacht. So ist ja auch in den letzten Veröffentlichungen de s Konjunkturin ­ stituts über dieses Problem mi t Rech t darau f hingewiese n worden , da ß fas t alle Notenbanken noc h über große „frei e Reserven “ verfügen , d . h . daß sie die Wechselkredite noch erheblich ausdehne n könnten, wen n sie zur Finan­ zierung reale r Produktionen i n Anspruch genommen werden würden. Hie r ist also ein großer Spielraum noch vorhanden, der ja auch bei einem Wieder­ aufleben der Konjunktur rasch ausgefüllt werden wird, und es kann gar keine Rede davo n sein , da ß di e Weltwirtschaftskris e vo n heut e au f di e höhere n Löhne der eingeborenen Arbeite r i n den südafrikanische n Goldmine n etw a (was Einschränkung de r Goldproduktion zu r Folge hat) oder auf die unglei­ che Verteilung de s Golde s zurückzuführe n sei . Diese r zweit e Umstan d is t zwar wichtig , abe r doch nu r al s äußeres Zeiche n tieferliegende r Ursachen : der Hemmungen , welch e de m Austausc h vo n Ware n un d de r Wanderun g von Kapita l entgegenstehe n . . . Übrigens dürft e e s jedem , de r di e ökonomisch e Lag e i n ihre r innere n Struktur z u durchblicke n versucht , einleuchten , da ß di e Wirkunge n de s 219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Mähdreschers, das sprunghafte Ansteigen der Gummiproduktion, die Über ­ höhung der Kapazitäte n i n den Basisinstrumenten un d viele andere Quellen unserer wirtschaftlichen Störungen ebensowenig etwas mit der Goldproduk­ tion zu tun haben als die veränderte Bevölkerungszusammensetzung un d die Nachklänge der Inflation. Di e ungleiche Verteilung der Goldschätze aber ist, wie schon betont, da s Resultat de r schweren Störungen , di e wir also darauf nicht zurückführe n können , ohn e un s i m Kreis e z u drehen . IX. Als letzte der Ursachen muß noch nachdrücklich die Auswirkung de r politischen Lag e Europas , insbesonder e Deutschland s beton t werden . Sei t Kriegsende, kan n ma n sagen , is t da s Kapita l i n zahlreiche n europäische n Staaten ständig au f dem Sprung z u fliehen. Di e Inflationen i n Deutschland , Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Spanien trieben Kapital in die neutra­ len Staaten; wo Stabilisierungen erfolgreic h waren , wurde es wieder zurück ­ geholt. Neue politische Beunruhigungen, da und dort immer wieder aufflak ­ kernd, teils im Zusammenhang mit der Reparationslast, teil s unabhängig von dieser, scheuchte n imme r wiede r da s Kapita l au s eine m Lan d in s andere . Namentlich der fremde Kapitalist ist ängstlich - e r wird sich, wenngleich mit Verlusten, rasc h zurückziehen , wen n e r völlige Vernichtung seine s Gutha ­ bens befürchtet. Wi r brauche n nu r an die Panik de s Frühjahrs 192 9 im Zu­ sammenhang mi t der Krise über die Verhandlungen u m den Young-Plan z u denken, um zu erkennen, wie nervös schon seit Jahren die Märkte sind. Der Ausfall de r deutschen Wahle n hat diese Unruhe noch gesteigert. We r denkt unter solchen Bedingungen an Investitionen, a n langdauernde Anlagen, we r will Aktie n ode r Industrieobligationen erwerben , dere n Wer t j a schließlic h darauf gründet , da ß ein e Katastroph e da s ganz e Volkswirtschaftsgebäud e nicht zerreißt? Eine besonders wichtige Folge dieser allgemeinen, politische n Unruhe erblicke ich darin, da ß sich das Kapital möglichst lang e in der rasch liquidierbaren For m aufhält , i n Gel d ode r kurzfristige n Forderungen , di e schnell flüssig gemach t werden können. Das bedeutet aber nichts anderes als eine Verschärfung de s Deflationsprozesses. Di e Kapitalansammlung, sowei t sie noch erfolgt, führ t ebe n nicht zu Investitionen, si e hat die Wirkung eine r Thesaurierung, di e den Druck auf die Preise - eine n ungleichmäßig wirken ­ den Druc k au f di e Preise - verschärft . Di e Konsequenzen de r wirtschaftli ­ chen Störungen werden so noch vertieft, und die Ängstlichkeit des Kapitals aus der politischen Lage heraus - is t ein weiterer Grund dafür, da ß die Wie­ derherstellung de s Gleichgewicht s s o lange au f sic h warte n läßt .

Schwierigkeiten de r Krisenbewältigung i m Kapitalismu s Die Liquidation einer Wirtschaftskrise kan n nur von der Preisseite her erfol­ gen, d a ja der Produktionskörper nich t unmittelbar durch eine n planende n Gedanken umgeform t werde n kann , d a di e Politi k nich t unmittelba r au f 220 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Wiederherstellung richtige r Proportione n de r einzelne n Wirtschaftszweig e abzielt. Auc h kan n in einer Krise nicht ein neuer Auftrieb von der Einkom­ mensseite he r kommen : Be i große r Arbeitslosigkei t un d sinkende m Ein ­ kommen sin d Lohn- oder Gehaltserhöhungen unmöglich. Die Balance kann nur durch Preissenkungen, se i es auch mit Verlusten, herbeigeführt werden . Diese erhöhen da s Realeinkommen, ermögliche n also das relative Ansteigen des Konsums, die erste Vorbedingung für den Aufstieg. Di e Preissenkungen sind freilich da s Ende so mancher Unternehmung: Di e überlebten Produk ­ tionsmethoden brechen jetzt zusammen, Betriebe schließen ihre Pforten, der Reinigungsprozeß läß t nu r di e leistungsfähigste n Erzeugungsstätte n beste ­ hen. Überall wird das Kapital stark abgeschrieben, zusammengelegt, e s wird saniert durc h Verzicht au f Erträgnisse . Da s ist der „normale “ Verlau f eine r Krise, zwangsläufi g be i freier Konjunktu r eintretend , heut e abe r gehemm t durch Organisationen aller Art, durch politische Interventionen (Subventio ­ nen), durch Einschränkung der Erzeugung. Die Krise ist aber durch Produk­ tionseinschränkungen a n sich noch nicht zu beheben. Denn jede Verminde­ rung de s Angebot s wir d j a durch di e Entlassun g vo n Arbeitern un d Ange ­ stellten erkauft. Dadurc h aber wird die Kaufkraftmasse au f dem Markte neu­ erlich gesenkt und ein neuer Druck auf die Preise ausgeübt. Könne n sich ei­ nige Wirtschaftszweige , gu t organisiert , de n Wirkunge n de s Preisdrucke s entziehen, s o lastet dieser um so schwerer auf den Betrieben freier Konkur ­ renz, di e überdie s al s Exportindustrie n meis t überhaup t kein e wirksam e Preisregelung übe n können . D . h . aber , da ß gerad e diejenige n Preis e noch sinken, di e schon vorher relativ niedrig waren (die Preise der Fertigindustri­ en), währen d da s Niveau de r Basispreise unerschüttert bleibt . Da s Mißver ­ hältnis zwische n de n Preisen - da s wichtigste Erkennungszeiche n eine s un­ haltbaren Wirtschaftszustandes - wir d so noch verschärft. Allerding s würd e auch bei freier Konkurrenz ein Druck auf den Lohn geübt werden. Er würde, bei erhebliche r Arbeitslosenziffer , sicherlic h sinken . Aber all e Erfahrunge n aus früheren Krise n belehren uns darüber, daß die Sanierung nich t von einer universellen Lohnsenkun g ausgeht , sonder n da ß dies e nu r di e Begleiter ­ scheinung eine s noc h raschere n Preissturze s ist . Gerad e di e zögernd e Sen ­ kung der realen Kaufkraft de r Arbeiterschaft, de r Angestellten und Beamten, die gleichbleibende Kaufkraft de r Rentnerschicht und der Zinsbezieher ist es, die dem Markte eine Stütze bietet, zum allmählichen Verkauf der Lager führt und unter normalen Bedingungen - d . h . vor allem in politisch ruhige n Zei­ ten - neu e Investitionen, eine n neue n Aufschwun g vorbereitet . Was sehen wir heute? Wir sehen, daß die wichtigsten Basispreise unverän­ dert bleiben - da ß erst unter dem schwersten Druck die völlig unzulänglich e Senkung de r Kohlenpreis e u m 6 % zugesagt wurd e und daß der Eisenprei s noch immer als ein rocher de bronce unverändert besteht. Man muß sich all­ mählich klarmachen , wa s da s bedeutet : Da s Eise n koste t heut e au f de m Weltmarkt 8 0 M . un d weniger , müßt e i n Deutschlan d be i volle r Auswir ­ kung des Zolls (25 M. ) und der Fracht für Basis Oberhausen (5 M.)11 0 M . 221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

kosten, wir d abe r tatsächlic h z u dem Preise von 13 7 M . geliefert . Di e aus­ ländische Konkurrenz ist durch die Einbeziehung de s Handels in das Syndi­ kat, durch das - bishe r noch wirksame - Verbo t an den Handel, ausländisch e Produkte über ein bestimmtes Kontingent hinaus einzuführen, vollkomme n ausgeschaltet. Di e deutsch e Eisenindustri e liefer t als o a n da s Auslan d z u 80 M., si e gewährt auc h de r Exportindustrie ein e Rückvergütung, abe r der Inlandsabsatz, d . h . de r gesamt e Absat z a n da s Baugewerbe , di e Maschi ­ nenindustrie, erfolg t z u Preisen, die 71 % über dem Weltmarktpreis liegen ! Dies bei einem scharfen Rückgan g de r Produktion, be i schwindender Kauf ­ kraft au f de m Markte. Unte r „normalen“ , d . h . kapitalistische n Bedingun ­ gen wär e de r Eisenprei s scho n lang e außerordentlic h tie f gesunken , scho n lange hätte n di e Investitione n i n de r Basisindustri e aufgehört , umgekehr t wäre die verarbeitende Industrie weitaus leistungsfähiger geblieben , sie hätte ihre Preise reduzieren oder Gewinne erzielen können, welche der Einschnü­ rung ihre r Beschäftigun g entgegenwirke n würden . Di e Bindun g de r Basi ­ spreise aber schließt ja die rasche Anpassung an die geänderte Marktlage aus. Bei dieser Lag e wäre ein e energische Herabsetzun g diese r gebundene n un d geregelten Preis e notwendig . Stat t desse n schein t ma n ein e allgemeine un d gleichmäßige Senkung vo n Preisen un d Löhnen anzustrebe n - d . h . eigent ­ lich eine Hebung des Geldwertes. Wie soll diese - abgesehe n von einer gewis­ sen Erhöhung des Exports - di e Krise des inneren Marktes beheben? Insbe ­ sondere: Wi e wird de r Lohnabba u wirken ? Is t der Lohnabbau ei n Auswe g aus de r Krise ? Das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil wir ja in der Tat bereits einen sehr erheblichen Lohnabbau haben, ohne daß eine Erleichterung eingetrete n wäre. In den letzten Monaten wurden überall die Akkorde herabgesetzt, di e Zulagen übe r Tarife abgebaut , be i de n Arbeiter n sowoh l al s be i de n Ange ­ stellten. Überdie s mach t sic h überal l di e Tendenz bemerkbar , älter e Ange ­ stellte durc h jünger e z u ersetzen , dere n Bezüg e nac h de n Tarife n auc h be i gleicher Leistung erheblich niedriger sind. Es scheint mir fraglich, o b die an­ gestrebte oder zu erwartende Senkung der Tarifsätze den Unternehmern wei­ tere Ersparnisse bringen wird, die größer sind, als sie bereits im Rahmen der geltenden Tarifverträge erziel t wurden. Aber nehmen wir das selbst an. Wel­ che Wirkung würd e ein solcher allgemeiner, erhebliche r Lohnabba u haben ? Er wird ja heute mit dem Schlagwort der Kostensenkung begründet. Die Ko­ sten sind aber zum Teil auc h Preise. So sind die Eisen- und Ziegelpreise di e Kosten für den Bauunternehmer; de r Kohlenpreis ist ein wichtiges Elemen t der Eisenerzeugung , de r Eisenprei s ei n Kostenelemen t de r Kohlenproduk ­ tion usw. Würde n all e Kosten in diesem Sinne gesenkt, s o würden zwar di e Produktionskosten alle r Waren sinken, aber ebenso die Preise, insofern, al s alle Waren ja auch Kosten sind, - abgesehe n von den letzten Konsumgütern . Es sind abe r nich t dies e sachlichen Kostenelement e gemeint , sonder n que r durch di e ganze Produktion de r Lohn , d . h . als o der Preis einer Ware, de r Arbeitsleistung, di e nich t vo n Unternehmer n produzier t ode r angebote n 222 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

wird. Machen wir uns klar, welche Wirkungen eine solche Lohnsenkung ha­ ben könnte . a) Ein e Senkung de r Löhne schafft zunächs t überal l Gewinne , d . h . ein e Spanne zwischen de n Kosten und dem Preis. In jeder einzelnen Produktio n würde di e Gewinnspann e vo n de m Lohnantei l de r Produktio n abhängen . Erzeugungszweige mit hoher Lohnquote würden viel, andere mit niedrigerer Lohnquote wenige r profitieren . D a gerade die Basisindustrien, ζ. Β . Berg­ bau, mit einer hohen Lohnquote rechnen müssen, so würde deren Rentabili­ tät besonders rasch ansteigen. Die Fertigindustrie aber würde von dieser all­ gemeinen Lohnsenkun g eine n weitau s geringere n Nutze n ziehen . S o geh t schon gan z allgemei n gesehe n di e Wirkun g i n ein e falsche Richtung . Weiter: Da s Sinken de r Lohnsumm e bedeute t zunächs t sinkend e Nach ­ frage au f de m Markt e de r Konsumgüter , weiterhi n auc h sinkend e Erspar ­ nisse der Arbeiterschaft. Fasse n wir nur die Senkung des Konsums ins Auge, so müßt e di e Senkun g de r Löhn e soga r ein e weiter e Arbeitslosigkei t zu r Folge haben. Die weiteren Wirkungen hängen davon ab, was mit dem erspar­ ten Lohn geschieht. Wenn die Lohnersparnis lediglich dazu dient, die Liqui­ dität der Unternehmungen zu verbessern, wenn also die ersparten Beträge in Form von Kassenreserve n ode r Deposite n sic h niederschlage n würden , de r Notenumlauf entsprechen d sinken würde, so würde sich der Status der ein­ zelnen Unternehmungen verbessern, aber die tatsächliche Nachfrage auf dem Markte würd e sinken . Ein e günstig e Wirkun g de r Lohnsenkun g is t dahe r daran geknüpft , da ß di e freiwerdend e Kaufkraf t sofor t eine r Verwendun g zugeführt wird , s o da ß si e nicht nu r zu r Steigerun g de r Liquiditätsreserv e verwendet wird . Den n da s würd e j a ein e Verringerun g de r Umlaufsge ­ schwindigkeit de s Geldes, eine Fortsetzung ode r Steigerung de s Deflations ­ prozcsses bedeuten, als der sich die Krise monetär darstellt. Sofern die Defla­ tion einen kräftigen Aufschwun g vorbereitet , würd e sich auch die Lohnsen­ kung auswirken; aber es darf nicht vergessen werden, daß wir heute nicht ei­ nen ausschließlic h ökonomisc h bestimmte n Tatbestan d vo r uns haben, da ß vielmehr di e politisch e Unsicherhei t eine n große n Einflu ß hat . Gerad e di e politische Lag e wir d abe r durc h Lohnsenkungen , un d zwa r sowoh l durc h wachsende Unzufriedenheit de r Arbeiterschaft al s auch durch das Sinken der Kaufkraft au f dem Markte, verschärft un d damit die Wiederinvestition etw a ersparter Beträg e verzögert . S o bedeute t heut e Forcierun g de s Deflations ­ prozesses nicht Verbesserung de r Bedingungen fü r de n Wiederbeginn eine r neuen Konjunktur , wa s be i rei n ökonomische r Auswirkun g de r Fal l sei n könnte, sondern im Gegenteil eine wachsende Bedrohung mit all ihren Kon­ sequenzen. Zeichen dafür schon heute, daß selbst weitgehende Verflüssigun g des Geldmarkte s de n Zinsfu ß fü r langfristig e Anleihe n doc h nich t sinke n läßt. E s biete n sic h kein e Chance n fü r größer e neu e Investitionen , dahe r müßte der Zinsfuß eigentlic h sehr niedrig sein. Umgekehrt aber ist die Unsi­ cherheit noch größer, so daß wir heute wohl berechtigt sind, den hohen Zins223 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

fuß gan z überwiegen d al s Risikoprämi e be i neue n Investitione n anzuspre ­ chen. Wenn man sich heute bei Industriellen wi e bei Bankiers erkundigt, wofü r denn etwa entstehende Gewinne verwendet würden , in welchen Industrien , angesichts der sehr großen Überkapazität selbst an besteingerichteten Betrie­ ben, Investitione n i n Frag e kämen , s o kann ma n kein e befriedigend e Ant ­ wort erhalten . D a und dort möge n Verbesserungen i n Betrieben fälli g sein , aber ich habe nicht den Eindruck, da ß neue Anlagen größeren Stils heute ge­ plant werde n können . W o sollt e auc h de r Absat z fü r neu e Warenmenge n herkommen, di e schließlich al s Folge der Investitione n bal d auf de n Mark t kommen müßten ? Gelegentlic h begegne t ma n de r Meinung , di e Industri e würde eine reichlichere Kapitalversorgung benötigen , um ihre Abnehmer zu finanzieren. Da s heißt doch aber nur, daß fehlendes Kapital des Handels er­ setzt werden würde- mit anderen Worten, daß diese Überschüsse die Liqui­ dität des Handels erhöhen würden. Würde dieser aber größere Bestellungen machen können, al s er es heute tut, da ja doch die Kaufkraft au f dem Markte nicht wachsen würde ? Abe r selbs t wen n da s vorübergehend de r Fall wäre , würde die Auffüllung de r Lager bald wieder zur Einschränkung nötigen . So können wir als Folge dieser Überlegungen feststellen : Insowei t sic h die Er­ sparnisse a n Loh n nich t i n Investitione n umsetze n - un d dafü r sin d weni g Aussichten vorhande n - , kan n be i gleichbleibende n Preise n ein e Belebun g der Geschäftslage vo n der Lohnsenkun g nich t erwarte t werden . Würd e di e Lohnsenkung zwa r nich t z u Investitionen , abe r zu r Erhöhun g de s Unter ­ nehmerkonsums führen , s o würde nu r ein e Verschiebung i n der Kaufkraf t eintreten. Di e Nachfrage de r Unternehmer würd e insowei t nu r die verrin ­ gerte Nachfrage de r Arbeiterschaf t kompensieren . Abe r e s kann j a niemal s der Sinn einer Lohnsenkung sein , den Unternehmerkonsum au f Koste n de r Arbeiterschaft z u erhöhen . b) Geh t mit der Lohnsenkung ei n Preisabbau parallel, so verzichtet inso­ weit de r Unternehmer au f Schaffung ode r Erweiterun g de r Gewinnspanne . Am Betriebsergebnis änder t dies e Lohnsenkung dan n nichts. Der Realloh n des Arbeiters bliebe - be i gleich hoher durchschnittlicher Preissenkung - un ­ verändert. Hingegen würden alle übrigen Konsumentenschichten (z. Β . An­ gestellte, Beamte, Rentner) neue Nachfrage entfalten können. Dadurch wäre auch ein e Neueinstellun g vo n Arbeitskräfte n zweck s Erhöhun g de r Kon ­ sumgüterproduktion möglich . Hier würde sich also eine Steigerung de s Ab­ satzes, ein e bessere Ausnutzung de r Kapazität und auch damit schon Erhö­ hung de r Gewinn e ergeben . Diese r Proze ß setz t Preissenkun g vorau s un d setzt voraus, daß die übrigen Konsumentenschichten keine Einbuße an ihrem Einkommen erleiden . Wenn aber c) die Einkommenssenkung au f alle Schichten der Gesellschaf t übergreift, wen n auc h di e Gehälte r de r Angestellte n un d Beamte n sinken , wenn infolge de r Preissenkung auc h die Einkommen de r Produzenten, de r Händler usw. zurückgehe n un d wenn gleichzeitig di e Preise sinken, s o liegt 224 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nur ein e Geldentwertun g vor , di e am Gesamtzustan d de r Volkswirtschaft , soweit der innere Markt in Frage kommt, nichts Wesentliches ändern würde. Die einzig sichtbare und vielleicht auch erhebliche Wirkung wäre die Forcie­ rung de s Exports (infolge der sinkenden Preise). Wenn ähnliche Tendenzen aber in anderen Ländern Platz greifen würde n (hierfür sprich t die plötzliche Gehaltssenkung i n Italie n u m 1 2 % ) ode r al s Folg e de r deutsche n innere n Wirtschaftspolitik z u erwarte n wären , s o würd e i n de r ganze n Wel t da s Preisniveau sinken und der deutsche Export könnte keinen Vorsprung daraus gewinnen. d) Würde n di e Preis e stärke r gesenk t al s di e Löhne , s o würd e da s de m Verlauf eine r „normalen “ Kris e ehe r entsprechen. Leide r habe n wi r weni g Aussicht, daß dies geschieht. Eine durchgreifende Senkung der Preise würde die Lager rasch räumen und nach einer vorübergehenden Verlustperiode der Produktionsausdehnung eine n stärkere n Antrie b geben . So kommen wir auch bei Erörterung der Wirkung von Lohnsenkungen zu dem Resultat, daß die Überleitung zur Wiederbelebung der Konjunktur nur durch eine Preissenkung hindurch gefunden werden kann. Eine solche Preis­ senkung würde auch bei einigermaßen freier Konkurrenz schon längst einge­ treten sein, und zwar derart, daß die heute noch „geregelten“ Preise der Kar­ telle und Syndikate besonders schnell, di e Preise der Fertigindustrie langsa ­ mer sinken würden. Da s würde eine Neuverteilung, d . h . eine richtige Ver­ teilung de s Kapital s au f di e einzelne n Wirtschaftszweig e einleiten , dami t neue Investitionen ermögliche n un d einen Antrieb zur Weiterentfaltung de r Produktivkräfte geben . Heute allerdings hat sich die Volkswirtschaft, durc h die starke Stellung der marktbeherrschenden Wirtschaftszweige , i n eine Dis­ proportionalität festgerannt . Darübe r sind jetzt wohl nicht mehr viel Wort e zu verlieren . In der Entwicklung de r letzten Jahre ist ein Punkt außerordentlich wich ­ tig, de r noc h besonder s erörter t sei : di e Bedeutun g de s technische n Fort ­ schritts, insbesonder e di e Rationalisierung i n unsere n große n Industrien . Es erscheint mi r di e Tatsach e außerordentlic h bedeutsam , da ß sic h i n de n letzten Jahren die Arbeiterschaft in den fünf großen Hauptindustrien . . . gar nicht vermehrt hat. Di e steigende Produktionskapazität is t im wesentlichen also in der höheren Effzien z de s Apparates, i n der systematischen Auswer ­ tung de r Arbeitsleistun g begründet ; einzeln e Date n zeige n da s besonder s drastisch.

Steinkohlenbergbau Braunkohlenbergbau

Steigerung de r Anzahl de r Arbeite r Förderung 1913 1929 gegenüber 191 3 490000 517000 (+ 5 ½ % ) +1 6 % 59000 73 000 (+ 2 4 % ) + 10 0 %

Die Leistung pro Kopf der Beschäftigten ist also erheblich gestiegen, infol ­ gedessen blieb die Zahl der Beschäftigten fas t konstant, bzw. stieg viel weni225

15 Ledterer , Autsätz e

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ger rasch als die Produktion. Dahe r wäre es notwendig, u m Arbeitslosigkeit zu vermeiden , di e ne u zuwachsende n Arbeitskräft e i n neuen , i n andere n Produktionen unterzubringen . Gerad e das ist aber nicht gelungen. E s hätte im „normalen “ Proze ß der ökonomischen Entwicklung , wi e es die Theorie vorstellt, die absolute und auch die relative Verringerung der Arbeiteranzah l zu Ersparnissen führen müssen. So wären entweder durch Erzielung höherer Gewinne neue Kapitalien gebildet worden, deren Investition neuen Arbeits­ raum geschaffen hätte, oder es wäre durch Senkung der Preise der Absatz er­ höht worden. Di e oben erörterte n Unterschiede i n der Rentabilität de r ein­ zelnen Wirtschaftszweige führte n abe r gerade zu falschen Investitionen , di e nur das Weiterarbeiten älterer Betriebe unmöglich machten, ohne den Arbei­ terbedarf selbs t zu erhöhen. In dem System der Selbstfinanzierung wurd e ja in de n große n Wirtschaftszweige n di e Kapitalintensitä t ständi g gesteigert , eine Übertragung de r neugebildeten Kapitalie n au f neue Betriebe oder neue Industrien ka m nu r i n geringe m Umfan g i n Frage . Welchen Hemmunge n de r kapitalistisch e Produktionsproze ß be i de r ra ­ schen Durchführung technische r Fortschritt e bei gleichzeitiger rasche r Stei­ gerung des Angebots au f dem Arbeitsmarkt unterliegt , is t noch nicht völli g aufgehellt. Sovie l zeigen uns aber die Erfahrungen de r letzten Jahre, daß wir eine automatische und rasche Kompensation auf dem Arbeitsmarkte schwer­ lich annehmen können. Hier hat die Übertragung des Gleichgewichtsgedan ­ kens in die dynamische Wirtschaft ein zu einfaches und zu harmonisches Bild vorgetäuscht.

Strukturveränderungen sin d nötig Die Schaffung de r großen Organisationen i n der modernen deutschen Wirt ­ schaft, di e Verwandlun g de r private n Betrieb e i n Aktiengesellschaften , di e Zusammenfassung de r großen Werke in Konzernen und Kartellen hatte aber noch ein e andere bedeutsam e Konsequenz : De r leitend e Körpe r de r Indu ­ strien hat sich gegenüber dem Zustand vor dem Kriege sehr wesentlich ver ­ ändert. E s sind nich t nu r di e direktoriale n Stäb e i n de n große n Betriebe n überall vergrößert worden, es sind nicht nur die Bezüge der Direktoren heute viel höher als bei gleiche r Funktion un d Leistung vo r dem Kriege , sonder n die große n Einkomme n de r Generaldirektoren , selbs t kleinere r Werk e schließen ja, bei gleichzeitiger scharfer Konkurrenz der Großorganisationen, das Entstehen selbständiger Unternehmer beinah e aus. Wer will heut e noch selbständiger Unternehme r werden , u m unter schwierigste n Verhältnissen , bei einem großen Kapitalrisiko schließlich geringere Erwerbschancen z u ha­ ben als ein Direktor mit Bezügen von 15 0 000-200 00 0 M. ? E s wird imme r behauptet, daß die Sozialversicherung di e Bereitschaft lähme , Risiko auf sich zu nehmen. Allerdings: Der Arbeiter wird nicht gefragt, o b er ein Risiko tra226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

gen will. In der Arbeitslosigkeit muß er es auf sich nehmen, er sieht dem Tage mit Bangen entgegen , a n dem er ausgesteuert wir d un d auf die Wohlfahrts­ fürsorge angewiesen bleibt. Hingegen hat die Bürokratisierung und die damit verbundene Schaffun g zahlreiche r glänzen d dotierte r Positione n de n selb ­ ständigen Unternehmer heute zu einer seltenen Erscheinung gemacht. Breite Führerschichten der kapitalistischen Wirtschaft sind in Beamtenpositionen der Sicherheit , nich t de n Bezügen nac h - eingerückt . Da s allerding s is t ein Widersinn sondergleichen und verstößt gegen das Lebensgesetz der kapitali­ stischen Wirtschaft , di e mit einem breiten selbständigen Unternehmerstan d groß geworden ist. Vergleichen wi r aber die heutige Lage mit dem Deutsch­ land de r 1860e r Jahr e ode r de m Zustan d nac h de r Reichsgründung : We r würde heute den Mut haben und wer würde auf dem Kreditmarkte das Ver­ trauen finde n können , ei n selbständige s Unternehme n aufzubauen ? Dami t ist aber indirekt di e Notwendigkeit gegeben , di e Gewinne immer wieder in die alten Industriezweige zu investieren. Schossen ehedem in einer Konjunk­ tur die neuen Betriebe wie Pilze aus dem Boden, so strömen heute alle Mittel in die bereits ausgegrabenen Kanäle. Jedenfalls ist der Anteil neuer Industrien verhältnismäßig gering , un d die Elastizität de s Arbeitsmarktes ist so schwä­ cher al s si e je war . Nun finden wir eine gewisse Gegenbewegung zur Wiederherstellung eine r freien Atmosphäre , insbesonder e der unterbrochenen Verbindungen inner ­ halb des Weltverkehrs. De r Völkerbund bemüh t sic h seit einigen Jahren i n denVerhandlungen seine s Wirtschaftskomitees, di e überhöhten Zollmauern abzutragen, di e Schaffung neue r Hemmungen z u verhindern. Abe r die Ab­ sichten au f Abschluß wenigsten s eine s Zollwaffenstillstands ließe n sich bis ­ her nicht verwirklichen. Wenngleich die ganze Welt davon überzeugt ist, daß die hoch aufgetürmten Verkehrshinderniss e letzte n Ende s allen schaden , so sind die Gegner gewissermaßen so ineinander verrannt, daß niemand den er­ sten Schritt zurück tun will. Überdies sind ja innerhalb jedes Wirtschaftskör­ pers mindestens einig e Interessentengruppe n a n der Aufrechterhaltun g de s bisherigen Zustandes interessiert und vermögen diesem Interesse unter Hin­ weis auf die Schutzzollmauern der Auslandsstaaten Nachdruck zu verleihen. Gerade jetzt sind es die Interessen der Agrargebiete wie der Basisindustrien, welche für Zentraleuropa di e Überwindung de s heutigen, auf die Dauer un­ möglichen Zustande s derar t erschweren . Auc h di e Vereinigten Staate n op ­ fern de m Phantom des geschlossenen innere n Marktes ; ohne zu sehen, da ß auch ihre Abhängigkeit vom Weltverkehr ständig wächst. Es ist heute schwer zu sagen , wesse n Handelspoliti k di e größte n Hemmniss e fü r eine n freie n Verkehr auftürmt - o b die der Vereinigten Staaten mit der riesenhaften Über ­ höhung ihre r Industriezöll e ode r di e Deutschlands . Gelte n wi r doc h mi t Recht seit einigen Monaten besonders bei unseren nordischen Nachbarn und auf dem Balkan als die handelspolitischen Störenfriede , di e sich gerade noch in den Grenze n de r Verträge halten, wen n ma n diese nur weitherzig genu g auslegt, i m übrigen aber kein Mittel unversuch t lassen , um direkt und indi227 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

rekt alle die Voraussetzungen zu zerstören, unter denen diese Verträge abge­ schlossen worde n waren . Ist durch die handelspolitische Spannung die Stimmung an sich verdüstert, so kann man schwerlich erwarten, da ß eine lebhaftere Kapitalbewegun g de n notwendigen Ausgleic h de r verschiedene n ökonomische n Niveaudifferen ­ zen herstellt. Den n jede Kapitalinvestition i n einem anderen Land setzt sich ja schließlich i n Importe des kapitaleinführenden Lande s um. Werden dies e aber durch Zölle und Einfuhrverbote gehindert , s o mindert sich der Vorteil, den man von Kapitaleinfuhren erwarte n kann. Heute aber ist es so, daß nicht einmal di e mögliche n un d erwünschte n Kapitalwanderunge n stattfinde n können. Um diese zu befördern, ma g es für die Zukunft bedeutsa m werden , daß die Β. Ι . Ζ. , die Bank für internationale Zahlungen in Basel offenbar eine Ausdehnung ihre s Geschäftsverkehr s vorbereitet , inde m si e al s Zwischen ­ stelle, gewissermaßen al s Vermittler zwischen den Kapitalmärkten auftrete n kann. Leidet doch neben vielen anderen Hindernissen der internationale Ka­ pitalmarkt heut e daran, da ß die Länder mit Kapitalüberflu ß un d niedrige m Zinsfuß vielfach nicht nur in Verlegenheit sind, ihr Kapital im eigenen Lande anzulegen, sonder n auc h wede r übe r di e persönlichen Verbindunge n noc h über die sachlichen Kenntniss e verfügen, u m es in aussichtsreichen Anlage n zu placieren . Konkret : De r französisch e Kapitalmark t kenn t de n Balka n nicht, währen d der Wiener Platz immer noch gute Verbindungen dahi n hat , aber nicht über Kapital verfügt . Komm t hinzu, da ß die Balkanvölker deut ­ sche Ware n fü r de n aufgenommene n Kredi t kaufe n möchten , s o is t ein e Kooperation diese r dre i Gebiet e untereinande r erforderlich . Di e Β. Ι . Ζ . hätte in sich alle Vorbedingungen, u m eine solche Kooperation z u ermögli ­ chen. Wolle n wi r i m Interess e eine r engere n wirtschaftlichen Verflechtun g Europas hoffen , da ß dies e Möglichkei t bal d verwirklich t wird . Wir sehe n aber , da ß alle diese internationale n Organisatione n bishe r nu r schwache Ansätze zu entwickeln vermochten. Bedeutsamer erscheint mir die Tatsache, da ß die Regierungen de r europäischen Staaten , durc h die Not ge­ drängt, ein e Erschütterun g de s unhaltbaren , di e Kris e verschleppende n Preissystems versuchen . Damit übernehmen die Regierungen nunmehr die Aufgabe, di e zur Liqui ­ dation der Krise entscheidenden Schritt e zu erzwingen. Da s ist ein außeror ­ dentlich wichtige s Symptom: De r Automatismus de r kapitalistischen Wirt ­ schaft versagt . Di e partial e Organisatio n de r Produktio n i n Kartelle n un d Trusts, die Fixierung der wichtigsten Preise, hat die Entwicklung der Waren­ erzeugung gelähmt , di e Aufsaugung de r Arbeiterschaft i n neuen Industrie n und das Ansteigen des Sozialprodukts gehindert. Damit hat aber der Kapita­ lismus seinen Sinn verloren. Wenn er der Anpassung der Preise an die Markt­ lage und damit wieder der Anpassung der Produktionsverhältnisse an die Er­ fordernisse der Gesellschaft nich t mehr den genügenden Spielraum läßt — wie soll e r dan n di e Kris e überwinden ? D a die kapitalistische Wirtschaf t kein e Planwirtschaft ist , müsse n di e Grundbeziehunge n de r einzelne n Produk 228 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

tionsstufen gewissermaße n ständi g flüssig sein , damit sie, ständig leicht ver­ änderlich, elastisch , de n sic h wandelnde n Bedingunge n angepaß t werde n können. Die partialen Organisationen aber fixieren die Quantitäten der Pro­ duktion wi e di e Preis e un d steiger n di e Verluste de r Gesamtwirtschaf t da ­ durch, daß sie dieselben auf die Felder der freien Konkurren z abwälzen wol­ len. Das Nachlasse n de r Unternehmertätigkei t mu ß ebens o nachdenklic h stimmen wi e di e Starrhei t i m Beschäftigungsgra d de r große n Industrien . Wenn di e modernsten , größte n Industrie n eine n sic h verengende n Nah ­ rungsspielraum darbieten, wie sollen in ihnen neue Unternehmer, wi e sollen in ihne n neu e Arbeiterexistenzen Bode n finden ? Auc h außerhal b de r „älte ­ ren“ Industrie n biete t sic h weni g Rau m - di e obe n erwähnte n Umständ e hemmen woh l stärker, al s man noch vor kurzem vermuten durfte, da s Ent­ stehen neuer Unternehmungen. Ist es nicht bezeichnend, daß in England so­ wohl al s in Deutschland de r einzige Wirtschaftszweig , i n dem die Zahl de r Beschäftigten sowoh l als die der Betriebe rasch wächst, der Handel ist? Und zwar der Kleinhandel, also gerade ein nichtkapitalistischer Wirtschaftszweig , der kleine Laden, eingestellt auf die Bedürfnisse der engsten Nachbarschaft ? Liegt darin nicht eine Paradoxie sondergleichen, da ß im Handel und in eini­ gen Zweigen des Gewerbes (in einzelnen Reparaturgewerben) heute die Zu­ fluchtsstätte de s „Unternehmers “ liegt ? Aber nicht nur in Deutschland, auch in England sehen wir dieses Erlahmen der Unternehmertätigkeit. De r Industriekörper ist in England viel älter als in Deutschland. Di e Traditio n spiel t noc h ein e groß e Rolle , viel e Unterneh ­ mungen mögen sich dadurch halten, daß sie alt sind, daß sie einen gesicherten Kundenkreis haben . Au f de r ander n Seit e is t gerad e de r konservativ e Zu ­ schnitt de m Entstehen neuer Unternehmungen i n England selbst nicht gün­ stig. Da überdies die Handelswege in die ganze Welt führen, sei t jeher ein er­ heblicher Teil der englischen Unternehmerenergien nac h Übersee ging, so ist auch heute die Tendenz unverkennbar, ehe r diese Außenpositionen de r eng­ lischen Volkswirtschaft z u halten und auszubauen, al s den Wirtschaftsrau m in England selbst zu verbreitern. Auch in England wirkt also der Automatis­ mus nich t meh r prompt . Wenn abe r i n de r kapitalistische n Wirtschaf t - auc h au s ökonomische n Gründen - di e Antriebskräft e erlahme n un d de r Automatismu s nu r meh r knarrend un d schwerfälli g funktioniert , dan n wir d de r Druc k de r relative n Übervölkerung, insbesonder e aber der Druck, de r aus dem veränderten Al ­ tersaufbau de r Bevölkerun g au f de n Arbeitsmark t geüb t wird , übermäßi g groß. De r Kapitalismu s bewältig t nich t meh r die ihm von der Entwicklun g gestellten Aufgaben . Nicht , wei l sein e Produktivkräft e erlahm t sind , auc h nicht, wei l der Anteil der Konsumenten, insbesonder e der Arbeiter, a m So­ zialprodukt z u gro ß geworde n wäre , sonder n wei l di e ih m eigentümliche n Kräfte de r Produktionsausdehnung , de r Unternehmungstätigkeit , de r ra ­ schen Anpassung an geänderte Marktlagen gehemmt sind. Aber gehemmt aus 229 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

einer spontanen, kau m vermeidbaren un d schwerlich umkehrbare n Gestal ­ tung de r Unternehmungsformen , di e au f partial e Organisatio n hindräng t und gerade dadurch den Lebensspielraum derjenigen Wirtschaftszweige ein ­ engt, deren rasches Wachstum allei n der Krise, insbesondere der Arbeitslo­ sigkeit entgegenwirke n könnte . Damit ist aber der Augenblick nahegerückt, in dem eine planmäßige Ord­ nung der gesellschaftlichen Produktivkräft e unvermeidba r wird. Ein e solcht ist heut e - al s Aufgab e - durchau s lösbar . Wi r habe n eine n genügende r Überblick übe r die Produktivkräfte; wi r kennen die Bedürfnisse de r Bevöl­ kerung, wir verfügen über die Mittel, den Produktionsaufbau z u fördern, wü kennen den Mechanismus der Produktion und der Reproduktion, di e Rolle welche die Verteilung des Kapitals in Betriebs- und Anlagekapital spielt , wir kennen die Bedeutung des Wachstumstempos eine r Volkswirtschaft un d di< neuen Aufgaben , di e sich unse r Produktionskörpe r stelle n könnte . Es ist zwar richtig, daß , grundsätzlich gesprochen , di e Krise der kapitali­ stischen Wirtschaft auch durch kapitalistische Mittel behoben werden könnte - abe r doch nu r eben könnte , wen n di e kapitalistischen Mitte l angewende t werden würden . Dies e Mitte l sind : Entwertun g de r z u große n Kapitalien , Vernichtung des Zinsgenusses und der Gewinnansprüche aus Fehlinvestitio­ nen durch Wiederherstellun g de r „richtigen “ Preisrelationen . Wi e aber soll das durchgesetzt werden in einem Wirtschaftssystem, da s sich durch falsch e Organisation desorganisier t hat ? Wi e solle n di e Marktgesetze zu r Geltun g kommen i n einem Wirtschaftssystem, desse n mächtigst e Produzentengrup ­ pen sich zusammengetan haben, um die Marktgesetze für sich auszuschalten ? Nun glaube ich ja nicht, daß ein ursprünglich vorhandenes Erbgut des dy­ namischen Kapitalismu s an geistigen und Willensimpulsen allmählic h aufge ­ braucht sei und wir deshalb an einer Wende stünden. Sondern es sind die dem Hochkapitalismus immanente n Tendenzen , di e sein e Elastizität , sein e Fä ­ higkeit zu r Anpassun g geschwäch t haben . Unser e Wirtschaf t is t heute ein e fixierte Wirtschaf t ohn e Plan, und demgemäß ist der Kapitalismus selbst un­ sicher geworden; deshalb bietet er so wenig Spielraum für Initiative, deshal b ist e r den Aufgabe n de r Liquidatio n diese r Kris e kau m gewachsen . Die Angestellten un d Arbeiter, di e in der kapitalistischen Wirtschaf t ver ­ haftet sind , di e Armeen de r öffentliche n Angestellte n un d Beamten , dere n Existenz auch von der Wirtschaft heut e abhängiger ist als je zuvor, alle diese Massen müsse n heut e di e Strukturfehle r diese s gigantische n Apparate s er ­ kennen. Allerdings: In der Gegenwart sind diese großen Schichten sowie die Masse der kleine n Gewerbetreibende n un d Kaufleut e durc h di e schwere No t de s Alltags desorientiert. Sie verrennen sich in eine Desperadostimmung, si e sind mit pseudorevolutionären Ideen geladen, aus denen nur der Wille zur Zerstö­ rung heraustönt, i n denen sich kei n konstruktive r Gedank e entfalte n kann . Trotzdem so die nichtkapitalistischen Schichten, in ihren politischen Instink ­ ten verwirrt, de r Einsicht in die sehr verwickelten Zusammenhäng e erman 230 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

geln, trotzdem sie, in die verschiedensten Lage r gespalten, sehr leicht gegen­ einander ausgespiel t werde n können , wächs t doc h di e Überzeugung i n im­ mer breitere n Massen , da ß es heute um die Grundfragen unsere r Sozialver ­ fassung geht: ob wir eine willen- und wehrlose Masse werden wollen, ausge­ liefert de r Willkür des kapitalistischen Apparates , der nicht einmal mehr von seinen Führern gelenkt werden kann, oder ob wir imstande sind, als Volk un­ ser Schicksal, unser wirtschaftliches un d damit unser Lebens- und unser kul­ turelles Schicksal in die eigne Hand zu nehmen und es zu lenken. Ob wir die politische Demokrati e festhalten un d in ihr zu einer wirtschaftlichen Selbst ­ regierung gelange n können . Das mach t sic h nich t vo n selbst . Wi r glaube n heut e nich t meh r a n ein e zwangsläufige Entwicklun g - viel e von uns haben nie daran geglaubt - etw a derart, daß „die Verhältnisse“ ohne unser Zutun das Schicksal unseres Volkes und Europas gleichsam von selbst schließlich auf eine sinngemäße Bahn hin­ lenken würden. Wen n Marx noch im Konzentrationsprozeß direk t und un­ entrinnbar scho n die gesellschaftliche Wirtschaf t vorgebilde t sah , s o wissen wir heute, daß wir bis dahin noch zahlreiche Etappen, zahlreiche Gefahren ­ zonen z u überwinde n haben . Unse r Schicksa l müsse n wi r selbs t gestalten , diese Aufgabe nehme n un s „di e Verhältnisse“ un d nimm t uns „di e Revolte der Produktivkräfte“, di e wir jetzt wieder erleben, nich t ab. Die Erkenntnis kann un s nur die Richtung weise n - si e erspart uns nicht, selbst vorwärts zu dringen. In diese n Woche n tiefe r Depressio n dürfe n wi r de n Mu t nich t verliere n und nich t die Besinnung, müsse n di e kühle Vernunft behalte n un d die Lei ­ denschaft de s Willens, denn wir sehen den Weg, de n einzigen Weg , de r aus der Wirrni s führt .

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13. Ha t der Kapitalismus versagt? Notwendigkeit un d Schwierigkeit de r Planung (1934 ) Ob der Kapitalismus versagt hat, ist eine Frage, die sich nicht mit einem ein­ fachen Ja oder Nein beantworten läß t - nicht , weil die Frage sinnlos sei oder eine Antwor t unmöglich , sondern , wei l e s fü r di e Frag e kein e kurz e un d leichte Lösung gibt. Man braucht hier eine Analyse, die ermüdend auf Leute wirkt, di e vo n de n Sozialwissenschafte n di e Produktio n eingängige r For ­ meln, süße r und bequem zu schluckender Pille n gegen alle Übel verlangen . Der Kapitalismus ist aber das Ergebnis eines komplizierten und langwierigen Prozesses un d läß t sic h nich t mi t eine m Wor t abhake n . . . Die Interessen des Handels, der Seefahrt und zu einem späteren Zeitpunkt der Industrie waren es, welche endlich die alte Ordnung des Mittelalters zer­ störten un d de n Staa t daz u brachten , de n Kamp f starke r Individue n gege n eine erstarrt e un d verfestigt e Traditio n z u führen . Au s diese r Attack e er ­ wuchs ein neuer Staat, der auf einer neuen Ökonomie und einer neuen Sozial­ struktur basierte . Doch bedeutet e diese Sprengung mittelalterliche r Fessel n noch keine Freiheit im Sinn etwa des 18. Jahrhunderts. E s handelte sich zu­ erst einmal um Freiheit für vom Staat privilegierte Monopole, einen feudalen Kapitalismus, der sich auf die Abenteuer der Entdeckung einließ, einen küh­ nen un d kämpferische n Kapitalismus , de r sein e Profit e au s de r Eroberun g unentwickelter fremder Länder zog, aus dem Krieg. E r kümmerte sich über­ haupt nicht um die soziale Frage, und die Verbesserung des Lebensstandards war nicht seine Aufgabe. De r Reichtum der Nation war nicht der Reichtum oder die Kaufkraft de r Massen. Ganz im Gegenteil schien extreme Armut das notwendige Gegenstück zum nationalen Wohlstand zu sein. Erst später ent­ wickelte de r Kapitalismu s di e Ideale der individuellen Freiheit , de s Huma ­ nismus, de r Achtung der Rechte der Person, die das Wesen der Demokratie ausmachen. Die während der sogenannten industriellen Revolution entstan ­ dene ökonomische Theorie verband sich von ihren allererste n Anfänge n a n mit Vorstellunge n vo n vollkommene r gesellschaftliche r Harmonie . Si e er ­ öffnete die Aussicht auf eine internationale Ordnung auf der Grundlage einer gemeinsamen Währung , de s freie n Handel s un d de r freie n Bewegun g vo n Bevölkerung un d Kapital. Dies e Ordnung würd e die Bedeutung de r Staats­ grenzen allmählic h reduziere n un d sie schließlich gan z beseitige n un d alle n Menschen einen anständigen Lebensstandar d verschaffen, wen n erst das nö­ tige Kapita l akkumulier t un d all e Produktivkräft e au f de r Basi s moderne r Technik entwickelt wären. Dieser Prozeß spiegelte sich im Zeitgeist als intel­ lektuelle Freiheitsbewegun g wieder . 232 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Aber de r Kapitalismu s ha t diese s Idea l nich t realisiert . Stat t desse n sin d heute wiede r all e Ziele umkämpft, di e zu Begin n da s Prinzip de s Kapitalis­ mus ausmachten , insbesonder e persönlich e un d politische Freihei t un d der Freihandel, gena u das Fundament de r Idylle, au f die einmal die Menschheit ihre Hoffnungen gesetzt hatte. Sind daran die Kapitalisten schuld? Was ist die Wurzel unsere r jetzigen Situation, i n der die Menschheit inmitten von Fülle und Reichtu m vo n eine r soziale n Katastroph e bedroh t un d nich t imstand e ist, di e vo n ih r selbs t aufgebaut e Maschineri e z u handhaben ? Ich glaube nicht, da ß der Kapitalismus aus einem Mangel an moralischem Antrieb versagt hat. Vielmehr dauerte es bis zum Zeitalter des Kapitalismu s und de r dami t zusammenhängende n Entstehun g eine r neue n Mußeschich t [leisure class] , da ß ei n wirkliche r Humanismu s un d ei n gesellschaftliche r Idealismus aufkamen : Diese r billigt e allen Mensche n da s Recht auf ein e er­ trägliche Existenz zu, trat für die Sache der aus welchen Gründen auch immer Unterdrückten ei n un d wa r zu m Kamp f u m die Freiheit soga r dann bereit , wenn es dem materiellen Interesse der Idealisten selbst zuwiderlief. De s wei­ teren konnten sich komplexe Sensibilität, Verständnis für die Natur und Di­ mensionen de s Gefühls , di e fü r de n moderne n Mensche n kennzeichnen d sind und die Grundlage des modernen Humanismus darstellen, erst mit dem Aufstieg de s Bürgertums herausbilden; dieses machte eine Feinheit des Erle­ bens allgemein, die in der vorkapitalistischen Zei t auf die engen Kreise einer Gesellschaft de r Vornehme n un d Künstle r beschränkt gewese n war . Kur z gesagt, die allgemeine Achtung vor dem Menschen ist eine neue Einstellung, und sie konnte sich erst auf der Grundlage der kapitalistischen Ordnung her­ ausbilden. Be i de r Beurteilun g de s Kapitalismu s wär e e s nich t fair , diese n Aufstieg ethische r Empfindunge n un d Norme n z u übersehen . Der Aufstieg de s Kapitalismus bedeutete jedoch die Schaffung eine s riesi­ gen Apparates, in dessen Diensten der einzelne gefesselt ist. Für unabhängige Entscheidungen bleib t weni g Raum ; di e Mensche n müsse n di e Arbei t an ­ nehmen, di e ihnen da s Wirtschaftssystem, w o auc h imme r un d i n welche r Form auc h immer , anbietet . Selbs t be i Angestellte n un d Wissenschaftler n hängt die Zahl, i n der sie gebraucht werden , un d die Art der Arbeit, di e sie verrichten können , gan z davo n ab , wa s hergestell t un d verkauf t werde n kann. Die riesige Organisation moderner Unternehmen macht es hoffnungs­ los, daß sich ein Mann allein auf den Weg macht und für sein eigenes Geschäft kämpft, wi e er es vor fünfzig Jahre n besonder s in diesem Land [USA] noch hätte tu n können . Paradoxerweis e wir d de r Staat, de r anfangs i m Interess e der Freihei t de s einzelnen aufgeforder t worde n war , de n Kapitalismu s sic h selbst zu überlassen, heute im Interesse der Freiheit des einzelnen zur Inter­ vention un d zu r Rettun g de r Freihei t vo r de n automatische n Kräfte n de r Wirtschaft aufgefordert . Doc h ist der Staat selbst schon nur die Konzentra ­ tion der wichtigen soziale n Kräft e und darum im Griff derselben anonyme n Mächte, gege n di e z u handel n e r aufgerufe n wird . De r Staa t kan n diese n Kampf nu r insofern lenken , al s die öffentliche Meinun g von einem erneuer233 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ten Idea l ökonomischer Freihei t durchdrungen un d verändert wir d un d zu­ gleich politisch e Mach t entwickelt , u m e s zu verwirklichen . Diese neue Schlacht für di e Freiheit, fü r das Leben des einzelnen un d die Unabhängigkeit, is t kein Kampf zwischen zwei Typen von Menschen, Wirt ­ schaftstyrannen einerseit s und Freiheitsaposteln dagegen. Es gibt viele Kapi­ talisten, sogar Großunternehmer, die mit dem Kampf des kleinen Mannes auf der ganzen Linie sympathisieren. De r gegenwärtigen ökonomischen un d so­ zialen Krise liegen die Strukturwidersprüche innerhal b des Kapitalismus zu­ grunde. Di e modern e Produktio n basier t au f de r moderne n Technik , di e moderne Technik verlangt riesige Investitionen, da s investierte Kapita l muß sich verzinsen und zusätzlich die Kosten der Wertminderung wieder einbrin­ gen. Dieser Vorgang ha t zwei nötige Bedingungen: ausreichende n Zuwach s der Kaufkraf t de r Konsumenten, u m den ständig anwachsende n Stro m von Gütern z u absorbieren , un d - fü r di e Produzente n - ein e ausreichend e Spanne zwischen Preisen un d Kosten , mit anderen Worten zwischen Erträ ­ gen und Löhnen. Ein solches kompliziertes und empfindliches Syste m funk ­ tioniert nur dann, wenn Sicherheitsventile vorhanden sind, etwa Auslandsin­ vestitionen ode r vielversprechend e Chance n fü r neu e Investitione n i m In ­ land, ζ. Β . angesichts einer wachsenden Bevölkerung oder in neuen Industri­ en, so daß die Inlandskaufkraft verstärk t werden kann. Selbst unter den gün­ stigsten Bedingungen ist der Produzent jedoch kein freier Mann; er muß den Geboten seines Unternehmens folgen und ist im Kampf um seine kurzfristi ­ gen Interessen und um seine Existenz überhaupt gezwungen, sich den Inter­ essen de r Arbeite r un d of t auc h dene n de r Verbraucher entgegenzustellen . Daher kommt die soziale Spannung, die alle Zeiten schlechten Geschäftsgan ­ ges charakterisiert, un d das ist der Grund der verbitterten soziale n Schlach ­ ten, in denen sich Produzenten und Arbeiter gegenüberstehen, ohne eine Lö­ sung z u finden . In der heutigen Situation ist angesichts der Inflexibilität de r Preise und der Produktion un d der gefährlichen Unfähigkei t z u schnellen Anpassungen di e Meinung geäußer t worden , da ß Zolltarif e un d Gesetze , di e kapitalistisch e Monopole begünstigen ode r zumindest ermöglichen , eine n besonder s scha­ denbringenden Fakto r darstellen . Di e schlimmen Auswirkunge n de r Zöll e sollen nich t verharmlos t werden ; Tatsach e bleib t aber , da ß auc h ohn e ihr e Hilfe di e Entwicklungstenden z au f ein e rapid e Kapitalkonzentratio n un d eine wachsend e Annäherun g zwische n große n Unternehme n hinläuft . Da s wird scho n bei de n großen internationale n Kartelle n deutlich . Un d ähnlic h verhält e s sich mi t dem Verbot ode r der gesetzlichen Regelun g de r Kartell e und Trusts: ein Milieu der freien Konkurrenz läßt sich dadurch nicht wieder­ herstellen. Die Konsequenz der Zölle und privaten Monopole, de r Imperia­ lismus, de r die größte Gefah r fü r di e Freiheit de s Individuums darstellt , is t nicht nu r ei n Produk t ökonomische r Umstände ; e s ist abe r unvorstellbar , daß sic h de r Imperialismu s ohn e de n Beistan d de r tatsächliche n ode r ver ­ meintlichen Interesse n de r Großwirtschaf t entwickel t hätte . 234 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Angesichts de r Richtung , di e de r technisch e Fortschrit t i n de n letzte n Jahrzehnten eingeschlage n ha t un d angesicht s de r Ergebnisse , di e au s de r Großwirtschaft un d de r Kapitalkonzentratio n mi t Notwendigkei t folgen , sehe ich die einzige Möglichkeit zur Sicherung des modernen Wirtschaftssy ­ stems vo r Panike n un d z u seine r Rettun g vo r de n katastrophale n soziale n Folgen des wiederholten Zusammenbruchs in der Errichtung eines angemes­ senen Planungsapparats. Das kann nur durch Institutionen geschehen, die als Zentrum eine r neue n Wirtschaftsstruktu r un d al s Übungsplat z fü r di e zu ­ künftigen Männe r der Wirtschaft diene n können. Solche Institutionen, etw a die Zentralbanke n un d staatliche n Eisenbahnen , Industrie n un d Versor ­ gungsunternehmen, entwickel n sich schon seit Jahrzehnten; sie können jetzt als de r Ker n fü r di e neue n Planungsbemühunge n verwand t werden . Ihr e Führungskräfte und Beamten gehören aus der ganzen Natur ihrer Arbeit her­ aus nicht zum Typus der alten Individualisten; sie müssen notwendigerweis e in Begriffen de s Gesamtsystems denken und mit den Problemen der Planung vertraut sein. Unter einer solchen Leitung können derartige Institutionen un­ sere Gesellschaf t au f ein e neue Wirtschaftsordnun g zuführen . Sicherlich würd e ei n solche r Versuch , ei n geplante s Wirtschaftssyste m aufzubauen, au f ernste Schwierigkeiten stoßen . Der Kapitalismus beruht auf dem private n Eigentu m i n de r Wirtschaft , un d di e Unternehme r werde n wohl nich t au s Altruismu s bereitwilli g di e Verluste hinnehmen, di e in de n Entscheidungen de r Planungsbehörd e implizier t sei n mögen . Natürlic h er ­ leiden Unternehme r auc h ohn e di e Interventio n vo n Planun g of t schwer e Verluste - durc h di e Entscheidunge n andere r Unternehmer , di e sic h ihre r Kontrolle entziehen . Di e kapitalistische Wirtschaf t ha t ihre Friedhöfe, un d sie sind vol l vo n Opfer n de s technischen Fortschritts , de r Überinvestition , der plötzlic h sic h ändernde n Mod e un d de r verhängnisvolle n Konjunktur ­ entwicklung. Doc h gehöre n i n unsere m jetzige n Wirtschaftssyste m solch e Opfer dazu; weil ihr e Ursache anonym ist , kann kein einzelner verantwort ­ lich gemacht werden, wogege n i n einer geordneten Wirtschaft Verlust e und Unannehmlichkeiten de r Planungsbehörde zu r Last gelegt werden können . Es ist auch nicht nur eine Frage der Verluste. Sollte die Planungsbehörde sich zur Abbremsung eine s schnellen wirtschaftlichen Wachstum s entscheide n und so etwas wäre eine ihrer Hauptaufgaben - , wäre n nich t nur die Unter­ nehmer Gegne r diese r Aktion , sonder n auc h di e Arbeiter , wei l di e Löhn e während des Aufschwunges nich t so schnell wi e ohne die Intervention stei ­ gen würden. Bei solchen Entscheidungen muß die Planungsbehörde ihr Pro­ gramm mi t außerordentlicher Sorgfal t vorbereite n un d sich versichern, da ß die öffentliche Meinun g zu seiner Annahme bereit ist. Das ist aber nicht un­ möglich, Angesichts der Konzentration von Macht und Wissen in der Verfü­ gungsgewalt des modernen Staates kann die Öffentlichkeit durc h einen fort­ währenden tiefgehende n Erziehungsproze ß zu m Verständnis der Planungs­ ziele gebracht werden . Au f dies e Weise müßten auc h sowoh l Unternehme r als auch Arbeiter über die Notwendigkeit belehr t werden, die Produktion in 235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

guten Zeiten so zu regulieren un d zu kontrollieren, da ß Baisse und Zusam­ menbruch vermiede n werden , di e sowies o all e Erträg e zunicht e mache n würden. Je mehr Industrien aber erlaubt wird, ihren eigenen Weg zu gehen, desto größer ist die Gefahr einer Störung der Ordnung. Darum ist es wesent­ lich, daß die Struktur der Planung es ermöglicht, ungebundene n und gefähr­ lichen Bewegungen der privaten Aktivität Grenzen zu setzen und gleichzeitig der Wirtschaft hinreichend e Freiheit für die weniger zentralen Entscheidun ­ gen z u lassen . Bis jetz t habe n wi r innerhal b eine s hochgradi g organisierte n un d imme r noch ungeregelten Kapitalismu s nur die ersten Schritte auf dem Wege zu ei­ nem geplanten Wirtschaftssyste m unternommen . Di e Begrenzung de r Kre­ ditexpansion währen d de s Aufschwung s is t vo n überragende r Bedeutung , kann aber nicht weiterhin einfac h durc h das Spiel mit der Höhe des Zinssat­ zes un d durc h Operationen a m offene n Mark t erfolgen . Di e währen d de s Booms führende n Industriezweig e müsse n kontrollier t un d wen n nöti g i n Schranken gehalte n werden; Investitionen , di e sich nicht auszahlen könne n und die nur alte Investitionen entwerte n oder im Wert mindern, müssen ver­ boten werden. Die Konsequenz eines solchen Kurses wäre die Herabsetzung des augenblicklichen Zinssatze s für langfristige Investitione n un d somit eine Prämie fü r di e Produktio n vo n dauerhafte n Verbrauchsgütern , besonder s von Häusern. Da s hieße wahrscheinlich auc h ein e langsamere Entwicklun g des Aufschwunges , allerding s überhaup t kein e Verminderun g de s Ender ­ gebnisses der Entwicklung. Ein e solche Politik kan n ni e Routineangelegen ­ heit sein; sie erfordert einen feinen Instinkt für die Möglichkeiten des Wachs­ tums und ständige Wachsamkeit gegenüber dem Einfluß kurzsichtige r wirt ­ schaftlicher Interessen . Auch ein e solche Politik stieß e au f Widerstand ; doc h si e stellt di e wahr ­ scheinliche Richtung de r weitere n Entwicklun g au f jeden Fal l dar. De r Un­ ternehmer ha t nu r noc h di e Wah l zwische n de r Wahrscheinlichkei t noc h weitreichenderer Störunge n i n de r Zukunft un d de r Hinnahm e reduzierte r Verzinsung un d reduzierte n Einkommens . Wiede r einma l sieh t sic h ein e herrschende Klasse mit der Aussicht auf sinkendes Einkommen konfrontiert , und das trotz wachsenden Wohlstande s un d trotz größerer Effektivitä t de r Produktion. Ihr gegenüber steht kein Feind, sondern die Automatismen, di e aus ihre r eigene n Schöpfun g erwachse n un d sic h gege n si e richten . Das Reden von der „kommunistischen Gefahr “ is t nur der soziale und po­ litische Ausdruck für die Tatsache, daß der Kapitalismus diese Lage nicht als das akzeptiert, wa s sie tatsächlich ist . U m sein e Macht, seine n Privatbesit z und sei n Profitsyste m z u erhalten , begib t sic h de r Kapitalismu s i n eine n kurzsichtigen Kamp f gegen die Massen, kämpft dabei aber gegen Windmüh ­ len. Der Kampf der Kapitalisten gege n die Forderung der Arbeiter nach hö­ heren Löhne n oder nach der Erhaltun g de r Löhne bei fallenden Preise n ist , soweit er rational ist, von heute obsoleten Gründen motiviert. Dieser Kampf ist ein e alt e Gewohnheit , di e trot z veränderte r Bedingunge n beibehalte n 236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

wird. Entwickel t hat sie sich zu einer Zeit, als das in wenigen Ländern akku­ mulierte Kapital nicht für die Bedürfnisse aller Länder beim Aufbau de r Ma­ schinerie unseres modernen Wirtschaftssystems ausreichte : der Fabriken, Ei­ senbahnen, Straßen , öffentliche n Einrichtungen , soga r der Städte, in denen Millionen vo n Mensche n unterzubringe n un d z u transportiere n waren ; z u einer Zeit, da ein beträchtlicher Teil des akkumulierten Kapitals und der ver­ fügbaren Arbeitszei t zu r Produktion vo n Konsumgütern fü r die reiche Mu­ ßeschicht verwandt wurde; zu einer Zeit, da beinahe alles akkumulierte Kapi­ tal mit Leichtigkeit investiert werden konnte und nur ein sehr kleiner Teil der Produktivkräfte, de s Kapitals wie der Arbeiter, in der Massenproduktion fü r die ärmeren Schichten der Gesellschaft eingesetzt wurde. Höhere Löhne be­ deuteten damal s eine Bremse der Entwicklung, un d jede Lohnverringerun g ließ sic h fü r meh r und besser e Ausrüstung verwende n un d konnt e s o zum Wachstum de s Wirtschaftssystem s beitragen . Heut e wirk t sic h abe r ein e Lohnminderung umgekehr t aus. Es muß nicht ausgeführt werden , daß in eu nem Wirtschaftssyste m mi t gewaltige r Massenproduktion , wenige n Mög ­ lichkeiten des Kapitalexports und wenigen Feldern für neue Investitionen die ganze Entwicklung vo m Wachstum der Kaufkraft abhängt . Daher kann eine Lohnreduzierung unmöglic h zu r Prosperitä t führen . Unte r Bedingungen , wie sie heute existieren, besteh t die einzige Alternative in einer weitreichen­ den Zinssenkung , un d da s ist genaus o anstößi g wi e höher e Löhne . Dieses Dilemma schafft di e psychologischen Voraussetzungen für den Fa­ schismus: Man sagt, die Demokratie sei mit dem heutigen Kapitalismus nicht vereinbar, Si e sei befriedigen d gewesen , solang e di e Produktion mi t Leich ­ tigkeit expandiert e un d günstig e Arbeitsmarktbedingunge n herrschten . Heute sei eine „starke Hand“ vonnöten, da nur sie die Lage meistern könne. Der Kapitalismu s wir d abe r vom Faschismus nich t da s erhalten, wa s e r er­ wartet. Selbs t die „stark e Hand“ kan n an den Zwängen de r Lage nichts än­ dern; sie kann die Konsequenze n vo n Lohnsenkungen nich t vermeiden un d keine neuen Investitionsmöglichkeite n entdecken , wen n kein e da sind. De r Faschismus kan n nich t di e Situatio n de s 19 . Jahrhunderts reproduzieren , was trotz al l seiner antiliberalen un d romantische n Tendenze n sei n Ziel ist . Er erstrebt eine Prosperität, die aus nicht mehr vorhandenen Umständen er­ wuchs, und stellt den vielleicht letzten Versuch dar, die alte Wirtschaftsord ­ nung zu erhalten. Doch auch das wird in eine Sackgasse der wirtschaftliche n Tätigkeit führen . Wen n di e Vergeblichkei t de r faschistische n Ziel e einma l bewiesen ist , könnt e di e Wel t woh l di e Notwendigkei t eine s Planungssy ­ stems begreifen, i n welchem die gelenkte und kontrolliert e Produktion de n Bedürfnissen de r Verbrauche r angepaß t is t un d mi t ihre m Verlange n nac h Muße und kultureller Entfaltung harmoniert . Kein e kulturelle Entfaltung is t unter de m Faschismu s möglich , eine m Syste m de r Unterdrückun g de r öf ­ fentlichen un d privaten Meinung, de r permanenten Langweile , de r verdeck­ ten ode r ga r offene n Staatssklaverei , i n dem all e Bedingungen stetige r Ent ­ wicklung fehlen . 237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Planung is t unvereinba r mi t Staatssklaverei . Si e beruh t au f persönliche r Freiheit, die allein für die nötige Flexibilität sorgt, wenn die spontanen Kräft e des Individuums in der freien Konkurren z durch freie, abe r gemeinsame öf ­ fentliche Aktion ersetzt werden sollen. Wenn das einmal erreicht ist, werden wir un s a n de r Schwell e eine r neue n Zei t befinden , a n de r Schwell e eine s neuen Wirtschaftssystems, i n welchem die Gesellschaft wiede r das Steuer er­ greift, um zu retten, was der Kapitalismus errungen hat, und zu erringen, was der Kapitalismus aus seiner ganzen Natur heraus sich nicht zumuten konnte.

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14. End e der Klassengesellschaft ? Zu r Analys e des Faschismus (1938/39) 1 Aufstiegsbedingungen Wenn wir das heute bestehende soziale System mit den Zukunftsvorstellun ­ gen de r Zeit u m 191 4 vergleichen, stelle n wi r fest , da ß de r Faschismus ei n ganz und gar neues Phänomen ist . Die Vorkriegswelt sa h entweder ein e so­ ziale Revolutio n vorau s - al s Konsequen z de r modernen Industri e und de r gesellschaftlichen Polarisierun g - ode r aber die Stabilisierung de s Kapitalis­ mus durc h ei n Gleichgewich t de r gesellschaftliche n Gruppen , i n de m di e Herausbildung eine r neue n Mittelschich t ein e entscheidende Roll e spiele n würde. Vo n de r soziale n Revolutio n wurd e zwa r vie l gesprochen , si e wa r aber trotzde m nu r ein e Abstraktion , d a kein e revolutionär e Situatio n exi ­ stierte un d di e Organisatione n de r Arbeite r sic h vo r alle m mi t große n Re ­ formprogrammen beschäftigten . S o kam es, daß nach keinem der Zukunfts­ entwürfe, wede r de m revolutionäre n noc h de m konservativen , ei n bedeut ­ samer Kamp f ode r Bürgerkrie g z u erwarte n wa r . . . Die Transformation de s Sozialismus in eine evolutionäre Theorie, die aus­ drücklich vo n den Revisionisten verteidigt , i n der Praxis aber auch von den radikalen Strömunge n de r Arbeiterbewegung akzeptier t wurde , beweist die Stabilität des sozialen Systems. Hätte es keinen Weltkrieg gegeben, hätte die Transformation z u [allmähliche n aber ] grundlegenden Veränderunge n füh ­ ren können, wie es später auch geschah. Der Kampf oder Konflikt de r Inter­ essen wa r faktisch ei n kontinuierlicher Verhandlungsprozeß , unterbroche n von Streiks und Aussperrungen, die nicht im geringsten die soziale Kontinui­ tät bedrohten - gemilder t durch das Anwachsen des Volkseinkommens. Die weitverbreiteten Genossenschaftsbewegunge n i n viele n europäische n Län ­ dern sind ebenfalls ein Zeichen dafür, daß die Arbeiterklasse friedlich auf der­ selben Rechtsgrundlag e ihr e eigene n Institutione n schu f wi e di e Organisa ­ tion des Bürgertums. Die konstanten Angriffe der Radikalen gegen Gewerk­ schaften, Genossenschafte n un d parlamentarische Arbeitervertreter , di e an­ geblich di e Arbeiter „verrieten“ , sin d ei n weiterer Bewei s für di e Entwick ­ lung einer stratifizierten kapitalistische n Gesellschaft i m 19. Jahrhundert mit allen dazu gehörende n Friktionen , abe r auch mit der einem solchen Syste m innewohnenden Kraft. Die theoretischen Entwürfe entsprachen jedoch nicht den Tatsachen. E s schien als müßte der Klassenkonflikt au f die Dauer uner­ träglich sein . Di e Kohäsionskräft e wurde n unterschätzt . Trot z konstante r 239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Spannung wurd e abe r die Autorität de r Verfassung un d des Staates nie wirk ­ lich au f di e Prob e gestellt . Tatsächlich is t di e gegenwärtig e Kris e de r Gesellschaft , übe r di e diese s Buch [„Stat e o f th e Masses“ ] handelt , nich t di e Manifestatio n de s Klassen ­ kampfes, sonder n di e Zerstörung de r Gesellschaf t i m ganzen , di e Substitu ­ tion der Gesellschaft durc h institutionalisierte Massen* . Allerdings : I m Pro­ zeß der Industrialisierung ga b es auch ei n Element , da s später zu m Aufstie g der modernen Masse n beitrug , durc h die der moderne Arbeite r un d der An ­ gestellte für eine der Vernichtung de r Gesellschaft dienend e Ideologie anfälli g wurden. Di e Industrialisierung macht e besonders für den älteren Arbeiter di e Arbeitslosigkeit z u eine r wirkliche n Gefahr , un d di e imme r meh r werden ­ den, de m Au f un d A b de s Markte s unterworfene n Industriearbeite r hatte n das Gefühl , i n de n Unternehmungen , fü r di e sie sic h abmühten , nich t ver ­ wurzelt z u sein. Ihr Leben hatte keine Kontinuität meh r und war oft in meh­ rere zusammenhanglos e Abschnitt e unterteilt ; da s bedeutet e auch , j e nac h der Wirtschaftslage i m Lande hin- und herzuziehen. Dies e Unsicherheit wa r schlimmer al s ei n niedrige s Lohnnivea u un d bereitet e si e stimmungsmäßi g auf eine dramatische Bewegung vor , die sich um wissenschaftliche, nüchtern e Analysen nich t kümmer n sollte , sonder n kühne s un d rücksichtlose s Zu ­ schlagen versprach . Obgleich ein e realistisch e Untersuchun g de r Vorkriegsgesellschaf t kein e Anzeichen eine r unmittelbar bevorstehende n Umwälzun g zeig t und obwoh l revolutionäre Utopie n di e Zukunft i m Zeichen friedliche r un d ordentliche r demokratischer Prozedure n entwarfen , konnte n di e faschistische n System e einige Element e de r Situation ausnutzen . Dies e Elemente, dere n Bedeutun g :: Ic h verstehe unter einer Masse oder einer Menge eine große Zahl von Menschen, die inner­ lich vereint sind, so daß sie sich als Einheit fühlen un d möglicherweise so handeln. Seihst wenn sie nicht handeln, fühlen sie sich zur Aktion geneigt; sie können es nicht ertragen, passiv zu blei­ ben, wenn sie eine lange Zeit als Masse zusammenbleiben. Aktion kann jedoch durch den Aus­ druck von Emotionen ersetzt werden, zum Beispiel beim Anhören einer Rede oder einer Musik­ vorführung. Solch e Substitute können die Illusion des Handeis vermitteln. Die Individuen in ei­ ner Masse gehören zu unterschiedlichen sozialen Gruppen, aber das ist ohne Belang: Sie sind sich dessen nicht bewußt, solang e sie Teile einer Masse bilden. Massen sind darum amorph; sozial e Schichtung besteht nicht mehr oder ist zumindest ganz unscharf geworden. Die Einheit der In­ dividuen, di e eine Masse bilden , besteh t fü r si e imme r i m Emotionale n . . . In all diesen Aspekten unterscheide t sic h die Masse von der sozialen Gruppe , bei der es zu­ mindest möglich ist , da ß sie sich von Argumenten leite n läßt und bereit ist, au f Argument e zu reagieren, wen n sie vielleicht auc h nur denjenigen folgt , di e den Zwecken entsprechen, fü r die sich die Gruppe gebildet hat. Diese Unterschiede zwischen der Masse und der sozialen Gruppe, ungeachtet der eventuellen Kleinheit der Masse oder Größe der Gruppe, beruhen darauf, daß die Masse amorph ist, während die Gruppe wenigstens in einer Hinsicht homogen und damit „par ­ tial“ ist. Jede Gruppe besteht in Koexistenz mit anderen Gruppen. Jede Masse ist psychologisch ein Ganzes, außerhalb oder jenseits dessen kein anderes soziales Wesen existiert oder ein Recht auf Existen z hat. Die Masse fühlt sozusagen totalitär. (State of the Masses, S. 3 0 f., 34.) . Ebd., S. 23 : „Sozial e Gruppe n werd e ic h Teil e de r Bevölkerun g nennen , di e ein gleiche s Interesse , ökonomisch ode r nicht , vereint. “

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zu ihrer Zeit nicht wahrgenommen wurde, werden auf den folgenden Seite n diskutiert. a) Di e neue n Mittelschichten : De r „neu e Mittelstand “ entstan d seh r schnell; nach der orthodoxen sozialistischen Theorie nahm man an, er würde sich zu einem Proletariat entwickeln, während die Konservativen erwarteten, er würde zu einem stabilisierenden Faktor, einem Gegengewicht zur Proleta­ risierung breiter Massen. In Wirklichkeit bildete der „neue Mittelstand“ ein e neue Gesellschaftsschicht , dere n Größ e un d Charakte r neuarti g waren . S o machten etw a i n Deutschlan d di e Angestellten un d di e Beamten mi t ähnli ­ chen Funktionen (unter e Bedienstete bei der Eisenbahn, de r Post, den Ein­ richtungen der Sozialversicherung usw. ) etwa 40 Prozent der Zahl der Indu­ striearbeiter aus . Sie betrachteten sic h nicht al s Proletarier un d revoltierte n gegen den Gedanken, daß sie zur selben Klasse wie diese gehörten. Tatsäch­ lich bestand eine ausgeprägte Distanz, denn in einer hochgradig stratifizier ­ ten Gesellschaf t mi t große r Betonun g de r gesellschaftliche n Unterschied e tendieren benachbarte Klassen dazu, den sie trennenden Graben zu vertiefen, und zwar um so mehr, je stärker die Möglichkeit ihrer Angleichung in Wahr­ heit ist. Es gab nur selten Eheschließungen zwischen Angehörigen der neuen Mittelschichten und dem Proletariat, und man traf sich auch nicht in den glei­ chen Restaurants , Tanzlokale n usw . Di e Mittelschichte n sahe n sic h selbs t zwischen den Klassen; sie waren nicht fest im Wirtschaftssystem verwurzelt , hatten keine feste Grundlage ihres Besitzes und waren unzufrieden. Ihr e Stel­ lung war unsicher und entbehrte sogar der psychologischen Stütze durch die große Zahl, da sie in kleinen Gruppen über das ganze Wirtschaftssystem zer ­ streut waren . E s gab kein e angemessen e Ideologie , di e ihr e Funktio n aus ­ drückte und ihnen eine Zukunft vorzeichnete.Zwar schloß sich eine Minder­ heit der Sozialdemokratie an; doch auch sie versuchten, ihren besonderen so­ zialen Status zu wahren. Der Privatangestellte empfand die Drohung der Ar­ beitslosigkeit stärker als der Handarbeiter, wei l in jedem Einzelfall de r Ver­ lust des Arbeitspaltzes einen Abstieg in seinem persönlichen Ansehen bedeu­ tete. Die Angestellten neigte n dazu , romantischen , radikale n Ansichte n z u verfallen, d a si e nich t hoffe n konnten , sic h de m ältere n Typu s gesicherte r Bürgerlichkeit anzugleichen , währen d der Gedanke an eine Vereinigung mi t dem Proletariat si e abstieß. Was ihr e allgemeine n politische n Einstellunge n anging , wa r dies e neu e Mittelschicht sehr nationalistisch. National e Expansion bedeutete für sie so­ wohl Kompensatio n fü r ih r soziale s Minderwertigkeitsgefüh l al s auc h di e Aussicht auf bessere, selbständigere und besser bezahlte Stellungen. Das Bei­ spiel der englischen middle dass, aus deren Reihen viele Tausende auf Reisen ins Ausland gingen, zeigt e ihnen die Früchte eines erfolgreichen Imperialis ­ mus. Die nationalistische Einstellun g trennte große Gruppen der Angestell­ ten von den Industriearbeitern, di e diese Einstellung nich t teilte n oder sich ihrer jedenfalls nicht bewußt waren. Diese Entwicklung impliziert e parado­ xerweise ein e starke Instabilität, sobal d radikal e Bewegunge n di e Natione n 241

16 Lederer , Aufsätz e

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zu erschüttern begannen. Denn während die Arbeiter ihren Platz in der Ge­ sellschaft un d ihr e Organisatione n Forme n de r Zusammenarbei t mi t de m „Klassenfeind“ gefunde n hatten , waren die Angestellten immer noch unent­ schlossen und bildeten so in einer Zeit der umfassenden Kris e einen soziale n Sprengstoff, de r um so gefährlicher war , als niemand wußte, wie man damit umgehen sollte . b) Di e Schwäche der Wissenschaft und die neuen Ideologien: Übe r die Zu­ kunft des europäischen geistigen Lebens herrschte viel Unsicherheit und Pes­ simusmus. Da s 19 . Jahrhundert hatt e a n de n Fortschrit t geglaubt , a n di e konstante Zunahm e de s menschliche n Wissens , un d di e Hoffnung gehegt , alle Problem e de r Gesellschaf t schließlic h meister n z u können . Dagege n wurde da s beginnend e 20 . Jahrhunder t zu m Zeuge n einige r merkwürdige r und beunruhigender Wandlungen , vo n dene n wir einig e erwähnen wollen : Mit de m Verschwinde n de r Hoffnun g au f eine n ununterbrochene n Fort ­ schritt hörte die Wissenschaft auf , entschiede n Stellung zu nehmen, und plä­ dierte statt dessen für eine scharfe Unterscheidung zwische n de r Ermittlun g von Tatsachen un d dem Ziehen von Schlußfolgerungen; e s gab auch Skepti ­ ker, nac h deren Auffassun g soga r Tatsachen nicht objektiv präsentier t wer ­ den konnten , doc h di e Wissenschaftle r insistierten , da s se i doc h möglich , wenn der Beobachter vor seinen eigenen Werturteilen auf der Hut sei. Nach mehreren Jahrzehnten, in denen nicht nur die Wissenschaftler, sonder n auch die Wissenschaft al s solche Fackelträger des Fortschritts gewesen waren und eine große Rolle in der praktischen Politi k gespiel t hatten, führten di e Kon­ flikte, i n dene n di e Wissenschaf t kein e Entscheidun g wagte , zu m völlige n Rückzug verantwortungsbewußter Wissenschaftle r au s dem politischen Le ­ ben. Sie überließen das Feld den verschiedenen wissenschaftlichen un d sozia­ len Gruppe n un d erklärten , si e könnte n zu r Entscheidung , wa s richti g se i und was falsch, nich t beitragen. Sie beanspruchten jedoch, etwas darüber sa­ gen zu können, worauf man zu hoffen hatte, wenn man sich für ein bestimm­ tes Ziel entschieden hatte - al s ob ihr Rationalitätsmuster über jeden Zweife l erhaben gewesen wäre und als ob von Emotionen hingerissene Menschen be­ reit gewese n wären , au f jemande n z u hören , de r selbs t ohn e Wille n war . Die Wissenschaftler ginge n soga r soweit , di e Verteidigung ihre s eigene n Wertes abzulehnen, und bewahrten nobe l und uninteressiert ihr e „Objekti ­ vität“ selbs t dann, wenn Feuerbrände an ihre Elfenbeintürme geleg t werden sollten. Tatsächlich hofften si e darauf, da ß niemand sie stören würde, wen n sie sich in diese Elfenbeintürme zurückzögen . Al s die Türme aber später ge­ sprengt wurden , ka m ihne n noc h nich t einma l de r Gedanke , ihr e Lag e mi t den Mitteln einer gewöhnlichen, für jedermann verständlichen Logi k zu un­ tersuchen. Eine solche Logik hätte ihnen gesagt, daß auch die moderne Wis­ senschaft ihr e Geschichte hat und auf der Grundlage von Bedingungen ent ­ standen ist , di e ers t ih r Aufkomme n erlaubten ; da ß produktives , dynami ­ sches, wertvolles Denken von persönlicher Freiheit abhängig ist, ohne die die Menschen woh l nu r das, was sie gehört haben, wi e Papageien wiederholen ; 242 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

daß de m Gewalttätige n di e menschlich e Würd e abgeh t un d da ß einer , de r Hasen hetzt, kein Held ist, und als einzige Entschuldigung vorbringen kann, daß e r etwa s z u esse n braucht ; mi t andere n Worten , da ß ma n al s Wissen ­ schaftler berei t sein muß, diejenigen Werte zu verteidigen, auf deren Grund­ lage sic h di e Wissenschaf t entwickel t hat : di e Freiheit de s Gedankens , de r Rede, der Diskussion; die Achtung vor der Wahrheit; das Vertrauen auf die Fähigkeit de s menschlichen Geistes , für sic h selbst zu entscheiden, un d die Bereitschaft, di e Verantwortung für das eigene Schicksal zu übernehmen. Da aber sogar diese Werte von ihnen für unbeweisbar erklär t wurden, verlore n sie jedes Recht darauf, gehört oder respektiert zu werden, und fanden sich in unserer Zeit des Umbruchs unter den Mitläufern derjenigen, welche ihrer ei­ genen Erniedrigun g un d Zerstörung applaudierten . E s ist in der Tat äußerst seltsam, daß Wissenschaftler nicht bemerkten, daß ihr eigenes Denken, wenn es diesen Namen verdient, die Diskussion verschiedener Argumente in ihrem Kopf ist , Überprüfun g vo n Tatsachen un d unablässig e Such e nach Gültig ­ keit; es ist seltsam, daß sie die Wahrheit nicht als dynamisches Phänomen er­ kannten, al s einen Prozeß allmähliche r Entdeckung , al s ein dauerndes Rin ­ gen mit de r Natur und der Gesellschaft. Hätte n si e das realisiert, hätte n si e auch erkannt, da ß die Wissenschaft fest e Wurzeln in einem freien, persönli ­ chen Lebe n ha t un d nich t irgendw o frei i n der Luf t herumschwebt . Heut e wissen wir, daß die Wissenschaft ein e zeitgebundene Bemühung des mensch­ lichen Geistes ist; ihre „Objektivität“ is t keine formale Korrektheit, sonder n der Will e z u selbständige m un d logische m Denken . Wenn aber „Objektivität “ Schwäche , Isolation un d Reserviertheit bedeu ­ tete, dan n wa r e s unvermeidlich, da ß Vitalitä t un d Energi e andersw o auf ­ tauchten. Verehrun g de s Irrationalen , Begeisterun g fü r de n „ élan vital“ , Heldenverehrung un d Träume von einer großen Zukunft - all e Arten unkla­ rer Metaphysi k fande n eifrig e Gefolgsleute . Di e Wissenschaf t hatt e diese r Tendenz nicht s entgegenzusetze n . . . c) Di e Erschütterung de r Autorität im Weltkneg : Di e europäischen Län ­ der hatten sich vor dem Weltkrieg unter der Herrschaft etablierter traditiona ­ ler Autoritäten befunden , di e sich gleichwohl meh r oder weniger darum be­ mühten, de m „moderne n Denken “ di e unvermeidliche n Konzessione n z u machen . . . Diese Kompromisse waren dazu bestimmt, die Bewegungen der Arbeiter zu integrieren, was auch zu einem großen Teil gelang, da selbst die scheinbar radikale n Parteie n keine ernsthaft e Herausforderun g de s sozialen und politische n System s darstellten . Der Weltkrie g verändert e alles . Al s di e Masse n bewaffne t wurde n un d kämpfen mußte n un d a n der „Heimatfront “ Fraue n un d Kinde r unerhört e Belastungen auszuhalten hatten, wurde die Rhetorik der radikalen Bewegun­ gen realistisch, und die herrschenden Klassen erwarteten ihren Sturz und ihre Enteignung - jedenfall s i n de n besiegte n Staaten . Di e Regierunge n hatte n überall, selbs t be i den Siegern, da s Geheimnis ihre r Macht enthüllt : E s be­ ruhte i n eine m starke n Ma ß au f eine m Konsen s de r verschiedene n gesell 243 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

schaftlichen Gruppen, ob dieser Konsens nun enthusiastisch oder eher passiv war. Viele Menschen hatten gesehen, daß die Macht nachlassen konnte, daß die Regierungen um die Hilfe und die aktive Mitarbeit aller nachsuchen muß­ ten; sie hatten das Bersten der Wände und das Erzittern der Fundamente ver­ spürt. In vielen Ländern hatten sich sogar die Soldaten und Offiziere de n auf­ ständischen Masse n angeschlossen . Viel e Jahrzehnte hatte sich derartiges in modernen Staate n nich t meh r abgespielt . Die große Lehre dieser Jahre ging an den Führern der faschistischen Bewe ­ gungen nicht spurlos vorüber, die später entstehen sollten. Sie sahen, wie sich die Bindungen zwische n Regierun g un d Armee lockern konnten, da ß keine aus dem Volk rekrutierte Armee sich psychologisch von der Gesellschaft se ­ parieren ließ . Wen n sic h ers t einmal di e allgemeine Erwartun g eine s i n de r Luft liegende n grundlegende n Wandel s verbreitete , würde n di e Soldate n schon zu denken und die Offiziere z u zögern anfangen. I n einer solchen Si­ tuation würde n di e Regierende n ih r Selbstvertraue n verlieren . De r Krie g hatte die erste große psychologische Kris e gebracht, de n Beweis für da s alte Sprichwort, da ß der König nur solange König ist, wi e das Volk ih n für de n König häl t . . . d) Ungelöst e wirtschaftliche Probleme : Di e Epoche, die wir als Spätkapi­ talismus bezeichnen, is t für den gewöhnlichen Mensche n voller Geheimnis­ se. Diese Geheimnisse vervielfachten sic h nach dem Krieg, al s man sah, da ß die Produktivkraft wuchs , während arbeitswillige Menschen zum Nichtstu n gezwungen waren; daß ein riesiger Überfluß an Waren die Welt mit Bankrott bedrohte oder daß um so weniger Waren gekauf t werde n konnten , j e mehr zum Verkauf angebote n wurden; daß der Güterfluß vo m Geldmangel so ge­ bremst wurde, daß niemand etwas kaufen konnte , daß aber die Katastroph e ebenso durc h ein e galoppierende Inflatio n drohte , be i de r jede r übe r meh r Geld verfügte, als er ausgeben konnte. Und die diese Probleme behandelnden Theorien ware n gleichfall s komple x un d widersprüchlic h . . . Die mysteriösen Schwierigkeite n verlangte n abe r ein e unverzügliche Lö ­ sung. Mysterien führen immer zum Mystizismus, und mit dem Mystizismus kommt de r blinde Glaube; wen n wir nich t verstehen, verlege n wi r uns auf s Hoffen un d vertrauen eine m Wundermittel, eine r Partei, eine m Mann. Di e Demokratie macht die Menschen ungeduldig, und ungeduldige Leute wollen Taten sehen . S o bracht e di e Demokrati e angesicht s schmerzende r un d schwieriger Problem e di e Menschen dazu , a n Wunde r z u glauben . e) De r Rückzug de r Demokratie von der Politik: Di e Demokratie erwie s sich al s politisches System , da s leicht z u eine r Doktri n degeneriere n kann . Die demokratische Doktrin ist gewöhnlich abstrakt. Sie feiert die Prinzipien der Gleichheit un d Freiheit un d interpretier t dies e Prinzipien formal , ohn e zwischen der Freiheit des loyalen Bürgers und der des politischen Gangsters zu unterscheiden. Si e räumt jede r Ide e volle Freihei t ein , soga r wen n dies e Idee auf di e Zerstörung de r Freihei t hinausläuf t . . . Demokratie wurde als „innerer Friede, koste es, was es wolle“ verstanden . 244 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Politische Gruppe n errange n di e Position vo n fast souveräne n Mächte n in ­ nerhalb de s Staates . De n demokratische n Parteie n ware n i m Kamp f gege n ihre Feinde die Hände gebunden, un d diese Feinde drohten ihnen mit grau­ samen Strafen und Vernichtung, sobal d sie nur zur Macht kämen - soga r das galt al s legitim e un d legal e Äußerun g eine s politischen Standpunkts , gege n den der Staat „aus verfassungsrechtlichen Gründen “ nich t vorgehen konnte. Als sich die Lage soweit entwickelt hatte, daß der Staat nicht mehr auf seinem Monopol de r bewaffnete n Mach t bestan d un d di e faschistischen Gruppe n Uniform z u tragen und Polizeifunktionen z u beanspruchen begannen, wäh­ rend die Regierung nicht s zur Mobilisierung ihrer loyalen Anhänger tat, und beleidigende Propaganda, Lügen und Verleumdungen die Zeitungen füllten , ohne daß etwas dagegen geschah - d a war die Demokratie in der Tat von den Demokraten aufgegebe n worde n . . . f) Di e Furcht vor dem Bolschewismus: E s gab auch noc h da s Schreckge­ spenst des Kommunismus. Der Kommunismus, wenn wir ihn als revolutio­ näre Bewegung betrachten , wa r i n Deutschland imme r sehr schwach gewe­ sen . . . Trotzdem existiert e di e Kommunistisch e Partei , dere n sklavische r Gehorsam gegenübe r allem , wa s i n Rußland geschah , e s leicht machte , di e vor allen Risiken zurückschreckenden Bauern zu verängstigen; sie entschlos­ sen sich zur Unterstützung derjenigen , di e die Kommunisten schluge n un d prügelten. I m Rückblic k au f di e turbulente n Jahr e nac h 191 8 könne n wi r heute erkennen, da ß die bolschewistische Revolutio n selbs t in den sicheren Jahren der letzten längeren Prosperität bis 1929/30 die tiefsten Sorgen verur­ sachte, mehr noch als Krieg und Inflation. Von Kriegen und Inflationen kan n man sich nämlich erholen , abe r der Bolschewismus is t ein definitives Ende , die definitive Zerstörung . S o verängstigte der Bolschewismus jeden , der ein kleines Vermöge n hatt e oder e s in Zukunft zu erwerbe n hoffte . Di e Angs t brachte diese Leute in die reaktionären un d faschistischen Bewegungen , di e die einzigen verläßliche n Feind e der Kommuniste n z u sein schienen, wobe i es wenig ausmachte, daß diese Bewegungen alles in ihrer Macht Stehende ta­ ten, di e Demokrati e z u zerstören . Ma n kan n dahe r woh l sagen , da ß di e Furcht vor dem Kommunismus mehr als alles andere zum Aufstieg un d Sieg des Faschismu s i n Deutschlan d beieetraee n hat . Die Schwäche de r Demokratie, di e Desintegration ihre r Ideen , di e Her ­ ausbildung neuer Schichten mi t neuen Ideologien, ungelöst e wirtschaftlich e Probleme, die Erschütterung de r Autorität und die Angst vor dem Bolsche­ wismus - al l diese Faktoren truge n zu r faschistischen Machtergreifun g bei . Wären die Faschisten aber eine politische Partei wie andere Parteien gewesen - da s nahmen di e „Schlauen “ a n -, dan n hätte sich nich t viel geändert . Di e „Schlauen“ ware n sicher, da ß sich an der Macht der sozialen Gruppen nicht viel ändern würde. Si e erkannten nicht , da ß der Faschismus ein ganz neues Phänomen darstellte , ein e Massenbewegung, di e die Gesellschaf t zerstöre n und unter ihren Ruinen Gruppen , Institutionen , Idee n un d Verhaltensmu ­ ster begraben sollte, die zuvor niemals ernstlich in Frage gestellt worden wa245 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

ren. Sie begriffen nicht , daß mit dem Aufstieg de s Faschismus eine neue Epo­ che begann , dere n Natu r un d Politi k noc h nich t einma l di e faschistische n Führer begriffe n . . .

Nationalsozialistische Wirtschaftspoliti k un d sozial e Desintegratio n Der moderne Faschismus ha t demnach dre i wesentliche Eigenschaften : E r ist brutal un d terroristisch , e r schaff t ein e Ar t erzwungene r Ordnun g un d er ­ weckt gleichzeiti g Emotionen , di e e r aufrechterhäl t un d befriedigt . Diese s letzte Element is t das entscheidende un d ermöglicht di e beiden anderen . Di e Notwendigkeit, di e Masse n z u beherrschen , erklär t da s Elemen t de r Ord ­ nung, und die Notwendigkeit de r Befriedigung de r Massen erklärt die Bruta­ lität un d di e regulierte n Ausbrüch e . . . Der nationalsozialistische n Wirtschaftspoliti k gin g e s von Anfan g a n u m die vollständige Kontroll e vo n Produktio n un d Verteilun g durc h de n Staa t unter Führun g de r Partei . All e Maßnahme n entsprange n diese r Intention . Die wirtschaftlich e Erholun g wa r ei n weniger wichtige s Zie l al s die Vollbe ­ schäftigung. Di e Regierung began n dahe r mit einer Politik öffentliche r Aus ­ gaben, wa r aber entschlossen, di e Löhne auf dem Niveau de r Depression z u halten. E s ist unsicher , o b das zu r Verhinderun g vo n Konflikte n zwische n Arbeitgebern un d Arbeiter n geschah , di e zu m Wiederauflebe n gewerk ­ schaftlicher Aktivitäte n hätte n führe n können , ode r ob es die Regierung vo r Angriffen ode r ga r Feindschaf t de r Arbeitgebe r schütze n sollte . E s könnt e gut sein, da ß man bereits öffentliche Arbeiten , vo r allem i m Bereich de r Rü „Im Verlau f de r Geschichte haben Masse n of t ein e große Rolle gespielt . Be i Revolutionen , Staatsstreichen un d auc h bei m normale n Verlau f de r Ding e (wen n Forderunge n de s Volkes vo n Massendemonstrationen unterstütz t wurden ) habe n Masse n häufi g di e Entscheidunge n beein ­ flußt. Doc h wurde n si e i n diese n Fälle n fü r bestimmt e Zweck e zusammengerufe n un d ver ­ schwanden wiede r in der Obskurität, wen n sie ihre Aufgabe erfüll t hatten ; nu r in Zeiten der Re ­ volution ergin g de r Aufru f a n si e häufiger . Modern e politisch e Führe r un d prospektiv e Dikta ­ toren habe n di e Masse n jedoc h zu r Basi s eine r Bewegun g gemacht , di e Permanen z un d Herr ­ schaft erstreb t un d de n Staa t verschlinge n will ; si e haben di e Masse n institutionalisier t un d au s ihnen eine soziale und politische Dampfwalze gemacht , di e soziale Gruppen jeder Art überrollt . In unsere r Zei t sin d di e Masse n di e permanent e Basi s eine s politische n Systems , desse n Natu r von diese r Tatsach e bestimm t wird . Der totalitär e Staat ist de r Staat de r Massen; e r unterscheidet sic h vo n allen Staatsformen , di e auf de r Existen z soziale r Gruppe n beruhe n un d ihre Existen z akzeptieren. Sei n Ziel ist , alle s z u verändern, un d sei n Geis t entsprich t de r Massenbewegung : E r zerstör t jed e potentiell e Quell e politischer Oppositio n un d errichtet ei n Machtzentrum, da s über und jenseits alle r Kriti k steht . Es gib t kein e historisch e Staatsform , di e mi t diese m totalitäre n Staa t vergliche n werde n kann , und waru m da s s o ist, könne n wi r jetzt leich t erkennen : E s hat ni e vorher eine n Staa t gegeben , der die sozialen Gruppen s o weitgehend zerstörte , un d es hat nie eine Zeit gegeben, de r die heu­ tigen technische n Möglichkeite n zu r Umformun g de s ganze n Volke s i n Masse n un d z u seine r Erhaltung i n diesem Zustand zu r Verfügung standen. “ (Stat e of the Masses, S. 4 5 f.) . Zu r Defi ­ nition vo n „Masse “ un d „Gruppe “ sieh e obe n S . 240 , Anm .

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stung, i n gigantische m Ma ß plant e un d da ß ei n Lohn - un d dami t Ver ­ brauchsanstieg zuvie l vo n de r Produktivkraf t de s Lande s absorbier t hätte , besonders auch einen zu großen Teil der Einfuhren. S o verhinderten restrik ­ tive Maßnahmen vo n Anfang a n jeden Anstieg de r individuellen Löhn e und jedes rasche Anwachsen de r gesamten Lohnsumm e sowie des gesamten pri­ vaten Verbrauchs; eine große Zahl vorher arbeitsloser Arbeiter wurde näm­ lich zur Arbeit gegen sehr geringen Lohn gezwungen, vor allem im Straßen­ bau, Öffentlich e Ausgabe n wurden i m großen Rahmen vorgenommen, un d die Preise ließen sich doch ohne Mühe niedrig halten. Dieses System funktio­ nierte nicht durch Tricks eines Hexenmeisters; es läßt sich auf der Grundlage einer typische n Marktwirtschaf t beschreiben , di e vo n eine r strenge n un d rücksichtslosen Staatsgewal t i n gewisse n Grenze n gehalte n wir d . . . Mit Hilfe kurzfristiger Kredit e wurden die gewaltigen untätigen Reserven an Kapital und Arbeitskräften schnel l in Gang gesetzt. Diese Methode verur­ sachte Befürchtungen be i Bankiers und Ökonomen, die immer eine Auswei­ tung de r kurzfristige n Kredit e de r Zentralban k mi t Bedenke n beobachte t hatten. Diesmal handelte es sich jedoch nicht um das erste Zeichen einer In­ flation, wei l da s Einfriere n de r Löhn e un d Preis e ein Ansteige n de s Lohn ­ und Preisniveau s un d auc h ein e überhitzend e Wirkun g de r Staatsausgabe n verhinderte. S o lief alle s glatt ab : Die Zahl de r Beschäftigte n stieg , de r ge ­ samte private Konsum blieb in engen Grenzen; die Profite stiegen durch die bessere Auslastung der Kapazitäten, und auch die Sparguthaben wuchsen; als Folge stiegen die Steuereinnahmen, und der Staat konnte sich auch der hohen Einnahmen de r Arbeitslosenversicherung bedienen , währen d di e Spareinla­ gen i n öffentlichen Anleihe n angeleg t wurden . Offizielle Statistike n sin d kein zuverlässige r Zeuge für die Löhne und die Lebenshaltungskosten, gebe n aber gute Informationen übe r das Ausmaß, in dem die Rüstung ohne Einfluß auf das Preisniveau finanziert wurde . 1937/3 8 betrugen di e Steuereinnahmen 1 4 Mrd . R M gegenübe r 6,6 Mrd . (1932/33 ) und 9 Mrd. (1928/29) ; 1938/39 wurden 1 7 Mrd. R M erreicht . Da s Sparvo­ lumen betru g 193 8 etwa 1 0 Mrd. RM , unte r Einschlu ß de r Sozialversiche ­ rung etwa 1 1 Mrd. RM . 193 8 konnte der Staat ohne jede inflatorische Aus ­ wirkung fast 25 Mrd. RM ausgeben, von denen mindestens 70 Prozent in die Rüstung gingen. Di e Staatsausgaben betruge n ungefähr 35 Prozen t des Na­ tionaleinkommens, so daß 24 Prozen t des Nationaleinkommens für die Rü­ stung ausgegeben wurde n - wahrscheinlic h soga r noch mehr, d a die großen Investitionen i m Rahme n de s Vierjahresplan s ein e beträchtlich e Zunahm e darüber hinausgehender Ausgaben verursachten, die durch kurzfristige Kre ­ dite finanziert wurden . In anderen Ländern , vo r allem in den Vereinigten Staaten , hätten Ausga ­ ben von dieser relativen Riesenhaftigkeit z u einem starken Anstieg der Löhne und wahrscheinlich auc h der privaten Investitione n geführt . I n Deutschland war de r Abflu ß de s Gelde s i n dies e Kanäl e jedoc h blockiert . D a abe r de r Staatsverbrauch weite r de n Geldflu ß absorbierte , tra t kei n Rückgan g de r 247 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Produktion ein . Mit de m Anwachsen de r Ausgaben wurd e das knappe An­ gebot an Arbeitskräften und Kapital, und nicht mehr die mangelnde Beschäf­ tigung, zum Hauptproblem; der Arbeitstag mußte verlängert werden, und es ist zweifelhaft, o b die nötigen Ersatzinvestitionen noc h vorgenommen wur ­ den. Sofern e s Gefahren eine r Inflation gab , konnten sie durch ein e mäßig e Begrenzung de r Rüstungsausgabe n beseitigt werden . Dieselbe Politik der niedrig gehaltenen Löhne trug zur Verminderung de r Lebensmitteleinfuhren bei . I n Deutschlan d hatt e ei n steigende s Realein ­ kommen tendenziell immer zu einem stärkeren Verbrauch von importiertem Obst, importierter Butter usw. geführt ; jetz t konnte man die Lebensmittel ­ einfuhren trot z ihre r große n Dringlichkei t angesicht s schlechte r Ernte n i n solchen Grenzen halten, daß sie das Einströmen von Rohstoffen fü r die Auf­ rüstung nich t behinderten . Wie wurde diese Politik den Massen schmackhaft gemacht ? Wieder erwie s sich in diesem Fall di e Macht de r Propaganda, daz u kame n einig e tatsächli ­ chen Vorteile für die Arbeiter. In den ersten Jahren der Wirtschaftskrise wa ­ ren die Gewerkschaften imme r nur auf dem Kaufkraftargument herumgerit ­ ten un d hatte n Änderunge n de r Lohnskal a abgelehnt , wodurc h si e di e Arbeitslosen abstießen, die erleben mußten, wie die Gesamtmenge der ange­ botenen Arbeitsplätz e imme r kleine r wurde . Trotzde m konnte n di e Ge ­ werkschaften eine n rapide n Fal l de r Lohnrate n (di e noch tiefe r al s di e Le ­ benshaltungskosten sanken ) nicht verhindern - be i immer weiter steigende r Arbeitslosigkeit. Die Gewerkschaften hatten keine Mittel gegen die Desinte­ gration in den Reihen der Arbeiter und gegen den allgemeinen Niedergang , da di e Einführun g eine r Arbeitsbeschäftigungspoliti k nich t i n ihre r Mach t lag. Die Nationalsozialisten hatte n nu n ein e Arbeitsbeschaffungspolitik, un d die Festschreibung de r Löhne schien nichts Schlimmes zu einer Zeit zu sein, in der ein weiterer Lohnverfall drohte . Man appellierte an die Solidarität der Arbeiter, und das mit Erfolg. Zuvo r waren es die Arbeitslosen gewesen, de­ nen die Aufforderung de r Gewerkschafte n galt , kein e Stellen anzunehmen , wenn die Arbeitgeber nicht bereit waren, Löhn e im Einklang mi t den Tarif­ vereinbarungen zu zahlen; den Gewerkschaften wa r nicht klar gewesen, daß die Solidarität den Test einer schweren und lang anhaltenden Arbeitslosigkei t nicht bestehen konnte. Jetzt klang es umgekehrt, und die Beschäftigten wur ­ den aufgefordert, ihr e Solidarität mit den Arbeitslosen zu beweisen und nied­ rigere Löhne hinzunehmen. D a diese Politik mit einer spürbaren Steigerun g des Gesamtverbrauchs verbunden wurde, konnte sie funktionieren; di e lawi­ nenartig wachsend e Produktio n wurd e durc h Staatsausgaben bezahlt . Es kan n daru m nich t bezweifel t werden , da ß di e nationalsozialistisch e Wirtschaftspolitik wenigsten s zu Anfang der Situation angemessen war; man griff zum Mittel des bewußten deficit-spending. Di e Massen waren es zufrie­ den; sie waren des Wartens müde geworden und hatten etwas gegen die end­ losen Diskussionen ohn e Taten. Di e Gewerkschaftsführer hatte n den Kon248 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

takt mit den Massen verloren, weil sie nur die beschäftigten Arbeiter kontrol­ lierten ode r beeinflußten. I m Interesse ihrer Mitglieder hatten sie sich sogar gegen alle Maßnahmen zur genossenschaftlichen Selbsthilfe („Produktion für den eigene n Gebrauch“ ) gewehrt , di e vielleich t di e Phantasi e de r Arbeite r angesprochen hätten . De n Gewerkschaftsführer n wa r nich t aufgegangen , daß di e Frustratio n de r Masse n di e groß e Gefah r darstellt e un d da ß ma n selbst z u Löhnen , di e nich t übe r de r Arbeitslosenunterstützun g lagen , di e Reservearmee der Arbeiter mobilisieren konnte, wenn man es nur richtig tat und dabe i di e Visio n eine r neue n Wel t vorführte . Da s gal t besonder s fü r Deutschland, w o Arbeit al s Segen betrachtet wir d un d wo das einzige Hin­ dernis für die Entfesselung de r eingesperrten Arbeitskraftreserven z u niedri­ gen Löhnen oder sogar ohne jedes Entgelt der Widerwillen dagege n war, fü r den Profit de r Unternehmer z u arbeiten. Da s nationalsozialistische Regim e verstand das gut und verband seine Politik mi t vehementer Kriti k und sogar Mißhandlungen alte r Gewerkschaftsführer, di e von den Kommunisten un d den Arbeitslose n al s Verräter a n der Sach e de r Arbeite r betrachte t worde n waren. Daß diese Politik vo n allen Unternehmern, di e ihre eigene mißliche Lag e noch nicht voraussahen, enthusiastisch begrüßt wurde, braucht nicht beson­ ders betont zu werden; dasselbe galt für die Bauern, den Mittelstand und die Angestellten. Für sie alle schien die Unterdrückung de r Gewerkschaften ei n Mittel zur Steigerung der eigenen Macht zu sein. Die Rücksichtslosigkeit und Brutalität dieser Maßnahmen wurden von allen genannten Gruppen bejubelt, weil si e sich schon in potentielle Masse n verwandelt hatten , verzweifelt, ta ­ tendurstig und froh darüber, ihre Emotionen gegen Opfer auslassen zu kön­ nen, di e nicht zurückschlagen konnte n und von ihnen für die Ursache ihrer eigenen No t gehalte n wurden . S o mobilisierte da s Regime unter de r Parol e des Gemeinnutzes alle Instinkte des Klassenhasses gegen die Arbeiterorgani­ sationen . . . Auf de r einen Seite schuf da s nationalsozialistische Regim e einige Ersatz­ regelungen, die den wirklichen Bedürfnissen entsprache n und gleichzeitig die Arbeiter noc h stärke r i n de n Grif f de r Parte i brachten . Di e Organisatio n „Kraft durc h Freude “ (KdF ) offeriert e Reise n in s Auslan d un d innerhal b Deutschlands, Theatervorführungen, Konzert e usw., laute r Dinge, mi t de­ nen sich die Freizeit der Arbeiter organisieren ließ und sichergestellt werden konnte, daß sie den „richtigen“ Einflüssen ausgesetzt waren. Sie genossen die Befriedigung, jetz t dieselben Möglichkeite n wi e die Reichen zu haben, un d wurden daran gehindert, unbeaufsichtigt ode r allein mit ihren Gedanken auf der Suche nach gefährlichen Ideen zu bleiben. KdF ist ein sehr gutes Beispiel für di e Findigkeit de r nationalsozialistische n Führer : Nac h de r Zerstörun g der echten autonomen Einrichtungen [der Arbeiterbewegung], wie sie sich in Deutschland seit langem herausgebildet hatten, vermochte das Regime etwas Neues zu errichten, das der Kontrolle diente, sich für die Propaganda benut­ zen ließ und zu einem der unzähligen Fangstricke wurde. Dasselbe gilt für die 249 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Arbeitsfront, trot z de r Oppositio n gege n dies e Organisation , fü r de n Ar ­ beitsdienst un d fü r di e Jugendorganisationen ; al l dies e Institutione n un d Formationen gewanne n di e Masse n durc h Niederreiße n de r Grenzpfähl e zwischen de n soziale n Gruppen . De r Klassenantagonismu s wurd e parado ­ xerweise in den Dienst der Zerstörung der gesellschaftlichen un d politischen Macht de r Klasse n gestellt , währen d di e Masse n überal l institutionalisier t wurden. Ma n ließ ihren Emotione n frei e Bah n und verhinderte jed e poten­ tielle Opposition .

Permanente Mobilisierung un d Kriegsvorbereitun g Man muß sich klarmachen, da ß auf diese Weise alles in den Griff de s Staates und damit der Partei kam. Doch es wäre nicht dort geblieben. Die Entwick ­ lung hätt e nämlic h z u Bürokratisierun g un d Langeweil e geführ t - mi t de r Folge von Enttäuschung und Desillusionierung i n den Reihen der National ­ sozialisten selbst. Daß es dazu nicht kam, lag an der Gewaltsamkeit, de r Lei­ denschaft un d de m Elemen t de s Emotionale n i n eine r Politik , di e sowoh l potentielle Opponenten einschüchtert e als auch den Enthusiasmus der Mas­ sen anstachelt e . . . Der Gesellschaft wurd e nie erlaubt, sic h zu „beruhigen “ - den n das hätte wieder reale Macht für die sozialen Gruppen bedeutet; daher mußte die Be­ wegung fortgesetzt und die Revolution am Leben gehalten werden. Daß die­ ses Regime selbs t be i seine n konstruktivste n Schritte n de n Charakte r eine r Massenbewegung beibehielt , is t seine wichtigste un d auffälligst e Besonder ­ heit. Das bedeutet eine in der Geschichte beispiellose aggressive und dynami­ sche Politik, die mit allen Traditionen bricht und die Welt mit revolutionären Attacken au f jede m Gebie t überrascht . In einem modernen, auf den Massen basierenden Staat wird die Außenpo­ litik im Zentrum jeder Aktion stehen. Auf diesem Gebiet kann man Emotio­ nen am Leben erhalten . Aktiv e und offensiv e Politi k kan n mi t Leichtigkei t jede intern e Oppositio n bekämpfe n un d unterdrücken , besonder s dann , wenn die Nation sich zur Aggression berechtigt fühlt. Dies e Politik setzt Er­ ziehung zu m Krie g vorau s - psychologische s wi e auc h militärische s Trai ­ ning. Di e psychologische Erziehun g de s ganzen Volke s zu m Krie g paraly ­ siert die sozialen Gruppen und zerstört ihre Grundlagen; sie kanalisiert Mas­ senemotionen un d hält si e am Leben . Da s Kriegstrainin g bring t jede m Be ­ schäftigung: Scho n die Sechsjährigen läß t ma n marschieren, exerziere n un d sich in solch einem Ausmaß den „Kriegsspielen “ widmen , da ß sie den Cha ­ rakter bloßen Spiels verlieren und zu ernster Realität werden. Wenn ein Staat mit starken gesellschaftlichen Strukture n und widerstreitenden Interesse n im Innern sic h au f den Krieg vorbereitet , is t es schwierig, hierfü r genu g Geld , Energie und Interesse zu schaffen; de r militärische Aspekt ist nicht totalitä r 250 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

und kan n daz u ers t i m Lauf e de s Kriege s i n Folg e de r moderne n Techni k werden. De r Faschismus als Staat der emotionalen Masse n befindet sic h da­ gegen notwendigerweise i m Krieg, selbst wenn formal der Frieden herrscht; die Politik kann Krieg mit anderen Mitteln als dem militärischen Kampf füh­ ren. Dieses dauernd e Kriegführe n verhinder t da s Wiedererwache n de s Den ­ kens und der Artikulation in den sozialen Gruppen. Darüber hinaus verhin­ dert es das Aufkommen von Diskussionen über soziale Fragen und über Pro­ bleme, di e zu eine r andere n Wel t gehören . I n unserer Zeit de s technische n Fortschritts kan n e s nicht ausbleiben , da ß di e enorme n Möglichkeite n de r modernen Produktio n gewaltig e gesellschaftlich e Anpassungsproblem e schaffen. Di e Verteilun g vo n Einkommen , Reichtu m un d Mach t un d di e Friktionen de s Wirtschaftswachstums sin d Probleme einer jeden moderne n Gesellschaft un d besonder s de r demokratischen . Würd e sic h da s gesamt e Wirtschaftssystem de r Produktion fü r de n privaten Verbrauc h un d für pri ­ vate Investitione n zuwenden , müßte n di e Reallöhn e un d -einkomme n de r Arbeiter und der Mittelschichten rasc h ansteigen; mehr Einkommen und Si­ cherheit, wi e e s nur durc h erfolgreich e Planun g erreichba r ist , müßte n un ­ ausweichlich z u einer unabhängigeren Lebensführun g führen ; ohn e die Rü­ stungsaufgaben, di e das Land in einer Zwangsjacke gefangenhalten, ließ e sich der freie Welthandel wiederherstelle n un d die Devisenkontrolle abschaffen ; nur schwer ließen sich Reisen ins Ausland mit allen damit verbundenen „An ­ steckungsgefahren“ verhindern ; die Vierzigstundenwoche würde die Freizeit vermehren und neue Gefahren schaffen. Bei m Scheitern der Planung käme es andererseits wieder zu Depression und Arbeitslosigkeit. Ist aber die Rüstung das Hauptziel, kan n das Wirtschaftssystem i n höchstem Tempo arbeiten; es ist wi e in dem Märchen , w o jemand nu r einen Fuß zum Laufe n gebraucht , um nich t i n ei n paar Stunde n u m den ganze n Globu s z u renne n un d dami t immer sei n Zie l z u verfehlen . Di e Staatsausgabe n mache n de n Verlau f de r Wirtschaftsentwicklung stetig . Si e schaffen di e Arbeitslast un d den Abneh ­ mer für die Produktion, ohne die es unmöglich wäre, die strikte Disziplin ei­ nes ganzen Volkes und die bösartige Unterdrückung jede r freien Bewegun g durchzusetzen . . . Mit der Annexion der Tschechoslowakei un d mit in Vorbereitung befind ­ lichen Plänen für ähnliche Protektorate hat Deutschland den Weg des Impe­ rialismus beschritte n . . . Der neu e Staat, de r vor unseren Auge n entsteht , behält noch die Charakteristika des Massenstaates bei, ist aber darüber hinaus zu einem imperialistischen politischen Gebilde angewachsen. Die Frage nach der Stabilität wird so zu einer außenpolitischen Frage. Bei dieser Transforma­ tion is t di e Eroberun g de r entscheidende Schritt ; Eroberunge n i m große n Maßstab würde n di e Struktur de s Massenstaate s beeinflusse n . . . Scheinbar wäre eine liberale Bündnispolitik sichere r und ertragreicher; es scheint zumindes t so , als wäre e s von der Schutzmacht au s gesehen vorteil ­ hafter, de n Protektorate n eine n de n britische n Dominion s vergleichbare n 251 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Status z u verleihen . Da s wär e richtig , wen n e s bei de r Expansio n u m hohe Profite un d um Kapitalakkumulation ginge ; das sind aber nicht die Ziele der deutschen Außenpolitik, di e von keinerlei besondere n deutsche n Exportin ­ teressen ausgeht. Di e Eroberung dien t der Steigerung der politischen Mach t und der Vorbereitung eine r neuen Eroberung. Selbs t wenn einige Industrien dabei Gewinn e erzielen sollten , durc h Konzessionen , Kontroll e der auslän­ dischen Produktio n usw. , wär e da s nu r ein e sekundär e Auswirkun g un d nicht da s Zie l eine r solche n Politik . Kein Land , da s von eine m totalitäre n Staa t wi e Deutschlan d beherrsch t wird, kann größere Freiheiten erwarten als die Bürger Deutschlands selbst; es wird eine r rücksichtlosen Herrschaf t unterworfe n sei n un d konsequent au f die Bedürfniss e de s Kriege s hi n organisier t werde n . . . Diese Kontrolle und Ausbeutung wird das Aufgabengebiet vo n Leuten aus den deutsche n Mittelschichte n sein . E s wird sic h u m Parteimitgliede r mi t Privilegien handeln, die wahrscheinlich weniger in hohem Einkommen als in Prestige bestehen werden. Wenigsten s werden si e ihre Machtgelüste befrie ­ digen können, noch mehr sogar als in Deutschland. Diese böse Arbeit, zu der wahrscheinlich nach und nach Hunderttausende herangezogen werden, wird vielen die Türe öffnen, di e nie zuvor Deutschland verlasse n haben; sie wird eine neu e Oberschicht schaffen , di e an die Gewalt glaubt , sic h a n ihr freu t und sie praktiziert. De r riesenhafte Apparat wird beständig anwachsen, wo­ mit eine Transformation de s Staates bevorstehen könnte, durch die die Mas­ sen allmählic h au s de m Blickfel d verschwinden . De r Nationalsozialismu s wäre dann ein e abstrakte Macht , losgelös t selbs t von seiner ursprüngliche n Quelle. Er hätte aufgehört, ein e institutionalisierte Massenbewegung zu sein, und hätte seinen alten Ankerplatz verlassen. Wohin ginge sein Weg von die­ sem Punkt ? Diese Frage läßt sich nicht beantworten, doc h die Tatsache, daß sie gestellt werden muß , zeigt, da ß der Massenstaat kein e immanente Stabilität besitzt , sondern in der Gesellschaft de r Nationen als Zündkörper wirkt. Weite r zeigt sie, wi e seh r di e Interesse n alle r Staate n - Demokratien , Autokratie n ode r Oligarchien, integer oder korrupt, pazifistisch ode r räuberisch - di e gleichen sind, sobal d sie mit diesem Phänomen konfrontiert sind . Die Frage beweist, daß es in dem kommenden Kampf , wenn es dazu kommt , nich t nur um die Demokratie gehe n wird , sonder n u m etwa s Konkreteres : da s Bestehen de r Gesellschaft un d des Privatlebens. Und wenn es am Ende für diesen Kamp f zu spät ist oder wenn der Massenstaat Sieger über die Kampfkraft seine r Geg­ ner bleibt , geh t di e Welt eine m neue n Zeitalte r de r Sklavere i entgegen .

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Emil Lederer: Leben und Werk von Han s Speie r

I Emil Lederer war einer der besten deutschen theoretischen Nationalökono ­ men seiner Zeit, aber möglicherweise überragt die Bedeutung seiner Arbeiten auf de n Gebieten de r Wirtschafts- un d Sozialpolitik di e seiner analytische n Werke über wirtschaftliche Statik , Konjunktu r und Krisen, den Zusammen­ hang zwischen technischem Fortschritt und Arbeitslosigkeit und über andere Probleme der Wirtschaftstheorie. Seine Vielseitigkeit verbietet jedenfalls eine enge, fachliche Bezeichnung seines Lebenswerkes. Seine Interessen erstreck­ ten sich nicht nur auf Wirtschaftstheorie un d -politik, sonder n auch auf So­ ziologie, Sozialpsychologi e un d au f ander e Gebiet e de r Sozialwissenschaf ­ ten. Noc h gege n Ende der Weimarer Republik , al s er Professor de r Natio ­ nalökonomie in Berlin war, wurd e er in den Zeitungen of t als „der Berliner Soziologe“ identifiziert . Freilic h lebte er zu einer Zeit, in der die Spezialisie­ rung i n de n Sozialwissenschafte n Übergriff e i n benachbart e Gebiet e noc h nicht verwehrte. Insbesondere die Soziologie galt nicht eigentlich als ein Spe­ zialfach, sonder n al s eine Wissenschaft, di e sich mit Problemen de r Gesell ­ schaft als ganzer und ihrer Entwicklung befaßte . Die Spezialwissenschaft, i n der ei n Soziolog e vorgebilde t sei n mußte , konnt e Nationalökonomi e sein , Staatswissenschaft, Jurisprudenz , Geschichtswissenschaf t ode r ein e ander e Disziplin, di e sic h mi t gesellschaftliche n Tatsache n befaßte . Max Weber sprac h sic h gegen die Vermehrung vo n soziologischen Lehr ­ stühlen aus, als es vier solcher Ordinariate an deutschen Universitäten gab. In der Tat wa r kein klassische r deutsche r Soziologe al s Soziologe vorgebildet . Alle stießen zur Erforschung große r gesellschaftlicher Zusammenhäng e von einer Einzeldisziplin aus vor. Marx kam von der Philosophie und Ökonomie, Max Weber von der Jurisprudenz, Simmel von der Philosophie, Alfred We ­ ber von der Volkswirtschaftslehre, Toennie s war ein e Autorität übe r Hob ­ bes, Fran z Oppenheime r ka m ursprünglic h - wi e vie l Nationalökonome n vor ihm - von der Medizin, Vierkandt von der Ethnographie, von Martin von der Geschichtswissenschaft. Di e Beschäftigung mi t den formalen Aspekte n des gesellschaftlichen Lebens, dagegen, führte zu Leopold von Wieses inhalt­ losen Feststellunge n vo n „Beziehungen “ ode r z u Stoltenberg s skurrile n Wortschöfpungen, abe r nicht zu eine r besseren Kenntni s der Wirklichkeit . Jedenfalls wurd e di e empirische Erforschun g gesellschaftliche r Phänomen e 253 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nicht durch Soziologe n gefördert , dene n sozialwissenschaftlich e Interesse n außerhalb ihres Faches mangelten ode r die sich mit Dogmengeschichte un d Sozialphilosophie befaßten . Umgekehr t wa r e s zünftigen Nationalökono ­ men durchaus erlaubt, Abhandlungen über ein soziologisches Thema zu ver­ öffentlichen, ohn e dadurc h al s Dilettante n z u erscheinen . S o schrieb z . Β . Gerhard Colm , de r in Kiel Finanzwissenschaft lehrte , den Artikel „Masse “ für da s Handwörterbuc h de r Soziologie . Lederer, Inhabe r eine s Lehrstuhl s fü r Nationalökonomi e un d Verfasse r von Monographie n un d Textbüchern au f de n Gebiete n de r ökonomische n Theorie un d de r Sozialpolitik , wa r gleichzeiti g di e bedeutendst e deutsch e Autorität zu Fragen der sozialen Schichtung und veröffentlichte - noc h weit darüber hinausgehen d - Arbeite n „Zu r Soziologi e de s Weltkrieges“ , übe r „Zeit und Kunst“, „Soziologie der Gewalt“, „Zu m sozialpsychischen Habi ­ tus der Gegenwart“, „Zu m Methodenstreit i n der Soziologie“ un d viele an­ dere Themen, die mit Nationalökonomie wenig zu tun hatten. Der Schlüssel zu seinem Werk ist das Verständnis seiner leidenschaftlichen Anteilnahm e an den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen , dessen Zeuge er war, und seines weite n geistige n Horizonts . Alle s wa s sein e Aufmerksamkei t al s Staatsbürger und Zeitgenosse erregte, wurde ihm zum Gegenstand diszipli ­ nierter Analyse: die Gewerkschaftsbewegung, de r sog. „neu e Mittelstand“, die Kris e de s Parlamentarismus , da s Taylorsystem , de r Erst e Weltkrieg , „Mitteleuropa“, di e Sozialisierung , di e groß e Inflation , technische r Fort ­ schritt und Arbeitslosigkeit, di e Debatte über Autarkie, die Zukunft des Ka­ pitalismus, Planwirtschaft , di e Industrialisierun g Japans , de r Bolschewis ­ mus, de r nationalsozialistisch e Staat . Al l dies e Theme n behandelt e e r fü r nachdenkliche Lese r und gleichzeiti g fü r handelnd e Zeitgenossen lebendig , präzise, kritisch und oft mit ungewöhnlichem Spürsin n für das Kommende. So erkannte er bereits im Jahre 191 1 die Keime einer Krise des Parlamenta­ rismus i m Wachstum de r wirtschaftlichen Interessenvertretungen 1. S o wies er aufgrun d seine r Einsichte n i n di e Struktu r de r moderne n Gesellschaf t Ende der zwanziger Jahre auf die Möglichkeit eine r bis zum Bürgerkrieg ge­ steigerten universalen Kris e hin2. So sprach er 1931 in einer Diskussion übe r das Thema „Gib t es noch ein e Universität?“, a n der sich auch Paul Tillich , Erich Przywar a S . J . , Theodo r Haecker , Erns t Bloch , Euge n Rosenstock , Georg Swarzenski und Ernst Krenek beteiligten, vom „Zerreißen der Konti­ nuität des deutschen Bewußtseins durch den Weltkrieg und die ihm nachfol ­ genden Jahre“. Er sagte, das Bewußtsein der Studenten sei nun „flächenhaft “ geworden. Mit der Vorkriegszeit se i „auc h der Humanismus, de r zu ihr ge­ hörte, zerbrochen“ . E r glaubte zwa r a n die Möglichkeit eine r Renaissanc e der Universitä t abe r nu r unte r de r Voraussetzung , da ß „frei e Bildun g de r freien Überzeugun g un d di e Möglichkei t de r Diskussio n erhalte n bleibe n kann. Ein e Diktatu r führ t d a nu r i n di e Nacht“ 3. Noc h i n seine m letzte n Werk sa h e r voraus, da ß Deutschland i m Falle des Krieges Sklaven au s den besetzten Gebiete n Europa s zu r Fronarbei t importiere n werde 4. 254 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Fragt ma n nac h de n politische n un d moralische n Impulse n i n Lederer s Werk, nac h de n Werten, di e ihm teue r waren , s o werden viel e di e ih n gu t kannten, wi e sei n Schüle r un d Freun d Jako b Marschak , darau f hinweisen , daß er ein Rationalist war; er glaubte an Fortschritt als Resultat vernünftige r Bemühungen im Rahmen des gesellschaftlich Möglichen , un d er hielt solche Bemühungen fü r moralisc h geboten . I m Jahre 191 9 hat er einem Anhänge r Stephan Georges einmal gesagt, daß man in Deutschland nicht die Romantik, sondern das 18. Jahrhundert brauche 5. Und noch im Jahre 1932 bekannte er auf eine r Tagung des Vereins für Sozialpolitik i n der Diskussion seinen Un­ mut über die Allüren der modernen Romantiker. „ . . . un d ich muß bitten, es mir zugute zu halten, daß ich, konfrontiert mi t Anschauungen, die immer nur au s der Seele heraus, imme r nur au s dem Gefühl herausgehol t werden , die, i m Ton e de r Überlegenheit , letzte n Ende s imme r mi t transzendente n Mächten operieren, als ob sie auf diese ein Monopol hätten, daß ich in dieser Polemik als dürrer Rationalist bei mir entdeckte, daß ich auch nicht bloß eine Rechenmaschine bin. Und dann erlaube ich mir zu sagen, daß auch das ratio­ nalste Raisonnement letzte n Ende s wenigstens ebens o tiefe Wurzeln ha t als die romantische Ekstase.“6 Er war eben kein „dürrer Rationalist“. Er war da­ von überzeugt , da ß di e Vernunf t de m Mensche n zweifac h diene n müsse , nämlich erstens bei der Erkenntnis der gesellschaftlichen Mißständ e und ih­ rer Ursache n un d zweiten s be i de r Gestaltun g menschenwürdige r gesell ­ schaftlicher Verhältnisse . Über seine tiefsten Überzeugungen un d die Werte, die er für unabdingba r hielt, ha t e r sich in seinem Werk nich t zusammenhängend geäußert , un d es hätte ihn wohl verwundert, danach gefragt zu werden, denn sein Sozialismus enthielt ja die Antwort. Ledere r distanzierte sich ausdrücklich von Max We­ bers Vorstellunge n de r Welt , di e wede r au f eine n einheitliche n „Sinn “ ge ­ bracht werden , noc h nac h eine m Prinzi p geform t werde n könne . Be i alle r Bewunderung für Webers Leistung bezeichnete Lederer Webers Haltung als „nihilistisch“. E r vergab Webe r nicht , da ß e r im Einzelfal l „imme r bereit “ war, das von einer Idee diktierte „Handeln und Gestalten im weltgeschichtli­ chen Maßstabe “ al s „literatenhaft “ z u brandmarken . Ledere r wußte , da ß Webers „achselzuckende Geringschätzung “ de r Ideale auch die Idee betraf, die ih m teue r war 7. Besonders währen d de s Erste n Weltkrieg s ga b Ledere r of t z u verstehen , was ih m a m Herzen lag . Im Jahr e 191 5 veröffentlicht e e r ein e Abhandlun g „Zu r Soziologi e de s Weltkriegs“ (sieh e oben S. 119-44) in der er ausführte, daß der moderne Staat im Krieg e sic h lediglic h al s ein e „universell e Heeresorganisation “ erweise . „Nur jemand , de r selbständi g gewordene s Machtstrebe n anerkennt , ode r glaubt, daß sich in dem Kampf der Machtstaaten die Weltvernunft realisiert , wird dann auch diese moderne Erscheinungsform de s Staates, in der alle ge­ sellschaftliche Substan z suspendier t ist , bejahen. “ Ledere r wie s darau f hin , daß eine solche Bejahung des Staates im wesentlichen der Standpunkt sei, den 255 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Max Schele r i n seine m Buc h „De r Geniu s de s Kriege s un d de r deutsch e Krieg“ eingenomme n hatte . We r diese Entwicklung verneine , fuh r Ledere r fort, müsse den „Kampf für die Rechte des Individuums und der Gesellschaf t gegenüber de m Staat“ wiederaufnehme n ode r fortsetzen. De r Staat se i ein e „abstrakte Organisatio n ohn e konkreten Inhal t . . . und darum auc h kein e Realität sui generis. “ Dies e Ansich t Lederer s übe r de n „inhaltlosen “ Staa t nimmt in gewisser Weise seine mehr als 20 Jahr e später entwickelte Theori e des totalitäre n Regime s vorweg , wonac h di e modern e Diktatu r di e nac h Klassen und anderen Gruppen gegliederte Gesellschaft zerstör t und in einen Staat de r „Massen “ verwandelt . I m Jahre 1915 , zu Beginn de s ersten Welt ­ kriegs, fragt Lederer, was denn angesichts dieses inhaltlosen, entmenschlich ­ ten Staates die eigentlichen Realitäten seien; er antwortete: „lediglich . . . der Mensch . . . un d die Idee.“ Unter „Mensch“ verstand er ausdrücklich zweier ­ lei: den einzelnen Menschen un d den als Mitglied eine r Klasse in die Gesell­ schaft eingegliederte n Menschen . „Di e Idee“ , di e e r de m inhaltlose n Staa t entgegensetzte, wa r de r Sozialismus , den n von der kapitalistische n Gesell ­ schaftsordnung erwartet e e r weni g Gute s fü r de n Menschen . Lederer war Sozialist seit seiner Studentenzeit. I n einer seiner bedeutend ­ sten Abhandlungen, die er gegen Ende des Ersten Weltkriegs veröffentlichte , führte er aus, daß die kapitalistische Wirtschaftsordnung „da s Leben der ar­ beitenden Schichten zertrümmert“ habe . Aber überraschenderweise hatt e er dabei ausdrücklich nicht die in der marxistischen Theori e betonte „Verelen ­ dung“ im Sinne. Er sprach statt dessen von der „Atomisierung de r Lebensin­ halte“, von dem Mangel a n „Dauer “ i m Leben des modernen Menschen ; er untersuchte di e Schrumpfung de r Einheitsperiod e de s Lebens für verschie ­ dene soziale Schichten in der modernen Gesellschaft un d betonte die Entfer ­ nung de r Lebensinhalt e vo n eine r „natürlichen “ Form 8. Der Standpunkt, vo n dem sich diese humanistisch-sozialistische Sich t des modernen Leben s eröffnete , hatt e mi t de n Ideologie n de r Gewerkschafte n und der politischen Linksparteien nicht s zu tun. Man könnte sogar versucht sein, Lederers Ansicht - konservati v z u nennen, wenn er nicht gerade zu je­ ner Zei t vorübergehen d de r Unabhängige n Sozialdemokratische n Parte i (USPD) angehört hätte 9. Vermutlic h entstammt e dies e politische Radikali ­ sierung nicht nur der Enttäuschung übe r die schwerfälligen Freie n Gewerk ­ schaften, die ja gerade in bezug auf ihre bürokratische Organisation dem „in­ haltlosen“ Staat e nicht ganz unähnlich waren , sonder n auch seiner Opposi ­ tion gegen die Kriegspolitik der Regierung. Wie dem auch sei, Lederers Men­ schen- un d Geschichtsbil d wa r nich t rei n aufklärerisch-rationalistisch . E s trug Züge , wonac h da s Vergangene kulturelle n Eigenwer t besa ß un d nich t nur als eine niedere Stufe der Entwicklung zu r höheren Gegenwart erschien . Eine solche Auffassung de s Geschichtlichen ist auch in vielen anderen Arbei­ ten nachzuweisen . Lederers parteipolitische Radikalisierun g gege n Ende des Krieges hat sich dahingehend ausgewirkt , da ß er bis zum Ende der Weimarer Republik de m 256 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Allgemeinen Freie n Angestelltenbun d (Afa-Bund ) nähe r stand als dem All­ gemeinen Deutsche n Gewerkschaftsbun d (ADGB ) der Arbeiter; obwohl er Kontakt mit Legien, Hué und anderen Gewerkschaftlern hatte, war ihm kein Arbeiterführer s o nah e wi e Siegfrie d Aufhäuser , de r Vorsitzend e de s Afa Bundes. Den Bolschewismu s dagege n ha t Lederer imme r abgelehnt. 191 9 schrieb er, de r Krie g hab e in de n Masse n di e primitivsten Gefühl e de s Hasses un d Neides geweckt un d „ein e Disposition geschaffen , i n welcher der Gedank e des Sozialismus nur in seiner Karikatur, al s Forderung des Teilens begriffe n werden kann“ 10. Er glaubte damals noch, daß der Sozialismus, in der kapita­ listischen Wel t von Positio n z u Position fortschreitend , „unterstütz t durc h die wirtschaftliche Entwicklun g Anhänge r gewinnt, si e schult und sich eine sozialistische Wel t aufbaut“ 11. De r Bolschewismus wa r dagege n ei n Sozia ­ lismus „terroristische r Färbung“ , de r die „Revolutionierun g sozia l unreife r Schichten“ forcierte 12. Später, nach einer Reise in die Sowjetunion im Jahre 1932, war Lederer be­ eindruckt vo n de r Kraftentfaltun g de s russischen Volke s mi t de m Ziel, di e Industrialisierung gege n fas t unüberwindlich e Widerständ e z u erreichen . Dies erschie n ih m al s etwas, das „ander e europäische Völker bishe r nur im Kriege und für de n Krie g als o für di e Zerstörung entfalte t haben“ . Abe r er bemerkte i n Rußlan d ein e grenzenlos e Begeisterun g fü r di e Techni k un d fügte bezeichnenderweis e hinzu : „Etwa s wi e Skepsi s gegenübe r de n Wir ­ kungen der Technik auf die eingeborene Natur des Menschen ist nicht zu fin­ den. Bedenken, die der Monotonie der Arbeit gelten, und Fragen, die in diese Richtung weisen , werde n nich t verstanden“ 13. I m übrige n verriete n sic h seine humanistischen Neigungen wiederum in der Feststellung, daß die russi­ sche Propaganda den Massen ein „gewaltsam vereinfachtes Weltbild“ anbot : „. . . da s Kulturproduktiv e i n den große n Geschichtsepoche n de r Vergan ­ genheit is t auße r ach t gelassen“ 14. In seinem letzten Lebensjahr schließlich schrieb Lederer, daß niemand ge­ gen den Faschismus Stellung nehmen könne, „wenn er die Diktatur des Pro­ letariats nach dem historischen Beispie l Rußland s befürworte“ 15. Beid e Sy ­ steme, Faschismu s un d Bolschewismus , zerstörte n di e für di e menschlich e Freiheit un d fü r di e Kulturentwicklun g entscheiden d wichtig e „Artikula ­ tion“ verschiedener gesellschaftlicher Interessen . So war es fast buchstäblic h sein letztes Wort, daß nur eine geschichtete, nicht eine „klassenlose“, Gesell­ schaft „di e Fortentwicklun g un d Existen z de r Zivilisatio n bewahre n kön ­ ne“16. Die „Idee“ , di e Ledere r de m „inhaltlosen “ Staa t entgegensetzte , wa r am Ende seines Lebens nicht mehr die wirtschaftlich-organisatorische de s Sozia­ lismus, sonder n primä r di e politische Ide e demokratische r Freiheit . Nich t daß e r aufhörte, wirtschaftlich e Planungsmaßnahme n z u befürworten , u m zu bewahren , wa s der Kapitalismu s geleiste t hatte , un d zu leisten, wa s de r Kapitalismus nich t unternehme n konnte 17, abe r di e entscheidende Zuspit 257

17 Lederer , Aufsätz e

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zung seines freiheitlichen Humanismu s bestand nach 1933 nicht mehr in dem wirtschaftlichen Gegensat z Kapitalismus - Sozialismus , sondern in der poli­ tischen Antinomi e Terro r un d Verfolgun g vs . Freihei t i n der Demokratie . II Lederers Lebe n un d beruflich e Laufbah n spielt e sic h i n vier verschiedene n politischen Kulturen ab: im alten Österreich (Pilsen und Wien), im wilhelmi­ nischen Deutschlan d (Heidelberg) , i n de r Weimare r Republi k (Heidelber g und Berlin ) un d i n de n Vereinigten Staate n (Ne w York) . Emil Ledere r wurd e i n Pilse n a m 22 . Jul i 188 2 al s Soh n de s jüdische n Kaufmanns Philip p Ledere r und seiner Ehefra u Sophie , geb . Schwarzkopf , geboren. E r besuchte das k. k . deutsch e Staatsgymnasium in Pilsen, an dem er die Maturitätsprüfung i m Juli 190 1 „mit Auszeichnung “ bestand . Begin ­ nend i m Wintersemeste r 190 1 studiert e e r Rechtswissenschaf t un d Volks ­ wirtschaftslehre a n de r Universitä t Wien . Wie an allen Universitäten Österreichs war Politische Ökonomie der juri­ stischen Fakultä t angegliedert . Di e Studente n hörte n i n de n beide n erste n Studienjahren ausschließlich juristische Vorlesungen, d a sie Ende des dritten oder vierten Semesters eine rechtshistorische Staatsprüfung ablege n mußten. Lederer ta t dies schon i m April 190 3 und hörte im vierten Semeste r bereit s Allgemeine österreichisch e Statisti k sowi e Differential - un d Integralrech ­ nung nebs t eine r Vorlesun g übe r di e Geschicht e de r Rechtsphilosophie . Noch 191 6 beklagte Josep h Schumpeter , de r damal s Volkswirtschaftslehr e an der Universität Gra z unterrichtete, da ß die Studenten des dritten Jahres, die di e nationalökonomisch e Hauptvorlesun g hören , Anfänge r seien , da ß aber die Tätigkeit der Studenten des vierten Jahres unter dem Druck des Prü­ fungsstudiums fü r di e juristischen Fäche r stehe , den n a m End e des vierte n Jahres mußte n si e di e judiziell e Staatsprüfun g ablegen . Al s akademische s Fach war daher die Nationalökonomie de r Jurisprudenz gegenüber benach ­ teiligt, und ihre Lehrer mußten sich damit trösten, daß zu den geplagten jün­ geren Studenten gelegentlich auch ältere traten, die das Doktorat bereits hin­ ter sich hatten, bzw. Staatsbeamte im Ruhestand waren, und endlich Damen, „die zwar vo m Rechtsstudium i n Österreich ausgeschlosse n sind , sic h abe r gelegentlich al s Hospitantinne n mi t Nationalökonomi e befassen“ 18. Lederer belegt e i m fünfte n Semeste r nich t wenige r al s acht Vorlesunge n und Seminar e mi t insgesam t 3 4 Wochenstunden . Sei n Program m umfaßt e eine Vorlesung un d Übungen i n Volkswirtschaftslehre be i Eugen Philippo ­ vich, ei n statistisches Seminar und nochmals Differential- un d Integralrech ­ nung. Ers t in den letzten drei Semestern verlegte sich das Gewicht in seinen Studien auf Nationalökonomie, Finanzwissenschaft un d Statistik. E r war ein Mitglied der Seminare von Böhm-Bawerk und von Wieser, den Führern der Grenznutzenschule. Währen d seine s Studium s i n Wie n wa r Ledere r i m 258 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Sommersemester 190 3 auch an der Universität Berli n immatrikuliert, w o er u. a . die große Vorlesung Gustav Schmollers über Allgemeine und Theoreti­ sche Nationalökonomie hörte. Im Juli 190 5 bestand er dann in Wien die judi­ zielle Staatsprüfun g „mi t genügende m Erfolge “ un d a m 25 . Oktobe r da s staatswissenschaftliche Rigorosu m zu m Erlange n de r juristische n Dotor ­ würde mi t de m Prädika t „ausgezeichnet“ . Er war nun als Advokaturskandidat i n den Jahren 1906-0 7 zur Rechtspra­ xis bei verschiedene n k . k . Landes- , Kreis - und Handelsgerichten i n Wien, Pilsen un d Brux zugelassen. Danac h arbeitet e er von 190 7 bis 191 0 für de n Niederösterreichischen Gewerbe-Verei n i n Wien, w o er im März 190 9 den Titel „Sekretär-Stellvertreter “ erhielt . Abe r e r stand sei t de m Beginn seine r Karriere der Arbeiterbewegung nahe , und war seit seiner Studienzeit mit So­ zialisten, wi e Rudol f Hilferdin e un d Ott o Bauer , befreundet . Bereits in Österreich begann Lederer sozialwissenschaftliche Abhandlun ­ gen, zunächst über das Baugewerbe und die Gebäudesteuer, vor allem in der von seine n Wiene r Lehrer n herausgegebene n „Zeitschrif t fü r Volkswirt ­ schaft, Sozialpoliti k un d Verwaltung “ z u veröffentlichen . I n de r gleiche n Zeitschrift erschie n auc h ein e kritisch e Untersuchun g übe r Kar l Marx . Im Oktober 190 7 heiratete Lederer in Wien Emy Seidler, die Tochter des ungarischen Fabrikante n Leopol d Seidle r au s Ungvar . Di e Eh e mi t Em y Seidler war von großer Bedeutung fü r Lederer s Schaffen un d Wirken. Em y arbeitete en g mi t ih m zusammen , verbessert e gelegentlic h seine n Sti l un d schrieb später einen großen Teil des 192 9 unter beider Namen erschienene n Buches „Japan - Europa“ . Auf Emys Kontakte mit ungarischen Intellektuel ­ len sin d ferne r verschieden e Bekanntschafte n un d eng e persönliche Bezie ­ hungen Emil Lederers zurückzuführen, einschließlic h die mit Georg Lukács, Karl Mannheim und dem Wirtschaftsjournalisten Alber t Halasi, der ihm un­ ter seine n Freunde n besonder s nah e stand . Bis zu seinem Lebensende verriet sich Lederers Herkunft au s der österrei­ chisch-ungarischen Doppelmonarchie , i n de r e r die erste n 2 8 Jahr e seine s Lebens verbrachte , nich t nu r gelegentlic h i n seine r Sprechweise , sonder n auch i n viele n Charakterzügen ; eine r natürliche n Liebenswürdigkeit , de r heiteren Klarheit seines Geistes, der Neigung zu Skepsis und Ironie und trotz aller geistige n Aufgeschlossenhei t eine r fas t geheime n Hochachtun g fü r überkommene Formen . Alvi n Johnson , de r Direkto r de r Ne w Schoo l fo r Social Research in New York, wollte später in Lederers Benehmen sogar „die alte spanische Höflichkeit de s Habsburger Reiches“ entdecken, aber Lederer war nicht gravitätisch oder auf Anerkennung seiner Würde erpicht. In seiner Achtung fü r di e Gefühle andere r mischte n sic h Entgegenkomme n un d Zu­ rückhaltung; er war ein warmherziger Freund, aber ebenso unnachgiebig wie geschickt als Streiter für eine Sache, die ihm wichtig war. Sein Witz war nie­ mals scharf. Al s ic h Heidelberg nac h de m Doktorexame n verließ , fragt e e r mich, wen ich als meinen Nachfolger in der Assistentenstelle, die ich bei ihm innehatte, empfehlen könnte . Als ich zögerte, mit der Begründung, nu r den 259 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Namen eines Freundes nennen zu können, antwortete er ruhig: „Ich erwarte doch nicht , da ß Si e einen Ihre r Feind e empfehlen. “ Nur wenige Tage vor seiner Verheiratung wa r er zur evangelischen Kirch e übergetreten. Der Taufschein nennt Emy Seidler als Zeugen. Die Taufe fand wohl mit Rücksicht auf Lederers berufliches Fortkommen statt. Weder Emil noch Emy Ledere r haben jemal s stark e religiöse Bindunge n bekundet , un d Lederer stand später den sog. religiöse n Sozialiste n skeptisc h gegenüber . I n den dreißiger Jahren hat er sich privat einmal dahingehend geäußert , da ß er die Religiosität frommer Menschen achte, wie er auch die Gläubigkeit marxi­ stischer Hegeliane r nich t verspotte , da ß ih m abe r di e Kombinatio n vo n Christentum und Marxismus bei den religiösen Sozialisten recht unverständ­ lich sei . III Lederer kam im Jahre 191 0 nach Heidelberg, au f Initiative von Edgar Jaff é, der die Kombination von sozialpolitischem Radikalismu s und theoretische r Vorbildung i n de r Wiene r Grenznutzenschul e a n de m vo n Böhm-Bawer k empfohlenen junge n Gelehrte n schätzte . Al s Ökonom stan d Ledere r Mar x kritisch gegenüber. Er erwartete zwar von seinen Studenten Vertrautheit mit der Arbeitswertlehr e vo n Ricard o un d Marx , kannt e gena u di e ökonomi ­ schen Analysen vo n Marx und zitierte oft di e Werke der Austro-Marxiste n über Imperialismu s un d Nationalitätenfrage , abe r i m Lich t seine r österrei ­ chischen Lehrer erschien ihm Marx als Ökonom veraltet und unzureichend. Außer den Österreichern schätzte er ferner als Theoretiker die Engländer Je­ vons und Marshall. Abe r der „Meister“ wa r für ihn Joseph Schumpeter, mi t dem er später in der Sozialisierungskommission zusammenarbeitet e und den er in der Weimare r Zei t gelegentlic h nac h Heidelber g z u Vorträgen einlud . Als Soziologe war Lederer stark von Marx beeinflußt, obwoh l er es in sei­ nen Schriften stet s betonte, wenn die gesellschaftliche Entwicklun g vo n den marxistischen Prognose n abwich , wen n ökonomisch e Interesse n a n Profi t oder Lohn- und Gehaltssteigerung den Klassenkampf modifizierten , un d be­ sonders wenn starr e Anhänglichkeit a n Gewerkschaftsinteressen da s politi­ sche Handeln der Sozialisten zu lähmen schien. 191 6 veröffentlichte er einen Aufsatz i n Grünberg s Archi v übe r de n Sozialismu s un d da s Program m „Mitteleuropa“ (s . obe n S . 97-118) , i n de r Revolutionszei t verschieden e Aufsätze i n de r Wiene r Zeitschrif t „De r Kampf “ un d späte r viel e Beiträg e in der SPD-Zeitschrift „Di e Gesellschaft“ . Bis zum Ende des Kaiserreichs und darüber hinaus befaßte sich Lederer in­ tensiv, wenn auch nicht ausschließlich, mit den sozialen Konflikten de r deut­ schen Gesellschaft. E r wurde zum Chronisten de r wirtschaftlichen Interes ­ senkämpfe i m deutsche n Kapitalismu s un d ihrer Einflüss e au f di e Politik . In Heidelberg fühlt e sich Lederer zunächst am wohlsten i n Diskussione n 260 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

mit radikalen Studenten . Z u solchen Diskussionen, au f die sich auch Lede­ rers lebenslang e Freundschaf t mi t Han s Staudinge r un d seine r Fra u Els e gründete, wurde n of t bekannt e Gelehrt e und Politike r au s anderen Städte n eingeladen, z . Β . Lujo Brentan o un d Victo r Adler . Di e „soziologische n Abende“ waren Veranstaltungen, auf denen gelegentlich auch die Frauen be­ kannter Universitätslehrer erschienen . Überhaupt übten bedeutende Frauen in Heidelberg, wi e in vielen früheren Kulturzentren , eine n formenden Ein ­ fluß auf den Lebensstil aus. Emil Lederer nahm ferner an den bekannten Dis­ kussionen i m Hause Max Weber s teil, z u denen Marianne Weber Besuche r und Einheimisch e vo n Geist , Begabun g un d Gelehrsamkei t versammelte . Diese Tees waren viele Jahre lang eine wichtige gesellige Stätte freien geisti ­ gen Austausch s i n Deutschland . Auch de r Kreis um Stephan Georg e war in der philosophischen Fakultä t vertreten, bei den Nationalökonomen u . a . später durch Edgar Salin. Vor al­ lem lehrt e Friedric h Gundol f i n Heidelberg , ohn e i n seine n unlebendige n Vorlesungen di e feierlich e Beredsamkei t seine r Schrifte n ode r de n Char m seiner Persönlichkeit ahne n zu lassen. De m ,Meister ' selbe r begegnete man noch i n de n zwanzige r Jahre n gelegentlic h au f de r Straße. Stepha n Georg e ging nicht: er schritt- ein weißhaariger, unnahbare r Darsteller der kulturel­ len Rolle, die er sich geschaffen hatt e und spielte. Lederer stand dem Geor­ ge-Kreis fern . Schon vor seiner Habilitation, sei t Anfang de s Jahres 1910 , begann er im Archiv fü r Sozialwissenschaf t un d Sozialpolitik ein e „Chronik “ de r sozial ­ politischen Entwicklun g i n Deutschland und Österreich zu veröffentlichen . In mehreren Jahreszyklen behandelte er in jedem Heft des Archivs auf 20 bis 30 Druckseiten j e einen der folgenden Aspekt e dessen, wa s er „den sozialen Unterbau de s Geschehens “ nannte : 1. Gewerkschaftsbewegun g mi t der Arbeiterschutzgesetzgebung, Streiks , Aussperrungen; 2. Unternehmerorganisationen ; 3. Organisatione n de r Privatangestellte n mi t de r Angestelltensozialpoli ­ tik; 4. Bewegun g de r öffentlichen Beamte n mi t den Bestrebungen u m Schaf­ fung eines Dienstrechts der öffentlichen Beamte n und der Sozialpolitik für öffentlich e Beamte ; 5. Mittelstandsbewegun g un d -politik ; 6. agrarisch e Organisatione n un d agrarisch e Sozialpolitik ; 7. Konsumentenorganisatione n un d ihr e sozialpolitischen Bestrebunge n (ab 1911) . Der Plan der „Chronik“, die später, im April 1920, in „Kritische Übersicht der sozialen Bewegung“ umbenannt wurde, entsprang einer Überlegung, di e in der Einleitung zu m ersten Abschnitt z u finden ist . „Wi e fast überall“, s o führte Lederer aus, so seien auch in Deutschland „mächtige Organisationen“ „im Rücke n de r politische n Parteien “ entstanden , di e eine n „krisenhafte n 261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Zustand des Parlamentarismus“ herbeigeführ t hätten . Diese Organisatione n von Interessenten hätten „die großen Gesichtspunkte der Politik, die schöne Geste der Redner“, Begeisterung und Elan aus der Jugendzeit des Parlamen­ tarismus beseitigt un d al l die s „gan z jenseit s allgemeine r ethische r un d staatserhaltender Erwägungen “ durc h klassenkämpferisch e Gedanke n un d Handlungen ersetzt, die sich auf die Verteilung wirtschaftlicher Güte r bezö­ gen. Im zweiten Jahreszyklu s tra t anstelle de r oben genannten Abschnitt e (5 ) und (6) eine große Abhandlung über Interessenorganisationen un d die politi­ schen Parteien. Sie erschien 191 2 im Archiv und später selbständig als Buch und befaßte sich mit den Reichstagswahlen von 1912 19; diese hatten beim Er­ scheinen des Heftes, aber nicht bei der Abfassung de r Untersuchung, bereit s stattgefunden. Nebe n Lederers posthum erschienenem Buche über den Na­ tionalsozialismus wa r e s seine umfangreichste un d bedeutendste Arbei t au f dem Gebiet, das man heute in Deutschland als Politologie und in den Verei­ nigten Staate n al s politische Soziologi e bezeichnet . Die Zahl der freigewerkschaftlich organisierte n Arbeite r wa r in den zeh n Jahren vor der Wahl im Januar 191 2 auf das dreifache gestiegen und ihr Ver­ mögen auf das achtfache. Auc h die Unternehmerorganisationen konnte n i n diesen zehn Jahren einen großen Machtzuwachs verzeichnen. Aufgrund die ­ ser Trends und der jüngsten Entwicklung der Organisationen von Angestell­ ten, öffentliche n Beamte n un d Konsumente n nebs t de r Gründun g neue r wirtschaftspolitischer Organisationen , wi e des Hansabundes und des Deut­ schen Bauernbundes , erkannt e Lederer , da ß di e Wähle r ungleic h meh r al s früher durc h ihr e Zugehörigkeit z u Interessenverbände n gebunde n waren . Er glaubte und hoffte, da ß alle diese Tendenzen sic h gegen die herrschend e Wirtschafts- un d Hochschutzzollpoliti k un d gege n di e vo n de r Regierun g verfolgte Steuerpoliti k richte n würden . Trotzde m la g fü r ih n da s Entschei ­ dende der Wahlen nich t primär i n der Steigerung de r sozialdemokratische n Mandate, di e er richtig voraussah . E r glaubte vielmehr, da ß „da s Zukunft ­ Entscheidende fü r Deutschland “ davo n abhinge , „o b die bürgerlichen un d linksstehenden Parteie n imstand e sei n würden , di e wichtigste n Teil e de s ,neuen' un d alten Mittelstandes un d die Bauernschaft a n sich zu ziehen un d eine bürgerliche Demokrati e in Deutschland vorzubereiten“. E r hoffte als o auf Eroberun g vo n Mandate n de r Konservative n un d de s Zentrums durc h Nationalliberale un d Fortschrittspartei , entsprechen d de m damal s grassie ­ renden Schlagwor t „Vo n Bassermann bi s Bebel“ . Wie er die Krise des Parlamentarismus in Deutschland sehr früh voraussah, so erkannte er auch die demagogische Funktion des Nationalismus. Die Re­ gierung gäb e nationale Parolen aus, um den Interessengesichtspunkt i n de n Hintergrund z u drängen . E r zitiert e au s de r Regierungserklärun g z u de n Wahlen im Jahre 191 2 „. . . weder in der Hauptwahl noc h in der Stichwah l kann ein in ernster Zeit um die Zukunft des Vaterlandes besorgter Mann seine Stimme einem Sozialdemokraten geben“. Die SPD ging aus der Wahl mit 4 ½ 262 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Millionen Stimmen und 110 Mandaten als die stärkste Partei hervor, aber Le­ derers Hoffnung au f die Anbahnung eine r bürgerlichen Demokratie erfüllt e sich nicht . Lederers Arbei t ist eine noch heute vorbildliche Analyse. De r Autor wa r sich seiner Leistung bewußt. „Zu m ersten Mal“, schrieb er, „wurd e hier der Versuch unternommen, (aufgrund eine s größeren Materials) die wirtschaftli­ che Komponente im Wahlkampf herauszulösen und auf ihre Wirkungen und Wirkungsmöelichkeiten z u prüfen.“ Lederer habilitiert e sic h al s Nationalökonom i n de r philosophischen Fa ­ kultät der Universität Heidelberg im Februar 1912 . Ein Jahr früher, im März 1911, hatte ihm Lujo Brentano auf seine briefliche Anfrag e hin die Aussicht eröffnet, da ß e r sic h nac h Erfüllun g de r übliche n Voraussetzunge n a n de r Universität München für Nationalökonomie und Versicherungswesen habi ­ litieren könne 20. Abe r Ledere r ga b di e Münchene r Pläne , di e fü r ih n viel ­ leicht eine Art Rückversicherung bedeuteten , zugunste n der Habilitation i n Heidelberg auf . E r wurde jedoch noc h i m Juli 191 1 Doktor de r National ­ ökonomie in München magna cum Uude mit einer Arbeit über „Die Pensions­ versicherung der Privatangestellten“. Sie erschien in Tübingen im Druck von H. Laup p jr. 1911 ; etwa zwei Drittel der Arbeit wurden gleichzeitig i m Ar­ chiv fü r Sozialwissenschaf t un d Sozialpoliti k veröffentlicht . Das Thema der Angestellten, übe r das Lederer 191 2 ein klassisches Buc h veröffentlichte (sieh e den Auszug oben S. 51-82) und auf das er in vielen Ab­ handlungen i n den nächsten zwanzi g Jahre n imme r wiede r zurückkomme n sollte, wa r eine s de r Haupttheme n seine s Lebenswerkes . Wi e viel e marxi ­ stisch orientierte Sozialwissenschaftler seine r Generation war er mit der Vor­ stellung eine r ständi g wachsende n Arbeitermass e aufgewachsen . Abe r nie ­ mand hat mit größerer Eindringlichkei t darau f hingewiesen , da ß in der mo­ dernen Gesellschaft di e „Zwischenschichten“ de r Angestellten und der staat­ lichen Beamte n relati v meh r al s di e Arbeiterschaf t anwachsen . D a dies e Schichten in der modernen Wirtschaft ih r Schicksal so wenig wie die Arbeiter bestimmen können , sprac h Ledere r vo n de r „Umschichtun g de s Proleta ­ riats“, obwohl e r wußte und betonte, da ß viele Mitglieder diese r Zwischen­ schichten noc h romantische n un d späte r faschistische n un d nich t gemein ­ wirtschaftlich-sozialistischen Vorstellunge n zuneigte n (vgl . obe n S . 184) . Sowohl Lederers Mitarbeiterschaft am „Archiv“ als auch seine herausgebe­ rische Tätigkeit ware n eng mit seiner akademischen Laufbah n i n Heidelberg verbunden. Sei n erste r Beitrag erschie n noc h vo r seine r Übersiedlun g nac h Heidelberg. Währen d e r regelmäßi g di e Sozialpolitisch e Chroni k verfaßte , die übrigens sei t 191 2 noc h durc h ein e sozialpolitische „Tageschronik “ er ­ gänzt wurde, erstreckte sich seine Mitarbeit auch auf das Gebiet der ökono­ mischen Theori e un d besonder s währen d de s Weltkrieg s au f da s der Wirt ­ schaftspolitik. Seit Januar 1911 , d. h . noch vor seiner Habilitation i n Heidelberg, zeich ­ nete Lederer als Redaktions-Sekretär de s „Archivs“ , während Edgar Jaffé in 263 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Verbindung mit Werner Sombart und Max Weber der Herausgeber war. Erst im Jahre 191 8 mit Lederer s Ernennun g zu m a.o . Professo r wurd e „Redak ­ tions-Sekretär“ in „Schriftleitung“ umgeändert . Nach dem Tode Edgar Jaffés und nich t lang e vor Lederer s Beförderun g zu m ordentliche n Professo r de r Nationalökonomie und Finanzwissenschaft, wurd e er im Oktober 192 1 ge­ schäftsführender Herausgebe r de s „Archivs“ . Al s Mitherausgeber zeichne ­ ten nu n Joseph Schumpete r i n Wie n un d Alfre d Webe r i n Heidelberg . Den Ereignissen im Weltkrieg un d dem Zusammenbruch de s wilhelmini ­ schen Reich s folgt e Ledere r mi t leidenschaftliche m Interesse . Nac h seine r Ansicht gehörte der Krieg nicht notwendigerweise in das Bild der kapitalisti­ schen Entwicklung. E r sah ihn vielmehr als eine Folge der dem Kapitalismus fremden, abe r in ihm noch sehr wirkungsvollen feudale n Mächte . Er unter­ suchte die wirtschaftlichen Umschichtunge n infolge des Krieges und berich­ tete mit gewohnter Sachlichkeit über das soziale und politische Verhalten der Arbeitgeberverbände un d Gewerkschaften , einschließlic h de r Streikbewe ­ gungen. Die Rationierung de r Lebensmittel i m Februar 191 5 bestätigte ih m den Ernst der Lage, „welcher damals, wie auch später, so häufig von offiziel ­ ler Seite geleugnet wurde“ 21 . Das Hilfsdienstgesetz mi t der Umorientierung aller Produktion auf die Kriegsindustrie war ihm „das weithin sichtbare Zei­ chen dafür, da ß die Kriegsführung übe r die Maße hinausgeht, welche inner­ halb einer kapitalistischen Warenerzeugung möglich sind“ 22. Er war erbittert über die Regierungspolitik, di e dafür sorgte, daß „mit allen Mitteln der Agi­ tation un d Propagand a i n bedenkenlose r Demagogie “ jede r Realitätssin n „geradezu ausgerotte t wurde“ 23 . Lederers Analyse des Weltkriegs verdankte viele Einsichten dem Vergleich der wirtschaftlichen Ereigniss e mi t de n Verhältnisse n i n Englan d währen d der napoleonischen Kriege . Bereits 191 6 veröffentlichte e r eine Abhandlung über di e Überleitun g de r Wirtschaf t i n de n Friedenszustand , de r dan n i m Jahre 192 0 ein Buch über Deutschlands Wiederaufbau un d weltwirtschaftli ­ che Neueingliederun g durc h Sozialisierun g folgte . IV Lederer glaubte, daß im November 1918 die politische Macht dem Proleta­ riat zugefallen sei . E r befürwortete di e Sozialisierung. Abe r schon im Jahre 1920 schrieb er enttäuscht: „Nach einem Anlauf, nach prinzipiellen Deklara ­ tionen, de r Bestellun g eine r Sozialisierungskommission , is t schließlic h nichts geschehen“24. Zum Teil war dies die Folge der Opposition seitens der Unternehmer. „Di e Angst des deutschen Kapitalisten vor der Sozialisierung ist so stark, da ß er die Verschleuderung in s Ausland, besonder s wenn er da­ durch ein ausländisches Bankguthaben erwerben konnte, weitaus vorzog.“25 Aber auch die Gewerkschaften hatte n ein stärkeres Interesse daran, die poli­ tische Ordnung aufrecht zu erhalten und ihre engeren Forderungen durchzu264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

setzen als die Sozialisierung zu betreiben. So hielt Lederer bereits 1920 Sozia­ lisierung un d Planwirtschaft nich t mehr lediglich fü r Maßnahme n i m Inter­ esse der deutschen Arbeiter, sondern in erster Linie für eine Organisation der Wirtschaftskräfte zu m Zweck e höhere r Effizien z fü r di e wirtschaftlich e Selbstbehauptung de r besiegte n Völker 26. Lederers wissenschaftliche s Ansehe n erreicht e seine n Höhepunk t i n de r Weimarer Republik. Er wurde nun ordentlicher Professor in Heidelberg und später in Berlin. Dies war auch die Zeit seines größten Einflusses auf die Poli­ tik, d a die Sozialdemokratische Partei , der er nahe stand, nicht mehr grund­ sätzlich von der Teilnahme an staatlicher Macht ausgeschlossen wa r und die Gewerkschaften au f alle politischen Parteien mit Ausnahme der Extremisten rechts und links Einfluß ausübten . Lederer hatte Freunde und Schüler unter sozialdemokratischen Politiker n un d unterhiel t eng e Beziehunge n mi t de n Freien Gewerkschaften . E r redete oft nich t nur in wissenschaftlichen Krei ­ sen, sondern auch auf Gewerkschaftstagungen. I m Januar 1928 , nach einem Vortrag über „Lohnpolitik und Konjunktur“ au f der Konferenz des Reichs­ beirats der Betriebsräte und Vertreter größerer Konzerne der Metallindustrie in Stuttgart sagte ein Vertreter des Werkmeisterverbandes in der Diskussion: „Es ist keine Schmeichelei, wenn ich sage, daß ich selten einen Wissenschaft ­ ler in solch volkstümlicher Weise reden hörte wie Professor Ledere r . . .“ 27 Auch i n de n letzte n Jahre n de r Republi k spielt e Ledere r ein e führend e Rolle be i de r Entwicklun g wirtschaftsdemokratische r Programm e un d i n wirtschaftspolitischen Diskussionen . Lederer s Tätigkei t i n de n Sozialisie ­ rungskommissionen in Deutschland und Österreich (1919) und als ökonomi­ scher Berater der Gewerkschaften in der Weimarer Republik ist bekannter als die Haltung, di e e r i n de r große n Wirtschaftskris e eingenomme n hat . Wi e Adolph Löw e un d einig e jünger e Ökonome n - z . Β . Colm, Neisse r un d Marschak - gehörte Lederer zu den Akademikern, di e öffentliche Ausgabe n zur Bekämpfun g de r Arbeitslosigkei t befürworteten . E r wa r de r Ansicht , daß die Steigerung öffentlicher Ausgabe n für solche Zwecke nicht inflationi ­ stisch wirke n würde , solang e di e Produktionskapazität i n größere m Maß e unausgenützt sei. Alle politischen Parteien waren Gegner dieser Auffassung . Auch Hilferdin g un d Stolpe r zählte n z u de n Kritikern . Selbs t Woytinsky , mit Tarnow un d Baade ein Protagonist de r Ankurbelungspoliti k durc h öf ­ fentliche Ausgaben, hatte noch 1931 eine zeitlang die Notwendigkeit betont , die Weltmarktpreise z u heben , ähnlic h wi e di e frühen Ne w Deale r i n de n Vereinigten Staaten 28. Die Hoffnungen un d Bestrebungen der demokratischen Studenten in Hei­ delberg nac h de m Erste n Weltkrie g ha t nieman d lebendige r dargestell t al s rückblickend der junge SPD-Politiker Carl o Mierendorff. I n den Pfingstta ­ gen des Jahres 193 2 kamen di e Mitglieder de r Heidelberger Sozialistische n Studentengruppe de r Nachkriegssemeste r z u eine m Wiedersehe n a m Fuß e des Heidelberger Schlosses zusammen. Bei dieser Gelegenheit hielt Mieren­ dorff einen Vortrag „Nach vierzehn Jahren-Heidelberg 1918-1932“ , den er 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Emil Lederer zu seinem fünfzigsten Geburtsta g widmete- „dem Manne, der uns damal s Lehrer , Freun d un d Genoss e war“ . Mierendorff hatt e sich 191 4 siebzehnjährig als Kriegsfreiwilliger gemelde t und kam vier Jahre später als Offizier mi t hohen Auszeichnungen zurück; er marschierte, wi e e r selber sagte , „vo m Schützengraben direk t i n de n Hör ­ saal“. In Heidelberg traf er Carl Zuckmayer, Klabund , den badischen Land ­ tagsabgeordneten und Redakteur der „Volkszeitung“ Kraus , der später Bür­ germeister i n Main z wurde , un d viel e ander e jung e Männer , di e sein e Freunde wurden. E r diskutierte auf dem Trottoir der Hauptstraße zwische n Cafe Kral l und dem „Perkeo “ di e Annahme oder Ablehnung de s Versailler Vertrags, di e Schießereien a m Berliner Marstallgebäude , de n Kapp-Putsch , die Anwesenhei t de r Franzose n i n Mainz , de n Aufstan d i n Mitteldeutsch ­ land. Er nahm an Alfred Seidels Arbeitsgemeinschaft übe r die Soziologie der Revolutionen teil , besuchte politische Versammlungen un d die Vorlesungen und Seminare von Emil Lederer, Gusta v Radbruch un d Alfred Weber . Ein e politische Veranstaltun g mi t französische n Freunde n de r „Clarte“-Bewe ­ gung (Henri Barbusse) war Mierendorff un d seinen Freunden „wichtige r als ein neuer Band George-Gedichte“; „vielleich t sehr zu Unrecht“, wie er 1932 bescheiden hinzufügte . Abe r di e Gefah r de r Verführun g un d Ablenkun g durch „Unpolitisches “ wa r fü r politisch e Mensche n i m Heidelber g jene r Tage, wi e auc h späterhin , „ungeheue r groß“ . Es war ein Flüchtling aus der Münchener Räterepublik, de r den sozialisti­ schen Studente n i n Heidelber g einschärfte , da ß si e etwa s lerne n müßten , wenn si e helfe n un d nich t blo ß Schönredne r un d schöngeistig e Betrachte r sein wollten . „Un d s o haben wi r den n auc h gehandelt“ , sagt e Mierendorf f 1932. „S o sind wi r i n di e Partei gegange n . . . Deshal b sin d wi r z u Alfre d Weber, zu Lederer ins Kolleg gegangen, bis wir die Probleme endlich zu be­ greifen begannen . Deshal b eilte n wi r Ma x Webe r nac h Münche n nach . E s war da s Unglüc k unsere r Generation , da ß si e diese n Lehre r s o frü h ver ­ lor . . ,“ 29 Lederers akademische Karriere in der Weimarer Republik war frei von den Hindernissen, die ihm im Kaiserreich gesetzt waren. Nachdem er am 25. Fe­ bruar 191 8 seine Bestallung zu m a.o. Professo r erhalte n hatte, wurde er am 1. Apri l 192 0 planmäßiger a.o. Professor . Zwei Jahre später, am 26. Augus t 1922, erhielt er die Bestallung zum ordentlichen Professor in Heidelberg. Am 22. November 1922 benachrichtigte ihn der badische Minister für Unterricht und Kultur, daß er zum Zeitpunkt der Emeritierung des Geheimrats Gothein zum planmäßigen ordentliche n Professo r ernann t werde n würde . Die s ge­ schah am 23. 2. 192 3 mit Wirkung zu m 1 . April 1923 . In diesem Monat trat Lederer seinen zweijährigen Urlau b an, um in Japan a n der Universität To­ kyo als Gastprofessor zu lehren. Die Früchte dieser Jahre waren das mit Emy Seidler-Lederer verfaßt e Buc h „Japa n - Europa “ - späte r i n überarbeitete r Fassung auch in englischer Sprache erschienen - un d viele Aufsätze, in denen sich sein e Erfahrunge n un d Erlebniss e niederschlugen . Danebe n schrie b e r 266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

eine groß e Abhandlun g „Zu m Methodenstrei t i n de r Soziologie“ , di e sic h kritisch mit Max Weber befaßte. Schließlich machte er weite Reisen in Japan und nach China, die ihrerseits ihren literarischen Niederschlag fanden. 193 0 besuchte e r Skandinavie n un d 193 2 di e Sowjetunion . Im Jahre 192 9 erhielt Ledere r eine Berufung a n die Universität i n Frank­ furt, abe r er folgte ihr nicht und blieb in Heidelberg bi s zum Oktober 1931, als er als Nachfolger Sombarts Professor und zugleich Direktor des staatswis­ senschaftlichen-statistischen Seminar s a n de r Universitä t i n Berli n wurde . Den Ausschlag bei der Berufung Lederer s statt Eduard Heimanns aus Ham­ burg ga b woh l di e Bedeutun g seine s Buche s „Technische r Fortschrit t un d Arbeitslosigkeit“ (1931) 30. Die Berufun g erfolgt e trot z Widerstand s i n de r Fakultät. 193 1 war auc h Lederer s „Aufri ß de r ökonomische n Theorie “ al s dritte, erweitert e un d völlig umgearbeitet e Auflag e seine r „Grundzüg e de r ökonomischen Theorie “ erschienen . Ferne r hatt e e r in de n letzte n Heidel ­ berger Jahren im „Grundriß der Sozialökonomik“ di e großen Abhandlungen über „Konjunkture n un d Krisen “ un d „Sozialversicherung “ un d mit Jako b Marschak, seine m Kollegen , nahe n Freund und früheren Schüler , dre i wei ­ tere Untersuchungen auf den Gebieten der Klassenschichtung und des Arbei­ terschutzes publiziert . Im Jahr e 193 2 wurd e Ledere r fünfzi g Jahr e alt . Stat t eine r Festschrif t wurde ih m ein e groß e Sammelmappe mi t 6 9 wissenschaftlichen, künstleri ­ schen, politischen, administrativen und wirtschaftlichen Dokumente n über ­ reicht, welch e „di e geistige Produktion seine r Freunde und Schüler im lau­ fenden Jahr spiegeln sollten“. Die Sammlung, di e ζ. Τ . aus unveröffentlich ­ ten (und erst später publizierten) Manuskripten und ζ. Τ . aus Sonderdrucken bestand, zeig t de n Umfang un d di e Mannigfaltigkei t vo n Lederer s Einflu ß gegen Ende der Weimarer Republik. Unter den akademischen Kollegen , die Arbeiten z u der Mappe beisteuerten, waren : Alfred Amonn , Arthu r Feiler , Hans von Eckardt , Kar l Geiler, Han s Gruhle, Eduar d Heimann, Herman n Heller, Han s Kelsen , Car l Landauer , Adol f Löwe , Kar l Mannheim, Jako b Marschak, Michae l Polanyi , Josep h Schumpeter. Einig e Beiträge stammte n von Freunde n un d Schüler n i n de r Gewerkschaftsbewegung , wi e Alfre d Braunthal un d Frit z Croner , ode r de r Politik , wi e Theodo r Haubac h un d Carlo Mierendorff . Viel e seine r jüngere n Schüle r ware n vertreten : Werne r Falk, Johannes Hofer, Sven d Riemer, Han s Speier u. a . An Lederers öster­ reichische Zeit erinnerten die Beiträge von Julius Fischer, Stadtrat in St. Pöl­ ten, un d von de m schweizer Bankie r Feli x Somary , desse n Beitra g mi t de n Sätzen schloß: „Seit den drei Jahrzehnten, w o wir gemeinsam zu den Füßen von Philippovich , Menge r un d Böhm-Bawer k saßen , habe n wi r übe r viel e wissenschaftliche Frage n uns ausgesprochen, di e uns lebensnah gingen. Ni e verband uns Gesinnung, stet s einigte uns die gemeinsame tiefe Achtung vor den Problemen unserer Wissenschaft. Wen n jetzt die Zeit kommen wird, den Weg au s diese r s o beispiellos schwere n Kris e z u finden , mi t keine m liebe r würde ich gemeinsame Arbeit leisten wollen als mit Emil Lederer . . . “ Auc h 267 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

die Literatur war in der Mappe vertreten durc h Carl Zuckmayer un d Georg Petzet. Zuckmayer widmete Lederer eine Rede aus dem Jahre 1930, gehalten im Preußische n Herrenhau s i n Berli n anläßlic h de s verbotene n Film s „I m Westen nichts Neues“. Man kann diese Rede über die Zensur auch heute nur mit tiefer Bewegun g un d Bewunderung lesen . Els e Staudinger, di e Frau des Staatssekretärs Hans Staudinger, schrie b für die Sammelmappe eine Bespre­ chung des Buches von Anna Seghers, „De r Aufstand der Fischer in St. Bar ­ bara“ . Aus dem Brief, den sie der Besprechung beilegte, geht hervor, daß Le­ derer Ann a Segher s persönlic h kannte . Viel e Beiträg e ware n gelehrt e Ab ­ handlungen, andere amüsante Plaudereien oder auch Tuschzeichnungen von japanischen Freunde n ode r deutsche n Kindern . Erns t Bloch , de r Ledere r auch später noch in New York besuchte, schrieb einige Beobachtungen nie ­ der übe r da s östlich e un d westlich e Lächel n anläßlic h eine r annamitische n Theatervorstellung auf der Pariser Kolonialausstellung; und Jakob Marschak machte unter dem Titel „Soziologie der Kuh“ Bemerkungen über chinesische und westlich e „Milchwirtschaft“ 31. V Anfang Februa r 193 3 erhielt Ledere r als einziger Deutsche r ein e Einladun g von dem Direktor des Internationalen Arbeitsamts H. Butler , an einer inter­ nationalen Besprechun g i n Pari s Anfan g Apri l teilzunehmen , welch e di e Frage des Zusammenhangs zwischen technischem Fortschritt und Arbeitslo­ sigkeit prüfen sollte. Am 31. März 193 3 besuchte er die Kulturabteilung de s Auswärtigen Amts , um dem Gesandten Dr. Stiew e Mitteilung über die Ein­ ladung zu machen und eine schriftliche Bestätigun g diese r Mitteilung z u be­ wirken. E r erfuhr a m nächsten Tag, daß das von dem Gesandten in Aussicht gestellte Schreibe n „infolg e de r interne n Vorschriften“ 32 nich t ausgestell t werden könne . Am gleichen Tage, dem 1 . April 1933 , machte Lederer auch Professor Achelis im Ministerium für Wissenschaft, Kuns t und Volksbildung mündlich un d schriftlich mi t seiner Absicht, nac h Paris zu reisen, bekannt . Von diese r Reis e kehrt e e r nich t meh r nac h Berli n zurück . Viel e bekannt e Universitätslehrer liberale r un d sozialistische r Provenien z ode r jüdische r Abstammung wurde n nac h Hitler s Ernennun g zu m Reichskanzle r ihre r Amtsstellung beraubt . Lederer s Name stand auf einer der ersten Listen von Professoren, di e nicht meh r i n Deutschlan d lehre n durften . Lederer begab sich zunächst nach London. Dor t traf e r im Sommer 193 3 Dr. Alvin Johnson, den Direktor der New School for Social Research in New York City. Johnson hatte Lederer auf einer früheren Reise.nach Deutschland kennengelernt und ihn schon vor 193 3 zur Mitarbeit an der von ihm heraus­ gegebenen Encyclopaedi a o f th e Socia l Science s eingeladen . I n de n Jahre n 1930-1932 veröffentlicht e Ledere r di e Artike l „Agricultur e i n Japa n an d China“, „Socialis t Economics“ un d „Labor “ i n dieser Enzyklopädie. Noc h 268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

nach seiner Auswanderung nach New York schrieb er für sie die Artikel über Walther Rathenau , Pau l Singe r un d Technik . Johnson unterbreitet e Ledere r seine n Plan , etw a zwölf vertrieben e deut ­ sche Gelehrte an die New School zu berufen. Sei t ihrer Gründung i m Jahre 1919 widmet e sic h dies e Schul e zwa r de r Erwachsenenbildung , abe r nac h Hitlers Zerstörung der freien Universitä t in Deutschland beschloß Johnson, der Ne w Schoo l ein e sozialwissenschaftlich e Fakultä t fü r Universitätsstu ­ denten anzuglieder n un d deutsche Gelehrte, dene n weitere Lehre und For­ schung verwehr t waren , al s Mitgliede r eine r ne u z u gründende n Graduat e Faculty zu berufen. Er hatte für die geplante Institution den Namen „Univer­ sität im Exil“ erfunden, de r sich bei der Bemühung um Finanzierung des un­ gewöhnlichen Projekts aus privaten Mitteln und durch Stiftungen al s beson­ ders zugkräftig erwies 33. Lederer war von Johnsons pragmatischem Libera ­ lismus beeindruckt und hielt die Mitarbeit an einer neuen freien Hochschule, die unter den gegebenen Umständen ein politisches Symbol werden konnte, für lohnender als die Tätigkeit an einer wohletablierten Institution. Nach ei­ ner kurzen Informationsreise nac h New York lehnte er eine Berufung a n die Universität in Manchester ab, beriet Johnson bei der Zusammensetzung de r Fakultät un d wurd e de r geistig e Führe r de r Universitä t i m Exil . Nicht alle deutschen Akademiker , a n die Johnson herantrat, dachte n wi e Lederer. Johnson erwähnt in seinen Memoiren34, daß er Karl Mannheim, Ja­ kob Marschak und Adolf Löw e in London getroffen hab e und „bitter “ dar ­ über gewese n sei , da ß si e seine r Einladun g nich t Folg e leiste n wollten . E r glaubte, ihr e Absagen könn e die Zukunft eine r Institution i n Frage stellen , die vielen Gelehrte n dienlic h sei n sollte . Löwe un d Marscha k wurde n späte r Mitgliede r de r Graduat e Faculty . Mannheim blie b in England. Ledere r war besonders von seiner Absage ent­ täuscht. Mannheim war sein naher Freund. Er hatte ihn Johnson als führen­ den deutsche n Soziologe n vorgeschlagen , abe r Mannheim , de r ängstliche r und politisch wenige r leidenschaftlich wa r al s Lederer, zo g die weniger ris ­ kante Berufung a n die London School of Economics vor. Lederer hatte mich im Somme r 193 3 telegraphisc h gebeten , vo n Berlin nac h Londo n z u kom ­ men, um mehrere Berufungen a n die New School zu vermitteln und die An­ stellungsverträge de n betreffende n deutsche n Akademiker n persönlic h z u überbringen. Be i meine r Abreis e au s Londo n sagt e mi r Lederer , da ß ih n Mannheims Entscheidung sehr enttäuscht habe. Im Exil braucht man Freun­ de, un d Ledere r sprach , al s hätte e r eine n nahe n Freun d verloren . Die Fakultät, die im Laufe der nächsten Monate und Jahre durch viele wei­ tere Mitglieder- Deutsche, Österreicher, Italiener , Franzosen, Spanier- er­ gänzt wurde, bestan d anfangs nur aus einer kleinen Grupp e mit Lederer als Dekan. Alle Mitglieder mit Ausnahme von Alvin Johnson und dem Philoso­ phen Horace Kallen , mi t de r Ne w Schoo l sei t ihrer Gründun g verbunden , waren damal s Deutsche: Max Wertheimer, de r Begründer de r Gestaltspsy ­ chologie, desse n Freund , de r Musikolog e Eric h vo n Hornbostel , Gerhar d 269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Colm, Finanzwissenschaftle r au s Kiel , Arthu r Feiler , viel e Jahr e lan g de r führende Wirtschaftsfachmann de r Frankfurter Zeitung und Professor an der Handelshochschule i n Königsberg , Eduar d Heimann , Ökono m au s Ham ­ burg, Arnol d Brecht , Staatswissenschaftle r un d Mitglie d de s Deutsche n Reichsrats, Frieda Wunderlich, Herausgebe r der „Sozialen Praxis“ und Mit­ glied des Preußischen Landtags , Karl Brandt, Agrarwissenschaftler au s Ber­ lin, Albert Salomon, Redakteur der „Gesellschaft“ un d Professor der Sozio­ logie am Pädagogischen Institut in Köln. Der Jurist und Historiker Hermann Kantorowicz gehörte der Fakultät nur ein Jahr an. Ich war das jüngste Mit ­ glied un d wurd e dahe r Sekretä r de r 193 4 gegründete n Vierteljahresschrif t „Social Research“. In den ersten Jahrgängen stammten sehr viele Beiträge der Zeitschrift von Mitgliedern der Fakultät; sie waren auf Übersetzungen ange­ wiesen oder mußten jedenfall s ein e genaue Durchsicht un d des öfteren ein ­ schneidende stilistisch e Verbesserunge n ihre r Manuskript e erdulden . Außer de n reguläre n Vorlesunge n un d Seminaren , di e im Oktobe r 193 3 begannen, veranstaltete die Fakultät einma l wöchentlich, Mittwoc h abends , ein „Generalseminar“ , i n de m jeweil s ei n Fakultätsmitglie d vo r Studente n und allen Kollegen ein Referat hielt, das dann zur Diskussion stand. Das Ge­ neralseminar, wie auch einige gemeinsame Seminare, die von zwei oder meh­ reren Vertreter n verschiedene r Fäche r geleite t wurden , sollt e zu r rasche n Entwicklung eine s Gemeinschaftsbewußtsein s de r Fakultätsmitgliede r bei ­ tragen un d außerdem de n regelmäßige n Austausc h vo n Gedanke n übe r di e Schranken de r Einzeldisziplinen hinwe g fördern . Au s dem Generalsemina r gingen i n den ersten Jahren de r Fakultät zwe i Symposia hervor, di e als Bü­ cher veröffentlicht wurden : „Political and Economic Democracy“ herausge ­ geben 1936 , von Max Ascol i un d Fritz Lehmann , un d „Wa r i n Ou r Time “ 1939, herausgegeben vo n Hans Speier und Alfred Kähler ; fü r de n Titel de s zweiten Buche s entschiede n sic h di e Herausgebe r al s Nevill e Chamberlai n nach der Münchener Konferen z den „Frieden in unserer Zeit“ proklamierte , denn einige Mitglieder der Fakultät hielten seit 1933 den Ausbruch des Zwei­ ten Weltkrieg s nu r fü r ein e Frage de r Zeit . Die einschneidende Veränderung vo n Lederers Lebensumständen infolg e der Auswanderung wurd e verschärft durc h den plötzlichen Tod seiner Frau in ihrem ersten unglücklichen Jahr in Amerika. Nicht lange danach schrieb er Jakob Marschak von einer Urlaubsreise nach Europa, daß die Auswanderung zwar unvermeidlic h gewese n sei , abe r einen z u hohe n Prei s gekoste t habe . ,Sein' Kontinen t sei doch Europa. 193 6 heiratete Lederer in zweiter Ehe Ger­ trude von Eckardt , di e geschiedene Frau de s Heidelberger Zeitungswissen ­ schaftlers Han s vo n Eckardt . Auf einer frühen Jubiläumsfeier de r „University i n Exile“, im Jahre 1938, auf de r unter andere n auc h Charle s Bear d un d Thomas Man n Festvorträg e hielten, befremdet e de r amerikanisch e Staatswissenschaftle r Harol d D. Lasswel l di e Zuhörer durch ein e Bemerkung übe r die Qualität geistige r Leistung im Exil. E r glaubte, da ß technische Geschicklichkeit al s Folge von 270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Auswanderung nachlass e und sprach vo n eine r Gefahr de r „skil l deteriora ­ tion“. Heut e wir d ma n rückblicken d di e Leistunge n de r emigrierte n deut ­ schen und österreichischen Mathematiker , Natur - un d Geistes- und Sozial­ wissenschaftler günstiger , ode r jedenfalls differenzierte r beurteile n müssen , wie ja auch Lasswells Ansicht nicht durch Exilserfahrungen in früheren Jahr ­ hunderten erhärte t werde n kann . Abe r wi e de m au s sei , Lederer s wissen ­ schaftliche Produktivität in den Vereinigten Staaten stand hinter seiner frühe­ ren Leistungskraf t i n Deutschland nich t zurück. Ei n Blick auf seine Biblio­ graphie beweist dies. Allerdings fehlte ihm in Amerika der enge Kontakt mit führenden Politiker n un d hervorragenden Persönlichkeite n i m wirtschaftli ­ chen und kulturellen Lebe n des Landes. Trotz des Ansehens, das er auch in Amerika al s Nationalökonom genoß , genügten fünfeinhalb Jahr e nicht, um sein brennendes Interesse an deutschen un d europäischen Problemen durc h ebenso lebhafte Interessen an Fragen der amerikanischen Politik, Wirtschaf t und Gesellschaft zu ersetzen. Viele seiner Arbeiten aus den letzten sechs Jah­ ren seine s Lebens behandelten nicht-lokalisierte , allgemeiner e Themen, di e ihn bereits vor der Auswanderung beschäftig t hatten; und Lederer starb vor dem Ausbruch de s Zweiten Weltkriegs , de r vielen früheren Deutsche n ein ­ flußreiche Positione n als Berater oder Angestellte der amerikanischen Regie­ rung eröffnete . In der amerikanischen Phase seines Lebens veröffentlichte Ledere r jährlich zwei Aufsätz e i n „Socia l Research“ , außerde m jährlic h mehrer e Artike l i n anderen amerikanische n Zeitschriften , ein e Neubearbeitun g seine s Buche s über Japan, drei Kapitel für die Sammelbände, die von Fakultätsmitglieder n herausgegeben wurden, ferner ein Buch, das vom Internationalen Arbeitsam t in Genf veröffentlicht wurd e (mit dem Titel „Technica l Progress and Unem­ ployment“) und die Analyse seines deutschen Buches über dieses Thema wei­ terführte. Schließlic h fand sich in seinen Papieren nach seinem Tode ein fast vollständig fertige s Buchmanuskrip t übe r de n Nationalsozialismus . E s wurde 194 0 in einer von mir hergestellten Fassun g al s nachgelassenes Wer k unter de m Tite l „Stat e o f th e Masses “ veröffentlicht . Lederers erstaunlich e Arbeitskraft lie ß also im Exil nicht nach. Z u seiner wissenschaftlichen Tätigkei t kame n administrativ e Aufgabe n bei m Aufba u und Ausbau der Fakultät und als besonders drückende Verpflichtung di e Hil­ fe, di e Johnson bei der Behebung de r kontinuierlichen finanzielle n Schwie ­ rigkeiten de r Fakultä t vo n ih m erwartete . Solang e Ledere r Deka n war , konnte er die oft von Johnson arrangierten Besuche bei potentiellen Geldge­ bern nicht ablehnen, selbst wenn dadurch di e Zeit für wissenschaftliche Ar ­ beit beschränkt wurde. Alvin Johnson war unermüdlich aktiv, wen n es sich um die Verwirklichung eine r wichtigen Ide e handelte; er erwartete ein glei­ ches Maß von Eifer von dem Dekan der Fakultät, di e er noch in seinen bei­ nahe zwanzig Jahr e späte r verfaßte n Memoire n „mein e Fakultät“ nannte . Emil Ledere r star b plötzlic h a m 29 . Ma i 1939 , a n de n Folge n eine r ge ­ wöhnlich ungefährlichen Operation , einige Monate vor dem deutschen Ein271 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

fall i n Polen. Lederer s viert e Lebensperiod e i n Amerika wa r ei n Nachspie l seines europäische n Wirkens , ei n Nachspie l nich t ohn e Triumphe , abe r vielleicht nu r wege n de r Kürz e diese r Period e - doc h ei n Nachspiel .

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Anmerkungen Einleitung 1 Al s ausführlicheren Überblic k übe r Lederer s nationalökonomisch-theoretisches Wer k vgl . J . Marscba k u . A . Kahler , in : Socia l Research , Bd . 8 , 1941 , S. 79-93 . 2 Vgl . H . - A . Winkle r (Hg.) , Organisierte r Kapitalismus . Voraussetzunge n un d Anfänge , Göttingen 1974 , 3 Vgl . De r Kampf um die Sozialisierung. Grundsätzliche s und Materialien, Berlin 1921 ; Vor­ läufiger Berich t de r (I.) Sozialisierungskommission, 15 . 2 . 191 9 (Mehrheitsbericht: Ballod , Cu­ now, Hilferding , Lederer , Schumpeter , Umbreit , Wildbrandt ; Minderheitsbericht : Frank ­ ke/Vogelstein), in : Correspondenzblat t de r Generalkommission de r Gewerkschaften Deutsch ­ lands, Bd . 29 , 1919 , S. 89-101 ; Kurze r Tätigkeitsbericht de r Sozialisierungskommission, in : I L Kongreß de r Arbeiter- , Bauern - un d Soldatenrät e Deutschlands, 8.-14 . Apri l 191 9 im Herren ­ haus zu Berlin . Stenographisches Protokoll, Reprin t Glashütten 1975 , S. 31-33. Die umfassend ­ ste Darstellung de r wirtschaftsordnungspolitischen Diskussio n 1916/17-1919/2 0 findet sic h be i H. Scbieck, De r Kampf u m die deutsche Wirtschaftspolitik nac h dem Novemberumsturz, Diss . Heidelberg 1958 ; vgl. auch F. Zunkel, Industri e und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirt­ schaftsordnung i n Deutschlan d 1914-1918 , Düsseldor f 1974 . 4 Vgl . auch : De r „Neu e Mittelstand“ , in : Grundri ß de r Sozialökonomik , Abt . 9 , T. 1 , Tü ­ bingen 1926 , S. 120-4 1 (zus. mit J. Marscbak); in seiner „Sozialpolitischen Chronik“, ab 1910 im Archiv fü r Sozialwissenschaf t un d Sozialpoliti k (ASS) , un d in verschiedenen Schrifte n zu r Ent ­ wicklung soziale r un d politische r Organisatione n geh t e r den Angestellte n jeweil s ausführlic h nach. 5 Grundri ß de r Sozialökonomik , Abt . 9 , T . 2 , Tübinge n 1927 , S . 106-258 . 6 Danebe n vo r allem : Di e wirtschaftliche n Organsatione n un d di e Reichtstagswahlen , Tü ­ bingen 1912 ; sowi e fortlaufen d i n de r „Sozialpolitische n Chronik “ i m AS S a b 1911 . 7 Vgl . M , Weber , Di e „Objektivität“ sozialwissenschaftliche r un d sozialpolitischer Erkennt ­ nis, in : ders. y Gesammelt e Aufsätz e zu r Wissenschaftslehre , Tübinge n 1968 3 , S . 146-214 . 8 Vgl . auch: The SearchforTruth, in : Social Research, Bd. 4,1937 , S. 277-82; sowie den letz­ ten Teil seine r Anti-Autarkie-Red e vo n 193 2 (Nr. 11) , wo au f de r Trennung zwische n wissen ­ schaftlichem Sachargumen t un d vorwissenschaftlich-politischer Einstellun g kompromißlo s be ­ standen, abe r gleichzeiti g di e Verankerun g wissenschaftliche n Denken s i m vorwissenschaft ­ lich-politischen Bereic h gesehen , bekann t un d bejah t wird . Weiterhi n di e Ausführunge n H . Speiers unte n S . 255 . 9 Di e im Inhaltsverzeichnis leicht erkennbaren geringfügigen Abweichunge n von einer streng chronologischen Abfolg e resultiere n au s der Absicht , inhaltlic h en g zusammengehörige Stück e nicht auseinanderzureißen .

1. Di e Gesellschaf t de r Unselbständige n 1 Dies e im Jahre 1913 niedergeschriebenen Ausführungen gelangen hier fast unverändert zu m Abdruck, d a ein e weiter e Entwicklun g de s Gedankengange s i n all e sein e Konsequenze n de m Verfasser i n der nächsten Zeit schwerlich möglic h sei n wird. Vgl . hierz u jedoc h die Anmerkun g am Schlu ß de r Abhandlung .

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18 Lederer , Aufsätz e

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Anmerkungen z u Seit e 14-1 9 2 E s frag t sic h allerdings , o b wi r nac h de m heutige n Stan d de r Forschun g noc h berechtig t sind, di e Entwicklun g z u eine m rationalisierte n Lebe n al s da s entscheidend e Momen t anzuse ­ hen. Insbesonder e di e Untersuchungen Ma x Weber s habe n j a gezeigt, welc h mannigfach e For ­ men eine r rationa l aufgebaute n Wirtschaf t ode r Gesellschaftsordnung möglic h sind . Ein e Cha ­ rakterisierung unsere r Zeit, welch e das allgemeinste in der geistigen For m unsere r Existen z her ­ vorheben will , wir d dahe r mi t dem Hinwei s au f da s Rationale allei n ih r Auslangen nich t finde n können. Das Dynamische ist im Gesamtbilde der Gegenwart ebenso wichtig, j a es muß als spezi­ fische Differen z noc h starke r beton t werden . 3 Da s ist unabhängig vo n Traditionalismus ode r Rationalismus. Dies sind z u allgemein e Ge ­ sichtspunkte fü r unser e Fragestellung ! 4 De r vorherrschende Typus einer Wirtschaftsepoche wirk t vielfach auc h auf die anderen Ty ­ pen zurück. I n einer Zeit, i n der die Selbständigkeit als normale Existenzform gegebe n war, tru g auch die Existenz der unselbständig Berufstätige n ähnlich e Züge wie die der selbständig Berufs ­ tätigen (vgl . unte n Anm. 6 : das gilt nich t nur von den Beamten, sonder n auc h dem Gesellenver ­ hältnis in de r Zunft). Umgekehr t finde t sic h gegenwärtig de r Selbständige i n diesem reine n Ty ­ pus imme r seltene r un d wir d gerad e i n seine r ursprünglichen , nämlic h de r breiten , i n sic h ge ­ schlossenen kleinbürgerlichen , Sphär e imme r häufige r ökonomisc h unselbständig . Dahe r triff t heute fü r weit e Kreis e vo n Selbständige n da s zu , wa s weite r unte n fü r di e Arbeite r un d Ange ­ stellten eesae t wir d (namentlic h fü r Gastwirte , Kleinkaufleut e usw.) . 5 Auc h wenn man auf dem Standpunkt steht , daß der Unternehmer in erster Linie und haupt ­ sächlich nu r durc h sein e Persönlichkeit wirke , da ß „di e vorhandenen Güter , di e Gebäud e un d Maschinen i n den Betriebe n . . . nur die Schalen de r Industrie “ seien , de r „Vorra t produzierte r Güter“ nich t so viel bedeute, hingegen viel mehr bedeute „die Hierarchie, das System von Über ­ und Unterordnun g de r Angehörigen eine r Volkswirtschaft“ usw . (vgl . J . Schmupeter, Theori e der wirtschaftlichen Entwicklung , Leipzi g 1912 , S. 530-31), so kann doch auch vo n dieser Auf ­ fassung au s nicht bestritten werden, da ß die persönlichen Kräft e sich nur bei Verfügung übe r di e Produktionsmittel auswirken können . Diese gelangen a b e r- im Hochkapitalismus - i n der Regel doch nu r dan n i n di e Verfügungsgewalt de r Unternehmerpersönlichkeiten , wen n dies e bereit s auf eine r ererbte n Produktionsmittel - ode r wenigsten s Kaufkraftbasi s fußen . Un d wenngleic h man zugebe n wird , da ß persönlich e Qualitäte n fü r di e Unternehmerfunktio n nöti g sin d (dabe i ist in erster Linie an Unternehmer in einem neuen Felde zu denken), so kann doch auc h nich t ge­ leugnet werden, daß die entsprechende Verfügun g übe r die Produktionsmittelunterlage di e per ­ sönlichen Qualitäten vielfach ers t wirksam werde n läßt und den Aktionsradius ihres Trägers ver ­ längert. I m übrigen is t die Auffassung vo n der Bedeutung de s persönlichen Elemente s nicht ent ­ scheidend fü r di e hier weiter ausgeführte n Gedankengänge . Wen n ma n si e teilt, müßt e ma n sa ­ gen, daß der statische Verlauf frühere r Zeiten , welch e den Unternehmer al s entscheidenden Ty ­ pus noch nicht kannten, für alle in der Volkswirtschaft Stehende n und Arbeitenden, eine gewisse Kontinuität brachte , währen d di e unternehmungsweis e Gütererzeugun g dies e Stabilitä t aller ­ wärts, auc h fü r di e Unternehme r selbst , aufhebt . Μ. Ε . ist dies e allgemein e Auflockerun g de r Stabilität nu r cu m gran o sali s richtig ; den n imme r meh r Unternehmunge n i m prägnante n Sin n des Worte s werde n z u Rentenquelle n un d sin d de r wechselnde n Marktlag e entrückt . Gerad e diese Produktionskraftmassen sin d es, welche ihre Besitzer in ihrer Existenz dauernd tragen un d über ih r persönliche s Gewich t hinau s sozia l steigern . 6 E s ist vielleich t kei n Zufall , da ß di e Realberechtigun g a n Ämtern , di e Vererbbarkei t un d Verkauflichkeit vo n Ämter n imme r wiede r i n Zeiten sic h durchsetzt , i n welchen de r Typus de s Selbständigen vorherrscht , da ß e r vo n selbs t verschwinde t un d unmöglic h wird , wen n diese r Typus a n Bedeutun g verliert . 7 Bloße r Wechse l de r Lebensinhalt e un d Situatione n bedeute t natürlic h nich t da s gleiche , j a gegebenenfalls das gerade Gegenteil; ζ. Β . eine Abenteuerexistenz. Hie r ist erstens dieser Wech ­ sel gewollt, un d er geht gerade auf Realisierun g de s Lebensinhalts. Außerdem werde n be i diese r Existenzform di e Veränderungen vo n dem Subjekt selbst auf ein, wenngleic h mutwilli g schwan -

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Anmerkungen z u Seit e 19-5 9 kendes, Zie l hi n bewirk t un d gestaltet . E r fühlt als o innerlich ein e Kontinuitä t de s Lebens , da s sich vielgestalti g au f weiteste n Hintergründe n bewegt . 8 Mi t diese r Kennzeichnun g de s Prozesse s sol l natürlic h nich t behaupte t sein , da ß sic h de r Sachverhalt irgendwi e in seinem Wesen geändert habe, denn theoretisch ist der Wert des Kapital s stets gleichbedeuten d mi t de m Wer t sämtliche r au s de m Kapita l z u erwartende n Erträgnisse . Dem Bewußtsei n abe r is t jetz t ei n andere r Tatbestand gegeben , den n fü r diese s „fließt “ regulä r bisher das Einkommen „aus “ dem Kapital; jetzt baut es sich auf dem Anrecht auf, Einkommens ­ bezüge regelmäßi g z u erhalten . Jetz t ist auc h fürs unreflektiert e Bewußtsei n de r Wert de s Kapi ­ tals ein e Folg e de r Höh e un d Sicherhei t de r Revenuen . Da s Einkomme n is t da s Primäre , de r Vermögensausdruck sekundär . 9 Mi t Uberspringun g alle r gedankliche n Zwischengliede r se i nur au f zwe i i m gegenwärtige n Moment (End e September 1918 ) besonders frappant i n di e Augen springend e Tatsachen hinge ­ wiesen: au f de n Syndikalismus , al s eine n Versuch , durc h Überweisun g de r sachlichen Produk ­ tionsmittel a n di e produktive n Gruppe n di e Verbindung zwische n de n Produzente n un d ihre n Arbeitsmitteln wiederherzustelle n (wa s i n de r Tendenz eine s zentralen Sozialismu s nich t liegt) , und au f di e Umsetzun g diese r syndikalistische n Idee n (sofer n ma n hierbei vo n eine m geschlos ­ senen Gedankensystem spreche n kann) in die Praxis: als Bolschewismus. Ma n kann schon heut e sagen: dies e Method e führ t z u keine m wi e imme r geartete n Ziel . Abe r is t e s so wunderbar un d unbegreiflich, da ß Massen di e Lebensunterlage n nich t respektieren, welch e sie nur vom Hören ­ sagen al s Eigentu m feindliche r Klasse n kennen ? Wen n ein e Gesellschaftsordnun g durc h ihr e eigne Mechanik da s Leben der arbeitenden Schichte n zertrümmer t ha t (hierbei ist nicht Verelen ­ dung gemeint , sonder n di e Atomisierun g de r Lebensinhalte ) un d si e 50 Monate i n eine m uner ­ hörten Machtkamp f zwingt , Gewal t i n jeder Erscheinungsfor m anzuwende n - wen n außerde m während diese s Kriege s auc h noc h di e notdürftige n ökonomische n Grundlage n diese r schon i n sich labilen Existen z gefährdet oder gar vernichtet werden -, wa s kann das Resultat sein bei Men ­ schen, gleichvie l o b sie temperamentvol l seie n ode r die kalt e Gleichgültigkeit de r Verzweiflun g besitzen: de r zentral e Sozialismus mi t seiner Ordnun g un d Einordnun g wir d nu r z u leich t vo m Bewußtsein de r Masse n al s Fortsetzun g de r kapitalistische n Maschin e empfunden , un d ic h fürchte, e r wir d deshal b i n eine r Zei t de s Mangels, welch e uns bevorsteht , nu r einen , un d zwa r nur de n rechte n Flüge l de r soziale n Bewegun g i n de n nächste n Jahre n bilden .

.3. Die Angestellte n i m Wilhelminische n Reic h 1 Au f de n vorausgehende n Seite n de s Originals , di e hie r nich t mi t abgedruck t wurde n (d. Hg.) . 2 Gemein t sin d die Gruppen de r kaufmännischen un d der technischen Angestellten (d . H g . ) . 3 M . Adler , De r Sozialismu s un d di e Intellektuellen , Wie n 1910 , insb . S . 5 5 ff . 4 V g l di e Rezension Mehrings übe r die Schrift Adlers , in: Neue Zeit, Jg. 28/11 , 1910 , S. 852 . 5 De r Mittelstan d lehn t übrigen s gan z deutlic h de n „neue n Mittelstand “ a b un d ebens o di e Beamtenschaft vic e versa . Vgl . mein e „Sozialpolitisch e Chronik “ in : ASS , Abschnitt : Mittel ­ standsbewegung, Bd . 31 , 1910 , S . 974 . 6 Dies e Gegensätzlichkeiten breche n auc h überall dort mit elementarer Gewal t hervor, w o in den Organisatione n de r Angestellte n ih r entgegengesetztes , als o Konsumenteninteress e eine n sichtbaren Ausdruc k erhält . Di e Mittelsundsschichte n sin d überal l di e hitzigste n Gegne r alle r Bestrebungen de r Angestellte n (un d Beamten ) al s Konsumente n - währen d si e ihre Bestrebun ­ gen al s Produzente n (Gehaltserhöhungen ) nich t prinzipiel l ablehnen . 6a Vgl . unte n S . 64ff . 7 Di e fü r Staatsbeamt e charakteristische n Eigentümlichkeite n ihre s Dienstverhältnisse s ha ­ ben sich entwickelt, solang e die Tätigkeit des entscheidenden, vielleich t sogar numerisch größe ­ ren Teiles de r Staatsbeamten ein e hochqualifizierte wa r (Richte r un d Verwaltungsbeamte); de n

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Anmerkungen z u Seit e 59-6 9 Staatsbeamten mußte n al s Äquivalen t fü r di e damal s noc h möglich e Tätigkei t al s Selbständig e weitgehende Benefizie n gewähr t werde n (gan z analo g de n „Wohlfahrtseinrichtungen “ de r gro ­ ßen Unternehmungen). Diese Normen wurde n auf ein Dienstverhältnis übertragen , da s sich un ­ ter gan z andere n Bedingunge n ausgebilde t hat . 8 Di e wirtschaftlich e Lag e de r deutsche n Handlungsgehilfen , Hambur g 1910 , S . 6 1 ff . un d Tabelle 4 . 9 Vo n de n zur Versendung gelangte n 11 5 00 0 Fragebogen konnte n nahez u 3 3 00 0 der Publi ­ kation zugrund e geleg t werden ; ebd. , S . 14 . 10 E b d . , S . 63 . 10a I m Original : Belau f (d . H g . ) . 11 I. Kisker, Di e Frauenarbei t i n de n Kontore n eine r Großstadt , Tübinge n 1911 , S. 5 5 ff . 12 R.Jäckel , Statisti k übe r di e Lag e de r technischen Privatbeamte n i n Großberlin . I m Auf ­ trage de s Bureau s fü r Sozialpoliti k bearbeitet , Jen a 1908 , S . 26-29 . 13 Denkschrift , betreffen d di e vo n de n Organisatione n de r Privatangestellte n i m Oktobe r 1903 angestellten Erhebunge n übe r ihr e wirtschaftliche Lag e und Berechnun g de r Koste n eine r Pensions- und Hinterbliebenenfürsorg e diese r Berufskreise, in : Verhandlungen de s Reichstags , Bd. 24 0 (=Anlagen z u de n Stenographische n Berichten , Nr . 107-257) , Berlin 1907 , Stück 226 , S. 1114-1204 . Auc h al s selbständige Schrift u.d.T. : Di e wirtschaftliche Lag e der Privatangestell ­ ten. Denkschrif t übe r di e i m Oktobe r 190 3 angestellte n Erhebungen , bearb . i m Reichsam t de s Innern, Berli n 1907 . 14 Ebd. , S . 1115 . Diese r Umstan d bedeutet , fü r di e Frag e de r Versicherung , da ß di e Bela ­ stung, aufgrun d de r Erhebung berechnet , z u hoch ausfalle n würde , stell t als o einen Sicherheits ­ zuschlag dar . Fü r die Frag e der Gehälte r jedoc h verringer t diese r Umstan d de n Wer t de r Erhe ­ bung. Den n die Besoldung verheiratete r Angestellter pflegt, ceteri s paribus, höher zu sein als die der unverheirateten, scho n wei l di e Tendenz de r verheirateten Beamte n nac h Gehaltserhöhun g oder Erlangun g eine r bessere n besoldete n Stell e ein e vie l stärker e ist . 15 Ebd. , S . 1117 . De r groß e Antei l de r Werkmeiste r unte r de n technische n Angestellte n dürfte jedoc h de n Wer t de r Erhebun g nich t i n de m Sinn e beeinträchtigen , da ß di e Gehälte r i m Durchschnitt niedriger erscheinen. Immerhi n beeinträchtigt e s den Wert der Erhebung sehr, da ß sich doppel t s o vie l Werkmeiste r a n ih r beteiligte n al s technisch e Angestellte . 16 Ebd. , S . 1122 . 17 Jäckel , S . 5 4 ff . 18 Ebd. . S . 5 4 ff . 19 E s folgen hie r nich t abgedruckt e weiter e Einzelangabe n übe r Gehälte r technische r Ange ­ stellter (S . 71-7 5 i m Original ) (d . H g . ) . 20 Ein e Refor m i n diese m Sinn e erstreb t de r i m Jahr e 190 9 gegründet e Verban d Deutsche r Diplomingenieure. 21 Abgeordnete r Potthoff i m Deutsche n Reichstage , 6 . III. 1905, abgedruckt i m „Orga n de s Bundes de r industrielle n Beamten“ , 15 . III. 1905. 22 Mindestgehälter . Ei n Beitra g zu m Lohnproble m de r technische n Angestellte n ( = Schrif ­ ten de s Bunde s de r technisch-industrielle n Beamten , Nr . 16) , Berli n o . J . [19101 , S . 5 . 23 Ebd. , S . 1 1 u . 53 . 24 Di e Begründun g de s Mindestgehalte s un d insbesonder e di e ziffernmäßig e Begrenzun g desselben geh t i n der Rege l vo n eine m „Normalbudget “ aus , als o einer bestimmte n Lebenshal ­ tung, hingege n nich t von einer Mindestleistung. De m entsprich t auc h das Bestreben, irgendein e Form fü r di e Distanzierun g de s Gehalte s vo m Loh n de r Arbeiterschaf t z u finden : s o ζ. Β . die Ablehnung gege n jed e Ar t der Gehaltsfestsetzung , welch e eine m Akkordloh n wesensverwand t wäre, als o das Quantum de r Leistung zu r Grundlage mach t (ebd. , S . 50 u. 51) . Auch da s sprich t dafür, da ß in der Vorstellung de r technischen Angestellten zwa r eine bestimmt qualifiziert e Lei ­ stung i m Vordergrund e steht , hingege n di e Verbindung mi t eine r quantitati v bestimmte n Min ­ destleistung, als o auc h Akkordlohn , abgelehn t wird . Wen n als o meritorisc h bei m Postula t de r

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Anmerkungen z u Seit e 69-7 0 Mindestgehälter eine bestimmte Lebenshaltung die Grundlage bildet, so wirkt der Form nach al s Vorbild gewi ß di e Tatsach e de r Anfangsgehälte r be i staatliche n Beamten . 25 Hie r zeig t sic h als o ei n weitere r prinzipielle r Unterschie d gegenübe r de r Forderun g de r Arbeiterschaft: dieser ist der Lohn doch stets nur eine Abschlagszahlung auf ihre Leistung. Nac h der gerad e de r Ideologi e de r Arbeiterschaf t seh r entgegenkommende n Marxsche n Theori e is t eine „gerechte Entlohnung“ i m System des Kapitalismus unmöglich, wei l dieses ohne Mehrwer t nicht existieren kann . Der Ausgangspunkt für die Angestelltenschaft abe r ist der Standard of life, ein spezifisc h mittelständische r Gedanke , ei n sozia l fundiertes Postulat - un d auch im Bewußt ­ sein de r Angestelltenschaf t is t da s „berechtigt e Interess e de s Standes “ mindesten s ei n ebens o starkes Argumen t wi e sein e Leistun g i n de r Produktion . 26 Hie r verweist Ledere r au f di e auf S. 7 3 (Anm. 1 ) aufgeführten Löhn e gelernter, gewerbli ­ cher Arbeiter mit ständiger Beschäftigung zu m Vergleich. In der Kaiserlichen Torpedowerkstat t Friedrichsort verdiente n (nac h de r Industriebeamtenzeitun g v . 11 . 11 . 1910) : per Ta g 8,34 Mk . 7,61 Mk . 7,58 Mk .

Schiffszimmerleute Mechanikergehilfen Hammerschmiede Techniker Schaltbrettwärter

-

7,16 Mk .

per Jah r (30 0 Arbeitstage ) 2502 Mk . 2283 Mk . 2274 Mk . 2210 Mk . 2148 Mk .

Lederer fährt fort : „De r Durchschnittslohn gewerblicher Arbeiter ist natürlich viel geringer, wi e aus de n Berichte n de r Berufsgenossenschaf t hervorgeh t (vgl . R . Calwer , Da s Wirtschaftsjah r 1906. Jahresberichte über den Wirtschafts- und Arbeitsmarkt, Bd . 2 , Jena 1910 , S. 6) ; er betru g z. Β . für ,Vollarbeiter ' i m Bergba u un d Hüttenwese n (1906 ) 1328,1 9 Mk. , i m Baugewerb e 1115,74 Mk . usw . Dabe i sind natürlic h auc h all e ungelernten Arbeiter , Frauen und Jugendlich e Inbegriffen“ (d . Hg.) . 27 Vgl . di e erwähnt e Denkschrif t (obe n Anm . 13) , S . 1157 , Tabell e I, Gruppe C . 28 Nac h de r Erhebun g vo m Jah r 190 3 hatte n (vgl . ebd. , Übersich t 7 ) die einzelnen Berufs ­ gruppen folgend e Alterszusammensetzung : Gruppe II (Industrie) davon absolut verh. % unter 2 0 J. 20-30 J . 30-40 J. 40-50 J . 50-60 J . 60-70 J . 70 u . darübe r ohne Angab e

3 077 27129 28280 21477 9 564 2 702 214 944

3,30 29,05 30,28 23,00 10,24 2,89 0,23 1,01

Summe

93 387

100,00

%

Gruppe III (Handel) davon verh. absolut %

%

1 8422 24 522 20345 8967 2381 156 487

0,03 31,04 86,71 94,73 93,76 88,22 72,90

3 562 16345 7143 3 620 1314 323 30 446

10,86 49,86 21,78 11,04 4,01 0,98 0,09 1,38

2 699 5317 3126 1133 270 23 139

16,51 74,44 86,35 86,23 83,59 76,67

65281

69,90

32 783

100,00

12 707

38,76

Es ist also nicht nur durchwegs die prozentuelle Besetzung der jüngeren Altersklassen bei den Handlungsgehilfen wesentlic h stärker , sonder n auc h di e Zah l de r Verheiratete n relati v bedeu ­ tend geringer . Da s weist darau f hin , da ß ei n Teil de r Angestellten ers t al s Selbständiger heirate t oder abe r (darau f deute t di e Verschiedenhei t de r Ehefrequen z auc h i n höhere n Altersklassen ) überhaupt unverheirate t bleibt . (Auc h hie r kann de r Kausalnexu s umgekehrt sein : da ß diejeni -

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Anmerkungen z u Seit e 70-7 5 gen sic h nich t selbständi g machen , welch e nich t heirate n wollen. ) I n jedem Fall e abe r erkläre n sich darau s geringer e Gehaltssätze . 29 Vgl . Erhebun g vo n Wirtschaftsrechnunge n minderbemittelte r Familie n i m Deutsche n Reiche, hg. u. bearbeitet vom Kaiserlichen Statistischen Amte (= 2. Sonderhef t zu m Reichs-Ar ­ beitsblatte), Berli n 1909 , S . 46 . 30 Sowoh l diese als die Erhebung des Jahres 190 3 erfaßt hauptsächlich, wi e es scheint, Hand ­ lungsgehilfen mi t überdurchschnittlic h hohe n Gehaltssätze n . . . 31 Di e wirtschaftlich e Lag e de r deutsche n Handlungsgehilfen , Hambur g 1910 . 32 Diese r geringere Prozentsatz der Verheirateten wir d vo m Deutsch nationalen Handlungs­ gehilfenverband ohn e weitere s generalisier t un d al s Sympto m eine r „bedenkliche n Lag e de s Standes“ aufgefaßt . S o seh r auc h di e Gehaltsverhältniss e di e Heira t erschwere n mögen , s o is t doch die große Differenz gegenübe r dem Durchschnitt nach der Berufszählung (vo n 10 0 b-Per ­ sonenim Hande l [vgl. auc h unte n Anm . 40 , d. Hg. ] waren 190 7 ledig: 55,10 , nac h dieser Erhe­ bung aber von 100 Handlungsgehilfen: 76,25 ) nur aus der Beschaffenheit de s zugrunde liegende n Materials z u erklären . 33 Di e wirtschaftliche Lag e (wie Anm. 31), S. 55 . Den Gehaltsstufen unte r 150 0 Mk . gehör ­ ten an : vo n Verkäufern ca . 7 5 % , vo n Kontoristen , Kommis : 66 % , Lageriste n ca . 6 0 % usw . Hingegen gehörte n vorwiegen d i n die Gehaltsstufe n mi t meh r al s 180 0 Mk.: Korrespondente n (45 % ) , Reisend e (6 2 % ) , Buchhalte r (4 4 % ) , Abteilungsvorstehe r (7 6 % ) , Disponente n (78 % ) , Prokuriste n (9 7 % ). 34 Vgl . z u diese r Frage : 13 . Jahresberich t de r allg . Vereinigun g Deutsche r Buchhandlungs ­ gehilfen fü r 1907/08 , 14 . und 15 . Jahresbericht fü r 1908/09 , resp. 1909/1910 , ferne r di e separa t herausgegebene Tabell e übe r Mindestgehälte r (Anm . 22) . 35 Anfang s ma g diese s Besoldungschem a auc h sachlic h begründe t gewesen sein : Solange di e Staatstätigkeit sic h vorwiegend i n Rechtsprechung un d Verwaltung erschöpft , wir d di e Arbeits­ leistung ältere r Beamte r durch di e Erfahrung , welch e sie ansammeln, trot z geringere r subjekti ­ ver Arbeitslas t möglicherweis e wertvoller . Da s triff t abe r natürlic h be i de r große n Mass e de r heute i n öffentliche n Dienste n stehende n Angestellte n nich t zu . Au f si e fan d ein e mechanisch e Übertragung de s be i Justiz - un d Verwaltungsbeamte n i n de r steigende n Leistungsfähigkei t z u begründenden Prinzip s de r konstante n Steigerun g de r Gehälte r statt . Dadurc h abe r erhäl t da s Schema eine n andere n (nämlic h eine n sozialen ) Inhalt , besonder s durc h di e Anhebun g gegen ­ über Privatangestellten , welche n di e gleich e Tätigkei t obliegt . 36 Zu r Verdeutlichung folgend e Ziffer n (Drucksache n [wi e Anm . 13] , S. 1123) : E s verdien ­ ten durchschnittlic h i n eine m Alte r vo n Techniker

Handelsangestellte

14-20 J. 20-25 J . 25-30 J . 30-35 J . 35-40 J . 40-45 J. 45-50 J . 50-55 J . 55-60 J . 60-65 J . 65-70 J . 70 J . und darübe r ohne Angab e

1081,60 1520,05 2029,78 2312,90 2392,49 2401,67 2391,52 2357,78 2257.90 2200,58 2034,49 1938,30 2150,97

1073,47 1446,77 1931,01 1369,71 2596,37 2745,52 2748,60 2762,58 2603,96 2417,74 2352,07 2049,63 1834,29

Durchschnitt

2156,77

1947,70

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Anmerkungen z u Seit e 75-8 4 37 Deutsch e Industriebeamtenzeitung , 10 . 2 . 1911 . 38 Di e wirtschaftlich e Lag e (wi e Anm . 31) , S . 4 4 ff . E s sin d z . B. di e Gehaltsstufe n übe r 2400 M . be i Angestellte n übe r 5 0 J . durchweg s schwäche r besetz t al s be i de n Altersgruppe n zwischen 3 0 und 5 0 Jahren, währen d di e Gehaltsstufe n vo n 900-1800 M . be i diese n wiede r er ­ heblich stärke r besetz t sind . 39 Jäckel , S . 4 . 40 Nac h den Berufszählungen der Jahre 189 5 und 1907 , Bd. 10 3 und 203 d. Statistik des Deut­ schen Reichs, N.F . - Be i den „b-Personen “ de r Reichsstatistik handel t e s sich um: nichtleitend e Beamte, überhaup t da s wissenschaftlich , technisc h ode r kaufmännisc h gebildet e Verwaltungs ­ und Aufsichtspersonal , sowi e da s Rechnungs - un d Büropersonal ; di e Verkäufe r wurde n 190 7 dazu, 189 5 abe r noc h z u de n „c-Personen “ (vo r alle m Arbeiter ) gerechne t (d . H g . ) . 41 Nac h Ausschaltun g de r Unteroffizier e un d Gemeine n (E , b) . 42 Diese s Proble m besteh t in ähnlichem, vielleicht ebens o bedrohlichem Maß e für die Arbei ­ terschaft. Da ß e s bishe r noc h nich t s o aku t geworde n ist , al s ma n annehme n sollte , lieg t woh l daran, da ß di e rasch e Entwicklun g de r Industri e ein e ebens o rasch e Vermehrung de r Arbeiter ­ zahl bewirk t un d dahe r die Verwendung de r älteren, be i de n Maschine n unbrauchbaren , nu r z u Aushilfsdiensten geeignete n Arbeite r imme r noc h i n Proportio n is t z u de r inzwische n wiede r rasch gewachsenen Zah l der jüngeren Arbeiter. Da s Problem wird erst in seinem ganzen Umfan g aktuell in einem Beharrungszustand de r Industrie, wenn - vo n dem Abgang durch Tod, Invalidi ­ tät, Berufswechsel usw . abgesehe n - di e Zahl der alten Arbeiter der Zahl der neu eintretenden da s Gleichgewicht halte n würde . Diese r Zustand schein t i n höherem Maß e schon in England einge ­ treten zu sein, so auch das Problem der Arbeitslosigkeit immer bedrohlicher wird. Fü r die Ange­ stellten wird e s wohl nicht als ein Problem der Arbeitslosigkeit auftauchen , wenigsten s nich t all ­ gemein, abe r al s ei n solche s de r Deklassierun g eine s erhebliche n Teile s de r Angestelltenschaf t mit de n unvermeidiche n Rückwirkunge n au f di e übrige n Teile . 43 Zusammengestell t nach : Reichsarbeitsblatt , Jg . 190 8 ff . 44 Ebd . - Z u Schätzungsmethode n un d Einschränkunge n sieh e S . 9 4 de s Original s (Anm . 2-5) (d . H g . ) . 45 I n eine m nich t abgedruckte n Tei l de r Schrif t behandel t Ledere r Entstehung , Inhal t un d Bedeutung de s Angestellten-Versicherungsgesetze s vo n 191 1 (d . Hg.) .

4. Di e ökonomisch e un d sozial e Bedeutun g de s Taylorsystem s 1 Auc h die Maschinen wurde n i n einem rasche n Tempo durchgeführt, ebens o Maschinenver ­ besserungen, wei l die Konkurren z daz u zwang . Dennoc h dürfte , scho n wegen der relativ gerin ­ geren Kapitalaufwendungen , di e Durchsetzung de s Taylorsystems, sowei t es auf di e Unterneh ­ mer ankommt , noc h rasche r vo r sic h gehen . Den n neu e Μ aschinen anlagen erforder n neu e Be ­ triebslagen usw. , da s Taylorsystem abe r organisiert nu r den bereit s bestehende n Betrie b ander s und steiger t dadurc h sein e Produktivität . Da s is t fü r di e Frag e des Tempos von entscheidende r Bedeutung, un d da s Tempo is t wiederu m ei n entscheidende r Fakto r fü r di e Konsequenze n de s Systems. 2 Industriell e Revolutione n (i n de s Worte s prägnante r Bedeutung ) fande n tatsächlic h nu r i n den Gewerben statt , i n welchen di e Überlegenheit de r Maschinen un d die Möglichkeit, si e rasc h einzuführen, absolu t gegebe n war ; s o in der Textilindustrie. Hie r wa r das Tempo das rascheste . Es is t irrig , e s fü r di e ganz e Industri e z u verallgemeinern . 3 Wen n i n eine m Unternehme n vo r Einführun g de s Taylorsystems di e in diese m Unterneh ­ men ausbezahlten Löhn e und Gehälter etwa 20 % des kalkulierten Austauschwerte s ausmachen , so werden di e Löhne un d Gehälte r nac h Einführun g de s Systems notwendigerweis e wenige r al s 20 % , etwa 1 5 oder 1 2 % betragen. Dabe i kan n sic h natürlic h di e Lohnsumme de s Betriebs sehr wohl heben , namentlic h wen n al s Folge der Einführung de s Taylorsystems nich t ein e Verringe -

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Anmerkungen z u Seit e 84-8 9 rung der Arbeiterschaft eintrit t und der Lohn des einzelnen Arbeiter s erhöht wird; auc h wird di e Gehaltssumme der Angestellten ein e erhebliche Steigerung erfahren. Trotzdem wir d di e Einfüh rung de s Taylorsystems gan z i m allgemeine n de n Antei l de s Faktors Arbei t a m Tauschwert de s Produktionsertrags senken . 4 Praktisc h wir d sic h das s o abspielen, da ß de r Nachwuch s i n andere , hie r als o frühere Pro duktionsstadien einströmt - i n di e Sphären de r schweren Industrie , de r Erzeugung vo n Halbfa brikaten un d insbesonder e Maschinen . Dies e Produktionssphäre n werde n rasche r wachse n al s die de r Fertigfabrikateindustrie . 5 Diese s zweit e Moment , da ß di e Maschineneinführun g i n di e Zei t rascheste r Ausdehnun g des öffentlichen Bedarfes , größere r Investitione n fällt , is t ei n historisches. Aber insofer n is t da s Zusammentreffen kei n zufälliges , al s ja di e Einführun g vo n Maschine n dies e Investitione n ers t ermöglichte. E s ist als o nicht unzulässig , be i de r Betrachtun g de s scho n theoretisc h gegebene n Tatbestandes auc h diese s Momen t mi t einzubeziehen . 6 Auc h de r Proze ß de r Freisetzun g vo n Arbeiter n vollzieh t sic h i m einzelne n i m Taylorsy stem ander s al s be i de r Anwendun g neue r Maschinen . Be i Maschineneinführun g wir d doc h meist in demselben Betrieb die Zahl der Arbeiterschaft nich t verringert, sonder n ehe r vermehrt , sowohl wei l ma n di e gesamte Leistun g de s Betriebes überhaup t möglichs t steiger n wil l un d au ßerdem wei l ja vielfach Maschinenausrüstun g nich t fü r de n ganzen Betrie b erfolgt , sonder n nu r für Teilprozess e i n demselben . Bewältige n dies e aber ein e größere Produktionsmenge , s o müssen andere Teile des Betriebes erweitert, d . h . mi t mehr Arbeitern besetz t werden. Dahe r erfolg t die Veränderung, di e Freisetzung vo n Arbeitern nich t im fortschreitenden, sonder n in den anderen Betrieben . Dor t abe r ist wiederu m di e Tätigkeit de r Arbeite r gehalte n durc h da s Bestrebe n der Unternehmungen, sic h z u behaupten , auc h gegen di e Marktlage, selbs t mit teilweisem Ver lust des Kapitals. Die Kosten des technischen Fortschritte s werden somi t von den anderen Kon kurrenzunternehmungen getragen , au s deren Fond s die Arbeiterschaft noc h einig e Zeit erhalte n werden kann . - Di e Situation is t bei allgemeine r Einführun g de s Taylorsystems ein e grundsätz lich andere . Hie r erfolg t nu n tatsächlic h ein e Freisetzun g vo n Arbeiter n einfac h durc h ander e Organisation i m Betriebe, un d zwar ein e Freisetzung i m technisch fortschreitende n Betrieb e (i n erster Lini e woh l durc h Entlassun g de r ältere n Arbeiter) . 7 Vgl . W . Kochmann, Da s Taylorsystem un d seine volkswirtschaftliche Bedeutung , in : ASS , Bd. 38 , 1914 , S . 391-424 . 8 Gewi ß wir d di e Einführun g de s Taylorsystem s ein e erheblich e Lohnsteigerun g zunächs t mit sich bringen . Und diese wird auc h insofer n erhalte n bleiben , al s eine entsprechende Lebens weise Voraussetzung fü r die konstant e Durchführun g de s Betriebssystems ist . Darübe r hinaus gehend abe r werde n Lohnsteigerunge n nu r durc h seh r starke , de n Unternehmer n gegenübe r überlegene Gewerkschafte n gehalte n werden . 9 S o ζ. Β . sehr deutlich i n de r Ideologie de r christlichen Gewerkschaften . Vgl . da s Buch vo n Brauer übe r Gewerkschaften . (Vermutlic h gemeint : Th. Brauer, Gewerkschaf t un d Volkswirt schaft, Jen a 1912 , d . H g . ) . 10 Bishe r wa r de r gewerkschaftlich e Sundpunk t der : „Auswüchse " de r technische n Ent wicklung z u bekämpfen; als o übermäßige Arbeitszeit, Verwendun g gesundheitsschädliche r Ma terialien usw. zu verhindern. Di e Steigerung de r Produktivität a n sich jedoch ohne solche unmit telbaren schädigende n Einflüss e wurd e vo n den Gewerkschafte n bishe r noch niemal s wege n ih rer Nebenwirkungen bekämpft , höchsten s i m Tempo beeinflußt . Da s Taylorsystem is t aber sei ner Einwirkung nac h - sowoh l hinsichtlic h de s Arbeiterbedarfes, al s auch fü r die Machtverhält nisse de r Arbeite r i m Betrie b - tot o gener e verschiede n vo n de r Maschineneinführung , Trotz dem is t de r Standpunk t de r Arbeite r ih m gegenübe r bishe r ziemlic h de r gleiche . 11 Setz t sic h da s Taylorsystem durch , s o stabilisiert sic h notwendigerweis e di e Situation zu ungunsten des Arbeitselementes. Gan z allgemein ausgedrück t muß dann die Produktion für de n Konsum de r Kapitalistenklass e selbs t sowi e vo n Mittelschichte n (Angestellte n un d Beamten ) wachsen; da s bedeute t imme r raschere n Bedarfswechse l (Ausbreitun g de s Modeprinzips) . Di e

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Anmerkungen z u Seit e 89-10 6 Konsumkraft de r Arbeiterschaf t un d dami t ihr e Bedeutun g fü r de n Konjunkturverlau f sink t dann i n Relatio n zu r Konsumkraf t de r andere n Schichten . 12 Di e deutsch e Gewerkschaftsbewegun g wir d zwa r nich t ein e „nüchtern e Alltags-Bewe gung" wi e de r französische ode r englische Syndikalismus. Da s schließt sich be i der allgemeine n Veranlagung un d Tendenz, der eigentümlichen For m aller sozialen Organisatione n i n Deutsch land aus ; abe r si e repräsentier t doc h nich t meh r de n „Sin n de r Geschichte" , wen n dies e „Ge schichte" , diese Entwicklung ebe n nicht eine n - i m Arbeiterinteresse gesehen - „richtige n Sinn " hat; sie repräsentiert dan n die Tendenz der Klasse, die zwar übersteigert wir d zu eine r Entwick lungsdendenz i n der Richtung de s Gemeinwohles; aber die eigentümliche Färbung un d Nuanc e des ganze n wissenschaftliche n Sozialismu s verblaß t doch , di e Arbeiterbewegun g is t (i n ihre m Bewußtsein) nich t meh r di e „Vollstreckeri n eherne r Notwendigkeiten " au f gan z reale r Basi s technischer Prozesse , di e jede s Widerstande s spotte n kann . 13 Di e spezifisc h syndikalistisch e „Takti k (Sabotage ) betracht e ich nich t al s wesentlich. I n concreto dürfte j a auch i n Deutschland der Streik au f absehbare Zeit das alleinige „letzt e Mittel " jeder Gewerkschaftsbewegun g bilden . 14 Diese s Bewußtsei n vo n de r Ungewißhei t de s Ausgang s de r Auseinandersetzunge n zwi schen Unternehmer n un d Arbeiter n is t j a jetz t noch , sowei t de r Sozialismu s di e gedanklich e Grundlage bildet, nich t vorhanden. Si e ist dafür in denjenigen Kreise n vorhanden, welche bisher die Entwicklung al s für sie ungünstig ansehe n mußten, ζ. Β . in agrar-konservativen Kreisen , di e sich deutlich i n der Defensive fühlen. Neu e Tatsachen, neu e Verschiebungen i n der Struktur de r materiellen Unterlag e un d infolgedesse n de r Klassenfiguratio n könne n natürlic h auc h dies e grundlegende Stimmun g zu r Entwicklun g verändern . 15 Be i de r Besprechun g de r Verhältniss e zu r politische n Parte i sin d hie r ausschließlic h di e freien Gewerkschafte n gemeint . Abe r si e sind i n Deutschland - un d auc h andersw o - di e wich tigste Gewerkschaftsrichtung , un d auc h ander e politische Strömungen , dene n sic h di e Arbeite r anschließen, dürfte n dieselb e Stellun g einnehmen . 5. Problem e de s Sozialismus . . . 1 „D a abe r di e Bourgeoisi e i n Deutschlan d de s Schutzes gege n da s Auslan d bedarf , u m mi t den mittelalterliche n Überreste n de r Feudal-Aristokrati e un d de m moderne n ,Gottesgnaden tum' aufzuräumen , s o hat daran auch die arbeitende Klass e Interesse." (Zitiert nach: F. Mehnn g [Hg.], Au s dem literarischen Nachla ß von Kar l Marx, Friedric h Engel s und Ferdinand Lassalle , Bd. 2 , Stuttgar t 1920 3 , S . 431. ) 2 I n al l diese n Erörterunge n is t immer festzuhalten , da ß fü r Mar x un d Engel s mi t Rech t di e freie Konkurren z selbstverständlich e Realitä t war . 3 De r Terminus stamm t vo n Hilferding. Di e dami t bezeichnet e Tatsach e beherrsch t di e ge samte handelspolitisch e Literatu r sei t de m Einsetze n de s deutsche n Solidarschutzzollsystems . 4 Diese r Ausdruc k stamm t vo n Arthu r Dix . 5 Vgl . O.Bauer, Di e Nationalitätenfrage un d die Sozialdemokratie (= Marx-Studien , Bd. 2), Wien 1907 ; R. Hilferding, Da s Finanzkapital ( = Marx-Studien , Bd . 3) , Wien 1910 ; R. Luxem burg, Di e Akkumulatio n de s Kapitals , Berli n 1913 . 6 Diese s Moment des Kausalzusammenhanges ha t zur Voraussetzung, da ß der Wert des Goldes (i m Sinn e seine r Kaufkraft ) vo n de r Meng e Arbei t abhängt , di e z u seine r Produktio n not wendig ist . 7 Vgl . sein e Besprechun g de s zit . Buche s vo n R . Luxemburg , in : Di e Neu e Zeit , Bd . 31/I , 1912/13, S . 831-3 8 u . S . 862-74 . 8 Vgl . Bauer, Nationalitätenfrage , § 27 : Die Wurzeln der kapitalistischen Expansionspolitik ; Hilferding, Finanzkapital , 25 . Kap. : Da s Proletaria t un d de r Imperialismus . 8a Ebd. , S . 471-72 . Da s Zita t wurd e nac h de r Quell e verbesse n ( d . H g . ) .

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Anmerkungen z u Seit e 107-11 1 9 Vgl . J . h.Askew , De r britisch e Imperialismus , Stuttgar t 191 4 ( = 19 . Ergänzungshef t zu r Neuen Zeit) . 10 Vgl . Spectator , Di e Kolonie n de r europäische n Mächt e i n handelswirtschaftliche r Bezie hung, in : Di e Neu e Zeit , Bd . 34/11 , 1915/16 , S . 16-2 0 u . S . 51-58 . 11 Spectator , Di e mitteleuropäischen Staate n i n ihren wirtschaftlichen Beziehunge n zueinan der, in : Di e Neu e Zeit , Bd . 34/1 , 1915/16 , S . 584-95 . 12 Vgl . M.Adler , Da s Prinzip des Sozialismus, i n : Der Kamp f (Wien) , Bd . 8 , 1915 , S. 1-8 . Von demselben wir d ausgeführt : „Di e imperialistische Phas e ist zwar ein e notwendige Stuf e de r sozialen Entwicklun g überhaupt , durc h welch e auc h all e Entwicklun g zu m Sozialismu s hin durch muß. " (Als o eine etwas abweichend e Formulierung) „Abe r eine Vorstufe de s Sozialismu s wird si e doch nur insofern sein , al s das Proletariat ih r seine eigene Entwicklungsrichtung entge gensetzt und aufzwingt." Daru m is t es von entscheidender Wichtigkeit , da ß sich das Proletaria t vom Imperialismu s jetz t fernhäl t un d „sein e klassenbewußt e Ideologi e mi t alle r Strenge , j a Intransigenz vo n de r de s Gegner s absondere" . (Wa s is t di e Notwendigkei t de r Entwicklung ? in : Der Kampf , Bd . 8 , 1915 , S . 177 ) 13 S o z. B.M.Schippel . Vgl . hierübe r Bauer, S . 490, Anm . 1 ; und di e zahlreiche n Aufsätz e Schippeis und Quessels in [den] „Sozialistischen Monatsheften" , sowi e Schippeis Buch über Han delspolitik. 14 Vgl . de n Ausspruch Engel s i n einem Brie f a n Bebel: „Eine n europäische n Krie g würd e ic h für ei n Unglüc k halten ; diesesma l würd e e r furchtbar erns t werden , überal l de n Chauvinismu s entflammen au f Jahre hinaus, da jedes Volk um seine Existenz kämpfen würde . Di e ganze Arbei t der Revolutionäre in Rußland, di e am Vorabend des Sieges stehen, wär e nutzlos, vernichtet; un sere Partei in Deutschland würd e momentan von der Flut des Chauvinismus überschwemm t un d gesprengt, un d ebenso ginge es in Frankreich. Da s einzige Gute, das herauskommen könnte , di e Herstellung eine s kleinen Polens , kommt be i der Revolution ebenfalls , un d zwar vo n selbst her aus; ein e russisch e Konstitutio n i m Fall e eine s unglückliche n Kriege s hätt e ein e gan z andere , eher konservativ e Bedeutun g al s ein e revolutionä r erzwungene . Ei n solche r Krieg , glaub e ich , würde di e Revolution u m 1 0 Jahr e aufschieben , nachhe r würd e sie freilich u m so gründlicher. " (Zit, vo n Hilferding , Historisch e Notwendigkei t un d notwendig e Politik , in : De r Kampf , Bd. 8 , 1915 , S . 206-15) . 15 Dies e Eindeutigkeit wa r i n Fragen de r Zollpolitik gegeben . Ander s scho n stan d e s bezüg lich de r Kolonien . 16 F . Naumann , Mitteleuropa , Berli n 1915 . - Di e hie r nich t abgedruckte n Seite n 385-9 1 skizzieren di e Mitteleuropa-Diskussio n außerhal b de s sozialistische n Lager s (d . Hg.) . 17 Hie r sol l da s Programm „Mitteleuropa " nich t seine r ganzen Ausdehnun g un d Bedeutun g nach diskutier t werden . Gegenstan d de r Darstellun g bilde n nu r di e vo m sozialistische n Ge sichtspunkt au s wesentlichen Argument e pr o un d contra . Si e sind a m übersichtlichsten , wenn gleich nich t vollständig , zu m Ausdruc k gekomme n i n de r Aussprach e zwische n de r deutsche n sozialdemokratischen Parte i un d de r deutsche n Sektio n de r österreichische n Sozialdemokrati e in Berlin a m 9. 1 . 1916 . An diese r Aussprach e beteiligte n sic h au s dem Deutsche n Reiche : Ver treterdersozialdemokratischen Reichstagsfraktion , de r Parteivorstand un d der Parteiausschuß , die Generalkommissio n un d Vorständ e de r Gewerkschaften , de r Zentralverban d deutsche r Konsumvereine; ferne r au s Österreich : Vertrete r de r deutsche n sozialdemokratische n Parte i und de r zentralistische n Gewerkschafte n (nebe n dene n e s gleichfalls au f sozialistische m Bode n stehende tschechisch e Gewerkschafte n gibt) . Vgl . Di e Bestrebunge n fü r ein e wirtschaftlich e Annäherung Deutschland s un d Österreich-Ungarns . Protokol l de r Verhandlungen , di e a m 9. Janua r 191 6 zwischen de r sozialdemokratischen Fraktio n de s deutschen Reichstages, dem sozialdemokratischen Parteivorstan d un d Parteiausschuß , de r Generalkommission un d de n Vor ständen de r deutschen Gewerkschaften , eine r Vertretung de s Zentralverbandes deutsche r Kon sumvereine und eine r Vertretung de r sozialdemokratischen Parte i Österreich s un d de r österrei chischen Gewerkschafte n i n Berli n übe r di e wirtschaftlich e Annäherun g Deutschland s un d

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Anmerkungen z u Seit e 111-11 8 Österreich-Ungarns stattfanden , hg . vo m Vorstan d de r sozialdemokratische n Parte i Deutsch lands, Berli n 1916 . - I m folgende n zit . als : Protokoll . 18 V . Adler , in : Protokoll , S . 41 . 19 Seitz , in : ebd. , S . 50 . 20 Renner , in : ebd. , S . 16 . 21 Renner , in : ebd. , S . 16-17 . 22 Renner , i n : e b d . , S . 18 . Diesen Gesichtspunkt hat Renner auch bereits früher hervorgeho ben (vgl . ders. , Organisierte s Wirtschaftsgebie t un d Zollunion , in : ders. , Österreich s Erneue rung, Wie n 1916 , S. 128-33) : Die Verschmelzung hochentwickelte r Wirtschaftsgebiet e se i nicht mit der Angliederung wirtschaftlic h weni g entwickelter Gebiet e an die moderne Wirtschaft (Ko lonien) zu verwechseln. Letzte n Ende s aber würden durch günstige Wirkungen au f den Standor t die Vorteil e überwiegen . 23 Renner , in : Protokoll , S . 2 0 f . - S . 394-9 8 nich t abgedruck t (d . H g . ) . 24 Renner , in : ebd. , S . 21-22 . 25 Ellenbogen , in : ebd. , S . 46 . 26 Ebd. , S . 41 . 27 Cohe n (Reuss) , in : ebd. , S . 48 . 28 Adler , in : ebd. , S . 41 . 29 Adler , in : ebd. , S . 42 . 30 Renner , in : Arbeiterzeitun g (Wien) , 9 . 1 . 1916 . 31 Renner , in : Protokoll , pass . u . S . 62 . 32 Renner , Österreich s Erneuerung , S . 14 0 ff . 33 Vgl . K . Th . v . Inama-Sternegg , Neu e Problem e de s moderne n Kulturlebens , Leipzi g 1908: „Di e gegenwärtige n Aussichte n de r weltwirtschaftliche n Entwicklung" . 34 K . Kautsky , Di e Vereinigte n Staate n Mitteleuropas , Berli n 1916 , S . 11 . 35 Hieri n steht der Radikale Kautsky de m „Realpolitiker " Schippel (vgl. dessen : Mitteleurop a und Partei, in : Sozialistische Monatshefte , Bd . 22 , 1916/11 , S. 531-41) viel näher al s die übrige n „Revisionisten" - auc h ei n Zeichen , wi e all e Anschauunge n i n Flu ß gekomme n sind . 36 Hilferding , Europäer , nich t Mitteleuropäer , in : De r Kampf , Bd . 8 , 1915 , S . 357-65 . 37 Di e Gefährdung de r deutschen Industri e auf de n Absatzmärkten de r heute neutralen Staa ten beton t de r „Vorwärts " vo m 15 . 4 . 1916 . 38 Kautsky , Mitteleuropa , S . 1 9 ff . 39 Vgl . H . Herkne r (Hg.) , Di e wirtschaftliche Annäherun g zwischen de m Deutschen Reich e und seinen Verbündeten , 3 Bde . ( = Schrifte n de s Vereins fü r Sozialpolitik , Bd . 155 , Teil 1-3) , München 191 6 (d . Hg.) . 40 S o angedeutet, wenngleic h nich t festgehalte n vo n Spectator, Vo m Marxismu s zu m Impe rialismus, in : Di e Neu e Zeit , Bd . 34/11 , 1915/16 , S . 193-97 ; vgl . ferne r K . Eisner , Treibend e Kräfte, in : Die Neue Zeit, Bd . 33/11 , 1914/15 , S. 97-106; u. F. Austerlitz , Di e nationalen Trieb kräfte, in : Di e Neu e Zeit , Bd . 34/1 , 1915/16, S . 641-48 . 41 Di e Frag e de r Demokrati e rück t dan n i n de n Mittelpunkt : S o befürchtet Hilferdin g (Ar beitsgemeinschaft de r Klassen ? in : De r Kampf , Bd . 8 , 1915 , S. 321-29), daß die Arbeiterbewe gung de r Gegenwar t zwische n imperialistische r Machtpoliti k un d demokratische r Umgestal tung de r gesamte n innere n un d äußere n Politi k zurücktret e hinte r de r Hoffnun g au f Befriedi gung de r unmittelbare n materielle n Interesse n durc h sozialreformerisch e Maßnahmen . „Ma n stellt di e Demokrati e zurüc k un d di e Sozialpoliti k i n de n Vordergrund , d a ma n erwartet , da ß diese Befriedigun g unmittelbare r materielle r Interesse n de s proletarischen tägliche n Leben s au f geringeren Widerstan d stoße n werde , d a si e j a prinzipiell a n de m Gefüg e de r heutige n Gesell schaft un d de n Machtverhältnisse n de r Klasse n unmittelba r nicht s ändert . Un d kei n Zweife l kann bestehen , da ß dies e Politi k de r Resignatio n ode r eine r falsc h verstandene n Interessenhar monie auc h i n de r deutsche n Arbeiterklass e ihr e Unterstützun g findet. " 42 De r Originaltite l diese s Aufsatze s („Vo n de r Wissenschaft zu r Utopie" ) beton t noc h ein -

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Anmerkungen z u Seit e 118-13 1 mal di e kritisch e Distanz , mi t de r Ledere r di e Haltun g de r Anhänge r de r Wirtschaftsgemein schaft, ihr e theoretische n Positione n un d ihr e Hoffnun g au f da s „groß e Wunder " betrachte t (d. H g . ) . 6. Zu r Soziologi e de s Weltkrieg s 1 Wi e au s de m folgende n hervorgeht , sin d i n erste r Lini e di e kontinentale n Staate n de r Be trachtung zugrund e gelegt , Englan d is t i n seine m Wese n deutlic h z u unterscheiden , wi e scho n der Mangel de r allgemeine n Wehrpflich t zeigt . Die s der wesentlich e Grun d fü r di e relativ e gei stige Unabhängigkeit i n England gegenüber dem Kriege und für das Weiterbestehen de r soziale n Differenzen, Diese r Unterschie d geh t au f di e insular e Lag e England s zurüc k un d schwinde t i n dem Maße, als es diese insulare Lage zu verlieren beginnt. (Marine als Instrument des Staates läß t der Gesellschaf t meh r Raum. ) 2 „De r Schützengrabe n kan n nu r z u leich t zu m Gra b de s Angriffsgedanken s werden. " 2a Gemein t is t Kar l Leuthner , de r u . a . schrieb : Russische r Volksimperialismu s ( = Samm lung vo n Schrifte n de r Zeitgeschichte , Bd . 9) , Berli n 191 5 (d . H g . ) . 3 Da ß di e Technik hie r (zu m Unterschie d vo n de r Technik i m Rahme n de r Wirtschaft ) ein e eigene Immanenz - au s dem Wese n de s militärischen Apparate s - bekommt , zeig t ei n Vergleic h zur Wirtschaft , w o da s technisch e Verfahre n de r Güterherstellun g vo n de r Zwecksetzun g in nerhalb de r Wirtschaf t (o b traditionalistisch e ode r kapitalistisch e ode r Gemeinwirtschaft ) seh r wesentlich abhängt , j a den ganzen Charakte r de r Technik bestimm t (Handwerkstechni k gegen über moderne r Technik) ; de r „technisch e Fortschritt " is t nu r Instrumen t eine r ökonomische n Entwicklung, un d dies e fü r ih n da s Primäre . (Vgl . jetz t di e ausgezeichnet e Darstellun g vo n F. vo n Gottl-Ottlilienfeld , Wirtschaf t un d Technik, in : Grundriß de r Sozialökonomik, Abt . 2 , Tübingen 1914 , S . 199-381 . 4 Di e Dynamik de s Heerwesens is t so ausgeprägt, e s zeigt sich s o deutlich i n ihm eine techni sche Eigenart , welch e auc h de r Kapitalismu s fü r sein e Zweck e i n eine m bestimmte n Stadiu m entwickeln mußte , da ß Sombar t i m Krie g de n Ursprun g de s Kapitalismu s erblicke n z u könne n glaubte. 5 De r Verlau f de r Techni k könnt e j a s o sein , da ß gerad e di e Entwicklun g de r Maschineri e immer wenige r Bedienun g un d menschlich e Kraf t benötigt ; ein e solch e Entwicklun g ha t sic h aber nich t realisier t un d is t woh l auc h au f absehbar e Zei t nich t möglich , wei l si e bei sämtliche n Waffengattungen gleichzeiti g erfolge n un d di e Abschaffun g de s Gewehr s al s individueller Ver nichtungsmaschine, deutliche r gesagt , Vernichtungswerkzeug , bedeute n würde . De r Krie g würde dan n di e Tenden z haben , mi t abnehmende n Menschenmasse n un d wachsende r Zerstö rung a n Materia l un d ökonomische r Substan z z u operieren . 6 Di e modern e For m de r Staatsverfassung, Hee r al s Organisation setz t ers t ei n mi t der Ver wendung de r Bauernmilizen. Is t vorher der Kamp f ein e Summe vo n Einzelkämpfen , s o bedeu ten namentlich di e Schweizer Söldner ein neue s Prinzip, nich t so sehr durch di e Ausrüstun g mi t Feuerwaffen, al s vielmehr durc h de n taktische n Zusammenhalt , de r ihr e Überlegenhei t gegen über de n ritterliche n Einzelkämpfer n begründete . Hierbe i möge n sozialpsychologisch e Mo mente (genossenschaftliche r Zusammenhalt ) star k mitgespiel t habe n (O . Hintze , Staatsverfas sung un d Heeresverfassun g [ = Neue Zeit - un d Streitfragen , hg . vo n de r Gehestiftung, Heft4] , Dresden 1906 , S . 24) , si e wirke n doc h nu r durc h da s Mediu m de r Organisation . Sobal d dan n eine Organisation nich t nur durch moralisch e Einflüsse erziel t werde n kann, könne n die moralischen Element e durc h ander e ersetz t werden . 7 Dies e eigenartige Stellung des Heeres fühlt scho n Lorenz v . Stein , Di e Lehre vom Heerwe sen al s Theil de r Staatswissenschaft , Stuttgar t 1872 . Nac h ih m steh t da s Hee r unte r der Verfas sung un d ihrem Gesetz . „Un d dennoc h lieg t im Heerwese n etwas , wa s sich de r Verfassung vo n jeher entzogen ha t und sich derselben ewi g entziehe n wird . Di e Verfassung . . . kann nich t de m

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Anmerkungen z u Seit e 131-13 6 Heer befehlen." „Da s Heerwesen steht unter dem Gesetz, die Armee unter dem Befehl"; e r fährt dann fort : „Di e Einhei t beide r abe r ist da s Staatsoberhaupt al s Kriegsher r i n alle n Zeiten un d i n allen Staaten. " Dies e Einhei t bedeute t abe r (u . E. ) kein e wirklich e Einheit , d . h . Vereinigun g von Geset z (Verfassung ) un d Befehl , sonder n i n alle n Kollisionsfälle n ein e Unterordnun g de r Verfassung unte r da s „Staatsoberhaup t al s Kriegsherrn". Bezeichnen d hierfü r di e völlige Abdi kation de r innere n Staatsorgane , de r Verwaltung: i m Krieg e wir d de r Belagerungszustan d ver hängt - natürlic h i n de r For m de s Rechte s - e r bedeute t abe r völlige n Übergan g de s gesamte n staatlichen Imperium s a n die Militärbehörden , dene n gegenübe r di e innerstaatlichen Behörde n überhaupt nicht s zu sagen haben. Sie haben lediglic h di e Möglichkeit de r Intervention, d . h . de r Bitte an die Militärbehörden, ihr e Anschauungen z u berücksichtigen. (Vgl . die interessante Red e des Ministers Delbrück i m Reichstag a m 10 . 3 . 1915 , abgedruckt in: Verhandlungendes Reichs tags, Stenographische Berichte, Bd. 306 , Berlin 1916 , S. 48-50.). Stärke r kann sich die Tatsache, daß ei n andere s Staatswese n zu r volle n Entfaltun g gelang t ist , doc h nich t ausdrücken : De r Reichskanzler is t für den militärischen Zensor eine Privatperson, di e lediglich al s solche Vorstellungen mache n kann . Die „Zivilbehörden " existiere n gegenübe r der Armee nicht. Da s Heerwe sen is t Staat . 8 Dahe r di e viele n unerklärlich e Erscheinun g eine r starke n Arbeitslosigkei t gleic h nac h Be ginn de s Kriege s un d da s Bestreben ga r viele r (nebe n de n Masse n de r Freiwilligen), u m de r Ar beitslosigkeit z u entgehen , i n da s Hee r einzutreten . I n frühere r Zei t „nahm " ma n woh l auc h „Kriegsdienst", e s handelte sic h abe r u m ander e Elemente , mi t meis t ungeregelte r wirtschaftli cher Tätigkeit . 9 Kupfer , Baumwolle , Woll e kan n au s vorhandene n Produkte n wiede r zurückgewonne n werden. I n einem gewisse n Umfan g gil t da s sogar für di e Landwirtschaft . Dies e ist in einem In dustriestaat notwendigerweis e intensiver e Viehwirtschaft , welch e i m Viehstape l ein e groß e Nahrungsreserve enthäl t und den Mangel an Cerealien zu ersetze n vermag. Imme r natürlich un ter großen Einbuße n un d Verzicht auf reichlich e Versorgung i n der Zukunft. Abe r es ist mobili sierbarer Reichtum , auc h ohn e Anschlu ß a n auswärtig e Wirtschaftsgebiete . De r Reichtu m de r Gegenwart is t eben eine „ungeheure Warensammlung" (Marx ) und nich t Gold und Silber wie im Orient, welch e eine m abgeschnittene n krieeführende n Industriestaa t weni g helfe n könnten . 10 Noc h Loren z v, Stei n (S . 15-16 ) sagt , da ß di e „nich t besitzend e Klass e (i n de r Stadt ) di e größte Zahl, abe r den geringsten Wer t hergibt" un d zwar wege n der geringeren physischen Ent wicklung un d de m „vorwiegen d mißvergnügte n Element" ; si e „füllen i m Krie g die Spitäler". E s müsse dahe r Rege l sein , „si e ni e i n größere n Masse n zusamme n z u lassen" . Al s wahre n Ker n sieht e r di e mittler e Landbevölkerun g an . 11 Di e Roll e de r Rüstungsindustri e begreif t sic h i n diese m Zusammenhang . Al s kapitalisti sche Industrie is t sie zweifelsohne vo n starkem Expansionstrie b erfüllt . Abe r e s ist nicht eigent lich und ursprünglich kapitalistisch e Expansion , welche wir vor uns sehen, sondern die abstrakt e Expansion des Heerwesens muß notwendigerweise, sowei t sie an Warenerzeugung geknüpf t ist , die Form und den Charakter kapitalistischer Unternehmungen annehmen , mi t welchen sie sich bei eine m gan z andere n „Geist " - scho n i n de r technische n Eigenar t berührt . 12 Besonder s bezeichnen d is t fü r da s ebe n Gesagt e di e Entwicklun g i n Italien : Hie r ha t di e Zwangswirkung de s Krieges noc h nicht begonnen, un d die Gesellschaft is t in der differenzierte n Klassengestaltung noc h lebendig . E s würd e i n eine m Krieg e woh l auc h dor t di e Einhei t de s „Volkes" entstehen, trot z der langen Gegenagitationen ; auc h in Italie n würde die Regierung mi t Erfolg nich t blo ß den „heilige n Egoismus" , sondern die Notwendigkeit de r Verteidigung eine m zukünftigen Krie g gegenübe r betonen . 12a Bgl . die interessanten, wei l durchaus unbeabsichtigten, vo r dem Kriege gemachten Äuße rungen be i K . Wolzendorff , De r Gedank e de s Volksheeres i m deutsche n Staatsrecht , Tübinge n 1914. 13 Nu r di e Mitte l de r Unterwerfun g unte r de n Staa t sin d feinere , di e Unterwerfun g selbs t aber geh t viel weiter al s je und erfaß t auc h di e Gesinnung. Früher e Zeiten verlangten Unterord -

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Anmerkungen z u Seit e 136-14 5 nung durch Tat oder Leiden; das ist möglich. Man kann die Untertanen verkaufen, wi e die hessischen „Landeskinder" nac h Amerika verschachert wurden. - Wi e aber, wenn jetzt ein Landestei l abgetreten wir d a n eine n andere n Staat ? D a kan n nich t blo ß Erduldun g geforder t werden . Di e Einwohner diese s Landesteil s müsse n vielmeh r i m moderne n Staat , de m si e ja mit ihre r ganze n freien Überzeugun g anhängen , ebe n diese, und wieder innerlich frei, nich t im Gefühl de s Zwanges, i n ihr Gegentei l verkehren . Wen n ei n Staa t eine n Gebietsantei l abtritt , forder t e r zunächs t wirtschaftliche Opfer von den Einwohnern. Dies aber ist das Geringere. Darüber hinaus müsse n mit de m Momen t de r Abtretun g sic h di e Bewohne r innerlic h entgegengesetz t verhalten ; wa s vorher Hochverrat, wir d nunmeh r patriotische Pflicht, nich t dem neuen, sondern de m alten Vaterland gegenüber . Di e modern e Staatslehr e tu t sic h vie l darau f zugute , da ß si e die Forme l an wendet: da s als notwendig erkannt e au s freiem Wille n z u tun ; diese Paradoxie erreich t abe r hier den höchsten Gipfel. Auc h di e Überzeugung wir d abstrakt; der moderne Staat verlangt nur, da ß der Bürger eine Überzeugung habe . Deren Inhalt aber bestimmt er. Wobei noch die Doktorfrag e bleibt: is t dan n di e neu e Staatsgesinnung , un d vo n welche m Momen t is t si e al s originä r z u be trachten, nich t meh r au s de r frühere n Staatlichkei t abzuleiten ? Laute r Denkunmöglichkeiten , die nu r erweisen , da ß all e Überzeugung , di e hie r i n Frag e kommt , i n Wahrhei t Ideologi e ist . 14 Hierbe i is t lehrreich , wi e wandlungsfähi g di e Ideologie n sind : Noc h Ficht e zeichne t da s Deutsche Reich ausgehen d „vo n der persönlichen, individuelle n Freiheit" . Dies e Form sieh t e r als die höhere, un d im Gegensatz zu Frankreich, fü r da s charakteristisch sei : „ih r Bestreben zu r Verschmelzung andere r in diese Einheit und in diesen Gehorsam gegen die allgemeine Meinung , die eigentlich e Wahrheit , übe r welch e hinau s e s für ihr e Erkenntni s nicht s gibt. " E s lehnt als o Fichte da s Gemeinschaftsgefühl al s absolut un d primär gegeben ab . (J. G . Fichte, Übe r den Be griff de s wahrhaften Kriege s in : ders., Ausgewählt e Werke , Bd . 6 , Hambur g 1912 , S . 451-78. ) 14a M . Rade , Diese r Krie g un d da s Christentu m ( = Politisch e Flugschriften , hg . vo n E. Jäckh , Hef t 29) , Stuttgar t 1915 . 15 F . Meinecke , Di e deutsche Erhebun g vo n 1914 , Stuttgar t 1914 , darin : Staatsgedanke un d Nationalismus, S . 74-83 . 16 Da s geben selbst Autore n zu , welch e meinen, de r Krieg se i aus dem Imperialismus, diese r als wirtschaftliche Tendenz verstanden, z u erklären. Vgl. M. Adler , Zu r Ideologie des Weltkrieges, in : De r Kampf , Bd . 8 , 1915 , S . 128 . 17 N . Trotzky , De r Krie g un d di e Internationale; vgl . auc h da s Resümee in : Di e Neu e Zeit , Bd. 12/11 , 1915 , S . 60 . Dies e Auffassun g begründe t be i Hilferding , Finanzkapital , insbes . S . 375 ff . 17a Ebd. , S . 41 1 ff . 18 Deutsch e sehen da s für Englan d gan z klar . Vgl . auc h de n Aufsat z vo n G . Eckstein , Eng lands Siegespreis, in: Die Neue Zeit, Bd . 33/1, 1914/15, S. 705-10 . Ähnlich Prof . J. Landesher ger, De r Krie g un d di e Volkswirtschaft , Wie n 1914 , besproche n in : Di e Neu e Zeit , Bd . 33/1, 1914/15, S . 768 . 18a K . Renner , Sozialistische r Imperialismu s ode r Internationale r Sozialismus ? in : De r Kampf, Bd . 8 , 1915 , S . 104-115 . 19 All e Erörterunge n übe r di e „Schul d a m Kriege " betreffe n auc h tatsächlic h de n Anlaß .

7, Di e ökonomisch e Umschichtun g i m Krie g 1 Vgl . auch meine n Aufsatz: Die Überleitung der Wirtschaft in den Friedenszustand, in : ASS, Bd. 43 , 1916/17 , S . 2 1 ff . 2 Da s Wort „Sozialprodukt " is t hie r in demselben Sinn e gebraucht, i n welchem e s Schumpeter in seiner Abhandlung „Da s Sozialprodukt un d die Rechenpfennige" anwendet . (ASS , Bd. 44 , 1917/18, S . 627 )

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Anmerkungen z u Seit e 146-17 2 3 Vgl . hierz u insbesonder e meinen Aufsatz „Di e ökonomische Umschichtung i m Kriege", in : ASS, Bd . 45 , 1918/19 , S . 1-3 9 u . S . 430-63 . 4 Ebd. , S . 21 . 5 Ebd. , S . 22 . 6 Ebd.,S . 2 4 7 Vgl . e b d . , S . 29 . 8 Vgl . ebd. , pass. , insbes . S . 33-34 . 9 Seh r zutreffen d un d bezeichnen d ein e Anekdot e i n de r „Wiene r Arbeiterzeigung" : I n de r Bahn wird vo n den Reisenden über die große Teuerung geklagt. Ei n Bauer, der zum Markt fährt , erklärt, er könne kein e Teuerung sehen . Den n auc h früher mußt e e r zwei Gäns e verkaufen, u m ein Paa r Schuh e z u erwerben . Diese s Verhältni s hab e sic h nich t geändert . 10 Ma n vgl . ζ. Β . die Preissteigerun g fü r Textilerzeugniss e un d fü r Schuhe . 11 Wi e obe n Anm . 3 , S . 45 4 ff . 12 Vgl . ebd. , S . 45 6 u . „Frankfurte r Zeitung " v . 27 . Jan . 1918 , Zweite s Mittagsblatt . 8. Problem e de r Sozialisierun g 1 Dr . Otto Neurath, marxistische r Wirtschaftswissenschaftler au s Leipzig, spielt e seit Janua r 1919 die überragend e Roll e i n de r bayerische n Sozialisierungskommission . Neurath s Konzep t verband zentralisierte staatliche Wirtschaftsplanung un d -führung mi t Arbeiterräten al s den ent scheidenden Handlungsträger n i n jede m Industriezweig . Sein e Plän e scheiterte n u.a . a n de m Widerstand de s Wirtschaftsminister s de r Regierun g Hoffmann , Jose f Simo n (USPD) , i m März/April 1919 . Vgl . O . Neurath , Di e Sozialisierun g Sachsens , Chemnit z 1919 ; ders . u . W. Schumann , Könne n wi r heut e sozialisieren ? Ein e Darstellun g de r sozialistische n Lebens ordnung un d ihre s Werdens (= Di e Revolution, Bd . 3) , Leipzig 1919 ; sowie F. Eulenberg , Ar ten un d Stufe n de r Sozialisierung , in : Verhandlunge n de s Verein s fü r Sozialpoliti k i n Regens burg 191 9 ( = Schrifte n de s Verein s fü r Sozialpolitik , Bd . 159) , Münche n u . Leipzi g 1920 , S . 207-50, bes . S , 20 9 ff. ; R . Grunberger , Re d Risin g i n Bavaria , Londo n 1973 , S. 69 , 90, 92 , 94 , 101 f . (d . H e . ) . 2 Vgl . O . Bauer , De r We g zu m Sozialismus , Berli n 1919 ; Berich t de r Sozialisierungskom mission über die Frage der Sozialisierung de s Kohlenbergbaus, Berlin 1920 ; Vorläufiges Gutach ten über die Sozialisierung de r Hochseefischerei, Berli n o . J . [1919]; Eulenburg, Arte n un d Stu fen de r Sozialisierung ; E . Heimann , Di e Sozialisierung , in : ASS , Bd . 45 , 1918/19 , S . 527-9 0 (d. Hg.) . 3 Vgl . W . Eiben , Da s Proble m de r Kontinuitä t i n de r deutsche n Revolution , Düsseldor f 1965, bes . S. 8 8 ff. , sowie : Sitzun g de s Zentralrats a m 11 . 1 . 191 9 = Dok . Nr . 4 4 in: Der Zen tralrat der Deutschen Sozialistischen Republi k 19 . 12 . 1 9 1 8 - 8 . 4 . 1919 , Leiden 1968 , S. 314-35, bes. 317-25 ; und : Sitzun g de s Zentralrats mi t de r Sozialisierungskommission a m 29. 1 . 191 9 = Dok. Nr . 71 , in : ebd. , S . 521-2 6 (d . H g . ) . 4 Vgl . Schrifte n de s Vereins fü r Sozialpolitik , Bd . 159 , Münche n u . Leipzi g 1920 , S . 3 1 ff. , 49 ff . (d . Hg.) . 5 S . 119-9 2 i m Origina l (d . H g . ) . 6 Vgl . Th . Vogelstein , Problem e de r Sozialisierung , in : Schrifte n de s Vereins fü r Sozialpoli tik, Bd . 159 , Münche n u . Leipzi g 1920 , S . 119-3 9 (d . Hg.) . 9. Di e Umschichtun g de s Proletariat s . . . 1 K . Mar x u . F . Engels , Manifes t de r Kommunistischen Partei , in : dies., Werke, Bd . 4 , Ber lin/DDR 1974 , S . 468 , 46 9 u . 47 2 (d . Hg.) .

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Anmerkungen z u Seit e 174-25 5 2 Ebd. , S . 47 3 (d . H g . ) . 3 Di e Tatsachen nac h E . Alboldt , Di e Tragödie de r alten deutschen Marine . Amtliche s Gut achten, erstatte t vo r de m Untersuchungsausschu ß de s Deutsche n Reichstages , Berli n 1928 . 10. Problem e de s deutsche n Parlamentarismu s 1 Vgl . grundsätzlic h zu r Frag e der Geltung de s Mehrheitsprinzips: A . Weber , Di e Kris e de s modernen Staatsgedanken s i n Europa , Stuttgar t 1925 , S . 5 0 ff . 2 Zeitschrif t fü r Politik , Bd . 5 , 1912 , S. 535-5 7 (obe n S . 33-50 wd . abgedr . u.d.T . „Klassen interessen, Interessenverbänd e un d Parlamentarismus " d . H g . ) . 3 Vgl . mein e Schrift: Di e wirtschaftlichen Organisatione n un d die Reichstagswahlen, Tübin gen 191 2 [= u m ein Nachwor t vermehrter Sonderdruck de s u.d.T. „Di e Interessentenorganisa tionen un d di e politische n Parteien " in : ASS , Bd . 34 , 1912 , S . 307-7 4 erschienene n Artikels] . 4 Ic h verdank e de n Tex t de r Red e de r Freundlichkei t vo n Prof . Harol d I. Laski, Londo n (mittlerweile abgedr . als : Speech o n th e Influence o f th e Aristocracy , in : ASS, Bd . 62 , 1929 , S . 239-50, d . H g . ) . 11. Gege n Autarki e un d Nationalismu s 1 Vgl . E . Salin, A m Wendepunk t de r deutsche n Wirtschaftspolitik , in : F . Beckman n u . a . (Hg.), Deutsche Agrarpolitik i m Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik ( = Veröf fentlichungen de r Friedrich-List-Gesellschaf t e.V. , Bd . 6) , Bd . 2 , Berli n 1932 , S . 684-733 , 2 Vgl . Verhandlungen de s Vereins für Sozialpolitik i n Dresden 193 2 (= Schrifte n de s Verein s für Sozialpolitik , Bd . 187) , Münche n u . Leipzi g 1932 , S . 51-61 .

14. End e de r Klassengesellschaft ? 1 Ledere r star b a m 29 . Ma i 1939 , als o wenig e Monat e vo r Ausbruc h de s Zweiten Weltkrie ges, mi t desse n voraussichtliche m Ausbruc h un d Charakte r sic h de r letzt e Tei l de r hie r abge druckten Reflexione n beschäftigt . Si e sind Teil eine s fast fertige n Buchmanuskripts , da s sich i n seinem Nachlaß fand und von Hans Speier posthum u.d.T . „Stat e of the Masses" 194 0 herausge geben wurd e (d . H g . ) . Hans Speier : Emi l Ledere r 1 E.Lederer , Di e wirtschaftlichen Organisatione n un d die Reichstagswahlen, Tübinge n 191 2 [= u m ein Nachwort vermehrter Sonderdruck de s u.d.T. „Di e Interessentenorganisationen un d die politischen Parteien " in: ASS, Bd. 34 , 1912 , S. 307-74 erschienenen Artikels] ; siehe auch de n oben S . 33-5 0 abgedruckte n Aufsat z au s demselbe n Jahr . 2 E . Lederer , Di e Umschichtun g de s Proletariats , in : Di e Neu e Rundschau , Bd . 40 , 1929 , S. 161 ; abgedruckt obe n S . 172-85 , dor t S . 185 . 3 Frankfurte r Zeitung , 6 . Dezembe r 1931 . 4 E . Lederer, Stat e of the Masses. The Threat o f the Classless Society, Ne w Yor k 1940 . Neu druck Ne w Yor k 1967 , S . 200 ; teilweis e abgedruck t obe n S . 239-52 . 5 J . Marschak , Emi l Ledere r 1882-1939 . II. The Economist , in : Socia l Research , Bd . 8 , 1941, S . 79 .

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Anmerkungen z u Seit e 255-26 8 6 Verhandlunge n de s Vereins für Sozialpoliti k i n Dresden 193 2 (= Schrifte n de s Vereins fü r Sozialpolitik, Bd . 187) , Münche n u . Leipzi g 1932 , S . 211-12 . 7 Lederer s Kriti k a n Ma x Webe r finde t sic h i n eine m 192 5 in Japan veröffentlichte n Aufsat z („Zum Methodenstrei t i n de r Soziologie" ) - sieh e unte n i m Schriftenverzeichni s Lederer s di e Nr. 18 5 -, de r hier nac h eine m Sonderdruck be i den sog . „Facult y Papers " in der Bibliothek de r New Schoo l fo r Socia l Research , Ne w York , benutz t wurde . 8 E . Lederer , Zu m sozialpsychische n Habitu s de r Gegenwart , in : ASS , Bd . 46 , 1918 , S . 114-39 (wd . abgedr . obe n S . 14-32) . 9 H . Staudinger , Emi l Lederer . I. Th e Sociologist, in : Socia l Research , Bd . 7 , 1940 , S . 346 . 10 De r Kampf , Bd . 12 , 1919 , S . 454 . 11 De r Kampf , Bd . 12 , 1919 , S . 599 . 12 Ebd . 13 E . Lederer , Da s Proble m de r russische n Wirtschafts - un d Sozialverfassung , in : ASS , Bd. 68 , 1932 , S . 278 . 14 Ebd. , S . 263-65 . 15 Stat e o f th e Masses , S . 152 . 16 Ebd. , S . 153 . 17 E . Lederer , Ha s Capitalis m Failed ? in : America n Scholar , Bd . 3 , 1934 , S . 301 ; abgedr . oben S . 232-38 . 18 J . Schumpeter, in : E . Ledere r (Hg.) , Di e volkswirtschaftliche n Seminar e a n de n Hoch schulen Deutschland s un d Österreich-Ungarns , Tübinge n 1917 , S . 80 . 19 Di e Interessentenorganisatione n un d di e politische n Parteien , in : ASS , Bd . 34 , 1912 , S . 304-74; Di e wirtschaftliche n Organisatione n un d di e Reichstagswahlen , Tübinge n 1912 ; sieh e auch de n obe n S . 33-5 0 abgedr . Aufsat z vo n 1912 . 20 Lederer s Brie f vo m 10.3.191 1 a n Lujo Brentano (au s Nachlaß Luj o Brentano i m Bundes archiv Koblenz) . - D ie Quell e wurde dankenswerterweise vo n Rolf Schmidt, Bielefeld , zu r Ver fügung gestellt . 21 E . Lederer, Deutschland s Wiederaufba u un d weltwirtschaftlich e Neueinghederun g durc h Sozialisierung, Tübinge n 1920 , S . 15 . 22 E b d . , S . 21 . 23 E b d . , S . 49 . 24 E b d . , S . 71 . 25 Ebd. , S . 72 . 26 Ebd. , S . 76 . 27 Protokol l de r Konferen z de s Reichsbeirat s de r Betriebsrät e un d Vertrete r größere r Kon zerne der Metallindustrie. Abgehalte n a m 28. und 29. Janua r 1928 , Stuttgart o . J . [1928], S . 40 . 28 Vgl . G . Garvy , Keyne s and the Economic Activists of Pre-HitlerGermany, in : Journal of Political Economy , Bd . 83 , 1975 , S . 391-40 5 (dt . G . Brombac h [Hg.] , De r Keynesianismus , Bd. 2 , Berlin 1976 , S. 21-34). Jako b Marschak wa r der Ansicht, da ß Garvy Ledere r nich t genü gend berücksichtigte . Lau t briefliche r Mitteilun g a n mic h vo m 14 . Apri l 197 7 war „de r Haupt gedanke, da ß öffentlich e Arbeite n nich t inflationistisc h seien , solang e vie l ungenutzt e Produk tionskapazität bestand , hauptsächlic h Lederer s Verdienst . . . " Hans Staudinger, de r seinerzei t an den Diskussionen übe r dieses Thema teilgenommen hat , hält Marschaks Ansicht für übertrie ben. 29 De r Tex t diese r Red e wi e auc h di e zahlreiche n andere n Emi l Ledere r z u seine m 50 . Ge burtstag gewidmete n Beiträg e (s. u. ) sin d im Besit z vo n Fra u Gertrud e Lederer , di e sie mir mi t vielen andere n Lederer s Leben un d Werk betreffende n Dokumente n freundlicherweis e zu r Ein sicht überlasse n ha t (zit . al s Lederer , Nachlaß) . 30 Lau t mündliche r Mitteilun g vo n Han s Staudinger . 31 Di e „Festschrift " fü r Ledere r enthäl t keine n Beitra g eine s Mitglieds de s Frankfurter Insti tuts für Sozialforschung . - MartinJay s Darstellun g vo n Lederer s Verhältnis z u Horkheime r in :

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19 Lederer , Aufsatz e

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Anmerkungen z u Seit e 268-26 9 The Dialectical Imagination , Londo n 1973 , beruht au f Unkenntnis, Voreingenommenheit ode r falschen Informationen . (Vgl . mein e Besprechun g vo n Jay s Buc h in : Th e America n Politica l Science Review, Bd . 70 , 1976 , S. 1276-1277) . Es ist unerfindlich, waru m Jay Ledere r al s „eine n alten Feind des Instituts" in Frankfun bezeichnet . Ledere r hat Horkheimer, de r ja erst 193 2 Direktor des Instituts wurde, noc h in New York in sein Haus eingeladen. Allerdings hat sich Lede rer nich t sonderlic h fü r Horkheimer s Arbeite n interessiert . Die s hatt e sicherlic h nicht s mi t Horkheimers politische r Orientierun g z u tun , den n Ledere r schätzt e di e Arbeite n vo n Bloc h und Luk ács. Er schätzte auch Friedric h Pollock , ei n prominentes Mitglie d de s Instituts, desse n ökonomische Untersuchunge n e r gu t kannte . 32 Lederer , Nachlaß , Brie f v . 1 . 4 . 1933 . 33 E s gibt leide r kein e zureichend e kritisch e Darstellun g de r Universitä t i m Exil , un d viel e Dokumente, au f die sich eine solche Darstellung stütze n müßte, sind zusammen mi t nachgelas senen Bibliotheksbeständen frühere r Fakultätsmitglieder , einschließlic h Lederers , der Nachlässigkeit des administrativen Personals der New School zum Opfer gefallen. De r Essay von Char les S. Lachmann , eine m Studenten des Amherst College, hat Verdienste, aber auch Mängel. Fü r eine gekürzte Fassung diese r Arbei t vgl. Universit y i n Exile , in : Discourse . Ston y Broo k Wor king Paper s i n th e Socia l Science s an d Philosophy , Bd . 2 , 1976 , S . 25-37 . 34 A.Johnson , Pioneer' s Proeress , Ne w Yor k 1952 , S . 343-344 .

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Verzeichnis der Originaltitel un d ursprünglichen Druckorte 1. Zu m sozialpsychischen Habitus der Gegenwart, in: Archiv für Sozialwissenschaft un d Sozialpolitik (ASS) , Bd. 46, 1918/19 , S. 114-39 . 2. Da s ökonomische Element und die politische Idee im modernen Parteiwesen, in: Zeitschrift für Politik , Bd . 5 , 1912 , S. 535-57 . 3. Di e Privatangestellten in der modernen Wirtschaftsentwicklung, Tübinge n 1912 , S. 46-99. 4. Di e ökonomisch e un d sozialpolitisch e Bedeutun g de s Taylorsystems , in : ASS , Bd . 38 , 1914, S . 769-84 . 5. Vo n der Wissenschaft zu r Utopie. (Der Sozialismus und das Programm „Mitteleuropa".) , in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, hg . v. C . Grün berg, Bd . 7 , 1916 , S. 364-411 . 6. Zu r Soziologie de s Weltkriegs, in : ASS, Bd . 39 , 1915 , S. 347-384 . 7. Di e Ökonomische Umschichtung i m Kriege , aus : Deutschlands Wiederaufba u un d welt wirtschaftliche Neueingliederun g durc h Sozialisierung , Tübinge n 1920 , S. 25-37. 8. Problem e der Sozialisierung, in: Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik in Regensburg 1919 ( = Schrifte n de s Verein s fü r Sozialpolitik , Bd . 159) , Münche n u . Leipzi g 1920 , S. 99-116 , 193-201 : Bericht un d Debattenbeitra g Lederers . 9. Di e Umschichtung de s Proletariats, in : Die Neue Rundschau, Bd . 40, 1929 , S. 145-61 . 10. Durc h die Wirklichkeit zu r politischen Idee , in : Soziologische Studie n zu r Politik, Wirt schaft un d Kultu r der Gegenwart. Alfre d Webe r gewidmet , Potsda m 1929 , S. 9-23 . 11. Di e Autarkisierung , in : Verhandlunge n de s Verein s fü r Sozialpoliti k i n Dresde n 193 2 (= Schrifte n des Vereins für Sozialpolitik, Bd . 187) , München u. Leipzig 1932 , S. 134-47 : Bericht Lederers . 12. Weg e aus der Krise . Ei n Vortrag, Tübinge n 1932 . 13. Ha s Capitalis m Failed? , in : America n Scholar , Bd . 3 , 1934 , S . 294-301 . 14. Stat e of the Masses. The Threat of the Classless Society, New York 194 0 (posthum); Neudruck Ne w Yor k 1967 , S. 47-65, 105 , 109-10 , 114-24 , 195 , 198-201 .

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Verzeichnis der Schriften vo n Emil Lederer (1882-1939)* zusammengestellt vo n Bern d Uhlmannsie k I. Monographien II. Beiträge z u Zeitschrifte n un d Sammelwerke n

III. Rezensionen IV. Herausgebertätigkeit a) Herausgab e vo n Monographie n u . Sammelwerke n b) Herausgab e vo n Buchreihe n un d Zeitschrifte n

S. 292-94 , S. 294-305 , S. 305-09 , S. 309-10 , S. 309 , S. 309-10 ,

Nr. 1 - 3 1 Nr. 32-30 6 Nr. 307-41 9 Nr. 420-42 7 Nr. 420-42 4 Nr. 425-42 7

I.. Monographie n 1911

1. Di e Pensionsversicherun g de r Privatangestellten . Diss . zu r Erlangun g de r Doktorwürd e der hohe n staatswirtschaftliche n Fakultä t de r Universitä t München , Tübingen . 1912 2. Di e Privatangestellte n i n de r moderne n Wirtschaftsentwicklung , Tübinge n [S . 1-47 : Nachdruck vo n Nr . 3 ; S . 267-89 : gekürzt e Fassun g vo n Nr . 5 6 bzw. Nr . 1 , S. 40-101] . 3. Theoretisch e un d statistisch e Grundlage n zu r Beurteilun g de r modernen Angestelltenfra ge, Tübinge n [Habilitationsschrift] . 4. Di e wirtschaftlichen Organisatione n un d di e Reichstagswahlen , Tübinge n [u m ei n Nach wort vermehrte r Separatabdruc k vo n Nr . 67] . 1913 5. Jahrbuc h de r soziale n Bewegun g i n Deutschlan d un d Österreic h 1912 , Tübingen [Nach druck de r Nrn . 6 1 , 65 , 66 , 68 , 7 1 u . 76] . 6. Di e wirtschaftliche n Organisatione n ( = Au s Natu r un d Geisteswelt , Bd . 428) , Leipzig . 1914 7. Di e Entwicklungstendenze n i n den Organisatione n de r Angestellten. Vortra g i n de r Ver sammlung de s Allgemeinen Verbande s der Deutsche n Bankbeamte n i n Berli n a m 13 . De zember 1913 , Heidelberg . 8. Jahrbuc h de r soziale n Bewegun g i n Deutschlan d un d Österreic h 1913 , Tübingen [Nach druck de r Nrn . 77 , 78 , 80 , 81 , 8 4 u . 86] . 1919 9. Einig e Gedanken zu r Soziologi e de r Revolutione n ( = De r Neu e Geist , Hef t 10) , Leipzi g o. J . * Zusätz e in eckigen Klammer n summe n vo m Bearbeiter. Be i der ersten Nennung eine r Zeit schrift wir d de r Verlagsort i n runde n Klammer n angegeben . Di e Abkürzun g „ASS " meint : Ar chiv fü r Sozialwissenschaf t un d Sozialpoliti k (Tübingen) .

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1920 10. Deutschland s Wiederaufba u un d weltwirtschaftlich e Neueingliederun g durc h Sozialisie rung, Tübingen .

1922

11. Grundzüg e de r ökonomische n Theorie . Ein e Einführung , Tübingen . 12. Di e soziale n Organisatione n ( = Au s Natu r un d Geisteswelt , Bd . 545) , Leipzi g [2 . Aufl . von Nr . 6 ] . 1923 13. Grundzüg e de r ökonomische n Theorie , 2 . Aufl. , Tübingen . 1929 14. Japa n - Europa . Wandlunge n i m Ferne n Osten , Frankfurt/M . [zus . mi t E . Lederer Seidler]. 1931 15. Aufri ß de r ökonomische n Theorie , Tübinge n [Dritt e erweitert e un d völli g umgearbeitet e Auflage vo n Nr . 11] . 16. Technische r Fortschrit t un d Arbeitslosigkeit , Tübingen . 17. Di e Umwälzung i n der Wirtschaft un d die 40-Stunden-Woche. Vortrag , gehalte n au f de m 14. Kongre ß der Gewerkschaften Deutschland s i n Frankfurt a m Main 1931 , Berlin [Sepa ratabdruck vo n Nr . 246 , jedoc h ohn e de n Diskussionsbeitrag] . 18. Weg e au s de r Krise , Tübingen . 19. Wirkunge n de s Lohnabbaus , Tübingen . 20. Planwirtschaft , Tübingen .

1932 1937

21. Japa n i n worl d economics , Ne w Yor k [Separatabdruc k vo n Nr . 294] . 22. Th e new middle dass, New York [zus. m i t ]. Μarschak. Übersetzun g von Nr. 190durchS . Ellison]. 23. O n th e socio-psychi c Constitutio n o f th e presen t time , Ne w Yor k [Übersetzun g vo n Nr. 12 6 durc h A . Richter] . 24. Th e proble m o f th e moder n salarie d employee : it s theoretica l an d Statistica l basis , Ne w York [Übersetzun g de r Kapite l 2 un d 3 au s Nr . 2 durc h Ε. Ε . Warburg]. 1938 25. Japa n i n transition , Ne w Have n [zus . mi t E . Lederer-Seidler ; erweitert e un d übersetzt e Ausgabe vo n Nr . 14] . 26. Technica l progress an d unemployment. A n enquir y int o the obstacles to economic expan sion(= Internationa l Labou r Office. Studie s and Reports, Series C , No . 22) , Genf [Über setzung vo n Nr . 27] . 27. Technische r Fortschrit t un d Arbeitslosigkeit . Ein e Untersuchun g de r Hinderniss e de s ökonomischen Wachstum s ( = Internationale s Arbeitsamt . Studie n un d Berichte , Rei he C , Bd . 22) , Genf .

1940

28. Stat e o f th e masses . Th e threa t o f th e classles s society , Ne w York .

1967

29. Stat e o f th e masses . Th e threa t o f th e classless society , Ne w Yor k [Reprin t vo n Nr . 28] .

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1975 30. Di e Privatangestellten i n de r modernen Wirtschaftsentwicklung , Ne w Yor k [Reprin t vo n Nr. 2 ] . 31. Technica l progres s an d unemployment. A n enquiry int o the obstacles to economic expan sion ( = Internationa l Labou r Office . Studie s an d Reports , Serie s C , No . 22) , Nendel n [Reprint vo n Nr . 26] .

II. Beiträg e z u Zeitschrifte n un d Sammelwerke n 1906

32. Beiträg e zur Kriti k des Marxschen Systems , in: Zeitschrift fü r Volks Wirtschaft, Sozialpoli tik un d Verwaltun g (Wien) , Bd . 15 , S . 307-24 .

1907

33. Bodenspekulatio n un d Wohnungsfrage , in : ASS , Bd . 25 , S . 613-48 . 1908 34. Di e Unternehmungsformen i m Baugewerbe, in : Zeitschrift fü r Volkswirtschaft, Sozialpo litik un d Verwaltung , Bd . 17 , S . 335-58 .

1909

35. Di e österreichisch e Sozialversicherungsvorlage , in : Jahrbuc h fü r Gesetzgebung , Verwal tung un d Volkswirtschaf t i m Deutsche n Reic h (Leipzig) , Bd . 33 , S . 1643-72 . 36. Ei n Vorschlag zu r Refor m de r Gebäudesteuer, in : Zeitschrift fü r Volkswirtschaft , Sozial politik un d Verwaltung , Bd . 18 , S . 237-70 . 1910 37. Arbeitslosenversicherun g i m Kanto n Genf , in : Österreichisch e Zeitschrif t fü r öffentlich e und privat e Versicherun g (Wien) , Bd . 1 , S . 483-84 . 38. Di e Bewegun g de r öffentliche n Beamten , in : ASS , Bd . 3 1 , S . 660-709 . 39. Entwur f eine s Alters - un d Invalidenversicherungsgesetze s [i n Luxemburg] , in : Österrei chische Zeitschrif t fü r öffentlich e un d privat e Versicherung , Bd . 1 , S . 474-75 . 40. Di e Gewerkschaftsbewegun g i m Jahr e 1909 , in : ASS , Bd . 30 , S . 532-66 . 41. Di e Konsumvereins-Entwicklungsmöglichkeiten , in : De r österreichisch e Volkswir t (Wien), Bd . 2 , Nr . 5 0 vo m 10 . 9. , S . 4-6 , u . Nr . 5 1 vo m 17 . 9. , S . 3-5 . 42. Mittelstandsbewegung , in : ASS , Bd . 3 1 , S . 970-1026 . 43. Privatbeamtenbewegung , in : ebd. , S . 215-54 . 44. Da s Proble m de s Arbeitsnachweise s i n Deutschland , in : De r österreichisch e Volkswirt , Bd. 2 , Nr . 2 9 vo m 16 . 4 . 1910 , S . 3-5 . 45. Rundschreibe n de s Reichsversicherungsamte s vo m 11 . Mai 1910 , betreffend Maßnahme n zur Stärkun g de r Vermögenslage der Invalidenversicherungsanstalten , in : Österreichisch e Zeitschrift fü r öffentlich e un d privat e Versicherung , Bd . 1 , S . 448-50 . 46. Sozialpolitisch e Tageschroni k 1910 , in : ASS , Bd . 31 , S . 1*-17* . 47. Di e Unternehmerorganisationen , in : ASS , Bd . 30 , S . 848-77 . 48. Zu r Frag e de r einseitige n Arbeitsnachweise , in : De r Arbeitsmark t (Berlin) , Bd . 13 , S. 3-12 . 1911 49. Äußerunge n der Interessentenorganisationen zu r Reichsversicherungsordnung, in : Öster reichische Zeitschrif t fü r öffentlich e un d privat e Versicherung , Bd . 2 , S . 213-26 . 50. Agrarisch e Sozialpolitik , in : ASS , Bd . 32 , S . 252-318 . 51. Angestellten - un d Beamtensozialpolitik , in : ASS , Bd . 33 , S . 940-84 . 52. Di e deutsche n Gewerkschafte n i m Jahr e 1910 , in : ASS , Bd . 32 , S . 609-66 .

294 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

53. Geschäftsberich t de s Reichsversicherungsamte s fü r da s Jah r 1910 , in : Österreichisch e Zeitschrift fü r öffentlich e un d private Versicherung, Bd . 2 , S . 226-32. 54. Di e österreichische Gewerkschaftsbewegun g i m Jahre 1910 , in: ASS, Bd. 32 , S. 920-71 . 55. Di e Organisatione n de r Konsumenten , in : ASS , Bd . 33, S. 641-94 . 56. Di e Pensionsversicherun g de r Privatangestellten , in : ebd. , S . 780-84 1 [Nachdruc k vo n Nr. 1,S . 40-1011 . 57. Sozialpolitisch e Tageschronik 1910 , in: ASS , Bd . 32 , S. 1*-17* . 58. Sozialpolitisch e Tageschroni k 1911 , in: ASS, Bd. 33 , S. 1*—17*. 59. Di e Unternehmerorganisationen i m Jahre 1910/11 , in: ebd. , S . 249-303. 60. Verei n fü r Sozialpolitik , in : Pester Lloy d (Budapest ) vo m 2. 11. , S. 4 . 1912 61. Angestelltenorganisatione n un d -Sozialpolitik , in : ASS , Bd. 35 , S. 263-98 . 62. Di e Arbeiterkonsumvereine , in : Frankfurte r Zeitun g (Frankfurt) , Nr . 16 5 vom 16 . 6., S. 1 . 63. Di e Arbeitslosenversicherung i n der Schweiz, in: Österreichische Zeitschrift fü r öffentli che und privat e Versicherung, Bd . 3 , S. 43-55. 64. Bemerkunge n zu r Entwicklun g de r Angestellten-Sozialpolitik , in : Deutsch e Wirt schafts-Zeitung (Leipzig) , S . 749-56 . 65. Bewegun g de r Öffentliche n Beamte n un d Beamtensozialpolitik , in : ASS , Bd . 35, S. 882-913 . 66. Di e Gewerkschaftsbewegun g i n Deutschlan d un d Österreich , di e Arbeitersozialpoliti k und die Kämpfe zwischen Unternehmern und Arbeitern im Jahre 1911, in: ASS, Bd. 34 , S. 678-718 . 67. Di e Interessentenorganisationen un d die politischen Parteien , in : ebd., S . 307-74 . 68. Mittelstandsbeweeune , in : ASS , Bd. 35 , S. 913-38 . 69. Da s ökonomische Elemen t un d di e politisch e Ide e im modernen Parteiwesen , in : Zeit schrift fü r Politi k (Berlin) , Bd . 5 , S . 535-57 . 70. Da s ökonomische Elemen t un d di e politisch e Ide e im modernen Parteiwesen , in : Zeit schrift für Volkswirtschaft, Sozialpoliti k und Verwaltung, Bd. 21 , S. 664-68 [Zusammenfassung eine s Vortraes; nich t identisc h mi t Nr . 691. 71. Unternehmerorganisationen , in : ASS , Bd. 34 , S . 977-1022 . 72. Verban d fü r international e Verständigung, in : Peste r Lloy d vo m 30. 10. , S. 7 . 73. Versuc h eine r reine n un d realistisch-empirische n Theori e des Konsumtenmonopols , in : ASS, Bd . 35 , S. 101-14 . 74. Zu r Frage des kaufmännischen Arbeitsnachweises , in: Der Arbeitsmarkt, Bd . 15 , Nr. 1 1 vom 20. 8. , S . 401-07. 1912/13 75, Di e Privatangestellten und die Reform des Lohnbeschlagnahmegesetzes, in: Gewerbe- und Kaufmannseericht, Bd . 18 , S. 418-22. 1913 76. Agrarisch e Sozialpolitik , in : ASS , Bd . 36 , S. 311-57 . 77. Angestelltenorganisatione n un d Sozialpolitik , in : ASS, Bd. 37 , S. 316-58. 78. Bewegun g de r öffentlichen Beamte n un d Beamtensozialpolitik, in : ebd. , S . 650-69. 79. Budapeste r Wohnungspolitik , in : Frankfurter Zeitung , Nr . 12 3 vom 4. 5. , S . 1 . 80. Di e Gewerkschaftsbewegun g i n Deutschlan d un d Österreich , di e Arbeitersozialpoliti k und die Kämpfe zwischen Unternehmern und Arbeitern im Jahre 1912, in: ASS, Bd. 36 , S. 680-733 . 81. Mittelstandsbewegung , in : ASS , Bd. 37 , S. 1005-44 . 82. Da s Problem der volkswirtschaftlichen Beamten , in: Volkswirtschaftliche Blätter (Berlin), Bd. 12 , S. 269-71 .

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83. Syndikalismu s i n Deutschland ? in : De r österreichisch e Volkswirt , Bd , 6 , Nr . II vom 13. 12. , S . 217-20 . 84. Di e Unternehmerorganisationen , in : ASS , Bd . 36 , S . 984-1021 . 85. Di e wirtschaftlichen Organisationen , in : D.Sarason (Hg.) , Da s Jahr 1913 . Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung , Leipzig , S . 132-38 . 1914 86. Agrarisch e Sozialpolitik , in : ASS , Bd . 38 , S . 267-302 . 87. Di e Gewerkschaftsbewegun g i n Deutschland , di e Arbeitersozialpoliti k un d di e Kämpf e zwischen Unternehmer n un d Arbeiter n i m Jahr e 1913 , in : ebd. , S . 598-645 . 88. Di e Gewerkschaftsbewegung i n Österreich, di e Kämpfe zwische n Unternehmern un d Ar beitern un d di e sozialpolitisch e Gesetzgebun g i m Jahr e 1913/14 , in : ebd. , S , 933-58 . 89. Di e ökonomische un d sozialpolitische Bedeutun g de s Taylorsystems, in : ebd., S . 769-84 . 90. Di e Volkswirtschaf t i m Kriege , in : Di e Hilf e (Berlin) , Bd . 20 , Nr . 39 , S . 633-36 . 1914/15 91. Di e Gewerkschaftsbewegun g i m Jahr e 191 4 un d di e sozialpolitisch e Situatio n bi s z u Be ginn de s Krieges . Di e weiter e Entwicklun g de s Arbeitsmarkte s a n de r Jahreswend e 1914/15. Gewerkschaftlich e Ideologie n unte r de m Einflu ß de s Krieges , in : ASS , Bd . 39 , S. 610-41 . 92. Di e Gewerkschaftsbewegung un d di e sozialpolitische Lag e während des Krieges in Öster reich-Ungarn 1914/15 , in : ASS , Bd . 39 , S . 921-51 . 93. Di e Lag e de s Arbeitsmarkte s un d di e Aktione n de r Interessenverbänd e z u Begin n de s Krieges, in : ASS , Bd . 40 , S . 147-95 . 94. Di e Organisatio n de r Wirtschaf t durc h de n Staa t i m Kriege , in : ebd. , S . 118-46 . 95. Di e Regelung de r Lebensmittelversorgung währen d de s Kriege s in Deutschland, in : ebd. , S. 757-83 . 96. Di e Unternehmerorganisationen , in : ASS , Bd . 39 , S . 297-345 . 97. Zu r Soziologi e de s Weltkriegs , in : ebd. , S . 347-84 . 1915 98. De r Wirtschaftsproze ß i m Kriege , in : Zeitschrif t fü r Volkswirtschaft , Sozialpoliti k un d Verwaltung, Bd . 24 , S . 359-81 . 1916 99. Angestelltenfrage n i m Kriege , in : ASS , Bd . 4 1 , S . 569-612 . 100. Arbeitgeber - un d Arbeitnehmerverbände , in : A . Boz i u . H . Heineman n (Hg.) , Recht . Verwaltung un d Politi k i m Neue n Deutschland , Stuttgart , S . 150-62 . 101. Beamtenorganisatione n un d -frage n i m Kriege , in : ASS , Bd . 4 1 , S . 903-26 . 102. Bemerkunge n zu r Abhandlun g „De r neu e Wirtschaftsgeist" , in : ebd. , S . 769-73 . 103. Di e deutsch e Industri e i m Weltkrieg , in : D . Schäfer (Hg.) , De r Krie g 1914/16 . Werde n und Wese n de s Weltkrieges , Bd . 1 , Leipzig , S . 416-19 , 104. Di e deutsch e Volkswirtschaf t i m Kriege , in : ebd. , S . 382-88 . 105. Da s Geschäf t de r Neutralen , in : Europäisch e Staats - un d Wirtschafts-Zeitun g (Berlin) , Bd. 1 , S . 378-81 . 106. Di e Nahrungsmittelversorgung , in : D . Schäfe r (Hg.) , De r Krie g 1914/16 . Werde n un d Wesen de s Weltkrieges , Bd . 1 , Leipzig , S . 423-26 . 107. Übe r di e neuere n Strömunge n zu r Regelun g de r kaufmännische n Stellenvermittlung , in : Arbeitsnachweis i n Deutschland . Zeitschrif t de s Verbande s deutsche r Arbeitsnachweis e (Berlin), Bd . 3 , Hef t 9 , S . 198-201 . 108. Übe r Ricardo s „Principles" . Di e Ergebniss e eine s Ricardo-Seminars , in : ASS , Bd . 4 1 , S. 815-25 . 109. Di e Unternehmerorganisatione n i m Kriege , in : ebd. , S . 277-97 .

296 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

110. Vo n de r Wissenschaf t zu r Utopie . (De r Sozialismu s un d da s Programm „Mitteleuropa") , in: Archiv fü r die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung (Leipzig) , Bd . 7 , S. 364-411 . 111. Zu m Programm „Mitteleuropa" , in : Europäisch e Staats- und Wirtschafts-Zeitung , Bd . 1 , S. 795-801 . 1916/17 112, Di e Gewerkschaftsbewegung i m Jahre 1915/16 ; die Entwicklung de s Arbeitsmarktes wäh rend des weiteren Kriegsverlaufes ; die Gestaltung der Geld- und Reallöhne; die sozialpoli tische Lage ; da s Verhalte n de r Gewerkschafte n z u de n Probleme n de s Krieges , in : ASS , Bd. 42 , S . 285-344 . 113. Di e Gewerkschaftsbewegun g 1915/1 6 i n Österreich ; di e sozialpolitisch e Lag e un d da s Verhalten de r Gewerkschafte n z u de n Probleme n de s Krieges , in : ebd. , S . 667-86 . 114. Di e Überleitun g de r Wirtschaf t i n de n Friedenszustan d (Versuc h eine r Schematisierun g des Zirkulationsprozesses) , in : ASS , Bd . 43 , S . 1—41 . 115. Di e Unternehmerorganisationen , in : ASS , Bd . 42 , S . 1013—46 . 1917 116. Di e Gewerkschaften un d der Krieg, in : D.Schäfer (Hg.) , De r Krieg 1914/17 . Werden un d Wesen de s Weltkrieges , Bd . 2 , Leipzig , S . 393-96 . 117, Semina r für Vorgerückt e übe r Ricardos „Principles" , in : E. Lederer (Hg.) , Di e volkswirt schaftlichen Seminar e an den Hochschulen Deutschland s un d Österreich-Ungarns, Bd . 1 , Tübingen, S . 42-51 . 118. De r Sozialismus i m Kriege, in : D. Schäfer (Hg.) , De r Krie g 1914/17 . Werden un d Wese r des Weltkrieges , Bd . 2 , Leipzig , S . 397-400 . 119. Volkswirtschaftlich e Übunge n übe r Handelspolitik , in : E . Lederer (Hg.) , Di e volkswirt schaftlichen Seminar e an den Hochschulen Deutschland s un d Österreich-Ungarns, Bd . 1 , Tübingen, S . 36—42 . 120. Di e wirtschaftliche Lag e unserer Gegner, in : D. Schäfer (Hg.) , De r Krieg 1914/17 . Werde n und Wese n de s Weltkrieges , Bd . 2 , Leipzig , S . 423-29 . 1917/18 121. Angestelltenbewegun g un d -Sozialpoliti k i m Kriege , in : ASS , Bd . 44 , S . 309-47 . 122. Di e Angestelltenbewegun g un d -Sozialpoliti k i n Österreich , in : ebd. , S . 896-905 . 1918/19 123. Di e Gewerkschaftsbewegun g 1916/18 ; die Entwicklun g de s Arbeitsmarktes währen d de s weiteren Kriegsverlaufes ; di e Gestaltun g de r Geld - un d Reallöhne , sowi e de r Arbeitsbe dingungen; di e sozialpolitisch e Lage , gewerkschaftlich e Ideologie n un d Krieg , in : ASS , Bd. 46 , S . 839-70 . 124. Di e ökonomisch e Umschichtun g i m Kriege , in : ASS , Bd . 45 , S . 1-3 9 u . S . 430-63 . 125. Zeitgemäß e Wandlunge n de r sozialistische n Ide e un d Theorie , in : ebd. , S . 261-93 . 126. Zu m sozialpsychische n Habitu s de r Gegenwart , in : ASS , Bd . 46 , S . 114-39 . 1919 127. Bolschewismu s un d Sozialisierung , in : Wirtschaftsdiens t Deutsche r Volkswir t (Ham burg), Bd . 4 , Nr . 5 2 vo m 26 . 12. , S . 937-3 9 [gekürzt e Fassun g vo n Nr . 1351 . 128. Frtedensdikta t un d Sozialismus , in : De r Kamp f (Wien) , Bd . 12 , S . 307-10 . 129. Di e Sozialisierun g i n Deutschlan d un d Österreich , in : ebd. , S . 333-36 . 130. De r historisch e Or t un d Sin n de s Bolschewismus , in : ebd. , S . 453-55 . 131. Da s Wirtschaftssyste m de s Bolschewismus , in : ebd. , S . 488-90 . 132. De r international e Sozialismu s un d de r Bolschewismus , in : ebd. , S . 597-99 .

297 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

1920 133. Grundsätzliche s zur Sozialisierungsfrage, in : Die Freiheit (Berlin), Nr. 49 6 vom 24. 11., S. 1-2 , u . Nr . 49 8 vom 25. 11. , S . 1-2 . 134. De r Klassenkampf i n der Revolution, in : Die weißen Blätter (Berlin), Bd. 7 , S. 1- 9 u. S. 70-79. 135. Problem e der Sozialisierung, in : Verhandlungen des Vereins für Sozialpolitik i n Regensburg 1919 (= Schrifte n de s Vereins für Sozialpolitik, Bd . 159) , München, S. 99-11 6 [Bericht un d Debattenbeitra e Lederers : S. 193-201] . 136. Vorwort , in: L. Galin, Gerichtswesen und Strafsystem im revolutionären Rußland, Berlin, S. 8- 9 [auc h in s Französische übersetzt]. 137. [Diskussionsbeiträge] , in: Verhandlungen der Sozialisierungs-Kommission über den Kohlenbergbau i m Jahr e 192 0 (Berlin) , Bd . 1 , S . 72-73 , 73 , 84-85 , 102-03 , 115 , 127-28 , 128-29, 130 , 148-49 , 156 , 166-67 , 302-03 , 304 , 305-06 , 306 , 306-07 , 307 , 308 , 330 , 334-35,338,339,347,348-54,370-73; u . Bd. 2, S. 488,489,494,495,495-96, 496,497 , 499, 501, 503, 504, 507, 510, 524-26, 540-42, 585-91, 591-92, 592-97, 597, 601, 611-12, 613, 615, 627-29, 629, 629-32, 635, 637, 643, 644, 646, 670, 697, 699, 701, 702, 703, 704, 705, 706, 710, 712, 713, 713-14, 714, 715, 715-16, 716, 717-18, 722, 723, 723-24, 724, 725, 726, 727, 728, 729, 733, 735-36, 738-39, 745, 748, 757, 758, 764-65, 767, 770-71, 771-72, 773, 778, 779, 785, 787, 788, 796, 800,804,805,806,807,808,809,810,811,811-12,812 , 813, 814 , 815 , 816. 1920/21 138. Di e Bewegung der Privatangestellten seit dem Herbst 1918, die Entwicklung der Organisationen, die Gestaltung der Lebenshaltung und der Besoldung; die Umformung de s sozialen Habitu s und de r Ideologien, in : ASS , Bd . 47, S. 585-619 . 139. Di e Gewerkschaftsbewegung 1918/1 9 und die Entfaltung de r wirtschaftlichen Ideologie n in der Arbeiterklasse , in : ebd. , S . 219-69, 140. Randglosse n z u den neuesten Schriften Walthe r Rathenaus, in: ASS, Bd. 48 , S. 286-303. 141. Di e soziale Kris e in Österreich , in : ebd. , S . 681-706 . 142. Sozialisierun g un d Gesellschaftsverfassung , in : ebd. , S . 537-45 . 143. Zu r neueren geldtheoretischen Literatur, in: ASS, Bd. 47, S. 876-8 8 [Teil 2 siehe Nr. 163] . 1921 144. Di e Liquidation der Krise in den Vereinigten Staaten und ihre Lehren, in: Die Freiheit, Nr. 66 vom 9. 2. , S . 1-2 . 145. Neu e Reparationsmöglichkeiten. De r Reparationsplan de r englische n Industrie , in : Di e Freiheit, Nr . 57 2 vom 8 . 12. , S . 1 . 146. Di e Not de r Kopfarbeiter , in : Di e Freiheit, Nr . 2 2 vom 14 . 1. , S. 1-2 . 147. Sachwerterfassun g un d Valutasturz, in : Di e Freiheit, Nr . 55 0 vom 25. 11. , S. 1-2 . 148. Socia l evolutio n during wa r and revolution, in : Political Science Quarterly (New York), Bd. 36 , S. 9-29 . 149. Sozialisierung , in: I.Jezower (Hg.) , Die Befreiung der Menschheit. Freiheitsideen in Vergangenheit un d Gegenwart , Berli n o . J . , Tei l 2 , S . 159-67 . 150. Soziologi e der Gewalt. Ei n Beitrag zur Theorie der gesellschaftlichen Kräfte , in : E. Lederet (Hg.), Soziologische Probleme der Gegenwart (= Di e weißen Blätter, N. F. , Heft 1) , Berlin, S . 16-29 , 151. Staatsbudget , Zahlungsbilanz und Wechselkurs, in: Die Freiheit, Nr. 8 vom 6. l . , S . 1-2 . 152. Voneil e und Gefahren der Monopole, in: Handbuch der Politik, 3. Aufl. , Bd . 4 , Berlin , S. 120-24 . 153. Di e Weltkrise un d Rußland, in : Di e Freiheit, Nr . 61 1 vom 31. 12. 154. Zu r Einführung , in : E . Lederer (Hg.) , Soziologisch e Problem e de r Gegenwart , Berlin , S. 5-7 . 155. [Diskussionsbeiträge] , in: Verhandlungen der Sozialisierungs-Kommission übe r die Kali-

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299 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

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20 Lederer , Aufsätz e

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IV. Herausgebertätigkeit a) Herausgab e vo n Monographie n un d Sammelwerke n 1917 420. Di e volkswirtschaftliche n Seminar e a n de n Hochschule n Deutschland s un d Österreich Ungarns. Bericht e übe r ihr e Tätigkeit , Bd . 1 : Sommer-Semeste r 1916 , Tübingen . 1921 421. Soziologisch e Problem e de r Gegenwar t ( = Di e weiße n Blätter » N . F. , Hef t 1) , Berlin . 1923 422. Deutsch e Zahlungsbilan z un d Stabilisierungsfrage . Gutachten : Valutafrag e un d öffentli che Finanzen , vo n W . Lot z ( = Schrifte n de s Vereins fü r Sozialpolitik , Bd . 164/1) , Mün chen. 423. Deutsch e Zahlungsbilan z un d Stabilisierungsfrage . Gutachten : Di e geldtheoretisch e un d geldrechtliche Seite des Stabilisierungsproblems, vonL . Mise s u. F . Klei n ( = Schriftende s Vereins fü r Sozialpolitik , Bd . 164/11) , Münche n [Mitherausgeber : M . Palyi] . 1930-1932 424. Da s Kartellproblem. Beiträg e zu r Theorie un d Praxis , 3 Bde . ( = Schrifte n de s Vereins fü r Sozialpolitik, Bd . 180/I-III) , München . b) Herausgab e vo n Buchreihe n un d Zeitschrifte n

1922-1933

425. Archi v fü r Sozialwissenschaf t un d Sozialpoliti k ( = ASS) , Bd . 49-Bd . 69 .

309 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

1930-1932 426. Beiträg e zur ökonomischen Theorie, 4 Bde., Tübingen [Mitherausgeber: J . Schumpeter] . 1930-1933 427. Heidelberge r Studien aus dem Institut für Sozial- und Staatswissenschaften, 3 Bde , Heidelberg. [Mitherausgeber : A . Weber , C . Bnnkmann u . A . Salz] .

310 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

Jürgen Kock a Sozialgeschicht e Begriff- Entwicklung-Probleme . 1977. 173 Seiten, kartoniert (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1434)

Jürgen Kock a - Unternehmer i n der deutsche n Industrialisierun g 1975. 17 3 Seiten, kartonier t (Klein e Vandenhoeck-Reih e 1412 )

Jürgen Kock a - Angestellte zwischen Faschismus und Demokrati e Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten: USA 1890-194 0 im internationalen Vergleich. 1977 . 556 Seiten , Paperback (Kritisch e Studien zur Geschichtswissenschaft 25 )

Hans Speier - Die Angestellte n vo r dem Nationalsozialismu s Ein Beitrag zum Verständnis der deutschen Sozialstruktur 191 8 bis 1933. 1977 . 202 Seiten, Paperback (Kritisch e Studien zur Geschichtswissenschaf t 26 )

Die Krise des Liberalismus zwischen de n Weltkriege n Mit Beiträge n vo n Jehoshu a Arieli , Han s Pau l Bahrdt , N . S . Eisenstadt , Suitber t Ertel , Hans-Georg Geyer, Werner Jochmann, Günther Patzig, Nathan Rotenstreich, Martin Seliger, Gershom Scholem, Ernst Simon, Rudolf von Thadden, Rudolf Vierhaus, R. J. Zw i Werblowsky. Herausgegebe n vo n Rudol f vo n Thadden . 1978 . 27 7 Seiten , Paperbac k (Sammlun g Vandenhoeck)

Klassen in de r europäische n Sozialgeschicht e Neun Beiträge von Heinz-Gerhard Haupt, Eric J. Hobsbawm , Volker Hunecke, Jürgen Kokka, M . Raine r Lepsius , Wolfgan g Mager , Sidne y Pollard , Hans-Jürge n Puhle , Hans-Ulric h Wehler. Herausgegebe n vo n Hans-Ulric h Wehler . 1979 . 28 0 Seiten , kartonier t (Klein e Vandenhoeck-Reihe 1456 )

Hans-Ulrich Wehle r Krisenherd e de s Kaiserreich s 1871-191 8 Studien zu r deutsche n Sozial - un d Verfassungsgeschichte . 2. t überarbeitet e un d erweitert e Auflage 1979 . 559 Seiten, kartonier t

Hans-Ulrich Wehle r - Bibliographi e zur modernen deutsche n Sozialgeschicht e (18.-20 . Jahrhundert ) 1976. XII, 269 Seiten, Kunststoff (Arbeitsbücher zur modernen Geschichte 1 /UTB [Uni-Taschenbücher] 620)

Wirtschaftskrise un d liberale Demokrati e Das Ende der Weimarer Repubik und die gegenwärtige Situation. Mit Beiträgen von G. Feldman, J. C Heß , K. Holl, H. Mommsen, H.-J. Rüstow, P. Wulf, herausgegeben von Karl Holl. 1978. 15 2 Seiten, kartonier t (Klein e Vandenhoeck-Reih e 1449 )

VANDENHOECK & RUPRECH T I N GÖTTINGE N UN D ZÜRIC H © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN E-Book: 978-3-647-35996-0

KRITISCHE STUDIE N ZU R G E S C H I C H T S W I S S E N S C H A F

T

1. WOLFRA M FISCHER : Wirtschaf t un d Gesellschaft i m Zeitalter de r Industrialisierun g 2. WOLFGAN G KREUZBERGER : Studente n un d Politik 1918-1933 . De r Fall Freibur g i.B . 3. HAN S ROSENBERG: Politisch e Denkströmunge n i m deutschen Vormär z 4. ROL F ENGELSING : Zu r Sozialgeschichte deutsche r Mittel - un d Unterschichte n 5. HAN S MEDICK: Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Ada m Smit h 6. DI E GROSS E KRIS E I N AMERIKA . Vergleichend e Studie n zu r politische n Sozialgeschicht e 1929-1939. 7 Beiträge. Hg. : Η. Α . Winkler 7. HELMU T BERDING: Napoleonische Herrschafts- u. Gesellschaftspohti k i m Kgr. Westfalen 1807/1 3 8. JÜRGE N KOCKA : Klassengesellschaf t i m Krieg. Deutsch e Sozialgeschicht e 1914-191 8 9. ORGANISIERTE R KAPITALISMUS : Voraussetzuneen und Anfänee. 1 1 Beitr. Hg. : Η. Α . Winkler 10. HANS-ULRIC H WEHLER: Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanu m 1865-190 0 11. SOZIALGESCHICHT E HEUTE . Festschrift fü r Han s Rosenberg . 3 6 Beiträge. Hg. : H.-U . Wehle r 12. WOLFGAN G KÖLLMANN : Bevölkerun g i n de r industriellen Revolution . Deutschlan d i m 19 . Jh. 13. ELISABET H FEHRENBACH: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon i n den Rheinbundstaate n 14. ULRIC H KLUGE : Soldatenräte un d Revolution . Studie n zu r Militärpoliti k i n Deutschland 1918/1 9 15. REINHAR D RÜRUP: Emanzipation u. Antisemtismus. Zur >Judenfrage< der bürgerlichen Gesellschaf t 16. HANS-JURGE N PUHLE : Politisch e Agrarbewegunge n i n kapitalistische n Industriegesellschaften . Deutschland, US A un d Frankreich i m 20. Jh. 17. SIEGFRIE D MIELKE: Der Hansa-Bund für Gewerbe, Handel und Industrie 1909-1914 . Der gescheiterte Versuch eine r antifeudalen Sammlungspoliti k 18. THOMA S NIPPERDEY: Gesellschaft, Kultur , Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte 19. HAN S GEKTH: Bürgerlich e Intelligen z u m 1800 . Zur Soziologie de s deutschen Fruhliberahsmu s 20. CARSTE N KUTHER: Räube r und Gaune r in Deutschland. Bandenwese n i m 18 . und frühen 19 . Jh . 21. HANS-PETE R ULLMANN: Der Bund der Industriellen. Organisation, Einfluß und Politik klein- und mittelbetrieblicher Industrielle r i m Deutschen Kaiserreic h 1895-191 4 22. DIR K BLASIUS: Bürgerliche Gesellschaft und Kriminalität. Zur Sozialgeschichte Preußens im Vormärz 23. GERHAR D A. RITTER : Arbeiterbewegung , Parteie n un d Parlamentarismus . Zu r deutschen Sozial und Verfassungsgeschichte de s 19 . und 20. Jahrhundert s 24. HORS T MÜLLER-LINK: Industrialisierung und Außenpolitik. Preußen-Deutschlan d un d das Zarenreich 1860-189 0 25. JÜRGE N KOCKA: Angestellte zwischen Faschismus und Demokratie. Zur politischen Sozialgeschichte der Angestellten: US A 1890-194 0 i m internationalen Vergleic h 26. HAN S SPEIER: Die Angestellten vo r dem Nationalsozialismus. Zur deutschen Sozialstruktur 19 1 S/33 27. DIETRIC H GEYER: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang vo n innerer und auswärtiger Politi k 1860-191 4 28. RUDOL F VETTERLI: Industriearbeit, Arbeiterbewußtsei n un d gewerkschaftliche Organisation . Dar gestellt a m Beispie l der Geor g Fische r A G (1890-1930 ) 29. VOLKE R HUNECKE: Arbeiterschaft un d industrielle Revolution in Mailand 1859-1892 . Zur Entstehungsgeschichte de r italienische n Industri e un d Arbeiterbewegun g 30. CHRISTOP H KLESSMANN : Polnisch e Bergarbeite r i m Ruhrgebie t 1870-1945 . Sozial e Integratio n und nationale Subkultur eine r Minderhei t i n der deutschen Industriegesellschaf t 31. HAN S ROSENBERG: Machtehten und Wirtschaftskonjunkturen. Zu r neueren deutschen Sozial- un d Wirtschaftsgeschichte 32. RAINE R BÖLLING : Volksschullehrer un d Politik . De r deutsche Lehrerverei n 1918-193 3 33. HANN A SCHISSLER: Preußische Agrargesellschaft i m Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftlich e un d politische Transformationsprozesse 1763-184 7 34. HAN S MOMMSEN : Arbeiterbewegung un d Nationale Frage . Ausgewählt e Autsätz e 35. HEIN Z REIF: Westfälischer Ade l 1770-1860 . Vom Herrschaftsstand zu r regionale n Elit e 36. TON I PIERENKEMPER : Di e westfälischen Schwerindustrielle n 1852-191 3 37. HEINRIC H BEST: Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49 . Handelspolitische Konflikte in Deutschland 38. HEINRIC H AUGUST WINKLER: Liberalismus und Antiliberalismus. Zur polit. Sozialgeschichte de s 19. u . 20 . Uhrhundert s 39. EMI L LEDERER : Kapitalismus , Klassenstruktu r u . Problem e de r Demokratie i n Dtschl. 1910- 1 940 40. RECH T UND ENTWICKLUNG der Großunternehmen im 19. u. frühen 20. Jh. / Law and the Formation of th e Big Enterprise s in the 19t h and Earl y 20t h Century . Hg. : Norber t Horn/Jürge n KocL a

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