Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion [1 ed.] 9783428441174, 9783428041176

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Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion [1 ed.]
 9783428441174, 9783428041176

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JOSEF K ORZINGER

Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion

STRAFRECHT UND KRIMINOLOGIE Untersuchungen und Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg im Breisgau herausgegeben von den Direktoren Prof. Dr. Dr. h. c. H.·H.lescheck und Prof. Dr. G. Kaiser

Band 4

Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion

Von

Dr. Josef Kürzinger

DUNCKER & BUMBLOT / BERLIN

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Alle Rechte vorbehalten

© 1978 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1978 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berl1n 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04117 8

Vorwort Die vorliegende Abhandlung stellt meine Habilitationsschrift dar, die der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg im Wintersemester 1976/77 vorgelegen hat. Die Arbeit ging aus einem Forschungsprojekt des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg hervor. Den beiden Direktoren dieses Instituts, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. H.-H. Jescheck und Herrn Prof. Dr. G. Kaiser, die meine Arbeit jederzeit und mit Nachdruck gefördert haben, gilt mein besonderer Dank. Ohne ihre tatkräftige Unterstützung hätte sie nicht geschrieben werden können. Danken möchte ich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max-Planck-Gesellschaft, deren Beiträge zu den Druckkosten die Möglichkeit geschaffen haben, das Werk im Buchhandel erscheinen zu lassen. Josef Kürzinger

Inhaltsverzeichnis A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion: Recht, Rechtswirklichkeit und kriminologische Bedeutung ............................ 1. Private

11

Strafan~eigen und polizeiliche Reaktion als soziales Phänomen ..........................................................

11

2. Die rechtlichen Regelungen der privaten Strafanzeige und polizeilichen Reaktion ......................... ',' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

12

3. Die Rechtswirklichkeit der privaten Strafanzeige und der polizeilichen Reaktion ................................................. 14 4. Die kriminologische Bedeutung der privaten Strafanzeige und der polizeilichen Reaktion .................................. '. . . . . . .. 16 4.1 Strafanzeige als Reaktion auf Verbrechen und Mittel der privaten Verbrechenskontrolle .................................. 17 4.2 Strafanzeige als Determinante der registrierten Kriminalität und ihrer Struktur. .. . . ....... . ... . . . .... .... .. . . . . . . . . . . . .. 19 4.3 Strafanzeige und kriminaltheoretische Überlegungen ........ 21 B. Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion in der Kriminologie ..

23

1. Der gegenwärtige Diskussionsstand ..............................

23

2. Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion in der deutschsprachigen Kriminologie ............................................ 24 2.1 Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion als Problem der V;erbl'echenskontroUe ........... '............................ 2.11 Die Bedeutung für die Dunkelfelddiskussion ............ 2.12 Die Behandlung in Dissertationen bis 1970 .............. 2.13 Einzelne wichtige Arbeiten ............................ 2.2 Pr,ivate Strafanzeige und polizeiliche Reaktion als Problem der Selektion der Polizei ........................................

25 25 28 28 40

3. Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion in der Kriminologie des Auslandes ......................... ',' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 47 3.1 Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion als Problem der Verbrechenskontrolle Privater ...................... ,. . ...... 48 3.2 Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion als Problem der Selektion der Polizei ........................................ 52 4. Zusammenfassung der Ergebnisse, kritische Würdigung und Schlußfolgerungen für die weitere kriminologische Forschung .......... 56

8

Inhaltsverzeichnis 4.1 Zusammenfassung der Ergebnisse ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 56 4.2 Kritische Würdigung ........................................ 57 4.3 Schlußfolgerungen für die weitere kriminologische Forschung 58

c.

Die eigene Untersuchung ...........................................

60

1. Ziel und Gegenstand der Untersuchung ..........................

61

2. Grundlegende Hypothesen der Untersuchung ....................

61

2.1 Die Verbrechenskontrolle durch die Bevölkerung ............ 2.11 Die soziaIen Grundlagen der Verbrechenskontrolle Privater 2.12 Die Strafanzeige als Mittel der privaten Verbrechenskontrolle .................................................. 2.13 Einschätzung und Inanspruchnahme der Polizei im Zusammenhang mit privater Verbrechenskontrolle ........ 2.2 Der Anzeigeerstatter: Sozialer Status und Anzeigemotivation 2.3 Die Reaktion der Polizei auf private Strafanzeigen .......... 2.4 Interaktion zwischen Bürger und Polizei: Der Ablauf des Anzeigevorgangs ...............................................

61 61 61 62 62 63 63

3. Durchführung der Untersuchung ................................

63

3.1 Methode ....................................................

63

3.2 Auswahl und Zusammensetzung der Stichprobe .............. 3.21 Teilnehmende Beobachtung ............................ 3.22 Befragung .............................................

64 64 65

3.3 Die Repräsentativität der Ergebnisse ........................ 3.31 Teilnehmende Beobachtung ............................ 3.32 Befragung .............................................

69 69 71

3.4 Die Gültigkeit der Ergebnisse .............................. 3.41 Teilnehmende Beobachtung ............ . ............... 3.42 Befragung .............. ,...............................

71 71 75

3.5 Die Auswertung der Untersuchung

75

D. Die Ergebnisse der Untersuchung ..................................

76

1. Die Darstellung der erhobenen Daten ............................

76

2. Die Verbrechenskontrolle durch die Bevölkerung ................

77

2.1 Die sozialen Grundlagen der Verbrechenskontrolle Privater .. 77 2.11 Die Perzeption der Kriminalität als eines sozialen Problems .................... ,.............................. 78 2.12 Die verbalisierte Reaktion auf Kriminalität ............ 87 2.2 Die Strafanzeige als Mittel der privaten Verbrechenskontrolle 94 2.21 Strafanzeige als Mittel zur Lösung sozialer Konflikte. . .. 95

Inhaltsverzeichnis

9

2.22 Einstellung der Bevölkerung zum eigenen Anzeigeverhalten ................................................. 98 2.23 Der erwartete Erfolg der Strafanzeige .................. 100 2.231 Der Erfolg generell .............................. 2.232 Der Erfolg hinsichtlich der Täterermittlung 2.24 Die Nennung von Verdächtigen bei Strafanzeigen ...... 2.3 Die Einschätzung und Inanspruchnahme der Polizei im Zusammenhang mit privater Verbrechenskontrolle .............. 2.31 Die allgemeine Einschätzung der Polizei und ihrer Tätigkeit ......... '.' ............. , .......... " .............. 2.32 Die bei der Strafanzeige vermutete selektive polizeiliche Verfolgungspraxis ...................................... 2.33 Die Inanspruchnahme polizeilicher Dienste .............. 2.34 DIe erneute Inanspruchnahme polizeilicher Dienste ...... 2.35 Private Kontakte mit der PoliZlei ........................

100 104 105 106 107 119 124 136 141

3. Der Anzeigeerstatter: Sozialer Status und Anzeigemotivation ..... 144 3.1 Der soziale Status des Anzeigeerstatt-ers .................... 144 3.2 Die Motive des Anzeigeerstatters ............................ 149 4. Die Reaktion der PoliZlei auf private Strafanzeigen .............. 158 4.1 De1iktspezifische Verfolgungsintensität der Polizei ............ 158 4.2 Die BagateUisierung des angezeigten Sachverhaltes .......... 162 5. Interaktion zwisch·en Bürger und Polizei: der Ablauf des Anzeigevorganges ...................................................... 164 5.1 Det'erminanten des formellen und inhaltlichen Ablaufs des Anzeigevorgangs ............................................... 5.2 Der formelle Ablauf des Anzeigevorgangs ................... 5.21 Allgemeine Ergebnisse zum formellen Ablauf des Anzeigevorgangs .......................................... 5.22 Der einzelne Polizist, sein Dienstrang, seine Dienstzeit und Dienstschicht ...................................... 5.23 Der Anzeigeerstatter: Geschlecht, Alter, sozialer Status und Erscheinungsbild .................................. 5.24 Der angezeigte Sachverhalt ............................ 5.25 Zusammenfassung der Ergebnisse ......................

164 165 165 167 176 188 201

5.3 Der dnhaltliche Ablauf des Anzeigevorgangs ................ 205 5.31 AlIg,emeine Daten zum inhaltlichen Ablauf des Anzeigevorgangs .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5.32 Der einzelne Polizist, sein Dienstgrad, seine Dienstzeit und Dienstschicht ...................................... 5.33 Der Anzeigeerstatter: Geschlecht, Alter, sozialer Status und Erscheinungsbild .................................. 5.34 Der angezeigte Sachverhalt ............................ 5.35 Zusammenfassung der Ergebnisse ......................

205 208 211 215 225

10

Inhaltsverzeichnis

E. Kritische Zusammenfassung ........................................ 231 1. Die Untersuchung ............................................... 231 1.1 Ziel der Untersuchung .............. . ...... . . . .. . . . ......... 1.2 Durchführung der Untersuchung ............................ 1.3 Ergebnisse der Untersuehung ................................ 1.31 Die Verbrechenskontrolle durch die Bevölkerung ........ 1.32 Die Strafanzeige als Mittel der privaten Verbrechenskontrolle ....... ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1.33 Einschätzung und Inanspruchnahme der Polizei im Zusammenhang mit privater Verbrechenskontrolle ........ 1.34 Der Anzeigeerstatter: Sozialer Status und Anzeigemotivation ................................................. 1.35 Die Reaktion der Polizei auf private Strafanzeigen ...... 1.36 Interaktion zwischen Bürger und Polizei: der Ablauf des Anzeigevorgangs .......................................

231 231 232 232 233 234 235 236 237

2. Kriminologische Würdigung ................................ . .... 240 3. Kriminalpolitische Schlußfolgerungen

244

F. Summary .......................................................... 250 1. The Research ................................................... 250 1.1 Aims of the Research ........................................ 1.2 The Carrying-out of the Research .......................... 1.3 Results of Research ........................................ 1.31 Crime-control among the Population .................... 1.32 The Complaint as a Form of Private Crime-Control .... 1.33 Judgements about the Police Contacts, and Their Relation to Private and Police-initiated Crime-Control .......... 1.34 The Complainant: Social Status and Motivation for Complaint-laying ... '.' ...................................... 1.35 Police Reaction to Private Complaints .................. 1.36 Interaction between the Citizen and the Police: The Course of Events in Laying a Complaint ........................

250 250 251 251 251 253 254 255 256

2. Criminological Appreciation ............................. . ...... 259

G. Anhang ............................................................ 264 H. Literaturverzeichnis ................................................ 305 Sachwortverzeichnis ... . . . .... . ...... . ................................. 324

A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion: Recht, Rechtswirklichkeit und kriminologische Bedeutung 1. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion

als soziales Phänomen

Der Zusammenhang zwischen privater Strafanzeige und polizeilicher Reaktion hierauf hat bisher in Strafrecht und Kriminologie l verhältnismäßig wenig Beachtung gefunden. Dies ist nur auf den ersten Blick nicht verwunderlich, zeigt doch schon eine oberflächliche Analyse des Strafverfahrens, daß die bisherige Unterschätzung der Strafanzeige sachlich nicht zu begründen ist 2 • Man kann davon ausgehen, daß Strafanzeige und polizeiliche Reaktion nicht problematisiert wurden, weil hierin häufig zu einfache Sachverhalte, die einer näheren Untersuchung nicht bedürftig erschienen, gesehen wurden. Zwar läßt sich die Strafanzeige auch als schlichtes tatsächliches Geschehen, das ein Strafverfahren einleitet, begreifen, doch ist diese Sichtweise nicht gerechtfertigt. Schon das Alltagswissen sagt uns, daß die Verhältnisse so einfach nicht liegen können. Seit langem ist bekannt3, daß vielen privaten Strafanzeigen überlegungen vorausgehen, ob sie überhaupt erstattet werden sollten. Wir wissen auch, daß eine Strafanzeige nicht immer dann schon erfolgreich ist, wenn einem Polizisten der Verdacht einer Straftat mitgeteilt wird. Der Polizist entscheidet vielmehr darüber, ob er überhaupt Maßnahmen ergreifen oder ob er den Antrag auf Verfolgung der Strafanzeige ablehnen muß. Schon dieser kurze Hinweis mag verdeutlichen, daß sich hinter einer Strafanzeige nicht nur ein juristisches Verfahrensproblem verbirgt4 • Die Strafanzeige hat vor allem auch soziale Bedeutung; sie ist als rechtliche, kriminologische und soziale Erscheinung zu verstehen. Darüber hinaus ist sie ein Geschehen, bei dem im Zusammenwirken zwi1 Es ist bezeichnend, daß von den neuesten Lehrbüchern nur Kaiser 1973, S. 70 f. und Brauneck 1970, S. 42 f. auf die kriminologische Relevanz der Strafanzeige näher eingehen. Z Vgl. hierzu etwa Kerner 1973, S. 27 ff.; Kaiser 1972 a, S. 27 f.; für die USA kommt Black 1970, S. 747, zu einem ähnlichen Ergebnis. 3 Vgl. dazu etwa die Ausführungen von Hoegel 1911/12, S. 657 - 665; Hurwicz 1914/15, S. 284 - 295. 4 Vgl. zu dieser "neuen" Sichtweise vor allem Brusten 1971, S. 248 - 259; Kerner 1973, S. 27 ff.; Kaiser 1972 a, S. 80 f.

12

A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion

schen Anzeigeerstatter und Polizei versucht wird, die soziale Wirklichkeit zu rekonstruieren und ihr rechtlich und sozial bedeutsame Konturen zu geben. Daß dies nur im Rahmen der Rechtsordnung geschehen kann, ist zunächst von sekundärer Bedeutung. In erster Linie geht es um ein soziales Geschehen, dessen Ausgangspunkt eine Straftat bildet. Die Aufarbeitung dieser Situation steht im Vordergrund. Da dies lange verkannt wurde, weil man die soziale Komponente der Strafanzeige übersah, konnte sie als formales, auch rechtlich relativ bedeutungsloses Geschehen eingestuft werden. Die Relevanz der Interaktion zwischen Anzeigeerstatter und Polizei liegt nicht in der Ausfüllung formaler Positionen für ein späteres Strafverfahren. Entscheidend ist auch nicht, ob der vom Gesetz normierte Ablauf "richtig" vor sich geht, sondern welche soziale Bedeutung dem Geschehen zukommt. Die soziale Wirklichkeit der Strafanzeige ist bestimmend, nicht ihr formaler Ablauf. So gesehen sind selbst für das menschliche Zusammenleben Strafanzeige und polizeiliche Reaktion von ausschlaggebender Bedeutsamkeit: hier werden die Weichen gestellt für die Erfüllung einer der Grundaufgaben des Strafrechts: die Sicherung des sozialen Friedens3 •

2. Die rechtlichen Regelungen der privaten Strafanzeige und polizeilichen Reaktion Die Strafprozeßordnung (StPO) behandelt die Strafanzeige eher beiläufig. Sie wird weniger als formales Erfordernis für die Einleitung eines Strafverfahrens gesehen, sondern als tatsächliches Geschehen gewertet6 , aufgrund dessen die Strafverfolgungsbehörden - also auch die Polizei - wegen des herrschenden Legalitätsprinzipes (§§ 152, 163 StPO) verpflichtet sind, Nachforschungen über das Vorliegen eines strafbaren Sachverhaltes anzustellen7 • Die verfahrensrechtlichen Grundlagen für Strafanzeigen sind in § 158 StPO enthalten. "Die Anzeige einer Straftat und der Strafantrag können bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich angebracht werden. Die mündliche Anzeige ist zu beurkunden. Bei Straftaten, deren Verfolgung nur auf Antrag 5 Zum Selbstverständnis der Funktion des Strafrechts vgl. etwa Baumann 1975, S. 7 ff.; Bockelmann 1973, S. 1 ff.; Jescheck 1972, S. 1 f.; Maurach 1971, S. 32 f.; Blei 1977, S. 4 ff.; Schmidhäuser 1975, S. 6 ff.; Stratenwerth 1971, S. 14 ff.; Welzel1966, S. 1 ff.; Wessels 1974, S. 1 f. 6 Vgl. dazu Kleinknecht 1975, S. 157 Anm. 1 A; Kern I Roxin 1975, S. 186; Henkel 1968, S. 299; Müller-Sax 1966, § 158 Anm. 1 a; Schmidt 1967, § 158 Randn. 1 und 2; Löwe-Rosenberg 1971, § 158 Anm. 1 (Kohlhaas); Peters 1966, S. 458 f. 7 Vgl. Peters 1966, S. 460; Löwe-Rosenberg 1971, § 158 Anm. 1 (Kohlhaas); Schmidt 1967, § 158 Randn. 2; Müller-Sax 1966, § 158 Anm. 1 a; Henkel 1968, S. 298; Kern I Roxin 1975, S. 185.

2. Die rechtlichen Regelungen der Strafanzeige

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eintritt, muß der Antrag bei einem Gericht oder der Staatsanwaltschaft schriftlich oder zu Protokoll, bei einer anderen Behörde schriftlich angebracht werden" (§ 158 Absatz 1 und 2 StPO)8.

Dem Recht des Bürgers, eine Strafanzeige bei Vorliegen eines Verdachtes einer Straftat zu erstatten, steht seitens der Polizei die Pflicht gegenüber, diese Strafanzeige zu beurkunden und Ermittlungen über den Sachverhalt durchzuführen, wenn ausreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß eine Straftat tatsächlich begangen wurde 9 • Berichtet also jemand einem Polizisten von einer Straftat, so hat dieser zu prüfen, ob der geäußerte Verdacht substantiell vorgetragen ist. Andere überlegungen dürfen für seine Entscheidungen keine Rolle spielen. Die rechtlich zulässige Behandlung von Strafanzeigen Privater besteht somit allein darin, festzustellen, ob ein substantiierter Verdacht besteht, nicht aber eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob die Straftat verfolgungswürdig istl°. Für die Pflicht zur Beurkundung und Weiterbearbeitung einer Strafanzeige ist es ohne Bedeutung, ob ein Strafantrag gestellt ist bzw. wird oder nicht (§ 158 Abs. 2 StPO), wenn nur die Möglichkeit besteht, daß ein solcher Antrag noch gestellt werden kann, also vor allem dann, wenn die Antragsfrist noch nicht abgelaufen ist l l • Die Rechtslage bei Antragsdelikten ist für die Beurteilung der praktischen Polizeiarbeit von besonderer Bedeutung, weil offensichtlich (wie auch die Ergebnisse der eigenen Untersuchung zeigen) diese Verfahrensweise nicht immer eingehalten wird. Die Entscheidung darüber, ob ein öffentliches Interesse an der Verfolgung einer Straftat gegeben ist, steht allein der Staatsanwaltschaft zu, nicht aber der Polizei 12 • Dies kann nach geltendem Recht nicht zweifelhaft sein. Auch die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren weisen ausdrücklich daraufhin. "Nur der Staatsanwalt kann den Anzeigenden auf die Privatklage verweisen. Die Polizeibeamten dürfen es nicht ablehnen, eine Anzeige entgegenzunehmen oder sie an den Staatsanwalt weiterzuleiten; sie dürfen aber den Anzeigenden darüber aufklären, daß die öffentliche Klage nur erhoben wird, wenn der Staatsanwalt ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung bejaht. Besteht nach der Ansicht des Polizeibeamten kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung, so wird er keine Ermittlungen vornehmen, sondern die Anzeige dem Staatsanwalt vorlegen" (Nr. 77 der RiStBV vom 1. 12. 1970). 8 Zur Zeit der Untersuchung galt § 158 StPO a. F., der sich inhaltlich aber nicht von der Neufassung unterscheidet, sondern lediglich redaktionell geändert wurde. 9 Dies ergibt sich eindeutig aus der Gesetzesbestimmung; vgl. etwa Müller-Sax 1966, § 158 Anm. 1 a. 10 Unstreitig; vgl. etwa Henkel 1968, S. 298. 11 Vgl. Müller-Sax 1966, § 158 Anm. 3 c. 12 Unstreitig; vgl. auch Nr. 77 der RiStBV vom 1. 12. 1970.

A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion

14

Somit ist die Ablehnung der Beurkundung einer Strafanzeige und polizeilicher Ermittlungen wegen eines geäußerten Verdachtes eines Anzeigeerstatters rechtlich nur zulässig, wenn der Polizist der Auffassung ist, der gemeldete Sachverhalt könne zwar vorliegen, er würde aber keine Straftat beinhalten (Anzeige eines nichtstrafbaren Sachverhaltes) oder aber der Polizist glaubt, die vorgebrachten Tatsachen reichten nicht aus, den Verdacht zu rechtfertigen, es läge tatsächlich eine Straftat vor (Anzeige ohne Verdacht des tatsächlichen Begehens einer strafbaren Handlung). Daneben ist es zulässig, die Beurkundung einer Strafanzeige deswegen abzulehnen, weil offensichtlich ein nicht mehr auszuräumendes Verfahrenshindernis besteht1 3 • In der polizeilichen Praxis dürfte dies freilich nur relevant sein, wenn Antragsdelikte angezeigt werden. Hier ist ein Polizeibeamter nicht verpflichtet, die Anzeige zu beurkunden und Ermittlungen anzustellen, wenn die Antragsfrist ersichtlich verstrichen ist. Rechtlich stehen einem Polizisten in keinem Fall bei der Anzeigenaufnahme Ermessensentscheidungen zu. Daß es faktisch zu Ermessensentscheidungen kommen kann, die aber nicht solche im Rechtssinne sind, liegt auf der Hand. Die Entscheidung darüber, ob genügend Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen, ist (im Sprachgebrauch) "Ermessen", weil sie eine Bewertung der vorgetragenen Fakten beinhaltet und stark von der (subjektiven) Wertung des Entscheidenden abhängig ist. Die Würdigung desselben Sachverhaltes kann bei zwei Polizisten durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, ohne daß einem von ihnen vorgehalten werden könnte, die Entscheidung sei "rechtswidrig". Wenn also gesagt wurde, dem einzelnen Polizisten stehe bei der Anzeigenaufnahme keine Ermessensentscheidung zu, so will dies lediglich feststellen, daß die (abstrakte) Rechtsnorm nur eine Entscheidung als "richtig" anerkennt, nicht aber, daß unterschiedliche Entscheidungen tatsächlich unmöglich seien. Vor allem diesen Sachverhalt meint wohl auch Brusten, wenn er bei polizeilichem Handeln von "Ermessen im soziologischen Sinne"14 spricht.

3. Die Rechtswirklichkeit der privaten Strafanzeige und der polizeilichen Reaktion Die Praxis der privaten Strafanzeige und der polizeilichen Reaktion ist für Umfang und Struktur der registrierten Kriminalität und den Verlauf des Strafverfahrens von ausschlaggebender Bedeutung, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland und für die klassischen De13 14

Vgl. dazu etwa Schmidt 1967, § 158 Randn. 1. Brusten in Feest/Lautmann 1971, S.34.

3. Die Rechtswirklichkeit der Strafanzeige

15

likte. Anders liegen zum Teil die Verhältnisse für die zahlenmäßig umfangreichen Verkehrsverstöße und - in abgeschwächter Form - auch für Wirtschaftsdelikte. Verkehrsdelikte werden bedeutend häufiger durch Strafanzeigen von der Polizei unmittelbar verfolgt. Zwei Umstände scheinen hierfür den Ausschlag zu geben. Einmal ist die proaktive Tätigkeit der Polizei bei Verkehrsdelikten intensiver; dies schon deshalb, weil die organisatorischen Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Andererseits wird sie durch die äußeren Umstände der Straftaten, die im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen zur Anzeige gelangen, herbeigeführt. Die Polizei wird in der Regel bei Verkehrsunfällen an den Unfallort gerufen. Aus der hier anfallenden polizeilichen Tätigkeit resultieren Strafanzeigen gegen die für den Unfall verantwortlichen Verkehrsteilnehmer. Ähnliches läßt sich auch für die Wirtschaftskriminalität, beispielsweise für Konkursdelikte feststellen. In den Bundesländern ermitteln neuerdings bei Konkursen Polizei und Staatsanwaltschaft routinemäßig in allen Fällen. Ob dies auch für die Verhältnisse im Ausland gilt, vor allem für die USA, kann fraglich sein15 • Für die Strafverfahren in der Bundesrepublik Deutschland kann man davon ausgehen, daß in 85 % bis 95 Ufo der Fälle die Strafanzeige von privater Seite gestellt wird 16 • Nur fünf bis fünfzehn Prozent der von der Polizei registrierten Delikte beruhen auf eigenen Wahrnehmungen der Strafverfolgungsorgane. So hat Steffen 17 in ihrer für die Bundesrepublik Deutschland repräsentativen Untersuchung ermittelt, daß bei den in die Untersuchung einbezogenen Delikten der klassischen Kriminalität fast alle durch Strafanzeigen Privater zur Kenntnis der Polizei gelangt sind. Der Anteil der "eigenen Feststellungen" der Polizei ist mit zwei bis fünf Prozent verschwindend gering. Über neunzig Prozent der Strafanzeigen wurden von den Geschädigten erstattet. Schon Weis / Müller-BagehPS hatten, freilich nur für ein Polizeirevier und für einen Zeitraum von vier Monaten festgestellt, daß (ohne Verkehrskriminalität) nur 17 Ufo der Delikte von Amts wegen zur Anzeige kamen. Damit ist offenkundig, daß die private Strafanzeige die fast ausschließliche Quelle für die registrierte Kriminalität darstellt. Der Einleitung der Strafverfolgung durch Privatpersonen steht ein faktisches Monopol der Polizei über Entgegennahme oder Ablehnung von Strafanzeigen gegenüber, da Anzeigen unmittelbar bei Staatsanwalt15 Die besondere Bedeutung der Anzeigeerstattung ist aber auch durch Dunkelfelduntersuchungen in den USA dargetan. Vgl. etwa die bisher umfangreichste von der in Ennis 1967 berichtet wird; ebenso Black 197Ö, S. 747. 16

17 18

Steifen 1976, S. 125 ff. Steifen 1976, S. 125.

Berechnet vom Verfasser aufgrund der Angaben bei Weis / MüHerS. 187 und 189.

BagehI 1971,

16

A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion

schaft und Gericht selten sind. BZankenburg / Sessar / Steffen 19 haben ermittelt, daß bei den klassischen Delikten die Anzeigequoten bei der Staatsanwaltschaft zwischen 1 % und 20 Ufo schwanken; bei Gerichten kommen Strafanzeigen praktisch nicht vor. Ist somit die Entscheidungsstelle für die B€handlung von Strafanzeigen die Polizei, so ist deren Verhalten für die registrierte Kriminalität von ausschlaggebender Bedeutung. Es darf unterstellt werden, daß im Regelfall bei der Ablehnung einer Anzeigenaufnahme durch die Polizei der Anzeigeerstatter nicht (nochmals) versucht, die Anzeig€ über ein anderes Strafverfolgungsorgan durchzusetzen. In der Rechtswirklichkeit entscheidet die Polizei faktisch (fast) ausschließlich über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens aufgrund einer Strafanzeige einer Privatperson. 4. Die kriminologische Bedeutung der privaten Strafanzeige und der polizeilichen Reaktion

Die Strafanzeige und ihre Behandlung durch die Polizei haben in der Kriminologi€ bisher nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihnen zukommt. Noch 1971 bemerkte Brusten 20 zu Recht, daß bereits ein flüchtiger Blick in die kriminalsoziologische Fachliteratur zeige, daß dem Problem der Anzeigeerstattung sowohl theoretisch als auch empirisch bislang keine nennenswerte Beachtung geschenkt wurde. Dies galt im Prinzip für das gesamte Strafverfahren. Bisher stand nicht die strafrechtliche Sozialkontrolle im Mittelpunkt kriminologischen Interesses, s.ondern der Täter. Erst die Blickschärfung durch den labeling approach, der die Reaktion auf das Verbrechen erfassen will, betonte auch die Relevanz des Strafverfahrens. Tatsächlich befaßte sich bis in die jüngste Zeit21 di€ Kriminologie mit der Strafanzeige nur am Rande und auch dabei vor allem unter dem Gesichtspunkt der Bereitschaft zur Erstattung einer Strafanzeige durch Private. So war es nur folgerichtig, die Strafanzeige lange Zeit lediglich als ein Problem der Kriminalstatistik und des Dunkelfeldes, also des Zusammenhanges zwischen tatsächlich verübter und registrierter Kriminalität zu sehen22 ; dies freilich hatte Tradition (vgl. Quetelet 23 , von Mayr 24 ). Die Gründe für die Nichtanzeige wurden lange Zeit häufiger vermutet als empirisch unterBZankenburg / Sessar / Steifen 1976. Brusten 1971, S. 248. 21 Tatsächlich wurden die Diskussion im deutschsprachigen Bereich erst 1971 mit den Aufsätzen von Weis / MüZZer-BagehZ 1971 und Brusten 1971 eröffnet. Auch in den USA beschäftigte man sich erst seit etwa 1967 näher mit der Anzeigeerstattung; vgl. Buckner 1967, S. 149 ff. 22 So etwa bei von Hentig 1964; Meyer 1941; Wehner 1957. !3 QueteZet 1846, S. 386. 2' Mayr 1867, S. 1. Ig

20

4. Die kriminologische Bedeutung der Strafanzeige

17

sucht. Nun umfaßt die Dunkelfeldproblematik aber nur einen Teil der kriminologischen Relevanz der Strafanzeige. Es lassen sich daneben wichtige andere Beziehungen nennen, die ausführlicher dargestellt werden sollen: Strafanzeige als Reaktion auf Verbrechen und Mittel der privaten Verbrechenskontrolle, als Determinante der registrierten Kriminalität und ihrer Struktur, als Indikator für das Dunkelfeld und als ein Anwendungfall für die Selektion im Strafverfahren. Schließlich darf auch ihre Bedeutung für kriminaltheoretische überlegungen nicht übersehen werden.

4.1 Die Strafanzeige als Reaktion auf Verbrechen und Mittel der privaten Verbrechenskontrolle Private Strafanzeigen stellen das rechtlich sanktionierte und einzig legitimierte Reaktionsmittel auf Verbrechen dar, da die Verfolgung von Straftaten beim Staat monopolisiert ist. In der deutschen Strafrechtsgeschichte stellt die private Strafanzeige, abgeschwächter noch als die Privatklage, den Restbestand des ursprünglichen Rechtes des Verletzten auf Selbsthilfe bei der Verfolgung von Straftaten dar. Sie trat an die Stelle der Selbstjustiz durch die Verbrechensopfer und institutionalisierte die ausschließliche Strafverfolgung beim Staat. Im germanischen Recht stand bei Verletzung privater Güter nur dem Verletzten und seiner Sippe die Verfolgung der Straftat ZU25 • Die Art der Rache war völlig dem Ermessen der verletzten Partei überlassen26 • So stellten sich Rache und Fehde nicht als eine Ausnahmeerscheinung einer geduldeten Selbsthilfe dar; sie waren vielmehr tragende Bestandteile germanischer Rechtsordnung. Die Bestrafung der Verbrechen war noch nicht als staatliche Aufgabe anerkannt27 • Erst im Laufe der Zeit bekam der Staat eine Verfolgungs kompetenz für Straftaten gegen Privatpersonen28 • Die Idee der öffentlichen Strafe begann immer mehr an Boden zu gewinnen, auch wenn Rückschläge bei der Durchsetzung des staatlichen Strafmonopoles nicht ausblieben. Formell wurde die private Strafverfolgung in Deutschland erst durch den Ewigen Landfrieden von Worms 1495 abgeschafft. Tatsächlich aber war damit die Fehde noch lange nicht beseitigt29 • Noch die Constitutio Criminalis Carolina des Jahres 1532 spricht in Artikel 129 von einer rechtmäßigen Fehde. Der Grund für die relativ langdauernde Geltung der privaten Selbsthilfe mag wohl darin gelegen haben, daß staatliche Strafverfolgung 25 28 27 28 29

von Bar 1882, S. 52.

His1928,S.17. Schmidt 1965, S. 23. von Bar 1882, S. 70. Kirchner 1971, S. 78.

2 Kürzinger

A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion

18

nicht umfassend praktiziert wurde und es als uraltes Recht galt, daß in den Fällen, in denen Gerichte nicht helfen konnten oder wollten, der Freie sich selbst mit Gewalt sein Recht verschaffen durfte 30 • Will daher, von hier nicht bedeutsamen Fällen der zulässigen Notwehr s1 bei noch nicht beendeten Verbrechen abgesehen, der Betroffene einer Straftat überhaupt reagieren, so bleibt ihm allein die Möglichkeit (des Versuches) einer Sanktionierung durch staatliche Instanzen, von den sehr unzureichenden und wenig ausgebildeten privaten Sanktionsmitteln einmal abgesehen. Eine staatliche Sanktion freilich braucht weder der Geschädigte, noch ein Dritter, der von einer Straftat Kenntnis erlangt hat, zu fordern. Unsere Rechtsordnung stellt es in das Ermessen der Privatperson, ob sie eine begangene Straftat staatlichen Instanzen zur Verfolgung unterbreiten möchte oder nicht32 • Auch die Sozialordnung scheint über weite Strecken davon auszugehen, daß eine Verpflichtung zur Strafanzeige nicht besteht. Darüber freilich wissen wir bisher wenig. Man kann aber unterstellen, daß im allgemeinen von der Sozialordnung bei besonders hohen immateriellen oder materiellen Schäden die Strafanzeige als Reaktionsmittel nicht nur als adäquat akzeptiert, sondern auch als notwendig gefordert wird. Ein Indikator für die rechtliche Rangordnung der Delikte, der für die Strafanzeige eine besondere Bedeutung hat, kann in § 138 StGB gesehen werden, der für eine Reihe von Straftaten eine Pflicht zur Anzeige konstituiert und ihre Nichterfüllung pönalisiert für den Fall, daß die Tat noch nicht beendet ist. Neben dem präventiven Charakter der Norm wird auch eine Rangordnung der Rechtsgüter sichtbar. Zu besonders verwerflichen Delikten zählen demnach - neben einer Reihe von Staatsschutz- und Fälschungsdelikten - hauptsächlich Mord, Totschlag, Raub, räuberische Erpressung, Menschenraub, Verschleppung, erpresserischer Menschenraub, Zuhälterei, Brandstiftung und eine Reihe gemeingefährlicher Verbrechen, wie etwa die Herbeiführung von Explosionen, menschengefährdende überschwemmungen und gefährliche Eingriffe in den Verkehr. Die Frage, wieweit diese sozialen Normen in der Realität befolgt werden, ist damit freilich nicht beantwortet. Die Verfolgung der Straftat ist nicht hauptsächlich im Kontext der sozialen Kontrolle der Kriminalität Privater oder genauer, in deren Verbrechenskontrolle von Bedeutung. Versteht man unter Verbrechenskontrolle mit Kaiser "alle gesellschaftlichen Einrichtungen, Strategien und Sanktionen, welche die Verhaltenskonformität im strafrechtlich geschützten von Bar 1882, S. 89. Vgl. § 32 StGB (Notwehr). 32 Unstreitig; vgl. etwa Schmidt 1967, § 158 Randn. 5; Müller-Sax 1966, § 158 Anm. 5; Kern / Roxin 1975, S. 186; Henkel 1968, S. 299 Anm. 3; die Anzeigepflicht des § 138 StGB betrifft bevorstehende Verbrechen. 30

31

4. Die kriminologische Bedeutung der Strafanzeige

19

Normbereich bezwecken"33 dann ist auch die private Strafanzeige ein Bestandteil dieses Kontrollsystems, selbst wenn sie für die einzelne Straftat allenfalls repressiven Charakter hat. Die generelle präventive Funktion eines solchen Kontrollverhaltens kann freilich nicht übersehen werden, da jeder potentielle Straftäter wüßte, daß er mit einer solchen Reaktion zu rechnen habe.

4.2 Strafanzeige als Determinante der registrierten Kriminalität und ihrer Struktur Von Straftaten haben, werden sie von den Opfern oder Dritten nicht informiert, staatliche Stellen in der Regel nur in geringem Umfang Kenntnis. Man muß weiter davon ausgehen, wie die Zahlen für die registrierte Kriminalität zeigen, daß von der gesamten Kriminalität den Strafverfolgungsorganen nur ein verschwindend kleiner Bruchteil bekannt wird. Wenn aber nur Teile der den Privatpersonen bekanntgewordenen Delikte an staatliche Instanzen weitergemeldet werden 34 und gleichzeitig diese der Pflicht der Verfolgung aller strafbaren Handlungen unterliegen, dann wird einsichtig, daß zumindest für die klassische Kriminalität die registrierte Kriminalität von der Bevölkerung selbst bestimmt wird. Dabei handelt es sich im Prinzip um jenes schon lange (Seuffert 1901) bekannte Phänomen der "kriminellen Reizbarkeit des Publikums"35, nämlich der Frage, wieweit die Bevölkerung bestimmte Verbrechen reaktionslos hinnimmt oder aber versucht, ein Strafverfahren gegen den Täter einzuleiten. Die registrierte Kriminalität zeigt also vor allem die Reaktion auf das Verbrechen an. Damit entspricht sie weniger der Wirklichkeit der tatsächlich verübten Straftaten als vielmehr der Reaktion der Öffentlichkeit auf Rechtsbrüche 36 . Anzeigeverhalten determiniert damit die Struktur der registrierten Kriminalität. Gleichzeitig bestimmt dieses Verhalten auch weitgehend das Ausmaß des Dunkelfeldes, also die Diskrepanz zwischen tatsächlich begangener (und entdeckter) und zur Disposition der Strafverfolgungsorgane gestellter Kriminalität. Dabei darf dieses Dunkelfeld nicht als in sich statisch begriffen, sondern muß als von zahlreichen Faktoren außerhalb der Anzeigeneigung beeinflußt verstanden werden. So wie die registrierte Kriminalität die "erlebte" Delinquenz anzeigt, nimmt das 33 34

Kaiser 1973, S. 59.

Vgl. für den deutschen Bereich neuerdings Schwind u. a. 1975, S. 156 ff.;

Stephan 1976. 35 Seuffert 1901, S. 64. 38 Kürzinger 1973, S. 55. 2·

A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion

20

Dunkelfeld die Funktion einer "Verdrängung" der Kriminalität ein37 • Dies will besagen, daß registrierte Kriminalität und Dunkelfeld weitgehend von den Kriminalitätsvorstellungen in einer Gesellschaft und ihrer Toleranz gegenüber strafrechtlich verfolgbarem Verhalten bestimmt sind. Beide können nur im Kontext der Tätigkeit aller sozialen Kontrollinstanzen gesehen werden. Private Strafanzeigen müssen vor allem auch als ein Problem der Selektion begangener Kriminalität betrachtet werden38 • Bisherige kriminologischt! Betrachtungsweise hat, soweit die Selektion im Kriminalisierungsprozeß überhaupt beachtet wurde, vor allem die Selektion staatlicher Instanzen untersucht39 • Die Reduzierung des Selektions problemes auf staatliche Agenten der Sozial- und Verbrechenskontrolle ist wegen des fast monopolartigen Verfolgungspotentials der Privatpersonen unzureichend. Zwar hat Brusten40 bereits 1971 auf diesen Umstand hingewiesen, aber in der seitherigen Diskussion ist der Aspekt nicht aufgegriffen worden41 • Dabei wäre zu erwarten gewesen, daß gerade der labeling approach (social reaction approach) sich dieses Umstandes hätte annehmen müssen. Ohne hier auf den labeling approach im einzelnen ausführlicher eingehen zu können - eine sehr übersichtliche Darstellung bietet neuerdings Rüther 42 - soll der Ausgangspunkt dieses die gegenwärtige kriminologische Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland (noch) sehr beherrschenden Ansatzes kurz in der Form dargestellt werden, in der er von Sack 43 eingeführt wurde. Sack geht davon aus, daß etwa 80 bis 90 % aller Mitglieder der Gesellschaft irgendwann einmal irgendetwas getan haben, das gesetzlich unter Strafe steht 44 • Aus den potentiell als Kriminelle verurteilbaren Personen werde nur ein sehr kleiner Ausschnitt herausgefiltert, der dann auch tatsächlich verurteilt werde 45 • Die Selektion, die stattfinde, sei zu untersuchen. Die Feststellung, daß jemand eine Tat begehe, die unter Strafe steht, sei keine primär deskriptive, sondern eine askriptive Aussage 48 • Kriminalität sei 38

Kürzinger 1973, S. 56. Kürzinger 1973, S. 56.

40

Brusten 1971, S. 257.

37

39 Dies gilt besonders für den labeling approach. Vgl. hierzu zusammenfassend Rüther 1975.

Dies trifft besonders für die Vertreter des labeling approach zu. Dagegen wurde anderwärts dieser Aspekt durchaus problematisiert. Vgl. etwa Kaiser 1973, S. 71; Kaiser 1972 a, S. 27; Kerner 1973, S. 27 ff. 42 Rüther 1975. Vgl. auch die ausführliche Diskussion des labeling approach in der Bundesrepublik Deutschland, vor allem im Kriminologischen Journal: 41

Bennhotd 1973; Berckhauer 1972; Endruweit 1972; Engethardt 1972; Haferkamp 1972; Kaiser 1972; Lautmann 1972; Opp 1972; Schumann / Schumann

1972. 43 44 45 48

Sack Sack Sack Sack

1968.

1968, S. 463. 1968, S. 463. 1968, S. 468.

4. Die kriminologische Bedeutung der Strafanzeige

21

kein Verhalten, sondern ein "negatives Gut", das analog zu den positiven Gütern wie Vermögen, Einkommen und Privilegien verteilt werde47 • Bei dieser Verteilung würden Unterschichtsangehörige erneut sozial benachteiligt: Es werde Klassenjustiz geübt 48 •

Zwar findet - unbestritten - auch eine der privaten Anzeige folgende Selektion der Straftaten und Straftäter durch staatliche Instanzen statt, doch die entscheidende Selektion, ob nämlich jemand überhaupt in den "Kriminalisierungsprozeß"49 gelangt, verbleibt bei der Bevölkerung und ist vor allem den sozialen Schichten vorbehalten, die von Straftaten Kenntnis haben, zumeist weil sie Opfer sind. Man muß bezweifeln, ob dies überwiegend Angehörige höherer sozialer Schichten sind, sieht man einmal von der offenbar stärkeren Belastung durch Eigentumsdelikte (Stephan 50 ) ab. 4.3 Strafanzeige und kriminaltheoretische Vberlegungen All dies zeigt, daß die private Strafanzeige kriminalitätstheoretische Bedeutung haben muß, wenn man Kriminalität als einen Prozeß der gesellschaftlichen Reaktion versteht, wie es der labeling approach tut 51 • Hier wird Kriminalität ja nicht im Sinne einer Qualifizierung einer Handlung gesehen; Kriminalität soll das Ergebnis eines Prozesses sein, der einer Handlung das Etikett "Kriminalität" erst zuschreibt. "Deviant behaviour is behaviour that people so label", wie Becker (1963)52 es ausdrückt. Versteht man Kriminalität nicht als eine auch sinnvoll unter dem Aspekt der Genese des Handlungsaktes erfaßbare Realität, sondern (nur) als ein Ergebnis eines sozialen Definitions- und Selektionsprozesses, stellt sich auch die Frage nach dem Stellenwert der ihn auslösenden privaten Strafanzeigen und der polizeilichen Reaktion. Freilich zeigt sich dann (was bisher kaum Aufmerksamkeit fand), daß sich Teile der Bevölkerung mit Hilfe der staatlichen Instanzen selbst oder aber andere Bevölkerungsteile strafrechtlich kontrollieren und stigmatisieren. Daher ist zu fragen, welche Bevölkerungsteile einander kon47

48

Sack 1968, S. 469. Sack 1972, S. 12.

49 Der Begriff "Kriminalisierungsprozeß" wird hier als terminus technicus für die Beschreibung des Gesamtprozesses eines Strafverfahrens, das mit einer strafrechtlichen Sanktion endet, angewandt. Die Inanspruchnahme des an sich neutralen Begriffes als Mittel einer Kritik am tatsächlichen Ablauf dieses Prozesses von manchen Vertretern der "neuen Kriminologie" ist nicht gerechtfertigt. Der Ausdruck "KriminaIisierungsprozeß" verdeutlicht nur den prozeßhaften, nicht schematisierten Ablauf eines (erfolgreichen) Strafverfahrens. In diesem Sinne findet er hier Anwendung. 60 Stephan 1976, S. 173 ff. 51 Zum labeling approach vgl. statt vieler Rüther 1975. 52 Becker 1973, S. 9.

22

A. Private Strafanzeigen und polizeiliche Reaktion

trollieren oder wenigstens zu kontrollieren versuchen. Die Reduktion des im labeling approach zum Ausdruck kommenden Modells strafrechtlicher Kontrolle, die zumindest in seiner deutschen Rezeption ziemlich unverhüllt eine ungerechte Kriminalisierung und Disziplinierung der Unterschicht durch staatliche Instanzen unterstellt oder als gesichert ausgibt53, greift offensichtlich zu kurz. Die bisherigen Fragestellungen müßten um die vorausgehenden oder ergänzenden bzw. alternativen Aspekte der privaten Kontrolle erweitert werden. So wäre zu fragen, ob -

der Versuch dieser privaten Strafrechtskontrolle bei der Polizei gleich großen Erfolg für alle sozialen Schichten hat, die Polizei bei Strafanzeigen gegen verdächtige Angehörige verschiedener sozialer Schichten gleich vorgeht und die Polizei bei Delikten, bei denen man annehmen kann, daß ihre Täter bestimmten sozialen Schichten eher angehören, gleich reagiert oder ob sie bei der Verfolgung schichtenspezifisch unterschiedlich verteilte Delikte bevorzugt.

Eine konsequente Überprüfung des Realitätsgehaltes des labeling approach erforderte auch die Beantwortung dieser Fragen. Es soll später versucht werden, die Ergebnisse dieser Untersuchung insoweit mit den Aussagen dieser Kriminalitätstheorie zu konfrontieren.

53 Vgl. etwa PeteTS 1971, S. 98; Lautmann I PeteTS 1973; Sack 1972, S. 12; Sack 1973.

B. Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion in der Kriminologie 1. Der gegenwärtige Diskussionsstand

Offensichtlich fallen kriminologische Relevanz und tatsächliche Behandlung eines Gegenstandes in Forschung und Lehre nicht zusammen, sonst wären Paradigmawechsel in einem Fach auch kaum erklärbar 1 • Was erforscht wird, hängt nicht allein von der Wichtigkeit eines Problems ab. Kriminologische Forschungspolitik ist oft anderen Überlegungen verpflichtet. So darf es nicht überraschen, wenn auch die Strafanzeige, trotz ihrer Bedeutung für die Kriminologie, bisher die erforderliche Aufmerksamkeit nicht gefunden hat. Dies ist teilweise historisch begründbar, denn lange Zeit wurde das ihr immanente wissenschaftliche Problem nicht erkannt und ihr Stellenwert unzulänglich erfaßt. Traditionell beschäftigte sich die Kriminologie seit ihren Anfängen (Lombroso 1876) hauptsächlich mit der Person des Verbrechers; später wurde die gesellschaftliche Komponente des Verbrechens (vor allem durch die Kriminalsoziologie) stärker betont. Das Prozeßhafte, das in der Feststellung liegt, jemand sei ein Krimineller, betonte freilich erst der labeling approach, der nun den Kriminalisierungsprozeß selbst in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Betrachtung rü~te. Will man die bisherigen Positionen in der Kriminologie, nämlich hier die Hinwendung zur Person des Rechtsbrechers und dort die zum Vorgang der Kriminalisierung vereinfacht beschreiben, könnte man sagen, die traditionelle Betrachtungsweise frage, "Wer wird kriminell?", während die neue Fragestellung lautet "Wie wird man kriminell?". Mit dieser veränderten Sichtweise gewann das gesamte Strafverfahren für die Kriminologie an Bedeutung. Bemerkenswert ist, daß die empirische Untersuchung des Strafprozesses in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs eine Domäne der Kriminologen (oder Kriminalsoziologen) ist oder war. Vielmehr hatten sich zuvor schon Strafprozeßrechtler mit dem Problem beschäftigt2 • Aber erst Rechts- und Kriminalsoziologen problematisierten die Funktion des Strafverfahrens kriminologisch3 • Vgl. dazu Kaiser 1975, S. 8 ff. (mit weiteren Nachweisen). Vgl. etwa die Arbeiten von Ritter 1960; Meyer 1965; Peters 1970 -72; Fezer 1974; Roxin 1976; Schreiber 1976. 3 Vgl. etwa Lautmann 1973; Opp/ Peuckert 1971; Peters 1973; Schünemann 1974; Schumann / Winter 1971; Schumann / Winter 1972; Schumann / Winter 1973. 1

!

24

B. Strafanzeige und Polizei in der Kriminologie

Auch die Einbeziehung der Tätigkeit der Polizei und der Staatsanwaltschaft wurde vor allem von Kriminologen betrieben. Die bisherigen Arbeiten haben die zentrale Stellung der richterlichen Tätigkeit betont. Die der richterlichen Entscheidung vorgelagerten Selektionsprozesse wurden vernachlässigt; die Bedeutung der Privatperson für das Strafverfahren fast völlig übersehen4 •

2. Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion in der deutschsprachigen Kriminologie Soweit private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion hierauf in der deutschsprachigen Kriminologie überhaupt untersucht wurden, sah man sie nahezu ausnahmslos als zwei Teilprobleme an. Sie schienen keiner Verknüpfung bedürftig, wiewohl ein einheitliches Geschehen vorliegt. Die Strafanzeige wurde vor allem unter dem Aspekt der privaten Kriminalitätskontrolle, der Anzeigebereitschaft, gesehen: Welche Auswahl treffen die Verbrechensopfer bei Strafanzeigen und aus welchen Gründen zeigen sie nicht alle Delikte gleichmäßig häufig an? Bemerkenswert ist, daß diese Frage nicht direkt zu klären versucht wurde; keine der größeren empirischen Dunkelfelduntersuchungen (Schwind u. a. s, Stephan 6 ) fragte danach, warum Verbrechensopfer anzeigten; gefragt wurde vielmehr, warum eine Anzeige unterblieb. Die Anzeige einer Straftat wurde als die Regel, die Nichtanzeige als "Ausnahme" definiert. Die gesamte Fragestellung, auf die Dunkelfeldproblematik abgestellt, war zudem "privatisiert"; die ermittelten Gründe sehr subjektiv. Ein strukturelles Motivmuster der Anzeigeerstattung konnte damit kaum erfaßt werden. Daneben begann man aus der Position einer sich reformerisch verstehenden "neuen Kriminologie"7, in der Strafanzeige primär ein Problem polizeilicher Selektion der Straftäter zu sehen. Doch auch hier wurde nur vereinzelt die Verknüpfung privater Verbrechenskontrolle mit polizeilicher Selektions- und Definitionsproblematik hergestellt (Brusten 8 , Weis / Müller-Bagehl 9 ). Die empirischen Arbeiten von Feest / Blankenburg lO und Kirchl l etwa handeln zwar inhaltlich teilweise von Situationen, die als mit Anzeigesituationen gleichrangig angesehen werden können. Doch haben diese Autoren sie , Vgl. aber Kaiser 1973, S. 70 ff. S Schwind u. a. 1975, S. 156 ff. e Stephan 1976, S. 191 ff. 7 Zur Auseinandersetzung mit den modernen kriminologischen Richtungen vgl. etwa Kürzinger 1974 (mit weiteren Nachweisen). 8 Brusten 1971. D Weis / MülZer-Bagehl1971, S. 187 und 189. 10 Feest / Blankenburg 1972. 11 Kirch 1973.

2. Strafanzeige und Polizei in der deutschen Kriminologie

25

nicht als eine (besondere) Form der Strafanzeige, sondern vornehmlich als "soziale Konflikte", die sie freilich auch implizieren, begriffen. Die Strafanzeige als Interaktionsgeschehen zwischen Bürger und Polizei wurde bislang im deutschsprachigen Bereich nicht behande1t1 2 • Dies führte mit dazu, daß der Stellenwert der privaten Strafanzeige für die Verbrechenskontrolle erst spät erkannt und fast nur die polizeiliche Selektion von Straftätern als eigentlicher Untersuchungsgegenstand der polizeilichen Arbeit in der Kriminologie gesehen wurde. 2.1 Private Strafanzeige und polizeiliche Reaktion als Problem der VerbrechenskontroZle

2.11 Die Bedeutung für die Dunkelfelddiskussion

Seit Oba 13 1908 in seiner Arbeit über "unverbesserliche Verbrecher und ihre Behandlung" die Dunkelziffer als wissenschaftliches Problem in die deutsche Kriminologie einführte, ist die Anzeigebereitschaft zu einem Thema der Dunkelfelddiskussion geworden, war doch die private Reaktion auf entdeckte Verbrechen wichtiger Ausgangspunkt für die Einschätzung des Ausmaßes des Dunkelfeldes überhaupt. Bereits vor den wichtigsten dieser Arbeiten (Meyer 14 1941, Wehner 15 1957, von Hentig 16 1964), die freilich dem modernen Standard empirischer Sozialforschung noch kaum genügten, sondern nur "plausible" Schlußfolgerungen aus der Analyse des ihnen zugrundeliegenden Tatsachenmaterials zogen, war die Bedeutung der Anzeigeerstattung für die Aufdekkung der Kriminalität bekannt. Schon 1867 führte Mayr 17 die mangelhafte Anzeigeerstattung auf die Geringfügigkeit der Sache und des zugefügten Schadens zurück. Damit griff er einen Gedanken auf, den Quetelet 18 1846 inhaltlich identisch formuliert hatte. Die erste der größeren deutschsprachigen Abhandlungen zum Dunkelfeld legte Meyer 19 1941 vor. Ausgehend von der Einsicht, daß die verschieden ausgeprägte Neigung der Bevölkerung zur Anzeigeerstattung, die "kriminelle Reizbarkeit des Volkes"20 einen besonderen Einfluß auf das Dunkelfeld hat, untersuchte er zwei der sie bestimmenden 12 Die einzige explizite Veröffentlichung von Fröhling 1967 behandelt nur einen unspezifischen Ausschnitt zum Themenkreis. 13

u 15

lB 17 18 19 20

Oba 1908. Meyer 1941. Wehner 1957. von Hentig 1964. Mayr 1867, S. 1. Quetelet 1846, S. 386. Meyer 1941. Meyer 1941, S. 7.

B. Strafanzeige und Polizei in der Kriminologie

26

Faktoren: Die Gründe, die jemanden davon abhalten können, Strafanzeige zu erstatten, und die tatsächliche Häufigkeit der Anzeigeerstattung für einzelne Delikte. Meyer ging davon aus, daß die Anzeigeneigung deliktspezifisch unterschiedlich stark ausgeprägt ist; dies bewirke eine unterschiedliche Tolerierung einzelner Straftaten21 • Als Motive für eine Nichtanzeige einer Straftat führt Meyer 22 an: -

Furcht vor Unannehmlichkeiten

-

mangelndes materielles Interesse an einer Überführung des Täters

-

Verneinung der Strafwürdigkeit eines Deliktes

-

entstehender Zeitverlust für den Anzeiger

-

Scham wegen der Tat

-

Mitleid mit dem Täter

-

wirtschaftliche Not des Opfers

-

Betrachtung der Straftat als Privatangelegenheit

-

mangelnde Möglichkeit der Täterermittlung

-

fehlende Sicherung des Schadensersatzes durch die Strafanzeige

-

zu geringfügiger Schaden

-

Aussichtslosigkeit der Anzeige

-

jugendliches Alter des TäteTS

-

Angst vor einer etwaigen Rache des Täters

-

Beweisschwierigkeiten für die Straftat

-

Unannehmlichkeiten einer evtl. öffentlichen Verhandlung.

Meyer nimmt ein Bündel möglicher Gründe für die Nichtanzeige an, nennt aber nur einen, der für eine Strafanzeige spreche: der besonders hohe Schaden23 • Für verschiedene Delikte gibt Meyer unterschiedliches Anzeigeverhalten an. So meint er, vorsätzliche Tötungen kämen besonders häufig, Abtreibungen aber nur in den wenigsten Fällen zur Anzeige. Bei Sittlichkeitsdelikten sei die Anzeigeneigung schwankend, da sich die Auffassung über ihre Strafwürdigkeit ständig ändere. Beim einfachen Diebstahl erstatte der Bestohlene in geringfügigen Fällen selten Anzeige, doch würden Einbruchs- und sonstige schwere Diebstähle fast immer angezeigt24 • Es könne angenommen werden, daß die Anzeigehäufigkeit ungefähr proportional mit dem zugefügten Schaden wachse25 ; bestimmte Diebstahlsdelikte würden so gut wie vollzählig angezeigt28 • Bei Raub und räuberischer Erpressung seien unangezeigt geblie21 22

23 24 25 28

Meyer Meyer Meyer Meyer Meyer Meyer

1941, S. 1941, S. 1941, S. 1941, S. 1941, S. 1941, S.

8. 7, 24 f., 29 f., 47 f. 30, 41. 30, 36, 41, 44. 30. 30.

2. Strafanzeige und Polizei in der deutschen Kriminologie

27

bene Verbrechen selten, doch die Neigung, Versuche dieser Taten anzuzeigen, sei geringer27 • Auch Wehner 28 (1957) geht in seiner Analyse der durch "Zufall" entdeckten Straftaten29 ausführlich auf die Gründe einer unterlassenen Anzeige ein. Analog den Feststellungen Meyers sieht er eine Verbindung zwischen dem Delikt und den Gründen, eine Anzeige nicht zu erstatten. Wehner stellt vor allem auf die Person des Anzeigeerstatters ab: Wer zeigt an und warum werden bestimmte Straftaten nicht angezeigt? Seine Einzelfallstudien lassen eine einigermaßen geschlossene Darstellung der Anzeigepersönlichkeit (die freilich nicht intendiert war) nicht zu, doch ist von besonderem Interesse, was Wehner in seiner Analyse der "zufällig" entdeckten Diebstähle als Begründungen für eine Nichtanzeige durch die Betroffenen mitteilt. Diese nannten u. a. folgende Motive 30 : - die Polizei könne das Diebesgut nicht wieder herbeischaffen - an der Aufklärung sei man nicht interessiert - Laufereien zur Polizei und spätere Vorladungen zum Gericht wolle man nicht - eine Anzeige sei nicht notwendig - man habe keine Vorstellung davon, was gestohlen worden sei.

Wehners Studie zeigt ebenfalls, daß die Anzeigebereitschaft offenbar stark deliktspezifisch geprägt ist. Der verwendeten Methode entsprechend sind von Hentigs 31 (1964) Ausführungen zur Anzeigeerstattung relativ unsystematisch dargestellt. Die vor allem auf (spektakulären) Einzelfällen fußende Analyse unterschiedlicher Anzeigeneigung kommt zu dem Ergebnis, daß das Leben voll von Situationen sei, die einen Rückgriff auf das Gesetz und seinen Schutz verböten: "Anzeigen sollen und dabei nicht können"32. Wer einen guten Ruf zu wahren habe, werde den Schaden nicht noch durch eine Strafanzeige mehren. Ein Heer kaltschnäuziger Erpresser lebe von Mitmenschen, für die eine Anzeige Selbstvernichtung wäre 33 • Strafanzeigen unterblieben auch aus Furcht vor sozialer Beeinträchtigung der eigenen Familien34 • Daneben gebe es noch viele andere For27 28 29

30 31

32 33 34

Meyer 1941, S. 47. Wehner 1957. Wehner 1957, S. 17 ff. Wehner 1957, S. 65 ff. von Hentig 1964. von Hentig 1964, S. 33. von Hentig 1964, S. 34 f. von Hentig 1964, S. 35.

B. Strafanzeige und Polizei in der Kriminologie

28

men der Schicksalsgemeinschaften, die Geheimnisse zu wahren hätten. Geschlossene Gruppen seien anzeigenscheu35 • Auch generell schwanke die Bereitschaft, anzuzeigen36 • Bisweilen seien die Menschen für die kleineren Verletzungen unempfindlich, weil sie andere Sorgen belasteten37• Für die einzelnen Delikte ändere sich die Anzeigebereitschaft; sie hänge zudem von den Umständen des Einzelfalles ab 38 • 2.12 Die Behandlung in Dissertationen bis 1970 Nicht selten wird die Anzeigeerstattung in Dissertationen in der Zeit vor 1970 behandelt, zumeist jedoch sehr summarisch und nur zur Abschätzung des Dunkelfeldes der von den Autoren untersuchten registrierten Kriminalität. Im übrigen nennen zwar vereinzelt Dissertationen auch Daten über konkrete Anzeigeerstatter39, doch selten und keineswegs systematisch. Es mag bezeichnend sein, daß viele Dissertationen mit der gerichtlichen Reaktion des Falles, falls eine staatliche Sanktionierung der Straftaten stattgefunden hat, beginnen. In den bisherigen kriminologischen Dissertationen, und diese stellten für die deutsche Forschung lange Zeit umfangmäßig den größten Teil dar, wurde die Anzeigeerstattung als untersuchungsbedürftig entweder überhaupt nicht gesehen oder aber sehr schnell "abgetan". Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr unterblieb. Angesichts des fehlenden Problembewußtseins ist es fast zwangsläufig, daß sich über die polizeiliche Reaktion auf private Strafanzeigen in Dissertationen soweit ersichtlich überhaupt nichts findet. 2.13 Einzelne wichtige Arbeiten Erst in den 70er Jahren wurde im deutschsprachigen Raum, wenn auch noch zögernd, verstärkt mit der empirischen Erforschung der privaten Strafanzeige und den damit zusammenhängenden Verhaltensweisen der Polizei begonnen. Möglicherweise hat mit dazu beigetragen, daß der labeling approach 1968 durch Sack in Deutschland stärker bekannt gemacht wurde40 und auf dem 1970 abgehaltenen 6. Internationalen Kongreß für Kriminologie in Madrid die Reaktionsmittel auf das Verbrechen mehr in das Blickfeld geraten sind, wie Kongreßbeiträge 35 36

37

38 39

40

1964, S. 40 und 52. 1964, S. 50. 1964, S. 50. 1964, S. 61 ff., 84, 86, 89. So beispielsweise Gerbener 1966; Kürzinger 1970, S. 287 ff. Sack 1968. von von von von

Hentig Hentig Hentig Hentig

2. Strafanzeige und Polizei in der deutschen Kriminologie

29

etwa von Ciale 4 t, Eisenberg 42 , Szabo 43 und Törnud.d 44 deutlich werden lassen. Die erste empirische Untersuchung unmittelbar zur Anzeigeerstattung legten 1971 Weis / Müller-Bagehl 45 vor. In ihrer Studie bezogen sie alle erfolgreichen Strafanzeigen eines Polizeireviers in Saarbrücken der ersten vier Monate des Jahres 1971 ein. Es handelte sich dabei um insgesamt 398 Strafanzeigen, die 459 Delikte betrafen46 • Weis / MüHer-Bagehl ermittelten, daß 71 Ofo dieser Delikte von Privatpersonen angezeigt wurden; die restlichen 29 % zeigte die Polizei von Amts wegen an. Von diesen Amtsanzeigen betrafen mindestens 52 % Delikte im Straßenverkehr. Bei den privaten Strafanzeigen betrug der Anteil dieser Straftaten nur 2 %47. Die unterschiedliche Häufigkeit ist statistisch hoch signifikant48 • Bei 43 % der angezeigten Delikte wurde die Anzeige gegen bekannte Tatverdächtige erstattet. Erwartungsgemäß schwankte die Nennung von Tatverdächtigten dabei sehr, je nachdem, ob die Strafanzeige von einer Privatperson erstattet wurde oder unmittelbar durch die Polizei herrührte. Bei 28 % der von privater Seite angezeigten Delikte wurde ein Täter genannt, bei den von der Polizei von Amts wegen erstatteten Anzeigen in 84 % der Fälle49 • Auch dieser Unterschied ist statistisch hoch signifikant 50 • Offensichtlich zeigte die Polizei aus eigenem Entschluß vor allem dann an, wenn sie auch einen Täter ermittelt hatte. Dies mag daran liegen, daß sie in der Regel nur dann ohne Zutun Dritter von einer Straftat Kenntnis erlangt, wenn sie Tat und Täter gleichzeitig entdeckt. Die unterschiedliche Häufigkeit der Tatverdächtigtennennungen liegt jedenfalls nicht an den Verkehrsdelikten, deren Anzeige vor allem von der Polizei herrührt und deren Täter meist bekannt sind. Denn läßt man die offensichtlichen Verkehrsdelikte außer Betracht, dann ist nur bei 26 Ofo der von Privaten angezeigten Delikte ein Tatverdächtigter bekannt, aber bei 81 % derer, die von Amts wegen angezeigt wurden51 • Die Anzahl der bekannten Tatverdächtigten ändert sich also nur unwesentlich; die Zahl der Verkehrsdelikte zeigte keinen Einfluß auf die Häufigkeit der bekannten Tatverdächtigten. Die Kenntnis eines Tatverdächtigten bei Privatpersonen steht mit dem zur Anzeige gelangten Delikt

Ciale 1973, S. 466. Eisenberg 1973, 437. 43 Szabo 1973, S. 29 f., 32 f. 44 Törnudd 1973, 411 f. 45 Weis / Müller-BagehI1971, S. 187 und 189. 48 Weis / MüHer-Bagehl 1971, S. 186. 47 Weis / Müller-Bagehl 1971, S. 187 und 189; berechnet vom Verfasser nach den Abgaben auf den S. 187 und 188. 41

42

48 Diese Signifikanz und die übrigen wurden vom Verfasser anhand der mitgeteilten absoluten Zahlen von Weis / MüHer-Bagehl mit dem ChiQuadrat-Test selbst errechnet. 49 Berechnet nach Angaben von Weis / MüHer-Bagehl 1971, S. 187 und 188; als Verkehrsdelikte wurden die Straftaten der Nr. 13 bis 16 eingestuft.

50

51

x2

=

130, 91;

df 1, p

< .001.

Berechnung des Verfassers anhand der Tabellen auf S. 187 f. bei Weis /

MüHer-Bagehl 1971.

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B. Strafanzeige und Polizei in der Kriminologie

in Verbindung. So zeigt sich, vergleicht man die Quote der bekannten Tatverdächtigten bei Eigentums- und Vermögensdelikten mit den Delikten, die mit einer Verletzung der körperlichen Integrität oder/und der persönlichen Sphäre des Opfers einhergehen, daß bei jenen in 18 % der Fälle ein Tatverdächtigter genannt wurde, bei den Delikten gegen körperliche Integrität und/oder persönliche Sphäre aber nur in 81 Ufo52. Dieser Unterschied ist statistisch hoch signifikant53. Weis / MüUer-Bagehl versuchten, auch die Motivationen für die Anzeigeerstattung aus den Akten zu rekonstruieren. Dabei ermittelten sie folgende Bestimmungsgründe für eine Strafanzeige: Abschreckung, Bestrafung des Täters, übelzufügung, überwindung von Angstsituationen, um dem Tatverdächtigten "eins auszuwischen"54. Eine Gewichtung nach Häufigkeit und Erheblichkeit der Gründe konnten die Autoren anhand ihres Materials nicht vornehmen, doch glauben sie, daß Strafanzeigen in aller Regel von mehreren Motiven getragen sind. Der staatliche Selektionsmechanismus scheint in vielen Fällen von den Bürgern weniger zur Ahndung einer Straftat, sondern eher als ein Mittel zur persönlichen Rache ausgenutzt zu werden. Die Angezeigten seien nach zufälligen und sachfremden Motiven ausgewählt. Man könne annehmen, daß die Motive für die Erstattung privater Strafanzeigen von Delikt zu Delikt im Hauptmotiv abwichen55. Nicht klären konnten Weis I MüHer-Bagehl 56, wieweit StrafanzeigenSanktionsmittel zwischen sozial Gleichen oder Ungleichen darstellen. Ebenfalls 1971 analysierte Brusten 57 die "Anzeigeerstattung als Selektionsinstrument im Kriminalisierungsprozeß". Diese Analyse ist als kritische Anmerkung und ergänzende überlegung zu Weis / MüllerBagehl gedacht58 • Eigene empirische Daten liegen ihr nicht zugrunde. Brusten geht davon aus, daß eine Analyse der Anzeigeerstattung als wesentlicher Beitrag zur Konzeption des labeling approach gewertet werden müsse. Anzeigeerstattung sei eine Form sozialer Kontrolle, die dem offiziellformellen Sanktionsvollzug der Instanzen vorangehe. Dieser lege die Vermutung nahe, daß bestimmte Selektionsprozesse bereits weit vor dem Eingreifen der Instanzen stattfänden. Wenn aber private Strafanzeigen in nachweisbarer Weise wesentlich mit dazu beitrügen, daß die in der kriminologischen Forschung immer aufs neue untersuchten "Täter" nicht die Normbrecher unserer Gesellschaft seien, sondern nur die "Teilgruppe" der dingfest gemachten mit ihren erweislich höchst besonderen Merkmalen, dann liege die Bedeutung von Untersuchungen zum Anzeigeverhalten auf der Hand. Damit werde auch dem verschiedentlich geäußerten Einwand Rechnung getragen, die Vertreter des labeling approach griffen in ihrem Bemühen um eine Revision herrschender Kriminalitätstheorien letztlich zu kurz, wenn sie ihr Interesse auf das Sanktionsverhalten der Instanzen sozialer Kontrolle beschränkten, ohne die diesen bereits vorgelagerten Sanktionsprozesse mit in 52

Berechnet vom Verfasser anhand der Tabellen bei Weis I MüHer-Bagehl

1971, S. 188. 53 x 2 = 64, 75; dj 1; p < .00l. 54 Weis / MüHer-Bagehl1971, S. 189 ff. 55 Weis / Müller-Bagehl1971, S. 185. 56 Weis I MüHer-Bagehl1971, S. 185. 57 Brusten 1971. 58 So der Untertitel der Analyse; vgl. Brusten 1971.

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ihren Bezugsrahmen einzubeziehen59 • Brusten kritisiert 60 deshalb, daß Weis I Müller-Bagehl auf eine Vielzahl von persönlichen Motiven zurückgriffen, die zur Erstattung von Anzeigen führen könnten, statt über sozialstrukturelle Faktoren der Anzeigeerstattung nachzudenken: "Wer unter welchen Umständen gegen wen weshalb und mit welchen Erfolgschancen Anzeige" erstatte. Die Anzeigeerstattung müsse als Sanktionshandlung vor dem Hintergrund der sozialen Machtstrukturen zwischen Opfer bzw. Beobachter des Normbruches und dem Normbrecher gesehen werden. Es sei zu untersuchen, welche sozialen "Gepflogenheiten" und Erwartungen innerhalb und zwischen den sozialen Schichten· und Gruppen der Bevölkerung des Sanktionsverhalten des potentiellen Anzeigeerstatters bestimmten61 • Als weitere Faktoren dürften insbesondere der soziale Status der Polizei und die allgemeine Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen eine entscheidende Rolle spielen62 • 1972 legte Heinz 63 eine Untersuchung über "Bestimmungsgründe der Anzeigebereitschaft des Opfers" als Sekundäranalyse von hauptsächlich in Deutschland und den USA entstandenen Arbeiten vor. Dabei versucht er, die Gründe für die Anzeigebereitschaft des Opfers aus dem Beziehungsverhältnis Täter-Opfer-Sanktionsinstanz herauszuarbeiten und zu überprüfen, ob und inwieweit hierdurch für den Täter eine differentielle Wahrscheinlichkeit begründet wird, angezeigt zu werden und damit dem Zugriff der Sanktions instanzen zu unterliegen64 • Unter Bestimmungsgründen der Anzeigebereitschaft versteht Heinz 65 sowohl anzeigefördernde als auch -hemmende Gründe. Ziel der Arbeit könne es lediglich sein, Hypothesen zu bilden, die sich durch sekundäranalytisch gewonnene Daten belegen ließen. Ausgangspunkt seien die anzeigebeeinflussenden Strukturen der Anzeigeerstattung. Heinz glaubt86 , daß es bestimmte Strukturen in den Beziehungen zwischen Täter-Opfer-Sanktionsinstanz gebe, die eine jeweils unterschiedliche Anzeigewahrscheinlichkeit begründen könnten. Bisherige Untersuchungen hätten gezeigt, daß es Deliktskonstellationen gebe, die nach Ansicht des Opfers "Privatangelegenheiten" seien und die Polizei nichts angingen. Aber auch bei den prinzipiell anzeigbaren Deliktskonstellationen werde der mit einer Anzeige verbundene persönliche, zeitliche und finanzielle Aufwand abgewogen gegenüber den voraussichtlichen Ergebnissen der Anzeige. Wo diese Toleranzgrenze, von der ab das Interesse an der Verfolgung von Tat und Täter den mit einer Anzeige verbundenen Aufwand übersteige, liege, ließe sich nicht allgemein sagen 67 • Soziale Merkmale des Opfers, die besondere Deliktskonstellation, 59

80 81 62 83 84

65 86 87

Brusten 1971, S. 248 und 257. Brusten 1971, S. 248 f. Brusten 1971, S. 252 f. Brusten 1971, S. 254. H einz 1972. Heinz 1972, S. 7. Heinz 1972, S. 7. Heinz 1972, S. 9. Heinz 1972, S. 58 f.

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B. Strafanzeige und Polizei in der Kriminologie

Art und Schwere des Delikts, Beziehung zwischen Täter und Opfer und zwischen Opfer und Polizei dürften darauf Einfluß haben68 •

Als Ergebnis läßt sich nach Heinz festhalten 69 , daß eine ausgeprägte Rangordnung der Delikte entsprechend ihrem Schweregrad durch die Gesellschaftsmitglieder ermittelt werden könne. Ungeklärt sei, ob die Anzeigebereitschaft um so größer sei, als je schwerer sich das Delikt erweise. Untersuchungsresultate deuteten darauf hin, daß mit zunehmender Enge des Bekanntheitsgrades zwischen Täter und Opfer die Wahrscheinlichkeit, angezeigt zu werden, sich auf die schwereren und schwersten Formen eines Deliktes beschränke70 • Die Gemeinsamkeit der Gruppenzugehörigkeit wirke als anzeigehemmender Faktor. Auch die Zugehörigkeit des Opfers zu subkulturellen Gruppen, die Verübung der Kriminalität in einer Primärgruppe oder in einer durch Solidarität der Gruppenmitglieder gekennzeichneten Sekundärgruppe hemme die Anzeigebereitschaft, da zumindest der Tendenz nach jede polizeiliche Handlung als unzulässige Einmischung abgelehnt würde71 • Ebenso beeinflußten die Beziehungen zwischen Opfer und Polizei die Anzeigebereitschaft72 • Es könne aber gesagt werden, daß nicht nur ein Faktor über Anzeige oder Nichtanzeige entscheide 73 • 1975 wurde eine empirische Studie "Dunkelfeldforschung in Göttingen 1973/74" von Schwind u. a. 74 veröffentlicht. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, die eine aus 1264 Personen bestehende und für die Göttinger Bevölkerung repräsentative Probandengruppe erfaßt, beinhalten auch eine Analyse des Anzeigeverhaltens der Bevölkerung (Motivationsanalyse), bei der freilich nicht die Gründe für eine Strafanzeige erfaßt wurden, sondern die Motive ermittelt wurden, die Opfer von Straftaten veranlassen, eine Straftat nicht bei der Polizei anzuzeigen75 • Bei der Motivierung der Nichtanzeige wurde an erster Stelle "Abneigung gegen Behörden" genannt, es folgte "geringer Schaden", "persönliche Nachteile", "Ineffektivität der Strafverfolgung" und an fünfter Stelle "Rücksicht auf den Täter". über die Hälfte aller Nennungen bezeichnen persönliche Nachteile der Anzeigenden sowie die Abneigung, sich an Behörden zu wenden, als wesentlichen Grund, der "andere Menschen" von einer Strafanzeige abhalten könne. Zu einem Fünftel wurden auch Gründe angegeben, die auf mangelndes Interesse an einer Anzeigeerstattung wegen zu geringen Opfer68

69 70 71

72 73

74 75

Heinz 1972, S. 59. H einz 1972, S. 86. Heinz 1972, S. 96. Heinz 1972, S. 99 ff. und 107 ff. Heinz 1972, S. 133. Heinz 1972, S. 137. Schwind u. a. 1975. Schwind u. a. 1975, 195.

2. Strafanzeige und Polizei in der deutschen Kriminologie

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schadens schließen lassen78 • Bei den Motiven bestanden zwischen Opfern und Nichtopfern einer Straftat keine Unterschiede 77 • Differenzen in der Motivierung zeigten sich allerdings zwischen Anzeigern und Nichtanzeigern. Ein Drittel der Anzeige-Unerfahrenen hielt die persönlichen Nachteile für ausschlaggebend, während dieses Argument bei den Anzeige-Erfahrenen von nur knapp einem Viertel angegeben wurde. Diese maßen aber der persönlichen Abneigung gegenüber Behörden größere Bedeutung bei. Das Motiv "Ineffektivität der Strafverfolgung" war für Anzeige-Erfahrene dagegen relevanter. Verglichen wurden auch die Antworten der Probanden, die keinen Anzeigeerfolg hatten mit solchen, die erfolgreich waren. Hier ließen sich zwar Unterschiede in den Motiven statistisch nicht absichern, doch ergab sich, daß die Kategorie "geringer Schaden" für Probanden ohne Anzeigeerfolg bedeutsamer war. Probanden mit Anzeigeerfolg hielten persönliche Nachteile und Abneigung gegen Behörden für wichtige Gründe, von einer Strafanzeige abzusehen78 • Schwind u. a. haben dann einen Vergleich der allgemeinen mit den konkreten Motiven von Opfern eines Diebstahles vorgenommen und ermittelt, daß die übereinstimmung der allgemeinen mit den konkreten Motiven sehr gering war. Nicht die persönlichen Nachteile und auch nicht eine Abneigung gegen Behörden hielten im konkreten Fall am häufigsten von einer Anzeige ab; bestimmendes Motiv war die Geringfügigkeit des Opferschadens. Die Verteilung der Motivkatagorien stand in statistisch signifikanter Abhängigkeit vom Wert der gestohlenen Sache78 • Die erwartete Ineffektivität der Strafverfolgungsorgane spielte bei höheren Diebstahlschäden eine größere Rolle und hielt verstärkt von einer Anzeige ab 80 • Eine signifikante Beziehung zwischen der sozialen Schichtzugehorigkeit und einer bestimmten Motivation, im konkreten Diebstahlsfall nicht anzuzeigen, war nicht nachweisbar 8!. In sozial benachteiligten Schichten war Rücksichtnahme auf den Täter im konkreten Fall ein wesentlich häufigeres Motiv 82 • Die Anzeigebereitschaft korrelierte mit dem sozio-ökonomischen Status des Probanden: Je höher die Schicht, desto häufiger wurde angezeigt83 • Auch das Alter spielte hierfür eine Rolle: Die Anzeigebereitschaft wurde mit steigendem Alter zunächst größer, fiel aber bei Probanden, die älter als fünfzig Jahre waren, wieder ab. Für die Motivierung der Nichtanzeige war das Alter von Bedeutung84 • Keinen Einfluß auf die Anzeigebereitschaft und die vorherrschenden Motive, nicht anzuzeigen, hatten aber Geschlecht, Familienstand und Beruf des Opfers85 • Nach Schwind u. a. ist die Anzeigebereitschaft unabhängig von dem beschriebenen Motivkomplex zunächst einfach eine Funktion des konkret erlittenen Schadens und der besonderen sozialen Situation des Opfers. Das Opfer erstelle eine psychologische Kosten-Nutzen-Analyse. 78 77 78 78

80

8! 82 83 84

85

Schwind Schwind Schwind Schwind Schwind Schwind Schwind Schwind Schwind Schwind

3 Kürzinger

u. a. u. a. u. a. u. a. u. a. u. a. u. a. u. a. u. a. u. a.

1975, 1975, 1975, 1975, 1975, 1975, 1975, 1975, 1975, 1975,

S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

200 f. 20l. 202 ff. 207 f. 209. 209. 210. 209 f. 210. 210.

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B. Strafanzeige und Polizei in der Kriminologie

Erfahrungen mit erfolglosen Anzeigen unterstützten das Motiv, wegen Ineffektivität der Strafverfolgungsorgane künftig von einer Anzeige abzusehen. Angezeigt werde (nur), wenn eine starke subjektive Beeinträchtigung vorliege. Der Weg zur Anzeige sei eine Barriere, die Zeit koste und Unannehmlichkeiten verursache. Solange das Opfer keine persönlichen Erfolge oder Vorteile aus einer Strafanzeige erhoffen könne, werde keine anzeigenmotivierende Wirkung freigesetzt. Der Weg zur Polizei nur deshalb, weil "die Gesetze das so wollen", scheine ein "seltenes Ereignis" zu sein86 • Die 1976 von Stephan 87 vorgelegte Untersuchung über das Opferverhalten der Stuttgarter Bevölkerung setzt sich ebenfalls ausführlicher mit (nach eigenen Angaben) Opfern von Straftaten auseinander und versucht zu ermitteln, warum ein Teil der Opfer krimineller Handlungen diese nicht angezeigt hat. An dieser Erhebung, die 1973 durchgeführt wurde, nahmen 1073 Personen teil. Die Bereitschaft der Befragten, eine Straftat bei der Polizei anzuzeigen, erwies sich als deliktspezifisch. Die berichtete Anzeige- bzw. Meldebereitschaft variierte je nach Deliktsart erheblich88 • Das Ausmaß der Schädigung erwies sich als bedeutsam für die Anzeigebereitschaft. Ihre Abhängigkeit von der Schadenshöhe ließ sich statistisch absichern: Je höher der Schaden, desto eher war man anzeigebereit89 • Bei nicht selbst erlittenen Verbrechen war die Anzeigebereitschaft deutlich niedriger90 • Als Gründe für die Nichtmeldung wurden vor allem genannt: Zu geringer Schaden (49010) und fehlende Erfolgsaussicht der Strafanzeige (26010)91. Die Gründe für eine Nichtanzeige wichen für einzelne Deliktsarten nur gering voneinander ab. Die Schichtzugehörigkeit der Befragten erwies sich als bedeutsam. Bei Eigentumsdelikten zeigten Angehörige der unteren Schichten die niedrigste Anzeigebereitschaft. Angehörige höherer sozialer Schichten tendierten eher dazu, sie anzuzeigen92 • In den Begründungen der Nichtanzeige zeigten sich bei den sozialen Schichten keine Unterschiede. Die Abhängigkeit der Anzeigeneigung von einer bestehenden Diebstahlsversicherung schien nicht sehr groß zu seinn . Die Anzeigebereitschaft war bei Diebstahlsdelikten weitgehend unabhängig von der Häufigkeit der Opfersituationen in den jeweiligen sozialen Schichten der Befragten94 • Obwohl Angehörige höherer sozialer Schichten mit 48010 den größten Anteil stellten (gegenüber der mittleren Mittelschicht mit 31010), war die Anzeigebereitschaft bei den oberen Schichten Schwind u. a. 1975, S. 211 ff. Stephan 1976. 88 Stephan 1976, S. 194 ff. 89 Stephan 1976, S. 214. vo Stephan 1976, S. 198. 91 Stephan 1976, S. 201. 92 Stephan 1976, S. 204. 93 Stephan 1976, S. 204. 94 Stephan 1976, S. 212 f. 86

87

2. Strafanzeige und Polizei in der deutschen Kriminologie

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wesentlich niedriger. Andererseits brachten Angehörige oberer Schichten etwas häufiger Diebstahlsdelikte zur Anzeige als Angehörige der unteren Schichten. Dies entsprach ihrer vergleichsweise höheren Schädigungsrate95 •

Stephan hat in seiner Untersuchung erstmals für den deutschsprachigen Bereich auch Persönlichkeitsdimensionen der Anzeigeerstatter und Nichtanzeigeerstatter erfaßt. Freilich hat er sich dabei bei der Klassifizierung der Probandengruppen darauf verlassen müssen, daß die Angaben der Befragten zutreffend waren. Da die eigene Untersuchung bei polizeilich registrierten Anzeigeerstattern aber ergab, daß fast 30 0/0 eine Strafanzeige in Abrede stellten, kann man anzweifeln, ob Stephan tatsächlich Anzeigeerstatter erfaßt hat oder nicht nur jene, die sich so b ezeich neten. Die Untersuchung förderte zwei Typen von Anzeigeerstattern9S zutage. Der erste Typ wird so beschrieben: Personen, die irritierbar, leicht enttäuscht und verärgert sind, die dabei gleichzeitig ungezwungen und selbstsicher sind und kontaktbedürftig, umgänglich und lebhaft, unternehmungslustig und durchsetzungsfähig. Für den zweiten Typ ergab sich folgendes: Anzeigeerstatter sind Personen, die selbstvertrauend, optimistisch und zu autoritärkonformistischem Denken und Aggressivität in gesellschaftlich noch erlaubten Formen neigen, die wenig kontaktbedürftig, eher sach- als personenbezogen und emotional stabil, also ausgeglichen sind. Entsprechend ist die Beschreibung der Persönlichkeitstypen der Nichtanzeigeerstatter91 • Typ 1 charakterisiert Stephan wie folgt: Personen, die irritierbar, leicht enttäuscht und verärgert sind, gleichzeitig ungehemmt, selbstsicher und wenig kontaktbedürftig, eher sach- als personenbezogen sind und den oberen drei sozialen Schichten angehören; den Typ 2 als Personen, die irritierbar, leicht enttäuscht, verärgert und schüchtern, entscheidungsunsicher und ängstlich sind und nur Volksschulabschluß haben. Im übrigen unterschieden sich die Gruppen der Anzeigeerstatter und Nichtanzeigeerstatter sehr signifikant in der Einschätzung der Kriminalität. Durch Bildung von Kontrastgruppen zur Anzeigeerstattung und Nichtanzeigeerstattung hinsichtlich der Einstellung zur Kriminalität hat Stephan98 den typischen Anzeiger und Nichtanzeiger ermittelt. Der typische Anzeiger ist demnach gekennzeichnet durch fehlende Sorge vor einem persönlichen Angriff, der Ansicht, daß die Aussage, "den Verbrechern würden immer mehr Rechte eingeräumt", ziemlich falsch sei und durch die Meinung, daß Autodiebstähle eher häufiger geworden seien. Der typische Nichtanzeigeerstatter dagegen ist gekennzeichnet durch Sorge vor einem persönlichen Angriff und einer erhöhten Einschätzung der Bedeutung der Kriminalität. Die Untersuchung ergab auch, daß sich zwischen den Einstellungsfragen zur Polizei und der Variablen Anzeigeerstatter/Nichtanzeigeerstatter eine Reihe enger Zusammenhänge zeigten 99 • Anzeigeerstatter hatten zwar zum 95 9S

91 98 99

Stephan Stephan Stephan Stephan Stephan

1976, S. 1976, S. 1976, S. 1976, S. 1976, S.

204 ff. 306 f. 307. 311 ff. 313 f.

B. Strafanzeige und Polizei in der Kriminologie

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Teil eine positivere Einstellung gegenüber der Polizei als Personen, die keine Anzeige erstattet hatten, aber auch bei ihnen fanden sich eine Reihe von kritischen Akzenten. Die Kontrastgruppenanalyse ergab folgende Typen: Der typische Anzeigeerstatter100 ist der Meinung, daß die Polizei nicht nach dem Spruch handle, die Kleinen hänge man, die Großen lasse man laufen, daß sie aber Große und Mächtige nicht gleich behandle wie Arme und Schwache, und daß sie viel zu viel Arbeit habe. Dagegen ist der typische Anzeige-Nichterstatter101 der Auffassung, die Polizei handle nach dem Spruch, "Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen"; er ist der Ansicht, daß die Polizei die meiste Zeit damit verbringe, kleinen Leuten nachzulaufen und die wirklich großen Verbrecher laufen zu lassen; er hält den Spruch "Die Polizei, Dein Freund und Helfer" eher für falsch und ist dennoch der Ansicht, daß Polizeibeamte im allgemeinen freundlich seien. Thematisch mit dem Problem der Anzeigeerstattung der Bevölkerung eng verknüpft ist auch eine derzeit (1977) sich noch in Auswertung befindliche Untersuchung von Macnaughton-Smith 102 über die Vorstellungen der Bevölkerung von kriminalisierbaren Situationen. Macnaughton-Smith geht davon aus, daß es einen empirischen Begriff der Kriminalität in der Bevölkerung, der nicht mit dem Gesetzesbegriff oder dem der Instanzen sozialer Kontrolle identisch zu sein brauche, einen "seco nd code", gebe103 • Die Vorstellung von Befragten darüber, was sie als Verbrechen ansehen, war dah~r einer der Hauptgegenstände der Studie, bei der 1975 in Freiburg 98 Probanden interviewt und deren Antworten auf Tonband aufgezeichnet für eine Inhaltsanalyse transkribiert wurden. Erste Ergebnisse104 der inhaltsanalytischen Auswertung der Transkripte zeigen, daß die grundlegende Vorstellung darüber, in welchen Situationen die Befragten glaubten, daß sie selbst oder Dritte die Polizei rufen würden, einfach sind: Sie rufen die Polizei zu Verkehrsunfällen und erwarten, daß sie kommt und Hilfe leistet. Die Polizei, die Öffentlichkeit und der Verkehrsstraftäter haben nach Ansicht der Befragten " Pflichten". Besonders bemerkenswert hält es Macnaughton-Smith, daß nur ein einziges Wort, das sich unzweideutig auf ein Verbrechen bezieht, nämlich "Einbruch", von mehr als der Hälfte der Befragten benutzt wurde. Anhand der in den Interviews formulierten Vorstellungen kann gefolgert werden, daß sich kein allgemein herrschendes Konzept des Verbrechens finden läßt. Klar formulierte allgemeine Ansichten über Kriminalität und Kriminalisierung waren nur bei einer Minorität festzustellen. Nach ihren eigenen Angaben riefen die Befragten selbst die Polizei bei: besonderen Notfällen ........................ 25,5 Ofo der Probanden Delikten gegen Eigentum und Vermögen .... 25,5 Ofo der Probanden 100 101 102 103 104

Stephan 1976, S. 313. Stephan 1976, S. 313 f. Macnaughton-Smith 1976. Macnaughton-Smith 1968; Macnaughton-Smith 1975. Macnaughton-Smith 1968 und 1975.

2. Strafanzeige und Polizei in der deutschen Kriminologie

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Delikten gegen die Person .................... 11,2 Ofo der Probanden Ruhestörungen und Hausfriedensbruch ......

6,10f0 der Probanden

anderen Angelegenheiten (außer Straftaten) ..

8,2 Ofo der Probanden

anderen Straftaten ..........................

6,10f0 der Probanden

36 Ofo der Befragten erklärten, selbst noch nie die Polizei gerufen zu haben.

Diese Ergebnisse legen die Vermutung nahe, daß dem "Ruf nach der Polizei" zum unmittelbaren Einsatz durch die Bevölkerung kein geschlossenes Konzept der Kriminalität zugrunde liegt. Die Polizei wird offensichtlich gerufen, wenn eine Situation vorliegt, in der man glaubt, ihre Hilfe zu brauchen. Dies zeigen schon die relativ häufigen Angaben zu den besonderen Notfällen. Zur Kategorie "Hilfeleistung" zählen wohl auch Vorfälle, die Straftaten implizieren. Hier scheint die Polizei ebenfalls "Helfer" zu sein (und nicht so sehr Strafverfolger), da man sie (wohl mangels anderer Hilfsinstanzen) ruft. Für ein Rufen der Polizei dürfte die "Notsituation" des Betroffenen (oder eines Dritten) von ausschlaggebender Bedeutung sein. Die Untersuchung zur Betriebsjustiz in baden-württembergischen Betrieben, die von Kaiser / Metzger-Pregizer 1976 publiziert wurde105 , ergab, daß von den 201 ermittelten Delikten nur 19 Ofo der Polizei zur Kenntnis gebracht wurden; gleichwohl führten 13 Ofo der Meldungen nicht zu einer Strafanzeige. Somit wurde schließlich wegen 16 Ofo aller Delikte Strafanzeige erstattett06 • Die Begründungen, warum Betriebe die Polizei einschalteten, lassen sich nach Kaiser / Metzger-Pregizer 107 in drei Gruppen differenzieren: Hilfe bei der Aufklärung eines Vorfalls mit unbekanntem Täter, Hilfe bei der überführung eines Verdächtigten bzw. Sanktionierung des Verdächtigten durch die staatliche Justiz und Sanktionierung dieses Täters durch die staatliche Justiz. Die Einschaltung der Polizei schien nicht deliktspezifisch zu sein; Unterschiede zwischen Eigentumsdelikten und Delikten gegen die Person fanden sich nicht. Wer Opfer des Verstoßes war (Betrieb oder Arbeitskollege), war nicht bedeutsam. Als Motiv für die Benachrichtigung wurden am häufigsten Schadenshöhe, Aufklärung bzw. überführung eines Verdächtigten, Abschreckung und Einleitung einer Hausdurchsuchung genannt. Als Begründung für eine Nichtbenachrichtigung der Polizei wurden angegeben: Bagatellfall, Prinzip der Selbstregelung, Tätermerkmale (guter Arbeiter, Jugendlicher, Familienvater), Betriebsprinzip, die Polizei nicht einzuschalten, gelungene Tataufklärung im Betrieb, Schadenswiedergutmachung und Vermeidung einer Doppelbestrafung. Ob Strafanzeige gestellt wurde oder nicht, hing sehr signifikant vom Alter des Verdächtigten ab: Zunächst stieg die Anzahl der Fälle, die mit einer Strafanzeige endeten, kontinuierlich an, fiel aber in der Gruppe der über 50jährigen wieder stark ab. Waren dem Be105 lOS

107

Kaiser / Metzger-Pregizer 1976. Kaiser / Metzger-Pregizer 1976, S. 198 ff. Kaiser I Metzger-Pregizer 1976, S. 199 ff.

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trieb finanzielle Schwierigkeiten des Täters bekannt, war er auch eher bereit, die staatliche Justiz einzuschalten. Die Entscheidung, ob angezeigt wird oder nicht, schien aber mehr fallspezifisch orientiert zu sein l08.

Kaiser / Metzger-Pregizer ermittelten drei weitere wichtige Gründe dafür, daß Betriebe die Justiz nicht einschalteten: Zum einen seien Betriebe eher skeptisch, ob Polizei und Staatsanwaltschaft bei Ermittlungen mehr Erfolg haben als die betriebs interne Aufklärung. Zum anderen sei es häufig der Bagatellcharakter der Verstöße, der von einer Anzeige absehen lasse. Oft bezögen die Betriebe die soziale und betriebliche Situation des Täters in ihre Überlegungen mit ein und verzichteten aus diesen (täterspezifischen) Gründen auf eine Strafanzeige bei der Polizep09. Innerbetrieblich bestehe bei Arbeitnehmern eine deutliche Abneigung, normwidriges Verhalten als sanktionswürdig oder gar als kriminell zu bewerten. Insbesondere werde die strikte Verurteilung von unerwünschten Handlungsweisen gemieden, um die Vertrauensbasis des beruflichen Zusammenlebens nicht zu gefährden. Dementsprechend beschränke sich das Melden von Vorfällen auf schwerwiegende Delikte. Es erfolge am ehesten durch im Betrieb unterprivilegierte Personen. Der Widerstand gegen das Melden von Vorfällen bestehe sowohl seitens der betroffenen Personen als auch der vorgesetzten Instanzen einschließlich des Betriebsratesl1o . Untersuchungen zur Anzeigebereitschaft von Straftaten durch die Betriebe waren bereits in anderen Studien zur Betriebskriminalität kursorisch mitgeteilt worden. Schon damals zeigte sich, daß die Anzeigebereitschaft generell nicht als sehr hoch angesehen werden mußte. So wurden zwischen 6 0/0 111 und 830/0 112 der entdeckten Taten angezeigt113 •

Blankenburg / Sessar / Steffen 114 erhoben in ihrer Untersuchung zur Sanktionspraxis der Staatsanwaltschaft (1976) auch Daten über Strafanzeigen. Dieser Untersuchung liegen 6500 Fälle bei acht Staatsanwaltschaften der Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1970 zugrunde. Die ausgewählten Verfahren sind für die erfaßten Delikte repräsentativ. Die Autoren stellten fest 115, daß die Anzeigeerstattung deliktspezifisch ist. Am häufigsten zeigten die Opfer der Straftaten - die Werte lagen zwischen 73 Ufo (Notzucht) und 86 Ufo (einfacher Diebstahl) - selbst an. Dritte erstatteten 108 Kaiser / Metzger-Pregizer 1976, S. 203 ff. 109 Kaiser / Metzger-Pregizer 1976, S. 201. 110 Kaiser / Metzger-Pregizer 1976, S. 228 f. 111 Beyer 1963, S. 97. 112 Neuhoff 1957, S. 25. 113 Im folgenden sind (in Klammern) die Anzeigequoten wiedergegeben, die in früheren Untersuchungen zur Betriebsjustiz ermittelt wurden: Beyer 1963, S. 97 (6 Ufo und 16 Ufo); Bovermann 1969, S. 50 f. (2 Ufo und 23 Ufo); Goos 1963, S. 33 (13 Ufo); Haas 1964, S. 43 (6,5 Ufo und 21 Ufo); Iversen 1966, S. 50 (12 Ufo); Lisiecki 1965, S. 48 und 64 (5 Ufo und 20 Ufo); Neuhoff 1957, S. 25 (31 Ufo und 83 Ufo); Schmidt 1963, S. 106 (17 Ufo); Servatius 1964, S. 101 (12 Ufo). 114 Blankenburg / Sessar / Steffen 1976. 115 Blankenburg / Sessar / Steffen 1976.

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zwischen 7 % (einfacher Diebstahl, Betrug, Unterschlagung) bis 14 Ofo (schwerer Diebstahl, Notzucht) der Fälle Strafanzeige. Aufgrund unmittelbarer polizeilicher Tätigkeit wurden zwischen 4 Ofo (Betrug, Raub) und 7 Ofo (schwerer Diebstahl) der Delikte zur Anzeige gebracht. Andere Anzeigergruppen spielten keine Rolle. Der Unterschied der Häufigkeit der Strafanzeigen von Opfern und Dritten ist bezüglich der erfaßten Delikte statistisch hochsignifikant 1te• Die Straftaten wurden zumeist bei der Polizei angezeigt, nur relativ selten bei der Staatsanwaltschaft. Diese Anzeigepraxis war deliktspezifisch. Die Anzeigequote bei der Polizei schwankte zwischen 98 Ofo (Notzucht, schwerer Diebstahl) und 78 Ofo (Betrug). Entsprechend fanden sich für die Staatsanwaltschaft Anzeigequoten zwischen 10f0 (schwerer Diebstahl, Notzucht) und 20 Ofo (Betrug). Diese unterschiedlichen Häufigkeiten sind statistisch hochsignifikant117• In einer Untersuchung hat Blankenburg 118 1969 bei der Auswertung von Unterlagen über 398 Ladendiebstähle eines Warenhauses und eines Lebensmitteleinzelhandelsunternehmens mit einer größeren Anzahl von Filialen in Freiburg ermittelt, daß 50 % aller Ladendiebe bei der Polizei angezeigt wurden119 • Die Anzeigefreudigkeit variierte unter den Warenhäusern sehr. Inzwischen bildete sich aber offensichtlich die Praxis heraus, Ladendiebstähle grundsätzlich anzuzeigen. Nach den Feststellungen Blankenburgs 120 hing die Anzeigeneigung der Warenhäuser vom Alter der Täter ab. Kinder, Jugendliche und alte Leute wurden deutlich weniger häufig angezeigt als andere. Die Anzeigeneigung wurde auch davon bestimmt, wann der Ladendiebstahl begangen wurde. Diebstähle, die kurz vor Ladenschluß verübt wurden, kamen seltener zur Anzeige als andere. Die Anzeigeneigung gegen Ausländer erwies sich als sehr viel größer. Die Schwere des Deliktes war dabei bedeutungslos l2l• Bei einer von Abele / Nowack 122 1973 durchgeführten Studie zur Einstellung gegenüber jugendlichen Straftätern in einer süddeutschen Stadt, an der 220 Personen teilnahmen, wurden die Probanden gefragt, ob sie eine vorgegebene Anzahl von acht Delikten, deren Ausführung sie zufällig beobachteten, der Polizei melden würden. Von den Befragten wollten 90 Ufo ein Sittlichkeits delikt und 88 Ufo eine vorsätzliche Körperverletzung der Polizei melden123 • 118 Die Berechnungen anhand der Tabellen von Blankenburg I Sessar / Steffen wurden vom Verfasser selbst durchgeführt. Zur Überprüfung der Signifikanz wurde der Chi-Quadrat-Test herangezogen; x 2 = 63, 94; df 5; P .001. 117 x! = 495,26; df 5; p < .001. 118 Blankenburg 1969. 119 Blankenburg 1969, S. 819. 120 Blankenburg 1969, S. 822. 121 Blankenburg 1969, S. 821 f. 122 Abele / Nowack 1975. 1!3 Abele / Nowack 1975, S. 158.