Private Ordnung: Grundlagen ziviler Regelsetzung 9783161580307, 9783161487637

Gregor Bachmann befasst sich mit dem Phänomen privater Regelsetzung. Dazu sichtet er Erscheinungsmuster privater Selbstr

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Private Ordnung: Grundlagen ziviler Regelsetzung
 9783161580307, 9783161487637

Table of contents :
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Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erster Teil: Die konzeptionellen Grundlagen
§ 1 Geregelte Ordnung
A. Das Ordnungsproblem
I. Ordnung und Chaos
II. Modelle sozialer Ordnung
1. Spontane Ordnung
2. Wettbewerbsordnung („Ordoliberalismus“)
3. Natürliche Ordnung („Ordo“)
4. Konkrete Ordnung
5. Zivile Ordnung
6. Ordnungsethik
7. Zusammenfassung und Bewertung
B. Ordnung durch Regeln
I. Zur Kritik des juristischen Regelmodells
1. Fundamentalkritik
2. Positivismuskritik
II. Zum Regelbegriff
1. Recht, Norm und Regeln
2. Präskriptive Regeln und Zweckmäßigkeitsregeln
3. Gesetzte und gewachsene Regeln
4. Regelsetzer – Regeladressat – Regelbetroffener
C. Zusammenfassung
§ 2 Private Ordnung und „Selbstregulierung“
A. „Selbstregulierung“ als selbst gestaltete Ordnung
I. Erscheinungsformen von „Selbstregulierung“
1. Selbstverwaltung
2. Selbstverpflichtung
3. Kollektivverträge
4. Private Regelwerke und Kodizes
5. Freiwillige Selbstkontrolle
6. Transnationales Privatrecht („Lex Mercatoria“)
II. Systematisierung
B. „Selbstregulierung“ im Kontext privater Ordnung
I. Private Regelsetzung als Ausschnitt von „Selbstregulierung“
1. Die juristische Perspektive
2. Die zivilistische Perspektive
3. Die nationale Perspektive
II. Private Regeln innerhalb der Rechtsordnung
1. „Rechtsfreie Räume“
2. Die Ambivalenz von „Verrechtlichung“ und „Entrechtlichung“
3. „Rechtsfreier Raum“ und „Autonomie“
C. Zusammenfassung
§ 3 Der staatswissenschaftliche Rahmen
A. Selbstregulierung als ökonomisches Problem
I. Marktversagen und Regulierungstheorie
1. Deregulierung des öffentlichen Sektors
2. Recht als „Produkt“: Kritik des staatlichen Normsetzungsmonopols
a. Zwingendes Recht und das Postulat der Vertragsfreiheit
b. Dispositives Recht als öffentliches Gut
3. Private Regelsetzung und Wettbewerbstheorie
a. Die ordoliberale Sicht: Gegen ein „selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft“
b. Die pragmatische Sicht: Vor- und Nachteile von Selbstregulierung
II. Private Regelsetzung und Politische Ökonomie
1. Komparative Institutionenanalyse
2. Legitime Herrschaft und Ausbeutungsschutz
B. Selbstregulierung als staatsrechtliches Problem
I. Verfassungsrecht
1. Staatsverantwortung und gesellschaftliche Selbstregulierung
a. Schutzpflicht und staatliches Regelungsermessen
b. Gruppenmacht und Individualinteresse
2. Staatliches Recht und private Normen
a. Legitimation des staatlichen Geltungsbefehls
b. Verfassungsrechtliche Grenzen des Geltungsbefehls
c. Geltungsbefehl durch die Exekutive?
d. „Normengesetz“ für private Rechtsetzung?
e. Fazit
II. Verwaltungslehre
1. „Feinsteuerung“ durch Privatrecht?
2. „Regulatory Choice“
C. Selbstregulierung als soziologisches Problem
I. Soziologie und Recht
1. Rechtssoziologie als Lehre der Selbstregulierung
2. Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik
II. Steuerungs- versus evolutionstheoretischer Ansatz
1. Soziologie als Steuerungslehre
a. Implementationsforschung
b. Systemtheorie
c. Organisationssoziologie („private government“)
d. Kritik
2. Soziologie als Evolutionslehre
D. Selbstregulierung als historisches Problem
I. Selbstregulierung und ständische Ordnung
II. „Historische“ Theorie der Selbstregulierung
III. Selbstregulierung als historisches Provisorium
E. Zusammenfassung und Ausblick
Zweiter Teil: Die Theorie privater Regelsetzung
§ 4 Allgemeine Theorien privater Regelsetzung
A. Soziologische Theorie: „Institutionelle Wahlnormen“
I. Konzept
II. Resonanz
III. Würdigung
B. Positivistische Theorie: „Private Rechtsetzung“
I. Konzept
II. Resonanz
III. Würdigung
C. Normlogische Theorie: „Rechtsgeschäft als Rechtsquelle“
I. Konzept
II. Resonanz
III. Würdigung
D. Ordnungsökonomische Theorie: „Konsens als Grundnorm“
I. Konzept
II. Würdigung
E. Der Ertrag der allgemeinen Lehren
I. Gemeinsamkeiten und Divergenzen
II. Schritte zu einer Integration
§ 5 Besondere Theorien privater Regelsetzung
A. Private Regelsetzung im Verbandsrecht
I. Die „Rechtsnatur“ der Satzung
1. Der Theorienstreit
2. Die praktische Irrelevanz des Streites
3. Die Sachfrage: Legitimation privater Ordnung
II. Die „Rechtsnatur“ der juristischen Person
1. Der Theorienstreit
2. Die Vertragsnetzthese („nexus of contracts“)
3. Juristische Folgerungen
B. Private Regelsetzung durch Allgemeine Geschäftsbedingungen
I. Die „Rechtsnatur“ allgemeiner Geschäftsbedingungen
II. Die Legitimationsfrage
III. Fazit
C. Private Regelsetzung im Arbeitsrecht
I. Die Rechtsnormen des Tarifvertrages und der Betriebsvereinbarung
1. Die tarifvertraglichen Rechtsnormen
a. Die Konstruktionsfrage
b. Die Legitimationsfrage
2. Die betrieblichen Rechtsnormen
a. Die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Deutungsmuster
b. Neuere Deutungsversuche
II. Die einseitige Regelaufstellung durch den Arbeitgeber
1. Allgemeine Arbeitsbedingungen (AAB) und ihre „Ablösung“ durch Betriebsvereinbarung
2. Direktionsrecht
3. Gesamtzusage und betriebliche Übung
4. Selbstbindung und Gleichbehandlungsgrundsatz
D. Private Regelsetzung im Kartellrecht
I. Das Kartellverbot als Verbot privater Regelsetzung
1. Die „Rechtsnatur“ des Kartellvertrages
2. Das Legitimationsproblem
II. Marktordnung durch Private: Ausnahmen vom Regelsetzungsverbot
1. Tatbestandsausnahmen
a. Verbraucherregeln
b. Hoheitliche Regeln
2. Ausnahmetatbestände
a. Normenkartelle
b. Konditionenkartelle
c. Umweltschutzvereinbarungen
d. Wettbewerbsregeln
3. Zweifelhafte Fälle
a. Tarifverträge
b. Marktplatz- und Spielregeln
c. Ethikregeln (Codes of good conduct)
III. Kartellrecht als „regulierte Selbstregulierung“
a. „Imperialistisches“ Kartellrecht und „rule of reason“
b. Wirtschaftsrecht als Hilfe bei privater Normsetzung
E. Zusammenfassung
§ 6 Die Legitimation von Regeln
A. Der Legitimationsgedanke
I. Legitimation als Schlagwort
II. Legitimation als Konzept
1. Das soziologische Konzept: Akzeptanz
2. Das staatstheoretische Konzept: Gemeinwohl
a. Konsensuale Rechtfertigungsversuche
b. Gemeinwohlorientierte Rechtfertigung
3. Das zivilistische Konzept: Zustimmung
a. Zustimmung als Legitimationsideal
b. Zustimmung und Präferenzautonomie
c. Die Abgrenzung der Zustimmung von „Konsens“ und „Akzeptanz“
2. Zustimmung und Gemeinwohl als komplementäre Legitimationselemente
B. Die rechtliche Legitimation von Regeln
I. Einfache Legitimationsmodelle
1. Legitimation durch Legalität
2. Legitimation kraft „Autonomie“
a. Autonomie als „dezentrale Rechtserzeugung“
b. „Gleichursprünglichkeit“ von öffentlicher und privater Autonomie
c. Autonomie von „Recht“ und „Gesellschaft“
3. „Demokratische Legitimation“
a. Demokratische Legitimation im Staatsrecht
b. Demokratisierung des Zivilrechts?
4. Legitimation durch Konsens
5. Legitimation durch Gerechtigkeit
6. Legitimation durch Verfahren
7. Legitimation durch Teilhabe
II. Ein kombinatorisches Legitimationsmodell
1. Zustimmung und Gemeinwohl als Elemente eines beweglichen Systems
2. Das Zusammenspiel der Elemente im öffentlichen Recht
a. Das „Gesetz“ als Kombination von Zustimmung und Gemeinwohl
b. Die „Mathematik“ der Zustimmung
c. Das Problem der konsensualen Rechtsetzung
d. Staatsrecht und Präferenzautonomie
3. Das Zusammenspiel der Elemente im Zivilrecht
a. Das „Rechtsgeschäft“ als Kombination von Zustimmung und Gruppenwohl
b. Gemeinwohl und Gruppenwohl
c. Das Gruppenwohl als ergänzendes Legitimationselement
d. Insbesondere: „Treuepflicht“ und „materielle Beschlusskontrolle“
e. Das Problem der gruppenwohlgetragenen Regelsetzung
(1) Die Betriebsvereinbarung als Paradigma gruppenwohlgetragener Regelsetzung
(2) Andere Fälle gruppenwohlgetragener Regelsetzung
(3) Die Abgrenzung zur öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltung
(4) Allgemeinwohl und Drittlastwirkung privater Regeln
f. Zivilrecht und Präferenzautonomie: Das Problem der Funktionärsmacht
C. Zusammenfassung
Dritter Teil: Die Dogmatik privater Regelsetzung
§ 7 Freiwillige und notwendige Regelbindung
A. Regelbindung durch Rechtsgeschäft
I. Das Rechtsgeschäft im technischen und im weiteren Sinne
1. Die Rechtsgeschäftslehre als Regelsetzungsordnung
2. Das subjektive Recht als komplementäre Regelsetzungsbefugnis
II. Akzeptierter und oktroyierter Vertrag
1. Rechtsgeschäft und Akzeptanz
2. „Faktische“ Verträge
3. Belastender Vertrag zu Gunsten Dritter?
III. Die Regelsetzung durch Bevollmächtigte
IV. Die so genannte ergänzende Vertragsauslegung
1. Voluntativer versus normativer Ansatz
2. Die Vertragsergänzung als gruppenwohlbezogene Regelsetzung
B. Regelbindung durch Vertrauens- und Verkehrsschutz
I. Die Haftung für erwecktes Regelvertrauen
II. Die ungewollte Selbstbindung („positive“ Vertrauenshaftung)
1. Die vertretenen Lehren
a. Bindung kraft Selbstbestimmung
b. Bindung kraft Selbstverantwortung
c. Bindung kraft Selbstdarstellung
2. Stellungnahme
a. Kritik der dargestellten Positionen
b. Gruppenwohl und Funktionssicherung
c. Rechtsvergleichende Kontrollüberlegung
II. Folgerungen
1. Regelwerk und negative Vertrauenshaftung
2. Regelwerk und positive Vertrauenshaftung
3. Die Einordnung der „betrieblichen Übung“
4. Offene Fragen
C. Regelbindung durch Gleichbehandlungsgrundsatz
D. Zusammenfassung
§ 8 Die rechtsgeschäftlichen Gestaltungsformen
A. Das Instrumentarium des positiven Rechts
I. Der Vertrag
II. Der Verband
III. Normenvertrag und AGB
1. Normenverträge
2. Allgemeine Geschäftsbedingungen
B. Fortbildung der rechtsgeschäftlichen Gestaltungsformen
I. Die These vom Numerus clausus der rechtsgeschäftlichen Gestaltungsformen
II. Die Ermächtigung zur Regelsetzung
1. Die rechtsgeschäftliche „Unterwerfung“
2. Die Verpflichtungsermächtigung
3. Die verdrängende Vollmacht
III. Die einseitige Selbstverpflichtung
1. Die einseitige Verpflichtung auf Einhaltung eines Regelwerks
2. Das Vertragsprinzip und seine Ausnahmen
a. Einseitige Leistungszusagen
b. Vertragswirkungen zugunsten Dritter
c. Einseitige Organisationsgeschäfte
d. Annahmefiktionen
e. Das regelungstechnische System
3. Zweifelhafte Fälle
a. Die Entlastung
b. Die Gesamtzusage
4. Die Kritik des Vertragsdogmas
a. Historische Angriffe gegen das Vertragsdogma
b. Moderne Angriffe gegen das Vertragsdogma
c. Die Kritikpunkte im Einzelnen
5. Die Bedeutung des Vertragsdogmas
a. Die naturrechtliche Wurzel
b. Übereilungsschutz und Rechtssicherheit
c. Aufdrängungsschutz
6. Der Anwendungsbereich des einseitigen Versprechens
7. Das Problem des Rechtsbindungswillens
8. Fazit
C. Zusammenfassung
§ 9 Drittbindung und Dynamisierung
A. Vertragsnorm und Dritter
B. Verbandsnorm und Dritter
I. Die sog. Verbandsautonomie
1. Verfassungsrechtliche Vorgaben
2. Die privatrechtliche Ebene
3. Dachverband und Einzelmitglied
II. Betriebliche Normen im Tarifvertrag
C. Dynamische Regeln
I. Das Problem der dynamischen Verweisung
1. Verbandsrecht
a. Satzung
b. Vereinsordnung
2. AGB-Recht
3. Arbeitsrecht
a. Dynamische Verweisung im Tarifvertrag
b. Dynamische Verweisung im Arbeitsvertrag
c. Das Problem der Lizenzpflicht
II. Einseitige Anpassungsklauseln
1. Die AGB-rechtliche Problematik
2. Flucht in die Satzung
III. Transparenz und Inhaltskontrolle als Strukturprinzipien
D. Zusammenfassung
§ 10 Die mittelbare Wirkung privater Regeln
A. Private Regeln im Rechtsquellenkanon
I. Die Erstarkung privater Regeln zum Recht
1. Die Bedeutung des Rechtsquellenkanons
2. Private Regeln als Gewohnheitsrecht
3. Private Regeln als allgemeine Rechtsgrundsätze
II. Transformation durch Generalklauseln
1. Private Regelwerke in der Rechtspraxis
2. Leitlinien für die Heranziehung privater Regelwerke
a. Private Regelwerke ohne Rechtswirkungen
b. Private Regelwerke mit Vermutungswirkung
c. Private Regelwerke mit Indizwirkung
3. Einwände gegen die Heranziehung privater Regelwerke
B. Verkehrssitte und Observanz
I. Die Verkehrssitte
1. Rationale Entstehung von Verkehrssitten?
2. Die normative Wirkung der Sitte
a. Sitte und Recht
b. Sitte und soziale Norm
3. Gründe und Grenzen der gesetzlichen Anerkennung der Sitte
a. Vorzüge der Bezugnahme auf die Sitte
b. Gefahren der Bezugnahme auf die Sitte
c. Praktische Folgerungen
4. Die Anerkennung der Sitte im internationalen Einheitsrecht
5. Die Verkehrssitte im Unternehmensrecht
a. Gesellschaftsrecht
b. Kapitalmarktrecht
II. Die Observanz
1. Die Observanz als kommunales Gewohnheitsrecht
2. Die Observanz als Gewohnheitsrecht privater Verbände
C. Zusammenfassung
Vierter Teil: Rechtspraktische Lehren
§ 11 Gesetzgebung
A. Rechtsetzungslehre
I. „Privatautonomie“ versus „Gesetzesflut“
II. Marktversagen als „natürliche“ Grenze der Privatautonomie
III. Staatliche Entlastung durch private Normsetzung
1. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben
2. Umsetzung der Vorgaben durch das einfache Recht
3. Leitlinien privater Normsetzung
a. Die Skala möglicher Rechtswirkungen privater Normen
b. Tatbestandliche Ausgestaltungen
(1) Rechtstechnik und Legitimation
(2) Generalklausel
(3) Gesetzliche Vorgaben
IV. Modulare Regelsetzung
1. Regelungsauftrag mit staatlicher Auffangregelung
2. Anregungsnormen mit privatem Muster
3. Ermöglichende Normen
B. Gesetzliche Hilfestellung
I. Gruppenverfassungen
1. Modelle einer Gruppenverfassung
2. Leitlinien für die Gruppenverfassung
II. Gemeinsinn fördern
III. Regelkontrolle
1. Die Vorabkontrolle privater Regelwerke
2. Leitlinien für die Ausgestaltung einer sachgerechten Vorabkontrolle
3. Das neue Bild der Regulierung
C. Zusammenfassung
§ 12 Vertragsgestaltung
A. Vertragsanpassung
I. Komplexe Verträge
II. Anpassungsklauseln
III. Gesetzliche Anpassungsmechanismen
IV. Privatautonome Gestaltungsmöglichkeiten
B. Private Verfassung
I. Unternehmensverfassung
II. Marktverfassung
III. Insolvenzverfassung
C. Zusammenfassung
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Namensregister
Sachregister

Citation preview

JUS PRIVATUM Beiträge z u m Privatrecht Band 112

Gregor Bachmann

Private Ordnung Grundlagen ziviler Regelsetzung

Mohr Siebeck

Gregor Bachmann, geboren 1966; Studium der Rechtswissenschaft in Passau, M ü n c h e n und Ann Arbor (LL.M.); Promotion 1993; Assessorexamen 1996, anschließend Rechtsanwalt; 1 9 9 8 2 0 0 4 Wissenschaftlicher Assistent an der Humboldt-Universität zu Berlin; 2 0 0 4 Habilitation; seither Professor für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Zivilprozessrecht an der Universität Trier.

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn

978-3-16-158030-7 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 ISBN 3 - 1 6 - 1 4 8 7 6 3 - X ISBN-13 978-3-16-148763-7 ISSN 0 9 4 0 - 9 6 1 0 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2 0 0 6 M o h r Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch w u r d e von Guide Druck in Tübingen aus der Sabon gesetzt, auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Die juristische Aufarbeitung privater N o r m s e t z u n g ist in zweierlei Hinsicht defizitär: Zivilrechtliche Arbeiten beschränken sich auf Spezialbereiche, etwa das Arbeits- oder Verbandsrecht; öffentlich-rechtliche Arbeiten setzen umfassender an, legen dabei aber durchweg eine staatszentrierte Sicht zugrunde. Die vorliegende Arbeit geht über beides hinaus, indem sie - mit der Staatslehre - einen fundamentalen Ansatz wählt, die zentrale Frage der Legitimität von Regeln aber unter R e kurs auf das zivilistische Ideal der Z u s t i m m u n g beantwortet. D a s ermöglicht einerseits den Anschluss an die D o k t r i n e n des geltenden Privatrechts, andererseits den Brückenschlag zur politischen Ö k o n o m i e , deren Fruchtbarkeit für das Zivilrecht noch zu wenig erkannt wird. Die Arbeit wurde im J a h r 2 0 0 3 abgeschlossen und von der juristischen Fakultät der Berliner Humboldt-Universität im Sommersemester 2 0 0 4 als Habilitationsleistung a n e r k a n n t . Sie befindet sich im Wesentlichen auf dem Stand Ende 2 0 0 3 ; anschließende Gesetzesänderungen wurden durchgehend, Rechtsprechung und Literatur vereinzelt berücksichtigt. D a s Werk wäre nicht entstanden ohne die Förderung durch meine akademische Lehrerin Christine Windbichler. Sie machte mich auf das Problem privater Regelwerke a u f m e r k s a m , schärfte meinen Blick für interdisziplinäre Z u s a m m e n h ä n g e und gewährte mir als Assistent diejenige Freiheit, o h n e die eine wissenschaftliche M o n o g r a f i e nicht entstehen kann. D a f ü r bin ich ihr zu g r o ß e m D a n k verpflichtet. Die Last des Zweitgutachtens schulterte F^berhard S c h w a r k , dessen T ü r mir auch zuvor immer offen stand. G u n n a r Folke Schuppert übernahm freundlicherweise die Begutachtung aus Sicht des öffentlichen Rechts. Allen Gutachtern bin ich für aufgeschlossene Kritik und weiterführende Hinweise dankbar. M e i n e Frau, Annette Kofier, unterstützte mich neben ihrer eigenen beruflichen und familiären Belastung u.a. durch wertvolle Hinweise zur Regulierungstheorie, nervenaufreibende Formatierungsarbeiten und vielfältige Verbesserungsvorschläge. In der Entwurfsfassung wurde die Arbeit von Christoph B r ö m m e l m e y e r gelesen, dem ich für seine kritischen Ratschläge ebenso verpflichtet bin wie Peer Z u m bansen, der ihre Fertigstellung entscheidend beförderte. M o r a l i s c h halfen mir meine (ehemaligen) Berliner Assistentenkollegen, allen voran Rüdiger Veil, T h o m a s Gutsche und Anja M a r x . D a s M a x - P l a n c k - I n s t i t u t für internationales Privatrecht und die Gesellschaft junger Zivilrechtswissenschaftler gaben mir Gelegenheit, einige G e d a n k e n frühzeitig einem kritischen Auditorium vorzustellen, was mir sehr dienlich war. Für den Einsatz in der Veröffentlichungsphase danke ich meinen

VI

Vorwort

Trierer M i t a r b e i t e r n T h o m a s Finkenauer, Till B r e m k a m p , Peter S t u k e n b e r g und Eric Becker sowie den s t u d e n t i s c h e n H i l f s k r ä f t e n Florian H a s s n e r u n d H a n n a G r o ß , ferner u n d nicht zuletzt meiner Sekretärin H i l t r u d Scholtes, welche die D r u c k f a s s u n g mit g r o ß e r U m s i c h t b e t r e u t hat. Schließlich gilt mein D a n k der D e u t s c h e n F o r s c h u n g s g e m e i n s c h a f t , o h n e deren finanzielle U n t e r s t ü t z u n g die V e r ö f f e n t l i c h u n g nicht möglich gewesen w ä r e . G e w i d m e t ist die Arbeit m e i n e r Familie, die ihre E n t s t e h u n g u n d ihren A u t o r geduldig e r t r a g e n hat. Trier, im H e r b s t 2 0 0 5

Gregor Bachmann

Inhaltsübersicht Vorwort Inhaltsverzeichnis

V IX

Einleitung

1

Erster Teil: Die konzeptionellen G r u n d l a g e n

5

§ 1 Geregelte O r d n u n g

7

§ 2 Private O r d n u n g und „ S e l b s t r e g u l i e r u n g "

27

§ 3 Der staatswissenschaftliche R a h m e n

48

Zweiter Teil: Die Theorie privater Regelsetzung

89

§ 4 Allgemeine T h e o r i e n privater Regelsetzung

91

§ 5 Besondere T h e o r i e n privater Regelsetzung

108

§ 6 Die Legitimation von Regeln

159

Dritter Teil: Die D o g m a t i k privater Regelsetzung

227

§ 7 Freiwillige und n o t w e n d i g e R e g e l b i n d u n g

229

§ 8 Die rechtsgeschäftlichen G e s t a l t u n g s f o r m e n

259

§ 9 Drittbindung und Dynamisierung

300

§ 1 0 Die m i t t e l b a r e W i r k u n g privater Regeln

330

Vierter Teil: Rechtspraktische Lehren

357

§ 1 1 Gesetzgebung

359

§ 1 2 Vertragsgestaltung

393

Schlussbetrachtung

413

Literaturverzeichnis Namensregister

417 461

Sachregister

463

Inhaltsverzeichnis Vorwort

V

Inhaltsübersicht

VII

Einleitung

1

E r s t e r Teil: D i e k o n z e p t i o n e l l e n G r u n d l a g e n

5

§ 1 Geregelte Ordnung

7

A. Das Ordnungsproblem I. Ordnung und Chaos II. Modelle sozialer Ordnung 1. Spontane Ordnung 2. Wettbewerbsordnung („Ordoliberalismus") 3. Natürliche Ordnung („Ordo") 4. Konkrete Ordnung 5. Zivile Ordnung 6. Ordnungsethik 7. Zusammenfassung und Bewertung

7 7 8 8 9 11 12 14 15 16

B. Ordnung durch Regeln I. Zur Kritik des juristischen Regelmodells 1. Fundamentalkritik 2. Positivismuskritik II. Zum Regelbegriff 1. Recht, Norm und Regeln 2. Präskriptive Regeln und Zweckmäßigkeitsregeln 3. Gesetzte und gewachsene Regeln 4. Regelsetzer - Regeladressat - Regelbetroffener

17 17 17 19 20 20 22 23 24

C. Zusammenfassung

25

§2 Private Ordnung

und „Selbstregulierung"

A. „Selbstregulierung" als selbst gestaltete Ordnung I. Erscheinungsformen von „Selbstregulierung" 1. Selbstverwaltung 2. Selbstverpflichtung

27 27 27 28 30

X

Inhaltsverzeichnis

3. Kollektivverträge 4. Private Regelwerke und Kodizes 5. Freiwillige Selbstkontrolle 6. Transnationales Privatrecht („Lex M e r c a t o r i a " ) II. Systematisierung

31 33 35 37 39

B. „Selbstregulierung" im K o n t e x t privater O r d n u n g

41

I. Private Regelsetzung als Ausschnitt von „Selbstregulierung"

41

1. Die juristische Perspektive 2. Die zivilistische Perspektive 3. Die nationale Perspektive II. Private Regeln innerhalb der R e c h t s o r d n u n g 1. „Rechtsfreie R ä u m e " 2. Die Ambivalenz von „Verrechtlichung" und „Entrechtlichung" 3. „Rechtsfreier R a u m " und „ A u t o n o m i e "

Der staatswissenschaftliche

45 46

C. Z u s a m m e n f a s s u n g §3

41 42 43 44 44

47 Rahmen

48

A. Selbstregulierung als ö k o n o m i s c h e s Problem I. M a r k t v e r s a g e n und Regulierungstheorie 1. Deregulierung des öffentlichen Sektors 2. Recht als „ P r o d u k t " : Kritik des staatlichen N o r m setzungsmonopols

48 48 49 50

a. Z w i n g e n d e s Recht und das Postulat der Vertragsfreiheit b. Dispositives Recht als öffentliches G u t 3. Private Regelsetzung und W e t t b e w e r b s t h e o r i e a. Die ordoliberale Sicht: Gegen ein „selbstgeschaffenes Recht der W i r t s c h a f t " b. Die pragmatische Sicht: Vor- und Nachteile von Selbstregulierung II. Private Regelsetzung und Politische Ö k o n o m i e 1. K o m p a r a t i v e Institutionenanalyse 2. Legitime H e r r s c h a f t und Ausbeutungsschutz B. Selbstregulierung als staatsrechtliches Problem I. Verfassungsrecht 1. S t a a t s v e r a n t w o r t u n g und gesellschaftliche Selbstregulierung a. Schutzpflicht und staatliches Regelungsermessen b. G r u p p e n m a c h t und Individualinteresse 2. Staatliches Recht und private N o r m e n

50 52 52 53 54 55 55 56 58 58

. . .

58 58 60 62

Inhaltsverzeichnis

a. Legitimation des staatlichen Geltungsbefehls b. Verfassungsrechtliche Grenzen des Geltungsbefehls c. Geltungsbefehl durch die Exekutive? d. „Normengesetz" für private Rechtsetzung? e. Fazit II. Verwaltungslehre 1. „Feinsteuerung" durch Privatrecht? 2. „Regulatory Choice" C. Selbstregulierung als soziologisches Problem I. Soziologie und Recht 1. Rechtssoziologie als Lehre der Selbstregulierung 2. Rechtssoziologie und Rechtsdogmatik II. Steuerungs- versus evolutionstheoretischer Ansatz 1. Soziologie als Steuerungslehre a. Implementationsforschung b. Systemtheorie c. Organisationssoziologie („private government") d. Kritik 2. Soziologie als Evolutionslehre

XI

. .

...

63 66 68 69 71 72 72 74 76 76 76 77 78 78 78 79 80 81 82

D. Selbstregulierung als historisches Problem I. Selbstregulierung und ständische O r d n u n g II. „Historische" Theorie der Selbstregulierung III. Selbstregulierung als historisches Provisorium

83 83 84 85

E. Zusammenfassung und Ausblick

86

Zweiter Teil: Die Theorie privater Regelsetzung §4 Allgemeine

89

Theorien privater Regelsetzung

91

A. Soziologische Theorie: „Institutionelle Wahlnormen" I. Konzept II. Resonanz III. Würdigung

91 91 92 93

B. Positivistische Theorie: „Private Rechtsetzung" I. Konzept IL Resonanz III. Würdigung

95 95 96 97

C. Normlogische Theorie: „Rechtsgeschäft als Rechtsquelle" . . . . I. Konzept II. Resonanz III. Würdigung

98 98 100 101

D. Ordnungsökonomische Theorie: „Konsens als G r u n d n o r m "

102

. .

XII

Inhaltsverzeichnis

I. Konzept II. Würdigung

102 104

E. Der Ertrag der allgemeinen Lehren I. Gemeinsamkeiten und Divergenzen II. Schritte zu einer Integration $ 5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

A. Private Regelsetzung im Verbandsrecht I. Die „Rechtsnatur" der Satzung 1. Der Theorienstreit 2. Die praktische Irrelevanz des Streites 3. Die Sachfrage: Legitimation privater Ordnung II. Die „Rechtsnatur" der juristischen Person 1. Der Theorienstreit 2. Die Vertragsnetzthese („nexus of contracts") 3. Juristische Folgerungen

106 106 106 108 108 109 109 110 111 113 114 114 118

B. Private Regelsetzung durch Allgemeine Geschäftsbedingungen . I. Die „Rechtsnatur" allgemeiner Geschäftsbedingungen . . . . II. Die Legitimationsfrage III. Fazit

119 119 120 122

C. Private Regelsetzung im Arbeitsrecht I. Die Rechtsnormen des Tarifvertrages und der Betriebsvereinbarung 1. Die tarifvertraglichen Rechtsnormen

123

a. Die Konstruktionsfrage b. Die Legitimationsfrage 2. Die betrieblichen Rechtsnormen a. Die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Deutungsmuster b. Neuere Deutungsversuche II. Die einseitige Regelaufstellung durch den Arbeitgeber . . . .

123 124 124 126 131 131 133 138

1. Allgemeine Arbeitsbedingungen (AAB) und ihre „Ablösung" durch Betriebsvereinbarung 2. Direktionsrecht 3. Gesamtzusage und betriebliche Übung 4. Selbstbindung und Gleichbehandlungsgrundsatz

138 139 140 141

D. Private Regelsetzung im Kartellrecht I. Das Kartellverbot als Verbot privater Regelsetzung

143 144

1. Die „Rechtsnatur" des Kartellvertrages 2. Das Legitimationsproblem II. Marktordnung durch Private: Ausnahmen vom Regelsetzungsverbot

144 145 145

Inhaltsverzeichnis

XIII

1. Tatbestandsausnahmen a. Verhraucherregeln b. Hoheitliche Regeln 2. Ausnahmetatbestände a. Normenkartelle b. Konditionenkartelle c. Umweltschutzvereinbarungen d. Wettbewerbsregeln 3. Zweifelhafte Fälle a. Tarifverträge b. Marktplatz- und Spielregeln c. Ethikregeln (Codes of good conduct) III. Kartellrecht als „regulierte Selbstregulierung" a. „Imperialistisches" Kartellrecht und „rule of reason" b. Wirtschaftsrecht als Hilfe bei privater Normsetzung

146 146 146 147 147 148 149 150 151 151 152 153 155 155 156

E. Zusammenfassung §6 Die Legitimation

von Regeln

. .

157 159

A. Der Legitimationsgedanke I. Legitimation als Schlagwort II. Legitimation als Konzept 1. Das soziologische Konzept: Akzeptanz 2. Das staatstheoretische Konzept: Gemeinwohl a. Konsensuale Rechtfertigungsversuche b. Gemeinwohlorientierte Rechtfertigung 3. Das zivilistische Konzept: Zustimmung a. Zustimmung als Legitimationsideal b. Zustimmung und Präferenzautonomie c. Die Abgrenzung der Zustimmung von „Konsens" und „Akzeptanz" 2. Zustimmung und Gemeinwohl als komplementäre Legitimationselemente

159 159 160 160 163 163 168 172 172 174

B. Die rechtliche Legitimation von Regeln I. Einfache Legitimationsmodelle 1. Legitimation durch Legalität 2. Legitimation kraft „Autonomie" a. Autonomie als „dezentrale Rechtserzeugung" b. „Gleichursprünglichkeit" von öffentlicher und privater Autonomie c. Autonomie von „Recht" und „Gesellschaft" 3. „Demokratische Legitimation" a. Demokratische Legitimation im Staatsrecht

179 180 180 181 182

177 179

183 185 186 186

XIV

Inhaltsverzeichnis

b. D e m o k r a t i s i e r u n g des Zivilrechts?

187

4. Legitimation d u r c h K o n s e n s

190

5. Legitimation d u r c h Gerechtigkeit

190

6. Legitimation d u r c h Verfahren

191

7. Legitimation d u r c h Teilhabe

192

II. Ein k o m b i n a t o r i s c h e s L e g i t i m a t i o n s m o d e l l 1. Z u s t i m m u n g u n d G e m e i n w o h l als E l e m e n t e eines beweglichen Systems 2. D a s Z u s a m m e n s p i e l der Elemente im ö f f e n t l i c h e n R e c h t

193 194 .

196

a. D a s „ G e s e t z " als K o m b i n a t i o n v o n Z u s t i m m u n g u n d Gemeinwohl

196

b. Die „ M a t h e m a t i k " der Z u s t i m m u n g

198

c. D a s P r o b l e m der k o n s e n s u a l e n R e c h t s e t z u n g

200

d. Staatsrecht und P r ä f e r e n z a u t o n o m i e

202

3. D a s Z u s a m m e n s p i e l der Elemente im Zivilrecht

204

a. D a s „ R e c h t s g e s c h ä f t " als K o m b i n a t i o n v o n Zustimmung und Gruppenwohl

205

b. G e m e i n w o h l u n d G r u p p e n w o h l

206

c. D a s G r u p p e n w o h l als e r g ä n z e n d e s Legitimationselement

206

d. Insbesondere: „ T r e u e p f l i c h t " u n d „materielle Beschlusskontrolle"

208

e. D a s P r o b l e m der g r u p p e n w o h l g e t r a g e n e n Regelsetzung

214

(1) Die B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g als P a r a d i g m a g r u p p e n w o h l g e t r a g e n e r Regelsetzung

214

(2) A n d e r e Fälle g r u p p e n w o h l g e t r a g e n e r Regelsetzung

219

(3) Die A b g r e n z u n g zur öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltung

221

(4) A l l g e m e i n w o h l u n d D r i t t l a s t w i r k u n g privater Regeln

222

f. Zivilrecht u n d P r ä f e r e n z a u t o n o m i e : D a s P r o b l e m der Funktionärsmacht

223

C. Z u s a m m e n f a s s u n g

225

D r i t t e r Teil: Die D o g m a t i k p r i v a t e r Regelsetzung

227

§7 Freiwillige und notwendige Regelbindung

229

A. R e g e l b i n d u n g d u r c h R e c h t s g e s c h ä f t

229

I. D a s R e c h t s g e s c h ä f t im technischen u n d im weiteren Sinne 1. Die R e c h t s g e s c h ä f t s l e h r e als R e g e l s e t z u n g s o r d n u n g

.

229

. . .

229

Inhaltsverzeichnis

XV

2 . D a s s u b j e k t i v e R e c h t als k o m p l e m e n t ä r e R e g e l s e t z u n g s befugnis

230

II. A k z e p t i e r t e r und o k t r o y i e r t e r V e r t r a g

233

1. R e c h t s g e s c h ä f t und A k z e p t a n z

233

2. „ F a k t i s c h e " Verträge

235

3 . B e l a s t e n d e r V e r t r a g zu G u n s t e n D r i t t e r ?

236

III. Die R e g e l s e t z u n g durch B e v o l l m ä c h t i g t e

237

IV. Die so g e n a n n t e e r g ä n z e n d e V e r t r a g s a u s l e g u n g

238

1. V o l u n t a t i v e r versus n o r m a t i v e r A n s a t z

238

2 . Die V e r t r a g s e r g ä n z u n g als g r u p p e n w o h l b e z o g e n e Regelsetzung

239

B. R e g e l b i n d u n g durch V e r t r a u e n s - und V e r k e h r s s c h u t z I. D i e H a f t u n g für e r w e c k t e s R e g e l v e r t r a u e n

240 240

II. Die u n g e w o l l t e S e l b s t b i n d u n g ( „ p o s i t i v e " V e r t r a u e n s haftung)

243

1. Die vertretenen L e h r e n

243

a. B i n d u n g k r a f t S e l b s t b e s t i m m u n g

244

b. B i n d u n g k r a f t S e l b s t v e r a n t w o r t u n g

245

c. B i n d u n g k r a f t S e l b s t d a r s t e l l u n g

246

2. Stellungnahme

246

a. Kritik der dargestellten P o s i t i o n e n

246

b. G r u p p e n w o h l und F u n k t i o n s s i c h e r u n g

249

c. R e c h t s v e r g l e i c h e n d e K o n t r o l l ü b e r l e g u n g

252

II. F o l g e r u n g e n

254

1. R e g e l w e r k und negative V e r t r a u e n s h a f t u n g

254

2 . R e g e l w e r k und positive V e r t r a u e n s h a f t u n g

254

3 . Die E i n o r d n u n g der „ b e t r i e b l i c h e n Ü b u n g "

255

4. Offene Fragen

255

G. R e g e l b i n d u n g durch G l e i c h b e h a n d l u n g s g r u n d s a t z

256

D. Zusammenfassung

257

§8 Die rechtsgeschäftlichen

Gestaltungsformen

A. D a s I n s t r u m e n t a r i u m des positiven R e c h t s

259 259

I. D e r V e r t r a g

260

II. D e r V e r b a n d

262

III. N o r m e n v e r t r a g und A G B

263

1. N o r m e n v e r t r ä g e

263

2 . Allgemeine Geschäftsbedingungen

265

B. F o r t b i l d u n g der r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e n G e s t a l t u n g s f o r m e n

266

I. D i e T h e s e v o m N u m e r u s c l a u s u s der r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e n Gestaltungsformen II. D i e E r m ä c h t i g u n g zur R e g e l s e t z u n g

266 268

XVI

Inhaltsverzeichnis

1. Die rechtsgeschäftliche „ U n t e r w e r f u n g " 2. Die V e r p f l i c h t u n g s e r m ä c h t i g u n g

269 271

3. Die v e r d r ä n g e n d e V o l l m a c h t

274

III. Die einseitige Selbstverpflichtung

278

1. Die einseitige V e r p f l i c h t u n g auf E i n h a l t u n g eines Regelwerks

278

2. D a s Vertragsprinzip u n d seine A u s n a h m e n

280

a. Einseitige Leistungszusagen

280

b. V e r t r a g s w i r k u n g e n z u g u n s t e n D r i t t e r

281

c. Einseitige O r g a n i s a t i o n s g e s c h ä f t e

282

d. A n n a h m e f i k t i o n e n

282

e. D a s regelungstechnische System

284

3. Z w e i f e l h a f t e Fälle

284

a. Die E n t l a s t u n g

285

b. Die G e s a m t z u s a g e 4. Die Kritik des V e r t r a g s d o g m a s a. H i s t o r i s c h e Angriffe gegen das V e r t r a g s d o g m a b. M o d e r n e Angriffe gegen das V e r t r a g s d o g m a

285 287 . . . .

c. Die K r i t i k p u n k t e im Einzelnen

287 288 290

5. Die B e d e u t u n g des V e r t r a g s d o g m a s a. Die n a t u r r e c h t l i c h e Wurzel

291 292

b. Übereilungsschutz und Rechtssicherheit c. A u f d r ä n g u n g s s c h u t z 6. Der A n w e n d u n g s b e r e i c h des einseitigen Versprechens

293 294 296

. .

7. D a s P r o b l e m des R e c h t s b i n d u n g s w i l l e n s

297

8. Fazit

298

C. Z u s a m m e n f a s s u n g

299

5 9 Drittbindung

und Dynamisierung

A. V e r t r a g s n o r m u n d Dritter B. V e r b a n d s n o r m u n d Dritter I. Die sog. V e r b a n d s a u t o n o m i e

300 300 301 301

1. Verfassungsrechtliche Vorgaben

302

2. Die privatrechtliche Ebene

303

3. D a c h v e r b a n d und Einzelmitglied II. Betriebliche N o r m e n im T a r i f v e r t r a g C. D y n a m i s c h e Regeln I. D a s P r o b l e m der d y n a m i s c h e n Verweisung

305 306 307 308

1. V e r b a n d s r e c h t

308

a. Satzung

308

b. V e r e i n s o r d n u n g

312

2. A G B - R e c h t

313

3. A r b e i t s r e c h t

315

Inhaltsverzeichnis

XVII

a. D y n a m i s c h e V e r w e i s u n g im T a r i f v e r t r a g

315

b. D y n a m i s c h e V e r w e i s u n g im A r b e i t s v e r t r a g

316

c. D a s P r o b l e m der Lizenzpflicht

318

II. Einseitige A n p a s s u n g s k l a u s e l n

323

1. D i e A G B - r e c h t l i c h e P r o b l e m a t i k

323

2 . F l u c h t in die S a t z u n g

325

III. T r a n s p a r e n z und I n h a l t s k o n t r o l l e als S t r u k t u r p r i n z i p i e n

§10

. .

328

D. Zusammenfassung

329

Die mittelbare

330

Wirkung privater Regeln

A . Private R e g e l n im R e c h t s q u e l l e n k a n o n

330

I. Die E r s t a r k u n g privater R e g e l n z u m R e c h t

330

1. D i e B e d e u t u n g des R e c h t s q u e l l e n k a n o n s

330

2 . Private R e g e l n als G e w o h n h e i t s r e c h t

331

3 . Private R e g e l n als a l l g e m e i n e R e c h t s g r u n d s ä t z e

334

II. T r a n s f o r m a t i o n d u r c h G e n e r a l k l a u s e l n

334

1. Private R e g e l w e r k e in der R e c h t s p r a x i s 2. Leitlinien für die H e r a n z i e h u n g privater R e g e l w e r k e

335 . . .

336

a. Private R e g e l w e r k e o h n e R e c h t s w i r k u n g e n

337

b. Private R e g e l w e r k e mit V e r m u t u n g s w i r k u n g

337

c. Private R e g e l w e r k e mit I n d i z w i r k u n g

338

3 . E i n w ä n d e gegen die H e r a n z i e h u n g privater R e g e l w e r k e

.

B. V e r k e h r s s i t t e und O b s e r v a n z

339 341

I. Die V e r k e h r s s i t t e

341

1. R a t i o n a l e E n t s t e h u n g von V e r k e h r s s i t t e n ?

342

2 . Die n o r m a t i v e W i r k u n g der Sitte

344

a. Sitte und R e c h t

344

b. Sitte und soziale N o r m

345

3 . G r ü n d e und G r e n z e n der gesetzlichen A n e r k e n n u n g der Sitte

347

a. V o r z ü g e der B e z u g n a h m e a u f die Sitte

347

b. G e f a h r e n der B e z u g n a h m e a u f die Sitte

348

c. Praktische Folgerungen

349

4 . Die A n e r k e n n u n g der Sitte im i n t e r n a t i o n a l e n E i n h e i t s recht

351

5 . D i e V e r k e h r s s i t t e im U n t e r n e h m e n s r e c h t

352

a. G e s e l l s c h a f t s r e c h t

353

b. K a p i t a l m a r k t r e c h t

353

II. D i e O b s e r v a n z 1. Die O b s e r v a n z als k o m m u n a l e s G e w o h n h e i t s r e c h t

354 . . . .

2 . Die O b s e r v a n z als G e w o h n h e i t s r e c h t privater V e r b ä n d e C. Zusammenfassung

354 .

354 355

XVIII

Inhaltsi 'erreich nis

Vierter Teil: Rechtspraktische Lehren

357

§11

Gesetzgebung

359

A. Rechtsetzungslehre

359

I. „ P r i v a t a u t o n o m i e " versus „Gesetzesflut" II. M a r k t v e r s a g e n als „ n a t ü r l i c h e " Grenze der Privatautonomie

361

III. Staatliche Entlastung d u r c h private N o r m s e t z u n g

363

1. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben 2. Umsetzung der Vorgaben d u r c h das einfache Recht . . . . 3. Leitlinien privater N o r m s e t z u n g a. Die Skala möglicher Rechtswirkungen privater Normen b. Tatbestandliche Ausgestaltungen (1) Rechtstechnik und Legitimation (2) Generalklausel (3) Gesetzliche Vorgaben IV. M o d u l a r e Regelsetzung

363 364 366

1. R e g e l u n g s a u f t r a g mit staatlicher Auffangregelung 2. A n r e g u n g s n o r m e n mit privatem M u s t e r 3. Ermöglichende N o r m e n B. Gesetzliche Hilfestellung I. G r u p p e n v e r f a s s u n g e n 1. Modelle einer G r u p p e n v e r f a s s u n g 2. Leitlinien für die G r u p p e n v e r f a s s u n g II. Gemeinsinn fördern III. Regelkontrolle 1. Die Vorabkontrolle privater Regelwerke 2. Leitlinien für die Ausgestaltung einer sachgerechten Vorabkontrolle 3. Das neue Bild der Regulierung

§12

360

. . . .

368 371 371 372 372 375 375 377 379 380 381 381 382 384 387 388 389 391

C. Z u s a m m e n f a s s u n g

391

Vertragsgestaltung

393

A. Vertragsanpassung

393

I. II. III. IV.

K o m p l e x e Verträge Anpassungsklauseln Gesetzliche A n p a s s u n g s m e c h a n i s m e n P r i v a t a u t o n o m e Gestaltungsmöglichkeiten

B. Private Verfassung I. U n t e r n e h m e n s v e r f a s s u n g II. M a r k t v e r f a s s u n g

394 395 397 399 403 404 406

Inhaltsverzeichnis III. I n s o l v e n z v e r f a s s u n g C. Zusammenfassung

XIX 409 411

Schlussbetrachtung

413

Literaturverzeichnis Namensregister

417 461

Sachregister

463

Einleitung

W e r von privater O r d n u n g s p r i c h t , v e r b i n d e t d a m i t die - in der R e g e l vage - V o r stellung e i n e r d u r c h private A k t e u r e o h n e Z u h i l f e n a h m e s t a a t l i c h e r Instanzen vorg e n o m m e n e n S o z i a l g e s t a l t u n g . ' In der d e u t s c h e n R e c h t s w i s s e n s c h a f t

bisweilen

negativ b e s e t z t , 2 h a t die W e n d u n g v o m „ p r i v a t e o r d e r i n g " in j ü n g e r e r Z e i t herausf o r d e r n d e n C h a r a k t e r a n g e n o m m e n . D e r S o z i o l o g e diskutiert unter dieser U b e r s c h r i f t die B e d e u t u n g sozialer N o r m e n , der Ö k o n o m f o r s c h t n a c h d e m , w a s er s i c h - s e l b s t - e r f ü l l e n d e V e r t r ä g e n e n n t . B e i d e n e r s c h e i n t das R e c h t als n e b e n s ä c h lich, es e x i s t i e r t nur n o c h als „ S c h a t t e n " , in dem Sozial- und W i r t s c h a f t s b e z i e h u n gen n a c h der L o g i k ihrer eigenen G e s e t z e freier und w i r k u n g s v o l l e r gestaltet w e r den. D a s s diese G e s t a l t u n g e n fast i m m e r in V e r t r a g s f o r m g e g o s s e n w e r d e n , weil m a n der sozialen E i g e n d y n a m i k d o c h n i c h t g a n z t r a u t , dass a l s o a u c h „ p r i v a t e o r d e r i n g " den B o d e n des R e c h t s selten g a n z verlässt, wird d a b e i geflissentlich ü b e r sehen o d e r s t i l l s c h w e i g e n d a n e r k a n n t . I g n o r a n z lassen a b e r a u c h J u r i s t e n w a l t e n , w e n n sie F o r m e n privat gestalteter O r d n u n g nur da e r ö r t e r n , w o ein gesetzlicher T a t b e s t a n d den ( v e r m e i n t l i c h ) sicheren Z u g r i f f a u f das b e t r e f f e n d e P h ä n o m e n , sei es S a t z u n g , V e r t r a g o d e r S c h i e d s o r d n u n g , g e s t a t t e t . D i e s e r Z u s t a n d ist i n s g e s a m t unbefriedigend. D i e v o r l i e g e n d e A r b e i t will a n g e s i c h t s dessen den Versuch u n t e r n e h m e n , die R o l l e des R e c h t s w i e d e r in den V o r d e r g r u n d zu r ü c k e n . Sie wird der F r a g e n a c h g e hen, i n w i e w e i t R e c h t einen geeigneten R a h m e n d a f ü r a b g i b t , Privaten die G e s t a l tung regelgeleiteter O r d n u n g s m u s t e r zu e r m ö g l i c h e n . D a z u sollen G r u n d s ä t z e ziviler R e g e l s e t z u n g h e r a u s g e a r b e i t e t w e r d e n , die ü b e r die E x e g e s e v o r h a n d e n e r R e c h t s t e x t e h i n a u s f ü h r e n . D e r S t a a t w i r d d a b e i i n s o f e r n eine R o l l e spielen, als er es ist, dessen N o r m e n a u f g r u n d w e i t g e h e n d e r A n e r k e n n u n g , verlässlicher D u r c h setzung und u n i v e r s a l e r G e l t u n g allein den N a m e n „ R e c h t " v e r d i e n e n . Soziale N o r m e n w e r d e n hingegen nur a m R a n d e b e h a n d e l t . D a m i t soll n i c h t ihre von den S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n i m m e r w i e d e r (und m i t R e c h t ) b e t o n t e B e d e u t u n g in A b r e d e gestellt w e r d e n . D o c h befinden sie sich, w a s die E r f o r s c h u n g ihrer G e n e s e , W i r k u n g s w e i s e und D u r c h s e t z u n g a n g e h t , bei S o z i o l o g e n und Ö k o n o m e n in guten

1 Vgl. etwa (mit unterschiedlicher Akzentuierung) Galanter, Justice in Many Rooms: Courts, Private Ordering, and Indigenous Law, 19 Journal of Legal Pluralism 1 ff. (1981); Möschel, Wettbewerbspolitik, S. 61, 75; RichterlFurubotn, Neue Institutionenökonomik, 2. Aufl. 1999, S.22; Trehilcock, The Limits of Freedom of Contract, S. 2ff.; Williamson, The Mechanisms of Governance, S. 10, 57, 12Iff.; Zurnhausen, Ordnungsmuster im sozialen Wohlfahrtsstaat, S.245. ' Vgl. Kronstein, Das Recht der internationalen Kartelle (1967).

2

Einleitung

H ä n d e n . D e r i m m e r wieder von Juristen

u n t e r n o m m e n e Versuch, soziale

und

r e c h t l i c h e N o r m e n z u i d e n t i f i z i e r e n , h a t s i c h n i c h t z u l e t z t d e s h a l b als F e h l s c h l a g e r w i e s e n , weil er eine w e s e n t l i c h e L e i s t u n g des P r i v a t r e c h t s u n t e r s c h l ä g t - die Freih e i t , s i c h f ü r o d e r g e g e n d i e G e l t u n g b e s t i m m t e r R e g e l n zu e n t s c h e i d e n . I n n e r h a l b der R e c h t w i s s e n s c h a f t hat private O r d n u n g zuletzt v o r a l l e m im öffentlichen

Recht Beachtung erfahren. Unter dem R u b r u m

werden dort Bedingungen einer staatsentlastenden

„Selbstregulierung"

Selbststeuerung der

Gesell-

s c h a f t diskutiert. Im Z e n t r u m steht d a b e i die F r a g e , wie „ p r i v a t e g o v e r n a n c e " gem e i n w o h l v e r t r ä g l i c h gestaltet w e r d e n k a n n , und w e l c h e R o l l e d e m Staat d a b e i zuz u w e i s e n ist.3 W ä h r e n d sich das ö f f e n t l i c h e R e c h t d a m i t - n o t g e d r u n g e n -

„nach

unten"

a u s d e h n t , ist e i n e e n t s p r e c h e n d e A u s s t r e c k u n g d e s P r i v a t r e c h t s

„nach

oben",

also

in

Richtung

komplexerer

Ordnungsmuster,

kaum

auszumachen.

Z w a r s i n d i n s b e s o n d e r e L a n g z e i t v e r t r ä g e in d e n l e t z t e n J a h r e n G e g e n s t a n d t i e f g e hender Untersuchungen gewesen.4 Private Normsetzung wird jedoch nach wie vor n u r in d e n T e i l g e b i e t e n e r ö r t e r t , in d e n e n sie e i n e m e h r o d e r m i n d e r p o s i t i v e R e g e lung e r f a h r e n hat, n a m e n t l i c h also im Gesellschafts- u n d im A r b e i t s r e c h t . S o w e i t v o r h a n d e n , m ü n d e n V e r s u c h e , ein d a r ü b e r h i n a u s g e h e n d e s M o d e l l p r i v a t e r O r d n u n g zu e n t w e r f e n , m e i s t in d e r u n d i f f e r e n z i e r t e n F o r d e r u n g n a c h

„demokrati-

scher L e g i t i m a t i o n " p r i v a t e r H e r r s c h a f t . D a s eine wie d a s a n d e r e - die zivilistische B e s c h r ä n k u n g a u f d i e V e r t r a g s p e r s p e k t i v e u n d die u n k r i t i s c h e Ü b e r n a h m e s t a a t s r e c h t l i c h e r G r u n d s ä t z e - v e r m a g d i e F r a g e n p r i v a t e r O r d n u n g n i c h t a d ä q u a t zu b e a n t w o r t e n . Eine differenziertere Perspektive, die für E i n s i c h t e n der S t a a t s l e h r e d u r c h a u s a u f g e s c h l o s s e n ist, ist d a h e r zu e n t w i c k e l n . Ausgeklammert

bleiben

müssen dagegen

F r a g e n , die i m w e i t e r e n S i n n e

die

Durchsetzung und Vollstreckung privater O r d n u n g betreffen. G e m e i n t sind zum e i n e n V e r f a h r e n , d i e zu e i n e r p r i v a t e n K o n t r o l l e d e r E i n h a l t u n g g e s e t z l i c h a u f e r legter o d e r vertraglich e i n g e g a n g e n e r Verpflichtungen

führen

(„enforcement");

d i s k u t i e r t w u r d e n sie in j ü n g s t e r Z e i t v o r a l l e m m i t B l i c k a u f d i e b i l a n z r e c h t l i c h e A b s c h l u s s p r ü f u n g . ^ D a n e b e n g e h t es u m V e r f a h r e n , m i t d e n e n die B o n i t ä t

von

Personen durch private Institutionen b e s t i m m t und zur G r u n d l a g e künftiger vert r a g l i c h e r E n t s c h e i d u n g e n g e m a c h t w e r d e n . S o l c h e O r d n u n g s m u s t e r , w i e w i r sie in D e u t s c h l a n d in G e s t a l t d e r „ S c h u f a " v o r f i n d e n , w e r f e n F r a g e n a u f , d i e j ü n g s t u n t e r d e m S t i c h w o r t d e s „ R a t i n g " in d i e r e c h t s p o l i t i s c h e K r i t i k g e r i e t e n , u n d d i e

' Vgl. Schwarcz, Private Ordering, 97 Nw.U.I..Rev., 3 1 9 f f . ( 2 0 0 2 ) , der private ordering als „sharing of regulatory authority with private actors" definiert; ähnlich Engel, Private Governance ( 2 0 0 1 ) ; Knill/I.ehmkuhl, Governance and Globalization: Conceptualizing the Role of Public and Private Actors, in: Héritier (ed.), Common Goods: Reinventing European and International Governance ( 2 0 0 2 ) , S . S l f f . 4 Vgl. Kirchner et al., Rohstofferschlielsungsvorhaben in Entwicklungsländern ( 1 9 7 7 ) ; Horn, Langzeitverträge (1981 ); Schanze, Investitionsverträge ( 1986); aus neuerer Zeit Jickeli, Der langfristige Vertrag ( 1 9 9 6 ) ; Oetker, Das Dauerschuldverhältnis und seine Beendigung (1994). 1 Vgl. nur den Bericht des Arbeitskreises „Abschlussprüfung und Corporate Governance" (hrsg. v. Baetge und Lutter), S. 17ff.

Einleitung den R u f n a c h einer gesetzlichen R e g e l u n g laut w e r d e n ließen.6 Schließlich

3 sind

F r a g e n p r i v a t e r G e r i c h t s b a r k e i t a n g e s p r o c h e n . S i e s i n d in v i e l e n s p e z i e l l e n D a r stellungen zum Schiedsrecht aufgearbeitet und erst unlängst zum T h e m a einer H a bilitationsschrift e r h o b e n w o r d e n . 7 D a s rechtfertigt es, a u c h diesen T h e m e n k r e i s nachfolgend auszublenden.

6 Dazu aus neuerer Zeit Fleischer, Gutachten F zum 6 4 . Deutschen Juristentag ( 2 0 0 2 ) , S. 132ff.; Schwarcz, Private Ordering of Public Markets: The Rating Agency Paradox, 2 0 0 2 U. III. I..R. 1 ff.; ferner die Beiträge von Sinclair, Kerwer und Strulik in Héritier (ed.), Common Goods (o. Fn. 3). - Forderungen nach gesetzlicher Regelung privater „Gütezeichen" wurden auch schon früher erhoben, s. Nickiisch, Z R P 1 9 6 8 , 36ff. (Plädoyer für ein „Gütezeichengesetz"); zum verwandten Problem privater Zertifizierung aus jüngerer Zeit Augsherg, Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft, S . 2 5 1 ff.; Spindler, Organisationspflichten, S. 811 ff.

' Ebbing,

Private Zivilgerichte ( 2 0 0 3 ) .

Erster Teil

Die konzeptionellen Grundlagen I m e r s t e n Teil der A r b e i t sollen die G r u n d l a g e n des S y s t e m s p r i v a t e r R e g e l s e t z u n g d a r g e s t e l l t w e r d e n . W o r ü b e r r e d e n wir, w e n n w i r v o n O r d n u n g s p r e c h e n , u n d w e l c h e s o z i a l e n O r d n u n g s m o d e l l e s t e h e n z u r A u s w a h l ? H i e r b e i ist die o f t vern a c h l ä s s i g t e F r a g e a u f z u w e r f e n , w e l c h e R o l l e die v e r s c h i e d e n e n O r d n u n g s m u s t e r der Regelsetzung durch private Akteure e i n r ä u m e n . N a c h einem Blick auf das ordn u n g s s t i f t e n d e E l e m e n t der „ R e g e l " u n d s e i n e K r i t i k w e r d e n P h ä n o m e n e e r ö r t e r t , die in d e r n e u e r e n D e b a t t e u m g e s e l l s c h a f t l i c h e R e g e l u n g s m o d i als „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " B e d e u t u n g e r l a n g t h a b e n . D e m zivilistischen A n s a t z der A r b e i t e n t s p r e c h e n d m u s s d a b e i j e w e i l s k r i t i s c h g e f r a g t w e r d e n , w e r sich h i n t e r d e m „ S e l b s t " d e r r e g u l i e r e n d e n K r ä f t e v e r b i r g t . A u s z u s c h e i d e n sind M e c h a n i s m e n , die v o n v o r n h e rein n i c h t a u f die K r a f t d e r r e c h t l i c h e n , s o n d e r n d e r s o z i a l e n N o r m b a u e n . D a m i t w i r d s o z i o l o g i s c h u n d ö k o n o m i s c h m o t i v i e r t e K r i t i k h e r a u s g e f o r d e r t . D e n m i t ihr v e r b u n d e n e n F r a g e n ist in e i n e r B e t r a c h t u n g der s t a a t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n menbedingungen staatsferner Regulierung nachzugehen.

Rah-

§ 1 Geregelte Ordnung

D e m K o n z e p t einer privaten O r d n u n g lässt sich a m besten d u r c h

Anschauung

k o n k r e t e r E r s c h e i n u n g s f o r m e n n ä h e r treten. B e v o r im folgenden Kapitel dazu geschritten wird, sollen zuerst einige t h e o r e t i s c h e O r d n u n g s k o n z e p t e erörtert w e r den. D e r F o k u s der B e t r a c h t u n g wird dabei gleich a u f jenes o r d n u n g s s t i f t e n d e Ins t r u m e n t g e r i c h t e t , d e m im F o l g e n d e n allein d a s Interesse gilt: die R e g e l .

A. Das I. O r d n u n g u n d

Ordnungsproblem

Chaos

W e n n v o n „ O r d n u n g " d i e R e d e ist, w i r d d a m i t j e d e n f a l l s e i n e s

angesprochen,

n ä m l i c h d i e p o s i t i v b e s e t z t e V o r s t e l l u n g d e r A b w e s e n h e i t v o n C h a o s . S c h o n in d e r Bibel k o m m t diese U r v o r s t e l l u n g zum A u s d r u c k , w e n n G o t t d e m wirren

Aus-

g a n g s z u s t a n d e i n e O r d n u n g e i n z i e h t , d i e sein G e g e n s p i e l e r - „ d e s C h a o s w u n d e r l i c h e r S o h n " ' - zu s t ö r e n t r a c h t e t . N a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h g e s e h e n ist d i e s e s B i l d f r a g w ü r d i g . „ C h a o t i s c h e " P h ä n o m e n e , so lehrt uns die sog. C h a o s - T h e o r i e , k ö n nen d u r c h n i c h t l i n e a r e G l e i c h u n g e n b e s c h r i e b e n w e r d e n , die n i c h t a u f l ö s b a r sind, d e r e n g r a p h i s c h e D a r s t e l l u n g a b e r n i c h t n u r d e m m a t h e m a t i s c h e n L a i e n ein v e r blüffendes M u s t e r an O r d n u n g o f f e n b a r t . Eine p o p u l ä r w i s s e n s c h a f t l i c h e Darstell u n g p r ä s e n t i e r t die T h e o r i e f o l g e r i c h t i g u n t e r d e m P a r a d o x o n : „ C h a o s : D i e O r d n u n g des U n i v e r s u m s " . 2 Ein g a n z ähnliches Bild zeigt sich, w e n n wir den Bereich der R e c h t s - und Sozialw i s s e n s c h a f t e n b e t r e t e n . D i e k l a s s i s c h e V o r s t e l l u n g a n t i k e r S t a a t s l e h r e n ist n o c h d u r c h g ä n g i g g e p r ä g t v o n d e m als m e h r o d e r w e n i g e r s e l b s t v e r s t ä n d l i c h a n g e n o m m e n e n V o r h a n d e n s e i n einer politischen O r d n u n g , deren G e g e n b i l d , die A n a r c h i e , die negativen A s s o z i a t i o n e n eines n a t u r w ü c h s i g e n C h a o s teilt.1 In die Kritik g e r ä t diese V o r s t e l l u n g m i t d e m A n b r u c h einer M o d e r n e , die d a s r a t i o n a l e Bild des „in O r d n u n g " lebenden M e n s c h e n dekonstruiert und der Buntheit divergierender Leb e n s e n t w ü r f e nicht m e h r als Ideal vor Augen halten will.4 Die d a m i t einhergehen-

Goethe, Faust I (Zeile 1384). Gleich, Chaos; weitere naturwissenschaftliche Beispiele bei Hayek, S. 37ff. ' Anschaulich Höffe, Politische Gerechtigkeit, S. 197ff. 4 Zu entsprechenden Philosophien (I.yotard, Derrida u.a.) s. nur Röhl, 1

2

Arten der Ordnung,

Rechtslehre, S . 2 9 8 f f .

8

§ 1 Geregelte

Ordnung

de Rechtskritik steht in einer soziologischen Tradition, die einem geordneten Zusammenleben seine Bedeutung nicht abspricht, jedoch dem Recht, so wie wir es kennen, die Kraft und den Willen bestreitet, eine menschenwürdige Ordnung zu schaffen. 5 Bevor zur Verteidigung der These geschritten wird, dass menschliche Ordnung immer auch regelgeleitet ist und sein muss, werden wir uns daher der Frage zu stellen haben, welche Rolle die verschiedenen Ordnungskonzepte dem Recht, so sie es nicht ganz verwerfen, zuweisen. Aus der Fülle sozialethischer Lebensentwürfe werden dazu diejenigen herausgegriffen, die dem Ordnungsgedanken einen prominenten Platz eingeräumt haben. II. Modelle sozialer Ordnung J. Spontane

Ordnung

Das Bild der „spontanen Ordnung", heute vornehmlich mit dem Namen von Hayek verbunden, beruht auf einem Gedanken, der sich auch schon bei anderen Denkern, etwa den Juristen Georg Jellinek oder Rudolf von Ihering, findet. 6 Danach sind grundsätzlich zwei Arten sozialer Ordnung zu unterscheiden: Die geplante Ordnung, die durch Befehle einer auf Erreichung bestimmter Ziele ausgerichteten Organisation gekennzeichnet ist (Prototyp: staatliche Verwaltung), und die spontane Ordnung, die sich aus dem ungesteuerten Zusammenwirken einzelner Akteure über einen gewissen Zeitraum ergibt (Prototyp: Markt). Während Jellinek noch der Ansicht war, beide Arten der Ordnung könnten nicht streng voneinander getrennt werden, plädierte Hayek entschieden dafür, eine Mischung nach Möglichkeit zu vermeiden. 7 Je komplexer die angestrebte Ordnung, so seine These, desto mehr sei man auf spontane Kräfte angewiesen, denn nur so könne die erforderliche Menge an Wissen generiert werden, zu deren Erwerb ein Organisator niemals in der Lage sei. Auf einer Verkennung dieses Zusammenhanges beruhe die Vorstellung der „Öffentlichrechtler und Beamten", die moderne Gesellschaft wegen ihrer Komplexität planend gestalten zu müssen. x Stellen wir die Frage zurück, wie sich diese Position vor dem Hintergrund eines durch Deregulierung und Privatisierung gewandelten Selbstverständnisses des öffentlichen Rechts ausnimmt, interessiert vor allem die Frage, welche Bedeutung dem Recht in diesem Modell zukommt. Hayek sieht sie in einem möglichst abstrakten Regelungsrahmen, der „nicht auf Schaffung einer Ordnung durch Anordnung, sondern auf die Schaffung der Bedingungen, unter denen sich eine Ordnung 5 Klassisch Marx (einschlägige Zitate bei Fetseher, Marxismus, S . 6 0 1 ff.); zu jüngeren Ansätzen Seelmann, Rechtsphilosophie, § 1 Rn. 15ff. h Zum Folgenden G. Jellinek, Staatslehre, S. 1 f.; Ihering, Zweck, S. 10.3f.; Hayek, Arten der Ordnung, S . 3 2 f f . ; ders., Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, S. 108ff. ' Hayek, Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, S. 1 10. 8 Hayek, Arten der Ordnung, S . 4 2 u. 4 4 . Im öffentlichen Recht gilt Hayek damit als „Erzvater des Neoliberalismus" (H. Hofmann, Gemeinwohl, S . 2 5 , 39). Positivere Assoziationen („äußerst fruchtbar") bei l.adeur, Selbstorganisation, S. 1 ff., I 15ff.

A. Das

9

Ordnungsproblem

von selbst bilden w i r d " , zielt. 9 M u s t e r s o l c h e r R e g e l n , darin b e r ü h r t sich H a y e k mit

jüngeren

Vertretern

der

„law

and

economics"-Bewegung

(„Chicago

S c h o o l " ) , 1 0 sind v o r allem die K e r n v o r s c h r i f t e n des Zivil- und S t r a f r e c h t s , die d u r c h E i g e n t u m s - und V e r t r a g s s c h u t z sozialen A u s t a u s c h e r l a u b e n , ihm a b e r weder einen b e s t i m m t e n Weg n o c h ein k o n k r e t e s Z i e l v o r s c h r e i b e n . D i e Bildung einzelner R e g e l n , a u c h darin s t i m m t H a y e k m i t der „ l a w a n d e c o n o m i c s " - S c h u l e w e i t g e h e n d ü b e r e i n , k a n n e b e n f a l l s s p o n t a n e n K r ä f t e n überlassen b l e i b e n . Z w a r seien g e w i s s e R e g e l m ä ß i g k e i t e n , an denen individuelle A k t e u r e ihre

sozialen

H a n d l u n g e n orientieren k ö n n t e n , u n e r l ä s s l i c h , d o c h bildeten sich s o l c h e , wie Sitte o d e r S p r a c h e zeigten, im L a u f der Z e i t von s e l b s t . " W i r d der S t a a t mit seinen N o r m e n d a m i t w e i t g e h e n d a u f die R o l l e des sprichw ö r t l i c h e n N a c h t w ä c h t e r s v e r w i e s e n , stellt sich die F r a g e , w e l c h e n R a u m

private

R e g e l n im R e i c h s p o n t a n e r O r d n u n g e n e i n n e h m e n k ö n n e n . D a s s diese F r a g e n i c h t g e g e n s t a n d s l o s ist, lehrt ein B l i c k in die W i r k l i c h k e i t : In A b w e s e n h e i t s t a a t l i c h e n R e c h t s verlassen sich M e n s c h e n d u r c h a u s n i c h t allein a u f die stabilisierende R o l l e u n g e s c h r i e b e n e r V e r h a l t e n s e r w a r t u n g e n , s o n d e r n s u c h e n sich künstlich O r i e n t i e rung zu s c h a f f e n . H a y e k selbst sieht denn a u c h die N o t w e n d i g k e i t , dass sich die sozialen A k t e u r e in einer z u k u n f t s o f f e n e n U m w e l t durch R e g e l u n t e r w e r f u n g der p e r m a n e n t e n N e u v e r a r b e i t u n g von W i s s e n s y s t e m a t i s c h entziehen m ü s s e n . 1 2 Allein unter w e l c h e n V o r a u s s e t z u n g e n eine d e r a r t i g e „ R e g e l u n t e r w e r f u n g " für den A k t e u r o d e r für a n d e r e R e g e l b e t r o f f e n e von b i n d e n d e r W i r k u n g sein k a n n o d e r soll, und w e l c h e R o l l e s t a a t l i c h e s R e c h t in dieser

H i n s i c h t spielt, bleibt bei ihm

( e b e n s o wie bei den „ l a w a n d e c o n o m i c s " - V e r t r e t e r n ) a u f f a l l e n d

unbelichtet."

U n g e a c h t e t der Frage, wie m a n sich generell z u m liberalen C r e d o s p o n t a n e r O r d n u n g stellt, wird diese L ü c k e zu schließen sein.

2.

Wettbewerbsordmmg

(„Ordoliberalismus")

E i n e a n d e r e B e t o n u n g e r f ä h r t der O r d n u n g s g e d a n k e im s t a r k w i r t s c h a f t s p o l i t i s c h o r i e n t i e r t e n K o n z e p t des sog. O r d o l i b e r a l i s m u s ( „ F r e i b u r g e r S c h u l e " ) . A u s g a n g s p u n k t dieser L e h r e ist die v o r allem v o n W a l t e r E u c k e n f o r m u l i e r t e E i n s i c h t , dass das M o d e l l der staatlich g e l e n k t e n Z e n t r a l v e r w a l t u n g s w i r t s c h a f t g e s c h e i t e r t i s t . 1 4 W ä h r e n d er sich in dieser T h e s e mit H a y e k einig w e i ß , will E u c k e n n i c h t d a r a u f v e r t r a u e n , dass sich durch die „ s p o n t a n e n K r ä f t e der G e s e l l s c h a f t " eine z u r e i c h e n de W i r t s c h a f t s - und S o z i a l o r d n u n g „ v o n s e l b s t " einstellen w e r d e . S e i n e L ö s u n g b e s t e h t im K o n z e p t einer s t a a t l i c h e n O r d n u n g , die d u r c h „ k o n s t i t u i e r e n d e Prinzi-

Hayek, Arten der Ordnung, S . 4 4 . Vgl. hierzu vorerst nur Behrens, Grundlagen, S. 7 3 f f . , 140ff. " Hayek, Arten der Ordnung, S . 3 8 , 4 5 . 12 Vgl. Hayek, Arten der Ordnung, S . 4 5 . " Vgl. Krüger, Staatslehre, S . 5 0 5 ; kritisch auch Williamson, Governance, S. 146ff. 14 Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 1 0 6 f f „ 155ff.; dazu Böhm, O R D O III, S . X V f f . H Eucken, Wirtschaftspolitik, S . 2 7 , 3 5 6 f f .

9

10

10

§ I Geregelte

Ordnung

pien" geprägt ist, zu denen er neben Eigentums- und Vertragsfreiheit als obersten Grundsatz die Gewährleistung von Wettbewerb auf offenen Märkten rechnet. 1 6 Weil nicht alle sozialpolitischen Ziele durch Markt und Wettbewerb vollständig erreicht werden können, treten daneben „regulierende Prinzipien", die ein staatliches Tätigwerden in begrenztem Umfang rechtfertigen. 17 Als Beispiele solcher Ziele, die staatliches Eingreifen erforderlich machen, nennt Eucken den Umweltschutz, die Arbeitssicherheit, eine gerechte Einkommensverteilung, die soziale Absicherung sowie die Zügelung wirtschaftlicher Macht. Damit sind die Grundpfeiler dessen formuliert, was als „soziale Marktwirtschaft" bis heute den Kern der deutschen Wirtschaftsordnung ausmacht. Stellen wir auch hier wieder die Frage, welche Rolle das Modell den nicht-staatlichen Akteuren zuweist, so erhalten wir eine deutliche Absage an den Korporatismus.iH Sowohl in der berufsständischen Selbstverwaltung als auch in Absprachen privater Verbände sieht Eucken keine Stütze, sondern vielmehr eine Gefährdung seiner Wirtschaftsordnung. Selbstverwaltungskörperschaften, Gewerkschaften und Verbände, so lehre die Erfahrung, seien ausschließlich an der Durchsetzung ihrer partikularen Belange interessiert und blockierten damit den Wettbewerb, dessen langfristigen Nutzen für alle sie zu erkennen nicht willens oder in der Eage seien. 19 Im Auge hat Eucken dabei neben Kartellen und Verbandsabsprachen auch das „autonome Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen", das als „selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft" den Argwohn gleichgesinnter Autoren auf sich zieht. 2 " Gegenüber all diesen Tendenzen verlangt Eucken eine klare Schrankenziehung durch den Staat, den es als ordnende Potenz wieder aktionsfähig zu machen gelte. 21 Mit ihrem Einfluss in Rechtswissenschaft und Politik hat die ordoliberale Schulc Erfolge erzielt, deren markantester das „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen" (GWB) ist. 22 Hinter den weiter gesteckten Zielen ihrer Väter ist sie jedoch zurückgeblieben. Nicht nur scheiterte ihr Kampf gegen haftungsbeschränkende Gesellschaftsformen, 25 auch Kartelle und Allgemeine Geschäftsbedingungen wurden zwar reguliert, aber durchaus nicht eliminiert. 24 Ebenso wenig gelang es, den Korporatismus zu bannen, der in Form von „Bündnissen", „runden Tischen", pluralistisch besetzten „Regierungskommissionen" etc. lebendiger denn Eucken, Wirtschaftspolitik, S . 2 5 4 f f . Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 2 9 1 ff. I S Besonders deutlich Böhm, Privatrechtsgesellschaft, S. 142, 15Sff. 19 Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 3 2 5 f f . 2(1 Vgl. Eucken, Wirtschaftspolitik, S . 2 2 0 , 2 9 5 f., 3 2 8 f . (unter Hinweis auf Böhm, GroßmannDoerth u. Ludwig Raiser). 21 Eucken, Wirtschaftspolitik, S . 3 3 4 . 2 2 Zum frühen Einfluss des Ordoliberalismus auf das europäische Gemeinschaftsrecht s. (kritisch) Whish, Competition Law, S . 2 0 . 2i Die von Eucken und anderen geforderte Abschaffung der GmbH vermochte sich ebenso wenig durchzusetzen wie das Prinzip „Wer herrscht, haftet" (Wirtschaftspolitik, S. 2 8 1 ff.), vgl. dazu grundsätzlich B G H Z 4 5 , 2 0 4 . 16 17

2 4 Kritik daran aus der Schule des Ordoliberalismus bei Emmerich, schel, Wettbewerbsbeschränkungen, R n . 2 6 2 ; kritisch dazu Rittner,

Kartellrecht, S. 62 und MriAcP 188, 101, 126ff., 137.

A. Das je e r s c h e i n t . D a s

11

Ordnungsproblem

entscheidende M a n k o der ordoliberalen Position

angesichts

d i e s e r B e f u n d e b e s t e h t d e n n a u c h w e n i g e r in M ä n g e l n i h r e r T h e o r i e a l s in d e r Ü b e r s c h ä t z u n g s t a a t l i c h e r R e g u l i e r u n g s k a p a z i t ä t bei U n t e r s c h ä t z u n g eines p r a k tischen Bedürfnisses nach flexiblen und gleichwohl verlässlichen

Regelungsstan-

d a r d s . S o r i c h t i g d i e h i s t o r i s c h e E r f a h r u n g ist, d a s s g e s e l l s c h a f t l i c h e G r u p p e n d a z u neigen, die G e s a m t o r d n u n g

ihren

Sonderinteressen

zu u n t e r w e r f e n , so

wenig

überzeugt es, sich einer grundsätzlichen O f f e n h e i t g e g e n ü b e r den verschiedenen gesellschaftlichen

Ordnungsmöglichkeiten

von

vornherein

zu

verschließen.26

W e n n w i r die M a h n u n g e n E u c k e n s d a h e r nicht a u ß e r A c h t lassen d ü r f e n , so m ü s sen w i r d o c h f r a g e n , o b p r i v a t e O r d n u n g n i c h t dergestalt f o r m u l i e r t w e r d e n k a n n , d a s s sie a u c h

innerhalb einer liberalen Wirtschaftsordnung

legitimationsfähig

bleibt.

J.

Natürliche

Ordnung

(„Ordo")

A u f k o n t r ä r e m , in g e w i s s e m S i n n a b e r a u c h v e r w a n d t e m F u ß e s t e h e n L e h r e n , d i e von einer dem Recht vorgegebenen Sozialordnung ausgehen.27 Historische Ausp r ä g u n g erhielt diese Vorstellung z u n ä c h s t im christlich-mittelalterlichen

Ordo-

G e d a n k e n , dessen f o r t w i r k e n d e r K e r n die Idee einer s t ä n d i s c h e n G l i e d e r u n g als „ Z u w e i s u n g des eines jedem g e b ü h r e n d e n O r t e s " (Augustinus) ist.28

Nachdem

d i e s e V o r s t e l l u n g i m b ü r g e r l i c h e n Z e i t a l t e r a n B e d e u t u n g v e r l o r , e r f u h r sie a l s „ b e r u f s s t ä n d i s c h e O r d n u n g " in d e r k a t h o l i s c h e n S o z i a l l e h r e e i n e N e u f o r m u l i e r u n g , die teils e r w ü n s c h t e , teils u n e r w ü n s c h t e Parallelen im A u f b a u der n a t i o n a l s o z i a l i s tischen W i r t s c h a f t s - und S o z i a l o r d n u n g f a n d . 2 9 R u d i m e n t e dieser O r d n u n g leben h e u t e in d e r „ f u n k t i o n a l e n " S e l b s t v e r w a l t u n g ( z B B e r u f s k a m m e r n ) u n d i m S o z i a l versicherungsrecht f o r t . ' 0 Ungeachtet ihrer rechtspolitischen B e w e r t u n g

stellen

d i e s e E r s c h e i n u n g e n j e d e n f a l l s k e i n e „ p r i v a t e " O r d n u n g d a r , w e i l sie i h r e E n t s t e hung nicht privater Initiative, sondern staatlicher A n o r d n u n g v e r d a n k e n . "

Als

„ m i t t e l b a r e S t a a t s v e r w a l t u n g " w e r d e n sie f o l g e r i c h t i g n i c h t d e m p r i v a t e n , s o n dern dem öffentlichen R e c h t zugeordnet.32

Näher dazu unten, § 2 (S.27ff.). Behrens, Grundlagen, S . 2 0 . 2 Zur Bedeutung dieser Lehre für den Ordoliberalismus und seiner Abgrenzung von ihr Euchen, Wirtschaftspolitik, S. 3 7 2 f . 2fi Vgl. Ottmann, Staatslexikon, Stichwort „Ordnung". 2 9 Vgl. Orel, Wahre Ständeordnung ( 1 9 3 4 ) ; Dahm, Deutsches Recht ( 1 9 4 4 ) , S. 2 8 2 f f . ; rückblickend Leßmann, Wirtschaftsverbände, S. 38ff. i 0 Vgl. Huber, Selbstverwaltung der Wirtschaft, S.9ff. " Zur Verfassungsmäßigkeit selbstverwaltender Zvvangskörperschaften zuletzt BVerfGE 107, 5 9 , 90ff. (Wasserverband); zur Herausforderung dieses Ordnungsmusters durch „Europäisierung und Ökonomisierung" Oebbecke, V V D S t R L 6 2 (2003), S . 3 6 6 f f . 25

lk

52 Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, S . 2 7 9 f f . , 2 9 5 ; speziell zu den Sozialversicherungsträgern Waltermann, Sozialrecht, Rn. 104ff.

12

§ I Geregelte

Ordnung

E b e n f a l l s d e m O r d o - G e d a n k e n e n t l e h n t ist das s o g . S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p , nach d e m sich der A u f b a u der G e s e l l s c h a f t „ v o n unten n a c h o b e n " zu vollziehen h a t . " M i t d e m liberalen S t a a t s b i l d g e m e i n ist dieser A u f f a s s u n g , dass sie b e i m einzelnen M e n s c h e n ihren A u s g a n g s p u n k t n i m m t und d e m S t a a t n u r eine d i e n e n d e F u n k t i o n z u s c h r e i b t . D e r e n t s c h e i d e n d e U n t e r s c h i e d zu j e n e m b e s t e h t d a r i n , dass im O r d n u n g s m o d e l l des „ g e g l i e d e r t e n S o z i a l k ö r p e r s " den i n t e r m e d i ä r e n G r u p p e n F a m i l i e n , V e r e i n e n , G e m e i n d e n etc. - eine t r a g e n d e R o l l e z u g e w i e s e n w i r d . ' 4 I m U n t e r s c h i e d zu R o u s s e a u s a u f g e k l ä r t e m S t a a t des s o u v e r ä n e n V o l k e s , der zwischen sich und seinen B ü r g e r n keine v e r m i t t e l n d e n K r ä f t e d u l d e t , w i r d den gen a n n t e n G e m e i n s c h a f t e n d a b e i eine integrative B e d e u t u n g b e i g e m e s s e n , die S t a a t und R e c h t v o r g e g e b e n u n d v o n ihnen d a h e r zu r e s p e k t i e r e n sei. Z u z u g e b e n ist diesen L e h r e n , dass es n i c h t nur naiv, s o n d e r n a u c h r e c h t s p o l i tisch verfehlt w ä r e , die soziale und a n t h r o p o l o g i s c h e B e d e u t u n g n a t ü r l i c h e r G e m e i n s c h a f t e n zu l e u g n e n . ' 6 Ihre d u r c h w e g positive B e w e r t u n g m u s s a b e r m i t ein e m F r a g e z e i c h e n versehen w e r d e n , denn der G e m e i n s c h a f t s g e d a n k e (und m i t ihm die O r d o - L e h r e ) ist d u r c h a u s a m b i v a l e n t . 3 7 N i c h t jede G e m e i n s c h a f t s b i n d u n g e r f o l g t freiwillig und der von kleineren G e m e i n s c h a f t e n a u s g e h e n d e D r u c k ( „ p e e r p r e s s u r e " , „ m o b b i n g " etc.) v e r u r s a c h t p e r s ö n l i c h e B e l a s t u n g e n , die jene s t a a t l i c h e n U r s p r u n g s d u r c h a u s ü b e r t r e f f e n k ö n n e n . ' 8 D e m G r e n z e n zu z i e h e n , ist g e r a d e eine der w e s e n t l i c h e n A u f g a b e n des R e c h t s . D a m i t ist zugleich eine gewisse Skepsis g e b o t e n g e g e n ü b e r s o l c h e n T e n d e n z e n , w e l c h e die „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " der sozialen K r ä f t e v o r s c h n e l l m i t p o s i t i v e m V o r z e i c h e n versehen. Kritisch zu sehen ist v o r diesem H i n t e r g r u n d a u c h das sog. S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p , das oft p a u s c h a l zugunsten g e s e l l s c h a f t l i c h e r S e l b s t o r g a n i s a t i o n ins Feld g e f ü h r t w i r d , damit a b e r seinen potentiell freiheits- und w e t t b e w e r b s g e f ä h r d e n d e n

Charakter

n i c h t m e h r e r k e n n e n l ä s s t . 4 0 M i t d e m S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p allein lassen sich bes t i m m t e L ö s u n g e n jedenfalls w e d e r b e g r ü n d e n n o c h w i d e r l e g e n .

4. Konkrete

Ordnung

Eine Spielart des O r d o - G e d a n k e n s stellt eine S i c h t w e i s e dar, für die C a r l S c h m i t t im A n s c h l u s s an r o m a n i s c h e R e c h t s l e h r e r in den dreißiger J a h r e n die F o r m e l der

" Rauseber, Staatslexikon, Stichwort „Subsidiarität"; Isensee, HStR § 5 7 Rn.79, 165ff.; ders., Subsidiarität und Verfassungsrecht, S. 18ff. ' 4 Vgl. dazu Knemeyer, Staatslexikon, Stichwort „Körperschaft". Vgl. Rousseau, Politische Ökonomie, S.35; ders., Gesellschaftsvertrag, S . 3 l f . Hier berühren sich „linke" und „rechte" Kritik liberal-individualer Gesellschaftsordnung, vgl. für erstere etwa ]. Huber, Kleine Netze, S. 171 ff. (unter Hinweis auf Erich Fromm); für letztere H. Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht, S. 34ff. (mit Verweis auf Carl Schmitt). ' 7 Vgl. eingehend Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 97; aus jüngerer Zeit Offe, Civil Society and Social Order, S.274, 291 f.; Wietbölter, Recht, S.218f. ' 8 Plastisch beschrieben schon von G. Jellinek, Staatslehre, S.225f. Seelmann, Rechtsphilosophie, § 4 Rn.2f., 5f. 4 0 Vgl. Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S.5f.

A. Das

Ordnungsproblem

13

„ k o n k r e t e n O r d n u n g " p r ä g t e . 4 1 N a c h dieser gegen den Positivismus v o r a n g e g a n g e n e r J a h r e g e r i c h t e t e n L e h r e wird die O r d n u n g des sozialen L e b e n s nicht v o m R e c h t g e s c h a f f e n , s o n d e r n bereits v o r g e f u n d e n . N u r a u f d e m B o d e n u n d im R a h m e n der g e g e b e n e n O r d n u n g , so S c h m i t t , k o m m e N o r m e n und R e g e l n „eine gewisse regulierende F u n k t i o n " z u . 4 2 N i c h t die B i l d u n g a b s t r a k t e r T a t b e s t ä n d e sei d e m n a c h die A u f g a b e der R e c h t s w i s s e n s c h a f t , s o n d e r n das H e r a u s a r b e i t e n des „ N o r m a l e n " , des „ T y p i s c h e n " in I n s t i t u t i o n e n w i e E h e o d e r F a m i l i e , die ihre O r d n u n g „in sich s e l b s t " t r ü g e n . 4 ' S c h m i t t s t a n d d a m i t n i c h t allein. A u c h a n d e r e A u t o r e n seiner Z e i t stellten a u f die B i n d u n g des R e c h t s an die O r d n u n g v o r h a n d e n e r G e m e i n s c h a f t e n a b , w o b e i a u c h sie A n l e i h e n bei r o m a n i s c h e n D e n k e r n n a h m e n . In den V o r d e r g r u n d r ü c k t e dabei die „ s o z i a l e F u n k t i o n " der R e c h t s i n s t i t u t e , die m a n zuvörderst in ihrer G e m e i n s c h a f t s d i e n l i c h k e i t s a h . 4 4 D e r m e t h o d i s c h e n K r i t i k , die diese und ä h n l i c h e O r d n u n g s l e h r e n e r f a h r e n h a b e n , ist hier nicht w e i t e r n a c h z u g e h e n . 4 5 In der S a c h e sind sie A u s d r u c k der E r k e n n t n i s , dass b e s t i m m t e L e b e n s e r s c h e i n u n g e n sich d e m juristischen Z u g r i f f off e n b a r entziehen und n a c h eigenen „ G e s e t z e n " leben. D i e s e E i n s i c h t ist freilich n i c h t r e v o l u t i o n ä r , s o n d e r n i m m e r s c h o n von der R e c h t s s o z i o l o g i e h e r v o r g e h o b e n w o r d e n . 4 6 U n s p e k t a k u l ä r ist a u c h die T h e s e , das R e c h t h a b e diese Seinsgesetze in g e w i s s e m Sinne zu rezipieren. Sie lebt f o r t in m o d e r n e n V a r i a n t e n n a t u r r e c h t l i c h e n D e n k e n s , die sozialen I n s t i t u t i o n e n wie E h e , F a m i l i e o d e r F r e u n d s c h a f t einen E i g e n w e r t z u s p r e c h e n , der v o n der s t a a t l i c h e n R e c h t s o r d n u n g n i c h t k ü n s t l i c h ges c h a f f e n werden k ö n n e , a u f deren V o r h a n d e n s e i n sie a b e r a n g e w i e s e n s e i . 4 7 Allen logischen A n w ü r f e n z u m T r o t z , die a u f einer s c h a r f e n T r e n n u n g von Sein und Sollen b e h a r r e n , birgt diese S i c h t w e i s e , wie a u c h die k a t h o l i s c h e G e m e i n s c h a f t s l e h r e , einen richtigen K e r n , bleibt a b e r den d a g e g e n bereits e r h o b e n e n E i n w ä n d e n ausgesetzt. D a n e b e n fragt sich, i n w i e w e i t das R e c h t - n a m e n t l i c h das P r i v a t r e c h t - n i c h t d o c h dazu beitragen k a n n , v e r t r a u e n s v o l l e s Z u s a m m e n g e h e n a u f k ü n s t l i c h e m W e g zu f ö r d e r n .

41 Vgl. Carl Schmitt, Denken, S. 7ff. Schmitt beruft sich neben Hauriou vor allem auf Santi Romano, L'ordinamento giuridico („Die rechtliche Ordnung"), 1918 (ebd., S. 20, 45). 42 Schmitt, Denken, S. 11. 4' Schmitt, Denken, S.9, I7ff. 4 4 Vgl. Siebert, Verwirkung, insbes. S . 7 4 f „ 87ff., 155ff.; ferner L. Raiser, AGB, S.279, 281 f. Siebert stützt sich vornehmlich auf Josserand (De Tabus des droits, 1905; De l'esprit des droits et de leur relativite, 1927); zu dessen Bedeutung im französischen Recht Hopt, Schadensersatz aus unberechtigter Verfahrenseinleitung, S. 78ff.; zu Sieberts Lehre ausführlich Haferkamp, Die heutige Rechtsmißbrauchslehre - t'.in Ergebnis nationalsozialistischen Rechtsdenkens? (1995). 4 1 Ausführlich Rüthers, Auslegung, S.277ff.; ders., Entartetes Recht, S.59ff., 189ff.; zurückhaltender aus zeitgenössischer Sicht E Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S.337ff. 4 6 Vgl. nur Ehrlich, Soziologie, S.23f. (und öfter); M. Weber, Gesellschaft, S. 187ff. 4 / Vgl. etwa L. Raiser, Rechtsschutz und Institutionenschutz im Privatrecht, S. 124ff.; harsche Kritik daran bei Rüthers, Entartetes Recht, S. 192ff.; s. dagegen aber Neumann (oben, Eußn. 45).

14

§ 1 Geregelte

5. Zivile

Ordnung

Ordnung

E i n e s ä k u l a r e V a r i a n t e der O r d o - L e h r e b e g e g n e t uns in n e u e r e r Z e i t im tarismus.

Kommuni-

H i n t e r d e m S a m m e l b e g r i f f v e r b e r g e n sich L e h r e n , deren g e m e i n s a m e r

N e n n e r im K e r n darin b e s t e h t , die i d e n t i t ä t s s t i f t e n d e B e d e u t u n g von

Gemein-

s c h a f t zu b e t o n e n , m i t der sie gegen i n d i v i d u a l i s i e r e n d e T e n d e n z e n der M o d e r n e a n t r e t e n . 4 8 D a m i t v e r b i n d e t sich bei m a n c h e n die V i s i o n einer d r i t t e n , z w i s c h e n s t a a t l i c h e m Z w a n g u n d individueller A u t o n o m i e siedelnden O r d n u n g , für w e l c h e die a m e r i k a n i s c h e S o z i o l o g i e den B e g r i f f der „civic o r d e r " g e p r ä g t h a t . 4 9 Im Unterschied zu a u t o r i t ä r e n o d e r g a r t o t a l i t ä r e n A u s w ü c h s e n , die die d e u t s c h e n G e m e i n s c h a f t s l e h r e n im „ D r i t t e n R e i c h " e r f u h r e n und die sie für m a n c h e diskreditiert h a b e n , sieht der liberale K o m m u n i t a r i s m u s dieser P r ä g u n g d u r c h a u s die G e f a h r , dass G e m e i n s c h a f t e n repressive, p a t e r n a l i s t i s c h e o d e r a u t o r i t ä r e Z ü g e e n t f a l t e n k ö n n e n . E r b e g e g n e t ihr d u r c h das Bild einer Zivilgesellschaft,

die d u r c h

freiwillige Z u s a m m e n s c h l ü s s e p l u r a l i s t i s c h e N e t z w e r k e bildet, in d e n e n sich eine v e r a n t w o r t u n g s b e w u s s t e B ü r g e r s c h a f t selbst o r g a n i s i e r t und im p o l i t i s c h e n System artikuliert.50 D e m A n s t o ß und der S e l b s t b e s t ä t i g u n g , die diese S i c h t w e i s e in v e r g a n g e n e n J a h r z e h n t e n d u r c h p o l i t i s c h e E r f o l g e v o n B ü r g e r i n i t i a t i v e n und „ p r o g r e s s i v e m o v e m e n t s " e r f a h r e n h a t , steht die F r a g e gegenüber, w e l c h e n E r t r a g dieses Bild für die r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e D i s k u s s i o n e r b r i n g t . D i e Bilanz fällt e h e r bescheiden aus. N e b e n der m e h r r h e t o r i s c h e n F r a g e , o b w i r es bei B ü r g e r i n i t i a t i v e n mit einer A r t „vierter G e w a l t " zu tun h a b e n , 5 1 steht der allfällige H i n w e i s a u f die G r u n d r e c h t e , die als A n g e l p u n k t e für eine D e z e n t r a l i s i e r u n g des p o l i t i s c h e n Prozesses b e s c h r i e b e n w e r d e n . 5 2 D a r a n ist r i c h t i g , dass vor a l l e m die in d i e s e m K o n t e x t neu e n t d e c k t e V e r e i n i g u n g s f r e i h e i t (Art. 9 A b s . 1 G G ) in der A u s l e g u n g , die ihr das B V e r f G g e g e b e n h a t , das P o t e n t i a l für die E i n f o r d e r u n g von O r g a n i s a t i o n s f o r m e n bietet, derer e n g a g i e r t e B ü r g e r zur effektiven G e s t a l t u n g ziviler O r d n u n g bedürfen. D a s Z i v i l r e c h t trägt dieser E i n s i c h t s c h o n seit l a n g e m R e c h n u n g , i n d e m es vereinigungswilligen B ü r g e r n die e n t s p r e c h e n d e n O r g a n i s a t i o n s f o r m e n zur V e r f ü g u n g

4 8 Guter Überblick bei Reese-Schäfer, Kommunitarismus (2000); aus der Primärliteratur Honnetb (Hrsg.), Kommunitarismus (1994); C. Taylor, Negative Freiheit? (mit einführendem Nachwort A. Honneth, ebd., S. 297ff.); aus juristischer Sicht Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus, S. 253 ff. 4 9 Vgl. Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft (1997); ders., Die Entdeckung des Gemeinwesens (1995); ders., The Active Society (1968); dazu Reese-Schäfer, Kommunitarismus, S. 111 ff., 138ff.; siehe auch schon Selznick, Law, Society, and Industrial Justice (1969), S. 26ff., 117f., und - darauf aufbauend - Teubner, Organisationsdemokratie, S. I 11 ff. 5 0 Vgl. Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, S. 139f.; Habermas, Faktizität, S. 443ff.; aus juristischer Sicht Calliess, Das Zivilrecht der Zivilgesellschaft, in: Joerges/Teubner (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht (2003). 11 Vgl. dazu die Beiträge von Hohmann und Ladern in Kursbuch 50 (1977), S. 113ff., 122ff. >2 Beck, Risikogesellschaft, S. 317f.; Habermas, Faktizität, S.445; Zumbansen, Ordnungsmuster im sozialen Wohlfahrtsstaat, S.275, 299.

A. Das

Ordnungsproblem

15

stellt. Z u n e n n e n ist e t w a die in A u s b i l d u n g und K a u t e l a r p r a x i s ein S c h a t t e n d a sein f r i s t e n d e , rechtlich a b e r voll a u s g e b i l d e t e G e n o s s e n s c h a f t , die als G r u n d m u s ter d e z e n t r a l e r ziviler O r d n u n g a n g e s e h e n w i r d . 5 ' Z u m a n d e r e n ist an die v o m hist o r i s c h e n G e s e t z g e b e r b e w u s s t a b s c h r e c k e n d a u s g e s t a l t e t e R e c h t s f o r m des n i c h t r e c h t s f ä h i g e n Vereins ( § 5 4 B G B ) zu d e n k e n , die von R e c h t s p r e c h u n g und L e h r e c o n t r a legem z u m t a u g l i c h e n G e w a n d ideeller Z u s a m m e n s c h l ü s s e

geschmiedet

w o r d e n i s t . 5 4 M i t dieser B e t r a c h t u n g ist der A n s t o ß d a f ü r g e g e b e n , wie a u f d e m W e g zu ziviler O r d n u n g f o r t z u s c h r e i t e n ist. D i e juristische B e t r a c h t u n g w i r d zu u n t e r s u c h e n h a b e n , w e l c h e r e c h t l i c h e n I n s t r u m e n t e der S t a a t seinen B ü r g e r n z u m Z w e c k e ziviler R e g e l s e t z u n g bereitstellt u n d o b diese der E r g ä n z u n g bedürftig und fähig sind, u m o r d n u n g s e t h i s c h e n F o r d e r u n g e n zu g e n ü g e n .

6.

Ordnungsethik

M i t dem Stichwort „Ordnungsethik" (auch: „ ö k o n o m i s c h e E t h i k " , „Ordnungsö k o n o m i k " ) ist ein letztes M o d e l l s o z i a l e r O r d n u n g a n g e s p r o c h e n , das für den V e r s u c h s t e h t , p o l i t i s c h e Ö k o n o m i e und P h i l o s o p h i e zu e i n e m sozial- und w i r t s c h a f t s e t h i s c h e n K o n z e p t zu v e r b i n d e n . 5 5 G r u n d g e d a n k e des M o d e l l s ist die E r k e n n t n i s , d a s s sich Kooperation

a u f lange S i c h t z u m Vorteil aller Beteiligten aus-

w i r k t . Weil ein einzelner k o o p e r a t i o n s w i l l i g e r A k t e u r j e d o c h n i c h t w e i ß , o b sich die a n d e r e n e b e n f a l l s k o o p e r a t i v v e r h a l t e n w e r d e n o d e r o b sie als sog. „ T r i t t b r e t t f a h r e r " o h n e eigenen E i n s a t z und zu seinem N a c h t e i l n u r v o n seiner K o o p e r a t i o n s w i l l i g k e i t profitieren w e r d e n , wird er sich im Z w e i f e l e b e n f a l l s u n k o o p e r a t i v v e r h a l t e n . T u n dies alle, weil sich jeder in einer gleich u n s i c h e r e n L a g e b e f i n d e t , u n t e r b l e i b t die K o o p e r a t i o n , o b w o h l sie sich für alle im E r g e b n i s a u s g e z a h l t h ä t t e . D i e L ö s u n g dieses P r o b l e m s , das in der R e g e l m i t d e m a u s der S p i e l t h e o r i e e n t l e h n ten Beispiel des G e f a n g e n e n d i l e m m a s illustriert w i r d , liegt in der E i n f ü h r u n g v o n Institutionen.56

I m w e i t e r e n S i n n e r e c h n e n dazu alle sozialen M e c h a n i s m e n , die es

e r m ö g l i c h e n , K o l l e k t i v h a n d l u n g s p r o b l e m e zu ü b e r w i n d e n und zu einer sozial v o r t e i l h a f t e n K o o p e r a t i o n zu g e l a n g e n . S o l c h e M e c h a n i s m e n k ö n n e n in der E i n r i c h t u n g von K o m m u n i k a t i o n s w e g e n , v o r a l l e m a b e r im G e n e r i e r e n und H o n o r i e r e n l ! Vgl. dazu J. Huber, Kleine Netze, S. 171 ff. (Modelle genossenschaftlich organisierter Bürgernetzwerke); aus rechtsökonomischer Sicht Hansmann, Ownership, S. 53ff., 149ff. 5 4 Näher K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 2 5 IV. " Zum Folgenden insbes. Homann/Kircbner, Ordnungsethik, S. 189, 195ff.; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 1, 32ff.; Sucbanek, Ökonomische Ethik, S. 31 ff.; ferner Höffe, Politische Gerechtigkeit, S.412ff.; Bernholz/Breyer, Politische Ökonomie, S.7ff.; im weiteren Sinne auch Ladeur, Selbstorganisation, insbes. S.67ff., 87ff., 259ff.; ferner Offe, Demokratie und Wohlfahrtsstaat, S.270. Zu Vorläufern in der modernen Wohlfahrtsökonomie (Baumol, Buchanan, Samuelson u.a.) s. Downs, Demokratie, S. 15f. Zu anderen Strömungen der Wirtschaftsethik ausführlich Gerlach, Ethik und Wirtschaftstheorie (2002). Kommunitaristische Deutung der „Morality of Cooperation" bei Selznick, Law, Society, and Industrial Justice, S. 18ff., 26ff. 56 Die Ordnungsökonomik wird daher auch als Teil der sog. Institutionenökonomik verstanden. Zu dieser u.a. Ricbter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik; Kurzdarstellung auch bei Fleischer, Informationsasymmetrie, S. 131 ff.

16

§ I Geregeitc

Ordnung

von Vertrauen liegen: Wer darauf vertrauen darf, dass andere „mitmachen", wird sich zu einer Kooperation in der Regel bereit finden. Der Charme der Ordnungsökonomik besteht darin, dass sie positive und normative Aussagen miteinander verbindet, indem sie sich nicht darauf beschränkt, Institutionen lediglich zu erklären, sondern ihre Vorteilhaftigkeit für das soziale Zusammenleben in den Vordergrund rückt. Gegenüber der gleichfalls mit normativem Anspruch auftretenden sog. „Ökonomischen Analyse des Rechts","' 7 die Normen ausschließlich am Kriterium gesamtwirtschaftlicher Effizienz misst,SH hat sie den Vorzug, auf den Vorteil aller Beteiligten bedacht und damit auch für unverzichtbare (Grund-)Rechte offen zu sein. 1 9 Staatstheoretisch lassen sich auf diesem Wege überzeugend die Legitimation staatlicher Herrschaft und der Geltungsanspruch des Rechts begründen. 60 Darüber hinaus kann der ordnungsethische Ansatz für ein allgemeines, private Normen einschließendes Modell der Regelsetzung fruchtbar gemacht werden, das juristische und sozialwissenschaftliche Einsicht miteinander verbindet. Ob das Modell wirklich, wie seine Vertreter meinen, auf einen allgemeinen Konsens der Betroffenen gegründet werden kann oder nicht vielmehr eine Variante des Regelutilitarismus darstellt, bedarf an dieser Stelle noch keiner Entscheidung. Ungeachtet dessen können wir hier schon sagen, dass der ordnungsethische Ansatz einen Leitfaden dieser Arbeit ausmachen wird.

7. Zusammenfassung

und

Bewertung

Alle dargestellten Ordnungskonzepte stimmen darin überein, dass sinnvolle soziale Ordnung nicht durch staatliche Anordnung allein hergestellt werden kann. Welche Rolle den übrigen Akteuren dabei einzuräumen ist, wird unterschiedlich bewertet. Während manche darauf vertrauen, dass sich soziale Ordnung quasi von selbst einstellen werde, setzen andere auf die ordnungsstiftende Kraft natürlicher Institutionen, wieder andere stehen jeder Form „selbstgeschaffenen Rechts" skeptisch gegenüber. Alle diese Sichtweisen sprechen für sich genommen einen berechtigten Aspekt an, doch vermag keine aufzuzeigen, wie ein normatives Regelungsmodell ausgestaltet sein müsste, um einen legitimen Rahmen für private Ordnungen abzugeben. Weiterführende Ansätze dazu enthält das zuletzt erörterte Konzept, indem es auf die Bedeutung vertrauensschützender Institutionen aufmerksam macht, mit deren Hilfe sich allgemein vorteilhafte Kooperationsverhält1 7 Die in Deutschland eingebürgerte Bezeichnung ist insofern missverständlich, als auch Ordnungs- und Institutionenökonomik das Recht ökonomisch analysieren. Im Text wird zur Kennzeichnung des effizienzorientierten Ansatzes der Chicago-Schule (Cooter, Posner u.a.) die im angelsächsischen Sprachraum gängigere Bezeichnung „law and economics" verwandt. Zur Unterscheidung der verschiedenen Spielarten s. die grafische Übersicht bei van Aaken, „Rational Choice" in der Rechtswissenschaft, S . 2 6 3 .

Gründliche Kritik daran bei Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (1995). Zu dem Umstand, dass auch die Ordnungsethik letztlich eine Variation des Utilitarismus ist, siehe unten, § 6 A.II.2.b. ( S . 1 7 0 f . ) . 58 ,9

60

Ausführlich unten, § 6 A.II.2.b. (S. 168ff.).

B. Ordnung

durch

Regeln

17

nisse aufbauen lassen. Bevor wir der Frage nachgehen, wie vor diesem Hintergrund die Cirundlagen ziviler Regelbildung formuliert werden können, ist dem Einwand zu begegnen, dass sich Ordnung überhaupt nicht auf Regeln reduzieren lässt.

B. Ordnung

durch

Regeln

Die Regelgläubigkeit des Juristen ist in gewissem Sinne zum Stereotyp geworden. Schon Eugen Ehrlich, der Begründer der Rechtssoziologie, spottete über die Vorstellung, die Menschen würden nach den Regeln leben, nach denen Juristen ihre Fälle entschieden. 6 1 Im Folgenden werden wir uns auf solche Stimmen konzentrieren, die das Modell regelgetragener Ordnung immanent, d.h. aus rechtswissenschaftlicher Sicht kritisieren. I. Z u r Kritik des juristischen Regelmodells Kritik am Regelmodell findet sich, vereinfacht gesagt, in zwei Formen. Die Fundamentalkritik spricht Regeln überhaupt ihre Eigenschaft ab, menschliches Verhalten zu steuern. Die gegen den Gesetzespositivismus gerichtete Kritik lenkt das Augenmerk auf Prinzipien, die sich mit einem einfachen Regelmodell nicht erfassen lassen.

1.

Fundamentalkritik

Der jüngste Generalangriff gegen das Bild geregelter Ordnung, den wir pars pro toto diskutieren, stammt von dem schweizerischen Kriminologen Marcel Niggli. In seinem groß angelegten Werk über „Bindung und N o r m " richtet er sich mit Schärfe gegen die Vorstellung, der Mensch sei als vernünftiger Akteur durch Regeln ansprech- und steuerbar. 62 Unter Aufbietung einer stattlichen Anzahl sozialund verhaltenswissenschaftlicher Autoritäten legt er dar, wie menschliches Verhalten durch eine Vielzahl externer und interner Faktoren beeinflusst wird, deren Resultat nicht mehr als F'rgebnis einer rationalen Entscheidung angesehen werden könne. 6 ' Soweit Niggli damit den homo juridicus erlegen will, der tut, was (und weil es) geboten ist und unterlässt, was (und weil es) verboten ist, rennt er damit allerdings offene Türen ein, denn eine derart naive Vorstellung wird spätestens seit der Etablierung der Rechtssoziologie auch in der Rechtswissenschaft nicht mehr vertreten. Soweit Niggli darüber hinaus jedes Modell regelgeleiteter Ordnung ver61

Vgl. Ehrlich,

Soziologie, S . 2 1 f.

Niggli, Bindung und Norm, Band 1: Menschliche Ordnung ( 2 0 0 0 ) . Ebenfalls fundamental, aber mit gegenteiliger Stoßrichtung (kognitive Rekonstruktion des Rationalismus) Mahlmann, Rationalismus in der praktischen Theorie ( 1 9 9 9 ) . M Mgg//, ebd., insbes. S. 185ff., 2 4 7 f f . ; ähnliche Gedanken, freilich mit weniger radikalen Konsequenzen, bei Kirsch, Neue Politische Ökonomie, S. 192ff. 62

18

5 1 Geregelte

Ordnung

wirft, schießt er über das Ziel hinaus, denn was immer Menschen bei ihren Handlungen motiviert, Normen spielen dabei jedenfalls auch eine Rolle. 6 4 Wenn Juristen - und nicht nur sie 65 - sich also weiterhin am Bild der „Regel" orientieren, so geschieht dies weitgehend aus denselben Gründen, warum auch der homo oeconomicus trotz anhaltender Kritik nicht aus der Ökonomik verschwunden ist. 66 Der entscheidende Grund ist der, dass ein rechts- oder sozialwissenschaftliches Modell, das nicht im Fatalismus enden will, so lange von rationalen, d.h. prinzipiell durch Regeln ansprechbaren Akteuren ausgehen muss, wie kein umfassendes, d.h. rationale wie irrationale Züge erfassendes Modellbild des Menschen zur Verfügung steht. 6 7 Wohl wissend, dass es sich nur um eine „zweitbeste Lösung" handelt, 68 kann es einstweilen nur darauf ankommen, erkannte Irrationalitäten soweit wie möglich in das juristische (resp. ökonomische) Modell einzubauen. Eben das geschieht auch, wenn etwa das Verbraucherrecht Widerrufsrechte einräumt, weil Konsumenten ihre Kaufentscheidung unter bestimmten Umständen nicht „rational" treffen, wenn Informationsmängeln, die zu Fehlentscheidungen führen, durch richterrechtliche Aufklärungspflichten begegnet wird oder wenn seelischen Zwangslagen durch Unveräußerlichkeitspostulate Rechnung getragen wird. 6 9 Nichts anderes gilt für die Ökonomik, wenn dort die Bedeutung von Institutionen (wieder-)entdeckt wird, um so der begrenzten Rationalität („bounded rationality") der Akteure bei komplexen Transaktionen Herr zu werden. 7 0 Das letzte Beispiel zeigt im Übrigen, warum wir ganz ungeachtet der Frage, inwieweit staatliche Normen an der partiellen Irrationalität ihrer Adressaten scheitern, im Rahmen dieser Arbeit von der Regelorientierung der Akteure ausgehen können. Private Akteure streben nämlich ganz offenbar selbst danach, ihr Leben

6 4 Vgl. nur Mackie/Smith, Social Psychology, S. 3 8 0 f . ; auch schon M. Weber, Gesellschaft, S . l O f . , 182. 6-'' Zur Regelgläubigkeit juristischer Laien etwa Marburger, VersR 1983, 5 9 7 , 6 0 0 : „Für viele Techniker entscheidet in erster Linie ,die Norm', womit nicht etwa das Grundgesetz, das einfache Gesetzesrecht oder eine Rechtsverordnung, sondern die DIN-Norm gemeint ist". 6 6 Vgl. Behrens, Grundlagen, S . 5 0 f . Ausführliche Rechtfertigung des homo oeconomicus unter Berücksichtigung der sozialpsychologischen Einwände u.a. hei Coleman, Social Theory, S. 16ff.; Homann/Suchanek, Ökonomik, S . 4 1 4 f f . ; Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S. 12ff., 3 3 („Eingeschränkt rationales Verhalten ist eben auch rationales und nicht irrationales Verhalten"), S. 148; Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S. 13ff.; ferner schon Buchanan/Tullock. Consent, S. 17f., 36ff., 2 9 7 f f . ; Brennan/Buchanan, Regeln, S. 62ff.; Daums, Demokratie, S . 4 f f . ; siehe im Übrigen auch Eidenmüller, Effizienz, S . 3 9 f . h l Auch Niggli muss konzedieren, dass seine „reine Defizitanalyse" in Ermangelung eines alternativen Modells praktisch wertlos bleibt (ebd., S. 4 3 3 ) . Der zweite Band seiner Arbeit, mit dem er „Bausteine" eines solchen Modells verspricht, liegt bislang nicht vor. 6 8 Zum sog. Theorem des Zweitbesten Eidemniiller, Effizienz, S. 162f. 6 9 Vgl. (mit weiteren Beispielen) Eisenherg, The Limits of Cognition and the Limits of Contract, 4 7 Stan. L . R . 2 1 1 ( 1 9 9 5 ) ; ausführlich Trebilcock, The Limits of Freedom of Contract ( 1 9 9 3 ) ; aus der deutschen Literatur (zum Versicherungsvertrag) Rehberg, Informationsproblem, S. 6 6 f f . 70

Vgl. nur Williamson,

Governance, S . 6 ; Kirchgässner,

Homo Oeconomicus, S . 2 7 f f .

fí. Ordnung

durch

Regeln

19

nach Regeln auszurichten, indem sie sich dort welche setzen, wo der Staat sie mit eigenen Regeln verschont. Dazu bedarf es nicht erst des Hinweises auf komplexe Langzeitverträge; schon der einfache Blick auf das bunte Bild der Vereinsordnungen reicht aus, dies zu illustrieren. Ob auch die privaten Akteure mit diesem Verhalten dem Irrglauben an die eigene Rationalität erliegen, mag hier dahingestellt sein. In jedem Fall bestätigt es die Einsicht der Sozialpsychologie, dass Menschen gerade wegen ihrer beschränkten Rationalität nach Orientierung suchen, die sie unter anderem in dem finden, was wir als Normen bezeichnen. 71

2.

Positivismuskritik

Mit dem Normbegriff ist der zweite Kritikpunkt angesprochen, der aus Rechtstheorie und Methodenlehre herrührt. Dort ist es üblich geworden, zwischen „Regeln" und „Prinzipien" (oder: „Grundsätzen") zu unterscheiden. 72 Während Regeln einfache Anordnungen enthalten, die entweder anwendbar sind oder nicht, bringen Prinzipien Werte zum Ausdruck, über deren Verwirklichung nicht durch einfache Subsumtion entschieden werden kann. Im Gegensatz zum Gesetzespositivismus, der sich auf die Arbeit an geschriebenen Regeln beschränkt, sehen Vertreter eines prinzipiengeleiteten Rechtsdenkens die eigentliche Herausforderung der Jurisprudenz darin, die leitenden Prinzipien einer Rechtsordnung herauszuarbeiten und sie zu einem „inneren System" zusammenzuführen. 71 Dieser Ansatz lässt zunächst jene Versuche als ungenügend erscheinen, die dem Phänomen privater Regeln durch Suche nach gesetzlichen Vorschriften beikommen wollen, unter die sie die betreffende Erscheinung subsumieren können. 74 Ein anspruchsvolleres Konzept muss in der Tat nach Grundsätzen suchen, die jenseits der vorhandenen oder nicht vorhandenen Normen des geschriebenen Rechts die Fundamente eines inneren Systems der Regelbildung erkennen lassen. Was die privaten Regelwerke selbst betrifft, kann man nun ebenfalls die Frage stellen, ob die dadurch konstituierte Ordnung durch bloßes Erfassen ihrer positiven Regeln adäquat beschrieben wird, oder ob nicht auch hier die Suche nach einem „inneren System" geboten ist. Nehmen wir, um den Unterschied zur ersten Fragestellung zu veranschaulichen, das Beispiel des Tarifvertrages. Um zu einem System ziviler Regelsetzung zu gelangen, darf nicht bei einzelnen Normen des Tarifvertragsgesetzes stehen geblieben werden, sondern ist der Frage nachzugehen, Vgl. Smitb/Mackie, Social Psychology, S. 3 8 0 f . ; Ladeur, Selbstorganisation, S. 131 ff. Wegweisend Esser, Grundsatz und Norm ( 1 9 5 6 ) ; aus dem angelsächsischen Schrifttum insbes. Dworkin, Bürgerrechte, S. 54ff. und zuvor schon Selznick, Law, Society, and Industrial Justice, S. 12, 2 6 f . , 2 5 2 f . (unter Hinweis auf Roscoe Pound und Benjamin Cardozo); siehe ferner Alexy, Grundrechte, S. 71 ff.; l.arenz, Richtiges Recht, S. 2 3 ff.; Röhl, Rechtslehre, S. 251 ff.; Sieckmann, Regelmodelle (passim); Langenhucher, Jb.J.ZivRWiss. 1 9 9 9 , S . 6 5 , 79. 71

72

Klassisch Savigny, Beruf, S . 2 2 ; aus neuerer Zeit insbes. Canaris, System, S. 4 6 f f . und Bydlinski, System, S . 3 1 ff.; für das europäische Privatrecht Grundmann, Systembildung im Europäischen Privatrecht, S. 1 ff. 74

Vgl. dazu unten, § 4 B. (S.95ff.) und §6 B . I . l . ( S . 1 8 0 f . ) .

20

§ I Geregelte

Ordnung

ob diese nicht Ausdruck allgemeiner Sätze sind, die über das Arbeitsrecht hinaus Beachtung verlangen (erste Fragestellung). In ähnlicher Weise kann ein konkreter Tarifvertrag darauf abgeklopft werden, ob neben oder hinter seinen Regeln Grundsätze zum Ausdruck kommen, die für die Rechtsbeziehungen der Tarifgebundenen von Bedeutung sind (zweite Fragestellung). Da die zweite Frage sich immer nur auf ein ganz bestimmtes Regelwerk bezieht und nur für dieses zu beantworten ist, müsste, um zu allgemeineren Aussagen zu gelangen, eine repräsentative Auswahl der betreffenden Regelwerke herangezogen und entsprechend analysiert werden. Diese Aufgabe mag empirisch zu bewältigen sein, stößt aber auf ein methodisches Problem, weil eine „Einheit der Rechtsordnung", welche die Herausbildung eines inneren Systems erst trägt, 7 5 für Regeln heterogener Herkunft nicht ohne weiteres angenommen werden kann. Wenn wir uns im Verlaufe dieser Arbeit daher auf die erste Fragestellung beschränken werden, so wird damit nicht die Notwendigkeit bestritten, in weiteren, interdisziplinär zu leistenden Arbeiten auch die zweite Fragestellung in Angriff zu nehmen. Jedoch erweist sich die erste Fragestellung nicht nur als die methodisch einfacher zu bewältigende, sie ist auch logisch vorrangig. Um nämlich ermitteln zu können, welche allgemeinen Grundsätze sich hinter bestimmten privaten Regelwerken (möglicherweise) verbergen, sind seinerseits Grundsätze erforderlich, die angeben, mit Hilfe welcher Kriterien die erstgenannten Grundsätze zu finden sein sollen. Im Vertragsrecht wird man dazu üblicherweise auf den „Willen der Parteie n " und, in Ermangelung eines solchen, auf den „hypothetischen Parteiwillen" verwiesen. Dieser Maßstab ist, wie wir noch sehen werden, wenig weiterführend. Geht es um komplexere Regelwerke, etwa die Satzung eines Vereins, soll stattdessen eine „objektive" Betrachtung Platz greifen, doch fragt sich, woran diese im konkreten Fall ausgerichtet werden soll. Die Klärung dieser Fragen schafft die Grundlage zur Analyse konkreter Regelwerke, die anderen Studien vorbehalten bleiben muss.

II. Z u m Regelbegriff Viele Missverständnisse in der Debatte um private Regelsetzung rühren daher, dass zentrale Begriffe wie „ R e g e l " oder „ N o r m " nicht einheitlich definiert und folglich unterschiedlich verstanden werden. Vor der Betrachtung typischer Phänomene privater Ordnung, die unter dem Stichwort „Selbstregulierung" diskutiert werden, bedarf es daher noch einer genaueren Eingrenzung des Regelbegriffs.

1. Recht, Norm und

Regeln

Wenn in der juristischen Debatte von „privater Rechtsetzung" die Rede ist oder wenn bestimmte Autoren auch das Rechtsgeschäft als „Rechtsquelle" einordnen 71

Canaris,

System, S. 1 8 .

B. Ordnung durch

21

Regeln

w o l l e n , w i r d bisweilen der E i n w a n d laut, v o n „ R e c h t ' ' k ö n n e n u r d o r t die R e d e sein, w o die b e t r e f f e n d e Regel v o m S t a a t h e r r ü h r e . V o m s t a a t l i c h e n G e s e t z g e b e r sei zu e r w a r t e n , dass er die Idee der G e r e c h t i g k e i t verfolge, w o h i n g e g e n Private in der R e g e l a u f ihren eigenen Vorteil b e d a c h t seien. Private R e g e l n erführen n u r im R a h m e n der s t a a t l i c h e n R e c h t s o r d n u n g G e l t u n g , o h n e selbst den C h a r a k t e r von „ R e c h t " zu t r a g e n . 7 6 D i e s e r E i n w a n d ist p r o b l e m a t i s c h , weil, wie i n s b e s o n d e r e die p o l i t i s c h e Ö k o n o m i e b e t o n t h a t , a u c h „ d e r S t a a t " n u r die F u n k t i o n v e r s c h i e d e n e r E i n z e l w i l l e n ( W ä h l e r , A b g e o r d n e t e , B e a m t e ) ist, die je für sich g e n o m m e n d u r c h aus eigene Interessen v e r f o l g e n . 7 7 E n t s c h e i d e n d ist d a h e r n i c h t , w e r eine R e g e l erlässt, s o n d e r n o b die R e g e l s e t z u n g so s t r u k t u r i e r t ist, dass für die A d r e s s a t e n ein e r t r ä g l i c h e s E r g e b n i s e r w a r t e t w e r d e n k a n n . 7 8 W e n n wir g l e i c h w o h l der t r a d i e r t e n S i c h t folgen und den B e g r i f f „ R e c h t " für N o r m e n s t a a t l i c h e n U r s p r u n g s reserviert h a l t e n , so zum einen d e s h a l b , weil es n a c h wie v o r gute G r ü n d e gibt, Befehlen des S t a a t e s b e s o n d e r e A u t o r i t ä t z u z u e r k e n n e n , 7 9 z u m a n d e r e n , weil s t a a t l i c h e N o r m e n , w i e s c h o n gesagt, a u s t a t s ä c h l i c h e n G r ü n d e n eine h e r a u s g e h o b e n e R o l l e im sozialen O r d n u n g s g e f ü g e e i n n e h m e n und a u c h e m p i r i s c h gut v o n a n d e r e n N o r men a b z u g r e n z e n s i n d . 8 0 W e i t a u s u n k l a r e r als der R e c h t s b e g r i f f ist d e r j e n i g e der „ N o r m " . In der S o z i o l o gie ü b l i c h e r w e i s e als O b e r b e g r i f f für r e c h t l i c h e und soziale (gesellschaftliche) Verh a l t e n s m a ß s t ä b e g e b r a u c h t (bisweilen a u c h nur im zweiten S i n n e ) , 8 1 e r f ä h r t er in der J u r i s p r u d e n z eine d u r c h a u s

unterschiedliche

V e r w e n d u n g . Teilweise

mit

„ R e c h t s n o r m " identifiziert, b e z e i c h n e n a n d e r e d a m i t generelle R e g e l n , die h e t e r o n o m g e l t e n , d . h . o h n e b e s o n d e r e Z u s t i m m u n g des A d r e s s a t e n V e r b i n d l i c h k e i t bea n s p r u c h e n . 8 2 In diesem Sinne ist e t w a im A r b e i t s r e c h t von der

„normativen"

W i r k u n g des T a r i f v e r t r a g s die R e d e , der, wie m a n bildlich zu f o r m u l i e r e n pflegt, „ v o n a u ß e n " a u f die A r b e i t s v e r h ä l t n i s s e der T a r i f g e b u n d e n e n „ e i n w i r k t " . W i e d e r a n d e r e v e r w e n d e n „ N o r m " s y n o n y m für alle S o l l e n s s ä t z e , a l s o W e n d u n g e n , die keine A u s s a g e , s o n d e r n einen Befehl zum A u s d r u c k b r i n g e n . Einen engeren N o r m begriff legt m a n im R e c h t der T e c h n i k z u g r u n d e . D o r t m e i n t m a n m i t „ N o r m " in der R e g e l t e c h n i s c h e S t a n d a r d s , deren A u f s t e l l u n g n i c h t als „ N o r m s e t z u n g " , s o n dern als „ N o r m u n g " e r f a s s t w i r d . Z u r eigenen W i s s e n s c h a f t wird der N o r m b e griff schließlich in der a n a l y t i s c h e n R e c h t s l e h r e , die dazu tiefsinnige Ü b e r l e g u n g e n s e m a n t i s c h e r und l o g i s c h e r A r t a n s t e l l t . 8 3 D e r kurze Ü b e r b l i c k zeigt, w a r u m es r a t s a m ist, für Z w e c k e dieser U n t e r s u c h u n g das W o r t „ N o r m " eher zu m e i d e n und n a c h M ö g l i c h k e i t a u f den neutraleFlumc, Rechtsgeschäft, S. 5f.; Schmidt-Rimpler, Vertragsrecht, S. 130, 161 ff. Deutlich bereits Rousseau, Politische Ökonomie, S.27ff. u. S.37; aus neuerer Zeit u.a. Buchanan/Tullock, Consent, S. 3ff.; Behrens, Grundlagen, S. 322ff.; Daums, Demokratie, S. 15ff. K Die zentrale These wird im Laufe der Arbeit noch erhärtet werden. 9 Dazu nur Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 82ff. su Oben, Hinleitung; ferner Röhl, Rechtslehre, S. 186. s l Statt aller Th. Raiser, Rechtssoziologie, S. I77ff. m.w.N. s 2 Etwa F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S.64ff., 84ff. 8 ! Näher Alexy, Grundrechte, S.40ff.; Röhl, Rechtslehre, S. 167ff. 77

22

$ 1 Geregelte Ordnung

ren Term „Regel"

auszuweichen. Entsprechend der allgemeinsten Verwendung

von „ N o r m " , die oben erwähnt wurde, soll „ R e g e l " dabei für jeden Satz stehen, der ein Sollen zum Ausdruck bringt, gleich, ob er von den Adressaten selbst oder von anderen gesetzt wurde. 8 4 Dabei wird nicht der Einwand verkannt, dass sich rechtlich relevante Regeln nicht in Befehlssätzen erschöpfen, sondern etwa auch Ermächtigungs- und Kompetenzregeln umfassen können, doch gewinnen diese Bedeutung jeweils nur im Kontext von Imperativen, so dass ein vereinfachtes Verständnis von „ R e g e l " jedenfalls vorläufig zulässig erscheint. 8 ' 1 Soweit im Folgenden der Begriff „ N o r m " gebraucht wird, geschieht dies im engen Sinne abstraktgenereller Regeln rechtlicher oder sozialer Art oder zwecks Diskussion solcher Ansichten, die den Normbegriff explizit verwenden.

2. Präskriptive

Regeln und

Zweckmäßigkeitsregeln

Andere Missverständnisse rühren daher, dass nicht hinreichend unterschieden wird zwischen Regeln, die ein Verhalten gebieten (präskriptive Regeln), und solchen, die es nur als zweckmäßig empfehlen (Zweckmäßigkeitsregeln). 8 6 „Es ist verboten, Sachen zu beschädigen" ist ein Beispiel für eine präskriptive Regel, „Wer heute den Europacup gewinnen will, muss die Viererabwehrkette spielen" ein solches für eine Zweckmäßigkeitsregel. 8 7 Der Unterschied wird oft dadurch verschleiert, dass beide Arten von Regeln sprachlich in derselben Weise ausgedrückt werden. Zweckmäßigkeitsregeln werfen juristisch betrachtet grundsätzlich keine Probleme auf, denn sie nehmen keine Verbindlichkeit für sich in Anspruch, sondern ermöglichen lediglich gesellschaftliches Lernen. 8 8 Wer den Fußball-Europacup nicht gewinnen will oder meint, es besser als der Empfehlende zu wissen, darf natürlich in anderer Formation antreten. Verliert er deswegen, hat sich die Empfehlung als richtig, gewinnt er dennoch, hat sie sich als falsch erwiesen. Eine Empfehlung kann mit rechtlichen Sanktionen verknüpft sein, doch stellt sie dann keine Empfehlung, sondern eine (verdeckte) präskriptive Regel dar. Die Nichteinhaltung bestimmter Empfehlungen kann auch soziale Sanktionen hervorrufen, etwa - im Beispiel - die Abkehr der Anhänger. Die Empfehlung gewinnt dann den Charakter einer sozialen N o r m , bleibt aber juristisch irrelevant, solange das Recht von ihr keine Notiz nimmt. Zur Illustration der Wirkung von Zweckmäßigkeitsregeln mögen die zunehmend Verbreitung erfahrenden Kodizes

84

Für diesen a l l g e m e i n e n R e g e l h e g r i f f e t w a

griffen

Max Weber,

des Finanzmarktsektors dienen, die das

Kantorowicz,

R e c h t , S. 3 8 f. Z u sonstigen R e g e l b e -

A n a l y s e des Begriffs der R e g e l , S. 1 3 2 f f .

Röhl,

85

Vgl. auch

^

Z u r Unterscheidung nur

R e c h t s l e h r e , S. 2 0 6 f f .

Mahlmann,

R a t i o n a l i s m u s , S. 1 3 3 f . Z u r parallelen T r e n n u n g von

k a t e g o r i s c h e n und h y p o t h e t i s c h e n I m p e r a t i v e n in der E t h i k s.

Kant,

S.242. s

Beispiele n a c h

sii

Hart in:

Mahhnann,

ebd.

J o e r g e s / T e u b n e r , R e c h t s v e r f a s s u n g s r e c h t , S. 1 1 3 , 1 1 8 .

D i e M e t a p h y s i k der Sitten,

ß. Ordnung

durch

Regeln

23

Vertrauen von Kunden oder Anlegern stärken helfen sollen. 89 Ihre Empfehlungen („best practice") werden sich dann durchsetzen, wenn sie dieses Vertrauen tatsächlich fördern. Dazu kommt es nicht darauf an, dass das empfohlene Verhalten objektiv sinnvoll („gerecht", „fair", „effizient" o.ä.) ist, sondern dass die Kunden und Anleger meinen, die Einhaltung der Regeln sei ihnen dienlich, oder, noch vermittelter, dass die Adressaten des jeweiligen Kodex (Emittenten, Analysten u.a.) glauben, die Kunden und Anleger hielten die Regel für sinnvoll und erwarteten daher deren Einhaltung. 90 Auf diese Weise kann sich eine Zweckmäßigkeitsregel auch ohne staatlich sanktionierten Befolgungsanspruch zur (sozialen) Norm entwickeln. 91 Handelt es sich dagegen um präskriptive (= gebietende) Regeln, stellt sich juristisch gesehen die Frage, inwieweit der Regelsetzer berechtigt ist, mit einem derartigen Befolgungsanspruch aufzutreten. Formal betrachtet ist das die Frage nach der „Ermächtigungsgrundlage". Tatsächlich wird die Regel nur dann dauerhaft mit dem Anspruch auf Befolgung auftreten können, wenn sie auch als legitim zu bewerten ist. Im damit angeschnittenen Legitimationsproblem, dessen zentrale Bedeutung für unser Thema wir noch näher beleuchten müssen, verschmelzen erneut rechtliche, ökonomische und ethische Fragestellung.

3. Gesetzte

und gewachsene

Regeln

Regeln lassen sich schließlich in bewusst gesetzte und „organisch" (moderner: „evolutiv") gewachsene unterscheiden. Seit dem Bedeutungsverlust des Gewohnheitsrechts, das praktisch nur noch als Richterrecht existiert, spielen gewachsene Regeln im Bereich des staatlichen Rechts keine nennenswerte Rolle mehr. 92 Anders liegt es im Bereich privater Ordnung. Neben Regeln, die von privaten Akteuren bewusst gesetzt werden, stehen dort solche, die sich aus privater Übung im Laufe der Zeit entwickelt haben. Als „spontane Ordnung" haben sie in jüngerer Zeit namentlich bei amerikanischen „law and economics"-Vertretern Aufmerksamkeit erfahren. 9 ' Ausgehend von der Beobachtung, dass soziale Sanktionen, etwa Reputationsverluste, von den Betroffenen als Kosten in ihr Kalkül einbezogen Dazu noch unten, § 2 B.II.2 ( S . 4 5 ) und § 2 A.I.4. ( S . 3 3 ) . Den damit nur angedeuteten Entstehensbedingungen sozialer Normen kann hier nicht weiter nachgegangen werden, s. dazu neben den bereits Genannten insbes. I.uhmann, Rechtssoziologie, S . 3 1 ff. (Norm als „Erwartung von Erwartungen"); aus sozialpsychologischer Sicht Smtth/ Mackie, Social Psychology, S. 3 7 5 f f . 89

90

Vgl. Luhmann (vorhergehende Fußnote). Kritisch dazu Rückert, in: KritKomBGB, Vor § 1 R n . 2 7 : Gewohnheitsrecht als „Garant einer Rechtsbildung von den Parteien her"; zu diesem - problematischen - Argument noch näher unten, § 10 B.I.3.C (S. 350). - Zum streitigen Verhältnis von Richter- und Gewohnheitsrecht statt aller Röhl, Rechtslehre, S . 5 2 5 f f . , 5 4 4 f . und unten, § 10 A.I.2. ( S . 3 3 3 ) . 91

92

Vgl. dazu vor allem die Beiträge zum Ghicagoer Symposion „Social norms, social meaning, and the economic analysis of law" (E. Posner, Cooter, Ellicksnn, Lessig u.a.), abgedruckt in 2 7 J . Legal Stud. ( 1 9 9 8 ) ; ferner R. Posner/Rasmusen, 19 Int. Rev. Law & Econ. ( 1 9 9 9 ) , S. 3 6 9 f f . Weitere Nachweise und kurzer Bericht über den Stand der Dinge bei Eisenberg, 99 Col. L. Rev. 1 2 5 3 ( 1 9 9 9 ) ; deutschsprachige Darstellung bei Engert, Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , 31 ff. Siehe auch schon die

24

$ 1 Geregelte

Ordnung

werden, vertritt man dort die These, dass sich effiziente Normen auch ohne staatlichen Einfluss auf Dauer von selbst herausbildeten. 94 Damit, so die mehr oder minder deutlich ausgesprochene Folgerung, erwiesen sie sich staatlichem Recht gegenüber als überlegen. Diese Rechtskritik, die letztlich darauf zielt, staatliche Regeln auf einen Minimalrahmen zurückzufahren, ist insofern nicht neu, als die Vorzüge gewachsener Ordnung seit den Tagen der historischen Rechtsschule auch dem kontinentalen Juristen vertraut sind. 95 Wie die gesamte „ökonomische Analyse des Rechts" ist sie im Übrigen dem Einwand ausgesetzt, mit dem Effizienzkriterium nur einen, zudem unscharfen Parameter „guter" Regelbildung benannt zu haben. 9 6 Gewachsene Ordnungen, das zeigt mit aller Deutlichkeit die historische Entwicklung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Kartelle, entsprechen häufig eben gerade nicht dem, was nach opinio communis „gute" Ordnung ausmacht. 97 Sie sind auch ökonomisch betrachtet keineswegs immer effizient, weil die ungleiche Machtverteilung sozialer Kräfte sich in den von ihnen erzeugten Normen widerspiegelt. 98 Das „System der natürlichen Freiheit" (Adam Smith) bedarf daher eines künstlichen Schutzes vor sich selbst, weil es sonst in Gefahr gerät, durch den Einfluss „natürlicher" Kräfte denaturiert zu werden. 9 9 Wenn das Recht auch insgesamt gut daran tut, durch Zulassung und Ermöglichung privater Regelbildung permanent entwicklungsoffen zu bleiben, so muss sein Rahmen doch so beschaffen sein, dass er die Bildung solcher Regeln befördert, die zu einer ökonomisch und ethisch akzeptablen Ordnung führen. 1 0 " Der ordnungsethische Ansatz, der beide Gedanken verbindet, wird uns helfen, diesen Rahmen zu entwickeln.

4. Regelsetzer

- Regeladressat

-

Regelbetroffener

Zum Schluss ist es ratsam, sich bei der Erörterung von Regelsetzung der Scheidung der Regelbeteiligten in drei Gruppen bewusst zu bleiben. Für den Regelsetzer stellt sich in erster Linie die Frage, inwieweit er von den Regeladressaten die Befolgung seiner Regeln erwarten darf. Dies hängt, wie die Scheidung in präskriptive und früheren Beiträge zur Effizienz des Common L . a w von Rubin, Priest, Cooter und Rubinfeld, sämtlich abgedruckt in R. Posner/Parisi (ed.), Economic Foundations of Private Law ( 2 0 0 3 ) , S. 1 12ff. 9 4 Zur spieltheoretischen Untermauerung des Arguments s. Kliemt, Antagonistische Kooperation, S . 5 9 f f . Klassisch Savigny, Beruf, S. 2 0 f f . , 111 ff.; aus neuerer Zeit nur Schanze, Institutionen, 1.4.4 (S. 97). Ausführlich zur „natürlichen" Entstehung von Normen aus ökonomischer Sicht Leder, Evolution (1998); aus soziologischer Sicht Weseke, Gegenseitigkeit (2001); aus sozio-biologischer Sicht v. Rohr, Recht ( 2 0 0 1 ) . Kritik u.a. bei Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S . 2 8 6 f . Vgl. Nörr, Die Leiden des Privatrechts, S . 9 0 ; Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 178 f. 9 8 Vgl. Behrens, Grundlagen, S. 170ff.; C o l e m a n , Social Theory, S . 2 6 2 f . ; K. Günther, (Zivil-) Recht, in: Joerges/Teubner, Rechtsverfassungsrecht, S . 2 9 5 , 3 0 2 f f . ; Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S. 2 2 1 ff.; Hopt, Anlegerschutz, S . 2 6 6 . 96

97

99 100

Albert, Freiheit, S . 2 8 f . Vgl. Wiethölter, Recht, S . 2 1 8 , 2 2 0 f f .

C.

Zusammenfassung

25

Zweckmäßigkeitsregeln veranschaulichte, zunächst davon ab, welche Wirkung er selbst seinen Regeln beigemessen sehen möchte. Sollen sie bloße Zweckmäßigkeitsregeln (Empfehlungen) sein, wird das Maß ihrer Einhaltung sich danach richten, inwieweit sie zur Erreichung des jeweiligen Zweckes geeignet erscheinen. Spiegelbildlich stellen sich die Fragen für den Regeladressaten. Er wird eine Zweckmäßigkeitsregel befolgen, wenn sie dem vorgestellten Zweck dienlich erscheint. Präskriptiven Regeln schenkt er Gehorsam, wenn er dazu gezwungen werden kann, doch stellt sich der Zwang nur als vordergründige Stütze der Regelgeltung dar. 101 Entscheidend für den dauerhaften Erfolg einer gebietenden Regel ist auch aus Adressatensicht der Umstand, ob diese Legitimität für sich beanspruchen kann. Deutet sich der Gedanke der Legitimation damit bereits als Schlüsselbegriff dieser Arbeit an, bleibt noch die Perspektive der Regelbetroffenen zu beleuchten. Sie deckt sich zum Teil mit derjenigen der Adressaten, ist mit dieser aber nicht identisch. Betroffen von einer Regel ist auch derjenige, der durch ihre sozialen Wirkungen nur faktisch begünstigt oder belastet wird. 1 0 2 Legt etwa eine (private oder staatliche) Regel Höchstwerte für Emissionen fest, sind die Anrainer dadurch insoweit begünstigt, als dem Emittenten das Überschreiten der Grenze untersagt wird. Sie sind aber auch belastet, weil die Regel Emissionen überhaupt gestattet, indem sie sie bis zur vorgegebenen Grenze zulässt. Das darin zum Ausdruck kommende Spannungsverhältnis zwischen Regelsetzern, -adressaten und -betroffenen lässt sich, wie die Debatte um das sog. Coase-Theorem gezeigt hat, weder ökonomisch noch juristisch mit einer Patentformel lösen. 1 0 5 Es muss aber im Blickfeld bleiben, wenn Fragen privater Regelsetzung erörtert werden.

C.

Zusammenfassung

Die Ordnung des sozialen Lebens, das steht heute außer Streit, kann durch hoheitliche Planung nicht allein bewältigt werden. Entgegen radikalen Positionen sollte sie auch nicht dem Spiel der natürlichen Kräfte überlassen bleiben. Unerlässlich ist ein institutioneller Rahmen, zu dem als wesentliches Element das Recht gehört. Mit seiner Hilfe vermögen private Akteure durch Aufstellen von Regeln eine künstliche Ordnung zu stiften, die jenseits staatlicher und natürlicher Zwänge das Zusammenleben der Menschen zu fördern vermag. Wenig gewonnen ist mit der radikalen These, Regeln generell als Ordnungsfaktor zu verwerfen. Vielmehr sind

Siehe nur Radbruch, Rechtsphilosophie, S . 8 0 ; Tb. Raiser, Rechtssoziologie, S. 195. Mestmäcker hat diese Drittwirkung in Anlehnung an G. JeUinek („normative Kraft des Faktischen") als die „normative Kraft privatrechtlicher Verträge" bezeichnet (so der Titel seines oft zitierten Beitrags in J Z 1 9 6 4 , 4 4 1 ) . Zur sog. normativen Kraft des Faktischen noch unten, 5 10 A.I.2. ( S . 3 3 2 ) . 101 102

" " Vgl. Coleman, Social Theory, S . 2 5 0 , 7 8 7 f f . Aus der überreichen L.iteratur im Übrigen nur Kirchner, Einleitung zu Coase, Das Problem der sozialen Kosten (in: Assmann/Kirchner/Schanze, Ökonomische Analyse des Rechts, S. 129ff.); Schwintowski, J Z 1 9 9 8 , 5 8 1 f.

26

§ 1 Geregelte

Ordnung

Grundsätze zu bestimmen, mit denen regelgeleiteter O r d n u n g eine ökonomisch und ethisch verlässliche Basis verschafft werden kann. Sprachlichen Ausdruck findet diese Forderung im Legitimationsgedanken. Wenn wir ihm später ausführlich nachgehen werden (unten, §6), sind die Differenzierungen im Blick zu halten, nach denen sich Regeln ihrem Geltungsanspruch und der beteiligten Personenkreise nach unterscheiden.

§ 2 Private O r d n u n g und „Selbstregulierung"

N a c h d e m die G r u n d b e g r i f f e „ O r d n u n g " und „ R e g e l " g e k l ä r t sind, sollen im zweiten S c h r i t t k o n k r e t e E r s c h e i n u n g s f o r m e n p r i v a t e r O r d n u n g gesichtet w e r d e n , die h e u t e v o r n e h m l i c h unter d e m R u b r u m „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " diskutiert w e r d e n . N i c h t jedes der d a m i t a n g e s c h n i t t e n e n P r o b l e m e liegt i n n e r h a l b des E r k e n n t n i s i n teresses dieser A r b e i t . M i t der S i c h t u n g sind d a h e r zugleich jene R e c h t s f r a g e n ausz u s o r t i e r e n , die im w e i t e r e n V e r l a u f n i c h t m e h r v o n R e l e v a n z sein w e r d e n . D a m i t soll gleichzeitig der hier verfolgte p r i v a t r e c h t l i c h e A n s a t z v o n a n d e r e n , e h e r ö f fentlich-rechtlich orientierten Herangehensweisen geschieden werden.

A. „Selbstregulierung"

als selbst gestaltete

Ordnung

D i e V o r s i l b e „ s e l b s t " hat K o n j u n k t u r : „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " , „ S e l b s t o r g a n i s a t i o n " , „ S e l b s t v e r p f l i c h t u n g " usw. - all diesen Begriffen k o n n o t i e r t die V o r s t e l l u n g einer f r e i e n , von den B e t r o f f e n e n in eigener R e g i e gestalteten O r d n u n g . D i e s p r a c h l i c h e N ä h e z u m p r i v a t r e c h t l i c h e n P a r a d i g m a der S e l b s t b e s t i m m u n g ist o f f e n k u n d i g , s c h ü r t a b e r M i s s v e r s t ä n d n i s s e . 1 Bei n ä h e r e r B e t r a c h t u n g zeigt sich, dass sich hinter den d e r a r t b e z e i c h n e t e n P h ä n o m e n e n d u r c h a u s u n t e r s c h i e d l i c h e O r d n u n g s muster verbergen.

I. E r s c h e i n u n g s f o r m e n v o n „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " A l l g e m e i n g e s p r o c h e n b e z e i c h n e t „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " d e n j e n i g e n Bereich des sozialen L e b e n s , der aus b e s t i m m t e n G r ü n d e n n i c h t d e m freien Spiel der M a r k t k r ä f te ü b e r l a s s e n b l e i b e n , aus a n d e r e n G r ü n d e n a b e r a u c h n i c h t der u n m i t t e l b a r e n G e s t a l t u n g d u r c h den S t a a t z u g e o r d n e t w e r d e n soll. Ein einheitliches D a r s t e l l u n g s s c h e m a dieses B e r e i c h e s ist n i c h t e t a b l i e r t . Seine O r d n u n g k a n n n a c h vers c h i e d e n e n G e s i c h t s p u n k t e n , e t w a S a c h b e r e i c h e n , B e t e i l i g t e n , B r a n c h e n e t c . , erf o l g e n . M i s s t m a n der S y s t e m a t i s i e r u n g aus d a r s t e l l e r i s c h e n G r ü n d e n kein ü b e r m ä ß i g e s G e w i c h t bei, k ö n n e n f o l g e n d e sich ü b e r s c h n e i d e n d e Felder identifiziert

1 Kritisch schon Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S . 5 . Die Parallele von „Selbstverwaltung, Selbststeuerung und Selbstorganisation" als Wege zur Staatsentlastung betont dagegen Schuppen, AöR 114 ( 1 9 8 9 ) , S. 127, 129ff.

28

§2 Private Ordnung

und

„Selbstregulierung

w e r d e n , die jeweils d a d u r c h charakterisiert sind, dass sie in der juristischen Diskussion eine m e h r oder minder a b g e s o n d e r t e Behandlung e r f a h r e n . 2

1.

Selbstverwaltung

Die wohl älteste Erscheinungsform dessen, was m a n im weitesten Sinne als Selbstregulierung bezeichnen k a n n , ist die so g e n a n n t e Selbstverwaltung. Hinter d e m Sammelbegriff verbirgt sich die W a h r n e h m u n g von sachlich begrenzten Verwalt u n g s a u f g a b e n d u r c h besondere, gegenüber dem Staat verselbständigte, öffentlich-rechtlich organisierte Verwaltungseinheiten, etwa die Berufs- u n d Wirts c h a f t s k a m m e r n (IHK, Ärztekammer, etc.), aber auch die Träger der Sozialversicherung (AOK, Berufsgenossenschaften u-a.). 1 Bereits oben hatten wir darauf hingewiesen, dass es sich bei diesen nicht um private O r d n u n g e n handelt, weil die Zugehörigkeit zu den Trägern der Selbstverwaltung ebenso wie ihre Errichtung und O r g a n i s a t i o n nicht auf privater Initiative, sondern auf staatlicher A n o r d n u n g beruht. 4 M a g Selbstverwaltung d u r c h a u s freiheitlichere Z ü g e aufweisen als das feudale seif government britischer P r ä g u n g oder zentralistische Verwaltungssysteme, 5 so stellt sie doch keine selbst geschaffene O r d n u n g dar. 6 Ihre Regelsetzungsf o r m e n scheiden daher aus dem U n t e r s u c h u n g s p r o g r a m m dieser Arbeit aus. Gegen diese Selbstbeschränkung m a g aus organisationssoziologischer Sicht eing e w a n d t w e r d e n , dass die Grenze zwischen Selbstverwaltungsträgern u n d privaten Verbänden jedenfalls d o r t fließend wird, w o w i r k u n g s m ä c h t i g e Vereine (ADAC, DSB, D R K , etc.) A u f g a b e n w a h r n e h m e n , deren Erfüllung (auch) im öffentlichen Interesse liegt („dritter S e k t o r " ) . 7 Auch b e r u h t es bisweilen auf Zufall, welche O r g a n i s a t i o n s f o r m sich im historischen Prozess letztlich durchgesetzt hat. D e n n o c h ist die Scheidung in private und hoheitliche Verbände nicht nur schematischer Natur, sondern Ausdruck des Rechtsprinzips, dass private O r d n u n g g r u n d sätzlich dem G e d a n k e n der (individuellen) Selbstbestimmung folgt. Das schließt es weder aus, Institute der einen O r d n u n g bei Formen der anderen O r d n u n g zum 2

Vgl. für eine etwas andere Hinteilung Dederer, Korporative Staatsgewalt, S. 53ff. ' Ausführliche Typologie bei Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 30ff.; zu den Standesordnungen der freien Berufe umfassend Taupitz, Standesordnungen (1991), der sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die privatrechtlich zu qualifizierenden Standesregeln beleuchtet. 4 O b e n , § 1 A.II.3. (S. 11). - Eine andere Perspektive eröffnet sich, wenn m a n weniger streng zwischen privater und staatlicher O r d n u n g unterscheidet, sondern ihre jeweiligen Gestaltformen nach Art einer gleitenden Skala ordnet, Überlegungen in dieser Richtung bei Schuppert, AöR 114 (1989), 127, 149ff.; ähnlich Augsberg, Rechtsetzung, S. 127ff. (Satzungsgewalt der Selbstverwaltungskörperschaften als „verstaatlichte" Form privater Normsetzung). 5 Vgl. nur Kelsen, Allg. Staatslehre, S. 180ff.; Kofier, Z u r Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, S. 360ff.; Huber, Selbstverwaltung der Wirrschaft, S. 7; auch schon Hegel, Rechtsphilosophie, § 2 9 0 (S.460). 6 Zweifelhaft BVerfGF. 107, 59, 92 (Wasserverband): Funktionale Selbstverwaltung als Ausdruck der „Idee sich selbst bestimmender Menschen in einer freiheitlichen O r d n u n g " . 7 Vgl. Teubner, Organisationsdemokratie, S. 56; Zurnhausen, O r d n u n g s m u s t e r im sozialen Wohlfahrtsstaat, S . 2 1 4 f f .

A. „Selbstregulierung"

als selbst gestaltete

Ordnung

29

Einsatz zu bringen, wenn sich gleiche Sachprobleme stellen (Stichwort: Funktionärsherrschaft), 8 noch steht es einer Gestaltungsperspektive im Wege, die Selbstverwaltung und private Ordnung als alternative Organisationsformen nebeneinander hält. 9 Eine beliebige Austauschbarkeit der Ordnungen kommt jedoch nicht in Betracht. 10 Mit dem Gedanken der Selbstverwaltung eng verbunden ist derjenige der „Autonomie". Damit bezeichnet man die Kompetenz der Selbstverwaltungsträger, ihre eigenen Angelegenheiten auch ohne besondere Ermächtigung durch (öffentlich-rechtliche) Satzung zu regeln." In entsprechendem Sinne wird den privaten Verbänden eine so genannte „Verbandsautonomie" zugesprochen. Trotz der Gemeinsamkeiten muss wiederum zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht unterschieden werden. Während hier die Autonomie auf der freiwillig eingegangenen Mitgliedschaft beruht, fußt sie dort auf staatlicher Delegation und bedarf daher neben demokratischer Legitimation der staatlichen Aufsicht als zwingendem Korrelat. 12 Dieser prinzipielle Unterschied wird verwischt, wenn demokratische Legitimation als notwendige, aber auch hinreichende Bedingung von Regelsetzung postuliert wird. Der Frage wird näher nachzugehen sein, wenn wir uns ausführlich mit der Legitimation von Regelsetzung beschäftigen." Wie sich private und öffentlich-rechtliche Rechtsetzungskompetenzen auch bei verzahnten Strukturen unterscheiden, zeigt sich im Übrigen bei der Betrachtung einer besonderen Form der Selbstverwaltung: der Börse. Heute steht außer Streit, dass Börsen nach geltendem Recht öffentlich-rechtlich organisierte Handlungseinheiten sind. 14 Obwohl sie, wie etwa die Frankfurter Wertpapierbörse (FWB), z.T. von juristischen Personen des Privatrechts betrieben werden (Deutsche Börse AG), 1 '' sind auch sie damit dem Bereich hoheitlicher Selbstverwaltung zuzuordnen. 16 Rechtspolitisch ist dieser Status in die Kritik geraten, weil nach Ansicht mancher eine öffentlich-rechtliche Organisationsform den Aufgaben eines modernen Börsenbetriebs nicht mehr angemessen sei. 17 Dabei wird ein zentrales Problem Dazu unten, § 6 B.II.3.f. ( S . 2 2 3 ) . Zum „regulatory choice"-Ansatz näher unten, § 3 B.II.2. ( S . 7 4 ) . 10 So allgemein schon Ludwig Raiser, Die Zukunft des Privatrechts, S . 2 0 8 , 2 2 0 f f . Z u r Abgrenzung der Selbstverwaltungskörperschaften von privatrechtlichen Zwangskollektiven näher unten, § 6 B.II.3.e.(3). ( S . 2 2 1 ) . s

9

Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 16. Maurer, ebd., § 2 3 R n . 4 5 . " Unten, § 6 B.I.3. (S. 186ff.). 14 Vgl. nur Schwark/Scbwark K M R K § 1 BörsG R n . 8 f . Die genauere Einordnung (Anstalt oder Körperschaft) ist streitig, hier aber nicht von Relevanz, s. dazu Augsberg, Rechtsetzung, S. 154ff.; Breitkreutz, Die Ordnung der Börse, S. 106ff.; Mues, Börse, S . 6 7 f f . 11 12

11 Das Verhältnis der Börse zum privatrechtlichen Betreiber ( „ T r ä g e r " ) wird als „Beleihung" aufgefasst, was aber nicht unproblematisch ist (näher Mues, Börse, S. 8 6 f . ) . Z u r Kritik an der Figur der „Beleihung" unten, § 3 B.I.2.a. ( S . 6 3 ) . 16 Vgl. Mues, Börse, S. 7 9 f . ; Maurer, Verwaltungsrecht, § 2 3 R n . 5 0 , spricht (mit Blick auf die Rundfunkanstalten) vom Gedanken der „Eigenverantwortlichkeit". 17 Ausführlich Hopt/Baum/Rudolph, Börsenreform, S . 4 0 0 f f . ; Merkt, Gutachten, G 81 ff.; Mues, Börse, S. 8 9 f f . ; näher unten, § 12 B.II. ( S . 4 0 6 ) .

30

§2 Private Ordnung und ,.Selbstregiilicrung"

oft übersehen: Privatrechtlich organisierte Marktplätze können ihre „Spielregeln" nicht einseitig, sondern grundsätzlich nur im Zusammenwirken mit den Teilnehmern ändern. Augenfällig wurde dies im sog. „Penny-Stock-Fall", als die Deutsche Börse AG zur Rettung des privatrechtlich organisierten „Neuen Markts" dessen Regelwerk ändern wollte, daran aber von Emittenten mit Hilfe der Zivilgerichte erfolgreich gehindert wurde. 18 Der Fall, der mitursächlich für das spätere Ende des Neuen Markts war, bestätigt, dass öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Organisationsform nicht beliebig vertauschbar sind. Er macht aber auch das Bedürfnis nach Legitimationsmustern deutlich, die private Ordnung zur Lösung komplexer Regelaufgaben nicht von vornherein untauglich erscheinen lassen. 19 2.

Selbstverpflichtung

Eine vor allem im Umweltrecht intensiv diskutierte Form der Selbstregulierung stellen so genannte Selbstverpflichtungen oder normersetzende Absprachen dar. 20 Dabei geht es darum, das Erreichen bestimmter politischer Ziele (etwa der Reduzierung von Emissionen) nicht durch einseitiges, befehlendes Staatshandeln (Gesetz, Rechtsverordnung), sondern dadurch sicherzustellen, dass sich Unternehmen oder Verbände gegenüber dem Staat mehr oder weniger freiwillig dazu verpflichten, definierte Zielvorgaben zu erfüllen. 21 „Selbstverpflichtungen" werfen eine Reihe staatsrechtlicher Probleme auf. So wird gefragt, ob sich der Staat, der, statt eine entsprechende Rechtsnorm zu erlassen, eine „normersetzende Absprache" trifft, damit nicht seiner Normsetzungsaufgabe auf unzulässige Weise entzieht. Eine andere Frage betrifft das staatliche Kompetenzgefüge, das dadurch tangiert sein könnte, dass die „normersetzende Absprache" von der Regierung ohne Beteiligung von Parlament oder Bundesrat getroffen wird. Weiter ist unklar, ob und inwieweit eine vom Staat induzierte Selbstverpflichtung als Grundrechtseingriff gewertet werden kann und welcher Rechtsschutz insoweit zur Verfügung steht. Schließlich ist die Frage des Kartellverbots angeschnitten, weil Selbstverpflichtungen praktisch immer wettbewerbsbeschränkend wirken.

18

Vgl. O L G F r a n k f u r t N J W 2 0 0 2 , 1 9 5 8 ; O L G Frankfurt N J W 2 0 0 2 , 9 0 3 ; L G Frankfurt, W M

2 0 0 1 , 1 6 0 7 ; dazu kritisch

Bachmann,

W M 2001, 1793f.;

Augsberg, R e c h t s e t z u n g , Pliickelmann, D e r

p r i v a t r e c h t l i c h e n A u s g e s t a l t u n g des N e u e n M a r k t e s a u s f ü h r l i c h

S . 2 7 1 ff.; zur Neue M a r k t

der D e u t s c h e n B ö r s e A G ( 2 0 0 0 ) .

Bachmann, W M 2 0 0 1 , 1 7 9 3 , 1 7 9 8 ; Merkt, G u t a c h t e n , G 11 1 f. Kloepfer, U m w e l t r e c h t , § 5 R n . 2 l 1 ff.; U G B - K o m E , S . 5 0 3 , 5 0 5 f . ; Di Fabio, 1 9 9 7 , 9 6 9 ; Kittner, G e s a m t s y s t e m S c h u l d r e c h t , R n . 7 5 7 f f . (jew. m i t Beispielen und w . N . ) . 19

20

Vgl. nur

JZ

21

V g l . die v o r g e s c h l a g e n e L e g a l d e f i n i t i o n in § 3 5 U G B - K o m E : „ W i r t s c h a f t s v e r h ä n d e , s o n s t i g e

V e r b ä n d e o d e r e i n z e l n e U n t e r n e h m e n k ö n n e n g e g e n ü b e r der B u n d e s r e g i e r u n g e r k l ä r e n o d e r m i t ihr o h n e R e c h t s v e r b i n d l i c h k e i t v e r e i n b a r e n , d a s s b e s t i m m t e A n f o r d e r u n g e n zur V o r s o r g e gegen R i s i k e n für die U m w e l t o d e r den M e n s c h e n , die G e g e n s t a n d e i n e r R e c h t s v e r o r d n u n g n a c h diesem G e s e t z b u c h sein k ö n n e n , i n n e r h a l b e i n e r a n g e m e s s e n e n Frist freiwillig erfüllt w e r d e n (Selbstverpflichtung)."

A. „Selbstregulierung"

als selbst gestaltete

Ordnung

31

D i e s e und a n d e r e F r a g e n sind G e g e n s t a n d einer k a u m m e h r zu ü b e r s c h a u e n d e n literarischen D e b a t t e , die hier nicht im E i n z e l n e n n a c h g e z e i c h n e t w e r d e n k a n n . 2 2 W a s die zivilrechtlich relevante F r a g e der V e r b i n d l i c h k e i t s o l c h e r „ S e l b s t v e r p f l i c h t u n g e n " a n b e l a n g t , besteht jedenfalls E i n i g k e i t , dass eine r e c h t l i c h e B i n d u n g von den Beteiligten i d R n i c h t g e w o l l t und d a h e r a u c h n i c h t a n z u n e h m e n i s t . 2 3 D a m i t sind die zivilrechtlichen F r a g e n freilich n i c h t erledigt. W i e sieht es aus, w e n n die v e r b i n d l i c h e W i r k u n g einer S e l b s t v e r p f l i c h t u n g , z . B . a u ß e r h a l b des

Umwelt-

r e c h t s , e i n m a l d o c h b e a b s i c h t i g t i s t ? 2 4 A n r e i z e , eine s o l c h e S e l b s t b i n d u n g einzugeh e n , k ö n n e n sich e t w a d a r a u s e r g e b e n , dass der B e t r e f f e n d e sie z u m A u f b a u v o n S o z i a l k a p i t a l nutzen o d e r als A r g u m e n t gegen die E i n g e h u n g a n d e r e r V e r b i n d l i c h keiten einsetzen w i l l . 2 5 K a n n sie rechtlich w i r k s a m (und d a m i t g l a u b h a f t ) a u f einseitigem W e g b e g r ü n d e t w e r d e n ? W i e steht es, w e n n der E r k l ä r e n d e k e i n e B i n d u n g an die R e g e l b e a b s i c h t i g t e , D r i t t e a b e r g l e i c h w o h l a u f deren E i n h a l t u n g v e r t r a u t e n o d e r ihre B e a c h t u n g allgemein ü b l i c h g e w o r d e n ist? A n t w o r t e n a u f diese F r a g e n , die a l l e s a m t K e r n p r o b l e m e des Z i v i l r e c h t s b e r ü h r e n , s u c h t m a n in der bisherigen, öffentlich-rechtlich geprägten Debatte vergeblich.

3.

Kollektivverträge

Eine v e r t r a u t e r e F o r m von S e l b s t r e g u l i e r u n g stellen V e r e i n b a r u n g e n privater Verb ä n d e dar, m i t denen V o r g a b e n für das V e r h a l t e n ihrer M i t g l i e d e r o d e r D r i t t e r gem a c h t w e r d e n . Sie k ö n n e n der A b w e n d u n g s t a a t l i c h e r R e c h t s e t z u n g , a b e r a u c h der I n t e r e s s e n w a h r n e h m u n g a u f „ h ö h e r e r E b e n e " d i e n e n . D e r a r t i g e K o o r d i n a t i o nen n e h m e n vielfältige F o r m e n an. Sie k ö n n e n unter B e t e i l i g u n g des S t a a t e s , a b e r in u n v e r b i n d l i c h e r F o r m s t a t t f i n d e n , wie „ R u n d e T i s c h e " o d e r die sog. K o n z e r tierte A k t i o n . 2 6 Sie finden a b e r a u c h o h n e S t a a t s b e t e i l i g u n g und in rechtlich ver2 2 Vgl. allein aus dem monografischen Schrifttum Dempfle, Normvertretende Absprachen ( 1 9 9 4 ) ; Helberg, Normabwendende Selbstverpflichtungen als Instrumente des Umweltrechts ( 1 9 9 9 ) ; Hucklenbruch, Selbstverpflichtungen ( 2 0 0 0 ) ; Knebel/Wtcke/Micbael, Selbstverpflichtungen (2000); Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft (2001); Faber, Gesellschaftliche Selbstregulierungssysteme im Umweltrecht unter besonderer Berücksichtigung der Selbstverpflichtungen (2001); Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat ( 2 0 0 2 ) . Ferner Franzius, Instrumente, insbes. S. 165ff.; C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2 0 0 0 , S . 4 0 6 f f . ; Frank, Umweltrecht und Wirtschaft, 2 0 0 0 , S. 2 5 3 f f . , 2 9 5 f f . 2 ! S. nur Kloepfer, Umweltrecht, § 5 R n . 2 0 6 ; Schlett, Die Verwaltung als Vertragspartner, S. 2 1 8 . Die Möglichkeit einer verbindlichen „Verpflichtungszusage" regeln § 3 2 b G W B und Art. 9 KartellVO: Danach kann die Wettbewerbsbehörde (Kommission) die Zusage eines Unternehmens, Bedenken gegen die kartellrechtliche Zulässigkeit eines Vorhabens auszuräumen, „für bindend für die Unternehmen erklären". 2 4 Vgl. zur Selbstverpflichtung von Banken zur Einrichtung von Girokonten LG Berlin, EWiR 2 0 0 3 , 9 6 3 m. Anm. Derleder; Brömmelmeyer, WuB I B 6. 1.04; Kittner, Gesamtsystem Schuldrecht, Rn. 759. Siehe dazu noch unten, § 8 B.III. ( S . 2 7 8 ) . 2 5 Vgl. hierzu jetzt die Möglichkeit der „Verpflichtungszusage" zur Ausräumung kartellrechtlicher Bedenken in § 3 2 b G W B und Art. 9 KartellVO (Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates). 2 6 Bis 1 9 7 7 institutionalisiert durch § 3 StabG, dazu statt vieler Leßmann, Wirtschaftsverbände, S . 5 8 f f . (m.w.N.); zur Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen s. z.B. § 1 4 2 SGB V.

32

§2 Prívate Ordnung

und

„Selbstregulierung"

bindlicher F o r m statt. Wichtigstes Beispiel ist der arbeitsrechtliche T a r i f v e r t r a g , mit dessen Hilfe die sog. Sozialpartner die A r b e i t s b e d i n g u n g e n ihrer Mitglieder festlegen (vgl. § 1 T V G ) . Ahnliche K o l l e k t i v v e r e i n b a r u n g e n k e n n e n das Betriebsv e r f a s s u n g s r e c h t mit der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g (vgl. § 7 7 BetrVG), das Sozialrecht mit (öffentlich-rechtlichen) G e s a m t - , M a n t e l - u n d R a h m e n v e r t r ä g e n 2 7 u n d , de lege f e r e n d a , d a s U m w e l t r e c h t . 2 8 W ä h r e n d diese V e r e i n b a r u n g e n d a d u r c h g e k e n n zeichnet sind, dass ihre N o r m e n u n m i t t e l b a r auf die Rechtsverhältnisse d e r M i t glieder der Vertragsparteien e i n w i r k e n , existieren a u c h kollektive V e r e i n b a r u n gen, die n u r eine m e h r o d e r m i n d e r s t a r k e V e r m u t u n g s w i r k u n g ä u ß e r n . H i e r z u r e c h n e n die „ g e m e i n s a m e n V e r g ü t u n g s r e g e l n " des U r h e b e r r e c h t s ( § 3 6 U r h G ) , 2 9 die eine unwiderlegliche V e r m u t u n g der A n g e m e s s e n h e i t der u r h e b e r r e c h t l i c h e n V e r g ü t u n g b e g r ü n d e n , ' 0 u n d die V e r b ä n d e v e r e i n b a r u n g e n im Energierecht, welche bis zur R e f o r m des E n e r g i e w i r t s c h a f t s r e c h t s die V e r m u t u n g der E i n h a l t u n g „ g u t e r fachlicher P r a x i s " f ü r sich in A n s p r u c h n a h m e n . " N o c h s c h w ä c h e r w i r k e n G e s a m t - o d e r R a h m e n v e r t r ä g e , deren Bedingungen erst d u r c h U m s e t z u n g im Einzelvertrag der Mitglieder o d e r Dritter rechtliche W i r k s a m k e i t e n t f a l t e n . 3 2 H i e r h i n g e h ö r e n a u c h Kodizes, die zwischen V e r b r a u c h e r v e r b ä n d e n u n d U n t e r n e h m e n a u s g e h a n d e l t w e r d e n u n d die aus sich h e r a u s n o c h keine Verbindlichkeit e r f a h ren." Sieht m a n v o n d e m P r o b l e m a b , o b d e r a r t i g e V e r e i n b a r u n g e n zur U m s e t z u n g e u r o p a r e c h t l i c h e r V o r g a b e n geeignet s i n d , ' 4 w i r f t auch diese F o r m der Selbstregu-

27 Vgl. 82f., 1 12, 115, 1 1 7 , 1 2 7 , 129 SGB V (Krankenversicherung), § 6 9 f f . SGB XI (Pflegeversichernng); zu ihrer Bedeutung s. Waltermann, Sozialrecht, Rn. I90ff., 2 3 3 f f . 2S Vgl. §§ 36, 37 UGB-KomE („normersetzender Vertrag"), die das Regelungskonzept des Tarifvertrages (normative W i r k u n g und Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung) auf öffentlich-rechtliche Verträge im Bereich des Umweltrechts erstrecken wollen. Z u m Vorbild TarifDVB1. 1996, 964, 966; frank, vertrag ausdrücklich UGB-KomE, S . 5 0 1 , 512; Kloepfer/Elsner, Umweltrecht und Wirtschaft, S. 2 9 6 f f . 29 Dazu Jacobs, N J W 2 0 0 2 , 1905, 1908f.; zu Vorläufermodellen Rieble, Arbeitsmarkt, Rn.684ff. Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der vertraglichen Stellung von Urhebern und ausübenden Künstlern, BT-Drucks. 14/8058, S.43. Dazu etwa Börner, RdE 2 0 0 0 , 55ff.; Büdenbender, D Ö V 2 0 0 2 , 375ff.; Schmidt-Preuß in: Säcker (Hrsg.), Reform des Energierechts, S.45ff.; zu den kartellrechtlichen Bedenken ausführlich Monopolkommission, H a u p t g u t a c h t e n 2 0 0 1 / 2 0 0 2 , R n . 6 4 f f . , 855ff. 52 Beispiele: Kollektive Verwertungsverträge gem. § 12 Urheberrechtswahrnehmungsgesetz, „Sammelrevers" im Verlagswesen, Gruppenversicherungsverträge, Gestellungsverträge, u.a. (zu allem Rieble, Arbeitsmarkt, R n . 6 7 0 f f . ) . " Beispiel: Der „Freiwillige Verhaltenskodex" über vorvertragliche Informationspflichten bei wohnungswirtschaftlichen Darlehen, der zwischen europäischen Verbraucherverbänden und Verbänden der Kreditwirtschaft auf Veranlassung der EU-Kommission ausgehandelt und vereinbart w u r d e (abgedruckt in ZBB 2 0 0 2 , 71 ff.). i4 Dazu u.a. UGB-KomE, S.504f.; Monopolkommission, Hauptgutachten 2001/2002, R n . 6 4 f f . Im R a h m e n des sog. sozialen Dialogs (Artt. 136ff. EGV) werden die Tarifpartner ausdrücklich in den europäischen Regelsetzungsprozess einbezogen, dazu näher Röthel, N Z A 2 0 0 0 , 65ff.; dies., Z E u P 2 0 0 2 , 58, 6 2 f .

A. „Selbstregulierung"

als selbst gestaltete

Ordnung

33

lierung s t a a t s r e c h t l i c h e F r a g e n auf. N a m e n t l i c h fragt sich, unter w e l c h e n V o r a u s s e t z u n g e n der S t a a t befugt ist, derartigen V e r e i n b a r u n g e n r e c h t l i c h e V e r b i n d l i c h keit zu verleihen. K a r t e l l r e c h t l i c h ist v o n R e l e v a n z , o b K o l l e k t i v v e r t r ä g e n i c h t zum i n d e s t im Einzelfall zu einer unzulässigen M a r k t a b s c h o t t u n g o d e r zu sonstigen W e t t b e w e r b s b e s c h r ä n k u n g e n f ü h r e n . ' 5 U n p r o b l e m a t i s c h sind V e r b ä n d e v e r e i n b a rungen aus zivilrechtlicher Sicht, s o l a n g e sie n u r die V e r t r a g s p a r t n e r u n t e r e i n a n der b i n d e n . S c h w i e r i g k e i t e n bereitet die B e g r ü n d u n g der u n m i t t e l b a r e n W i r k u n g a u f D r i t t v e r t r ä g e . In den gesetzlich a n e r k a n n t e n F ä l l e n lässt sie sich a u f eine ents p r e c h e n d e A n o r d n u n g des G e s e t z g e b e r s stützen (etwa § 4 A b s . 1 T V G ) , wirft a b e r die F r a g e a u f , wie sich eine solche K o n s t r u k t i o n mit den Prinzipien des Privatrechts verträgt. A u ß e r h a l b der spezialgesetzlich geregelten Fälle ist die F r a g e zu bea n t w o r t e n , o b sich eine n o r m a t i v e W i r k u n g a u c h p r i v a t a u t o n o m , d . h .

unter

Zuhilfenahme

lässt.

des r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e n

Instrumentariums,

herbeiführen

W ä h r e n d einige dieser F r a g e n in der V e r g a n g e n h e i t eine breite D i s k u s s i o n e r f a h ren h a b e n , h a r r e n a n d e r e w e i t e r h i n der K l ä r u n g .

4.

Private

Regelwerke

und

Kodizes

Ein „ B i l d b u n t e r V i e l f a l t " ( D e n n i n g e r ) liefern privat g e s c h a f f e n e R e g e l n , die m a n unspezifisch als R e g e l w e r k e o d e r K o d i z e s b e z e i c h n e t . D a s S p e k t r u m reicht v o n der a l t b e k a n n t e n H a u s - und V e r e i n s o r d n u n g ü b e r t e c h n i s c h e und s p o r t l i c h e R e g e l w e r k e bis zu K o d i z e s „ g u t e n V e r h a l t e n s " o d e r „ b e s t e r P r a x i s " j ü n g e r e n Urs p r u n g s . " 1 W ä h r e n d die e r s t g e n a n n t e n O r d n u n g e n in L i t e r a t u r und R e c h t s p r e c h u n g einige A u f m e r k s a m k e i t e r f a h r e n h a b e n , ist es u m letztere e h e r ruhig bestellt. Als b e s o n d e r s gut u n t e r s u c h t gelten k ö n n e n die t e c h n i s c h e n R e g e l w e r k e , die n a m e n t l i c h in G e s t a l t der D I N - N o r m e n eine e r h e b l i c h e p r a k t i s c h e R o l l e s p i e l e n . ' 7 D i e R e c h t s p r e c h u n g stuft sie g r u n d s ä t z l i c h als u n v e r b i n d l i c h e E m p f e h l u n g ein, s p r i c h t ihnen a b e r bei der A u s f ü l l u n g v o n G e n e r a l k l a u s e l n je n a c h S a c h l a g e Bed e u t u n g z u . ' 8 R e g e l w e r k e des S p o r t e s fristeten lange Z e i t ein juristisches S c h a t t e n -

Vgl. Rieble, Arbeitsmarkt, Rn.780ff.; Markert, BB 2001, 105; Monopolkommission, Hauptgutachten 2001/2002, Rz.64ff. , 6 Ausführliche Typologie bei Augsberg, Rechtsetzung, S. 12.4ff. Zu den verschiedenen „Corporate Governance Kodizes" etwa Schneider, DB 2000, 2.314ff.; Claussen/Bröcker, AG 2000, 481 ff.; zum „Code of Conduct" der Benchmarking-Institute Bierbach, Benchmarking (Anhang); zum Verhaltenskodex des Arbeitskreises der Insolvenzverwalter AG Hamburg ZIP 2001, 2147; zu den zahlreichen Kodizes der Werbeindustrie Brandmair, Freiwillige Selbstkontrolle, S.33, 59ff., 99ff., 153ff.; zu den Kodizes der Heilmittelhersteller Bülow/Ring, HWG, Einführung Rn.58ff. u. Anhang S.809ff.; zum Analystenkodex Augsberg, Rechtsetzung, S.308ff. 57 Grundlegend Marburger, Die Regeln der Technik im Recht (1979); aus neuerer Zeit u.a. Battis/Cusy, Technische Normen im Baurecht (1988); A. Brunner, Technische Normen (1991); Röthel, Normkonkretisierung, S.269ff.; Schmidt-Preuß in: Kloepfer (Hrsg.), Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich (1998), S. 89ff.; Spindler, Organisationspflichten, S.487ff., 533ff., 794ff.; Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rn. 74ff.; empirisch Brennecke, Normsetzung durch private Verbände, S. 167ff. , 8 Vgl. nur BGHZ 139, 16.

34

§2 Private Ordnung

und

„Selbstregulierung"

dasein, h a b e n aber mittlerweile ebenfalls e i n g e h e n d e r e B e t r a c h t u n g e r f a h r e n 3 9 u n d w e r d e n von der R e c h t s p r e c h u n g z u m i n d e s t f ü r W e t t k a m p f t e i l n e h m e r als prinzipiell verbindlich e r a c h t e t . 4 0 Die sog. Kodizes schließlich w o l l e n , wie ihre Bez e i c h n u n g z u m A u s d r u c k bringen soll, in der Regel weniger d u r c h rechtliche Bind u n g als d u r c h sachliche U b e r z e u g u n g s k r a f t o d e r m o r a l i s c h e n Appell w i r k e n . Der Begriff „ K o d e x " , der d u r c h a u s nicht f ü r u n v e r b i n d l i c h e R e g e l w e r k e reserviert ist, 4 1 ä n d e r t allerdings nichts d a r a n , dass sich d a h i n t e r rechtserhebliche Regeln verbergen k ö n n e n . Soweit sie vertraglich in Bezug g e n o m m e n w e r d e n , ist es eine Frage z u t r e f f e n d e r Auslegung, inwieweit d a d u r c h eine verbindliche W i r k u n g herb e i g e f ü h r t w e r d e n soll. 4 2 Eine A G B - K o n t r o l l e k o m m t möglicherweise auch d a n n schon in Betracht, w e n n es sich lediglich u m b e t r i e b s i n t e r n e „ R i c h t l i n i e n " h a n d e l t . 4 ' A u c h arbeits- u n d d a t e n s c h u t z r e c h t l i c h e A s p e k t e sind dabei zu b e a c h t e n . 4 4 Für die kartellrechtliche Beurteilung ist es irrelevant, o b der jeweilige K o d e x rechtlich verbindlich ist. Breit wie ihr tatsächliches und rechtliches S p e k t r u m ist der Kreis der U r h e b e r privater R e g e l w e r k e . 4 5 Er reicht v o n einzelnen G r u p p e n u n d Personen über Inter e s s e n v e r b ä n d e u n d „ n e u t r a l e " H a n d e l s - o d e r S t a n d e s o r g a n i s a t i o n e n bis zu Exp e r t e n g r e m i e n , die mit Billigung o d e r gar auf Anlass des Staates tätig w e r d e n . Rein privaten U r s p r u n g s sind e t w a die R e g e l w e r k e des Sportes o d e r der privaten Fin a n z m a r k t p l ä t z e , staatlich veranlasst u n d a n e r k a n n t sind der von einer „Regier u n g s k o m m i s s i o n " verfasste „ D e u t s c h e C o r p o r a t e G o v e r n a n c e K o d e x " (vgl. § 1 6 1 A k t G ) , 4 6 die „ E m p f e h l u n g e n " des „ D e u t s c h e n R e c h n u n g s l e g u n g s S t a n d a r d s C o m m i t t e e " (vgl. § 3 4 2 H G B ) , 4 7 die „ R i c h t l i n i e n " der privatrechtlich organisierten „ B u n d e s ä r z t e k a m m e r " (vgl. § 16 Abs. 1 T P G ) 4 8 sowie die auf Veranlassung der B u n d e s r e g i e r u n g v o n einer pluralistisch besetzten „ A r b e i t s g r u p p e " erstellte sog. „ P a t i e n t e n c h a r t a " . 4 9 In der M i t t e siedeln R e g e l w e r k e , die z w a r privaten Urs p r u n g s sind, a b e r staatliche A n e r k e n n u n g o d e r F ö r d e r u n g e r f a h r e n h a b e n , na59 Vgl. insbesondere die Habilitationsschriften von Viewegs N o r m s e t z u n g und - a n w e n d u n g deutscher und internationaler Verbände (1991) und Steinbeck, Vereinsautonomie und Dritteinfluss (1999). N ä h e r dazu unten, § 9 B.I.l. (S.302). 40 Grundsätzlich B G H Z 128, 93 (Reiterliche Vereinigung). 41 M a n denke nur an den Codex Iustinianus, eine mit Gesetzeskraft geltende Sammlung von Erlassen und Entscheidungen der römischen Kaiser (s. dazu nur Knütel, C o r p u s Iuris Civilis, S.273). 42 Exemplarisch Bierbach, Benchmarking, S. 65ff., 73, 161 ff.: Benchmarking-Code als AGB. 43 Vgl. BGH N J W 2 0 0 5 , 1645: Bankinternes Rundschreiben als Verstoß gegen das AGB-rechtliche Umgehungsverbot ( § 3 0 6 a BGB). 44 Vgl. Räther/Kuhnke, FAZ v. 2 7 . 7 . 2 0 0 5 , S.23: Unternehmensinterne „Whistleblowing"Richtlinien als Verstoß gegen europäisches Arbeits- und Datenschutzrecht. 45 Siehe schon L. Raiser, AGB, S.42ff.; aus neuerer Zeit nur Augsberg, Rechtsetzung, S.69f. 46 Dazu etwa Ulmer, Z H R 166 (2002), 150ff.; Bachmann, W M 2 0 0 2 , 2 1 3 7 f f . 47 Ausführlich dazu Berberich, Ein F r a m e w o r k für das D R S C (2003). 48 Dazu Taupitz, N J W 2 0 0 3 , 1145ff.; zu sonstigen „ärztlichen Leitlinien" Hart, Normbildungsprozesse im Medizin- und Gesundheitsbereich, S. 113ff. (m.w.N.). 49 Dazu und zur Z u s a m m e n s e t z u n g der Arbeitsgruppe aus verschiedenen Verbandsvertretern des Gesundheits- und Wohlfahrtspflegewesens Bolhveg/Brahms, N J W 2 0 0 3 , 1505ff.

A. „Selbstregulierung"

als selbst gestaltete

35

Ordnung

m e n t l i c h die s c h o n g e n a n n t e n D I N - N o r m e n u n d ihre e u r o p ä i s c h e n

Pendants.50

A u c h d i e b e r e i t s b e h a n d e l t e n K o l l e k t i v v e r t r ä g e , s o w e i t sie N o r m e n h e r v o r b r i n g e n , g e h ö r e n in w e i t e n T e i l e n h i e r h e r . D a s a u ß e r o r d e n t l i c h v i e l f ä l t i g e B i l d h a t d a z u g e führt, dass private Regelwerke und Kodizes bislang nicht unter einem einheitlichen Gesichtspunkt

untersucht wurden.

Während

juristische

Laien

(Techniker,

Be-

t r i e b s w i r t e u . a . ) sie u n g e a c h t e t i h r e r r e c h t l i c h e n B e d e u t u n g o f t o h n e w e i t e r e s a l s v e r b i n d l i c h e R i c h t s c h n u r a n s e h e n , 5 1 v e r m e i d e t d i e R e c h t s p r e c h u n g in d e r R e g e l ein e e i n d e u t i g e F e s t l e g u n g u n d b e z i e h t p r i v a t e R e g e l w e r k e v o n F a l l z u F a l l in d i e E r w ä g u n g e n ein. Die R e c h t s w i s s e n s c h a f t k o n z e n t r i e r t sich, von wenigen A u s n a h m e n a b g e s e h e n , a u f sektorspezifische A n a l y s e n , e t w a im T e c h n i k - , Arbeits- o d e r A G B R e c h t , lässt einen übergeordneten Blickwinkel a b e r vermissen.

5. Freiwillige

Selbstkontrolle

A l s S e l b s t r e g u l i e r u n g i m e n g e r e n S i n n e k a n n m a n d i e in D e u t s c h l a n d s o g e n a n n t e „Freiwillige Selbstkontrolle"

( F S K ) b e z e i c h n e n , die i n s b e s o n d e r e im

Medienbe-

r e i c h , a b e r a u c h im F i n a n z d i e n s t l e i s t u n g s s e k t o r e i n e b e a c h t l i c h e R o l l e

spielt.52

B r a n c h e n i n t e r n e K o n t r o l l g r e m i e n wie der D e u t s c h e Presserat legen d a b e i (unverb i n d l i c h e ) S t a n d a r d s f e s t , d e r e n B e a c h t u n g v o n d e n in d e r B r a n c h e T ä t i g e n e r w a r tet w i r d . Gleichzeitig w e r d e n K o n t r o l l - , Schieds- o d e r B e s c h w e r d e s t e l l e n

einge-

richtet, welche das W o h l v e r h a l t e n der einzelnen A k t e u r e ü b e r w a c h e n sollen. D i e u n v e r b i n d l i c h e n S t a n d a r d s stützen ihre A u t o r i t ä t vor allem a u f den

Berufsethos

der B r a n c h e , dessen K o d i f i z i e r u n g sie d a r s t e l l e n w o l l e n . 5 ' G ä n g i g e s S a n k t i o n s m i t tel d e r K o n t r o l l g r e m i e n ist d i e R ü g e , u . U . v e r s c h ä r f t d u r c h P u b l i z i t ä t d e s N o r m v e r s t o ß e s ( „ n a m i n g a n d s h a m i n g " ) . ' ' 4 U m g e k e h r t k a n n ein „ G ü t e s i e g e l " verliehen w e r d e n , u m die E i n h a l t u n g d e r s e l b s t g e s e t z t e n S t a n d a r d s z u

dokumentieren.55

F S K b e d i e n t sich z w a r b i s w e i l e n j u r i s t i s c h e r O r g a n i s a t i o n s f o r m e n , w i e e t w a des Vereins, wird im Übrigen a b e r w e i t g e h e n d a u ß e r h a l b des R e c h t s g e ü b t . B e a c h t liche S c h r a n k e n setzt d a s R e c h t i n s o w e i t , als die A u f s t e l l u n g u n d D u r c h s e t z u n g von Branchenstandards Wettbewerbs- und zivilrechtliche Grenzen beachten muss,

M) Zur Rolle der europäischen Normungsgremien (CE.N, CENEL.F.C) bei der Ausfüllung europäischer (Technik-)Standards nur Röthel, ZEuP 2 0 0 2 , 6 3 f . ; dies., in: Vieweg (Hrsg.), Techniksteuerung, 3 5 , 48ff.; Ehricke, E u Z W 2 0 0 2 , 7 4 6 f f . ; Spindler, Organisationspflichten, S . 4 9 7 f f . m.w.N.

Vgl. Marburger, VersR 1 9 8 3 , 5 9 7 , 6 0 0 (zu den Regeln der Technik). Vgl. Ulmer, Die freiwillige Selbstkontrolle in Wirtschaft und Presse, W R P 1 9 7 5 , 5 4 9 f f . ; Brandmair, Freiwillige Selbstkontrolle der Werbung ( 1 9 7 8 ) ; aus neuerer Zeit Boddewyn, Global Perspectives on Advertising Self-Regulation ( 1 9 9 2 ) ; Ukrow (Hrsg.), Die Selbstkontrolle im Medienbereich in Europa ( 2 0 0 0 ) ; Ruess, Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , 2 0 9 , 2 1 5 f f . Zum Finanzdienstleistungswesen Hopt, Self-Regulation, S. 56ff.; Hoeren, Selbstregulierung im Banken- und Versicherungsrecht (1995). M

5 i Vgl. etwa den „Pressekodex" des Deutschen Presserates: „Diese publizistischen Grundsätze dienen der Wahrung der Berufsethik; sie stellen keine rechtlichen Haftungsgründe d a r " . 14 Vgl. Brandmair, Freiwillige Selbstkontrolle, S . 8 9 f . , 2 5 1 . Vgl. nur Hopt/Will, Europäisches Insiderrecht, S. 113 (Fn. 87), 149.

36

Private Ordnung und

„Selbstregulierung"

e t w a das B o y k o t t - u n d A n s c h w ä r z u n g s v e r b o t ( § 2 1 G W B , § 4 N r . 7 , 8 U W G , § 8 2 6 B G B ) , 1 6 a b e r a u c h das P e r s ö n l i c h k e i t s r e c h t der an den „ P r a n g e r " Gestellten und ihr R e c h t a u f i n f o r m a t i o n e l l e S e l b s t b e s t i m m u n g ( § § 2 7 f f . B D S G ) . 1 7 A u c h a u s diesem G r u n d b e w e g t sich F S K d u r c h w e g in B a h n e n , die a u f freiwillige B e a c h t u n g und eine e n t s p r e c h e n d e , sozialen G e p f l o g e n h e i t e n gesetzesartige K r a f t b e i m e s s e n de M e n t a l i t ä t a n g e w i e s e n sind. Eine d e r a r t i g e M e n t a l i t ä t findet sich t r a d i t i o n e l l in G r o ß b r i t a n n i e n , das n i c h t o h n e G r u n d als „ M u t t e r l a n d " der S e l b s t r e g u l i e r u n g a n g e s e h e n w i r d . 5 8 W e n i g e r v e r w u r z e l t ist sie in D e u t s c h l a n d , w o sich V e r s u c h e freiwilliger S e l b s t b e s c h r ä n k u n g n a m e n t l i c h im K a p i t a l m a r k t s e k t o r

nie w i r k l i c h d u r c h s e t z e n

konnten.5y

W ä h r e n d sich G r o ß b r i t a n n i e n m i t d e m „ F i n a n c i a l Services M a r k e t A c t

2000

( F S M A ) " in diesem B e r e i c h v o n der F S K e r h e b l i c h d i s t a n z i e r t h a t 6 0 und a u c h das US-amerikanische Finanzmarktrecht nach verschiedenen Skandalen verstärkt auf s t a a t l i c h e R e g u l i e r u n g s e t z t , 6 1 erfreut sich der G e d a n k e in a n d e r e n S e k t o r e n steig e n d e r B e l i e b t h e i t . V o n b e s o n d e r e r B e d e u t u n g ist d a b e i das I n t e r n e t , dessen Ü b e r w a c h u n g sich m a n g e l s eindeutigen h o h e i t l i c h e n Z u g r i f f s m i t s t a a t l i c h e n o d e r int e r n a t i o n a l e n R e c h t s i n s t r u m e n t e n n u r s c h w e r in den G r i f f b e k o m m e n l ä s s t . 6 2 Ist der E i n s a t z v o n F S K d o r t a u c h m e h r der N o t der S t u n d e g e s c h u l d e t , v e r s u c h t m a n im i n n e r s t a a t l i c h e n K o n t e x t , E l e m e n t e freiwilliger S e l b s t k o n t r o l l e mit s o l c h e n s t a a t l i c h e r R e g u l i e r u n g zu v e r z a h n e n . Ein Beispiel ist der bereits e r w ä h n t e „ D e u t sche C o r p o r a t e G o v e r n a n c e K o d e x " , dessen B e a c h t u n g den U n t e r n e h m e n freigestellt ist, ü b e r dessen E i n h a l t u n g sie sich j e d o c h e r k l ä r e n m ü s s e n (§ 1 6 1 A k t G ) . Ein a n d e r e s Beispiel bieten sog. O m b u d s m ä n n e r (oder - f r a u e n ) , die als freiwillig installierte S c h l i c h t e r den R e c h t s w e g o d e r die b e h ö r d l i c h e A u f s i c h t nicht verdräng e n , a b e r e r g ä n z e n d und e n t l a s t e n d neben diese t r e t e n / 1 1 In allen Fällen stellt sich

"

Näher Brandmair, Freiwillige Selbstkontrolle, S. 2 2 0 f f . Vgl. BGH N J W 2 0 0 3 , 2 0 1 1 , 2 0 1 2 ; BGH N J W 2 0 0 5 , 5 9 2 : Rechtswidrige „Prangerwirkung" des öffentlichen Anschwärzens eines Abtreibungsarztes; s. auch LG Bonn N J W - R R 1995, 1515: sittenwidriges Schuldeneintreiben durch „Schwarze M ä n n e r " . Dagegen müssen es Geschäftsführer dulden, dass Auskunfteien Informationen über ihre Misserfolge weiter geben, s. BGH N J W 2 0 0 3 , 2 9 0 4 ; auch die Drohung mit Presseinformationen und Vereinsausschluss ist nicht rechtswidrig, s. BGH v. 1 9 . 4 . 2 0 0 5 (X Z R 15/04). 57

5 8 Vgl. Roßkopf, Selbstregulierung, S . 6 1 f . ; Brandmair, Freiwillige Selbstkontrolle, S . 2 5 4 f . ; von Moltke, Kollektiver Rechtsschutz der Verbraucherinteressen, S. 38 ff., 76f.; auch schon Oertmann, Verkehrssitte, S. 17 Fußn. 5. 1 9 Vgl. Scbwark, Anlegerschutz, S. 2 1 3 f f . ; Hopt, Anlegerschutz, S. 148ff.; ders., Self-Regulation, S . 5 6 , 81 f.; optimistischer mit Blick auf die Globalisierung jetzt ders., Z G R 2 0 0 0 , 7 7 9 , 815. 6 0 Dazu nur Merkt, Gutachten, G 2 7 f f . Überholt insoweit die Darstellung von Ellger/Kalss in: Hopt/Rudolph/Baum, Börsenreform, S. 5 9 3 f f . 6 1 Vgl. zur Kritik an der Selbstregulierung der New York Stock F.xchange (NYSF) nur The Economist v. 1 6 . 8 . 2 0 0 3 : „How long can the NYSK avoid fundamental reform?". 6 2 Vgl. etwa Netanel, 88 Gal. L . R . Heft 2, 3 9 5 f f . (2000); Machill/Rewer, Internet-Hotlines (2001). 63 Hopt, Self-Regulation, S. 69f.; E. von Hippel, Rechtspolitik, S. 162; von Moltke, Kollektiver Rechtsschutz der Verbraucherinteressen, S. 32ff.; monografisch Tb. von Hippel, Der Ombudsmann im Bank- und Versicherungswesen ( 2 0 0 0 ) . Nicht zu verwechseln ist dieser privat installierte

A. „Sclbstregulierung"

als selbst gestaltete

Ordnung

37

die Frage, inwieweit sich der Staat aus seiner Regelungsverantwortung zugunsten privater Akteure zurückziehen darf. Zivilistisch ist von Interesse, ob die Einhaltung oder Nichteinhaltung freiwilliger Spielregeln unter Umständen privatrechtliche Sanktionen auslöst. 6. Transnationales

Privatrecht

(„Lex

Mercatoria")

Aufwind durch die Globalisierung haben schließlich Bemühungen erhalten, durch private Initiative zu einem internationalen Einheitsrecht zu gelangen. Traditionell in anderem Kontext erörtert, zeigt sich ihre Verwandtschaft zur Selbstregulierung darin, dass es sich ebenfalls um von nicht-staatlicher Seite formulierte Standards handelt. Zu nennen sind namentlich die sog. „Principles of International Commercial Contracts" des römischen UNIDROIT-Instituts sowie die „Principles on European Contract Law" (PECL) der europäischen Lando-Kommission, aber auch die vom deutschen Center for Transnational Law (CENTRAL) erstellte und fortgeführte „List of Principles, Rules and Standards of tbe Lex Mercatoria" ,M Alle drei Kodifikationen nehmen für sich in Anspruch, eine kodifizierte Version der sog. Lex Mercatoria darzustellen. 6 '' Dabei handelt es sich um Klauseln, Regeln und Prinzipien, die sich im internationalen Handelsverkehr und seiner Schiedsgerichtsbarkeit im Laufe der Jahrzehnte herausgebildet haben, deren Rechtscharakter aber nicht allgemein anerkannt ist. 66 Als moderne Variante einer solchen „lex mercatoria" werden heute vor allem die spontan entstandenen Verhaltensregeln des Internet („Cyberlaw"; „nettiquette") 6 7 , die „lex sportiva" 6 S und die Standards guter Unternehmensführung erörtert, wie sie in sog. „Corporate Governance Codices" ihren Niederschlag gefunden haben. Mit einem dem Völkerrecht entlehnten Begriff bezeichnet man sie auch als „soft law", ohne damit mehr zu ver-

Ombudsmann mit den als staatliche Einrichtung bestehenden Ombudsmännern in Skandinavien und den Niederlanden, deren Rolle eher derjenigen unseres Wehrbeauftragten entspricht. 6 4 Alle mit einführenden Beiträgen abgedruckt in CENTRAL. (Hrsg.), Transnational Law in Commercial Practice ( 1 9 9 9 ) . Zu den PECL jetzt auch die mit Kommentaren versehene Übersetzung von v. Bar/Zimmermann, Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts Teile I u. II ( 2 0 0 2 ) . 6 5 Vgl. UNIDROIT-Principles, Preamble; I.ando-Principles, Art. 1: 101 Abs. 3 a ; zu den CENTRAI.-Prinzipien (und ähnlichen Projekten) Berger in: C E N T R A L , Transnational Law in Commercial Practice, S. 121, 132. 6 6 Gute Darstellung bei Windbichler, Lex Mercatoria, in: Baltes/Smelser (Hrsg.), International Encyplopedia of the Social and Behavioural Sciences, London 2 0 0 1 ; ferner Schnieder, Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , S . 2 5 7 f f . ; Burkart, UNIDROIT-Principles, S. 38ff. Aus dem neueren monografischen Schrifttum Stein, Lex Mercatoria (1995); Berger, Kodifizierung (1996); de I.y, International Business Law and Lex Mercatoria ( 1 9 9 2 ) ; Osman, Les principes généraux de la lex mercatoria ( 1 9 9 2 ) . 6 7 Vgl. etwa Lehmann, Cyberlaw, FS Fïkentscher, S . 4 3 7 f f . ; Calliess, Globale Kommunikation - staatenloses Recht, in: ARSP, Beiheft N r . 7 9 , S . 6 1 , 7 0 („Emergenz eines transnationalen Verbrauchervertragsrechts") m.w.N.; skeptisch Brömmelmeyer, Internet Governance, ARSP, Beiheft Nr. 7 9 , S. 81 ff. 68

Adolphsen,

Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , S . 2 8 1 ff.; ders.,

Internationale Dopingstrafen, S. 6 2 8 f f .

38

§2 Private Ordnung

und

„Selbstregulierung"

b i n d e n als die Vorstellung, dass es sich eben nicht u m rechtlich, s o n d e r n allenfalls um m o r a l i s c h o d e r k r a f t Ü b e r z e u g u n g v e r p f l i c h t e n d e N o r m e n h a n d e l t . 6 9 Im juristischen S c h r i f t t u m w i r d i m m e r wieder die Frage a u f g e w o r f e n , o b es sich bei diesen u n d a n d e r e n F o r m e n der „lex m e r c a t o r i a " u m eine „ d r i t t e " , neben nat i o n a l e m u n d i n t e r n a t i o n a l e m Recht s t e h e n d e „ R e c h t s o r d n u n g " h a n d e l t . 7 0 Die Frage m a g theoretisch reizvoll sein, p r a k t i s c h bleibt sie o h n e Ertrag. Soweit Privatk o d i f i k a t i o n e n sich d a r a u f b e s c h r ä n k e n , geübtes R e c h t lediglich a u f z u z e i c h n e n o d e r n a c h rechtswissenschaftlicher M a n i e r zu systematisieren, n e h m e n sie v o n v o r n h e r e i n keine R e c h t s e t z u n g s b e f u g n i s s e in A n s p r u c h . 7 1 Soweit der i n t e r n a t i o nale Verkehr eigene, originelle Regeln h e r v o r b r i n g t , ist zu unterscheiden: W e r d e n die b e t r e f f e n d e n Regeln d u r c h Schiedsgerichte a n g e w a n d t und fortgebildet, finden sie m i t t e l b a r a u c h die staatliche A n e r k e n n u n g , d e n n Schiedsgerichte d ü r f e n , eine e n t s p r e c h e n d e Schieds- u n d R e c h t s w a h l k l a u s e l vorausgesetzt, nach Billigkeit („ex a e q u o et b o n o " ) u n d d a m i t , a fortiori, n a c h „lex m e r c a t o r i a " judizieren. 7 2 Insofern bleibt die sog. lex m e r c a t o r i a also d u r c h eine prozessrechtliche „ N a b e l s c h n u r " mit d e m staatlichen Recht v e r b u n d e n . 7 3 E n t s p r e c h e n d e s gilt f ü r die d u r c h Verträge ins Leben g e r u f e n e u n d (unter H i n w e i s auf Art. 1 1 3 4 C o d e Civil) gern zitierte „lex c o n t r a c t u s " , 7 4 also die z u m Gesetz der Parteien e r h o b e n e Privatvereinb a r u n g . A u c h sie ist d u r c h staatlichen G e l t u n g s b e f e h l an die hoheitliche Rechtso r d n u n g g e b u n d e n u n d s o m i t nicht wirklich „ a u t o n o m " . 7 5 D a s sog. C y b e r l a w o d e r die „lex s p o r t i v a " entstehen schließlich - soziologischen Visionen zum T r o t z - nicht im rechtsleeren R a u m , s o n d e r n w e r d e n i n n e r h a l b von Institutionen ges c h a f f e n und praktiziert, die sich staatlichen Rechts bedienen und die auch nicht per se dem Zugriff staatlicher R e g u l i e r u n g entzogen s i n d . ' 6

^ Vgl. nur Kronke, FS I.utter, S. 1449ff.; Hapt, Self-Regulation, S. 56, 60; auch schon Mertens, AG 1982, 29, 33; eingehend Horn, Codes of Conduct, S.45; Schuppert, Staatswissenschaft, S . 9 0 8 f f . Kritisch zur Bezeichnung Kimminich, Völkerrecht, S. 234ff.; Augsberg, Rechtsetzung, S. 36. 70 Vgl. zuletzt wieder Calliess, Z f R S o z 2 0 0 2 , 185ff.; Schnieder, (h.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , 257, 2 6 0 ff. 71 Vgl. schon Savigny, Beruf, S. 18f.; aus neuerer Zeit Albert, Kritischer Rationalismus, S.70; K. Schmidt, Rechtsdogmatik, S.24; Michaels, RabelsZ 62 (1998), 580, 587. 72 Unstr., vgl. nur Art. 28 Abs. 3 des „ U N C I T R A I . Model Law on International Commercial A r b i t r a t i o n " , umgesetzt durch § 1 0 5 1 A b s . 3 Z P O , dazu Baumbach/I.auterbach/Albers/Hiirimann, Z P O , § 1 0 5 1 R n . 4 . 7! Zöller/Geimer, Z P O , § 1061 Rn. 11. 74 Statt vieler Pawlowski, BGB AT, R n . 5 2 1 ; Michaels, RabelsZ 62 (1998), 580, 621; kritisch zu dieser Vokabel („inhaltslos") L. Raiser, AGB, S.60f. 7i Insofern zu relativieren auch die sog. „ P r i v a t a u t o n o m i e " , s. dazu unten, § 6 B.I.2.a. (S. 152). 76 Das oft zitierte ICANN-Streitschlichtungsverfahren zur Beilegung von Domain-Name-Konflikten beruht auf Verträgen der (als n o n - p r o f i t Corporation organisierten) I C A N N mit der amerikanischen Regierung (s. Knill/Lehmkuhl, Governance and Globalization, S.91); es schließt den staatlichen Rechtsweg nicht aus (vgl. Luckey, N J W 2 0 0 1 , 2527f.). Allgemein zur Regulierbarkeit des Netzes Lessig, Code, S.62ff.; speziell zur Rolle von I C A N N s. Weinberg, 50 Duke I..J., 187ff. (2000); zur „lex sportiva" Adolphsen, Internationale Dopingstrafen, S.60.

A. „Selbstregulierung" W e r d e n s o l c h e R e g e l n außerhalb

als selbst gestaltete

39

Ordnung

der S c h i e d s g e r i c h t s b a r k e i t als R i c h t s c h n u r so-

zialen V e r h a l t e n s g e ü b t , e t w a im R a h m e n freiwilliger S e l b s t k o n t r o l l e (InternetS c h i e d s s t e l l e n ) o d e r illegaler Privatjustiz ( K a r t e l l g e r i c h t , F e m e g e r i c h t ) , h a n d e l t es sich in der T a t u m N o r m e n - n u r n i c h t u m s o l c h e des R e c h t s . D i e B e d e u t u n g solc h e r s o z i a l e n N o r m e n als ( a b s c h r e c k e n d e s o d e r e r m u t i g e n d e s ) V o r b i l d für n a t i o n a l e o d e r i n t e r n a t i o n a l e R e c h t s e t z u n g steht e b e n s o a u ß e r F r a g e wie der U m s t a n d , d a s s sie sich in der G e r i c h t s - und B e h ö r d e n p r a x i s z u m G e w o h n h e i t s r e c h t verfestigen k ö n n e n . 7 7 Sie jenseits dessen mit H i l f e e i n e r „ f u n k t i o n a l e n " (i.e. s o z i o l o g i s c h e n ) B e t r a c h t u n g z u m R e c h t zu e r h e b e n , 7 8 ist a u s zwei G r ü n d e n verfehlt: Erstens b r i n g t es den o h n e h i n a u ß e r h a l b der R e c h t s o r d n u n g s t e h e n d e n Beteiligten n i c h t s , z w e i t e n s beseitigt es n i c h t den V o r r a n g n a t i o n a l e n und i n t e r n a t i o n a l e n R e c h t s , das e i n e m i n t e r n a t i o n a l e n K a r t e l l n i c h t d e s h a l b die M i s s b i l l i g u n g versagen w i r d , weil seine R e g e l n B e s t a n d t e i l einer ( v e r m e i n t l i c h ) eigenen R e c h t s o r d n u n g s i n d . 7 9 G e s t e h t m a n hingegen n u r s o l c h e n Sätzen der „ l e x m e r c a t o r i a " den C h a r a k t e r von R e c h t zu, die inhaltlich

„ausgewogen",

„gut" oder

„gerecht"

s i n d , 8 0 g i b t m a n den e n t s c h e i d e n d e n Vorteil der R e c h t s q u e l l e n l e h r e preis, deren (oft ü b e r s e h e n e ) E r r u n g e n s c h a f t darin b e s t e h t , u n g e a c h t e t des I n h a l t s einer R e g e l ü b e r ihre G e l t u n g b e f i n d e n zu k ö n n e n .

II.

Systematisierung

V e r s u c h t m a n , die n a c h i h r e m ä u ß e r e n E r s c h e i n u n g s b i l d gegliederten F o r m e n der S e l b s t r e g u l i e r u n g zu s y s t e m a t i s i e r e n , bieten sich v e r s c h i e d e n e W e g e a n . Aus regul i e r u n g s t h e o r e t i s c h e r Perspektive liegt es n a h e , n a c h d e m U m f a n g s t a a t l i c h e r Beteiligung an „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " zu d i f f e r e n z i e r e n . A u f diese Weise g e l a n g t e m a n zu einer a b g e s t u f t e n , d u r c h die Pole rein private und rein s t a a t l i c h e R e g u l i e r u n g b e g r e n z t e n S k a l a , a u f der die v e r s c h i e d e n e n Z w i s c h e n f o r m e n von Selbstregulier u n g a n z u s i e d e l n w ä r e n . 8 1 E i n e s o l c h e S y s t e m a t i s i e r u n g , wie sie v o r z u g s w e i s e im ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e n S c h r i f t t u m a n z u t r e f f e n ist, ist n ü t z l i c h , u m sich das E i n s a t z -

Dazu näher unten, § 10 A. 1.2. ( S . 3 3 1 ) ; s. auch B.I.3. ( S . 4 3 ) („ordre public"). So etwa Berger, Kodifizierung, S . 9 9 f f . ; Burkart, UNIDROIT-Principles, S . 9 8 f . ; Schroeder, Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , S . 2 5 7 , 2 6 5 f f . ; aus rechtssoziologischer Sicht Röhl/Magen, ZfRSoz 17 ( 1 9 9 6 ) , 1, 2 0 ; kritisch mit Recht Michaels, RabelsZ 6 2 ( 1 9 9 8 ) , 5 8 0 , 6 1 5 . 7 9 Deutlich Böhm, Freiheit und Ordnung, S . 2 8 7 f . Aus der Rechtsprechung B G H Z 8 6 , 2 8 4 , 2 8 9 f . (betr. weltweit vereinheitlichte private lATA-Flugbeförderungsbedingungen): „Das inländische Interesse an einem wirksamen und unbeschränkten Verbraucherschutz geht in diesem Fall dem Streben nach internationaler Rechtseinheitlichkeit vor". Dagegen hatte das sog. Reiter-Urteil ( B G H Z 1 2 8 , 93) bei der Inhaltskontrolle privater Sportverbandsregeln dem Umstand Bedeutung beigemessen, dass es sich dabei um „weltweit akzeptierte Standards internationaler Spitzenverbände" handele; s. aber auch EuGH S l g . 1 9 9 5 , 1 - 4 5 2 1 (Bosman), Tz. 7 7 , 111 f. (Kontrolle internationaler Sportregeln am Maßstab des objektiven Rechts). 77 78

Vgl. Burkart, UNIDROIT-Principles, S . 9 7 . Vgl. etwa Hoffmann-Riem, Modernisierung von Recht und Justiz, S. 2 8 ff.; Schwarcz, te Ordering, 9 7 Nw. U . L . R . 3 1 9 , 3 2 4 f f . 80 81

Priva-

40

$ 2 Prillate

Ordnung

und

„Selbstregulierung"

Spektrum der Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte deutlich zu machen. 8 2 Hier soll sie zugunsten einer anderen, stärker auf das zivilistische und rechtstheoretische Interesse ausgerichteten Perspektive vorerst ausgeblendet bleiben. Danach sind die folgenden vier Differenzierungen von Relevanz: Eine erste und entscheidende Unterscheidung ist zunächst zwischen rechtlich bindenden

und rechtlich nicht bindenden Arrangements zu m a c h e n . 8 ' Zu den Ers-

teren rechnen etwa Normenverträge (Beispiel: Tarifvertrag), zu Letzteren die sog. Selbstverpflichtungen und die Fälle freiwilliger Selbstkontrolle. Eine gewisse Entsprechung findet diese Trennung in der Scheidung zwischen einseitigen

und zwei-

oder mehrseitigen Arrangements. Mangels Vertragspartners fallen einseitig ausgesprochene Selbstverpflichtungen grundsätzlich in die Sphäre des Unverbindlichen, denn zumindest nach zivilrechtlichen Grundsätzen ist ein einseitiges Versprechen regelmäßig nicht verpflichtend. 8 4 Mehrseitige Arrangements können verbindlich sein, wenn sie die Voraussetzungen eines Vertrages erfüllen, können aber auch unverbindlich bleiben, wenn eine Rechtsbindung nicht gewollt ist. Ferner sind ratorische

dekla-

Regelwerke, die sich auf die Wiedergabe vorhandener Normen oder

Fakten beschränken (und insoweit unproblematisch sind), von solchen zu unterscheiden, die darüber hinausgehen. 8 "" Schließlich können wir trennen zwischen rational

(planvoll, künstlich) geschaffenen Regelungen und solchen, die sich evolu-

tiv herausgebildet haben. Nach dieser Unterscheidung wären die klassischen Lexmercatoria-Grundsätze der zweiten Gruppe zuzurechnen, während die übrigen Formen der Selbstregulierung in die erste Gruppe fielen. Nicht unter jedem rechtlichen Blickwinkel sind diese Differenzierungen relevant. Besonders augenscheinlich wird das am Kartellrecht, welches in seinem Bestreben, wettbewerbsbeschränkendes Verhalten zu unterbinden, nicht auf die rechtlich durchsetzbaren Teile privater Arrangements, sondern auf deren tatsächliche Durchführung schaut und damit die Durchsetzung unverbindlicher „Kodizes" bisweilen untersagt. 8 6 Für andere Rechtsgebiete, die an vorgegebenen Akttypen ausgerichtet sind, gilt das nicht. So tut sich etwa das Verwaltungsrecht schwer, selbstregulative Arrangements, die sich außerhalb des Kanons verwaltungsrechtlicher Handlungsformen bewegen, juristisch zu erfassen. Ähnlichen Schwierigkeiten begegnet das Zivilrecht. Z w a r setzt hier der rechtsstaatliche Bestimmtheitsgrundsatz keine direkten Grenzen, doch soll auch das Privatrecht einem „Numerus clausus" der Akttypen unterliegen. 8 7 O b und unter welchen Voraussetzungen Vgl. dazu noch unten, § 3 B.II.2. (S. 7 4 ) und § 11 A.III (S. 3 6 3 ) . Ähnlich bereits Mertens, AG 1 9 8 2 , 2 9 , 3 3 f., der „para-legale" Normen in „quasi-verbindlic h e " und „faktisch verbindliche" unterteilt. 8 4 Ausführlich dazu unten, § 8 B.III. ( S . 2 7 8 ) . 8 5 Deklaratorischen Charakters ist die sog. „Patientencharta", zu Teilen auch der „Deutsche Corporate Governance K o d e x " . Hierher zu rechnen sind auch private Tatsachen- und Entscheidungssammlungen (Schmerzensgeldtabellen etc.), zu diesen Röthcl, Normkonkretisierung, S. 2 6 5 ff. 82

85

86 87

Näher dazu unten, $ 5 D. (S. 1 4 3 f f . ) . Näher dazu unten, § 8 B.I. ( S . 2 6 6 ) .

B. „Sclbstregulierwig" im Kontext privater Ordnung

41

sich damit neue Formen privater Ordnung gestalten lassen, ist wenig geklärt. Damit sind bereits einige Untersuchungsfelder dieser Arbeit angedeutet. Welche Gestaltungsformen kennt das Recht, um privater Ordnung zur Geltung zu verhelfen? Lassen sich diese Gestaltungsformen erweitern oder unter einem übergeordneten Blickwinkel zusammenfassen? Bevor wir diesen und anderen Fragen weiter nachgehen, ist das Erkenntnisinteresse der Arbeit noch genauer abzustecken.

ß. „Selbstregulierung" im Kontext privater

Ordnung

Wie sich der Begriff „private Ordnung" zu demjenigen der „Selbstregulierung" verhält, ist Definitionssache. So wird im öffentlichen Recht überwiegend von Selbstregulierung gesprochen, wenn die oben geschilderten Phänomene als Beispiele staatsfreier oder staatsferner Selbstorganisation der Gesellschaft erörtert werden. Das ökonomisch inspirierte Schrifttum bedient sich dagegen gerne der Redeweise vom „private ordering", um den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, dass soziale Ordnung von den Marktakteuren auch ohne Einschaltung des Staates geschaffen werden kann. 8ti O b diese oder jene Redeweise angemessener ist, ist Geschmacksfrage. Wir betrachten „private O r d n u n g " insofern als den engeren Begriff, als nicht jede der mit den dargestellten Phänomenen von „Selbstregulierung" verbundenen Fragen im Rahmen dieser Arbeit erörtert werden wird.

I. Private Regelsetzung als Ausschnitt von „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " Private Ordnung wird, wie im ersten Kapitel verdeutlicht, in dieser Arbeit vornehmlich unter dem Aspekt der Regelsetzung behandelt. Unser Überblick zeigte, dass private Regeln bei allen Formen von Selbstregulierung eine zentrale Rolle einnehmen. Anliegen der Untersuchung ist es, solche Regeln aus dem Blickwinkel des deutschen Zivilrechts unter die Lupe zu nehmen. Damit schränkt sich die Perspektive in dreierlei Richtung ein.

1. Die juristische

Perspektive

Eine erste Eingrenzung gilt der Konzentration auf die rechtliche Sichtweise, also der Frage, wie sich private Ordnung innerhalb der Vorgaben der Rechtsordnung entfalten kann. Diese Sichtweise ist zunächst und vor allem der begrenzten Fachkompetenz des Verfassers geschuldet. Sie nimmt aber auch positive Gründe für sich in Anspruch. Der Jurist, der sich zu sehr in den Fängen der Nachbarwissenschaften verstrickt, läuft Gefahr, den Anschluss an die eigene Disziplin zu verlieren und erweist der interdisziplinären Forschung damit gerade keinen Dienst. Kein geringerer als Ludwig Raiser, der die rechtliche Untersuchung privater Regelwerke sfi

N a c h w e i s e oben, Einleitung Fn. 1.

42

§2 Private Ordnung und

„Selbstregulierung"

s c h o n früh u m interdisziplinäre E i n s i c h t e n b e r e i c h e r t e , 8 9 w a r n t e i m m e r w i e d e r und mit R e c h t v o r der allzu u n b e f a n g e n e n Ü b e r n a h m e

sozialwissenschaftlicher

K o n z e p t e in die J u r i s p r u d e n z . 9 0 S e i n e m V o r b i l d folgend w e r d e n wir d a h e r die sozialwissenschaftlichen

Rahmenbedingungen

ausführlich

untersuchen,

uns

im

K e r n a b e r mit der j u r i s t i s c h e n Perspektive b e s c h e i d e n . Dieses V o r g e h e n wird sich i n s o f e r n als f r u c h t b a r e r w e i s e n , als es d a m i t gelingt, E i n s i c h t e n der p o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e d i e n s t b a r zu m a c h e n , o h n e den R a h m e n des geltenden R e c h t s verlassen zu m ü s s e n .

2. Die zivilistische

Perspektive

D e m P h ä n o m e n privater R e g e l s e t z u n g k a n n m a n sich g r u n d s ä t z l i c h aus zwei R i c h t u n g e n n ä h e r n . Aus S i c h t des S t a a t e s , a l s o „ v o n o b e n " , geht es v o r allem d a r u m , privaten S a c h v e r s t a n d n u t z b a r zu m a c h e n , u m u n t e r E n t l a s t u n g des G e s e t z g e b e r s f l e x i b l e S t a n d a r d s zu g e w i n n e n , von d e n e n m a n sich bessere A k z e p t a n z u n d D u r c h s e t z u n g s f ä h i g k e i t v e r s p r i c h t . 9 1 Private R e g e l s e t z u n g stellt so gesehen eine „ i n t e l l i g e n t e " F o r m i n d i r e k t e r R e g u l i e r u n g d a r , 9 2 die v o r a l l e m verfassungsr e c h t l i c h e F r a g e n a u f w i r f t : I n w i e w e i t d a r f sich der S t a a t seiner N o r m s e t z u n g s v e r a n t w o r t u n g z u g u n s t e n Privater e n t z i e h e n ? Eine a n d e r e P e r s p e k t i v e g e w i n n t m a n , w e n n m a n „ v o n u n t e n " , a l s o aus S i c h t des I n d i v i d u u m s , a u f das P h ä n o m e n s c h a u t . D a n n stellt sich die F r a g e , wie private A k t e u r e a u s e i g e n e m A n t r i e b und zu eigenen Z w e c k e n eine n o r m a t i v e O r d n u n g s c h a f f e n k ö n n e n und unter welc h e n V o r a u s s e t z u n g e n a n d e r e Private d a r a n g e b u n d e n sind. Im R a h m e n dieser A r b e i t interessiert v o r a l l e m die zweite, zivilistische F r a g e s t e l l u n g . U m ihr sinnvoll n a c h g e h e n zu k ö n n e n , ist es u n e r l ä s s l i c h , z u n ä c h s t die s t a a t s r e c h t l i c h e n V o r g a b e n privater R e g e l s e t z u n g zu u n t e r s u c h e n . A u s g e k l a m m e r t bleiben dabei die R e g e l s e t z u n g s f o r m e n des S o z i a l r e c h t s , die ihrem ä u ß e r e n E r s c h e i n u n g s b i l d n a c h d e n j e n i g e n privater R e g e l s e t z u n g ä h n e l n , der S a c h e n a c h a b e r d e m ö f f e n t l i c h e n R e c h t z u z u o r d n e n s i n d . 9 ' Z u r ü c k k o m m e n w e r d e n w i r a u f das S t a a t s r e c h t , w e n n das eigene M o d e l l der R e g e l s e t z u n g e n t w i c k e l t und dazu die F r a g e a u f g e w o r f e n

1(9 L. Raiser, AGB, S . 5 9 f f . Richtungweisend im Übrigen bis heute der von L. Raiser u.a. herausgegebene Band „Das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, Soziologie und Statistik" (Schriften des Vereins für Socialpolitik), Berlin 1964. 9 0 Vgl. L. Raiser, AGB, S . 7 6 ; ders., Vertragsfunktion, S. 101, 112; ders., Die Zukunft des Privatrechts, S . 2 0 8 ; eine Raiser'sche Ermahnung andeutend Teubner, Organisationsdemokratie, Vorwort a.E.; generell kritisch zur sozialwissenschaftlichen Euphorie der „politischen" Jurisprudenz der siebziger Jahre Pawlowski, AcP 177 ( 1 9 7 7 ) , 82, 85. 9 1 Statt vieler Schmidt-Preuß in: Kloepfer (Hrsg.), Selbst-Beherrschung im technischen und ökologischen Bereich, 1 9 9 8 , S. 89ff.; Kloepfer, Technik und Recht im wechselseitigen Werden, 2 0 0 2 , S . 4 4 ff.

Vgl. nur Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 9 6 0 f f . ' Auf das einschlägige monografische Schrifttum sei verwiesen: Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung ( 2 0 0 0 ) ; Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen (2003); Hällßig, Normsetzung durch Richtlinien im Vertragsarztrecht ( 2 0 0 1 ) ; V. Neumann, Normenvertrag, Rechtsverordnung oder Allgemeinverbindlicherklärung? ( 2 0 0 2 ) . 92 9

ß. .,Selbstregulierung" im Kontext privater

Ordnung

43

w i r d , w a s einen R e g e l s e t z e r (gleich w e l c h e r H e r k u n f t ) eigentlich zum E r l a s s verb i n d l i c h e r R e g e l n legitimiert.

3. Die nationale

Perspektive

S c h l i e ß l i c h wird sich die Perspektive i n s o w e i t a u f den n a t i o n a l e n R a h m e n bes c h r ä n k e n , als sie g r u n d s ä t z l i c h v o m d e u t s c h e n R e c h t und seiner A u s l e g u n g ausg e h t . D i e G e f a h r einer B l i c k v e r e n g u n g w i r d d a d u r c h v e r m i e d e n , dass der B l i c k , w o g e b o t e n , a u f a n d e r e R e c h t s o r d n u n g e n g e r i c h t e t wird und die G r u n d f r a g e n dabei so f o r m u l i e r t w e r d e n , dass die jeweils g e f u n d e n e n A n t w o r t e n ü b e r den heimischen R e c h t s k r e i s h i n a u s von B e d e u t u n g b l e i b e n . D a s V ö l k e r r e c h t bietet d e m g e g e n ü b e r für F r a g e n privater R e g e l s e t z u n g ( n o c h ) k e i n e A n g r i f f s f l ä c h e , weil es privaten A k t e u r e n eine a k t i v e R o l l e n i c h t z u g e s t e h t . 9 4 D a s gilt selbst d o r t , w o sich, wie bei g r o ß e n R o h s t o f f e r s c h l i e ß u n g s v o r h a b e n , m u l t i n a t i o n a l e U n t e r n e h m e n und ( G a s t - ) S t a a t im R a h m e n eines sog. „State c o n t r a c t " g e g e n ü b e r s t e h e n . 9 5

Zwar

z e i c h n e t sich ein gewisser W a n d e l a b , der in n a h e r Z u k u n f t zu einer s t ä r k e r e n Einb i n d u n g von Individuen, T r a n s n a t i o n a l e n U n t e r n e h m e n ( T N U ) und N i c h t r e g i e r u n g s o r g a n i s a t i o n e n ( N G O ) in die V ö l k e r r e c h t s o r d n u n g führen k ö n n t e ; 9 6 diese E n t w i c k l u n g ist a b e r n o c h im Fluss und n i c h t s p e k u l a t i v v o r w e g z u n e h m e n . Eine a b w e i c h e n d e Position e r l a u b t sich die R e c h t s s o z i o l o g i e , die V e r h a l t e n s m u s t e r n g r e n z ü b e r s c h r e i t e n d a g i e r e n d e r G r u p p i e r u n g e n bereits jetzt den C h a r a k ter von ( R e c h t s - ) N o r m e n zuweist. In der T r a d i t i o n E h r l i c h s g e l a n g t sie d a m i t zur D i a g n o s e eines „ R e c h t s p l u r a l i s m u s " , 9

durch dessen G e s t r ü p p sie allerdings kei-

nen g a n g b a r e n Pfad w e i s t . 9 8 F'ntsprechend u n b e s t i m m t bleiben die mit diesem Ansatz v e r b u n d e n e n V i s i o n e n „ g l o b a l e r Z i v i l g e s e l l s c h a f t " u . a . Will m a n den A n schluss an das geltende R e c h t nicht v o l l s t ä n d i g verlieren, ist von den hierzu e n t w i -

9 4 Zur fehlenden Völkerrechtssubjektivität von Individuen und Nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) nur Kimminich, Völkerrecht, S. 193ff. Zum wiederholt unternommenen, aber letztlich erfolglosen Versuch, derartige Verträge dem Völkerrecht zuzuordnen, Schanze, Investitionsverträge im internationalen Wirtschaftsrecht, S. 115ff.; Merkt, Investitionsschutz durch Stabilisierungsklauseln, S. 12.4ff. 9 6 Vgl. nur Hobe, AVR 1 9 9 9 , S. 152, 160ff.; Kell/Ruggie, Transnational Corporations 8 ( 1 9 9 9 ) , 101 ff.; Schwartmann, ZVglRWiss. 102 ( 2 0 0 3 ) , 75ff.; kritisch Herdegen, V V D S t R l . 6 2 ( 2 0 0 3 ) , 7, 12f. 9 7 Vgl. nur K. Günther, Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität, FS Habermas, S . 5 3 9 f f . ; Teubner, FS Odersky, S . 4 4 1 f f . ; ders., FS Zöllner, 5 6 5 f f . ; Röhl/Magen, ZfRSoz 17 ( 1 9 9 6 ) , 1, 19 ff. 98 K. Günther (vorhergehende Fn.) sucht ihn in einem „transnationalen Code der Legalität", den er als Summe universaler „Konzepte, Prinzipien, Regeln und Rechtsinstitute" versteht. In der Sache entspricht das dem Gedanken eines transnationalen ordre public, wie er Anfang der achtziger Jahre vor dem Hintergrund der Aufstellung von Codes of Conducts für Multinationale Unternehmen entwickelt wurde (vgl. etwa Horn, RabelsZ 4 4 ( 1 9 8 0 ) , 4 2 3 , 4 4 7 f . ; ders., Codes of Conduct, S. 45ff.; Meessen, N J W 1981, 1131 f.). In der Regel bleiben die damit erfassten Sätze aber so unbestimmt, dass mit ihnen wenig zu gewinnen ist (Bsp.: „Prinzip der Vorhersehbarkeit von Sanktionen"). Juristisch noch weniger greifbar sind Visionen „heterarchischer Weltgesellschaft", „polykontextualer Netzwerke" etc. (auch dazu Günther, ebd., S . 5 6 4 f . ) .

44

§2 Private Ordnung und

„Selbstregulierimg"

e k e l t e n , h o c h a b s t r a k t e n M o d e l l e n e b e n s o A b s t a n d zu w a h r e n wie von der o b e n kritisierten L e h r e einer „ l e x m e r c a t o r i a " . 9 9 W e r der a n g e s p r o c h e n e n E n t w i c k l u n g zu e i n e m privat ( m i t - ) g e s t a l t e t e n „ W e l t r e c h t " V o r s c h u b leisten will, k o m m t j e d e n falls um die F r a g e n a c h der L e g i t i m a t i o n t r a n s n a t i o n a l e r A k t e u r e n i c h t h e r u m . D i e d a m i t a n g e s p r o c h e n e n P r o b l e m e w e r d e n im R a h m e n dieser A r b e i t die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erfahren.

II. P r i v a t e R e g e l n i n n e r h a l b d e r R e c h t s o r d n u n g Private und s t a a t l i c h e O r d n u n g stehen n i c h t b e z i e h u n g s l o s n e b e n e i n a n d e r . Aus juristischer P e r s p e k t i v e g e b ü h r t der s t a a t l i c h e n O r d n u n g insofern der V o r r a n g , als sie die G r e n z e n b e s t i m m t , i n n e r h a l b derer sich private O r d n u n g e n t f a l t e n d a r f . D i e von s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e r , a b e r a u c h j u r i s t i s c h e r Seite oft als A n m a ß u n g gegeißelte S e l b s t e r m ä c h t i g u n g wird in B e r e i c h e n z u r ü c k g e n o m m e n , die m a n als „ r e c h t s f r e i e R ä u m e " b e z e i c h n e n k a n n . D e r e n „ V e r r e c h t l i c h u n g " ist m i t Vor- und Nachteilen verbunden.

2. „Rechtsfreie

Räume"

G e g e n ü b e r n i c h t - s t a a t l i c h e n R e g e l n k a n n das R e c h t prinzipiell a u f drei A r t e n Stellung b e z i e h e n , von d e n e n die ersten beiden j e d e m J u r i s t e n vertraut sind. Es k a n n sie für illegal e r k l ä r e n , weil sie den V o r g a b e n des R e c h t s w i d e r s p r e c h e n . Illegalen Privatregeln e n t z i e h t das R e c h t seinen S c h u t z (vgl. § 1 3 4 B G B ) und belegt ihre D u r c h f ü h r u n g bisweilen mit S a n k t i o n e n (vgl. z . B . § 8 1 G W B ) . Es k a n n sie, umgek e h r t , a u s d r ü c k l i c h billigen

und ihnen die D u r c h s e t z u n g m i t Hilfe s t a a t l i c h e r In-

stanzen e r m ö g l i c h e n o d e r ihnen s o g a r erst das G e w a n d v e r s c h a f f e n , i n n e r h a l b dessen sie sich bilden k ö n n e n . 1 0 0 D i e s e n R e g e l n wird im Verlaufe der A r b e i t ausführliche A u f m e r k s a m k e i t zuteil w e r d e n . D a s R e c h t k a n n a b e r a u c h a u f eine dritte A r t r e a g i e r e n , die oft ü b e r s e h e n w i r d . 1 0 1 E^s k a n n private O r d n u n g a k z e p t i e r e n , ohne d a r ü b e r zu b e f i n d e n , o b diese als legal o d e r illegal zu b e w e r t e n ist. Eine solc h e E i n r ä u m u n g „ r e c h t s f r e i e r R ä u m e " e r f o l g t selten a u s d r ü c k l i c h , s o n d e r n regelm ä ß i g d a d u r c h , dass a u f I n s t a l l a t i o n s u b j e k t i v e r R e c h t e und E i n f ü h r u n g des O f f i zialprinzips verzichtet w i r d . 1 0 2 S c h r e i t e t k e i n e B e h ö r d e ein und fehlt es Individuen an k l a g w e i s e geltend zu m a c h e n d e n R e c h t e n , k a n n sich eine O r d n u n g e n t f a l t e n , die frei von r e c h t l i c h e r E i n m i s c h u n g b l e i b t : „ W o kein Kläger, da kein R i c h t e r " . Stark kritisch auch Röhl, Rechtslehre, S. 2 7 8 ; differenziert Augsberg, Rechtsetzung, S. 64ff. Vgl. F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 140ff. 101 Vgl. Mertens, Leges praeter legem, AG 1982, 2 9 , 3 6 . 1 0 2 Diskutiert wird der rechtsfreie Raum vor allem im Strafrecht, wo sich die Frage an der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsahbruchs (neu) entzündet hat (ausführlich dazu A. Kaufmann, Rechtsphilosophie, S . 2 0 4 f . ) . Sie stellt sich aber gleichermaßen im Zivilrecht, wenn dort Abreden nicht durchgesetzt, andererseits auch nicht verboten werden, die „nicht Gegenstand einer rechtlichen Vereinbarung" sein können (s. Flume, Rechtsgeschäft, S. 82; Larenz, Richtiges Recht, S. 80). Umfassend Engisch, Der rechtsfreie Raum, S . 9 f f . 99

100

B. „Selbstregulierung"

im Kontext

privater

Ordnung

45

Was von Juristen bisweilen als Lücke empfunden, von anderen als Freiraum begrüßt wird, hat in der Tat zwei Seiten, die es gleichermaßen zu würdigen gilt. 2. Die Ambivalenz

von „ Verrechtlicbung"

und

„Entrecbtlicbung"

Jurisprudenz und Gesetzgebung der Moderne haben die eigentümliche Neigung, „rechtsfreie Räume" durch „Verrechtlichung" zu besiedeln."" Von sozialwissenschaftlicher Seite wird diese „Kolonisation der Lebenswelten" (Habermas) als bedrohlich empfunden und einer „Entrechtlichung", auch verstanden als gesellschaftliche Selbstregulierung, das Wort geredet. 104 Diese Forderung führt ein zweischneidiges Schwert. Sie macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Einmischung des Rechts die Ordnungs- und Konfliktlösungsmechanismen zerstören kann, die sich in sozialen Gemeinschaften über die Zeit entwickelt haben. Sie übersieht aber, dass sich derartige Ordnungsmuster in dem Maße als freiheitsoder würdebedrohend erweisen können, dass ein Einschreiten des Rechts unerlässlich ist. 1 " 1 Ein gutes Beispiel dafür liefern Aufnahmerituale in Männerbünden. So mag das dem frisch ernannten Unteroffizier traditionsgemäß abverlangte „Ex"-Trinken von Flüssigkeitsgemischen (mit anschließendem unweigerlichem Erbrechen) den Korpsgeist der Truppe (und damit mittelbar deren Kampfkraft) stärken, entspricht aber nicht dem, was Juristen mit dem Begriff von Menschenwürde verbinden. Das Bundesverwaltungsgericht entschied sich daher in einem der seltenen vor Gericht gelangten Fälle dafür, das Verhalten der verantwortlichen Vorgesetzten empfindlich zu ahnden. 1 0 6 Ob diese Entscheidung etwas ändern wird, sei dahingestellt. Sie zeigt jedoch, dass das Recht selbst dort, wo es „rechtsfreie Räume" zugesteht, sich eines überwachenden Blickes nicht enthalten darf. Dass das Recht dabei umgekehrt darauf bedacht sein muss, die Eigengesetzlichkeit sozialer Ordnung nicht voreilig zu zerstören, zeigt im zivilen Kontext der Fall der bereits erwähnten „ C o r p o r a t e Governance Kodizes". Mit Blick auf derartige Regelwerke wurde von juristischer Seite die Forderung erhoben, auch dafür eine Art Methodenlehre zu entwickeln. 1 0 7 Soweit man dabei die Aufgeschlossenheit der Jurisprudenz für sozialwissenschaftliche Einsichten vor Augen hat, ist dagegen nichts zu erinnern. 1 0 8 Richtig ist auch, dass die Einbindung para-legaler Regelwer-

" " Zurückhaltender verfuhr noch das 19. Jahrhundert, in dem man darum besorgt war, „dass nicht der familiäre, der gesellige und freundschaftliche Verkehr vor Gericht gezogen wird und Zusagen, die ihrem Inhalt nach dem rechtlichen Gebiete fern liegen, durch den Exekutor erzwungen werden sollen" ( H e l l w i g , AcP 86 ( 1 8 9 6 ) , 2 2 3 , 2 4 8 , zitiert nach Flume, Rechtsgeschäft, S . 8 2 f . ) . 1 0 4 Vgl. nur Th. Raiser, Rechtssoziologie, S. 300ff.; Seelmann, Rechtsphilosophie, §1 R n . 2 0 f f . , jew. mit umfassenden Nachweisen. I " 5 Überzeugend Seelmann, Rechtsphilosophie, § 4 Rn. 3 u. 5; s. jetzt auch Teubner, FS Druey, S. 145, 150 f. Vgl. BVerwG N J W 2 0 0 1 , 2 3 4 3 ; andere R i t e n - w i e die Mensur der schlagenden Verbindungen - belässt die Rechtsprechung dagegen im rechtsfreien Raum, s. BGHSt 4, 2 4 . 107 Hopt, Corporate Governance, S . 2 7 , 5 1 , 6 7 . 1 0 8 Vgl. Hopt, J Z 1975, 341 ff.; dazu unten, § 3 C.1.2. ( S . 7 7 ) .

46

52 Private Ordnung und

„Selbstregulierung"

ke in das R e c h t der E x p e r t i s e des J u r i s t e n b e d a r f , w a s eine E r w e i t e r u n g

der

R e c h t s e t z u n g s l e h r e m i t sich b r i n g t . 1 0 9 E i n e r a l l g e m e i n e n T e n d e n z zur Verrechtlic h u n g sozialer K o d i z e s ist hingegen selbst d o r t mit V o r s i c h t zu b e g e g n e n , w o das G e s e t z a u s d r ü c k l i c h a u f s o l c h e R e g e l w e r k e Bezug n i m m t . S o verzichtete der d e u t sche G e s e t z g e b e r im A k t i e n r e c h t z u g u n s t e n eines u n v e r b i n d l i c h e n K o d e x b e w u s s t a u f z w i n g e n d e R e g e l u n g e n , u m so d e m K a p i t a l m a r k t die E n t s c h e i d u n g zu e r m ö g lichen, die A c h t u n g o d e r N i c h t a c h t u n g v o n R e g e l n d u r c h K u r s a u f - o d e r - a b s c h l a ge o d e r a n d e r e soziale R e a k t i o n e n zu s a n k t i o n i e r e n . 1 1 0 D i e R e c h t s w i s s e n s c h a f t d u r c h k r e u z t e diesen A n s a t z , i n d e m sie den K o d e x a u f v e r s c h i e d e n e Weise in den S t a n d einer m i t t e l b a r v e r b i n d l i c h e n R e c h t s n o r m h o b " 1 und B e r a t e r n d a m i t A n lass g i b t , die E i n h a l t u n g des K o d e x v o r s o r g l i c h zu e m p f e h l e n . 1 1 2 I n h a l t l i c h m a g d a g e g e n n i c h t s zu e r i n n e r n sein. M e t h o d i s c h ist das V o r g e h e n a b z u l e h n e n : J u r i s t i sche E i g e n d y n a m i k ersetzt diejenige des M a r k t e s , für den es bei a l l g e m e i n e r Verb i n d l i c h k e i t eines R e g e l w e r k s nichts m e h r d a r ü b e r zu befinden g i b t , o b seine Z u t a t e n a u c h w i r k l i c h g o u t i e r t w e r d e n . D e r eigentliche C h a r m e der K o d e x - L ö s u n g geht d a m i t v e r l o r e n .

3.

„Rechtsfreier

Raum"

und

„Autonomie"

D i e v o r s t e h e n d e n Ü b e r l e g u n g e n v e r m ö g e n endlich a u c h ein M i s s v e r s t ä n d n i s ausz u r ä u m e n , dass sich b e i n a h e wie ein r o t e r F a d e n d u r c h die r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e D i s k u s s i o n p r i v a t e r N o r m e n zieht. D i e R e d e ist v o m B e g r i f f der „ A u t o n o m i e " , mit d e m m a n P h ä n o m e n e p r i v a t e r R e g e l s e t z u n g w a h l w e i s e b e s c h r e i b e n , e r k l ä r e n o d e r rechtfertigen zu k ö n n e n g l a u b t . 1 " H i e r ist s o r g f ä l t i g zu u n t e r s c h e i d e n : L ä s s t das R e c h t die E n t w i c k l u n g sozialer N o r m e n u n b e a n s t a n d e t , g e w ä h r t also einen „ r e c h t s f r e i e n R a u m " im o . g. S i n n , m a g m a n von A u t o n o m i e s p r e c h e n . Diese „ A u t o n o m i e " e r g i b t sich n i c h t aus sich h e r a u s , s o n d e r n ist E r g e b n i s der v o m R e c h t v o l l z o g e n e n A b w ä g u n g z w i s c h e n den e r w ä h n t e n Vor- und N a c h t e i l e n des Verzichts a u f V e r r e c h t l i c h u n g . E i n e a n d e r e A r t von A u t o n o m i e m e i n t , w e r die m i t M i t t e l n des R e c h t s v o l l z o g e n e R e g e l s e t z u n g ( z . B . d u r c h T a r i f v e r t r a g ) als „ a u t o Näher unten, § 11 A. (S.359ff.). Vgl. nur Augsberg, Rechtsetzung, S.306f.; Backmann, WM 2002, 2137ff.; Borges, ZGR 2003, 508, 534ff.; Engert, Jh.J.ZivRWiss. 2002, 31, 54ff.; Hommelboff/Schwab, Regelungsebenen, S.59. Ausführlich zum marktbezogenen „Comply-or-F.xplain"-Ansatz des britischen Vorbilds Belcher, Regulation by the Market: The Case of the Cadbury Code and Compliance Statement, J.B.L. 1995, 321 ff. Allgemein zur britischen (Selbst-)Regulierungsphilosophie die „Principles of Good Regulation", abgedruckt bei Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 974. 109 110

111 Vgl. U/mer, ZHR 166(2002), 1 5 0 , 1 6 6 f . ; rfers., AcP 2 0 2 ( 2 0 0 2 ) , 143, 170; Hopt, Corporate Governance, S.27, 55 f.; Lutter, FS Druey, S . 4 3 6 , 4 6 8 f f . Krönung dieser Entwicklung ist ein juristischer Kommentar, der nach der Verlagsankündigung den Umgang mit den „ähnlich wie Gesetze wirkenden" (sie!) Normen des Kodex erleichtern soll: Ringleb/Kremerll.utterlu. Werder, Deutscher Corporate Governance Kodex (2005). 112 Vgl. nur Schiessl, AG 2002, 593, 595; Schuppen, ZIP 2002, 1269, 1271; Seibt, AG 2002, 249, 251. 1 1 1 Ausführlich unten, § 6 B.I.2. (S. 181 ff.).

C.

47

Zusammenfassung

n o m " b e s c h r e i b t . Sie findet innerhalb

der R e c h t s o r d n u n g statt und folgt d a h e r ih-

ren G e s e t z e n . H i e r hat der J u r i s t sich n i c h t e i n e r E n t s c h e i d u n g zu e n t h a l t e n , s o n dern s c h l i c h t das R e c h t , so wie es ist, a n z u w e n d e n . D e r R ü c k g r i f f a u f ü b e r p o s i t i v e W e r t u n g e n m a g hier wie da u n v e r m e i d b a r sein; e n t s c h e i d e n d a b e r ist, dass diese t r a n s p a r e n t g e m a c h t und n i c h t h i n t e r der V o k a b e l einer ( v e r m e i n t l i c h ) v o r r e c h t l i chen Autonomie verborgen werden.

C. Unter dem Sammelbegriff

Zusammenfassung

„Selbstregulierung"

werden

unterschiedliche

Ord-

n u n g s m u s t e r d i s k u t i e r t , deren G e m e i n s a m k e i t darin b e s t e h t , dass gesellschaftliche A k t i v i t ä t e n n i c h t d e m zufälligen Spiel der K r ä f t e ü b e r l a s s e n , s o n d e r n d u r c h R e g e l n g e o r d n e t w e r d e n , deren U r h e b e r n i c h t der S t a a t ist. Im Ü b r i g e n bestehen s i g n i f i k a n t e U n t e r s c h i e d e , die durch die g e m e i n s a m e V o r s i l b e „ s e l b s t " n i c h t verschleiert w e r d e n d ü r f e n . „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " k a n n mit o d e r o h n e s t a a t l i c h e Beteiligung e r f o l g e n , sie k a n n rechtlich b i n d e n d e o d e r u n v e r b i n d l i c h e A r r a n g e m e n t s h e r v o r b r i n g e n und sie k a n n sich a u f die R e g e l a u f s t e l l e r b e s c h r ä n k e n o d e r A u ß e n s t e h e n d e - rechtlich o d e r t a t s ä c h l i c h - m i t e i n b e z i e h e n . Aus j u r i s t i s c h e r Sicht w i r f t „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " eine Vielzahl von R e c h t s f r a g e n a u f , die von der s t a a t s r e c h t l i c h e n Z u l ä s s i g k e i t über die zivilistische U m s e t z u n g bis zu den k a r t e l l r e c h t l i c h e n G r e n z e n reicht. D i e folgenden K a p i t e l w e r d e n diesen D i n g e n n a c h g e h e n , sich dabei a b e r a u f die F r a g e k o n z e n t r i e r e n , wie sich n a m e n t l i c h das Z i v i l r e c h t zu selbst g e s t a l t e t e r O r d n u n g verhält. D i e juristische S i c h t w e i s e sollte den Blick n i c h t d a f ü r t r ü b e n , dass es O r d n u n g e n g i b t , die v o n v o r n h e r e i n besser a u ß e r h a l b des R e c h t s b l e i b e n . Soziale R e g e l n , die gegen den Z u g r i f f des R e c h t s per se i m m u n w ä r e n , sind a b e r nicht a n z u e r k e n n e n .

§ 3 Der staatswissenschaftliche R a h m e n

N a c h d e m das E r k e n n t n i s i n t e r e s s e der A r b e i t b e s c h r i e b e n und E r s c h e i n u n g s f o r m e n privater O r d n u n g sortiert w u r d e n , geht es n u n m e h r d a r u m , den s t a a t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n R a h m e n a b z u z i r k e l n , i n n e r h a l b dessen sich ein zivilrechtliches Vers t ä n d n i s privater R e g e l s e t z u n g e n t f a l t e n k a n n . U n t e r „ s t a a t s w i s s e n s c h a f t l i c h " soll d a b e i ein A n s a t z v e r s t a n d e n w e r d e n , der sich im k l a s s i s c h e n Sinne n i c h t a u f das Staatsrecht

beschränkt,

sondern

sozialwissenschaftliche

Erkenntnis

mit

ein-

s c h l i e ß t . B e l e u c h t e t w e r d e n d a h e r n a c h f o l g e n d ö k o n o m i s c h e (A.), s t a a t s r e c h t l i c h e (B.), s o z i o l o g i s c h e ( C . ) und h i s t o r i s c h e ( D . ) E i n s i c h t e n , s o w e i t sie für unser T h e m a u n m i t t e l b a r v o n E r t r a g sind.

A. Selbstregulierung

als ökonomisches

Problem

N a c h einer ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e der S e l b s t r e g u l i e r u n g , die diesen N a m e n verdiente, sucht m a n v e r g e b e n s . 1 Z w a r w i r d von „ S e l b s t r e g u l i e r u n g " im v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e n S c h r i f t t u m bisweilen im S i n n e der S e l b s t s t e u e r u n g durch den M a r k t g e s p r o c h e n , w o m i t die klassische V o r s t e l l u n g der invisible h a n d g e m e i n t ist, die bei W e t t b e w e r b und freier P r e i s b i l d u n g A n g e b o t und N a c h f r a g e zum Ausgleich bringt und die P r o d u k t i o n s f a k t o r e n in die relativ günstigste V e r w e n d u n g l e n k t . 2 A n g e s p r o c h e n wird d a m i t der d u r c h A u s t a u s c h p r o z e s s e g e k e n n z e i c h n e t e

Pro-

d u k t m a r k t , dessen i n s t i t u t i o n e l l e r R a h m e n durch die P r e i s t h e o r i e n i c h t w e i t e r p r o b l e m a t i s i e r t w i r d . Will m a n Z u g a n g zu der F r a g e g e w i n n e n , o b die G e s t a l t u n g dieses R a h m e n s den M a r k t a k t e u r e n ü b e r l a s s e n bleiben k a n n , ist bei d e n j e n i g e n ö k o n o m i s c h e n L e h r e n a n z u s e t z e n , die sich u n m i t t e l b a r m i t F r a g e n der R e g u l i e rung b e s c h ä f t i g e n .

I. M a r k t v e r s a g e n u n d R e g u l i e r u n g s t h e o r i e In der W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t ist seit den sechziger J a h r e n d e m P h ä n o m e n der R e g u l i e r u n g , v e r s t a n d e n im Sinne s t a a t l i c h e r E i n f l u s s n a h m e a u f den M a r k t p r o zess, z u n e h m e n d e A u f m e r k s a m k e i t g e w i d m e t w o r d e n . ' D a b e i w u r d e n L e h r e n ent1 Vgl. Hopt, Self-Regulation, S . 7 4 ; Maxwell/l.ynn/Hacket, 4 3 J. I.aw & Kcon. 5 8 3 , 5 8 8 ( 2 0 0 0 ) ; Gunningham/Rees, 19 Law & Policy 3 6 3 , 3 6 4 ( 1 9 9 7 ) . 2 Statt aller Bartling/Lucius, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 9 0 f f . ' Konsolidierende Arbeiten: Kahn, T h e Economics of Regulation (1. Aufl. 1970); Stigler, The

A. Selbstregulierung

als ökonomisches

49

Problem

w i c k e l t , die heute unter den E t i k e t t e n „ n o r m a t i v e " und „ p o s i t i v e " R e g u l i e r u n g s t h e o r i e E i n g a n g in die ö k o n o m i s c h e L e h r b u c h l i t e r a t u r g e f u n d e n h a b e n . 4 Sie k ö n nen als A u s g a n g s p u n k t für ö k o n o m i s c h e Ü b e r l e g u n g e n zur S e l b s t r e g u l i e r u n g dienen.

?. Deregulierung

des öffentlichen

Sektors

Die n o r m a t i v e T h e o r i e der R e g u l i e r u n g u n t e r s u c h t und r e c h t f e r t i g t s t a a t l i c h e E i n griffe u n t e r dem G e s i c h t s p u n k t des M a r k t v e r s a g e n s . 5 D a g e g e n geht es der C h i c a g o - S c h o o l - g e p r ä g t e n positiven T h e o r i e ( „ c a p t u r e t h e o r y " ) u m den dass R e g u l i e r u n g in der W i r k l i c h k e i t den Interessen der regulierten

Nachweis, Industrie

dient, die sich d a m i t z . B . gegen u n e r w ü n s c h t e N e w c o m e r a b s c h i r m e n

kann.6

S t a a t l i c h e R e g u l i e r u n g k a n n sich, so g e s e h e n , als ineffizient o d e r k o n t r a p r o d u k t i v e r w e i s e n . 7 Beide T h e o r i e n sind und w a r e n r e c h t s p o l i t i s c h u n g e m e i n f r u c h t b a r , weil sie vermeintlich s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e s o d e r u n v e r m e i d l i c h e s s t a a t l i c h e s E i n greifen in das M a r k t g e s c h e h e n unter R e c h t f e r t i g u n g s z w a n g stellten und zugleich zum N a c h d e n k e n über A l t e r n a t i v e n z w a n g e n . H i s t o r i s c h lösten sie eine D e r e g u l i e rungswelle aus, die ihren H ö h e p u n k t in E u r o p a in den a c h t z i g e r u n d neunziger J a h r e n erlebte und z u m A u f b r e c h e n z a h l r e i c h e r „ n a t ü r l i c h e r " M o n o p o l e f ü h r t e . 8 I n s g e s a m t b r a c h t e die sog. D e r e g u l i e r u n g (besser: L i b e r a l i s i e r u n g ) k e i n e n vollständigen R ü c k z u g des S t a a t e s , s o n d e r n v e r ä n d e r t e das G e s i c h t der R e g u l i e r u n g . 9 Im B e r e i c h der „ n a t ü r l i c h e n " M o n o p o l e findet sie ü b e r w i e g e n d n i c h t m e h r in F o r m der E i g e n v o r n a h m e statt, s o n d e r n reduziert sich a u f s t a a t l i c h e R e g e l s e t z u n g Theory of Economic Regulation, Bell J. Kcon. & Mgmt. Sei. 2 ( 1 9 7 1 ) , 3ff.; R. Posner, Taxation by Regulation, Bei! J . Kcon. Sc Mgmt. Sei. 2 ( 1 9 7 1 ) , 2 2 ; ders., Natural Monopoly and its Regulation, Stan.I.R. 81 ( 1 9 6 9 ) , 5 4 8 ; ders., Theories of Economic Regulation, Bell J. Econ. & Mgmt. Sei. 5 ( 1 9 7 4 ) , 3 3 5 . 4 Vgl. /. Schmidt, Wettbewerbstheorie, S. 35ff.; Samuelson/Nordhaus, Economics, ch. 18 (S. 322ff.); guter Überblick bei Möschel, J Z 1 9 8 8 , 8 8 5 , 8 9 0 f f . Siehe im Übrigen schon Euchen, Wirtschaftspolitik, S. 291 ff. 5 Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die Regulierung sog. natürlicher Monopole, d.h. Bereichen, in denen aus technischen, ökonomischen oder sonstigen Gründen eine staatliche oder staatlich geschützte Alleinanbieterstellung für wünschenswert oder unvermeidbar gehalten wurde. Darunter fallen insbesondere solche Leistungen, die in Deutschland als „Daseinsvorsorge" rubriziert werden, namentlich Strom,- Gas-, Wasserversorgung, Schienenverkehr, Post und Telekommunikation. 6 Die „capture-theory" wurde ursprünglich in der Politikwissenschaft entwickelt und von dort in die politische Ökonomie übernommen, s. dazu Bardach, Social Regulation, S. 1 9 7 , 2 1 2 f f . Auch hierzu im Ansatz schon Eucken, Wirtschaftspolitik, S . 2 9 2 . 7 Vgl. etwa Peltzman, Toward a More General Theory of Regulation, 19 J . Law & Econ. 211 (1976); Gary S. Becker, A Theory of Competition amongst Pressure Groups for Political Influence, 98 Q . J . Econ. 371 ( 1 9 8 3 ) . * Zu den Hintergründen Möschel, J Z 1 9 8 8 , 8 8 5 f f . 9 Vgl. dazu den Bericht der sog. Deregulierungskommission ( 1 9 9 1 ) , Zif. 1.37: „Deregulierung meint nicht einfach den Abbau von Rechtsnormen. Sie meint jede wohlbegründete Veränderung der Spielregeln, die der wirtschaftlichen Ereiheit dient. Aber es gibt selbstverständlich keine Begründung für Deregulierung aus Prinzip."; dazu Kittner, Gesamtsystem Schuldrecht, R n . 7 7 2 f f .

50

$ .3 Der staatswissenschaftliche

Rahmen

und Aufsicht. Allgemein gesprochen lautet die Frage nicht mehr: „Staat oder M a r k t ? " , sondern konzentriert sich auf das sektorspezifische Herausfinden angemessener Regulierungsinstrumente. 10 2. Recht als „Produkt":

Kritik des staatlichen

Normsetzungsmonopols

Damit - und das ist für uns interessant - stellt sich die Privatisierungsfrage gleichsam auf der Metaebene neu. Die Frage lautet nicht nur, ob die Erbringung bestimmter Leistungen (z.B. Wasserversorgung) dem Markt überlassen werden kann, sondern auch, ob dies gleichermaßen für die Reglementierung des Marktes gilt. Sie ist keineswegs auf privatisierte oder deregulierte Industrien beschränkt, sondern stellt sich ganz allgemein für jede Form staatlicher Regelsetzung. Ausgangspunkt dahingehender Überlegungen ist die Vorstellung, rechtliche Normen als „Produkt" anzusehen, bei dem sich, wie bei jedem anderen Produkt auch, die Frage stellt, warum seine Herstellung nicht dem Markt überlassen bleiben k a n n . " Im Sinne der normativen Regulierungstheorie bedeutet dies ein Infragestellen des „natürlichen" Rechtsetzungsmonopols des Staates, wie es namentlich in der stark ökonomisch geprägten angelsächsischen Gesellschafts- und Kapitalmarktrechtsliteratur geschieht. a. Zwingendes

Recht und das Postulat

der

Vertragsfreiheit

Objekt der ökonomisch motivierten Kritik staatlicher Regelproduktion sind vor allem die Regeln des zwingenden Rechts. Die dagegen gerichteten Angriffe werden in zwei Varianten vorgetragen. In ihrer „ w e i c h c n " Form begnügt sich die Kritik mit der Forderung nach freier Rechtswahl (Parteiautonomie), belässt dem Staat also sein nationales Monopol zur Aufstellung zwingender Regeln, verlangt aber einen Wettbewerb der Rechtsordnungen, ökonomisch gesprochen: „Systemwettbewerb". 1 2 Der dadurch ausgelöste Innovations- und Anpassungsdruck soll zur Herausbildung möglichst „kundengerechter" Rechtssätze führen. Ob dies gelingen kann, ist umstritten, weil Systemwettbewerb von anspruchsvollen Voraussetzungen abhängt, die von Land zu Land unterschiedlich vorhanden s i n d , " weil Recht

10 Bardach, Social Regulation, S . 2 1 8 f f . ; Möschei, J Z 1988, 8 8 5 , 8 9 2 f . ; ders., Wettbewerbspolitik, S . 6 1 , 75; Roßkopf, Selbstregulierung, S . 3 4 ; Sunstem, FS Habermas, S . 6 7 8 , 6 8 1 . 11 Vgl. Romano, Law as a Produci, 1 J . L . F x o n - & Org. 2 2 5 ( 1 9 8 5 ) . Siehe auch Kirchner, Interaktionsregeln, S. 127, 173 (Markt für private Rechtsprodukte); Mertens/Kirchner/Schanze, Wirtschaftsrecht, S. 1 3 4 f . (Rechtsetzung als Dienstleistung); Schnppert, Staatswissenschaft, S. 906ff. (zu den „Normunternehmen" auf transnationaler Ebene); ferner Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt, insbes. S. 145ff., S . 2 8 7 f f . ; Haas/Adolphsen, N J W 1 9 9 5 , 2 1 4 6 , 2 1 4 7 : Sport als „Produkt" der regelaufstellenden Verbände (dazu noch unten, § 7 A.H.3., S. 2 3 6 ) . Wie der Markt für soziale Normen funktioniert beschreibt F.ngert, Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , 3 1 , 36ff. 12 Statt vieler Kerher in: Grundmann, Systemlücken im Europäischen Privatrecht, S . 6 7 f f . m. w.N. " Merkt, RabelsZ 5 9 ( 1 9 9 5 ) , 5 4 5 , 5 5 4 f f .

A. Selbstregulierung

als ökonomisches

Problem

51

sich s c h w e r e r „ b e p r e i s e n " lässt als a n d e r e P r o d u k t e , 1 4 v o r a l l e m a b e r a u c h , weil es v o m K r e i s der e i n z u b e z i e h e n d e n Interessen a b h ä n g t , i n w i e w e i t eine R e g e l u n g als „besser" oder „schlechter" anzusehen ist.15 E m p i r i s c h lässt sich die D u r c h s e t z u n g b e s t i m m t e r S t a n d a r d s bei R e c h t s w a h l freiheit v o r allem im K a p i t a l m a r k t r e c h t n a c h w e i s e n , 1 6 d o c h liegen die U r s a c h e n dieser K o n v e r g e n z e h e r in der w i r t s c h a f t l i c h e n D o m i n a n z des a m e r i k a n i s c h e n M a r k t e s als in der s a c h l i c h e n „strengen"

„ R i c h t i g k e i t " seiner R e g e l n b e g r ü n d e t . In der

Variante werden zwingende staatliche Regeln insgesamt angegriffen,

weil sie n a c h A n s i c h t ihrer V e r t r e t e r die E n t s t e h u n g effizienter R e g e l u n g s m u s t e r prinzipiell h i n d e r n . Ein K e r n b e s t a n d z w i n g e n d e r V o r s c h r i f t e n , wie er für j e d w e den M a r k t k o n s t i t u t i v ist ( p a c t a sunt s e r v a n d a , n e m i n e m laedere), wird d a n a c h z w a r n i c h t in A b r e d e gestellt; d a m i t soll es d a n n a b e r g r u n d s ä t z l i c h sein B e w e n d e n h a b e n . 1 7 I m E r g e b n i s geht es der „ s t r e n g e n " , C h i c a g o - S c h o o l - o r i e n t i e r t e n T h e s e um m e h r individuelle V e r t r a g s f r e i h e i t , n a m e n t l i c h in den durch viele z w i n g e n d e R e c h t s n o r m e n d o m i n i e r t e n G e b i e t e n des G e s e l l s c h a f t s - , A r b e i t s - und K a p i t a l marktrechts. B e t r a c h t e n wir die F o r d e r u n g n a c h A b b a u z w i n g e n d e r R e c h t s n o r m e n aus dem B l i c k w i n k e l der n o r m a t i v e n R e g u l i e r u n g s t h e o r i e , so m u s s sie sich in erster L i n i e d a r a n messen lassen, o b G r ü n d e des M a r k t v e r s a g e n s ( I n f o r m a t i o n s a s y m m e t r i e n , e x t e r n e E f f e k t e , Verlust von S k a l e n e r t r ä g e n e t c . ) s t a a t l i c h e s H a n d e l n (hier in F o r m z w i n g e n d e r G e s e t z e ) unerlässlich m a c h e n . D i e A n t w o r t a u f diese F r a g e ist n a h e z u a u s n a h m s l o s von unsicheren e m p i r i s c h e n P r ä m i s s e n a b h ä n g i g , d a h e r nur von Fall zu Fall zu g e b e n und in p r a k t i s c h j e d e m der bislang d e b a t t i e r t e n Fälle heftig umstritten g e b l i e b e n . 1 8 W i c h t i g e r als diese, im R a h m e n dieser A r b e i t n i c h t zu vertiefende F r a g e ist der g e d a n k l i c h e A u s g a n g s p u n k t , R e c h t s n o r m e n als „ P r o d u k t " zu b e t r a c h t e n . W i e die private P r o d u k t i o n t e c h n i s c h e r N o r m e n , a b e r a u c h der entgeltliche V e r t r i e b von M u s t e r f o r m u l a r e n zeigen, ist diese V o r s t e l l u n g allenfalls a u f den ersten Blick b e f r e m d l i c h . M i t ihr v e r b i n d e t sich die A b l ö s u n g der ü b e r k o m m e nen S i c h t w e i s e , R e c h t s e t z u n g g l e i c h s a m per se als s t a a t l i c h e A u f g a b e zu b e t r a c h ten. W e n n a u c h der B e g r i f f „ R e c h t " aus b e s t i m m t e n G r ü n d e n für N o r m e n staatlic h e n U r s p r u n g s reserviert bleiben s o l l t e , 1 9 k a n n von e i n e m „ n a t ü r l i c h e n " N o r m 14 Schanze, Institutionen, S . 9 5 , 102. " Beispiel: Ein mitbestimmungsfreies Gesellschaftsstatut mag aus Sicht der Manager „besser" sein als ein durch Mitbestimmung geprägtes. Bezieht man die Interessen der Beschäftigten ein, mag es umgekehrt liegen. Grundsätzlich zum Problem der zu berücksichtigenden (Dritt-)Interessen Eidenmüller, Effizienz, S. 144ff. 16 Zur Konvergenz des Rechts im Kapitalmarktbereich Coffee, Nw. U . L . R . 93, S . 6 4 1 , 6 7 9 f f . ( 1 9 9 9 ) ; Bebchuk/Roe, Stan.E.R. 52, S. I 2 7 f f . ( 1 9 9 9 ) ; Bratton/McCaheny, Col. J. Trans. L. 38, S . 2 1 3 , 2 5 8 f f . (1999). Die Rechtswahlfreiheit besteht hier darin, dass es Emittenten freisteht, wo sie sich notieren lassen, und dass Anleger frei sind in der Wahl, wo sie ihre Wertpapiere erwerben.

Prononciert Epstein, Simple rules for a complex world, S. 5 3 f f . Exemplarisch der Streit um die Erforderlichkeit zwingender Offenlegungspflichten im Kapitalmarktrecht, dazu aufschlussreich die Auseinandersetzung zwischen Romano, 107 Yale L.J. 2 3 5 9 f f . ( 1 9 9 8 ) und box, 85 Virginia L R . 1 3 3 7 f f . ( 1 9 9 9 ) . 17 18

"

Oben, § 1 B.II. 1. (S. 21).

52

§3 Der staatswissenschaftliche

Rahmen

s e t z u n g s m o n o p o l des S t a a t e s aus ö k o n o m i s c h e r S i c h t j e d e n f a l l s keine R e d e sein. O b es g l e i c h w o h l G r ü n d e g i b t , p r i v a t e r R e g e l s e t z u n g ö k o n o m i s c h

begründete

S c h r a n k e n zu setzen, bleibt n o c h zu sehen (unten 3 . ) .

b. Dispositives

Recht als öffentliches

Gut

D i e v o r s t e h e n d e n Ü b e r l e g u n g e n b e z o g e n sich a u f z w i n g e n d e s R e c h t . S o w e i t es dagegen u m dispositive R e c h t s s ä t z e g e h t , n i m m t der S t a a t kein N o r m s e t z u n g s m o n o pol in A n s p r u c h , denn a l t e r n a t i v e R e g e l u n g s m u s t e r k a n n g r u n d s ä t z l i c h

jeder-

m a n n a u f s t e l l e n . 2 0 D e n n o c h r i c h t e t die P r o d u k t s i c h t a u c h hier den Blick a u f die F r a g e , o b R e c h t ü b e r h a u p t v o m S t a a t „ h e r g e s t e l l t " w e r d e n m u s s . Die A n t w o r t liefert die T h e o r i e ö f f e n t l i c h e r G ü t e r . 2 1 D a r u n t e r versteht die W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t s o l c h e G ü t e r , die v o n beliebig vielen P e r s o n e n gleichzeitig genutzt w e r d e n k ö n n e n und v o n deren B e n u t z u n g a u s p r a k t i s c h e n G r ü n d e n n i e m a n d a u s g e s c h l o s sen w e r d e n k a n n ( S t a n d a r d b e i s p i e l e : s a u b e r e L u f t , ä u ß e r e S i c h e r h e i t e t c . ) . 2 2 D i e ö k o n o m i s c h e F o l g e r u n g aus diesen E i g e n s c h a f t e n ist die, dass sich ö f f e n t l i c h e G ü ter n i c h t entgeltlich v e r m a r k t e n lassen, w o m i t der A n r e i z für private A k t e u r e e n t fällt, sie herzustellen. D a a b e r alle ein Interesse an i h r e m V o r h a n d e n s e i n h a b e n , muss n a c h t r a d i t i o n e l l e r S i c h t der S t a a t in die B r e s c h e springen. W i e das Beispiel der s a u b e r e n L u f t und die n e u e r e U m w e l t ö k o n o m i k zeigen, k a n n und muss der S t a a t sich allerdings n i c h t d a r a u f b e s c h r ä n k e n , das b e t r e f f e n d e G u t selbst herzustellen, s o n d e r n wird v e r s u c h e n , d u r c h e n t s p r e c h e n d e R e g u l i e r u n g s s t r a t e g i e n A n reize für private A k t e u r e zu s c h a f f e n , das G u t d o c h zu p r o d u z i e r e n . Bezogen a u f das G u t „ N o r m e n " k ö n n e n diese A n r e i z e darin b e s t e h e n , d a s s der S t a a t privaten R e g e l n U r h e b e r s c h u t z verleiht o d e r dass er R e c h t s i n s t i t u t e bereitstellt, w e l c h e die R e g e l u n g s l ü c k e n zu s c h l i e ß e n helfen. D e n d a m i t v e r b u n d e n e n Fragen werden wir im Verlaufe der A r b e i t n o c h w e i t e r n a c h g e h e n . 2 '

3. Private Regelsetzung

und

Wettbewerbstheorie

D a s P o s t u l a t der V e r t r a g s f r e i h e i t ist in erster Linie d a r a u f g e r i c h t e t , privaten A k teuren in der A u s g e s t a l t u n g ihrer v e r t r a g l i c h e n B e z i e h u n g e n m e h r H a n d l u n g s s p i e l r a u m zu s i c h e r n . W e r gegen ein s t a a t l i c h e s N o r m s e t z u n g s m o n o p o l zu Felde zieht, d a r f sich a b e r a u f diese S i c h t w e i s e n i c h t b e s c h r ä n k e n , s o n d e r n muss a u c h dazu Stellung n e h m e n , o b es Privaten g e s t a t t e t o d e r gar e r m ö g l i c h t werden sollte,

2 0 Das gilt nicht, soweit dispositive Normen im Rahmen der AGB-Kontrolle den Maßstab für die Billigkeitskontrolle abgehen (vgl. § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Man spricht hier von „halbzwingendem" Recht (s. Larenz/Wolf, BGB AT, § 3 4 Rn.43). 21 Vgl. Steinmark, Dynamische Gesetzgebungstheorie und Neue Politische Ökonomie, S.69; Roschmann, Recht, Gerechtigkeit und ökonomisches Handlungsmodell, S.69; Posner/Rasmusen, Creating and enforcing norms, S.3, 22, 26. 2 2 Statt aller Baumol/Blinder, Economics, S.543f. 2 1 Zum Urheberschutz unten, § 9 C.I.3.C. {S. 318ff.); zur staatlichen Unterstützung privater Regelsetzung s. § 8 A. (S.259ff.) u. § 11 B. (S.380ff.).

A. Selbstregulierung

als ökonomisches

Problem

53

die dadurch entstehende Lücke nicht nur durch individuelle Verträge, sondern durch Aufstellung abstrakt-genereller Regeln („Normen") zu füllen. Die ökonomische Problematik verschiebt sich damit erheblich. Wird, um ein Beispiel zu bilden, der zwingende staatliche Kündigungsschutz für Arbeitnehmer aufgehoben, so mag das wohlfahrtsfördernd wirken, weil es den Parteien erlaubt, den Kündigungsschutz nach individuellen Präferenzen zu gestalten, und weil es die Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber fördert. 2 4 Vereinbaren jedoch Verbände von Arbeitgebern und/oder Arbeitnehmern eine Norm, die einen entsprechenden Mindestkündigungsschutz garantiert, fällt dieser Wohlfahrtsgewinn jedenfalls dann wieder fort, wenn praktisch alle Beteiligten rechtlich oder tatsächlich an die Norm gebunden sind. Darin offenbart sich die Ambivalenz privater Regelsetzung, die in einer unterschiedlichen wettbewerbspolitischen Bewertung ihren Ausdruck findet. a. Die ordoliberale

Sicht: Gegen ein „selbstgeschaffenes

Recht der

Wirtschaft"

Prinzipiell ablehnend steht der privaten Normsetzung die ordoliberale Wettbewerbstheorie gegenüber.2"1 Sie fußt auf der historisch untermauerten Erfahrung, dass private Normsetzer (Zünfte, Kartelle, Verbände) in aller Regel Zwecke verfolgen, die sich zu ihren Gunsten, nicht aber allgemein wohlfahrtsfördernd auswirken. Auch wenn sich mit dem vertragsrechtlichen Instrumentarium eine normative Bindung von „Außenseitern" nicht erreichen lässt, können Regeln, zu deren Einhaltung sich entsprechend starke Marktakteure untereinander verpflichten, zu einer Marktabschottung durch Errichtung von Eintrittsbarrieren führen. Folgerichtig steht die ordoliberale Sicht nicht nur klassischen Kartellen, sondern jeder Form von „selbstgeschaffenem Recht der Wirtschaft" skeptisch gegenüber. Bereits im ersten Kapitel der Arbeit hatten wir darauf hingewiesen, dass diese Ansicht eine ernst zu nehmende Sorge artikuliert, die durch Einsichten der positiven Regulierungstheorie verstärkt wird, in der öffentlich-rechtlichen Diskussion um Selbstregulierung dagegen tendenziell untergewichtet bleibt. 26 Problematisch ist sie allein deshalb, weil sie eine staatliche Regulierungskapazität voraussetzt, die in dieser Form illusorisch ist: Gäbe es private Normsetzung nicht, müsste die Gesetzgebungskapazität des Staates in einem weder politisch noch finanziell realisierbaren Umfang erweitert werden. 27 Ferner übersieht sie, 2 4 Das ist natürlich umstritten. Das Gegenargument lautet, dass fehlender zwingender Kündigungsschutz die Beteiligten zu kurzsichtigen Handlungen verleitet, die auf lange Sicht gesehen und gesamtwirtschaftlich betrachtet zu Wohlfahrtsverlusten führen (vgl. Kittner, AuR 1 9 9 5 , 3 8 5 , 388).

Siehe dazu bereits oben, § 1 A.II.2. (S. 10). Exemplarisch Engel, Private Governance, S . 3 0 ; ferner Scbmidt-Preuß in: Säcker, Reform des Knergierechts, S. 4 5 , 51 f., 5 4 f . , der die staatliche Marktöffnung gegenüber marktabschottenden Verbändevereinbarungen als „Dirigismus" (fehl-)etikettiert. 2i

lh

Mertens/Kirchner/Schanze, Wirtschaftsrecht, S. 134. Siehe auch Brennecke, Normsetzung durch private Verbände, S. 117: „Das hierarchische Modell der staatlichen Normsetzung in .reiner Form' ist eine Fiktion. Der S t a a t . . . ist auf nicht-staatliche Akteure angewiesen."; Brandmair,

54

Der staatswissenschaftliche

Rahmen

dass p r i v a t e R e g e l s e t z u n g a u c h E f f i z i e n z g e w i n n e b r i n g e n k a n n , e t w a durch h ö h e re F l e x i b i l i t ä t und g r ö ß e r e S a c h n ä h e der N o r m s e t z e r . W i e die W e t t b e w e r b s p o l i t i k heute i n s g e s a m t dazu ü b e r g e g a n g e n ist, sich v o n der F e s t l e g u n g a u f ein b e s t i m m tes w e t t b e w e r b s t h e o r e t i s c h e s K o n z e p t z u g u n s t e n f a l l g r u p p e n b e z o g e n e r A n a l y s e n zu v e r a b s c h i e d e n , 2 8 so sind a u c h in der ö k o n o m i s c h e n D i s k u s s i o n der Selbstregulierung p r a g m a t i s c h e B e t r a c h t u n g e n v o r h e r r s c h e n d g e w o r d e n . D i e dabei n o t i e r ten Vor- und N a c h t e i l e der S e l b s t r e g u l i e r u n g sollen k u r z b e t r a c h t e t w e r d e n .

b. Die pragmatische

Sicht: Vor- und Nachteile

von

Selbstregulierung

Ü b e r den U m s t a n d , dass S e l b s t r e g u l i e r u n g Vor- und N a c h t e i l e bietet, h e r r s c h t heute kein Streit. Einig ist m a n sich a u c h ü b e r die einzelnen P u n k t e , die dabei ins G e w i c h t f a l l e n . 2 9 Als Vorteile

der S e l b s t r e g u l i e r u n g w e r d e n r e g e l m ä ß i g g e n a n n t : (1)

D i e F l e x i b i l i t ä t der R e g e l s e t z u n g , die im G e g e n s a t z z u m s c h w e r f ä l l i g e r e n staatlic h e n G e s e t z g e b u n g s v e r f a h r e n s c h n e l l e r e A n p a s s u n g e n an sich w e c h s e l n d e R a h m e n d a t e n e r l a u b t ; (2) die S a c h n ä h e der Regelsetzer, die mit der zu regelnden M a t e rie im t ä g l i c h e n U m g a n g v e r t r a u t sind; (3) eine e r h ö h t e A k z e p t a n z bei den B e t r o f f e n e n , da diese selbst in den R e g u l i e r u n g s p r o z e s s m i t e i n g e b u n d e n w e r d e n ; (4) die aus den v o r g e n a n n t e n P u n k t e n sich e r g e b e n d e K o s t e n e r s p a r n i s , die u . a . aus verringerten R e i b u n g s v e r l u s t e n bei A n p a s s u n g und D u r c h s e t z u n g der R e g e l w e r k e resultiert. D e n V o r t e i l e n stehen f o l g e n d e Nachteile t e r h a l b dessen liegen, w a s ö k o n o m i s c h

g e g e n ü b e r : (1) S t a n d a r d s , die un-

w ü n s c h e n s w e r t w ä r e ; (2)

mangelnde

D u r c h s e t z b a r k e i t und f e h l e n d e r R e c h t s s c h u t z ; (3) A b s c h o t t u n g des M a r k t e s gegen N e w c o m e r d u r c h k a r t e l l i e r e n d e A b s p r a c h e n ; (4) T r i t t b r e t t f a h r e r e f f e k t e d u r c h A k t e u r e , die die A b w e s e n h e i t s t a a t l i c h e r R e g u l i e r u n g a u s n u t z e n , o h n e sich der privaten S e l b s t r e g u l i e r u n g a n z u s c h l i e ß e n . E i n e a b s t r a k t e A b w ä g u n g dieser Vor- und N a c h t e i l e ist n i c h t m ö g l i c h . Selbst a u f k o n k r e t e r E b e n e dürfte es i m m e r n o c h s c h w e r fallen, sie in ein m e s s b a r e s V e r h ä l t nis zu b r i n g e n . E m p i r i s c h e U n t e r s u c h u n g e n , s o w e i t sie v o r l i e g e n , gelangen bisweilen zu d e m E r g e b n i s , dass s e l b s t r e g u l a t i v e M e c h a n i s m e n „ f u n k t i o n i e r e n " , d . h . gewisse W o h l f a h r t s g e w i n n e p r o d u z i e r e n . ' 0 D i e e n t s c h e i d e n d e H ü r d e zu eindeutigen A u s s a g e n b e s t e h t a b e r d a r i n , d a s s sich k a u m j e m a l s sagen lässt, w e l c h e W o h l f a h r t s g e w i n n e ein a l t e r n a t i v e s s t a a t l i c h e s R e g i m e h e r v o r b r i n g t oder h e r v o r g e -

Freiwillige Selbstkontrolle, S.276: „Wollten sich der Staat und seine Institutionen mit allen Missständen und Fehlgriffen [...] befassen, könnten durchschlagende Erfolge nur mit einem unverhältnismäßigen Aufwand an personellen und sachlichen Mitteln erreicht werden, die schließlich zu Lasten der Allgemeinheit gingen". 2 8 Vgl. I. Schmidt, Wettbewerbspolitik, S. 18f.; Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn. 69f., 82. 2 9 Vgl. zum Folgenden etwa Roßkopf., Selbstregulierung, S. 4 2 - 5 1 ; Hopt, Self-Regulation, S. 74ff.; Cheffins, Company Law, S.364ff.; E. v. Hippel, Rechtspolitik, S.89ff.; Augsberg, Rechtsetzung, S.51 ff. , 0 Vgl. Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen, S. 330ff„ 373ff.; Wagner/Häffner, Ökonomische Würdigung des umweltrechtlichen Instrumentariums, S.83, 116f.

A. Selbstregulierung

als ökonomisches

Problem

55

b r a c h t h ä t t e . " Dies gilt n a m e n t l i c h d o r t , w o S e l b s t r e g u l i e r u n g - wie es r e g e l m ä ß i g der Fall ist - k e i n e bereits v o r h a n d e n e h o h e i t l i c h e R e g u l i e r u n g ersetzt, s o n d e r n deren E i n f ü h r u n g vermeiden s o l l . ' 2 U n d a u c h d o r t , w o a l t e r n a t i v e R e g i m e s verg l e i c h b a r e D a t e n liefern, bleibt das ö k o n o m i s c h u n g e l ö s t e P r o b l e m des N u t z e n v e r g l e i c h s , das durch die F r a g e , w e l c h e wie zu g e w i c h t e n d e n e x t e r n e n E f f e k t e ( D r i t t i n t e r e s s e n ) in die R e c h n u n g einfließen s o l l t e n , e r s c h w e r t w i r d . 3 3 V o r diesem H i n t e r g r u n d k o m m t es d a r a u f a n , durch i n s t i t u t i o n e l l e V o r k e h r u n g e n den e r k a n n ten N a c h t e i l e n der S e l b s t r e g u l i e r u n g n a c h M ö g l i c h k e i t zu b e g e g n e n , o h n e ihre Vorteile p r e i s z u g e b e n . D i e s e s V o r g e h e n wird heute u n t e r dem S t i c h w o r t der „regulierten S e l b s t r e g u l i e r u n g " d i s k u t i e r t . 3 4 M i t ihr ist der B e r e i c h der q u a n t i f i z i e r e n den Ö k o n o m i e zugunsten einer p o l i t i s c h e n S i c h t w e i s e verlassen.

II. P r i v a t e R e g e l s e t z u n g u n d P o l i t i s c h e Ö k o n o m i e P o l i t i s c h e Ö k o n o m i e im engeren Sinne der V e r f a s s u n g s ö k o n o m i k a n a l y s i e r t das H a n d e l n s t a a t l i c h e r A k t e u r e ( W ä h l e r , P a r t e i e n ) unter Z u h i l f e n a h m e scher

Instrumente.

Im

weiteren

Sinne einer m o d e r n e n

ökonomi-

Wohlfahrtsökonomik

n i m m t sie Fälle des M a r k t v e r s a g e n s ins Visier und u n t e r s u c h t W e g e zu ihrer Ü b e r w i n d u n g . D a m i t e r w e i s t sie sich für die J u r i s p r u d e n z als b e s o n d e r s geeigneter Partner.

/. Komparative

Institutionenanalyse

D i e F r u c h t b a r k e i t des p o l i t i s c h - ö k o n o m i s c h e n A n s a t z e s in u n s e r e m K o n t e x t liegt d a r i n , dass er a u f s t a r r e S c h e i d u n g e n n a c h dem M u s t e r S t a a t - M a r k t z u g u n s t e n einer k o m p a r a t i v e n I n s t i t u t i o n e n a n a l y s e v e r z i c h t e t . 3 5 D a m i t v e r b i n d e t sich zun ä c h s t eine kritische S i c h t des S t a a t e s ( „ p u b l i c - c h o i c e - A n s a t z " ) , der n i c h t m e h r als m o n o l i t h i s c h e r G a r a n t des G e m e i n w o h l s e r s c h e i n t , s o n d e r n n a c h dem G r u n d s a t z des m e t h o d o l o g i s c h e n I n d i v i d u a l i s m u s als F u n k t i o n des

eigennutzorientierten

H a n d e l n s individueller A k t e u r e interpretiert w i r d . 3 6 Im U n t e r s c h i e d zu r a d i k a l e n V e r t r e t e r n der l a w - a n d - e c o n o m i c s - S c h u l e führt diese K r i t i k die T h e o r e t i k e r der P o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e n i c h t zu einer w e i t g e h e n d e n A b s a g e an den S t a a t , s o n d e r n zu der E i n s i c h t , dass M a r k t wie S t a a t f u n k t i o n s a d ä q u a t e r S t r u k t u r e n b e d ü r f e n ,

" Bardach, Social Regulation, S.218f. 52 S. dazu noch unten, D.II. (S. 84). Zum fehlenden Vergleichsmaßstab Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen, S.323f. " Dazu Eidenmütter, Effizienz, S. 144 ff. , 4 Vgl. vorerst nur Hopt, Self-Regulation, S.78. Näher unten, B.II. (S.72). Vgl. Albert, Freiheit, S.31; Behrens, Grundlagen, S.26f. Richtungweisend u.a. Baumol, Welfare Economics and the Theory of the State (1952), insbes. S. 180ff.; Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie (1968); Buchanan/Tullock, The calculus of consent (1962), insbes. S. 11 ff.; letztere mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Wicksell, Finanztheoretische Untersuchungen (1896), (ebd., S.8, 83), s. dazu auch Olson, Logic, S. 89f. und Buchanan, Freiheit, S.55.

56

Der staatswissenschafthche

Rahmen

um die ihnen zugedachten Aufgaben wirksam erfüllen zu können. Diese Einsicht sperrt sich gleichermaßen gegen populäre Forderungen, den Staat zu privatisieren wie gegen solche, den Markt zu demokratisieren. Stattdessen wird der Blick darauf gerichtet, dass bestimmte Entscheidungs- und Legitimationsmuster im einen wie im anderen Kontext Verwendung finden können, sofern die Zuordnung von Regelungsaufgaben nicht kategorisch, sondern problemorientiert erfolgt. Unterstützung erfährt dieser Ansatz in jüngerer Zeit durch die Neue Institutionenökonomik, als deren Teil die Politische Ökonomie betrachtet werden kann. Sie beschäftigt sich u.a. mit der Entwicklung von Governance-Strukturen für komplexe Langzeitverträge und gelangt dabei zu der Einsicht, dass hierarchische Strukturen als Alternative zum marktmäßigen Tausch auch in privat organisierten Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. 37 Ihre Bedeutung erfahren sie dadurch, dass sie die Kosten der Marktbenutzung vermeiden, ohne in entsprechendem Umfang kompensierende Kosten staatlicher Regulierung zu produzieren. Dahinter steht letztlich die Erkenntnis, dass die Untauglichkeit marktmäßiger Strukturen zwar hierarchisches, nicht notwendig aber staatliches Handeln erfordert. Die Gegenüberstellung M a r k t - Staat ist also auch insofern ungenau, als das Handeln kollektiver Akteure (Staat, Unternehmen, Verbände) stets sowohl von marktmäßigen als auch von hierarchischen Strukturen bestimmt wird. In beiden Fällen geht es darum, durch institutionelle Vorkehrungen die Legitimität der jeweils erzeugten Regeln sicherzustellen.

2. Legitime

Herrschaft

und

Ausheutungsschutz

Mit der Legitimitätsfrage schlägt die politische Ökonomie eine Brücke zur Staatslehre. Im Unterschied zu dieser betrachtet sie staatliche Herrschaft nicht als mehr oder weniger vorgegeben, sondern als Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, der vor allem in der Bewältigung des Externalitätenproblems gesehen wird.' 8 Dieses besteht entweder darin, dass jemand durch Gebrauch seiner Freiheit Lasten schafft, die andere tragen müssen („negativer externer Effekt"), oder, umgekehrt, dass jemand Leistungen erbringt, an denen Dritte ohne eigenen Beitrag partizipieren („positiver externer Effekt").' 9 Im ersten Fall besteht die Herausforderung darin, durch geeignete institutionelle Vorkehrungen den Effekt zu internalisieren, im zweiten gilt es, die aus dem „Freifahren" Dritter resultierenden Anreizprobleme zu überwinden („Kollektivhandlungsproblem"). Kollektiver Zwang in Gestalt staatlicher Herrschaft ist geeignet, diese Herausforderungen zu bewältigen, doch vermag private Ordnung - alleine oder mit Hilfe des Staates unter Umständen ein ähnliches oder besseres Ergebnis zu erzielen.

' ' Grundlegend Coase, The Nature of the Firm, I 9 3 7 ; Williamson, The economic institutions of capitalism, 1 9 8 5 . ' 8 Vgl. vorerst nur Kirsch, Neue Politische Ökonomie, S. 19ff. Economics, ch. 2 7 {S. 536ff.). " Anschauliche Darstellung bei Baumol/Blinder,

A. Selbstregulierung

als ökonomisches

Problem

57

Legitimationsprobleme werden in beiden Fällen deshalb aufgeworfen, weil Herrschaft - gleich ob staatlichen oder privaten Ursprungs - ihrerseits Externalitäten produziert, indem sie die Betroffenen Regeln unterwirft, denen diese nicht aktuell zugestimmt haben. 4 0 Vermieden werden sie allein dann, wenn alle Regelbetroffenen mit den jeweiligen Regeln einverstanden sind - ein Zustand, der sich jenseits des schlichten Austauschvertrags kaum je erzielen lässt. Hinzu kommt ein Ausbeutungsproblem. Wird das Externalitätenproblem nicht gezügelt, können Individuen auf Kosten anderer agieren, diese also „ausbeuten". 4 1 Wird es durch Kontrollstrukturen gezügelt, eröffnen sich andere Ausbeutungsmöglichkeiten, weil die Kontrollierenden ihre Macht im eigenen oder im Interesse einer bestimmten Klientel missbrauchen können. Während die traditionelle politische Ökonomie diese wohl bekannten Gefahren im Kontext politischer Herrschaft erörtert, hat es sich die moderne Institutionenökonomik zum Anliegen gemacht, Wege zur Vermeidung derartiger Ausbeutungsstrategien innerhalb privat gestalteter Ordnungen, insbesondere bei langfristigen oder „relationalen" Verträgen, zu beschreiben. 4 2 Terminologisch geht es dabei um die Vermeidung „opportunistischen" Verhaltens, welches man - im Anschluss an Williamson - gemeinhin als „Verfolgung des Eigeninteresses unter Zuhilfenahme von List" definiert. 4 ' In der Sache handelt es sich, wie die von Williamson zur Veranschaulichung gewählten Extrembeispiele (Lügen, Stehlen, Betrügen) deutlich zeigen, um nichts anderes als klassische Ausbeutungsfälle: 44 Nicht das eigennützige Verhalten an sich (das im ökonomischen Modell akzeptiert, ja vorausgesetzt wird), sondern die treuwidrige Ubervorteilung des Kooperationspartners ist es, die missbilligt wird, weil sie transaktions- und damit wohlfahrtsförderndes Vertrauen im Einzelfall enttäuscht und damit langfristig untergräbt. 45 Damit schlägt die politische/institutionelle Ökonomik nicht nur die Brücke zur Ethik, sondern auch zum Recht. Neben das allgemeine Schädigungsverbot („neminem laedere") und die Bindung an das gegebene Wort („pacta sunt servanda") stellt dieses seit alters her das Gebot, nicht auf Kosten anderer an ge411 Grundlegend Buchanan/Tullock, The Calculus of Consent ( 1962); dazu unten, § 6 B.II.2.B. (S. 198f.). 4 1 Zur Klarstellung: „Ausbeutung" im ökonomischen Sprachgehrauch meint kein subjektiv verwerfliches Verhalten, sondern schlicht die Aneignung von Kooperationsgewinnen, die dem Aneignenden nicht zustehen. 4 2 Richtungweisend die Arbeiten von Oliver Williamson, s. dazu seine konsolidierenden Arbeiten „The Economic Institutions of Capitalism" ( 1985) und „The Mechanisms of Governance" (1996). 4 ! S. etwa Fleischer, Informationsasymmetrie, S. 183; Kirchgässner, Homo Oeconomicus, S . 4 8 ; Richter/Furubotn, Neue Institutionenökonomik, S . 3 3 4 . 4 4 In der - etwas verquasten - Sprache der Ökonomik: „Opportunistisches Verhalten der Vertragsparteien bezieht sich auf eine ex post Umverteilung der appropriierbaren Quasi-Rente (einen „hold-up") zum Nachteil der einen Seite der spezifischen Investition" ( R i c h t e r / F u r u b o t n , Neue Institutionenökonomik, S. 3 3 4 ) . 4 1 Vgl. Williamson, Institutionen, S . 3 4 f f . , 73ff. (u.ö.); zusammenfassende Darstellung bei Fleischer, Informationsasymmetrie, S. 144, 183, 2 7 8 f f .

J.J Der staatsivissenschaftliche Rahmen

58

meinsamen Früchten zu partizipieren („suum cuique t r i b u e r e " ) . 4 6 In verschiedenen Ausprägungen wird damit ein Ausbeutungsverbot oder, positiv gewendet, ein Gebot der Berücksichtigung gemeinsamer Belange zum Ausdruck gebracht. Eine Verknüpfung der ökonomischen Sicht der Dinge mit der rechtsethischen verspricht daher auch unter diesem Gesichtspunkt weiterführenden Ertrag. Im Verlaufe der Arbeit soll dieser näher zu Tage treten.

B. Selbstregulierung

als staatsrechtliches

Problem

Geht die ökonomische Theorie von der Rechtfertigungsbedürftigkeit staatlichen Handelns aus, so nimmt das (deutsche) Staatsrecht traditionell die umgekehrte Perspektive ein. Rechtfertigungsbedürftig erscheint danach grundsätzlich nicht das Tätigwerden, sondern das Untätigbleiben des Staates. Bedeutung entfaltet diese Sichtweise in erster Linie vor dem Hintergrund des Verfassungsrechts. Nur soweit dieses nicht eine bestimmte Form staatlicher Gestaltung vorschreibt, verbleibt überhaupt R a u m für private Ordnung. Angesprochen ist daneben die Verwaltungslehre, die vor der Aufgabe steht, die Rolle staatlichen Handelns gegenüber privaten Akteuren neu zu definieren.

I. V e r f a s s u n g s r e c h t

1. Staatsverantwortung

und gesellschaftliche

Selbstregulierung

Ausgehend von der traditionellen Scheidung von Staat und Gesellschaft wird dem Staat die Rolle zugewiesen, die in der Gesellschaft vorhandenen Interessen zu kanalisieren und dabei einen gerechten Ausgleich zwischen widerstreitenden Bedürfnissen herzustellen. 4 7 Dieses Selbstverständnis wird in Frage gestellt, wenn gesellschaftliche Gruppen die Regulierung ihrer Angelegenheiten in eigene Hände nehmen. 4 8 Dabei erweist sich Selbstregulierung als janusköpfiges Gebilde: Was „von o b e n " , also aus Sicht der staatlichen Organe, als freiheitliche, weil dezentrale Ordnung erscheint, kann „von u n t e n " - aus Sicht der Regulierungsbetroffenen - freiheitsbeschränkend wirken. Dieses Spannungsverhältnis prägt die staatsrechtliche Bewertung von Selbstregulierung.

a. Schutzpflicht

und staatliches

Regelungsermessen

Im Grundgesetz finden sich nur wenige Aufgaben, deren eigene Wahrnehmung die Verfassung dem Staat ausdrücklich zur Pflicht macht. Darüber hinausgehende Versuche, eine umfassende staatliche Regulierungsverantwortung aus den Kom-

46

D . 1 . 1 . 1 0 . Z u r sozialen B e d e u t u n g der G e b o t e

47

Maunz/Zippelius, D e u t s c h e s S t a a t s r e c h t , Di Fabio, V V D S t R I . 5 6 ( 1 9 9 7 ) , S. 2 3 5 f f .

48

§ 7 11

Mill,

Ü b e r die F r e i h e i t , S. 1 0 3 .

(S.51).

B. Selhstregulierung

als staatsrechtliches

Problem

59

petenztiteln des Grundgesetzes oder aus dem Sozialstaatsprinzip abzuleiten, 49 sind wenig überzeugend. Kompetenznormen bestimmen, was Bund und Länder im Verhältnis zueinander regeln dürfen, und das Sozialstaatsprinzip, zur Quelle von Staatsaufgaben aufgewertet, gerät zum „Sammelbecken für ansonsten nicht erwähnte öffentliche Belange und politische Wertungen". 5 0 Eine allgemeine staatliche Regulierungsverantwortung folgt demgegenüber aus der Schutzpflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern, die aus den Grundrechten, dem staatlichen Gewaltmonopol und der Staatsidee abgeleitet werden kann. 5 1 Konkrete Regelungsaufträge ergeben sich daraus jedoch in aller Regel nicht. Nach gefestigter Rechtsprechung des BVerfG verfügt der Staat über einen weiten Freiraum bei der Beantwortung der Frage, wie er im Einzelfall seiner Schutzpflicht nachzukommen gedenkt. 5 2 Auch das sog. Untermaßverbot, also das Gebot eines Mindestmaßes an staatlichem Schutz für grundrechtlich geschützte Lebensgüter, gebietet staatliche Regulierung in Form zwingender und sanktionsbewehrter Rechtsnormen nur ausnahmsweise und lässt dem Gesetzgeber damit vor allem im Bereich des Privatrechts weitgehend freie Hand. 5 3 Formuliert wurde es im zweiten Abtreibungsurteil, 54 also anhand einer Konstellation, in der private Selbstregulierung von vornherein wenig Erfolg verspricht, weil einer der Betroffenen - der nasciturus - weder handlungsfähig noch repräsentiert ist.v'> Derartige Konstellationen bilden den Ausnahmefall. Dennoch veranschaulicht der Abtreibungsfall das typische Spannungsverhältnis, das Art und Ausmaß der jeweils gebotenen Regulierung maßgeblich prägt: Auf der einen Seite stehen die Grundrechte der Regulierungsadressaten (hier: Mütter und Ärzte), die dafür ins Felde geführt werden können, dass der Staat bei der Regulierung Zurückhaltung übt und das Aufstellen etwa erforderlicher Regeln zunächst den zu regulierenden gesellschaftlichen Gruppen selbst überlässt. Dieser „Chance zur Selbstregulierung" 56 stehen die Grundrechte der Regulierungsbegünstigten (hier: der Ungeborenen) gegenüber, die verlangen können, dass die gewählte Regulierungsart effektiv genug ist, um ihre grundrechtlich geschützten PoVgl. dazu Stern, Staatsrecht III/2 S. 6 8 3 ff. Determann, Gefahrverdächtige Technologien, S. 183. ' Näher - auch zu den z.T. umstrittenen Einzelheiten - Isensee, HStR V, 5 111 R n . 3 f f . ; Dietletn, Schutzpflichten, insbes. S . 2 1 f f . , 52ff.; Klein, N J W 1 9 8 9 , 1 6 3 3 , 1635f.; kritisch Möllers, Staat als Argument, S . 2 0 7 f f . 49 50

5 2 Vgl. BVerfGE 3 9 , 1- Abtreibung I; BVerfGE 4 6 , 160 - Schleyer; BVerfGF. 4 9 , 89 - Kalkar; BVerfGE 5 3 , 3 0 - Mühlheim-Kärlich; BVerfGE 5 6 , 5 4 - Fluglärm; BVerfGE 6 1 , 82 - Whyl; BVerfGE 7 7 , 7 7 , 170 - C-Waffen; BVerfGE 79, 174 - Straßenlärm; BVerfGE 88, 2 0 3 -Abtreibung

II.

Canaris, Grundrechte, S . 8 3 ; Ruffert, Privatrecht, 4 9 f f . , 5 5 3 . BVerfGE 88, 2 0 3 . " Undenkbar ist Selbstregulierung selbst in diesem Fall nicht, man denke etwa an Selbstverpflichtungen oder „Codes of Conduct" der Gynäkologen. Die dabei zu erwartenden Durchsetzungsdefizite (Trittbrettfahrerverhalten, fehlende Sanktionen etc.) unterscheiden sich im Grundsatz nicht von denen in anderen Sachbereichen. 51

,4

^

Vieweg,

Normsetzung, S. 182.

60

§3

Der staatswissenschaftliche

Rahinen

sitionen zu wahren. 5 7 Verlässt man das Abtreibungsbeispiel, wird sogleich augenscheinlich, dass der „richtige" Ausgleich dieses Spannungsverhältnisses materiellrechtlich nicht determiniert sein kann. In welchem Maße der Verwirklichung des einen zu Lasten des anderen Ziels der Vorrang gebührt, ist in erster Linie eine politische Entscheidung, die die Legislative im dafür vorgesehenen Verfahren zu treffen hat. 5 8 Damit ist der Gesetzgeber an sich frei, das Experiment der Selbstregulierung zu wagen. b. Gruppenmacht

und

Individualinteresse

Das beschriebene Spannungsverhältnis, bei dem es im Grunde noch um den klassischen Widerstreit grundrechtlich geschützter Interessen geht, verkompliziert sich entscheidend durch das Hinzutreten eines weiteren Spannungsverhältnisses. Es entsteht dadurch, dass sich die individuellen Zugehörigen der als Regulierungsadressaten in Betracht kommenden Gruppen ihrerseits auf Grundrechte berufen können, die sie dem Selbstregulierungsanspruch der Gruppe entgegenhalten können. 5 9 Um im Ärztebeispiel zu bleiben: Reguliert sich die Ärzteschaft „selbst" durch Aufstellung bestimmter Standesregeln, kann dem der einzelne Arzt entgegenhalten, dadurch in seiner grundrechtlich verbürgten Berufsfreiheit beschnitten zu werden. Dieses zweite Spannungsverhältnis war Gegenstand des sog. Facharztbeschlusses,60 in dem das BVerfG grundsätzliche Ausführungen zur Selbstregulierungsproblematik machte, die über den konkreten Fall berufsständischer Selbstverwaltung hinaus von Bedeutung sind. In der Entscheidung erkannte das Gericht zunächst die Vorteile beruflicher Selbstregulierung an, die darin lägen, „den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern", was zugleich den Gesetzgeber davon entlaste, sachliche und örtliche Verschiedenheiten berücksichtigen zu müssen, die für ihn oft schwer erkennbar seien und auf deren Veränderungen er nicht rasch genug reagieren könnte. 6 1 Unschwer erkennt man in dieser Aufzählung die bereits erwähnten Vorteile wieder, die allgemein für den Einsatz von Selbstregulierung sprechen, namentlich Staatsentlastung, Sachkunde, hohe Durchsetzungschance und FlexibiliEngel, Private Governance, S. 17, 2 4 , 3 0 f . Ebenso Augsberg, Rechtsetzung, S . 9 6 . - Die Gemeinsame Geschäftsordnung ( G G O ) der Bundesregierung trägt dieser Einsicht Rechnung, indem sie den Verfassern von Gesetzentwürfen die Prüfung der Frage aufgibt, ob eine gesellschaftliche Selbstregulierung zur Bewältigung der jeweiligen Aufgabe der angemessenere Weg ist, siehe Anlage 7 zu § 43 Abs. I Nr.3 G G O („Prüfkatalog zur Feststellung von Selbstregulierungsmöglichkeiten"). 59 Engel, Private Governance, S . 4 f f . Vgl. jetzt auch BVerfG N J W 2 0 0 3 , 1232, I 2 3 3 f . (Festbetragsfestsetzung durch Kassenverbände im Spannungsfeld der Grundrechte von Arzneimittelherstellern, Ärzten und Versicherten). 6 0 BVerfGE 3 3 , 125 (Facharzt); bestätigt durch BVerfGK I I I , 191, 2 1 5 ff. (Notarkassen). 6 1 BVerfGE 3 3 , 125, 156f. 17

58

B. Selbstregulierung

als staatsrechtliches

Problem

61

tat. 6 2 Diesen Vorzügen stellte das Gericht die Nachteile gegenüber, die es darin sah, d a s s Rechtsetzung durch Berufsverbände die Gefahr berge, zu Lasten von Berufsanfängern oder Außenseitern ein „verengtes S t a n d e s d e n k e n " zu begünstigen, d a s notwendigen Veränderungen und Auflockerungen fest gefügter Berufsbilder hinderlich sei. 6 ' Auch in dieser Formulierung finden sich Punkte wieder, die wir als negative Eigenschaften der Selbstregulierung erkannt hatten, namentlich Gruppenmacht, M a r k t a b s c h o t t u n g und Innovationshemmung. O h n e die erst Jahre später einsetzende Debatte um Regulierung und Selbstregulierung kennen zu können, hatte das BVerfG den grundsätzlichen Konflikt also bereits frühzeitig gesehen und zutreffend beschrieben. Wie löst es ihn rechtlich a u f ? D a s Gericht wählte einen vermittelnden Weg, indem es der berufsständischen Selbstverwaltung wegen der erkannten Vorzüge grundsätzlich ihre Berechtigung beließ, a u f g r u n d der beschriebenen Gefahren der g r u p p e n a u t o n o m e n Normsetzung aber deutliche Grenzen zog, die es vor allem aus den Grundrechten der betroffenen Ärzte ableitete. 6 4 Deren Berufsfreiheit, so das Gericht, dürfe nicht zugunsten „ s a c h f r e m d e r berufspolitischer E r w ä g u n g e n " , sondern ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit beschnitten werden. Die Entscheidung, welchen widerstreitenden Interessen in welchem U m f a n g der Vorrang zu geben sei, dürfe daher nicht den Berufsverbänden zu freier Verfügung überlassen werden, sondern müsse im cjffentlichen Willensbildungsprozess vom Parlament entschieden werden. O b hiernach ein Berufsverband zu berufsregelnder Rechtsetzung ermächtigt werden dürfe und welche Anforderungen gegebenenfalls an die Ermächtigung zu stellen seien, hänge von der Intensität des Eingriffes ab. Dazu könne die a m G r u n d s a t z der Verhältnismäßigkeit ausgerichtete Stufentheorie entsprechend herangezogen werden. 6 '' Im Ergebnis bedeutet dies, dass wenig intensive Regelungen der Berufsfreiheit von Berufskammern, intensive Beschränkungen hingegen nur v o m Gesetzgeber festgelegt werden dürfen. Wo die Grenze verläuft, ist im Wege der A b w ä g u n g zu ermitteln. Gegenüber unserem T h e m a weist der Sachverhalt des Facharztbeschlusses zwei Besonderheiten auf. Z u m einen ging es dort nicht um private Regelungen, sondern um solche einer öffentlich-rechtlich verfassten Selbstverwaltungskörperschaft, zum anderen betrafen die angegriffenen Beschränkungen nur ein bestimmtes Grundrecht (Berufsfreiheit), d a s vom BVerfG besonders sensibel gehandhabt w i r d . 6 6 Dennoch entspricht der in der Entscheidung herausgearbeitete Konflikt zwischen der Freiheit gesellschaftlicher G r u p p e n , die sie betreffenden Angelegenheiten selbst zu regeln, und dem rechtsstaatlichen G e b o t , die Freiheit des Einzelnen gegenüber Gruppeninteressen zu schützen, genau demjenigen Konflikt, wie er "

S . o . , A.I.3.H. (S. 5 4 ) . B V e r f G E 3 3 , 1 2 5 , 159f. u. 162. M V g l . B V e r f G E 3 3 , 125, 1 5 8 f f . B V e r f G E 3 3 , 1 2 5 , 160. h h Vgl. nur B V e r f G E 7 6 , 1 7 1 , 1 8 7 f . (unzulässige B e r u f s r e g e l u n g durch anwaltliche Standeso r d n u n g ) ; zur weiteren Entwicklung l.orz, N J W 2 0 0 2 , 1 6 9 f f . 65

62

§ 3 Der staatswissenschaftliche

Rahmen

typischerweise zwischen Regelungsmacht beanspruchenden privaten Verbänden und den davon betroffenen Individuen besteht. Die Leitlinien des Facharztbeschlusses sind daher, darüber besteht Einigkeit, grundsätzlich auf die staatliche Ermächtigung privater Verbände zur Normsetzung übertragbar. 6 ' Wäre es anders, stünde dem Staat ein allzu einfacher Weg offen, die öffentlich-rechtlichen Vorgaben durch Flucht in ein privatrechtliches Modell zu umgehen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass - bei unterschiedlichem Ausgangspunkt - die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Selbstregulierung keine wesentlich anderen sind als diejenigen der Ökonomik. Selbstregulierung an sich ist weder ein vorzugswürdiger noch ein abzulehnender Weg zu sozialer Ordnung, sondern bewegt sich in einem mehrpoligen Spannungsverhältnis, das durch die grundrechtlich geschützten Interessen verschiedener Regulierungsadressaten sowie der Regulierungsbegünstigten gekennzeichnet ist. Erschwert wird die dadurch gebotene Abwägung durch den Umstand, dass potentielle Regulierungsadressaten dem Staat gegenüber eine „Chance zur Selbstregulierung" reklamieren können, sich aber ihrerseits den grundrechtlich verbürgten Freiheitsrechten von Außenseitern gegenüber sehen. Abgesehen von wesentlichen Entscheidungen, die der parlamentarische Gesetzgeber treffen muss, bleibt daher ein weiter Spielraum, selbstregulativen Mechanismen Platz zu gewähren. Damit wird der Staat nicht aus seiner Verantwortung zur Wahrung des Gemeinwohls entlassen; sie reduziert sich aber im Wesentlichen darauf, das Funktionieren selbstregulativer Mechanismen zu beobachten und gegebenenfalls durch geeignete Maßnahmen zu stützen oder zu korrigieren.

2. Staatliches

Recht und private

Normen

Schon der Facharztbeschluss machte deutlich, dass die überkommene Vorstellung eines staatlichen Normsetzungsmonopols nicht zutreffend ist. Indem das Gericht darauf hinwies, der Staat dürfe sich seiner Normsetzungsbefugnis „nicht völlig" entäußern und gleichzeitig entsprechende Schranken aufzeigte, erkannte es an, dass Normsetzung durch nicht-staatliche Stellen nicht schon per se zu beanstanden ist. 68 Auch in der Literatur kann heute als unbestritten gelten, dass der Staat nicht in dem Sinne über ein Normsetzungsmonopol verfügt, dass er alleine befugt wäre, Normen gegenüber seinen Bürgern zu formulieren. Die im Hinblick auf das tatsächliche Vorhandensein einer Vielzahl privater Regelwerke vor allem von rechtssoziologischer Seite immer wieder kritisierte 69 Vorstellung vom staatlichen Normsetzungsmonopol ist heute einer differenzierten Sichtweise gewichen, die ein S. nur Waltermann, Rechtsetzung, S. 152f.; Giesen, Tarifnormen, S . 2 1 7 . Vgl. BVerfGE 33, 125, 158. 6 9 Klassisch Ehrlich, Soziologie, S . 2 3 f f . ; s. auch Savigny, Beruf, S. 19: „|W]ir würden viele Mühe gehabt haben, unsren Vorfahren den Unterschied eines Rechtsbuchs als einer Privatarbeit von einem wahren Gesetzbuche deutlich zu machen, den wir uns als so natürlich und wesentlich denken." 67 68

B. Selbstregulierung

als staatsrechtliches

Problem

63

arbeitsteiliges Z u s a m m e n w i r k e n zwischen Staat und privatem Regelsetzer f ü r grundsätzlich zulässig erachtet. 7 0 Dem Staat k o m m t d a n a c h zwar weiterhin das M o n o p o l zu, N o r m e n durch Geltungsbefehl allgemeine Verbindlichkeit zu verschaffen; der Inhalt der N o r m kann aber auch von privater Seite formuliert werden. N i m m t eine staatliche Vorschrift auf private Regelwerke Bezug, ohne einen eindeutigen Geltungsbefehl zu erteilen, ist es eine Frage der Auslegung, o b ein solcher Geltungsbefehl vom Gesetzgeber gewollt ist oder nicht. 7 1 Darf der Staat einer privaten Regel somit grundsätzlich Verbindlichkeit verleihen, bleiben zwei offene Fragen. Die erste lautet, was ihn dazu legitimiert, die zweite, w o die Grenzen dieser Befugnis liegen. a. Legitimation

des staatlichen

Geltungsbefehls

In der Literatur werden verschiedene G r ü n d e diskutiert, die den Staat berechtigen sollen, neben eigenen auch privaten N o r m e n zur Geltung zu verhelfen. Nicht alle vermögen zu überzeugen. Abzulehnen ist namentlich der Versuch, die Zulässigkeit privater Regelsetzung auf Art. 80 Abs. 1 Satz 4 G G oder die Figur der „Beleihung" zu stützen. 7 2 Art. 80 Abs. 1 Satz 4 G G enthält zwar seinem Wortlaut nach keine Begrenzung der in Betracht k o m m e n d e n Subdelegatare; eine Ermächtigung Privater zum Erlass von Rechtsverordnungen ist aber mit Z w e c k , Entstehungsgeschichte und systematischer Stellung der N o r m nicht vereinbar und tatsächlich auch noch nie v o r g e k o m m e n . 7 ' D a m i t steht Art. 80 G G einer staatlichen A n e r k e n n u n g privater N o r m e n nicht im Wege. Er legitimiert sie aber auch nicht, sondern enthält dazu schlicht keine Aussage. 7 4 Was die Beleihung betrifft, handelt es sich dabei um eine staats- und verwaltungsrechtlich nur unzureichend bewältigte Hilfsfigur, zu der m a n d a n n Z u f l u c h t n i m m t , w e n n die faktisch v o r g e f u n d e n e Einbindung Privater in das staatliche Geschehen anders nicht erklärt werden k a n n . 7 5 Ungeachtet dessen verbinden sich mit dieser Figur nach ganz herrschender Ansicht keine Rechtsetzungsbefugnisse, wie die typologische Betrachtung der a n e r k a n n t e n Fälle bestätigt. 7 6 Problematisch ist auch das immer wieder gerne beschworene „Subsidiaritätsprinzip". O b es als solches dem geltenden Verfassungsrecht z u g r u n d e liegt, wird in 70 Grundlegend E Kirchhof., Private Rechtsetzung, insbes. S. 112ff.; entsprechende Überlegungen auch schon bei Krüger, Staatslehre, S . 4 9 3 und Lieh, N o r m s e t z u n g , S. 58ff.; aus dem neueren Schrifttum Augsberg, Rechtsetzung, S.28; Engel, Private Governance, S.2; P. Kirchhof, Z G R 2 0 0 0 , 681, 682; Ossenbühl, HStR III, § 6 1 R n . 3 0 . 71 Umstrittenes Beispiel: § 59 BörsG (= 78 BörsG a.F.), der auf (private) „Handelsrichtlinien" verweist, näher dazu Bachmann, W M 2 0 0 1 , 1793, 1795. 72 In diesem Sinne aber Schwierz, Privatisierung, S . 6 3 f f . 7 ' Ausführlich Marburger, Regeln, S. 333ff. 74 Richtig Kreutz, Betriebsautonomie, S. 83 f. 7i Vgl. Krebs, HStR III, §69 Rn. 10. h Wohl unstreitig, s. nur Augsberg, Rechtsetzung, S. 189; Kreutz, Betriebsautonomie, S.82f.; Ossenbühl, HStR § 6 4 R n . 3 0 ; Tb. Schmidt, Z G 2 0 0 2 , 353, 366; Stadler, Beleihung, S.38; Schwab, Politikberatung, S . 4 2 4 ; Wolf/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 104 Rn 2.

64

§.! Der staatswissenschaftliche

Rahmen

der d e u t s c h e n S t a a t s r e c h t s l e h r e u n t e r s c h i e d l i c h b e u r t e i l t . 7 7 Aus

staatstheoreti-

s c h e r S i c h t lässt sich i n s o f e r n von einer S u b s i d i a r i t ä t s t a a t l i c h e n H a n d e l n s sprec h e n , als der S t a a t n i c h t S e l b s t z w e c k ist, s o n d e r n I n s t r u m e n t z u m W o h l e seiner Bürger, dessen E i n s a t z e s es d o r t n i c h t b e d a r f , w o sich die B ü r g e r selbst zu helfen w i s s e n . 7 8 F r a g w ü r d i g ist die B e z u g n a h m e a u f das S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p allein desh a l b , weil seine h i s t o r i s c h e H e r k u n f t dazu t a u g t , e i n e m K o r p o r a t i s m u s d a s W o r t zu r e d e n , der m i t der f r e i h e i t l i c h e n , a u f das I n d i v i d u u m b e z o g e n e n W e r t o r d n u n g des G r u n d g e s e t z e s n i c h t in E i n k l a n g zu bringen i s t . 7 9 S o w e i t d a m i t

pauschal

R e c h t s e t z u n g s b e f u g n i s s e privater V e r b ä n d e b e g r ü n d e t w e r d e n sollen, u n t e r g r ü b e dies e b e n jene S c h r a n k e n , die das B V e r f G z u m S c h u t z v o r M a c h t e n t f a l t u n g p a r t i k u l ä r e r Interessen in der F a c h a r z t e n t s c h e i d u n g g e z o g e n h a t . 8 0 D i e d e m S u b s i d i a r i t ä t s p r i n z i p im Ü b r i g e n z u g e s c h r i e b e n e n F u n k t i o n e n w e r d e n d o g m a t i s c h d u r c h das Ü b e r m a ß v e r b o t und die A u s l e g u n g s m a x i m e der

Grundrechtsoptimierung

w a h r g e n o m m e n . Sie r i c h t e n das A u g e n m e r k d a r a u f , dass bei der B e g r ü n d u n g privater N o r m s e t z u n g s b e f u g n i s s e stets a u c h e t w a k o l l i d i e r e n d e Interessen D r i t t e r im A u g e zu halten s i n d . 8 1 A n d e r e S t i m m e n v e r s u c h e n , die L e g i t i m a t i o n des S t a a t e s zur A n e r k e n n u n g priv a t e r N o r m e n aus a l l g e m e i n e n E r w ä g u n g e n a b z u l e i t e n . 8 2 S o wird unter Bezugn a h m e a u f das K o l l i s i o n s r e c h t d a r a u f v e r w i e s e n , die d e u t s c h e R e c h t s o r d n u n g sei prinzipiell „ o f f e n für f r e m d e s R e c h t " und d a m i t a u c h o f f e n für privates R e c h t . D a s G e b o t der R e s p e k t i e r u n g a u s l ä n d i s c h e r R e c h t s o r d n u n g e n beruht j e d o c h a u f g a n z a n d e r e n , v ö l k e r r e c h t l i c h e n W u r z e l n 8 ' und k a n n d a h e r für die A n e r k e n n u n g privater R e g e l w e r k e n i c h t s h e r g e b e n . E b e n s o w e n i g ü b e r z e u g t das h i s t o r i s c h e Arg u m e n t , die d e u t s c h e R e c h t s o r d n u n g h a b e der G e s e l l s c h a f t und ihren V e r b ä n d e n i m m e r s c h o n „ R a u m zur S e l b s t o r g a n i s a t i o n " g e l a s s e n . 8 4 D i e historischen F o r m e n v e r b a n d l i c h e r „ A u t o n o m i e " und die S e l b s t o r d n u n g der W i r t s c h a f t d u r c h (so das d a m a l i g e S c h l ü s s e l w o r t ) „ O r g a n i s a t i o n " , w e l c h e die W e i m a r e r Z e i t p r ä g t e , 8 5 ent7 7 Bejahend Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht; ablehnend etwa Denninger, Normsetzung, Rn. 121; Augsberg, Rechtsetzung, S. 78. 7 8 S.u., §6 A.II.2.b. (S. 162f.). Zutreffend Richardi, Kollektivgewalt, S. 58; Mestmäcker, Der verwaltete Wettbewerb, S. 5 f. Gegen „floskelhafte Zitierung" des Subsidiaritätsgedankens auch Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassung, S.318; ferner Zippelius, Staatslehre, S. 131. Allgemein zur schillernden Bedeutung der Subsidiaritätsvokabel Richli, Daumenregeln für eine faire Rechtsetzung, S. 268ff. 80 Denninger (Fußn. 77); weniger deutlich Taupitz, Standesordnungen, S. 523. Wenig überzeugend daher der Versuch von Ebmann (ZRP 1996, 314, 318), einen Vorrang der Betriebsvereinbarung vor dem Tarifvertrag mit dem „Subsidiaritätsprinzip" zu begründen; ähnlich, aber mit eher rechtspolitischer Stoßrichtung Natzel, ZfA 2003, 103, 127ff. 81 Vgl. Denninger, Normsetzung, Rn. 121. Siehe auch schon oben, § 1 A.II.3. (S. 12). 8 2 Zu Folgendem F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S.507ff.; diesem folgend Vieweg, Normsetzung, S. 144f. und Waltermann, Rechtsetzung, S. 142ff.; kritisch mit Recht Augsberg, Rechtsetzung, S. 231. 8! Meessen, FS Mann, S.227, 231. 84 E Kirchhof, Private Rechtsetzung, S.508; Vieweg, Normsetzung, S. 144. 8 i Eingehend Nörr, Privatrechtsgeschichte der Weimarer Republik, S. 4ff.; ders., Die Leiden des Privatrechts, insbes. S. 84ff.; s. auch Lukes, Kartellvertrag, S. 1.

R. Selbstregulierung

ills staatsrechtliches

Problem

65

wickelten sich zu einer Zeit, da der gesellschaftlichen Machtentfaltung noch keine freiheitlichen, durch einklagbare Grundrechte bestimmte Schranken gesetzt waren. Gerade der Facharztbeschluss macht deutlich, dass historisches Herkommen eben nicht ausreicht, um außerstaatlichen Normen den verfassungsrechtlichen Segen zu erteilen. Was bleibt, ist der Hinweis auf die Grundrechte, die dem Bürger zur Seite stehen, um vom Staat die Sanktionierung selbst gesetzter Regeln einfordern zu können. S 6 Damit ist ein wichtiger, auch für das Selbstverständnis des Privatrechts bedeutsamer Gesichtspunkt angesprochen. In der Handelsvertreter- und in der Bürgschaftsentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht erkannt, dass mit den Mitteln des Privatrechts bewirkte Bindungen grundsätzlich Ausdruck der durch Art. 2 Abs. 1 G G garantierten Handlungsfreiheit seien. 87 In ähnlicher Form kann die rechtsgeschäftliche „Unterwerfung" unter die „Satzungsgewalt" eines Vereins als Wahrnehmung der Vereinigungsfreiheit, der Beitritt zu einem regelsetzenden Berufsverband als Ausübung der Berufsfreiheit, die Selbstbeschränkung des Eigentums als solche der Eigentumsfreiheit verstanden werden. Allgemein ausgedrückt: Die grundrechtlich verbürgte Privatautonomie gibt dem Einzelnen nicht nur ein Recht, vom Staat „in Ruhe gelassen" zu werden, sie verpflichtet den Staat auch, privaten Imperativen insoweit Verbindlichkeit zu verleihen, als dies erforderlich ist, damit Individuen ihre eigene private Ordnung gestalten können. Diese wichtige Einsicht, die durch den die Grenzen der Privatautonomie betonenden Tenor der genannten Entscheidungen weithin übersehen worden ist, 88 bringt den dienenden Charakter des (Privat-)Rechts angemessen zum Ausdruck. Was die Frage betrifft, wo die Grenzen der grundrechtlich gestützten Sanktionierung privater Regeln verlaufen, sind zwei Linien zu unterscheiden. Die eine, als „innere" zu kennzeichnende Schranke bezeichnet das zulässige Ausmaß dessen, was von Verfassungs wegen als Se/fcsibindung sanktioniert werden darf. Diese, in der Bürgschaftsentscheidung angesprochene Schranke ist deshalb schwer zu ziehen, weil die Handlungsfreiheit dabei gleichsam mit sich selbst abgewogen werden muss - ein Unterfangen, das nur gelingen kann, wenn Vor- und Nachteile der betreffenden Bindung im jeweiligen Funktionszusammenhang untersucht werden. Da die Verfassung dafür selbst kein Raster hergibt, müssen in erster Linie die Eigenwertungen des Zivilrechts herangezogen werden, dem man insofern zu Recht einen Erkenntnisvorrang zuspricht. 89 Im Rahmen unserer Untersuchung interessieren dabei nicht die Schranken der Vertragsfreiheit i.e.S., sondern die Grenzen jener Gestaltungen, die man gemeinhin als „Unterwerfung" unter private Normsetzungsmacht zu umschreiben pflegt. 90 ^ E Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 5 1 1 f . ; Vieweg, Normsetzung, S. 145; Rechtsetzung, S . 2 3 1 . Vgl. BVerfGE 8 1 , 2 4 2 f f . ; BVerfGK 8 9 , 2 1 4 f f . 8fl Zutreffend betont jetzt von Ritgen, J Z 2 0 0 2 , 114, 115f. 89 Ruffert, Privatrecht, S . 4 9 f f . 9H Ausführlich unten, § 8 B.II. 1. ( S . 2 6 9 ) .

Augsberg,

66

§3

Der staatswissenschaftlicbe

Rahmen

Schon hier näher zu betrachten sind die zweiten, als „äußere" oder verfassungsrechtlich zu kennzeichnenden Schranken privater Normsetzung. Sie betreffen diejenigen Fälle, in denen von einer privatautonomen Regelunterwerfung keine Rede sein kann, weil es an einer entsprechenden - auch konkludenten - Erklärung des von der Regel Betroffenen fehlt. Für diese Fälle sind die Grundrechte von Regelaufsteller und -adressat zur Legitimation des staatlichen Geltungsbefehls jedenfalls nicht mehr ausreichend. Betroffen sind namentlich solche Konstellationen, in denen die Regelunterworfenen dem regelsetzenden Verband entweder zwangsweise angehören oder in denen Verbandsregeln via gesetzlicher Verweisung oder Generalklausel auch gegenüber Nichtverbandsangehörigen Beachtung erheischen. Staatsrechtlich legitimieren lässt sich der staatliche Geltungsbefehl in diesen Fällen nur durch die Grundrechte der von der sanktionierten Regel Begünstigten. Da es dem Staat in den Grenzen des Verhältnismäßigkeitsprinzips freisteht, individuelle Freiheiten zu Gunsten als vorzugswürdig erkannter Grundrechte durch eigene Regeln zu beschneiden, muss es ihm auch erlaubt sein, dasselbe Ziel dadurch zu erreichen, dass er einer dazu geeigneten privaten Regel Rechtsgeltung verschafft. Wegen der fehlenden privatautonomen Fundierung dieser Regelgeltung bedarf es freilich zusätzlicher Schranken, die wir näher betrachten wollen. b. Verfassungsrechtliche

Grenzen

des

Geltungsbefehls

Ebenso wenig wie Art. 80 G G den Staat zur Sanktionierung privater Regelwerke ermächtigt (s.o.), begrenzt er ihn darin. Hinsichtlich der Verweisung auf Regeln nicht-staatlichen Ursprungs enthält er keine Aussage. 91 Zwar mag man bezweifeln, ob das Art. 80 GG zugrunde liegende „Bedürfnis, eine Macht zu zügeln, die versucht sein könnte, praktisch-effiziente Regelungen auf Kosten der Freiheit der Bürger durchzusetzen", wirklich „ungleich fühlbarer" ist, wenn diese Macht der Exekutive und nicht einem (mächtigen) privaten Verband anvertraut ist. 92 Jedenfalls aber ist das Bedürfnis ein anderes: Während die Exekutive insofern „gefährlicher" als der private Verband sein mag, als ihr der staatliche Zwangsapparat untersteht, ist sie doch strukturell eher immun gegen die Durchsetzung partikulärer Interessen, in der das BVerfG die entscheidende Gefahr autonomer Normsetzung sah. Schranken sind daher unstreitig auch der privaten Rechtsetzung zu ziehen, doch sollten sie nicht unmittelbar aus Art. 80 GG entnommen, sondern eigenständig entwickelt werden. Die maßgebliche Schranke, welche die Sanktionierung privater Regeln insoweit hemmt, ist das grundsätzliche Verbot dynamischer Verweisungen auf Regeln nicht-staatlichen Ursprungs. Dem Gesetzgeber ist es danach versagt, private Re-

9 1 Vgl. BVerfGE 7 3 , 3 8 8 , 4 0 0 ; BVerfGE 3 3 , 1 2 5 , 1 5 7 f . (jeweils zur Rechtsetzung autonomer Körperschaften); BVerfGE 4 4 , 3 2 2 (zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen); anders für das schweizerische Recht U. Brunner, Rechtsetzung, S. 1 4 0 („a fortiori"). 9 2 So BVerfGE 3 3 , 1 2 5 , 1 5 7 .

ß. Selbstregulierung

als staatsrechtliches

Problem

67

geln p a u s c h a l in ihrer jeweiligen F a s s u n g für v e r b i n d l i c h zu e r k l ä r e n . 9 ' Im Anschluss an den F a c h a r z t b e s c h l u s s sieht das B V e r f G darin eine v e r s t e c k t e D e l e g a t i o n von N o r m s e t z u n g s b e f u g n i s s e n , die m i t d e m D e m o k r a t i e - u n d d e m R e c h t s s t a a t s p r i n z i p n i c h t zu v e r e i n b a r e n sei, weil sie E i n s c h r ä n k u n g e n der Freiheit des Bürgers zulasse, die v o m G e s e t z g e b e r n i c h t m e h r in eigener V e r a n t w o r t u n g und im dafür

vorgesehenen

parlamentarischen

Willensbildungsprozess

verabschiedet

w ü r d e n . 9 4 Z w a r hat das B V e r f G im sog. B e r g m a n n s v e r s o r g u n g s s c h e i n - B e s c h l u s s d y n a m i s c h e V e r w e i s u n g e n a u f private R e g e l w e r k e ( k o n k r e t : T a r i f v e r t r ä g e ) n i c h t gänzlich v e r w o r f e n ; es b e t o n t j e d o c h die N o t w e n d i g k e i t , einer s o l c h e n Verweisung enge S c h r a n k e n zu z i e h e n . 9 5 Als a l l g e m e i n zulässig, weil den g e n a n n t e n Bed e n k e n n i c h t ausgesetzt, gilt d e m g e g e n ü b e r die sog. statische

V e r w e i s u n g , bei wel-

c h e r der G e s e t z g e b e r w e i ß , w e l c h e n I n h a l t die in Bezug g e n o m m e n e N o r m h a t u n d die er d a h e r prüfen und sich „zu Eigen m a c h e n " k a n n . 9 6 Aus ä h n l i c h e n E r w ä g u n g e n ist die R e z e p t i o n p r i v a t e r N o r m e n ü b e r gesetzliche Generalklauseln

v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n B e d e n k e n ausgesetzt. S c h o n T e u b n e r , der

in dieser R e z e p t i o n eine w e s e n t l i c h e F u n k t i o n der G e n e r a l k l a u s e l n s a h , e r k a n n t e darin die G e f a h r einer „ s e l b s t h e r r l i c h e n u n k o n t r o l l i e r t e n S e l b s t v e r w a l t u n g von I n t e r e s s e n v e r t r e t u n g e n " und v e r l a n g t e daher, die R e z e p t i o n jedenfalls so lange von einer r i c h t e r l i c h e n K o n t r o l l e a b h ä n g i g zu m a c h e n , s o l a n g e n i c h t „ B e d i n g u n gen für eine m a c h t n e u t r a l i s i e r t e d e m o k r a t i s c h e ' K o n f l i k t s r e g u l i e r u n g "

gesetzt

s e i e n . 9 7 D a s B V e r f G hat aus dieser E i n s i c h t 1 9 8 7 v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e K o n s e quenzen g e z o g e n und -

w i e d e r u m unter a u s d r ü c k l i c h e r B e z u g n a h m e a u f den

F a c h a r z t b e s c h l u s s - e n t s c h i e d e n , dass b e r u f s s t ä n d i s c h e R i c h t l i n i e n , die k e i n e öff e n t l i c h - r e c h t l i c h e S a t z u n g darstellten, n i c h t als H i l f s m i t t e l zur A u s l e g u n g und K o n k r e t i s i e r u n g der G e n e r a l k l a u s e l ü b e r die a n w a l t l i c h e n B e r u f s p f l i c h t e n

(§43

B R A O ) h e r a n g e z o g e n w e r d e n d ü r f t e n . 9 8 M a g die E n t s c h e i d u n g a u c h d u r c h die v o m B V e r f G traditionell als b e s o n d e r s sensibel g e w e r t e t e B e r u f s f r e i h e i t g e p r ä g t g e w e s e n s e i n , 9 9 so ist ein u n b e s e h e n e r R ü c k g r i f f a u f private N o r m e n z w e c k s Ausfüllung von G e n e r a l k l a u s e l n und u n b e s t i m m t e n R e c h t s b e g r i f f e n d o c h seither ausgeschlossen. D a s S c h r i f t t u m hat aus diesen v e r f a s s u n g s r i c h t e r l i c h e n V o r g a b e n K o n s e q u e n zen g e z o g e n , u m die B e d ü r f n i s s e p r a k t i s c h e r G e s e t z g e b u n g m i t den u n g e s c h r i e b e nen A n f o r d e r u n g e n des G r u n d g e s e t z e s zu v e r s ö h n e n . U m die als u n v e r z i c h t b a r a n gesehenen V o r z ü g e d y n a m i s c h e r V e r w e i s u n g e n zu e r h a l t e n , zugleich a b e r d e m 9 ' Heute allgemeine Meinung, s. nur Marburger, Regeln, S.393; Denninger, Normsetzung, Rn. 144; Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rn. 80; Augsberg, Rechtsetzung, S. 178, jew. m.w.N. 94 BVerfGE 64, 209, 214f.; BVerfG 47, 285, 315, jeweils unter Bezugnahme auf BVerfGE 33, 125. 9 5 BVerfGF. 64, 209, 214f. Zu den Folgerungen für das Arbeitsrecht unten, § 5 C.l.l.b. (S. 128). 9 6 BVerfGE 47, 285, 312. 9 7 Vgl. Teubner, Standards, S. 66f. 98 BVerfGE 76, 171 (Leitsatz 1) und dazu bereits oben, § 3 B.I.2.b. (S.67). 9 9 Vgl. Lorz, NJW 2002, 169ff.

68

§ i Der staatswissenschaftUcbe

Rahmen

Vorwurf einer verfassungswidrigen „völligen Entäußerung der Rechtsetzungsbefugnis" zu entgehen, werden daher Voraussetzungen wie Rechtsfolgen einer Rezeption privater Normen modifiziert, um deren rechtsstaatliches und demokratisches Defizit zu kompensieren.' 0 0 Der Kerngedanke besteht dabei darin, der in der Facharztentscheidung artikulierten Sorge einer Festschreibung partikulärer Interessen durch prozedurale Vorkehrungen zu begegnen, die auf eine dem parlamentarischen Verfahren äquivalente Weise die „Gemeinwohlrichtigkeit" der privat geschaffenen N o r m gewährleisten. 1 0 1 Als „produktive Prinzipien", dies zu erreichen, werden insbesondere die Gedanken der Gegenmachtbildung, der Kontrastinformation und des Minderheitenschutzes im Normsetzungsverfahren genannt. 1 0 2 Im Einzelnen wird dazu gefordert, dass (1) das private Normsetzungsgremium ausgewogen und unabhängig zusammengesetzt ist; (2) der interessierten Öffentlichkeit ausreichende Gelegenheit zur Mitwirkung am Normsetzungsverfahren gegeben wird; (3) die privaten Normen in für jedermann zugänglicher Weise bekannt gemacht werden; (4) die Exekutive den Normsetzungsprozess überwachend begleitet; (5) die privaten N o r m e n von Zeit zu Zeit einer Revision unterzogen werden. Auf der Rechtsfolgenseite kann den Bedenken gegenüber privat gesetzten N o r m e n dadurch Rechnung getragen werden, dass ihnen nur die Bedeutung einer Empfehlung oder (widerlegbaren) Vermutung richtigen Verhaltens beigemessen wird, die in mehr oder weniger starkem Umfang richterlicher Kontrolle unterstellt w i r d . 1 0 ' c. Geltungsbefehl

durch die

Exekutive?

Die vorgenannten Überlegungen bezogen sich auf den Geltungsbefehl, mit dem der Gesetzgeber private Normen versieht. Kann ein entsprechender Befehl auch durch die Exekutive erteilt werden? Einen solchen Weg sieht § 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) vor, der dem Bundesminister für Arbeit die Kompetenz einräumt, Tarifverträge unter bestimmten Voraussetzungen für allgemein verbindlich zu erklären und damit ihre Geltung auch auf solche Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu er100 Vgl. (zur „ a u t o n o m e n " Rechtsetzung durch .Selbstverwaltungskörperschaften) jetzt auch BVerfGE 111, 1 9 1 , 2 1 7 f . (Notarkassen). Entsprechende Vorgaben werden für die N o r m k o n k r e t i sierung durch Richterrecht gemacht, eingehend Röthel, Normkonkretisierung, S. 84ff. 101 Vgl. schon U. Brunner, Rechtsetzung, S. 161 ff.; Kloepfer, VVDStRI. 40 (1 982), S.67, 76f.; aus neuerer Zeit nur Augsberg, Rechtsetzung, S.102ff.; Schmidt-Preuß in: Säcker (Hrsg.), Reform des Energierechts, S. 45 ff. - Speziell zum Umwelt- und Technikrecht A. Brunner, Technische N o r m e n , S.70, S. 125ff.; Denninger, N o r m s e t z u n g , Rn. 176ff.; Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rn. 81; Röthel, N o r m k o n k r e t i s i e r u n g im Privatrecht, S.269ff.; Spindler, Organisationspflichten, S. 491 ff.; Schwierz, Privatisierung, S. 85ff.; zum Medizinrecht Schmidt-Aßmann, Legitimation, S. 102ff.; Taupitz, N J W 2 0 0 3 , 1145, 1150; zum Bilanzrecbt Augsberg, Rechtsetzung, S. 179ff.; Schwab, BB 1999, 731, ff., 783ff.; GroßkommHGK/Hommelboff/Schwab, § 342 Rn. 13ff., 4 9 f f . 102

Denninger, Normsetzung, Rn. 115, 179 u. 182 (Herv. im Original); vgl. jetzt auch BVerfGE 111, 191, 2 1 7 (Notarkassen), welches eine angemessene Partizipation der N o r m u n t e r w o r f e n e n und institutionelle Vorkehrungen gegen die Bevorzugung von Ejnzelinteressen fordert. '•' Vgl. nur Denninger, N o r m s e t z u n g , Rn. 145; Marburger, Regeln, S.399ff.; Röthel, N o r m konkretisierung im Privatrecht, S.273f.; Teubner, Standards, S.66f.

II. Selhstregulierung

als staatsrechtliches

Problem

69

s t r e c k e n , die nicht M i t g l i e d der T a r i f v e r t r a g s p a r t e i e n s i n d . 1 0 4 D a die A l l g e m e i n v e r b i n d l i c h e r k l ä r u n g (AVE) sich jeweils n u r a u f einen b e s t i m m t e n T a r i f v e r t r a g bezieht, k a n n ihr das V e r b o t der d y n a m i s c h e n V e r w e i s u n g , wie es im B e r g m a n n s s c h e i n v e r s o r g u n g s b e s c h l u s s a u s g e s p r o c h e n w o r d e n war, n i c h t e n t g e g e n s t e h e n . " 1 5 P r o b l e m a t i s c h bleibt, dass die A V E n i c h t durch den p a r l a m e n t a r i s c h e n Gesetzgeber, s o n d e r n durch die E x e k u t i v e e r f o l g t , o h n e d a s s § 5 T V G zweifelsfrei den V o r g a b e n des A r t . 8 0 G G genügte. D a s B V e r f G u m s c h i f f t e dieses P r o b l e m , i n d e m es die A V E n i c h t als R e c h t s v e r o r d n u n g , s o n d e r n als R e c h t s a k t „ e i g e n e r A r t " e i n s t u f t e , a u f den Art. 8 0 G G n i c h t a n w e n d b a r s e i . 1 0 6 D e m ist i n s o w e i t b e i z u p f l i c h t e n , als die G r e n z e n des s t a a t l i c h e n G e l t u n g s b e f e h l s für private N o r m e n sich n i c h t u n m i t t e l b a r aus A r t . 8 0 G G ergeb e n , i n s b e s o n d e r e n i c h t inhaltlicher, s o n d e r n p r o z e d u r a l e r N a t u r s i n d . 1 0 7 D a s B V e r f G verweist i n s o w e i t a u f die strengen V e r f a h r e n s v o r a u s s e t z u n g e n der A V E , durch die das d e m o k r a t i s c h e Defizit h i n r e i c h e n d a u s g e g l i c h e n w e r d e . 1 0 8 Im Ü b r i gen h a b e der V e r f a s s u n g s g e b e r die A V E als „ b e w ä h r t e s R e c h t s i n s t i t u t "

bereits

v o r g e f u n d e n , so dass sie einer v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n P r ü f u n g i n s g e s a m t „ n o c h " s t a n d h a l t e . 1 0 9 V o r allem der letzte H i n w e i s zeigt, dass das R e c h t s i n s t i t u t der A V E n i c h t o h n e weiteres a u f a n d e r e F o r m e n privater N o r m s e t z u n g e r s t r e c k t w e r d e n k a n n . 1 1 0 D a g e g e n s p r i c h t n a m e n t l i c h , dass T a r i f n o r m e n - im U n t e r s c h i e d e t w a zu privaten R e c h n u n g s l e g u n g s s t a n d a r d s ( § 3 4 2 H G B ) - wie z w i n g e n d e s G e s e t z e s recht w i r k e n . A b g e s e h e n d a v o n k ö n n e n die p r o z e d u r a l e n V o r k e h r u n g e n der A V E d u r c h a u s als V o r b i l d d i e n e n . " 1

d. „Normengesetz"

für private

Rechtsetzung?

U n g e k l ä r t ist, o b der G e s e t z g e b e r dazu a n g e h a l t e n ist, die p r o z e d u r a l e n K a u t e l e n privater N o r m u n g in einer Art „ G e s e t z g e b u n g s v e r f a h r e n " v e r b i n d l i c h vorzugeben. S o w e i t dies als r e c h t s p o l i t i s c h e F o r d e r u n g v o r g e t r a g e n w i r d , w e r d e n wir dem im letzten Teil der A r b e i t n a c h g e h e n . An dieser Stelle interessiert nur, o b ein solc h e s N o r m e n g e s e t z v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h g e b o t e n ist. Z u m Teil wird das unter Berufung a u f die R e c h t s p r e c h u n g des B V e r f G b e j a h t , w o n a c h der Gesetzgeber, der Einzelheiten g r u n d r e c h t s r e l e v a n t e r F r a g e n n i c h t selbst regele o d e r regeln k ö n n e , durch A u s g e s t a l t u n g des V e r f a h r e n s sicherzustellen h a b e , dass ein a n g e m e s s e n e r G r u n d r e c h t s s c h u t z g e w ä h r l e i s t e t s e i . 1 1 2 D i e s e V o r g a b e n , die das B V e r f G v o r allem

Ausführlich zur Rechtsetzung durch Tarifvertrag unten, § 5 C.1.1. So das BVerfG seihst, das in der genannten Entscheidung ausdrücklich auf die Möglichkeit der AVE verwies, s. BVerfGE 6 4 , 2 0 8 , 2 1 5 . 1,16 BVerfGE 4 4 , 3 2 2 ; eingehend zur „Rechtsnatur" der AVE IJeb, Normsetzung, S. 14ff. 1 0 7 S.o., B.I.2.b (S. 6 8 ) . IIIS BVerfGE, 4 4 , 3 2 2 , 3 4 8 . 1 0 9 BVerfGE, 4 4 , 3 2 2 , 3 4 7 ; zustimmend etwa Wiedemann/WW:, § 5 T V G Rn. 19ff. 1 1 0 Zurückhaltend auch Taupitz, Standesordnungen, S. 1 2 5 9 f f . 111 Näher unten, § 11 .A.1II.2. (S. 3 6 4 f . ) . 112 Vgl. BVerfGE 5 3 , 3 0 . 11,4 101

70

§ .3 Der staatswissenschaftliche

im H i n b l i c k a u f n o r m k o n k r e t i s i e r e n d e

Rahmen

Verwaltungsvorschriften

gemacht

hat,

w e r d e n a u f s o l c h e F ä l l e e r s t r e c k t , in d e n e n p r i v a t e G r e m i e n die E x e k u t i v e bei A u f stellung v o n N o r m e n b e r a t e n , a b e r a u c h d o r t für a n w e n d b a r g e h a l t e n , w o das G e setz a u f p r i v a t gesetzte R e g e l n verweist. O b a u f der G r u n d l a g e dieser R e c h t s p r e c h u n g w i r k l i c h ein allgemeines „ N o r m e n g e s e t z " g e b o t e n ist, e r s c h e i n t indes z w e i f e l h a f t . In den zitierten E n t s c h e i d u n gen ging es a u s s c h l i e ß l i c h d a r u m , der E x e k u t i v e , die g e s t a l t e n d in die R e c h t s v e r hältnisse der B ü r g e r eingreift, Z ü g e l a n z u l e g e n . E i n e e n t s p r e c h e n d e G e f ä h r d u n g geht v o n p r i v a t e n N o r m e n z u m i n d e s t im B e r e i c h des Z i v i l r e c h t s nicht aus. J e d e n falls hier e r s c h e i n t es ü b e r z e u g e n d e r , die g e n a n n t e n S i c h e r u n g e n als E l e m e n t e eines s e l b s t s t e u e r n d e n Prozesses zu v e r s t e h e n . 1 " J e n a c h d e m , wie u m f a s s e n d die p r o z e d u r a l e n V o r k e h r u n g e n gestaltet sind, k a n n der privaten R e c h t s n o r m s t ä r k e res o d e r s c h w ä c h e r e s G e w i c h t im R e c h t s f i n d u n g s p r o z e s s beigemessen w e r d e n . G e l a n g t der R e c h t s a n w e n d e r dabei zu der E i n s i c h t , d a s s den p r o z e d u r a l e n V o r k e h r u n g e n in a n g e m e s s e n e r Weise R e c h n u n g g e t r a g e n w u r d e , d a r f er sie seiner E n t s c h e i d u n g g r u n d s ä t z l i c h z u g r u n d e legen; ist dies n i c h t der Fall, ist die V e r m u t u n g der „ G e m e i n w o h l r i c h t i g k e i t " e r s c h ü t t e r t und der R i c h t e r b e r e c h t i g t und verp f l i c h t e t , eigene W e r t u n g e n a n z u s t e l l e n . 1 1 4 D i e p r o z e d u r a l e n S i c h e r u n g e n k ö n n e n d a b e i a u c h v o m privaten R e g e l s e t z e r selbst g e s c h a f f e n w e r d e n . Er hat es d a m i t in der H a n d , d u r c h e n t s p r e c h e n d e Ausg e s t a l t u n g des N o r m i e r u n g s v e r f a h r e n s d a f ü r S o r g e zu t r a g e n , dass die von ihm p r o d u z i e r t e n N o r m e n „ g e m e i n w o h l r i c h t i g " sind und bei der R e c h t s f i n d u n g ents p r e c h e n d b e r ü c k s i c h t i g t w e r d e n . Ein gutes Beispiel einer derartigen S e l b s t n o r m i e r u n g liefert das N o r m u n g s v e r f a h r e n der D I N - A u s s c h ü s s e , das in einer eigenen N o r m ( D I N 8 2 0 : N o r m u n g s a r b e i t - G r u n d s ä t z e und G e s c h ä f t s g a n g ) niedergelegt i s t . 1 1 5 Ein k u r z e r Ü b e r b l i c k ü b e r seinen A b l a u f zeigt, dass es auch o h n e gesetzliche Vorgabe geht: Eingeleitet w i r d das N o r m u n g s v e r f a h r e n d u r c h einen Antrag,

den j e d e r m a n n ,

u . a . a u c h der als s t ä n d i g e r A u s s c h u s s b e i m D I N e.V. e i n g e r i c h t e t e „ V e r b r a u c h e r r a t " , stellen k a n n . W i r d er a n g e n o m m e n , erstellt der jeweils zuständige F a c h a u s schuss, in d e m die „ i n t e r e s s i e r t e n K r e i s e " in e i n e m „ a u s g e w o g e n e n V e r h ä l t n i s " vertreten sein sollen, einen Normentwurf.

D i e s e r Flntwurf wird n a c h Prüfung

d u r c h die N o r m e n p r ü f s t e l l e veröffentlicht,

w o r a u f in F a c h z e i t s c h r i f t e n hingewie-

sen w i r d . I n n e r h a l b einer b e s t i m m t e n Frist k a n n j e d e r m a n n S t e l l u n g n a h m e n und Einsprüche

gegen den E n t w u r f b e i m F a c h a u s s c h u s s a n b r i n g e n . D e r A u s s c h u s s be-

rät n a c h A b s c h l u s s der E i n s p r u c h s f r i s t unter A n h ö r u n g der E i n s p r e c h e n d e n er-

Scbmidt-Preuß in: Kloepfer, Selbst-Beherrschung, S. 95ff.; dcrs. in: Säcker, Reform des Energierechts, S.45ff.; anders aber GroßkommHGB/Hommelhoff/Scbwab, § 342 Rn. 19, 55, 79. 1,4 Marburger, Regeln, S.402. Näher dazu unten, § 10 A.II.3. (S.340f.). 115 Dazu Marburger, VersR 1983, 597, 599; ders., Regeln, S.200ff.; Scbwierz, Privatisierung, S. 23f.; zum ähnlich gestalteten Verfahren der schweizerischen Normenvereinigungen A. Brunner, Technische Normen, S.77ff.; zur Normungsarbeit technischer Verbände aus sozialwissenschaftlicher Sicht Brennecke, Normsetzung durch private Verbände (1996).

B. Selbstreguliemng als staatsrechtliches

Problem

71

neut. Werden die Differenzen nicht beigelegt, so kann sich ein Schieds- oder Schlichtungsverfahren

anschließen. Nach dessen Abschluss wird die N o r m , falls

der Einspruch nicht zur Zurückziehung des Entwurfs führt, gegebenenfalls in veränderter Fassung endgültig verabschiedet und durch bestimmte, meist verbandseigene Fachverlage als gedrucktes Regelblatt veröffentlicht.

Auf das Erscheinen

wird in Fachzeitschriften, teilweise auch im Bundesanzeiger, hingewiesen. Die veröffentlichten Regeln werden in bestimmten Zeitabständen, gewöhnlich alle fünf Jahre, überprüft und erforderlichenfalls angepasst

oder zurückgezogen.

Sehen wir von der Frage, o b dieses private „Gesetzgebungsverfahren" Vorbildfunktion hat, einmal ab, 1

lfi

so kann doch nicht behauptet werden, dass es derarti-

ge Defizite aufwiese, dass eine „Gemeinwohlrichtigkeit" der D I N - N o r m e n nur durch Schaffung eines Normungsgesetzes gewährleistet werden könnte. Was das „Vorverfahren" und die Beteiligung der Allgemeinheit angeht, ist das DIN-Verfahren dem Gesetzgebungsverfahren sogar insoweit überlegen, als Eingaben der Allgemeinheit ohne weiteres möglich sind. Weitgehend unbeleuchtet ist die Frage geblieben, o b nicht dem geltenden Zivilrecht

M a ß s t ä b e entnommen werden kön-

nen, um auf ähnliche Weise zu einem beweglichen Koordinatensystem zu gelangen. Der Gedanke gemeinwohlverbürgender Kautelen, der aus Sicht der Verfassung dem parlamentarischen Verfahren eignet, wäre dazu auch im Bürgerlichen Recht fruchtbar zu machen. Wir werden diesen Gedanken im zweiten Teil der Arbeit aufgreifen. e. Fazit Normsetzung durch Private wird rechtserheblich, wenn der Staat ausdrücklich oder über Generalklauseln die Beachtung privat gestalteter Sollenssätze verlangt. Dabei sind zwei Schranken von Bedeutung: N o r m e n , die im weitesten Sinne durch „Unterwerfung" privatautonom legitimiert sind, müssen die inneren Grenzen dieser Legitimation einhalten. Wie diese zu bestimmen sind, entscheiden in erster Linie die Wertungen des Privatrechts. Für N o r m e n , die auch im weiteren Sinne nicht privatautonom legitimiert sind, ergeben sich die Schranken unmittelbar aus der Verfassung, wobei folgende Abstufung gilt: (1) Normen mit zwingender Wirkung, welche zu intensiven Grundrechtsbeschränkungen führen, darf nur der Gesetzgeber, in den Grenzen des Art. 8 0 G G auch die Exekutive erlassen. (2) Zwingende Normen, die keine intensive Grundrechtseinschränkung bewirken, können auch von Zwangskörperschaften erlassen werden, soweit sie sich dabei im R a h m e n ihrer eigenen Angelegenheiten halten. (3) N o r m e n , die lediglich eine Empfehlung darstellen, dürfen von Privaten formuliert und vom Staat in ihrer jeweiligen Fassung anerkannt werden. O b und in welchem Umfang die N o r m rechtserhebliche Vermutungen begründet, hängt davon ab, inwieweit bei ihrer Aufstellung prozedurale Vorkehrungen beachtet wurden, die ihre „Gemeinwohlrichtigkeit" gewährleisten.

1,6

D a z u n o c h u n t e n , § 11 A . I I I . 3 . ( S . 3 6 6 f . ) .

72 II.

§.} Der staatswissenschaftliche

Rahmen

Verwaltungslehre

Im G e g e n s a t z z u m V e r f a s s u n g s r e c h t k o m m t d e m V e r w a l t u n g s r e c h t grundsätzlich k e i n e das Z i v i l r e c h t b i n d e n d e W i r k u n g zu. D e n n o c h l o h n t ein vergleichender Blick a u f die v e r w a l t u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e S i c h t der D i n g e , um zu sehen, wie m a n hier m i t d e m P h ä n o m e n g e s e l l s c h a f t l i c h e r S e l b s t r e g u l i e r u n g u m g e h t .

1. „Feinsteuerung"

durch

Privatrecht?

H a t t e das d e u t s c h e V e r w a l t u n g s r e c h t m i t der K o d i f i z i e r u n g des V e r w a l t u n g s v e r f a h r e n s in den siebziger J a h r e n eine gewisse K o n s o l i d i e r u n g e r f a h r e n , w u r d e es d u r c h den partiellen R ü c k z u g des S t a a t e s im R a h m e n von Privatisierung und D e regulierung u n d die d a m i t e i n h e r g e h e n d e I n f o r m a l i s i e r u n g seiner H a n d l u n g s f o r men zu einer N e u b e s i n n u n g v e r a n l a s s t . M i t Begriffen wie „ k o o p e r a t i v e r S t a a t " , „ K o - R e g u l i e r u n g " o d e r „regulierte S e l b s t r e g u l i e r u n g " v e r s u c h t m a n heute der gew a n d e l t e n R o l l e eines S t a a t e s R e c h n u n g zu t r a g e n , der in i m m e r s t ä r k e r e m M a ß e zu k o o p e r a t i v e n M i t t e l n greift, u m g e m e i n s a m m i t p r i v a t e n A k t e u r e n ö f f e n t l i c h e Interessen zu v e r w i r k l i c h e n . " 7 D e m k o r r e s p o n d i e r t ein neues V e r s t ä n d n i s von S t a a t s v e r a n t w o r t u n g , die n i c h t m e h r in einer E r f ü l l u n g s - , s o n d e r n z u n e h m e n d in einer sog. Gewährleistungsverantwortung

gesehen w i r d : D e r S t a a t gibt den An-

s p r u c h a u f alleinige G e m e i n w o h l v e r w i r k l i c h u n g a u f , g a r a n t i e r t aber, dass diese im Z u s a m m e n w i r k e n mit a n d e r e n , privaten A k t e u r e n e r r e i c h t w e r d e n k a n n . n t i Die V e r w a l t u n g s r e c h t s d o g m a t i k g e r ä t d u r c h dieses U m d e n k e n in gewisse Verlegenheit. Einerseits k a n n und will m a n v o r n e u e n , k o o p e r a t i v e n H a n d l u n g s f o r m e n die Augen n i c h t v e r s c h l i e ß e n , a n d e r e r s e i t s lassen sie sich n i c h t o h n e weiteres mit herk ö m m l i c h e n H a n d l u n g s f o r m e n der V e r w a l t u n g in E i n k l a n g bringen.

Manche

S t i m m e n sehen d a h e r in der Z u n a h m e i n f o r m a l e r und k o o p e r a t i v e r E l e m e n t e tendenziell G e f a h r e n für den R e c h t s s t a a t h e r a u f z i e h e n , " 9 a n d e r e v e r s u c h e n , durch deren I n t e g r a t i o n das V e r w a l t u n g s r e c h t zu einer A r t R e g u l i e r u n g s r e c h t fortzubilden.120 W o h i n diese E n t w i c k l u n g führen w i r d , ist derzeit n i c h t a b s e h b a r und hier nicht zu d i s k u t i e r e n . I n t e r e s s a n t e r ist eine a n d e r e Feststellung. Allen P o s i t i o n e n , seien sie k o n s e r v a t i v , seien sie progressiv, ist eine ü b e r w i e g e n d „ m o d a l e " Sicht der D i n 117 Vgl.Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 115 ff.; aus der ausufernden Literatur im Übrigen nur Hoffmann-Riem, Modernisierung, S. 24ff.; ferner die Referate von Heintze und Voßkuhle in VVDStRI. 62 (2003), jew. m.w.N.; begriffsprägend zum „kooperativen Staat" Ritter, AöR 104 (1979), 389ff. Aus dem angelsächsischen Schrifttum exemplarisch Gunningkam/Rees, 19 Law & Policy 363, 398 (1997). Iltf Hoffmann-Riem, Modernisierung, S.24 (u.ö.); Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S. 115 (u.ö.); Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), S.266, 307ff. (alle m.w.N.). Siehe auch schon Ossenhühl, VVDStRL 29 (1971), S. 137, 149 und Gallwas, VVDStRL 29 (1971), S.212ff. 119 Vgl. Di Fahio, VVDStRL 56 (1997), 235, 252ff.; Schlett, Die Verwaltung als Vertragspartner, S. 221 ff. 1 2 0 In diese Richtung etwa Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 917ff.; Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), 266, 307ff. („Gewährleistungsverwaltungsrecht").

B. Selbstregulierwig

als staatsrechtliches

Problem

73

ge g e m e i n . 1 2 1 K r i t i k e r wie B e f ü r w o r t e r sehen in (regulierter) S e l b s t r e g u l i e r u n g v o r a l l e m einen W e g a l t e r n a t i v e r staatlicher

Steuerung.

D i e M i t t e l der S t e u e r u n g m ö -

gen sich w a n d e l n , der S t e u e r u n g s a n s p r u c h b l e i b t b e s t e h e n , w o b e i d e m P r i v a t r e c h t die A u f g a b e einer „ F e i n s t e u e r u n g " zufallen s o l l . 1 2 2 Bildlich g e s p r o c h e n : D i e ges e l l s c h a f t l i c h e n K r ä f t e w e r d e n n i c h t sich selbst ü b e r l a s s e n , s o n d e r n

„ a u f die

M ü h l r ä d e r der ö f f e n t l i c h e n G e w a l t " g e l e n k t , 1 2 ' w e l c h e sich der Privaten b e d i e n t , u m G e m e i n w o h l b e l a n g e im „ H u c k e p a c k v e r f a h r e n " zu v e r w i r k l i c h e n . 1 2 4 D a b e i wird das S p a n n u n g s v e r h ä l t n i s a u s g e b l e n d e t , in das diese S i c h t z u m klassischen S e l b s t v e r s t ä n d n i s des P r i v a t r e c h t s g e r ä t . S e i n e m t r a d i t i o n e l l e n L e i t b i l d , der Privata u t o n o m i e e n t s p r e c h e n d soll der B ü r g e r e b e n n i c h t die P ä c k c h e n eines m ü d e gew o r d e n e n S t a a t e s s c h l e p p e n und soll „ s e i n " R e c h t , das Z i v i l r e c h t , a u c h k e i n e „ F e i n s t e u e r u n g " b e w e r k s t e l l i g e n , s o n d e r n dazu b e i t r a g e n , dass sich private W i l l k ü r frei, d . h . s p o n t a n , e n t f a l t e n k a n n . 1 2 5 N u n ist dieses Leitbild im 2 0 . J a h r h u n d e r t z u n e h m e n d in die K r i t i k g e r a t e n und m u s s t e der V o r s t e l l u n g eines „ s o z i a l e n " P r i v a t r e c h t s Platz m a c h e n , die in den siebziger J a h r e n in die - r h e t o r i s c h e , a b e r n i c h t o h n e E r n s t gestellte - F r a g e m ü n d e t e , o b es n i c h t an der Z e i t sei, das P r i v a t r e c h t g a n z im ( s c h e i n b a r ü b e r l e g e n e n ) ö f f e n t lichen R e c h t a u f g e h e n zu l a s s e n . 1 2 6 Die V o r z e i c h e n w a n d e l t e n sich, als D e r e g u l i e r u n g s t e n d e n z e n im W e s t e n und der Z u s a m m e n b r u c h des S o z i a l i s m u s im O s t e n der „ P r i v a t r e c h t s g e s e l l s c h a f t " ( B ö h m ) neues L e b e n e i n h a u c h t e n und den G e d a n ken an die o r d n u n g s p o l i t i s c h e Ü b e r l e g e n h e i t der P r i v a t a u t o n o m i e wieder a u f e r stehen l i e ß e n . 1 2 7 In d e m inzwischen zur R u h e g e k o m m e n e n , letztlich a b e r u n e n t s c h i e d e n g e b l i e b e n e n Streit zwischen „ l i b e r a l e r " und „ s o z i a l e r " P r i v a t r e c h t s t h e o rie s c h e i n t sich zu Letzterer b e k e n n e n zu m ü s s e n , w e r aus S i c h t des Z i v i l r e c h t s an die r e g u l i e r u n g s r e c h t l i c h e n M o d e l l e des m o d e r n e n V e r w a l t u n g s r e c h t s a n k n ü p f e n will. M a n e n t g e h t diesem D i l e m m a , w e n n m a n zu e i n e m P r i v a t r e c h t s v e r s t ä n d n i s z u r ü c k f i n d e t , das - in der T r a d i t i o n Iherings - w e d e r den freiheitlichen n o c h den b e g r e n z e n d e n , s o n d e r n den ermöglichenden

C h a r a k t e r des P r i v a t r e c h t s h e r v o r -

hebt. P r i v a t r e c h t zieht d a n a c h n i c h t lediglich G r e n z e n , i n n e r h a l b derer der E i n z e l n e frei s c h a l t e n k a n n , und es b e s c h r ä n k t sich a u c h n i c h t a u f die Z u w e i s u n g v o n R e c h t s g ü t e r n . V i e l m e h r s c h a f f t es eine I n f r a s t r u k t u r , die den R e c h t s g e n o s s e n jenBegriff nach Schmidt-Preuß, VVDStRI. 56 (1997), 160, 165. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, S.27; ders. in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann, Auffangordnungen, S. 1 18; s. auch Möllers, Staat als Argument, S.303. Vgl. dazu auch schon Franz Neumann, Die Herrschaft des Gesetzes, S.40: „Das bürgerliche Gesetzbuch ist ein typischer Fall von indirekter Regulierung der sozialen Verhältnisse durch den Staat". I2' Di Fahio, VVDStRI. 56 (1997), S.269 Fn. 139. 124 Hoffmann-Riem, Modernisierung, S. 31. 125 Prägnant Flume, Rechtsgeschäft, S. 6f.; aus neuerer Zeit Ritgen, J Z 2 0 0 2 , 114, 117. 126 Vgl. Großfeld, Zivilrecht als Gestaltungsaufgabe (1977); sorgenvoll auch schon Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1967), S.624 a.E. 127 Vgl. etwa Bydlinski, AcP 194 (1994), S. 319, 341 ff.; ders.. Das Privatrecht im Rechtssystem der „Privatrechtsgesellschaft", S.62ff.; Zöllner, AcP 198 (1998), 123; ders., Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, S.48 f.; Reichold, Sozialprivatrecht, S. 403ff. 121 122

74

§3 Der staatswissenschaftliche

Rahmen

seits des trivialen H a n d t a u s c h e s v o r a u s s e t z u n g s v o l l e s H a n d e l n e r m ö g l i c h t , als dessen E r t r a g sich w o h l f a h r t s - und, weil neue G e s t a l t u n g s s p i e l r ä u m e e r ö f f n e n d , f r e i h e i t s f ö r d e r n d e K o o p e r a t i o n s g e w i n n e e i n s t e l l e n . 1 2 8 Ein so v e r s t a n d e n e s Privatr e c h t t r ä g t die S c h r a n k e n p r i v a t e r R e g e l u n g s m a c h t n i c h t v o n a u ß e n an die Privata u t o n o m i e h e r a n , s o n d e r n versteht sie als V o r b e d i n g u n g , d a m i t das Z i v i l r e c h t seine g e s e l l s c h a f t l i c h e und ö k o n o m i s c h e A u f g a b e erfüllen k a n n . P r i v a t r e c h t g e w i n n t d a m i t n i c h t n u r - w i e d e r - A n s c h l u s s an o r d n u n g s ö k o n o m i s c h e E i n s i c h t e n ; es erl a u b t a u c h ein V e r s t ä n d n i s , w e l c h e s die ü b e r die Z e i t e n t s t a n d e n e n r e c h t s g e s c h ä f t lichen G e s t a l t u n g s f o r m e n in ihrer i n s t r u m e n t a l e n B e d e u t u n g f u n k t i o n s a d ä q u a t zu deuten und f o r t z u b i l d e n w e i ß . 1 2 9 D a m i t , und das ist an dieser Stelle e n t s c h e i d e n d , gelingt der B r ü c k e n s c h l a g zu einer g e s t a l t u n g s o r i e n t i e r t e n

Normsetzungslehre,

wie sie uns in G e s t a l t des v e r w a l t u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h e n M o d e l l s einer „ r e g u l a t o ry c h o i c e " e n t g e g e n t r i t t .

2. „Regulatory

Choice"

W ä h r e n d im ö f f e n t l i c h e n R e c h t hin und wieder a u f die s t a a t s e n t l a s t e n d e B e d e u tung privater N o r m g e b u n g hingewiesen w u r d e , fehlte es lange an e i n e m M o d e l l , das private R e g e l s e t z u n g in den „ B a u k a s t e n " s t a a t l i c h e r H a n d l u n g s f o r m e n zu integrieren w u s s t e . Ein s o l c h e s M o d e l l , das sich mit Blick a u f unser T h e m a als f r u c h t b a r erweisen k ö n n t e , ist u . a . v o n S c h u p p e r t vorgestellt w o r d e n . " 0 A u s g e h e n d v o m b e s c h r i e b e n e n Ü b e r g a n g von der s t a a t l i c h e n Erfüllungs- zur G e w ä h r l e i s t u n g s v e r a n t w o r t u n g plädiert er dafür, bei der B e t r a c h t u n g

nicht-staatlicher

R e g e l s e t z u n g einen P e r s p e k t i v e n w e c h s e l v o r z u n e h m e n . S t a t t wie bisher den vorh a n d e n e n F o r m e n p r i v a t e r o d e r k o o p e r a t i v e r R e g e l s e t z u n g mit Hilfe des R e c h t s staats- und D e m o k r a t i e p r i n z i p s L e g i t i m a t i o n s d e f i z i t e zu a t t e s t i e r e n , sei, so S c h u p pert, die Perspektive des in R e d e s t e h e n d e n R e g e l u n g s b e r e i c h e s e i n z u n e h m e n und der F r a g e n a c h z u g e h e n , o b sich n i c h t aus den E i g e n a r t e n und den S t r u k t u r e n des R e g e l u n g s b e r e i c h e s g e w i s s e A n f o r d e r u n g e n an den N o r m s e t z u n g s p r o z e s s e r g ä b e n . " 1 D a m i t v e r b u n d e n sei der Verzicht a u f die V o r s t e l l u n g eines s t a a t l i c h e n N o r m s e t z u n g s m o n o p o l s , die z u g u n s t e n der F r a g e n a c h der je f u n k t i o n s a d ä q u a t e n 128 Bachmann, Privatrecht als Organisationsrecht, in: Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 2 , 9 , 2 0 f . (unter Hinweis auf Ihering, Der Zweck im Recht I, S . 2 7 f f . , 54ff.); vgl. auch Windbichler, AcP 198 ( 1 9 9 8 ) , 2 6 1 , 2 7 1 ; Rückert, Legitimation, S. 144, 161 f., 178ff. (Privatrecht als „Hilfe zur Selbsthilfe"). 129 Soziologisch verklausuliert: „Verfügt das |Privatrecht] über hinreichend ausgearbeitete Rechtsformen, die dem dritten Sektor Gelegenheit bieten, autonome Rationalitäten auch rechtlich zu instrumentalisieren?" (Teubner, ZfRSoz 19 ( 1 9 9 8 ) , S . 2 8 ) . 1 . 0 Zum Folgenden ausführlich Schuppert, Staatswissenschaft, S. 4 9 9 f f . ; ders., Verwaltungswissenschaft, S. 960ff.; ders., Gute Gesetzgebung ( 2 0 0 2 ) ; ders./Bumke, Standardsetzung, S. 71 ff. Ähnliche Überlegungen bei Hoffmann-Riem (Öffentliches Recht und Privates Recht als wechselseitige Auffangordnungen, S . 2 6 1 ff.) und Ausgsberg (Rechtsetzung zwischen Staat und Gesellschaft, S . 3 1 7 f f . ). - Explizit instrumentaler Ansatz („tools approach") in der angelsächsischen Verwaltungslehre bei Salamon, The Changing Tools of Government Action, in: ders., Beyond Privatisation, S. 3 ff. 1.1

Verwaltungswissenschaft, S . 9 6 4 .

ß. Selbstregulierung

als staatsrechtliches

Problem

75

rechtlichen Regelungsform aufzugeben s e i . " 2 Regelungsebene und Regelungsart stellten sich so gesehen als Auswahlproblem dar, als Frage nach sachangemessener Ausübung einer „regulatory c h o i c e " . " ' Der vorgeschlagene Perspektivenwechsel erscheint aus mehreren Gründen gewinnbringend. So befriedigt es in der Tat nicht, wenn sich der Jurist auf eine destruktive Beobachterrolle zurückzieht, anstatt durch Einnahme einer gestaltenden Sichtweise dazu beizutragen, das Regelungspotential des Rechts konstruktiv auszuschöpfen. 134 Das praktische Bedürfnis nach kreativen Instrumenten ist gerade im Bereich privater Regelsetzung unübersehbar. Bereits bei der Betrachtung des ordoliberalen Sozialmodelles hatten wir darauf hingewiesen, dass die „reine" Lehre, die zwischen Gesetz und Vertrag keine kooperative Regelsetzung dulden oder wahrhaben will, an der Überschätzung staatlicher Regulierungskapazitäten scheitert."^ Auch methodisch gesehen vermag der instrumentale Ansatz zu überzeugen. Im Verwaltungs- wie im Zivilrecht beobachten wir immer wieder, dass eine Dogmatik, die nicht vom Regelungsproblem, sondern von der dogmatischen Figur an neue Fragen herangeht, tendenziell Scheinlösungen produziert, die auf Dauer für Praxis und Wissenschaft gleichermaßen unbefriedigend sind. 136 Insgesamt spricht daher vieles dafür, das Konzept einer „regulatory choice" fortzuschreiben. Dabei darf allerdings eines nicht übersehen werden: Der Perspektivenwechsel lenkt den Blick weg von der Legitimations- auf die Auswahlfrage, lässt erstere aber nicht verschwinden. Das sieht auch Schuppert, wenn er - in Anlehnung an frühere Überlegungen von Ossenbühl - die Forderung aufstellt, demokratische und rechtsstaatliche Grunderfordernisse mit dem Anliegen funktionsadäquater Rechtsetzung zu „synchronisieren"." 7 Seine „Ausbuchstabierung" dieser Synchronisation läuft im Wesentlichen auf jene Erfordernisse privater Normsetzung hinaus, die wir oben bei der Betrachtung der staatsrechtlichen Perspektive bereits kennen gelernt hatten, namentlich also pluralistische Gremienbesetzung, transparentes Verfahren und Beteiligung staatlicher Stellen." 8 Interessanter ist ein anderer Hinweis. Mit der rahmenhaften Festlegung legitimatorischer Anforderungen an den Regelsetzungsprozess geht es weniger um „Steuerung" als um Ermöglichung kooperativen Verhaltens, mithin um eine andere Wirkung von Recht. Schuppert kennzeichnet sie anschaulich als „Bereitstellungsfunktion" 1,9 und beschreibt damit eben jene Leistung, die auch und vor allem das Zivilrecht erbringt, wenn es privaten Akteuren eine Infrastruktur zur Verfügung stellt, mit deren Hilfe Kbd., S . 9 6 1 , 9 7 0 . Kbd., S . 9 6 0 , 9 6 7 f f . 1 . 4 Aus Sicht des Privatrcchts Mertens, AG 1982, 2 9 , 3 I; Schanze, Investitionsverträge, S. 15. 1 . 5 Oben § 1 A.II.2. ( S . I I ) . 1 . 6 Grundsätzlich Esser, AcP 172 ( 1 9 7 2 ) , 97ff.; auch schon ders., Wert und Bedeutung der Rechtsfiktionen, insbes. S. 199ff.; v. Hippel, Rechtstheorie, S. 3 6 f f . (u.ö.); vom rechtsvergleichenden Standpunkt Kötz, Rechtsdogmatik, S. 75ff. "' Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S . 9 6 4 . ns Vgl. Schuppert/Bumke, Standardsetzung, S. 119ff. Ebd., S. 114. Siehe auch ders., Verwaltungswissenschaft, S . 9 3 2 f . , 9 7 6 . 1,2 n i

76

§3 Der staatswissenschaftliche

Rahmen

a u s b e u t u n g s f r e i e und d a m i t langfristig w o h l f a h r t s f ö r d e r n d e K o o p e r a t i o n s g e w i n ne erzielt w e r d e n k ö n n e n . 1 4 0

C. Selbstregulierung

als soziologisches

Problem

S e l b s t r e g u l i e r u n g verlagert R e g e l s e t z u n g v o m S t a a t in die G e s e l l s c h a f t . D a m i t ö f f net sich ein weites A n w e n d u n g s f e l d für A n s ä t z e d e r j e n i g e n Disziplin, die sich die E r f o r s c h u n g g e s e l l s c h a f t l i c h e r Z u s a m m e n h ä n g e zum Anliegen g e m a c h t hat. E n t w i c k e l t e die Ö k o n o m i k v e r s c h i e d e n e T h e o r i e n der R e g u l i e r u n g , so k a n n die Soziologie zu w e i t e n Teilen als L e h r e der S e l b s t r e g u l i e r u n g gelesen w e r d e n .

I. S o z i o l o g i e u n d R e c h t Eine so v e r s t a n d e n e S o z i o l o g i e k a n n dazu v e r f ü h r e n , das T h e m a S e l b s t r e g u l i e r u n g a u s s c h l i e ß l i c h a u s r e c h t s s o z i o l o g i s c h e r Perspektive zu e r ö r t e r n . U m dieser Versuc h u n g zu w i d e r s t e h e n , ist z u n ä c h s t die F r a g e zu e r ö r t e r n , w e l c h e n E r k e n n t n i s g e w i n n der s o z i o l o g i s c h e A n s a t z für die J u r i s p r u d e n z ü b e r h a u p t v e r s p r i c h t .

1. Rechtssoziologie

als Lehre der

Selbstregiilierung

Z u m K e r n b e s t a n d des r e c h t s s o z i o l o g i s c h e n K a n o n s r e c h n e n K o n z e p t e , die mit Begriffen wie „ R o l l e " , „ N o r m " o d e r „ S a n k t i o n " u m s c h r i e b e n w e r d e n . 1 4 1 Sie alle lassen sich m i t G e w i n n a u f selbstregulative M e c h a n i s m e n a n w e n d e n , um diese zu e r k l ä r e n , zu verstehen und u . U . zu v e r b e s s e r n . So k ö n n t e n s o z i o l o g i s c h e Einsichten zu der F r a g e , unter w e l c h e n U m s t ä n d e n sich private A k t e u r e an „ N o r m e n " h a l t e n , die n i c h t s t a a t l i c h d u r c h g e s e t z t w e r d e n , w e i t e r f ü h r e n d zur F r a g e der Bed e u t u n g sog. „ C o d e s o f C o n d u c t " sein. D i e S a n k t i o n s f o r s c h u n g k a n n ihre A u f m e r k s a m k e i t der W i r k s a m k e i t v o n „ S t r a f e n " w i d m e n , die - wie n a m e n t l i c h im Bereich der „ F r e i w i l l i g e n S e l b s t k o n t r o l l e " ü b l i c h 1 4 2 - allein im ö f f e n t l i c h e n

„An-

p r a n g e r n " eines V e r s t o ß e s b e s t e h e n . R o l l e n k o n z e p t e k ö n n t e n sich als f r u c h t b a r e r w e i s e n , w e n n es d a r u m g e h t , das V e r h a l t e n einzelner A k t e u r e i n n e r h a l b einer „ s e l b s t v e r p f l i c h t e t e n " I n s t i t u t i o n zu u n t e r s u c h e n . Viel v e r s p r e c h e n d sind ferner E i n s i c h t e n a u s den F o r s c h u n g s f e l d e r n „ H e r r s c h a f t " und „ K o n f l i k t " . 1 4 ' Sie k ö n nen dazu b e i t r a g e n , die d a u e r h a f t e S t a b i l i t ä t sozialer O r d n u n g e n zu e r k l ä r e n und

140 Ausführlich zu diesem Privatrechtsverständnis Bachmann, Privatrecht als Organisationsrecht, in: Jb.J.ZivRWiss. 2002, S.9, 20f.; zum Bild des Privatrechts als „Infrastruktur" s. Windbichler, AcP 198 (1998), 261, 271. 141 Statt aller Th. Raiser, Rechtssoziologie, S. 177ff. u. S. 243ff. (Normen), S.229ff. (Sanktionen), S. 181 (Rolle). 142 S.o., § 2 A.I.5. (S.35). I 4 i Auch dazu nur Th. Raiser, Rechtssoziologie, S.265ff. (Macht und Herrschaft), S.275ff. (Konflikt und Konfliktregelung).

C. Selbstregulierung

als soziologisches

Problem

77

außergerichtliche Schlichtungsmodelle zu entwickeln. Praktisch die gesamte Rechtssoziologie lässt sich in diesem Sinne als Lehrbuch der Selbstregulierung lesen.

2. Rechtssoziologie

und

Rechtsdogmatik

Für den Rechtswissenschaftler, der das Phänomen privat gestalteter Ordnung vor dem Hintergrund des geltenden Rechts angeht, stellt sich die Frage, ob und wie er diese Ansätze für seine eigene Disziplin verwerten kann. Sieht man von historischen Extrempositionen ab, die ihr Heil ausschließlich in der Soziologie suchten, sind verschiedene Antworten denkbar. Die eine besteht darin, soziologische Einsichten zu ignorieren oder in den politischen Bereich zu verbannen. 144 Dieser Ansatz steht vor dem unausweichlichen Problem, dass er jedenfalls dann nicht mehr konsequent durchgehalten werden kann, wenn er den Boden eindeutigen positiven Rechts verlässt. Auch Vertreter der „rein" juristischen Sichtweise kommen nicht umhin, bei der Bewältigung offener Rechtsfragen - der „ h a r d cases" im Sinne Dworkins - der „Sachgerechtigkeit" der präferierten Lösung entscheidendes Gewicht beizumessen. 145 Damit aber beziehen sie mehr oder minder ausgesprochen die tatsächlichen Strukturen des zu regelnden Sachbereiches in ihre Lösung mit ein. Dann ist es nicht mehr gerechtfertigt, Erkenntnisse derjenigen Disziplin, die sich der wissenschaftlichen Aufhellung eben jener Sachstrukturen annimmt, von vornherein aus dem Bereich dogmatischen Arbeitens zu verbannen. Kritiker, die diese Schwäche erkannten, haben wiederholt versucht, den umgekehrten Weg zu beschreiten und dogmatische Begriffe durch offene Übernahme soziologischer Konzepte auszufüllen. Prominente Beispiele sind die Identifizierung von Unternehmen und Organisation (Th. Raiser) 1 4 6 , die Ersetzung der Vertrauenshaftung durch eine auf Selbstdarstellung, Rollenübernahme und Reziprozität gestützte „Selbstbindung ohne Vertrag" (Köndgen) 147 oder die Identifizierung von Rechtsnormen mit sozialen Normen (Meyer-Cording). 148 Auch dieser Weg erweist sich, wie im Verlauf der Arbeit zu sehen sein wird, als problematisch. Die Bedenken, denen er trotz seiner fruchtbaren Impulse ausgesetzt bleibt, liegen weniger in der stereotyp angeprangerten Vermengung von Sein und Sollen als in 144 Ausdrücklich anerkannt wird die Bedeutung der Soziologie in der Rechtsvergleichung (s. Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, S. 10ff.). Allerdings bleibt es meist beim Lippenbekenntnis, kritisch dazu mit Recht van Aaken, Jb.J.ZivRWiss. 2 0 0 0 , S. 133ff. 145 Charakteristisch Fiume, der mit sicherem Judiz immer wieder auf die „Sachgerechtigkeit" seiner Lösungen verweist (vgl. Fiume, Personengesellschaft, S . 3 1 7 , 3 2 6 ; ders., Rechtsgeschäft, S. 2 2 9 , 2 3 2 , 6 6 1 F n . 7 2 a.E.), diese aber als nicht weiter begründungsbedürftig empfindet. Dass dabei unausgesprochen auch soziologische Einsichten zum Tragen kommen, zeigt sich etwa an seiner „Gruppenlehre", s. dazu mit Nachweisen B G H Z 146, 3 4 1 , 3 4 4 . 14,1 Th. Raiser, Das Unternehmen als Organisation, 1 9 6 9 . Einen verwandten, ebenfalls organisationssoziologisch inspirierten Ansatz präsentierte im selben Jahr Philip Selznick (Law, Society, and Industriai Justice, 1969, S . 4 3 f f . ) . 147 148

Köndgen, Selbstbindung ohne Vertrag, 1 9 8 1 . Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, 1971.

78

$.3 Der staatswissenschaftliche

Rahmen

d e m u n v e r m i t t e l t e n Ü b e r f ü h r e n s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e r in rechtliche K a t e g o r i e n , w a s m a n g e l s Ü b e r s e t z u n g u n a u s w e i c h l i c h zu S y s t e m b r ü c h e n führen m u s s . 1 4 9

II. S t e u e r u n g s - v e r s u s e v o l u t i o n s t h e o r e t i s c h e r A n s a t z W i l l m a n sich den s o z i o l o g i s c h e n E i n s i c h t e n n i c h t v e r s c h l i e ß e n , o h n e sie unverm i t t e l t in r e c h t s d o g m a t i s c h e K a t e g o r i e n zu ü b e r f ü h r e n , ist n a c h e i n e m dritten W e g A u s s c h a u zu h a l t e n . 1 5 0 E i n s o l c h e r k ö n n t e z u n ä c h s t in der w i e d e r h o l t und m i t R e c h t g e f o r d e r t e n B e r ü c k s i c h t i g u n g e m p i r i s c h e r E r k e n n t n i s im juristischen D i s kurs liegen. F ü r den t h e o r e t i s c h e n A n s a t z , d e m die v o r l i e g e n d e A r b e i t v e r p f l i c h t e t ist, sind a n d e r e K o n z e p t e interessanter, w o b e i sich der W e g in zwei R i c h t u n g e n gabelt. D a r i n spiegelt sich die S c h e i d u n g in g e p l a n t e und s p o n t a n e O r d n u n g wider, der w i r bei der V o r s t e l l u n g sozialer O r d n u n g s k o n z e p t e bereits begegnet sind.

1. Soziologie

als

Steuerungslehre

E i n e erste, m i t der zweiten v e r f l o c h t e n e und d o c h von ihr zu scheidende D e n k r i c h t u n g ist s t e u e r u n g s t h e o r e t i s c h g e p r ä g t , e n t s p r i c h t a l s o , g r o b gesagt, d e m O r d n u n g s m u s t e r „ P l a n u n g " . A u t o r e n , die dieser S i c h t w e i s e verpflichtet sind, b e s c h ä f tigen sich m i t der F r a g e , o b und wie m e n s c h l i c h e s V e r h a l t e n durch soziale M e c h a nismen in eine b e s t i m m t e R i c h t u n g g e l e n k t wird o d e r w e r d e n k a n n . D a b e i spielen drei H e r a n g e h e n s w e i s e n eine R o l l e , die sich s c h l a g w o r t a r t i g den F o r s c h u n g s a n sätzen I m p l e m e n t a t i o n s f o r s c h u n g ,

Systemtheorie

und

Organisationssoziologie

z u o r d n e n lassen. a.

Implementationsforschung

D i e I m p l e m e n t a t i o n s f o r s c h u n g , die sich mit der U m s e t z u n g politischer P r o g r a m m e in die W i r k l i c h k e i t b e f a s s t , p r ä s e n t i e r t sich in einer e m p i r i s c h e n und in einer t h e o r e t i s c h e n V a r i a n t e , von d e n e n hier nur die letzte interessiert. I n s o w e i t verdient eine als S t e u e r u n g s l e h r e

bezeichnete

Konzeption

Aufmerksamkeit,

die

R e c h t in erster Linie als S t e u e r u n g s i n s t r u m e n t zur U m s e t z u n g politischer Z i e l v o r gaben begreift.151 Dabei werden verschiedene Steuerungsmodi unterschieden:152 (1) R e g u l a t i v e S t e u e r u n g (Bsp.: G e - und V e r b o t e ) , (2) A n r e i z s t e u e r u n g (Bsp.: BeVgl. Teubner, Autopoietisches Recht, S. 123. Um ihn hat sich in Deutschland vor allem Teubner bemüht, vgl. dersOrganisationsdemokratie, S. 162f. (und öfter); ders., Autopoietisches Recht, S. 123ff. 151 Vgl. insbes. Mayntz, Gesellschaftliche Selbstregelung (1995); dies., Implementation (1980); s. auch Voigt, Recht als Instrument der Politik (1986); Willke, Entzauberung des Staates (1983). 1 5 2 Vgl. Mayntz, Implementation, S.236 (243ff.). Im angelsächsischen Schrifttum wird teilweise anders klassifiziert. So unterscheiden Deakin/Williamson „substantive regulation" (Geund Verbote), „procedura! regulation" (indirekte Steuerung) und „promotional regulation" (Appelle, Subventionen, Transferleistungen); s. Deakin/Williamson in: de Geest/Siegs/van den Bergh, Law and F.conomics and the Labour Market, S. 1 ff. 149 150

C. Selbstregulierung

als soziologisches

Problem

79

l o h n u n g ) , (3) L e i s t u n g s s t e u e r u n g (Bsp.: T r a n s f e r l e i s t u n g e n ) , (4) persuasive Steuer u n g (Bsp.: A u f k l ä r u n g ) , (5) p r o z e d u r a l e S t e u e r u n g (Bsp.: E m i s s i o n s z e r t i f i k a t e ) . In der J u r i s p r u d e n z ist dieser A n s a t z v o r a l l e m in der S t a a t s - und V e r w a l t u n g s r e c h t s l e h r e a u f f r u c h t b a r e n B o d e n g e f a l l e n , u n d u n s c h w e r e r k e n n t m a n in ihm die „modale"

S i c h t w e i s e des ö f f e n t l i c h e n R e c h t s wieder, v o n der o b e n die R e d e

w a r . 1 5 ' T a t s ä c h l i c h s c h a f f t die S t e u e r u n g s l e h r e ein a n a l y t i s c h e s G e r ü s t , mit dessen H i l f e die o p t i m a l e r e c h t l i c h e U m s e t z u n g b e s t i m m t e r , im p o l i t i s c h e n Prozess ents t a n d e n e r Z i e l v o r g a b e n präziser g e p l a n t und gestaltet w e r d e n k a n n . B e s o n d e r e r A u f m e r k s a m k e i t e r f r e u t e sich d a b e i in den letzten J a h r z e h n t e n die in k y b e r n e t i s c h e r T e r m i n o l o g i e als „ r e s p o n s i v " b e z e i c h n e t e S t e u e r u n g . V e r e i n f a c h t gesagt besteht sie in der I m p l e m e n t i e r u n g von S t e u e r u n g s e l e m e n t e n in den zu s t e u e r n d e n M e c h a n i s m u s selbst, der a u f diese W e i s e „ l e r n f ä h i g " g e m a c h t w i r d . 1 5 4 S t a n d a r d beispiel s o l c h e r „ B i n n e n s t e u e r u n g " im R e c h t ist der o b l i g a t o r i s c h e U m w e l t b e a u f t r a g t e , 1 5 5 a b e r a u c h die a k t i e n r e c h t l i c h e A n f e c h t u n g s k l a g e k a n n e n t s p r e c h e n d ged e u t e t w e r d e n . 1 5 6 M i t ihr e r h o f f t m a n sich, d e m im m o d e r n e n S o z i a l s t a a t i m m e r w i e d e r d i a g n o s t i z i e r t e n „ S t e u e r u n g s v e r l u s t " w i r k s a m e r b e g e g n e n zu k ö n n e n . 1 5 7 In m o d e r n e n B e i t r ä g e n zur S e l b s t r e g u l i e r u n g wird dieser A n s a t z g e r n e aufgegriffen.

b.

Systemtheorie

Eine ä h n l i c h e S i c h t w e i s e findet sich in A n s ä t z e n der S y s t e m t h e o r i e wieder, von denen die S t e u e r u n g s l e h r e in n e u e r e r Z e i t m a ß g e b l i c h e I m p u l s e e m p f a n g e n h a t . ' 5 8 A u s g e h e n d v o n der k a t e g o r i a l e n S c h e i d u n g des R e c h t s s y s t e m s von a n d e r e n gesells c h a f t l i c h e n S y s t e m e n ( W i r t s c h a f t , Politik) wird a u c h d o r t die F r a g e a u f g e w o r f e n , w i e das R e c h t s e i n e m eigenen A n s p r u c h , steuernd in a n d e r e S y s t e m p r o z e s s e einzug r e i f e n , g e r e c h t w e r d e n k a n n . 1 5 9 R a d i k a l e r n o c h als in der t r a d i t i o n e l l e n Implem e n t a t i o n s f o r s c h u n g w e r d e n dazu g ä n g i g e S t e u e r u n g s m i t t e l , wie s t a a t l i c h e K o n d i t i o n a l p r o g r a m m e , in F r a g e gestellt. E i n e L ö s u n g e r h o f f t m a n sich von einer „ s t r u k t u r e l l e n K o p p l u n g " der S y s t e m e , w o m i t - s t a r k v e r e i n f a c h t - ein A n k n ü p fen des R e c h t s s y s t e m s an E i g e n g e s e t z l i c h k e i t e n der a n d e r e n S y s t e m e g e m e i n t

l 5 i Vgl. Schmidt-Aßmann in: Hoffmann-Riem (Hrsg.), Privatrecht und Öffentliches Recht als wechselseitige Auffangordnungen, S. 17; ähnlich Engel, J Z 1995, 213, der im Zivilrecht die „Fortsetzung des Wirtschaftsrechts mit anderen Mitteln" sieht. 154 Vgl. näher Etzioni, The active society, S.503ff. Vgl. E. Rehbinder, ZHR 165 (2001), 1, 8ff.; Kloepfer, Umweltrecht, § 1 Rn.55. 1 1 6 Vgl. Lutter, Der Aktionär in der Marktwirtschaft, S. 28f., 34, 44: „Innensteuerung" durch Aktionärskontrolle als selbstregulative Alternative zu staatlicher „Außensteuerung"; im nämlichen Sinne GroßkommAktG/Assman«, Einl. Rn.27, 169, 255. 1 . 7 Zum Steuerungsverlust insbes. Grimm (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben - Sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts? (1990); Schuppert, Verwaltungswissenschaft, S.429ff. 1 . 8 „Systemtheorie" ist ein Sammelbegriff, hinter dem sich unterschiedlich akzentuierte Ansätze verbergen. Die Darstellung orientiert sich am Werk Luhmanns. 1 . 9 Vgl. Teubner, Recht, insbes. S. 81 ff. (und öfter); Luhmann, Rechtssoziologie, S. 294ff., insbes. S. 318ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, insbes. S. 38ff.

80

§3

Der staatswissenschaftlicbe

Rahmen

ist. 1 6 0 Reguliert sich, um ein Beispiel zu bilden, das System „Wirtschaft" über das Medium „Geld", sind pekuniäre Regulierungstechniken das adäquate Instrument, um die operative Geschlossenheit dieses Systems gegenüber dem Rechtssystem partiell zu überwinden. Derart gestaltetes Recht wird - nicht unmissverständlich - als „prozedurales", auch „reflexives" oder „responsives" Recht bezeichnet. 1 6 1 In seiner rechtspraktischen Umsetzung deckt es sich weitgehend mit den prozeduralen Steuerungselementen der Implementationslehre. Auch dieser Ansatz wird in aktuellen Beiträgen zur Selbstregulierung aufgegriffen. 162 c. Organisationssoziologie

(„private

government")

Ein dritter, in der deutschen Rechtswissenschaft vor allem über die Arbeiten des amerikanischen Soziologen Philip Selznick rezipierter Ansatz greift auf die in der Organisationssoziologie entwickelte Theorie des „private government" zurück. 1 6 5 Ausgehend von Strukturanalogien zwischen staatlichen und privaten Verbänden erhebt diese die Forderung, private Organisationen, die sich durch Verselbständigung gegenüber den Mitgliedern und öffentliche Interessenwahrnehmung auszeichnen, zu konstitutionalisieren. 164 Private Herrschaft, namentlich in Unternehmen und Verbänden, soll durch Einbau eines „korporativen Gewissens" und rechtsstaatlicher Strukturen („rule of law") gezähmt werden. 16;> Bewerkstelligt werden kann dies - und hier berührt sich dieser Ansatz mit den bisher genannten Konzepten - durch „responsives R e c h t " . 1 6 6 Juristische Resonanz fand der Gedanke weniger in den USA, wo er sich mit seiner Forderung nach unternehmerischer Entscheidungsteilhabe der Arbeitnehmer nicht durchsetzen konnte, immerhin aber die Frage nach der so genannten „Corporate Social Responsibility" belebte, 1 6 7 als vielmehr in Deutschland, 1 6 8 wo er u.a. im Rahmen der Debatte um ein Verbändegesetz fruchtbar gemacht wurde. 1 6 9 In der jüngeren Selbstregulierungs-

°

Teubner, Recht, S. 1 0 6 f . ; Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, S . 4 4 0 f f . Vgl. nur Meier-Schatz, Wirtschaftsrecht und Unternehmenspublizität, S . 4 8 f f . ; Calliess, Prozedurales Recht, S. 122ff. 1 6 2 Vgl. etwa Aalders/Wilthagen, Law and Policy 19 ( 1 9 9 7 ) , S . 4 1 4 f f . ">' Ausführlich Teubner, Organisationsdemokratie, S. 125, 2 2 6 f . , 2 6 0 f f . , S . 2 8 9 f . 164 Selznick, Industrial Justice, S. 35: „The issue is: Can we justify the application to private organizations of principles hitherto restricted to public government?" Die Frage wird bejaht, denn: „The basic problem is the same, in both spheres: ,how executive power can be controlled by law and also, so to speak, colonized by legal principles of fair and proper procedure" (ebenda, S.243). ,6

161

Vgl. Selznick, Industrial Justice, S. 3 5 f f . , 71 f. („corporate conscience"), S . 2 4 3 f f . Nonet/Selznick, Law and Society in Transition: Toward Responsive Law ( 1 9 7 8 ) . 1 6 7 Vgl. insbes. C. Stone, Where the Law ends: The social control of corporate behaviour ( 1 9 7 5 ) ; ausführliche Diskussion bei Coleman, Social Theory, S. 5 5 3 f f . - Selznick selbst bezieht sich u.a. auf den Nestor des modernen amerikanischen Gesellschaftsrechts, Adolph Berle (vgl. Selznick, Industrial Justice, S. 6 6 , 71), der seinerseits auf Walter Rathenau Bezug nahm. 165 166

168 Nachweisbarer F.influss insbes. in den Arbeiten von Ott, Unternehmenskorporation ( 1 9 7 7 ) und Teubner, Organisationsdemokratie ( 1 9 7 8 ) . Ii9

Vgl. Teubner,

Organisationsdemokratie, S. 2 6 0 f f .

C. Selbstregulierung

als soziologisches

Problem

81

debatte wird der Gedanke, private Macht durch den Einbau rechtsstaatlicher Binnenstrukturen zu zügeln, wieder als fruchtbar empfunden. 1 7 0 Im Unterschied zur älteren Diskussion ist dieses Ansinnen allerdings heute weniger vom Argwohn gegenüber privater Macht getragen als von der Hoffnung, durch eine rechtsstaatlich operierende private governance den unter Steuerungsverlusten leidenden Staat zu entlasten. 1 7 1 d.

Kritik

Gemein ist allen drei Konzepten eine Sichtweise, die man als politische kennzeichnen kann. Entscheidungen über zu verwirklichende Ziele fallen im politischen Prozess, Recht hat die - zugewiesene oder selbstauferlegte - Pflicht, die Erreichung dieser Zielvorgaben in der Wirklichkeit zu sichern, kurz gesagt: Es geht um geplanten gesellschaftlichen Wandel durch Recht. 1 7 2 Damit wird nicht nur deutlich, warum soziologische Steuerungskonzepte vor allem im Verwaltungsrecht rezipiert worden sind, sondern es zeigt sich auch die besondere Interdependenz, in der soziologische Steuerungslehren und Verwaltungslehre seit jeher stehen. I 7 ! Selbstregulierung erscheint nach diesen Konzepten als eine besonders intelligente Regulierungsform, weil sie sich die Eigengesetzlichkeiten der je zu steuernden Sachbereiche („Systeme") zu Eigen macht. 1 7 4 Privatrecht wird in dieser Sichtweise praktisch ausschließlich in seinen Erscheinungsformen zwingenden und positiven Rechts wahrgenommen: (Zwingendes) Haftungsrecht motiviert am Gewinnstreben orientierte Akteure, riskantes Verhalten zu meiden, (zwingende) Publizitätspflichten bewegen an ihrem Image interessierte Handlungsträger dazu, anstößige, aber publizitätspflichtige Tätigkeiten zu unterlassen, (zwingendes) Vertragsrecht führt ohne weiteren Staatseingriff zum gerechten Austausch usw. Der Vertragsschluss wird damit zum bloßen „Auslösemechanismus" für Bedingungen, durch deren

Vgl. etwa Gunmngbam/Rees, 19 Law & Policy 3 6 3 , 3 7 6 f . , 3 8 0 f . ( 1 9 9 7 ) . Vgl. Engel, Hybrid Governance, S . 5 6 9 f f . ; ders., Private Governance, S . 2 1 , 34ff.; Knill/ Lehmkuhl, Governance and Globalization, S.81 ff.; Teubner, ZfRSoz 19 ( 1 9 9 8 ) , S . 2 7 f . , 32. Zur schillernden Governance-Vokabel Schuppert, Staatswissenschaft, S. 395ff.; Mayntz, Common goods, S. 19f.: „Today, the term governance is most often used to indicate a mode of governing that is distinct from the hierarchical control model characterizing the interventionist state. Governance is the type of regulation typical of the cooperative state, where state and non-state actors participate in mixed public/private policy networks". - Umgekehrt spricht die Institutionenökonomik mit „governance" Vertragsstrukturen an, die durch hierarchische Elemente geprägt sind (vgl. Williamson, Governance, S. 3ff.). Darin kommt die in der Einleitung angesprochene Annäherung öffentlich- und privatrechtlicher Diskurse zum Ausdruck. 170 171

¡.uhmann, Rechtssoziologie, S. 2 9 4 ff. Gut nachweisbar am Werk von ¡.uhmann, dessen Systemtheorie durch Erfahrungen als Verwaltungsjurist geprägt wurde, die dann wieder auf das Verwaltungsrecht zurückwirkte. Vgl. etwa ¡.uhmanns Betonung der „Planung" in Rechtssoziologie, S. 2 9 6 f . ; ferner ders., Legitimation durch Verfahren, S.5.5; ders., Grundrechte als Institution, S. 14ff., 86ff. 172

I7!

174

mann,

Zum Verständnis des Bürgerlichen Rechts als indirekter Staatsregulierung bereits R NeuDie Herrschaft des Gesetzes, S . 4 0 .

82

§3 Der staatswissenscbaftlicbe

Gestaltung

der S t a a t

Gesellschaft

und

Rahmen

Wirtschaft

indirekt

reguliert.175

Das

„ S e l b s t " der S e l b s t r e g u l i e r u n g reduziert sich a u f eine S e l b s t b i n d u n g , mit der sich das regulierte S y s t e m in f r e m d g e s e t z t e B i n d u n g „ v e r s t r i c k t " . 1 7 6

2 . Soziologie

als

Evolutionslebre

E r w e i s t sich s t e u e r u n g s t h e o r e t i s c h e S o z i o l o g i e d a m i t a n g e s i c h t s des k l a s s i s c h e n P r i v a t r e c h t s i d e a l s individueller S e l b s t b e s t i m m u n g als n i c h t u n p r o b l e m a t i s c h , gew i n n t die zweite D e n k r i c h t u n g an B e d e u t u n g , die ihr A u g e n m e r k auf die E v o l u t i o n sozialer I n s t i t u t i o n e n r i c h t e t . S c h o n die P i o n i e r e der R e c h t s s o z i o l o g i e w a r e n , g e p r ä g t d u r c h die z e i t g e n ö s s i s c h e B e g e i s t e r u n g für e n t w i c k l u n g s t h e o r e t i s c h e M o delle, v o n der Idee einer g l e i c h s a m „ n a t ü r l i c h e n " E n t w i c k l u n g s o l c h e r I n s t i t u t i o nen fasziniert. V e r f e i n e r t , a b e r im A u s g a n g s p u n k t u n v e r ä n d e r t m o d e l l i e r e n a u c h neueste A r b e i t e n die G e n e s e sozialer N o r m e n n a c h d e m Bild eines durch V a r i a t i o n , S e l e k t i o n und S t a b i l i s i e r u n g g e p r ä g t e n P r o z e s s e s . 1 7 7 I n t e r e s s a n t an dieser D e n k r i c h t u n g ist die n o r m a t i v e W e n d u n g , die sie in n e u e r e r Z e i t durch V e r t r e t e r der L a w - a n d - E c o n o m i c s - B e w e g u n g e r f a h r e n h a t . K o n z e n t r i e r t e sich diese in den siebziger und a c h t z i g e r J a h r e n n o c h g a n z a u f die F o r m u l i e r u n g e f f i z i e n z f ö r d e r n der R e c h t s s ä t z e , v e r s c h o b sich ihre A u f m e r k s a m k e i t s p ä t e r a u f das P h ä n o m e n sozialer N o r m e n , in d e n e n m a n heute eine effiziente A l t e r n a t i v e zu s t a a t l i c h e m R e c h t sieht. A n g e s t o ß e n w u r d e diese E n t w i c k l u n g d u r c h R o b e r t E l l i c k s o n , einen C h i c a g o - S c h o o l - A n h ä n g e r , der in einer Feldstudie die - für ihn ü b e r r a s c h e n d e , für den R e c h t s s o z i o l o g e n zu e r w a r t e n d e - E n t d e c k u n g m a c h t e , dass k a l i f o r n i s c h e R i n d e r z ü c h t e r K o n f l i k t e ü b e r s t r e u n e n d e s Vieh n i c h t n a c h R e g e l n des R e c h t s , s o n dern n a c h sozialen N o r m e n l ö s e n . 1 7 8 D i e s e B e o b a c h t u n g g a b Anlass zur F o r m u l i e rung der T h e s e , dass soziale N o r m e n effizient sind, weil sie im G e g e n s a t z zu R e c h t s n o r m e n n i c h t das E r g e b n i s s t a a t l i c h e r P l a n u n g seien, s o n d e r n sich a u f einem durch N o r m a n b i e t e r und -nachfrager geprägten N o r m m a r k t e n t w i c k e l n . 1 7 9 G e g e n ü b e r diesem A n s a t z , der d e m O r d n u n g s m u s t e r „ S p o n t a n e i t ä t "

korres-

p o n d i e r t , h a t t e n wir bereits kritisch b e m e r k t , dass B e o b a c h t u n g e n in der realen W e l t - A G B , K a r t e l l e u . ä . - die T h e s e v o n der n o t w e n d i g e n Eifizienz sozialer N o r m e n w e n n n i c h t w i d e r l e g t , so d o c h r e l a t i v i e r t . 1 8 0 N i c h t n u r der s o z i o l o g i s c h e S t e u e r u n g s a n s a t z , s o n d e r n a u c h der e v o l u t o r i s c h e A n s a t z g e r ä t d a m i t , w e n n er n o r m a t i v g e w e n d e t w i r d , m i t d e m zivilistischen Ideal der S e l b s t b e s t i m m u n g in K o n f l i k t , d e n n die „ G e l t u n g " s o z i a l e r N o r m e n h ä n g t g e r a d e n i c h t d a v o n a b , dass alle A d r e s s a t e n ihnen z u g e s t i m m t h a b e n . M a r k t v e r s a g e n u n d Freiheitsideal scheinen d a m i t die R e c h t f e r t i g u n g d a f ü r zu liefern, die N o r m b i l d u n g nicht den sozialen

175 m 177 178 179 180

Luhmann, Rechtssoziologie, S.327f.; Teubner, Recht, S. 113f. Teubner, Recht, S. 114; Köndgen, Selbstbindung, S.420. Nachweise oben, § 1 (Fußnoten 93, 95). Ellickson, Order without Law (1991). S.o., §1 B.II.3. (S.23f.). Ebenda.

D. Selbstregulierung

als historisches

Problem

83

Kräften, sondern dem „demokratisch legitimierten" Staat zu überlassen. Diese unter Juristen gängige Sicht könnte sich auf die soziologische Einsicht stützen, dass die Entstehung positiven staatlichen Rechts, das steuernde Eingriffe in den sozialen Kreislauf gestattet, ihrerseits das Ergebnis eines evolutorischen Prozesses ist. 181 Das Postulat, sozialen Normen gegenüber staatlichem Recht mehr Raum zu geben, stellte sich so gesehen als Aufforderung an die staatliche Planung dar, sich gleichsam am eigenen Schöpfe wieder im Sumpf der Evolution zu versenken. Tatsächlich kann soziologische Einsicht für die zivilistische Bewältigung von Selbstregulierung dann weiterführend sein, wenn sie sich weder darauf beschränkt, im Privatrecht lediglich einen intelligenten Steuerungsmechanismus zu sehen, noch soziale Normen als (vermeintlich) effizientere Alternative zu Rechtsnormen beschreibt, sondern herausarbeitet, welche eigentümliche Funktion dem Privatrecht als Selbstbestimmungsordnung im Gefüge sozialer Ordnung zukommt. Dabei wird sie auf die Einsicht stoßen, dass die gesuchte Funktion vor allem darin zu sehen sein wird, wohlfahrtsfördernde Kooperation unter den Rechtsgenossen durch Bereitstellung künstlicher Interaktionsformen auch dort zu ermöglichen, wo „natürliche" Institutionen fehlen oder versagen. 182 Diese Einsicht verhilft in gewissem Sinne beiden, hier pointiert dargestellten Traditionen zu ihrem Recht: Der Steuerungssicht, indem sie anerkennt, dass staatliche Normen eine Leistung erbringen, die sich nicht im Nachvollzug sozialer Normen erschöpft, der evolutorischen Sicht, indem sie das Ergebnis dessen, was die „Benutzer" von Privatrecht erzielen, nicht als bereits geplant voraussetzt. In diesem Sinne findet die soziologische Sicht schließlich Anschluss an die politische Ökonomie, deren Fruchtbarkeit für unser Vorhaben wir schon bemerkten.

D. Selbstregulierung

als historisches

Problem

Der letzte Blick in diesem Kapitel gilt der historischen Perspektive. Dabei soll und kann es nicht darum gehen, die verschiedenen Entwicklungsstränge selbstregulativer Ordnungsmuster in ihrer Genese detailliert nachzuvollziehen. Wesentlicher erscheint uns die Frage, ob aus dem Umstand, dass Selbstregulierung historisch betrachtet viele Vorläufer hat, Schlüsse in die ein oder andere Richtung zu ziehen sind.

I. Selbstregulierung und ständische Ordnung Selbstregulierung im weiteren Sinne ist insofern kein neues Phänomen, als sie in den mannigfachen Formen korporatistischer Selbstverwaltung ein historisches Vorbild findet. Die eindrucksvolle und bis heute umfassendste Darstellung ihrer 181 Iii2

S. dazu vor allem Luhmann, S.o., B.II. 1. (S. 73).

Rechtssoziologie, S. 190ff.

84

§3 Der staatswissenschaftliche

Rahmen

E n t w i c k l u n g , B e d e u t u n g und F o r m e n lieferte O t t o v o n G i e r k e in seinem M o n u m e n t a l w e r k ü b e r das d e u t s c h e G e n o s s e n s c h a f t s r e c h t . 1 8 ' A u c h heute n o c h wird G i e r k e als P a t e b e r u f e n , w e n n es d a r u m g e h t , dem „ a u t o n o m e n " R e c h t n a t i o n a l e r wie i n t e r n a t i o n a l e r V e r b ä n d e und O r g a n i s a t i o n e n als s e l b s t g e s c h a f f e n e r O r d n u n g zur A n e r k e n n u n g zu v e r h e l f e n . D a b e i g e r ä t leicht aus d e m B l i c k , dass G i e r k e s Studien t r o t z ihres b l e i b e n d e n h i s t o r i s c h e n und s o z i o l o g i s c h e n W e r t e s für das geltende R e c h t n u r unter g r o ß e m V o r b e h a l t v e r w e r t e t w e r d e n k ö n n e n . 1 8 4 D a s N o r m a n e r k e n n u n g s m o n o p o l , das der m o d e r n e V e r f a s s u n g s s t a a t für sich in A n s p r u c h n i m m t , h i n d e r t n i c h t die E n t f a l t u n g s o z i a l e r N o r m e n in a b s i c h t l i c h o d e r u n w i s sentlich d a f ü r o f f e n gelassenen „ r e c h t s f r e i e n R ä u m e n " ; es b e h ä l t dem S t a a t a b e r in j e d e m Fall die E n t s c h e i d u n g vor, o b derartige N o r m e n in p o s i t i v e m o d e r negativem Sinne d u r c h das R e c h t s a n k t i o n i e r t w e r d e n s o l l e n . 1 8 5 D a h i n t e r steht n i c h t , wie B e f ü r w o r t e r

„autonomen"

R e c h t s unterstellen, r e c h t s p o s i t i v i s t i s c h e

Eng-

stirnigkeit, s o n d e r n die h i s t o r i s c h b e g r ü n d e t e E i n s i c h t , dass s t ä n d i s c h e S e l b s t v e r w a l t u n g und „ s e l b s t g e s c h a f f e n e s R e c h t der W i r t s c h a f t " e b e n häufig n i c h t d e m e n t s p r e c h e n , w a s an V e r h a l t e n s m u s t e r n aus ö k o n o m i s c h e r und e t h i s c h e r S i c h t w ü n s c h e n s w e r t w ä r e . M a r k t a b s c h o t t e n d e Z u n f t r e g e l n und K a r t e l l e m ö g e n als bes o n d e r s a u g e n f ä l l i g e s Beispiel g e n ü g e n . H i s t o r i s c h e s H e r k o m m e n allein k a n n d a her n i c h t g e n ü g e n , um S e l b s t r e g u l i e r u n g zu r e c h t f e r t i g e n .

II. „ H i s t o r i s c h e " T h e o r i e d e r S e l b s t r e g u l i e r u n g E i n e ebenfalls s k e p t i s c h e S i c h t der D i n g e p r ä s e n t i e r t eine A n s i c h t , die sich als „hist o r i s c h e " T h e o r i e der R e g u l i e r u n g versteht und die an die im ö k o n o m i s c h e n Teil dargestellte positive R e g u l i e r u n g s t h e o r i e a n k n ü p f t . Ihre durch

Beobachtungen

h i s t o r i s c h e r F o r m e n v o n S e l b s t r e g u l i e r u n g a n g e r e g t e T h e s e lautet, dass die Installation selbstregulativer M e c h a n i s m e n in erster Linie den Interessen der sich selbst regulierenden Industrie diene, die d a m i t strengere A u f l a g e n durch s t a a t l i c h e R e g u lierung vermeiden w o l l e . 1 8 6 In der T a t lässt sich die T h e s e a n h a n d spieltheoretis c h e r M o d e l l r e c h n u n g e n 1 8 7 s o w i e durch e m p i r i s c h e A u s w e r t u n g e n

industrieller

S e l b s t a u s k ü n f t e 1 8 8 m i t einiger P l a u s i b i l i t ä t belegen. Ein a b s c h l i e ß e n d e r E i n w a n d gegen S e l b s t r e g u l i e r u n g lässt sich d a r a u s a b e r n i c h t s c h m i e d e n . D i e A n r e i z w i r k u n g freiwilliger S e l b s t v e r p f l i c h t u n g e n und a n d e r e r selbstregulativer M i t t e l besteht g e r a d e d a r i n , dass sie den Beteiligten eine R e g u l i e r u n g e r m ö g l i c h t , die für sie O. von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., 1868/1913. Positive Würdigung etwa bei K. Schmidt, Einhundert Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, 1987; Th. Raiser, AcP 199 (1999), 104, 132f.; eher skeptisch dagegen Reichold, Sozialprivatrecht, S. 163ff.; Picker, FS Knobbe-Keuk, S. 879ff. Allgemein zum Kinfluss Gierkes auf die deutsche Privatrechtswissenschaft Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S.358f. 185 Siehe oben, § 2 B.II.l. (S.44). 186 Maxwell/Lyon/Hacket, J. Law & Ec. 43, S.583, 586f. (2000); siehe auch schon Mertens/ Kirchner/Schanze, Wirtschaftsrecht, S. 142. 187 Maxwell/Lyon/Hacket, ebd. 188 Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen, S. 441 ff. 181

184

D. Selbstregulierung

als historisches

Problem

85

k o s t e n g ü n s t i g e r ist als ein alternatives s t a a t l i c h e s R e g i m e . 1 8 9 D a s s dabei n i c h t n o t w e n d i g eine g e s a m t w i r t s c h a f t l i c h o p t i m a l e L ö s u n g h e r a u s k o m m t , liegt a u f der H a n d . D a „ o p t i m a l e " L ö s u n g e n j e d o c h in der w i r k l i c h e n W e l t selten r e a l i s i e r b a r sind, k ö n n e n sich „ S e c o n d - B e s t " - L ö s u n g e n , w i e sie der E i n s a t z privater (Selbst-) R e g u l i e r e r darstellt, als d u r c h a u s e r s t r e b e n s w e r t e A l t e r n a t i v e e m p f e h l e n . 1 9 0 O b die V o r t e i l e eines Verzichts a u f s t a a t l i c h e R e g e l n die N a c h t e i l e eines privaten Eig e n r e g i m e s ü b e r w i e g e n , k a n n nur im Einzelfall festgestellt w e r d e n , w a s mit den bereits a n g e s p r o c h e n e n S c h w i e r i g k e i t e n v e r b u n d e n ist.

III. S e l b s t r e g u l i e r u n g als h i s t o r i s c h e s P r o v i s o r i u m I n t e r e s s a n t e r und für das Z i v i l r e c h t r e l e v a n t e r ist die in j ü n g e r e r Z e i t v o n d e m a m e r i k a n i s c h e n R e c h t s l e h r e r J o h n C o f f e e vorgestellte T h e s e , stelle t y p i s c h e r w e i s e nur ein historisches

Durchgangsstadium

Selbstregulierung

für ein n a c h f o l g e n -

des s t a a t l i c h e s R e g i m e d a r . 1 9 1 E n t w i c k e l t wird sie v o r d e m H i n t e r g r u n d der E n t stehung des K a p i t a l m a r k t r e c h t s . In der T a t lassen sich g e r a d e in diesem Bereich in v e r s c h i e d e n e n L ä n d e r n T e n d e n z e n n a c h w e i s e n , die im L a u f e der Z e i t zu einer E r setzung s e l b s t r e g u l a t i v e r M a r k t k o n t r o l l e

durch zwingendes

staatliches

Recht

geführt h a b e n , w o b e i sich das s t a a t l i c h e R e c h t n i c h t selten a m V o r b i l d privater V o r l ä u f e r r e g e l u n g e n o r i e n t i e r t und von den d a m i t g e w o n n e n e n E r f a h r u n g e n p r o fitiert h a t . 1 9 2 P r o m i n e n t e Beispiele im d e u t s c h e n K a p i t a l m a r k t r e c h t sind die Ersetzung v o n Ü b e r n a h m e - und I n s i d e r k o d e x d u r c h ein Ü b e r n a h m e g e s e t z Wertpapierhandelsgesetz.

Andererseits

resp.

lassen sich in j ü n g e r e r Z e i t g e r a d e in

D e u t s c h l a n d a u c h G e g e n b e w e g u n g e n a u s m a c h e n , die a u f eine s t ä r k e r e E i n b i n dung s e l b s t r e g u l a t i v e r K r ä f t e h i n a u s l a u f e n und der T h e s e von der V o r l ä u f i g k e i t der S e l b s t r e g u l i e r u n g zu w i d e r s p r e c h e n s c h e i n e n . A u g e n f ä l l i g e Beispiele hierfür liefern die E i n r i c h t u n g eines „ P r i v a t e n R e c h n u n g s l e g u n g s g r e m i u m s " (§ 3 4 2 H G B ) und die A u s l a g e r u n g a k t i e n r e c h t l i c h e r R e g u l i e r u n g in einen u n v e r b i n d l i c h e n K o d e x , erstellt d u r c h eine „ R e g i e r u n g s k o m m i s s i o n " (§ 1 6 1 A k t G ) . Ist die „ V o r l ä u f e r - T h e s e damit widerlegt? F ü r die A n t w o r t ist der r e c h t s v e r g l e i c h e n d e R a h m e n zu b e a c h t e n , in den C o f f e e seine T h e s e gestellt h a t . Eine U r s a c h e für das s c h e i n b a r e A u s e i n a n d e r f a l l e n der E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n im a n g e l s ä c h s i s c h e n R e c h t s k r e i s und a u f d e m K o n t i n e n t - d o r t von Selbst- zu F r e m d r e g u l i e r u n g , hier zuletzt u m g e k e h r t - lässt sich dabei in der O f f e n h e i t des c o m m o n law für evolutive E n t w i c k l u n g e n a u s m a c h e n , d e n e n sich ein a u f K o d i f i z i e r u n g e n b a u e n d e s Civil L a w - S y s t e m tendenziell eher ver-

Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen, S.285, 305, 318. Schwarcz, Private Ordering, 97 Nw. I..R. 319, 324, 339f. (2002); Knebel/Wicke/Michael, Selbstverpflichtungen, S.319ff. Generell zur Theorie des „second-best" Eidenmüller, Effizienz, S. 161 ff.; Areeda/Kaplow, Antitrust Analysis, Rn. 125 (S.41 f.). 191 Coffee, The Rise of Dispersed Ownership, S. 10,29ff., 85ff.; s. auch Hopt, Self-Regulation, S. 81; Belcher, J.B.I.. 1995, 321, 328 (note 40). 192 Vgl. Augsberg, Rechtsetzung, S.292; Hopt, Anlegerschutz, S. 152ff. lfl9

190

86

Der staatswissenschaftliche

Rahmen

schließt. Als Beispiel wird auf das strenge deutsche Börsengesetz von 1 8 9 6 verwiesen, das in seiner Rigidität nicht nur die Entwicklung des deutschen Kapitalmarktes, sondern auch die Herausbildung eines entsprechenden Kapitalmarkt rechtes behindert habe. 1 9 3 O b diese These in ihrer Monokausalität zutrifft, ist nicht frei von Zweifeln, bedarf aber hier keiner Vertiefung. Entscheidend ist die inzwischen auch in der deutschen Diskussion gewonnene Einsicht, dass die Öffnung „evolutiver Fenster" im System des Civil Law Raum für innovative Ordnungsprozesse schafft, deren Ertrag der Staat für eigene Regulierungsansätze verwerten kann. 1 9 4 Entscheidend ist, dass der Staat dabei nicht in eine Nachtwächter-Rolle zurückgedrängt, sondern, ganz im Sinne des öffentlich-rechtlichen „Gewährleistungsstaats", zur Beobachtung privater Ordnungsprozesse verpflichtet wird, die er gegebenenfalls korrigieren, stützen oder ersetzen muss. 1 9 5 Die aus historischer Betrachtung gewonnene „Vorläufer"-These führt also ungeachtet der Frage, ob sie Ausdruck eines allgemeinen Entwicklungsgesetzes oder lediglich Beschreibung einer bestimmten historischen Phase sein will, nicht zu dem Appell, Selbstregulierung juristisch zu vernachlässigen, sondern fordert gerade umgekehrt dazu auf, privaten Ordnungsprozessen in stärkerem Maße Aufmerksamkeit zu schenken. In Übereinstimmung mit den ökonomischen und staatsrechtlichen Ansätzen sieht sie staatliches Recht und private Ordnung dabei nicht als notwendig konkurrierende, sondern als in der Zeit komplementäre Gestaltungsfaktoren. Resümierend lässt sich sagen, dass die historische Sicht ebenso wie die bereits dargestellten Perspektiven selbstregulierte Ordnung weder per se approbiert, noch ihr den Segen entzieht. Wie die vorgenannten Ansätze weist aber auch sie auf die Gefahren hin, die mit der Zulassung privater Selbstgesetzgebung ohne weiteres verbunden sind und die es gebieten, einer allzu euphorischen Einstellung gegenüber „Selbstregulierung" mit Vorsicht zu begegnen.

E. Zusammenfassung

und

Ausblick

Erbrachte das zweite Kapitel die Einsicht, dass sich hinter den mit der Vorsilbe „selbst" versehenen Phänomenen heterogene Ordnungsmuster verbergen, liefert die staatswissenschaftliche Betrachtung gesellschaftlicher „Selbstregulierung" einen ambivalenten Ertrag. Bei unterschiedlichen Ausgangspunkten, den die staatsrechtliche, aber auch die steuerungstheoretische Sicht der Soziologie tendenziell

Coffee, The Rise of Dispersed Ownership, S . 2 9 f f . Tuerks, Depotstimmrecht, S . 2 8 1 ; Bachmann, AG 2 0 0 1 , 6 3 5 , 6 4 4 ; siehe auch Belcher, 4 7 N.I.L.Q. 3 2 2 f f . ( 1 9 9 6 ) , die die industrieweite Durchsetzung selbstregulativer Standards unter Anlehnung an das Schumpeter'sche Unternehmermodell skizziert. Innovative Unternehmen erwerben danach durch glaubhafte Selbstverpflichtungen einen Marktvorteil und zwingen ihre Mitbewerber so zur Nachahmung. Kritische Diskussion der Schumpeter'schen These aus wettbewerbstheoretischer Sicht bei /. Schmidt, Wettbewerbspolitik, S. 102.f. 1 9 5 Oben, § 3 B.II. ( S . 7 2 ) . 194

E. Zusammenfassung

und Ausblick

87

b e i m S t a a t , die ö k o n o m i s c h e u n d die e v o l u t o r i s c h e S o z i a l t h e o r i e e h e r b e i m Individ u u m in d e r G e s e l l s c h a f t n e h m e n , g e l a n g e n alle S i c h t w e i s e n zu d e r E r k e n n t n i s , d a s s ein s t a a t l i c h e s R e g e l s e t z u n g s m o n o p o l w e d e r b e s t e h t n o c h a u c h n u r w ü n s c h e n s w e r t w ä r e . D a b e i m a c h e n sie z u g l e i c h a u f G e f a h r e n a u f m e r k s a m , die m i t S e l b s t r e g u l i e r u n g e i n h e r g e h e n u n d die im W e s e n t l i c h e n in f r e i h e i t s g e f ä h r d e n d e n T e n d e n z e n b e s t e h e n . Vor- u n d N a c h t e i l e s e l b s t o r d n e n d e r P r o z e s s e lassen sich d u r c h s t a a t l i c h e M a ß n a h m e n a u s g l e i c h e n , die im S t a a t s r e c h t u n d in d e r Ö k o n o m i e als „ r e g u l i e r t e S e l b s t r e g u l i e r u n g " , v o n d e r S t e u e r u n g s l e h r e als „ r e f l e x i v e s Recht" beschrieben werden. D a s P r i v a t r e c h t , u m d a s es u n s zu t u n ist, d r o h t d a b e i z w i s c h e n die S t ü h l e zu fallen. D e u t l i c h w i r d d a s a n d e r s t a a t s - u n d s t e u e r u n g s r e c h t l i c h e n Sichtweise, die S e l b s t r e g u l i e r u n g als B i n n e n s t e u e r u n g v e r s t e h t , bei d e r P r i v a t r e c h t z u m M o d u s einer „zurückgezogenen" Art der Steuerung wird. Demgegenüber schenken ö k o n o m i s c h e u n d e v o l u t i o n s t h e o r e t i s c h e L i t e r a t u r p r i v a t e r O r d n u n g b e s o n d e r e Beacht u n g . Sie k o n z e n t r i e r e n sich d a b e i a b e r v o r w i e g e n d a u f a u ß e r r e c h t l i c h e M e c h a n i s m e n , so d a s s n i c h t n u r O r d n u n g o h n e d e n S t a a t , s o n d e r n gleich „ O r d n u n g o h n e R e c h t " (Ellickson) z u m P o s t u l a t w i r d . Z w a r f e h l t es i n s o w e i t n i c h t a n B e m ü h u n g e n , die s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n E i n s i c h t e n f ü r d a s P r i v a t r e c h t f r u c h t b a r zu m a c h e n , d o c h e r w e i s e n sich diese als p r o b l e m a t i s c h , weil sie in einer u n g e f i l t e r t e n Ü b e r n a h m e soziologischer Kategorien bestehen. Eine allgemeine T h e o r i e privater R e g e l s e t z u n g , die a u c h d e m R e c h t s e i n e n a d ä q u a t e n P l a t z z u w e i s t , lässt sich auf diese Weise n i c h t g e w i n n e n . W i e m a n i n n e r h a l b d e r R e c h t s w i s s e n s c h a f t v e r s u c h t h a t , zu einer s o l c h e n T h e o r i e zu g e l a n g e n , w i r d n u n m e h r zu b e t r a c h t e n sein.

Zweiter

Teil

Die Theorie privater Regelsetzung Phänomene privater Regelsetzung sind oft beschrieben worden. Häufig erschöpfen sich diese Beschreibungen in einer Auflistung bestimmter Erscheinungsformen privater Normen, gelegentlich verbunden mit dem Hinweis auf die mangelnde demokratische Legitimation ihrer Schöpfer. Manche Arbeiten gehen tiefer, beschränken sich aber meist auf sektorspezifische Untersuchungen, etwa zum Sport- oder Technikrecht. N u r wenige Autoren haben den Versuch unternommen, ein theoretisch geschlossenes Konzept privater Regelsetzung zu präsentieren. Sie sind Gegenstand des nachfolgenden Teils. Dazu sollen zunächst allgemeine Theorieentwürfe betrachtet werden, sodann Lehren, die sich mit speziellen Formen privater Regelwerke (Satzungen, Tarifverträge, etc.) und deren Problemen befassen. Als Kristallisationspunkt wird sich die Frage der Legitimation erweisen, die mit dem Demokratiegedanken nur unzureichend erfasst ist. Im abschließenden, zentralen Kapitel dieses Teils ist daher ein Legitimationsmodell zu entwerfen, welches das zivilistische Ideal der Zustimmung mit der staatstragenden Idee des Gemeinwohls in einem normativen Modell vereinigt.

§ 4 Allgemeine T h e o r i e n privater R e g e l s e t z u n g

Der Umstand, dass private Regelsetzung in den jüngsten Jahren in den Zenit juristischen Interesses rückte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Phänomen schon seit langem die Aufmerksamkeit der Privatrechtswissenschaft gefordert hat. Immer wieder war es im 20. Jahrhundert auf Unbehagen gestoßen, privat gesetzte Regeln mit der Kategorie des Rechtsgeschäfts zu erfassen. „Die Dichotomie zwischen Gesetz und Vertrag", so eine vielfach zu hörende Kritik, „entspricht nicht mehr der Wirklichkeit". 1 Nicht jeder, der sich dieser Kritik anschloss, vermochte indes das tertium, welches die klassische Dichotomie zu sprengen imstande wäre, juristisch greifbar zu machen. 2 Unter den vielen Ansätzen, die sich dem Phänomen näherten, ragen vier Konzepte heraus, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eine übergreifende Theorie privater Regelbildung zu formulieren suchen. Mit ihnen wollen wir uns zunächst beschäftigen (A-D). In der Summe werden sich Einsichten für das weitere Vorgehen ergeben (E).

A. Soziologische Theorie: „Institutionelle

Wahlnormen"

I. Konzept Die Relativierung des Unterschiedes sozialer und rechtlicher Normen ist charakteristisch für soziologische Lehren vom Recht.' Auch Juristen waren nicht immun gegen die Versuchung, der greifbaren Realität sozialer Normen dadurch Rechnung zu tragen, dass sie diese in das Konzept der Rechtsnorm zu integrieren suchten. Das konsequenteste Unterfangen dieser Art wurde von Ulrich Meyer-Cording mit seiner Monografie „Die Rechtsnormen" vorgelegt. 4 Angetrieben von Einsich1 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 154; Lukes, Der Kartellvertrag, S. 8; siehe auch schon Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 146 f. 2 Eine Dreiteilung der Rechtssätze in die „Urphänomene" Gebot, Vertrag und Sitte legt H. Hofmann zugrunde (Gebot, Vertrag, Sitte, S. 11; ähnlich bereits Ehrlich, Soziologie, S. 81 ff.). Die „Sitte" wirkt aber heute nur noch verpflichtend, soweit das Gesetz auf sie verweist, näher dazu unten, § 1 0 B. (S. 341 ff.).

' Statt aller ¡Mhmann, Rechtssoziologie, S. 105. Meyer-Cording, Die Rechtsnormen ( 1 9 7 1 ) . Ein ähnliches Konzept war zuvor schon von Lukes präsentiert worden, der in seiner Habilitationsschrift (Der Kartellvertrag, 1 9 5 9 ) die These vertrat, bei den von Kartellen vereinbarten Regeln handele es sich um „tatsächliche N o r m e n " , die zwischen Rechtsgeschäft und objektivem Recht als „neuer Ordnungsfaktor" anzusiedeln seien (Kartellvertrag, S . 2 1 3 f f . ) . Diese These musste sich bald den Vorwurf gefallen lassen, rechtliche 4

92

§4

Allgemeine

Theorien

privater

Regelsetzung

ten, die er in seiner früheren Arbeit über „Die Vereinsstrafe" 5 gewonnen hatte, empfand er es als unbefriedigend, Regeln, die in Entstehung und Wirkungsweise eher Normen als Verträgen glichen, wegen ihres privaten Ursprungs mit rechtsgeschäftlichen Mitteln erfassen zu müssen. Da es sich auch nicht um hoheitliches Recht handeln konnte, sann Meyer-Cording nach einem dritten Weg, um der - wie er meinte - überholten Dichotomie von Gesetz und Vertrag zu entkommen. 6 Er fand ihn in einer Theorie der Rechtsnorm, die diese nicht nach ihrer Herkunft von der staatlichen Legislative, sondern von ihrer sozialen Funktion her definiert. Rechtsnormen seien danach all diejenigen Regeln, die ihrer Funktion nach dazu bestimmt seien, Institutionen (Vereinen, Betrieben, Verbänden) als dauerhafte Strukturelemente zu dienen. Hervorgebracht würden sie von den Institutionen selbst, welche sich vom Kooperationsverhältnis des Marktaustauschvertrages durch eine mehr hierarchische Ordnung unterschieden. 7 Als „Recht" anerkannt werden könnten derartige Ordnungen allerdings nur, wenn die sie hervorbringende Institution „vertrauenswürdig" sei. 8 Das wiederum sei dann gewährleistet, wenn der Beitritt zu der betreffenden Institution freiwillig erfolge, denn dann gelte der Grundsatz „volenti non fit iniuria". 9 Da die Geltung der Norm vom Individuum durch Beitritt frei gewählt werde, handele es sich bei den privaten Rechtsnormen um „Wahlnormen". 1 0 „Zwangsnormen" im Sinne von heteronom geltenden Regeln seien hingegen nur hoheitlich begründbar."

II. Resonanz Meyer-Cordings Lehre stieß im verbandsrechtlichen Schrifttum und im AGBRecht zum Teil auf Zustimmung; 1 2 überwiegend wurde und wird sie jedoch abgel e h n t . " Im AGB-Recht lautet der maßgebliche Einwand, dass das positive Recht und soziologische Kategorien zu vermengen (/.. Raiser, Vertragsfunktion, S. 11 I f.). Zu diesem dann auch gegen Meyer-Cording erhobenen Vorwurf sogleich im Text. 5 Meyer-Cording, Die Vereinsstrafe ( 1 9 5 7 ) . 6 Vgl. Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S . 4 6 . 7 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S . 7 5 . 8 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S . 5 9 . 9 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 100. 10 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S . 4 7 , 101. Ähnlich l.ukes (oben, Fn.4), der für seine „tatsächlichen N o r m e n " eine „Anerkennung" durch die Adressaten verlangt, an die freilich „geringe Anforderungen" zu stellen seien: Sie liege schon im Schweigen bei Kenntnis der Existenz von Normen (ebenda, S. 2 3 1 , 2 3 9 f . ) . Die Vorstellung einer vom Rechtsgeschäft zu separierenden „Anerkennung" findet sich heute wieder bei Lukes' Schüler Vieweg (Normsetzung, S. 335). Zur Kritik sogleich im Text sowie unten, § 7 A.II.1. ( S . 2 3 4 ) . Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 141 f. Für das AGB-Recht insbes. Pflug, Status, S. 2 2 0 - 2 2 5 ; für das Verbandsrecht MünchKommBGB/Re«ier, § 2 5 R n . l O f . ; vgl. auch Taupitz, Standesordnungen, S . 4 9 6 (Vereinssatzung als „zwischen" Rechtsgeschäft und objektivem Recht angesiedelter „Rechtsnorm"). 11

12

" Vgl. insbes. M. Wolf, J Z 1 9 7 3 , 2 2 9 f f . ; ders. in Wolf/Horn/Lindacher, AGBG, Einl. Rn. 13; U/mer/Brandner/Hensen, A G B G , Einl. R n . 2 5 ; eingehend Fastrieb, Inhaltskontrolle, S. 33ff.; allgemein auch Taupitz, Standesordnungen, S. 6 0 6 f f .

A. Soziologische

Theorie:

„Institutionelle

Wahlnormen"

93

eindeutig vom rechtsgeschäftlichen C h a r a k t e r allgemeiner Vertragsbedingungen ausgehe, so dass eine Einordnung als N o r m e n schon deshalb nicht in Betracht k o m m e . 1 4 Auch das Verbandsrecht steht heute überwiegend auf dem Standpunkt, bei den Satzungen privater Körperschaften handele es sich - entgegen M e y e r - C o r ding - nicht um R e c h t s n o r m e n , sondern nur um eine besondere F o r m des Rechtsgeschäfts. Neben dieser R e s o n a n z in besonderen Rechtsgebieten, denen wir uns im folgenden Kapitel noch ausführlich widmen werden, sind aber auch grundsätzliche Einwände gegen die T h e o r i e der institutionellen W a h l n o r m e n laut geworden, die sich auf drei Kritikpunkte reduzieren lassen: So wird vorgebracht, dass es an einer staatlichen Ermächtigung der „ I n s t i t u t i o n e n " zur N o r m s e t z u n g fehle, 1 6 weshalb diese auch nicht als N o r m s e t z e r a n e r k a n n t werden k ö n n t e n . Ferner wird eingewandt, der von M e y e r - C o r d i n g behauptete N o r m c h a r a k t e r gehe jedenfalls dadurch wieder verloren, dass es auch nach ihm einer Anerkennung der „Wahln o r m " durch die Adressaten b e d ü r f e . 1 7 Schließlich moniert man, dass M e y e r - C o r ding soziologische und rechtliche Kategorien miteinander vermenge. 1 8

III.

Würdigung

Keine der drei grundsätzlichen Einwendungen vermag aus sich heraus zu überzeugen. Der Hinweis auf die fehlende staatliche Ermächtigung geht von der stillschweigenden A n n a h m e aus, dass private N o r m s e t z u n g o h n e eine solche E r m ä c h tigung ausgeschlossen sei. Diese A n n a h m e beruht auf der ü b e r k o m m e n e n Vorstellung eines staatlichen N o r m s e t z u n g s m o n o p o l s , die in der modernen Staatsrechtslehre zunehmend einer differenzierteren

Betrachtung Platz g e m a c h t hat und

damit R a u m schuf für die Anerkennung privater N o r m s e t z u n g jenseits expliziter Delegationen von Normsetzungsbefugnissen. 1 9 O b der N o r m c h a r a k t e r einer Verhaltensanordnung dadurch verloren geht, dass der Adressat die Normgeltung für sich akzeptiert hat, hängt davon a b , wie man den Begriff der N o r m definiert. Die R e d u k t i o n des Normbegriffes auf h e t e r o n o m e Sollenssätze mag h e r k ö m m l i c h e m Normverständnis entsprechen; unangefochten ist sie n i c h t . 2 0 Schließlich kann M e y e r - C o r d i n g auch nur bedingt die Vermengung soziologischer und rechtlicher Kategorien zum V o r w u r f g e m a c h t werden. Z w a r ist es richtig, dass das Abstellen auf die soziale Funktion der N o r m die Unterscheidung zwischen R e c h t s n o r m und sozialer N o r m einebnet. Indem M e y e r - C o r d i n g für die Verbindlichkeit der priva-

14

17

M. Wolf in Wolf/Horn/I.indacher, A G B G , F.inl. Rn. 13; Fastrich, Inhaltskontrolle, S . 3 3 . Näher unten, § 5 A.I. (S. 109). Fastrich, Inhaltskontrolle, S . 3 4 ; Brunner, Rechtsetzung, S . 3 2 . Fastrich, Inhaltskontrolle, S . 3 4 ; Singer, ZfA 1 9 9 5 , 6 1 1 , 6 1 7 f . ; Brunner, Rechtsetzung,

S. 9 2 . 15 19 20

Fastrich, Inhaltskontrolle, S . 3 3 . Siehe dazu § 3 B.I.2. ( S . 6 2 ) sowie sogleich unter B. ( S . 9 5 ) . Sie dazu § 1 B . I I . l . ( S . 2 1 ) sowie sogleich unter C. ( S . 9 8 ) .

94

§4

Allgemeine

Theorien

privater

Regelsetzung

ten „Wahlnorm" aber grundsätzlich die Anerkennung durch den Normadressaten verlangt, trägt er dem sachlichen Grund für die gebotene Unterscheidung (nämlich der Freiheit, sich für oder gegen die Geltung der Norm zu entscheiden) Rechnung. Greifen die Einwände in der vorgetragenen Form zu kurz, bleibt dennoch die Frage, was mit den so genannten „Wahlnormen" eigentlich gewonnen ist. Da der rechtsgeschäftliche Charakter der zu ihrer Geltung erforderlichen „Unterwerfung" von Meyer-Cording nicht in Abrede gestellt wird, 21 kann man zu der Auffassung gelangen, dass seine Lehre am Ende nur eine modifizierte rechtsgeschäftliche Theorie darstellt. 22 Diese Sichtweise ließe jedoch außer Acht, dass MeyerCording mit dem Hinweis auf den strukturellen Unterschied zwischen Austauschverträgen und hierarchisch gefassten Ordnungen frühzeitig auf einen Umstand aufmerksam gemacht hat, dem in der institutionenökonomisch ausgerichteten Vertragsrechtslehre später besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde. Meyer-Cording selbst gelingt es freilich nicht, diese Unterscheidung juristisch fruchtbar zu machen. Sein Bestreben ist ersichtlich von dem Anliegen geprägt, im damals noch gärenden Streit um die „Rechtsnatur" allgemeiner Geschäftsbedingungen soziologischen Einsichten zum Durchbruch zu verhelfen. 2 ' Die mit dem Phänomen der privaten Rechtsnormen angesprochene Sachproblematik der Legitimation des Normsetzers wird von ihm und seinen Gegnern zwar gesehen, 24 gerät aber angesichts des im Vordergrund stehenden dogmatischen Streites über Gebühr aus dem Blickfeld. Rückt man die Legitimationsfrage nach vorne, finden sich dazu in Meyer-Cordings Lehre allenfalls Ansätze einer Antwort. Danach setzen private Rechtsnormen zunächst das Vorliegen einer Institution im Sinne einer sozialen Gruppe voraus, denn nur bei dieser bestehe das Bedürfnis nach Schaffung dauerhafter sozialer Strukturen. 2S Hinzukommen müssten sodann die Elemente „Funktionsfähigkeit" und „Vertrauenswürdigkeit". 26 Da sich die Funktionsfähigkeit im Sinne eines technischen Imstandeseins zur Normsetzung regelmäßig schon darin zeigt, dass eine Institution überhaupt ein Regelwerk geschaffen hat (andernfalls stellte sich das Problem privaten Rechts nicht), besteht das entscheidende Legitimationselement demnach in der „Vertrauenswürdigkeit". Sie wird von Meyer-Cording vage dahingehend beschrieben, das „allgemeine Rechtsbewusstsein" müsse das Zutrauen haben, dass sich die jeweilige Institution bei der Normsetzung am „Ge-

Vgl. Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 101 ff. So MünchKommBGB/ReHier, § 2 5 R n . 11; zur von theorie Saleilles im Übrigen schon die ausführliche Kritik 2 3 Zum Normcharakter von A G B aus soziologischer S.59ff. 2 4 Vgl. Wolf, J Z 1 9 7 3 , 2 2 9 , 2 3 0 ; Pflug, Status, S . 2 2 9 ; 25 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S . 7 4 f . 26 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S . 4 3 , 5 8 f . 21

22

Meyer-Cording bemühten Adhäsionsvon L. Raiser, A G B , S. 148 ff. Sicht bereits L. Raiser, A G B ( 1 9 3 5 ) , Fastricb,

Inhaltskontrolle, S . 3 5 .

ß. Positivistische

Theorie:

„Private

Rechtsetzung"

95

meingeist" und damit an den „Ideen von Recht und Gerechtigkeit" orientiere. 27 In den konkret von ihm als Beispiel herangezogenen Fällen sieht er die Vertrauenswürdigkeit jeweils dadurch gewährleistet, dass die private Ordnung durch Beitritt, Unterwerfung u.ä. vom Betroffenen freiwillig anerkannt worden sei. Damit macht es sich Meyer-Cording in zweifacher Hinsicht zu einfach. Zum einen lässt er die Frage offen, ob die „Vertrauenswürdigkeit" einer Institution auch auf anderem Wege als durch freiwillige Unterwerfung festgestellt werden kann. Andererseits suggeriert seine Lehre, dass bei freiwilligem Beitritt die „Vertrauenswürdigkeit" in dem von ihm beschriebenen Sinne ohne weiteres gewährleistet ist. Zum möglichen „Ausstieg" aus den Institutionen oder zu entsprechenden Kontrollmechanismen erfährt man nichts. Gewonnen ist mit der Lehre von den „institutionellen Wahlnormen" damit am Ende lediglich die Einsicht, dass von privater Seite aufgestellte Ordnungen (vielleicht) realitätsgerechter erfasst werden, wenn man sie ihrer Funktion entsprechend als Normen bezeichnet. Als juristische Kategorie oder als privatrechtliches Gestaltungsmittel taugen solche „Rechtsnormen" allerdings nicht.

B. Positivistische

Theorie:

„Private

Rechtsetzung"

I. Konzept Einen ganz anderen Ausgangspunkt wählt die von Ferdinand Kirchhof vorgelegte Untersuchung über „Private Rechtsetzung". Als Staatsrechtler geht es Kirchhof vor allem um die Frage, wie private Normsetzung vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund staatlicher Normgebungsverantwortung zulässigerweise begründet werden kann. Dazu legt er - im Unterschied zu Meyer-Cording - zunächst einen engeren Rechtsnormbegriff zugrunde, den er im Sinne traditionellen Verständnisses vor allem durch das Merkmal der Heteronomität, also der Fremdsetzung, charakterisiert sieht. 28 Wie Meyer-Cording geht sodann auch Kirchhof von der Auffassung aus, dass es kein staatliches Rechtsetzungsmonopol gebe, der Staat aber über ein Anerkennungsmonopol verfüge, kraft dessen er die von Privaten formulierten Regeln für die Adressaten verbindlich erklären könne. 2 9 Die maßgebliche Bedingung einer derartigen Anerkennung, und darin unterscheidet sich Kirchhofs staatsrechtlicher von Meyer-Cordings soziologischem Ansatz, besteht für Kirchhof aber nicht im „Zutrauen" des „allgemeinen Rechtsbewusstseins" zur regelsetzenden Institution, sondern in einem besonderen staatlichen Geltungsbefehl.,0

2/ Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 5 9 , in verbaler Anlehnung an Hegel (Rechtsphilosophie, § 2 6 5 , S . 4 1 2 ) . 28 F. Kirchhof., Private Rechtsetzung, S . 8 4 . 29 F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 107ff.; Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 3 9 f f . F. Kirchhof., Private Rechtsetzung, S. 1 3 4 .

96

§4

Allgemeine

Theorien

privater

Regelsetzung

Dieser Geltungsbefehl muss sich nicht darauf beschränken, privat gesetzten Normen per Verweisung Verbindlichkeit zu verleihen. Nach Kirchhof kann er auf dreierlei Weise erteilt werden: Zum einen durch Bildung einer Rechtssatzform, derer sich (bestimmte) Private zu ihren Zwecken bedienen können, beispielsweise des Tarifvertrags." Zum anderen, indem der Staat einen privaten Regelproduzenten für rechtsetzungsfähig erklärt, so durch Zurverfügungstellen einer bestimmten Organisationsform, etwa der Stiftung. 52 Schließlich, indem der Staat subjektive Rechte wie das Eigentum schafft, die dem privaten Inhaber die Befugnis verleihen, Dritten unter bestimmten Voraussetzungen ein Verhalten vorzuschreiben, etwa der Hauseigentümer den Besuchern durch Erlass einer Hausordnung. 1 ' Kirchhof durchmustert sodann anhand der Kriterien Generalität und Heteronomität das gesamte Privatrecht auf „Rechtsnormen" und bildet so eine Nomenklatur, die von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung über Vereinssatzung und Hausordnung bis zu Testament und Vertrag zugunsten Dritter reicht. 3 4

II. Resonanz Kirchhofs Lehre ist wohlwollend aufgenommen worden. Resonanz hat sie vor allem im öffentlichen Recht und im Arbeitsrecht gefunden. Im öffentlichen Recht sieht man in ihr den begrüßenswerten Ansatz, private Normen, deren Vorhandensein auch im Staatsrecht nicht geleugnet wird, anzuerkennen, ohne die grundsätzliche Staatsverantwortung gegenüber dem potentiell normunterworfenen Bürger preisgeben zu müssen'''. In der Tat bedeutet Kirchhofs Vorstellung einer „zweigleisigen" Entstehung privaten Rechts - private Regelbildung plus staatlicher Gelt u n g s b e f e h l - einen analytischen Fortschritt gegenüber monistischen Perspektiven, denen die Einordnung privaten Rechts vor dem Hintergrund eines (vermeintlichen) staatlichen Normsetzungsmonopols notwendig Schwierigkeiten bereiten musste. Aus diesen Gründen hat seine Lehre im Arbeitsrecht Anerkennung gefunden 37 , in dem bereits ähnliche Ansätze entwickelt worden waren. 1 8 Dort tut man sich bis heute schwer, die normative Wirkung kollektivvertraglich festgesetzter Regeln theoretisch zu begründen. 39 Die überkommene Vorstellung einer Delegation staat-

" 52

"

E Kirchhof, E Kirchhof, F. Kirchhof.,

Private Rechtsetzung, S. 1 4 0 f. Private Rechtsetzung, S. 141. Private Rechtsetzung, S. 1 4 2 .

Vgl. E Kirchhof Private Rechtsetzung, S. 181, 2 1 2 , 2 6 7 , 3 6 7 , 4 6 8 , 4 7 3 . Vgl. Augsberg, Rechtsetzung, S. 2 8 ; Breitkreutz, Die Ordnung der Börse, S. 3 0 4 f f . ; P. Kirchhof Z G R 2 0 0 0 , 6 8 1 , 6 8 2 ; Ossenhühl, H S t R III, 1 9 8 8 , § 6 1 R n . 3 4 . F. Kirchhof, Private Rechtssetzung, S. 1 3 9 . , 7 Zustimmend namentlich Waltermann, Rechtsetzung, S. 1 2 2 f f . , S. 142ff.; zurückhaltender Wiedemann, T V G , § 1 R n . 4 4 ; ablehnend Riehle, ZfA 2 0 0 0 , 5, 9; ders., Arbeitsmarkt, Rn. 1 2 0 3 m. Fn. 1 6 5 . !4

i8 59

Vgl. Lieb, Normsetzung, insbes. S . 5 8 f f . Näher unten, § 5 C . I . (S. 124ff.).

ß. Positivistische

Theorie:

„Private

Rechtsetzung"

97

licher Normsetzungsbefugnisse an die Tarifparteien sieht sich u.a. mit der Schwierigkeit konfrontiert, in der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen eine ursprünglich staatliche Aufgabe sehen zu müssen, was zumindest historisch betrachtet nicht zutreffend ist. 4 0 Kirchhofs Lehre entgeht diesem Problem, ohne in autonomen Rechtsetzungsbefugnissen Zuflucht suchen zu müssen, denn sie belässt den Privaten - in diesem Fall den Tarifpartnern - die Regelsetzung als eigene Angelegenheit, macht aber deren Verbindlichkeit für Dritte von einem staatlichen Geltungsbefehl, hier: im Tarifvertragsgesetz, abhängig. III. Würdigung Trotz der Fortschritte, welche die Arbeit Kirchhofs für die juristische Bewältigung privater Regelsetzung gebracht hat, lässt sie Fragen, die dem Privatrechtler drängend erscheinen, unbeantwortet, und bleibt damit zumindest in zivilistischer Sicht unbefriedigend. Das entscheidende Manko besteht darin, dass Kirchhof die Frage nach der inneren Legitimation des privaten Normsetzers vernachlässigt 41 . So gelangt er zwar zu einer ansehnlichen Auflistung von Fällen, in denen das positive Recht die Aufstellung einer für Dritte verbindlichen Regel erlaubt. Abgesehen von diesen äußerlichen Ubereinstimmungen haben die erfassten Fälle aber wenig gemein. Die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien - um nur das prominenteste Beispiel herauszugreifen - beruht ersichtlich auf anderen Legitimationsgrundlagen als die des Hauseigentümers oder die des Testators. Kirchhofs Arbeit ergibt so gesehen ein positivistisches Tableau, das der weiteren Durchdringung zugänglich, aber auch bedürftig bleibt. Ansätze dazu hat Kirchhof selbst geliefert. Intensiv etwa widmet er sich der Frage, was den Staat dazu berechtigt, private Regeln durch Geltungsbefehl für verbindlich zu erklären („Weshalb darf er privates Normieren zulassen oder anordnen?" 4 2 ). Die formale Legitimation, die der staatliche Geltungsbefehl dadurch erfährt, dass er in Gestalt des Gesetzes ergeht, hält Kirchhof nicht für ausreichend, solange der Staat sich weder eine Aufsicht vorbehalte noch das private Recht auf das Gemeinwohl verpflichte. 4 ' Staatsrechtlich legitimiert sei private Rechtsetzung, die keinem entsprechenden Vorbehalt unterliege, gleichwohl aus zwei Gründen, einem historischen und einem grundrechtlichen. Den historischen Grund sieht Kirchhof darin, dass das deutsche Staatswesen stets offen für „gesellschaftliche Selbstorganisation" gewesen sei, den grundrechtlichen stützt er auf die klassischen bürgerlichen Gewährleistungen von Handlungs-, Vereinigungs- und Eigen-

40

Vgl. nur Wiedemann, TVG, § 1 Rn.45.

41

So auch schon Reuter in seiner Rezensionsabhandlung, AcP 188 ( 1 9 8 8 ) , 2 6 4 . F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S . 5 0 6 . F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S . 5 0 7 .

42 4!

98

§4

Allgemeine

Theorien

privater

Regelsetzung

tumsfreiheit 4 4 . Staatsrechtlich, so kann Kirchhof resümieren, sei private Rechtsetzung also „nichts revolutionär Neues". 4 "' Über die Legitimation des Privaten, anderen Privaten verbindliche Regeln zu setzen, ist damit freilich nichts ausgesagt. Aus staatsrechtlicher Sicht mag man sich insoweit damit bescheiden, den hoheitlichen Geltungsbefehl auszumachen, der die Rechtsetzung durch den Privaten äußerlich legalisiert. 46 Zivilrechtlich darf man sich mit dieser „rechtstechnischen Rechtfertigung" (Kirchhof) nicht begnügen, sondern muss nach der inneren Legitimation des privaten Normsetzers fragen. Diese Frage wird von Kirchhof zwar gesehen, aber bewusst offen gelassen. Eine überzeugende Antwort darauf, so meint er, sei in der juristischen Literatur nicht zu finden, aber auch nicht zu suchen, denn: „Sie erfaßt das Thema privater Rechtsetzung unter rechtsphilosophischen, ethischen, rechtstheoretischen oder sozialwissenschaftlichen Aspekten statt unter dem hier allein ins Auge gefassten juristischdogmatischen Blickwinkel". 4 7 Will man die tradierten Formen privaten Normierens überschreiten oder auch nur feststellen, wann man sie überschreitet, kann es bei diesem positivistischen Blickwinkel nicht bleiben.

C. Normlogische

Theorie:

„Rechtsgeschäft

als

Rechtsquelle"

I. Konzept Ein drittes Konzept privater Regelsetzung baut auf normlogischen Überlegungen zur Struktur von Sollenssätzen und zum Stufenbau der Rechtsordnung auf, wie sie in der allgemeinen Rechtslehre vorgedacht lind von analytischen Lehren zu Beginn des vorigen Jahrhunderts zu einem System fortentwickelt wurden. 4 8 Für das Privatrecht wurde dieser Ansatz von Alfred Manigk in seiner Programmschrift über „Die Privatautonomie im Aufbau der Rechtsquellen" fruchtbar gemacht. Kernthese seiner 1 9 3 5 erschienenen Schrift ist die Forderung, das Rechtsgeschäft als Rechtsquelle anzuerkennen und den vermeintlichen Gegensatz zwischen Rechtsgeschäft und Gesetz damit aufzuheben. 4 9 Privatautonomie, so meint Manigk, sei nichts anderes als die auf legaler Ermächtigungsnorm beruhende Befugnis zur Rechtsetzung durch Private. 5 0 Zur Begründung verweist er vor allem auf die logische Identität rechtsgeschäftlicher und gesetzlicher Sollenssätze, wie sie etwa in

F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 51 1 ff. Kritisch dazu bereits oben, § 3 B.I.2.a. (S.64f.). F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 5 1 1 . 46 F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S . 5 0 5 . 47 Ebenda. 4 8 Vgl. inbes. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 2 6 1 ff.; dazu Adomeit, Rechtsquellen, S. 87f.; Röhl, Rechtslehre, S . 2 0 9 f . 49 Manigk, Privatautonomie, S. 18, S . 4 5 . ''0 Manigk, Privatautonomie, S. 63 f. 44 45

C. Normlagische

Theorie:

„Rechtsgeschäft

als

Rechtsquelle"

99

der H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t v o n L a t e n z 5 1 h e r a u s g e a r b e i t e t w o r d e n w a r . 5 2 N i c h t a n ders als die M a c h t des G e s e t z g e b e r s b e r u h e a u c h die P r i v a t a u t o n o m i e a u f staatlic h e r E r m ä c h t i g u n g . 5 3 D a b e i k ö n n e das R e c h t s g e s c h ä f t seinerseits als E r m ä c h t i g u n g für weitere R e g e l s e t z u n g e n d i e n e n , i n d e m sich der E i n z e l n e der R e g e l s e t z u n g s m a c h t Dritter e n t s p r e c h e n d § 3 1 5 B G B u n t e r w e r f e . 5 4 In der N a c h k r i e g s z e i t ist dieser G e d a n k e , der z u n ä c h s t w e n i g G e h ö r f a n d , 5 5 v o n B u c h e r und A d o m e i t wieder aufgegriffen w o r d e n . Sie a k t u a l i s i e r t e n die T h e s e v o m R e c h t s g e s c h ä f t als R e c h t s q u e l l e , i n d e m sie die P r i v a t a u t o n o m i e (wieder) als E r m ä c h t i g u n g der Bürger zur S e l b s t g e s e t z g e b u n g v e r s t a n d e n wissen w o l l t e n . 5 6 B u c h e r g e l a n g t dabei zu der eigenwilligen, in der L i t e r a t u r a u f w e n i g G e g e n l i e b e g e s t o ß e n e n T h e s e , nicht das R e c h t s g e s c h ä f t , s o n d e r n erst die G e l t e n d m a c h u n g der d a r a u s sich ergebenden B e r e c h t i g u n g sei N o r m s e t z u n g . 5 7 D a b e i ist es ihm allerdings w e n i g e r d a r u m zu t u n , P h ä n o m e n e p r i v a t e r R e c h t s s e t z u n g zu b e w ä l t i g e n , als die logische S t r u k t u r des s u b j e k t i v e n R e c h t s a u f z u s c h l ü s s e l n . I n t e r e s s a n t e r in u n s e r e m K o n t e x t sind die A r b e i t e n von A d o m e i t , der seine G e d a n k e n explizit v o r d e m H i n t e r g r u n d privater R e g e l s e t z u n g e n t w i c k e l t . A u s g e h e n d von einer g r u n d sätzlichen Z w e i t e i l u n g der R e c h t s n o r m e n in V e r h a l t e n s - und E r m ä c h t i g u n g s r e geln sei, so A d o m e i t , das r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e P r i v a t r e c h t den E r m ä c h t i g u n g s r e g e l n z u z u o r d n e n , die festlegten, a u f w e l c h e m W e g e V e r h a l t e n s r e g e l n z u s t a n d e g e b r a c h t w e r d e n k ö n n t e n . 5 8 E r g ä n z t w ü r d e n diese R e g e l n d u r c h sog. O r g a n i s a t i o n s r e g e l n , die b e s t i m m t e n , wer wie als R e g e l e r z e u g e r k o n s t i t u i e r t w e r d e n k ö n n e . 5 9 Als „ E r m ä c h t i g u n g von u n t e n " sei die U n t e r w e r f u n g zu v e r s t e h e n , mittels derer der Einzelne die N o r m s e t z u n g s m a c h t eines p r i v a t e n D r i t t e n , e t w a des A r b e i t g e b e r s , begründe.60 A d o m e i t hat diese S t u f u n g von E r m ä c h t i g u n g s s ä t z e n im P r i v a t r e c h t zu e i n e m N o r m s e t z u n g s m o d e l l a u s g e b a u t , das aus privaten „ G e s t a l t u n g s r e c h t e n h ö h e r e r Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts (1930), insbes. S.34ff.; s. auch schon Husserl, Rechtsgeltung, S. 26ff. s2 Manigk, Privatautonomie, S.67, S. 76f. " Manigk, Privatautonomie, S. 19ff. 54 Manigk, Privatautonomie, S.89, S.99ff. 5 5 Nach Adomeit (Rechtsquellen, S.77ff.) deshalb, weil Manigks Gedanken für die damalige Zeit zu wenig, für unsere Zeit hingegen zu viel zeitgenössische Ideologie in sich bergen. Grundsätzlich anerkennend aber die wenig später erschienene Arbeit von Ludwig Raiser (AGB, S.65, Fußnote 1); ferner Fritz von Hippel (Rechtstheorie, S. 339f.). Zum von allen drei Autoren geteilten Verständnis der Privatautonomie als „dezentraler Rechtsetzung" unten, § 6 B.I.2.a. (S. 182f.). Zu den Hintergründen der damaligen Debatte aufschlussreich R. Schröder, Rechtsgeschäftslehre in nationalsozialistischer Zeit, S. 18, 21 ff. 16 Bucher, Normsetzungsbefugnis, S.48; Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 17ff., S.35; ders., Rechtsquellen, S. 77ff.; im Ansatz auch schon Burckhardt, Organisation, S. 309ff., 350f.; diesen Ansatz fortsetzend Pawlowski, BGB AT, Rn.7ff. 57 Bucher, Normsetzungsbefugnis, S.67; Pawlowski, BGB AT, Rn.834ff.; ablehnend Habersack, Mitgliedschaft, S.25f.; Ohly, Einwilligung, S. 183. 58 Adomeit, Gestaltungsrechte, S.35ff.; ders., Rechtsquellen, S.89. 19 Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 18; ders., Rechtsquellen, S.74. 60 Adomeit, Rechtsquellen, S. 102.

§4 Allgemeine

100

Theorien

privater

Regelsetzung

O r d n u n g " und privaten „ G e s t a l t u n g s r e c h t e n erster O r d n u n g " b e s t e h t , w o b e i er unter

„Gestaltungsrecht"

-

abweichend vom üblichen juristischen

Sprachge-

b r a u c h - die B e f u g n i s zur A u s ü b u n g einer N o n n s e t z u n g s e r m ä c h t i g u n g v e r s t e h t . 6 1 G e s t a l t u n g s r e c h t e h ö h e r e r O r d n u n g seien d a n a c h s o l c h e , die zur Setzung v o n E r m ä c h t i g u n g s n o r m e n b e r e c h t i g t e n , G e s t a l t u n g s r e c h t e erster O r d n u n g j e n e , die unm i t t e l b a r zur S e t z u n g v o n V e r h a l t e n s n o r m e n e r m ä c h t i g t e n . A u s ü b u n g s f o r m all dieser E r m ä c h t i g u n g e n sei jeweils das R e c h t s g e s c h ä f t . W e r beispielsweise einen V e r t r a g s c h l i e ß t , m a c h t n a c h A d o m e i t v o n e i n e m „ G e s t a l t u n g s r e c h t erster O r d n u n g " G e b r a u c h , i n d e m er r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e V e r h a l t e n s n o r m e n b e g r ü n d e t , w e r eine V o l l m a c h t erteilt, ü b t ein „ G e s t a l t u n g s r e c h t h ö h e r e r O r d n u n g " aus, i n d e m er den B e v o l l m ä c h t i g t e n e r m ä c h t i g t , für ihn V e r h a l t e n s n o r m e n zu b e g r ü n d e n , u s w . 6 2 U n t e r E i n s c h l u s s der V e r f a s s u n g als o b e r s t e r E r m ä c h t i g u n g s n o r m g e l a n g t A d o meit so zu einer m e h r s t u f i g e n E r m ä c h t i g u n g s k e t t e , die als „ G e s t a l t u n g s r e c h t erster O r d n u n g " das zur S e t z u n g u n m i t t e l b a r e r V e r h a l t e n s n o r m e n

ermächtigende

V e r t r a g s r e c h t a u f n i m m t . D i e dritte Stufe bildet die p r i v a t r e c h t l i c h

geschaffene

V e r h a l t e n s n o r m selbst. G r a p h i s c h lässt sich das so d a r s t e l l e n : 6 3

Ermächtigungskette:

Private Normsetzung

durch

Rechtsgeschäft

Verfassung G e s e t z ( „ P r i v a t a u t o n o m i e " ) , b e s t e h e n d aus: -

„ G e s t a l t u n g s r e c h t e n h ö h e r e r O r d n u n g " (z. B. § 1 6 7 B G B )

-

„ G e s t a l t u n g s r e c h t e n erster O r d n u n g " ( z . B . § 1 4 5 B G B )

Vertrag

A d o m e i t e r g ä n z t dieses S t u f e n m o d e l l n o c h d u r c h eine E i n t e i l u n g der verschiedenen R e c h t s g e s c h ä f t e , w i e wir sie im b ü r g e r l i c h e n R e c h t positiv n o r m i e r t finden, je n a c h d e m , o b sie R e c h t e b e g r ü n d e n , ä n d e r n o d e r a u f h e b e n , o b sie relative o d e r a b solute R e c h t e b e t r e f f e n und o b sie ein- o d e r mehrseitig e r g e h e n . 6 4 Eine e n t s p r e chende, auch rechtsgeschäftsähnliche Akte einbeziehende Systematisierung hatte auch schon M a n i g k unternommen.65

II.

Resonanz

G e g e n die T h e s e v o m R e c h t s g e s c h ä f t als R e c h t s q u e l l e w u r d e n und werden i m m e r w i e d e r zwei E i n w ä n d e e r h o b e n , die ihrer D u r c h s e t z u n g bis heute den W e g e sper61 62 63

64 65

Adomeit, Gestaltungsrechte, Adomeit, Gestaltungsrechte, Diese Darstellung findet sich Adomeit, Gestaltungsrechte, Manigk, Verhalten ( 1 9 3 9 ) .

S. lOff. S. 35ff. nicht hei Adomeit. S.23ff., 39f.

C. Normlogische

Theorie:

„Rechtsgeschäft

als

Rechtsquelle"

101

ren. Zum einen wird der Vergleich der „lex contractus" mit dem staatlichen Gesetz abgelehnt, weil der Einzelne nicht Gesetzgeber in eigener Sache sein könne: Zwar gelte die privatautonome Gestaltung, soweit sie gesetzlich anerkannt werde, „ebenso wie ein Rechtssatz"; die materiale Qualifikation des Rechts komme dem privaten Akt aber nicht zu, denn anders als der Gesetzgeber sei der Private nicht an der Verwirklichung des Rechtsgedankens, sondern am eigenen Vorteil interessiert. 66 Der zweite Kritikpunkt besteht schlicht in der Frage, was mit der Einordnung der Privatautonomie als „Rechtsquelle" und der daraus abgeleiteten Taxonomie der verschiedenen ein- und mehrseitigen Rechtsgeschäfte eigentlich gewonnen werde. 67 Adomeit selbst räumt ein, dass die damit erhofften Einsichten vorwiegend analytischer Art seien: „Sie wollen nicht materialen Anforderungen genügen, sondern dem formalen Postulat nach einem widerspruchsfreien, vollständigen und mit einem Minimum von Elementen operierenden Begriffsnetz." 68 Diese formale Selbstbeschränkung hat dem normlogischen Rechtsetzungskonzept einen Vorwurf eingehandelt, der auch schon früher gegen die analytische Rechtslehre erhoben wurde: Dass es dogmatisch unergiebig und zur Lösung konkreter Rechtsfragen unbrauchbar sei. 69 Selbstverständlich, so diese Kritik, könne man eine Unterwerfungsabrede als „Ermächtigungsgeschäft" bezeichnen; die Frage, wo die Grenzen rechtsgeschäftlicher Unterwerfung verliefen, sei damit aber nicht zu beantworten.

III. Würdigung Die referierte Kritik berührt einen wunden Punkt, den wir in ähnlicher Form bei der Würdigung der positivistischen Lehre angesprochen haben. Die bewusste Selbstbeschränkung auf den Entwurf eines formalen Systems rückt die materiale Frage nach der Legitimation des privaten Normsetzers in den Hintergrund. 70 Dabei wird dieses Manko von der normlogischen - wie ja auch von der positivistischen Lehre - durchaus gesehen. Während sich diese auf die Legitimation kraft staatlichen Geltungsbefehls zurückzog, sieht jene - ähnlich der soziologischen Lehre - die Lösung im Gedanken der „Unterwerfung": Soweit das Privatrecht ausnahmsweise die heteronome Setzung von Verhaltensnormen zulasse, beruhe dies stets auf einer vorgängigen Ermächtigung durch den Normadressaten, die man mit Bötticher 71 als rechtsgeschäftliche Unterwerfung erfassen könne. 72 66 Flume, Rechtsgeschäft, S. 5 f . (unter Bezugnahme auf Savigny, System I, S. 12); Burckhardt, Organisation, S . 2 f f . , 3 5 2 ; vgl. auch Canaris, AcP 1 8 4 ( 1 9 8 4 ) , 2 0 1 , 2 1 7 f f . 6 7 Vgl. W. Böhm, J Z 1 9 7 0 , 7 6 7 , 7 6 9 f . ; s. auch Taupitz, Standesordnungen, S . 5 9 8 ; ferner die Kritik Flumes (Rechtsgeschäft, S. 1 0 8 ) an Manigks Versuch einer Systematisierung des „rechtswirksamen Verhaltens". 68 Adomeit, Gestaltungsrechte, S. 9. 69 W. Böhm,]Z 1 9 7 0 , 7 6 7 , 7 6 9 f . ; ablehnend auch Canaris, AcP 1 8 4 ( 1 9 8 4 ) , 2 0 1 , 2 1 7 f f . 7 0 Zutreffend Picker, Privatautonomie, S. 13 Fn. 1. 1 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, 1 9 6 4 .

102

§4

Allgemeine

Theorien

privater

Regelsetzung

In der Sache gelangt die normlogische Theorie damit nicht über den soziologischen Ansatz Meyer-Cordings hinaus. Oben hatten wir daran kritisiert, dass das Schlagwort von der Unterwerfung jedenfalls keine hinreichende, unter Umständen nicht einmal eine notwendige Bedingung privatrechtlicher Legitimation ausmache. Adomeit hat diesen Einwand gesehen und seine normlogischen Untersuchungen mit einem Ausblick auf weitergehende Überlegungen abgeschlossen. Auch die autonom (sprich: durch rechtsgeschäftliche Unterwerfung) vermittelte Heteronomie dürfe danach nicht zu „völliger Subordination" führen, sondern sei um den „Gedanken der Mitbestimmung" zu ergänzen. Wie an der Entstehung der heteronomen Gewalt, so müsse der Subordinierte auch an ihrer Ausübung mindestens durch Information und Mitsprache zu beteiligen sein. 73 Diese Überlegung, die Adomeit später nicht mehr ausgeführt hat, könnte sich in der Tat als ausbaufähig erweisen. In jedem Fall schlägt sie die Brücke zum jüngsten Theorieansatz, welcher die private Rechtsetzung vom Standpunkt der Politischen Ökonomie aus angeht. Oben hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass auf diesem Wege möglicherweise auch der Vorstellung, rechtsgeschäftliche Normsetzung sei im Unterschied zu staatlicher Gesetzgebung nicht am Gemeinwohl orientiert, begegnet werden könne. 7 4 Betrachten wir daher, welche Ansätze die politisch-ökonomische Theorie privater Rechtsetzung bereithält. Sodann wird zu sehen sein, ob diese mit den Einsichten der bislang erörterten Lehren auf fruchtbare Weise verbunden werden kann.

D. Ordnungsökonomische

Theorie:

„Konsens

als

Grundnorm"

I. Konzept Politische Ökonomie und Politische Philosophie haben sich seit den fünfziger Jahren zunehmend mit der Frage beschäftigt, wie die Grenzen staatlicher Mehrheitsherrschaft auf rationalem Wege präziser beschrieben werden können. Unter Rückgriff auf die Sozialvertragslehren der klassischen Staatsphilosophie haben dabei insbesondere Rawls 7 5 und B u c h a n a n 6 den Gedanken des (hypothetischen) Konsenses der von potentieller Mehrheitsherrschaft Betroffenen (wieder) in den Vordergrund gerückt und gefragt, unter welchen Bedingungen die Betroffenen ihre Autonomie aufgeben werden, wenn sie über Art und Umfang künftiger Selbstbetroffenheit von Mehrheitsentscheidungen im Ungewissen seien. 77 In der konstituAdomeit, Normgeltung, S . 5 8 f f . ; ders., Gestaltungsrechte, S . 3 6 . Adomeit, Normgeltung, S . 6 3 . 7 4 Vgl. § 3 A.II.2. (S. 57). 71 Rawls, Theory of Justice, 1 9 7 1 . 76 Buchanan/Tullock, The Calculus of Consent, 1962; Buchanan, The Limits of Liberty, 1975 (deutsch: Die Grenzen der Freiheit, 1 9 8 4 ) ; Brennan/Buchanan, The Reason of Rules, 1985 (deutsch: Die Begründung von Regeln, 1993). 7 7 Vgl. Rawls, Justice, S. 11 ff.; Brennan/Buchanan, Regeln, S . 3 7 f f . 72 7!

D. Ordnungsökonomische

Theorie:

„Konsens als

Grundnorm"

103

tionellen Ö k o n o m i k hat sich diese F r a g e s t e l l u n g als f r u c h t b a r e r w i e s e n , u m die F u n k t i o n e n historisch g e w a c h s e n e r I n s t i t u t i o n e n des V e r f a s s u n g s s t a a t e s e x a k t e r e r k l ä r e n u n d kritisieren zu k ö n n e n . D a b e i w i r d eine p o t e n t i e l l o d e r aktuell k o n sentierte M e t a r e g e l m o d e l l i e r t , w e l c h e das Z u s t a n d e k o m m e n

kollektiver

Ent-

s c h e i d u n g e n einschließlich der A u f s t e l l u n g v o n V e r h a l t e n s r e g e l n definiert, die ihrerseits n i c h t m e h r eines je zu a k t u a l i s i e r e n d e n K o n s e n s e s b e d ü r f e n , s o w e i t sie durch j e n e bereits legitimiert s i n d . 7 8 D e r A n s a t z ist n i c h t a u f P h ä n o m e n e s t a a t l i c h e r R e g e l b i l d u n g b e s c h r ä n k t , s o n dern lässt sich a u f die private R e g e l s e t z u n g ü b e r t r a g e n . D e n V e r s u c h , ein entsprec h e n d e s M o d e l l zu f o r m u l i e r e n , h a b e n H o m a n n und K i r c h n e r u n t e r n o m m e n . 7 9 A n k n ü p f e n d an die von der k o n s t i t u t i o n e l l e n Ö k o n o m i k h e r v o r g e h o b e n e U n t e r scheidung in V e r f a s s u n g s g e b u n g als regelsetzenden A k t u n d d e m H a n d e l n innerh a l b der so gesetzten R e g e l n g e l a n g e n sie z u n ä c h s t zur dreistufigen P y r a m i d e Verfassung - P r i v a t r e c h t s o r d n u n g - V e r t r a g , w i e sie a u c h die n o r m l o g i s c h e L e h r e f o r m u l i e r t h a t ( w o b e i a u c h sie der p r i v a t e n N o r m b i l d u n g i n n e r h a l b dieses R a h m e n s g r u n d s ä t z l i c h den C h a r a k t e r von R e c h t s e t z u n g z u b i l l i g e n ) . 8 0 D e r e n t s c h e i dende U n t e r s c h i e d n i c h t allein zur n o r m l o g i s c h e n , s o n d e r n zu allen a n d e r e n bisher b e t r a c h t e t e n L e h r e n liegt d a r i n , dass H o m a n n und K i r c h n e r die F r a g e der L e g i t i m a t i o n b e t o n t ins Z e n t r u m r ü c k e n . D a z u verfeinern sie z u n ä c h s t das D r e i S t u f e n - M o d e l l , i n d e m sie a u f h o h e i t l i c h e r E b e n e V e r o r d n u n g und S a t z u n g m i t e i n b e z i e h e n , a u f p r i v a t e r E b e n e n e b e n d e m A u s t a u s c h v e r t r a g a u c h k o m p l e x e Vert r a g s f o r m e n in das S c h e m a a u f n e h m e n . D a r a u s e r g i b t sich f o l g e n d e s S c h a u b i l d : 8 1

Regelhierarchie

privater

Rechtsetzung

Verfassung einfaches Gesetz Verordnung / Satzung Gesellschaftsvertrag / Unternehmensverfassung Vertragsnetz Relationaler Vertrag einfacher Austauschvertrag

Brennan/Buchanan, Regeln, S. 139ff.; Homann/Suchanek, Ökonomik, S. 194ff. Zum Folgenden Homann/Kircbner, JNPÖ 14 (1995), 189, 200ff.; Kirchner, Interaktionsregeln, S. 127ff. 80 Homann/Kirchner, JNPÖ 14 (1995), 189, 2 0 0 - 2 0 2 81 Homann/Kirchner, JNPÖ 14 (1995), 189, 202. 78

79

104

§4

Allgemeine

Theorien

privater

Regelsetzung

Die Frage, wie die verschiedenen Ebenen legitimationstheoretisch verknüpft werden können, lässt sich nach Homann und Kirchner sowohl „von oben" als auch „von unten" angehen. In beiden Fällen ist grundsätzlich der Konsens der von einer privaten Regel Betroffenen das maßgebliche Kriterium. Grundsätzlich unproblematisch ist dabei der einfache Austauschvertrag, bei dem sich kollektive und individuelle Entscheidungsebene bruchlos ineinander fügen: Die Verbindlichkeit der beiderseits konsentierten Regelung ist sowohl auf individueller Ebene gerechtfertigt als auch auf kollektiver Ebene zustimmungsfähig, weil und solange keine Drittinteressen berührt werden. 82 Problematisch sei die Legitimation privater Regelsetzung dagegen, wenn diese Wirkung auch gegenüber Dritten entfalte. Das Legitimationsproblem bestehe hier darin, dass es an einer Zustimmung der (negativ) betroffenen Dritten fehle, in der Sprache der Ökonomik also externe Effekte vorlägen. 8 ' Lösen lasse sich das Problem auf zwei Wegen: Entweder durch Einigung mit den Drittbetroffenen im Sinne einer Verhandlungslösung oder, falls dieser Weg wegen unüberwindbarer Transaktionskosten ausscheide, durch Heraufreichen der Entscheidung auf die nächst höhere F'ntscheidungsebene. Könne auch dort die Entscheidung nicht legitimiert werden, müsse weiter aufgerückt werden, gegebenenfalls bis zur Verfassungsebene. 84 Homann und Kirchner illustrieren dieses Modell am Beispiel des Kartellvertrages. 81 Durch ihn würden private Regeln gesetzt, die durch den Konsens der Vertragsparteien zunächst rechtsgeschäftlich legitimiert seien, wegen ihrer negativen Auswirkungen auf die Marktgegenseite aber einer (zusätzlichen) Legitimation bedürften. Könne diese wegen hoher Transaktionskosten nicht durch Peinigung beider Seiten beschafft werden, sei auf der nächst höheren Ebene eine Entscheidung zu suchen, die in diesem Falle negativ ausfalle (§ 1 G W B - Kartellverbot). Weil diese gesetzliche Entscheidung aber ihrerseits (möglicherweise) ohne die Zustimmung der konkret Kartellierungswilligen ergangen sei (diese wurden bei Verabschiedung des Kartellverbots nicht gefragt), müsse zu deren Legitimation wieder eine Stufe, auf die Verfassungsebene, hinaufgerückt werden. Dort sei die entsprechende Legitimation zu finden, denn - so meinen Homann und Kirchner - eine Gewährung von Vertragsfreiheit, die auch den Abschluss von Kartellverträgen umschlösse, wäre auf der Verfassungsebene nicht konsensfähig.

II. Würdigung In der juristischen Literatur hat der ordnungsökonomische Ansatz zur privaten Regelbildung bislang keine Resonanz erfahren, 8 6 so dass er unmittelbar auf seine Hamann/Kirchner, J N P Ö 14 ( 1 9 9 5 ) , 189, 2 0 3 . Homann/Kirchner,]NPÖ 14 ( 1 9 9 5 ) , 1 8 9 , 2 0 3 (Hervorhebung im Original). 84 Hamann/Kirchner, J N P Ö 14 ( 1 9 9 5 ) , 1 8 9 , 2 0 3 f . , 2 0 5 . 85 Homann/Kirchner, J N P Ö 14 ( 1 9 9 5 ) , 1 8 9 , 2 0 3 f. 8 6 Knappe Würdigung bei van Aaken, „Rational Choice" in der Rechtswissenschaft, S . 2 5 5 f . ; siehe auch dies./Hegmann, ARSP 2 0 0 2 , 2 8 , 3 0 f . 82 8!

D. Ordnungsökonomische

Theorie:

„Konsens als

Grundnorm"

105

B r a u c h b a r k e i t für unser Anliegen u n t e r s u c h t w e r d e n soll. A u g e n f ä l l i g ist z u n ä c h s t die P a r a l l e l e zum n o r m l o g i s c h e n A n s a t z , d e n n a u c h das p o l i t i s c h - ö k o n o m i s c h e M o d e l l g e h t von einem S t u f e n b i l d aus, setzt d a b e i a b e r den A k z e n t n i c h t a u f die logische A b h ä n g i g k e i t der Stufen v o n e i n a n d e r , s o n d e r n a u f deren V e r k n ü p f u n g unter l e g i t i m a t i o n s t h e o r e t i s c h e m G e s i c h t s p u n k t . D a m i t wird e b e n j e n e r A s p e k t bet o n t , dessen V e r n a c h l ä s s i g u n g wir bei den ü b r i g e n L e h r e n kritisiert h a t t e n . M i t dem K o n s e n s g e d a n k e n und der V o r s t e l l u n g einer L e g i t i m a t i o n „ v o n u n t e n " w e r den d a b e i E l e m e n t e ins Z e n t r u m g e r ü c k t , die sich g e r a d e a u s p r i v a t r e c h t l i c h e r S i c h t als f r u c h t b a r erweisen k ö n n e n . D u r c h den k o n s e n s o r i e n t i e r t e n A n s a t z wird der G e d a n k e einer „ U n t e r w e r f u n g " , der ja a u c h in der s o z i o l o g i s c h e n und logischen T h e o r i e eine R o l l e spielte, jener negativen A s s o z i a t i o n e n t k l e i d e t , die er in der p r i v a t r e c h t l i c h e n L i t e r a t u r h e r v o r g e r u f e n h a t . 8 7 U n t e r w e r f u n g unter h i e r a r c h i s c h e S t r u k t u r e n stellt sich d a n a c h n i c h t n o t w e n d i g als „ P r e i s g a b e v o n S e l b s t b e s t i m m u n g " ( F l u m e ) dar, s o n d e r n k a n n u m g e k e h r t g e r a d e

freiheitsbegründend

w i r k e n , w e n n sich a n d e r e A k t e u r e im W e g e k o l l e k t i v e r S e l b s t b i n d u n g e b e n f a l l s einer e n t s p r e c h e n d e n H e r r s c h a f t u n t e r w e r f e n . 8 8 B e d i n g u n g d a f ü r ist freilich, dass die H e r r s c h a f t nicht s c h r a n k e n l o s e r f o l g t , s o n d e r n durch T e i l h a b e der ihr U n t e r w o r f e n e n k o n t r o l l i e r t w e r d e n k a n n . 8 9 D a m i t n i m m t die o r d n u n g s ö k o n o m i s c h e T h e o r i e g l e i c h s a m den F a d e n w i e d e r a u f , den die n o r m l o g i s c h e T h e o r i e A d o m e i t s fallengelassen hatte. B e m e r k e n s w e r t ist schließlich der in diesem Z u s a m m e n h a n g s t e h e n d e H i n w e i s a u f den dynamischen

C h a r a k t e r k o n s e n s o r i e n t i e r t e r R e g e l b e g r ü n d u n g . Weil Prä-

f e r e n z e n t s c h e i d u n g e n der A k t e u r e a u f u n v o l l s t ä n d i g e n I n f o r m a t i o n e n

beruhen

o d e r im Z e i t a b l a u f Ä n d e r u n g e n e r f a h r e n k ö n n e n , d a r f k o n s e n s o r i e n t i e r t e R e g e l b e g r ü n d u n g n i c h t statisch gedeutet w e r d e n , s o n d e r n muss als v e r s u c h t e O p t i m i e rung von Prozessen v e r s t a n d e n w e r d e n . 9 0 Auch in diesem P u n k t führt der o r d n u n g s e t h i s c h e A n s a t z ü b e r das starre S t u f e n m o d e l l der N o r m l o g i k h i n a u s , denn er verweist d a r a u f , dass durch „ E r m ä c h t i g u n g " g e d e c k t e R e g e l n ihre L e g i t i m a t i o n im Z e i t a b l a u f verlieren k ö n n e n . I n s g e s a m t gesehen e r w e i s t sich das o r d n u n g s ö k o n o m i s c h e M o d e l l d a m i t als S c h i e n e , a u f der sich die A n s ä t z e der a n d e r e n L e h r e n nicht n u r f o r t f ü h r e n lassen, s o n d e r n die a u c h eine A n b i n d u n g des t h e o r e t i s c h e n M o d e l l s privater R e g e l s e t z u n g an die D o g m a t i k des g e l t e n d e n Z i v i l r e c h t s e r l a u b t .

S/ Prägnant Flume, Rechtsgeschäft, §37,1 (S.670): „Wer sich unterwirft, erkennt eine Herrschaft an. Das wäre aber gerade von Rechts wegen nicht zuzulassen, weil eine Preisgabe der Selbstbestimmung und die Unterwerfung unter eine Gestaltung von Rechtsverhältnissen in Fremdbestimmung als Rechtens nicht vorstellbar sind." 8S Hamann/Kirchner, JNPÖ 14 (1995), 189, 206. 89 Vgl. Homann/Kirchner, ebd. Kirchner, Ökonomische Theorie des Rechts, S.28.

106

§4 Allgemeine

E. Der Ertrag

Theorien

privater

der allgemeinen

Regelsetzung

Lehren

I. G e m e i n s a m k e i t e n u n d Divergenzen Die hier als allgemeine Theorien privater Normsetzung vorgestellten Konzepte eint das Bemühen, auf abstrakter Ebene das Phänomen privater Regeln modellhaft zu erfassen. Divergenzen ergeben sich dabei zunächst im Ausgangspunkt, nämlich der Frage, was als private „ N o r m " zu begreifen und daher in das Modell zu integrieren sei. Während die positivistische Lehre den Begriff im traditionellen Sinne auf solche Sätze beschränkt, die einerseits abstrakt-generell, andererseits heteronom wirken, gehen die anderen Lehren darüber mehr oder weniger weit hinaus, indem sie teilweise auch individuell adressierte und a u t o n o m geschaffene Regeln, also auch das Rechtsgeschäft, als N o r m verstanden wissen wollen. Unterschiede ergeben sich ferner mit Blick auf die Behandlung des Legitimationsproblems. Schwierigkeiten bereiten insofern namentlich solche Regeln, bei denen sich eine unmittelbare Zustimmung des Adressaten nicht ausmachen lässt. Hier gehen die Lehren auseinander: Die positivistische Lehre sieht als maßgebend den staatlichen Geltungsbefehl an, der privat gesetzten Normen Verbindlichkeit verleihe und seinerseits durch den historisch und grundrechtlich verbürgten Gedanken „gesellschaftlicher Selbstorganisation" legitimiert sei. Soziologische und normlogische Lehre stellen demgegenüber vornehmlich darauf ab, dass heteronome Regelsetzung durch einen vorgängigen autonomen Akt („Unterwerfung", „Ermächtigung") „von unten" getragen werde, in ihrer Ausübung aber gegebenenfalls durch bestimmte Kontrollmechanismen zu beschränken sei. Die ordmingsökonomischc Sichtweise rückt die Legitimationsfrage ganz in den Vordergrund, wobei sie sowohl eine Legitimation „von unten" (durch unmittelbaren Konsens der Regeladressaten) als auch „von o b e n " (durch vorgängigen Konsens über die Regeln der Regelbildung) für möglich hält. Die höhere Ebene schließt dabei nicht nur staatliche Regeln in Form von Gesetz, Verordnung und Satzung ein, sondern auch private „Verfassungen", etwa in Gestalt der Vereinssatzung.

II. Schritte zu einer Integration Die vorstehenden Überlegungen machen deutlich, dass es sich bei den dargestellten Ansätzen nicht um widerstreitende Lehren im Sinne eines klassischen Theorienstreites handelt, sondern dass verschiedene Ansichten der Kathedrale gezeichnet werden, die erst zusammengenommen das vollständige Bild ergeben. 91 Dabei können wir uns nicht damit begnügen, die verschiedenen Sichtweisen zu addieren. Denn diese gehen nicht nur von divergierenden methodischen Positionen aus, son91

Z u dieser Allegorie Calabresi/Melamed (Property Rules, Liahility Rules, and Inalienability, S.42): „This article is meant to be only one of M o n e t s paintings of the Cathedral at Rouen. To understand the Cathedral one must see all of t h e m " .

E. Der Ertrag der allgemeinen

Lehren

107

dern sind auch durch unterschiedliche Anschauungsfälle geprägt. Illustrieren etwa Homann und Kirchner ihr Konzept am Beispiel des Kartellvertrages, so ist Adomeits Modell ersichtlich vor dem Hintergrund arbeitsrechtlicher Gestaltungsfaktoren entwickelt, während Meyer-Cording allgemeine Geschäftsbedingungen und die verbandsrechtliche Satzung vor Augen hat. Um zu prüfen, ob sich nicht aus der unmittelbaren Anschauung dieser Fallgestaltungen genauere Einsichten ergeben, müssen wir daher gleichsam einen Schritt zurücktreten und die Erkenntnisse beleuchten, welche die Privatrechtswissenschaft bei der theoretischen Erfassung besonderer

Phänomene privater Regelsetzung gewonnen hat.

§ 5 Besondere Theorien privater Regelsetzung Besondere Lehren p r i v a t e r Regelsetzung h a b e n sich in verschiedenen Bereichen des d e u t s c h e n Privatrechts entwickelt. Im V e r b a n d s r e c h t lautet eine traditionelle Frage, wie die Satzung p r i v a t e r K ö r p e r s c h a f t e n theoretisch zu erfassen ist. H a n delt es sich n u r u m eine b e s o n d e r e F o r m des Vertrages, o d e r h a b e n wir es mit einer privat gesetzten N o r m zu t u n ? Auch im A G B - R e c h t w u r d e u n d w i r d die M e i n u n g vertreten, dass einseitig aufgestellte G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n entgegen der gesetzlichen Etikettierung der Sache nach private N o r m e n darstellen. A u s d r ü c k l i c h z u m R e c h t s n o r m c h a r a k t e r privater Regeln b e k e n n t sich allein das Arbeitsrecht, in d e m die Frage n a c h der R e c h t s n a t u r von Kollektivverträgen z u g u n s t e n einer legitimatio n s o r i e n t i e r t e n Betrachtungsweise z u r ü c k g e t r e t e n ist.

A. Private Regelsetzung im

Verbandsrecht

D a s w o h l älteste P h ä n o m e n privater R e c h t s e t z u n g , dass heute noch unter diesem R u b r u m diskutiert w i r d , sind die Satzungen der privaten P e r s o n e n v e r b ä n d e . Historisch gesehen ist die Vorstellung, dass es sich hierbei um N o r m s e t z u n g h a n d e l e , insofern einsichtig, als die V o r l ä u f e r der m o d e r n e n Kapitalgesellschaften, die kolonialen H a n d e l s k o m p a g n i e n , nicht n u r auf hoheitlichem G r ü n d u n g s - o d e r Ane r k e n n u n g s a k t b e r u h t e n , s o n d e r n auch a d m i n i s t r a t i v e und g o u v e r n m e n t a l e Aufg a b e n w a h r n a h m e n u n d sich d a m i t , ähnlich den Gilden, Z ü n f t e n und a n d e r e n ständischen V e r b ä n d e n , als „kleine S t a a t e n " im G e f ü g e eines insgesamt k o r p o r a tistisch verfassten S t a a t s g a n z e n begreifen ließen. 1 M i t A b s c h a f f u n g des C h a r t e r o d e r O k t r o i s y s t e m s u n d d e r Z u n f t v e r f a s s u n g , spätestens aber mit A u f h e b u n g des staatlichen G e n e h m i g u n g s z w a n g e s w u r d e diese Sichtweise f r a g w ü r d i g . D e n n o c h w u r d e im späten 19. J a h r h u n d e r t i n s b e s o n d e r e d u r c h O t t o von G i e r k e die auf u m fassende historische Studien g e g r ü n d e t e Sicht entwickelt, a u c h die frei gebildeten K ö r p e r s c h a f t e n des m o d e r n e n V e r f a s s u n g s s t a a t e s setzten „ a u t o n o m e s " , d . h . v o n staatlicher D e l e g a t i o n o d e r E r m ä c h t i g u n g u n a b h ä n g i g e s R e c h t . 2

' Ausführlich Assmann in: G r o ß k o m m / A k t G , Einl. Rn. 13 ff. Vgl. Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 120, 142ff. (u. öfter); zust. noch Pandekten I, § 19 (S.95f.). 2

Windscheid/Kipp,

A. Private

Regelsetzung

im

Verbandsrecht

109

Wiewohl diese Autonomielehre, die spätestens unter der Weimarer Reichsverfassung nicht mehr zu halten war, 3 heute nicht mehr vertreten wird, 4 lebt Gierkes Vorstellung von der realen Verbandsperson und ihrer Satzung als Rechtsnorm in theoretischen Auseinandersetzungen fort, die das deutsche Schrifttum bis in die jüngste Gegenwart hinein beschäftigen. 5 Zu den alten Kontrahenten ist zuletzt eine ökonomisch inspirierte Sichtweise getreten, die die Korporation als Vertragsnetz begreifen will und damit nicht nur die Lehre vom Normcharakter der Satzung, sondern die Theorie der juristischen Person insgesamt herausfordert. Bei der Erörterung beider Problemkreise wird sich zeigen, dass der Theorienstreit auf Sachfragen verweist, die über das Gesellschaftsrecht hinaus für die private Normsetzung von Bedeutung sind. I. Die „Rechtsnatur" der Satzung l. Der

Theorienstreit

Der traditionelle Streit um die Rechtsnatur der Satzungen privater Körperschaften, der sich bis in die jüngsten Auflagen der Kommentarliteratur zieht, wird zwischen sog. Vertragstheorie und sog. Normentheorie ausgefochten. Nach der auf Gierkes Sicht zurückgehenden „ N o r m e n t h e o r i e " ist die Satzung das auf die Vereinsautonomie gegründete objektive Gesetz, das durch schöpferischen Gesamtakt entsteht und sich den Mitgliedern vom Erwerb der Mitgliedschaft an verpflichtend auferlegt. Ähnlich einem Tarifvertrag oder einer Betriebsvereinbarung sei dies als ein Fall staatlich delegierter Normsetzung zu begreifen. 6 Für die „ Vertragstheorie", die mit v. Tuhr ebenfalls auf einen prominenten Namen zurückgreift, stellt die Satzung hingegen nur eine besondere Erscheinungsform des Vertrages dar. 7 Ihre ursprüngliche Entstehung beruhe auf einer vertraglichen Vereinbarung der Gründer, ihre Geltung für spätere Mitglieder legitimiere sich aus entsprechenden Beitrittsverträgen. 8 Einen vermittelnden Weg versucht eine als „ m o d i f i z i e r t e Normentheorie" bezeichnete Sicht zu beschreiten. Nach dieser, insbesondere in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung, ist die Satzung „zwar zunächst ein von den Gründern geschlossener Vertrag", der sich aber mit der Entstehung der Körperschaft von deren Person löse und ein „rechtliches Eigenleben" erlange, indem er zur körperschaftlichen Verfassung werde, die fortan das rechtliche Wollen der Körperschaft als der Zusammenfassung ihrer Mitglieder objektiviere. 9

' Vgl. Enneccerus/Kipp/Wolff, BGB AT, § 4 1 (S. 89f.) mit Nachweisen aus dem zeitgenössischen Schrifttum. 4 Zu „modernen" Autonomiekonzepten unten, § 6.B.I.2. (S. 181 ff.). ^ Instruktiv K. Schmidt, Einhundert Jahre Verbandstheorie im Privatrecht, S. 3 ff. 6 MünchKommBGB/Rewier, § 2 5 Rn. 1 6 - 2 0 . 7 von Tuhr, BGB AT, S . 5 0 3 . s Soergel/Hadding, BGB, Vor § 2 1 R n . 5 0 ; Steinheck, Vereinsautonomie, S. 185. 9 B G H Z 4 7 , 172, 179ff.; Palandt/Heumchs, BGB, § 2 5 R n . 3 ; Kühler, Gesellschaftsrecht, § 10 I (S. 112); grundsätzlich auch schon Burckhardt, Organisation, S . 3 1 1 , 3 4 1 .

110

§ 5 Besondere

Theorien privater

Regelsetzung

V e r t r a g s - wie N o r m e n t h e o r i e b e h a u p t e n sich v o r n e h m l i c h d a d u r c h , dass sie die U n z u l ä n g l i c h k e i t e n der jeweils a n d e r e n Sicht h e r a u s s t e l l e n . S o w i r f t die N o r m e n t h e o r i e der V e r t r a g s l e h r e vor, sie stehe allzu sehr unter dem E i n d r u c k einer R e c h t s q u e l l e n l e h r e , die v o m D u a l i s m u s z w i s c h e n R e c h t s g e s c h ä f t und G e s e t z b e h e r r s c h t w e r d e , i g n o r i e r e Ziel und W i r k u n g s w e i s e der S a t z u n g , die der eines s t a a t l i c h e n G e s e t z e s e n t s p r e c h e , s c h w e b e in der s t ä n d i g e n G e f a h r , um der V e r t r e t b a r k e i t ihrer E r g e b n i s s e willen die v e r t r a g s r e c h t l i c h e n K a t e g o r i e n zu ü b e r d e h n e n und m i t W i l l e n s f i k t i o n e n zu a r b e i t e n , e r m ö g l i c h e im G e g e n s a t z zu ihren e r k l ä r t e n A b s i c h t e n eine deutlich w e i t e r g e h e n d e D i s z i p l i n i e r u n g der M i t g l i e d e r , und e n t z i e h e diese schließlich

dem gegenüber

der V e r b a n d s g e w a l t

gebotenen

Schutz durch

die

G r u n d r e c h t e . 1 0 D e m g e g e n ü b e r m o n i e r t die V e r t r a g s l e h r e , die N o r m e n t h e o r i e füge sich s y s t e m a t i s c h n i c h t in die r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e n G r u n d l a g e n des Z i v i l r e c h t s ein, ü b e r s e h e , dass das R e c h t s g e s c h ä f t n i c h t a u f den s c h u l d r e c h t l i c h e n A u s t a u s c h v e r t r a g v e r k ü r z t w e r d e n k ö n n e , führe zu R e c h t s u n s i c h e r h e i t e n , unterstütze freih e i t s m i n d e r n d e k o l l e k t i v i s t i s c h e T e n d e n z e n im V e r b a n d s r e c h t und laufe a u f eine m e t h o d i s c h unzulässige „ B e g r i f f s i n v e r s i o n " h i n a u s . 1 1 E i n i g sind sich die L e h r e n i m m e r h i n d a r i n , den v e r m i t t e l n d e n W e g der R e c h t s p r e c h u n g zu geißeln, d e n n wie sich die „ M e t a m o r p h o s e " v o m V e r t r a g in o b j e k t i v e N o r m e n vollziehen k ö n n e , bleibe s c h l e c h t h i n „ r ä t s e l h a f t " . 1 2

2. Die praktische Irrelevanz des Streites B e t r a c h t e t m a n Anliegen und E r g e b n i s s e der streitenden I.ehren, fällt entgegen allen B e t e u e r u n g e n ü b e r die p r a k t i s c h e R e l e v a n z des Streites a u f , dass sich in dieser H i n s i c h t k e i n e n e n n e n s w e r t e n U n t e r s c h i e d e z e i g e n . 1 1 S o sehen beide S e i t e n , dass die juristische B e h a n d l u n g der S a t z u n g im H i n b l i c k a u f Einzelfragen - W i l l e n s m ä n g e l und A u s l e g u n g - v o n der eines g e w ö h n l i c h e n A u s t a u s c h v e r t r a g e s a b w e i c h e n m u s s . D a die e r f o l g r e i c h e G e l t e n d m a c h u n g von W i l l e n s m ä n g e l n m i t der Folge des A u s s c h e i d e n s des b e t r e f f e n d e n M i t g l i e d e s R ü c k w i r k u n g e n a u f die übrigen M i t g l i e d e r h a b e n k a n n , hat sich frühzeitig die E r k e n n t n i s d u r c h g e s e t z t , dass ihr S c h r a n k e n gesetzt w e r d e n m ü s s e n , die ü b e r die des b ü r g e r l i c h e n R e c h t s hinaus geh e n . E b e n s o u n b e s t r i t t e n ist der U m s t a n d , dass w e g e n der B e d e u t u n g der S a t z u n g als R ü c k g r a t einer R e c h t s o r g a n i s a t i o n m i t w e c h s e l n d e m M i t g l i e d e r b e s t a n d ihre Auslegung g r u n d s ä t z l i c h o b j e k t i v e n M a ß s t ä b e n zu folgen h a t . O b m a n zur Beg r ü n d u n g dieser E r g e b n i s s e einer M o d i f i k a t i o n o d e r t e l e o l o g i s c h e n

Korrektur

r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e r R e g e l n das W o r t redet (so die „ V e r t r a g s t h e o r i e " ) , o d e r o b m a n dazu Parallelen z u m o b j e k t i v e n R e c h t zieht (so die „ N o r m e n t h e o r i e " ) , m a c h t für das E r g e b n i s k e i n e n U n t e r s c h i e d . MünchKommBGB/ReHier, § 2 5 R n . l 7 f f . Soergel/Hadding, BGB, Vor § 2 1 Rn.49; § 2 5 Rn. 16f. 12 Steinbeck, Vereinsautonomie, S. 185; MünchKommBGB/ReMier, § 2 5 Rn.20; Soergel IHadding, BGB, § 2 5 Rn. 14. 11 Bär, Vereinsautonomie, S. 172; s. auch schon von Tukr, BGB AT, S.505. 10

11

A. Private Regelsetzung

im

Verbandsrecht

111

Ferner wird von allen streitenden Lehren a n e r k a n n t , dass das Mitglied des Schutzes gegen besondere G e f ä h r d u n g e n bedarf, wie sie beim gewöhnlichen Austauschvertrag typischerweise nicht bestehen. Diese G e f ä h r d u n g e n liegen darin, dass das Mitglied mit Entscheidungen k o n f r o n t i e r t werden k a n n , denen es nicht k o n k r e t zugestimmt hat (namentlich: Vereinsstrafe und Mehrheitsbeschluss), oder deren Sinngehalt es nicht immer zu d u r c h s c h a u e n oder zu beeinflussen vermochte (unangemessene Satzungsklauseln). Im Kern ist m a n sich heute einig, dass diesen G e f a h r e n , w o sie virulent w e r d e n , d u r c h eine gerichtliche Kontrolle der betreffenden Bestimmungen oder Entscheidungen zu begegnen ist. 1 4 N o c h deutlicher als an den vorangegangenen Beispielen zeigt sich dabei, dass die streitenden Lehren in der Sache nicht weiter führen. Ebenso wenig wie eine R e c h t s n o r m per se einer Inhaltskontrolle unterliegt, ist diese beim Rechtsgeschäft o h n e weiteres verzichtbar. G r u n d u n d Grenzen der Inhaltskontrolle müssen aus anderen (sachlichen) Kriterien g e w o n n e n werden. Einigkeit in den Kernfragen - Fruchtlosigkeit f ü r die Einzelfragen: Angesichts dieses Befundes k ö n n t e man den Theorienstreit als akademisches Problem beiseite legen, um die genannten Probleme in pragmatischer M a n i e r von Fall zu Fall zu lösen. Dieser Weg, der in der Literatur von Zeit zu Zeit eingeschlagen wird, 1 5 ließe indes außer Betracht, dass hinter den streitenden T h e o r i e n Sachfragen stecken, die es offen zu legen gilt. Die Beleuchtung des Streites enthüllt dabei Missverständnisse, deren Auflösung die rechtlichen Grundlinien privater N o r m s e t z u n g deutlicher zutage treten lässt.

.3. Die Sachfrage:

Legitimation

privater

Ordnung

Einen Weg, den „Theorienstreit" auf f r u c h t b a r e Weise zu ü b e r w i n d e n , hat Herbert W i e d e m a n n gewiesen. 1 6 A u s g a n g s p u n k t seiner Überlegung ist die von den analytischen Lehren ü b e r n o m m e n e Einsicht, dass sich R e c h t s n o r m u n d Rechtsgeschäft normlogisch gesehen nicht unterscheiden, da es sich in beiden Fällen um Sollenssätze handelt. 1 7 Die vermeintlich „rätselhafte M e t a m o r p h o s e " v o m Rechtsgeschäft zur R e c h t s n o r m findet so gesehen gar nicht statt, denn ein rechtsgeschäftlich begründeter Imperativ behält seinen C h a r a k t e r als Sollenssatz u n a b hängig d a v o n , o b m a n ihn als „ N o r m " einstufen will oder nicht. Als Sollenssatz ist die Satzung N o r m , als d u r c h Willenserklärungen begründete N o r m ist sie Rechtsgeschäft. N o r m - wie Vertragstheorie beleuchten das nämliche P h ä n o m e n also nur 14 Die Grundsatzentscheidungen lauten: B G H Z 64, 2 3 8 (Inhaltskontrolle der Satzung von Publikumsgesellschaften); B G H Z 71, 40 (Inhaltskontrolle von Mehrheitsbeschlüssen); B G H Z 87, 3 3 7 u. B G H Z 102, 2 6 5 (Überprüfung von Vereinsstrafen); B G H Z 103, 2 1 9 (Inhaltskontrolle von Genossenschaftssatzungen); B G H Z 105, 306 (Inhaltskontrolle der Satzung von Großvereinen). Umfassende Analyse der Entwicklung bei Fastrich, Inhaltskontrolle, S. 1 2 4 - 1 5 9 . 15 Etwa Nitschke, Personengesellschaft, S. 173; relativierend aus rechtsvergleichender Sicht auch Wiedemann, Gesellschaftsrecht I I, S. 179. 16 Vgl. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S. 161 f. 17 S.o., § 4 C.I. (S. 98f.).

112

§5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

a u s v e r s c h i e d e n e n B l i c k w i n k e l n , bilden m i t h i n keine G e g e n s ä t z e , s o n d e r n stellen T e i l a s p e k t e d e s s e l b e n P r o b l e m s dar. D a m i t - und das ist e n t s c h e i d e n d - wird der B l i c k frei für den materiellen

Gehalt

der U n t e r s c h e i d u n g v o n R e c h t s n o r m und R e c h t s g e s c h ä f t , der sich in zwei R i c h t u n g e n ä u ß e r t : N a c h W i r k u n g s w e i s e und I n h a l t , w e l c h e bei der R e c h t s n o r m d u r c h a b s t r a k t e , generelle, d a u e r h a f t e und r e c h t s f o l g e n s p e z i f i s c h e r e

Regeln

geprägt

sind, und n a c h d e m G e l t u n g s g r u n d , der bei der R e c h t s n o r m in f r e m d e r A n o r d n u n g , b e i m R e c h t s g e s c h ä f t in freiwilligem E i n v e r s t ä n d n i s l i e g t . I S J e n a c h d e m , o b m a n nun die W i r k u n g s w e i s e und den I n h a l t o d e r den G e l t u n g s g r u n d als A n k n ü p f u n g s p u n k t w ä h l t , tritt der n o r m a t i v e o d e r der r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e C h a r a k t e r der S a t z u n g in den V o r d e r g r u n d , und sind - so jedenfalls W i e d e m a n n - die für R e c h t s n o r m e n o d e r für R e c h t s g e s c h ä f t e geltenden R e g e l n a u f die b e t r e f f e n d e F r a g e anzuwenden.19 G e s e l l s c h a f t s r e c h t l i c h k a n n diese E i n s i c h t , die im v o m T h e o r i e n s t r e i t g e b a n n t e n S c h r i f t t u m erst z u r ü c k h a l t e n d w a h r g e n o m m e n w i r d , 2 0 f r u c h t b a r g e m a c h t w e r d e n , um die ü b e r k o m m e n e T r e n n u n g z w i s c h e n S a t z u n g (der juristischen P e r s o n ) und G e s e l l s c h a f t s v e r t r a g

(der P e r s o n e n g e s e l l s c h a f t ) zu ü b e r w i n d e n . 2 1

D e r Er-

k e n n t n i s g e w i n n reicht a b e r w e i t e r : E r m a c h t den Blick frei für a l l g e m e i n e r e Fragestellungen, die d u r c h den v e r m e i n t l i c h e n G e g e n s a t z der streitenden T h e o r i e n n a c h wie v o r verstellt sind. D i e z e n t r a l e , d u r c h das G e g e n s a t z p a a r

„Rechtsgeschäft"

und „ R e c h t s n o r m " s c h l a g w o r t a r t i g g e k e n n z e i c h n e t e F r a g e s t e l l u n g ist die n a c h der Legitimation

eines R e c h t s b e f e h l s . 2 2 Sie stellt sich nicht n u r bei einem G r ü n -

dungs- o d e r B e i t r i t t s a k t , s o n d e r n stets d a n n , w e n n ein S o l l e n s s a t z g e g e n ü b e r Dritten u n m i t t e l b a r o d e r m i t t e l b a r G e l t u n g e r h e i s c h t . D e r B e g r i f f des R e c h t s g e s c h ä f t s bringt dabei n i c h t m e h r und n i c h t w e n i g e r als das p r i v a t r e c h t l i c h e Ideal zum Ausd r u c k , einen s o l c h e n Befehl g r u n d s ä t z l i c h n u r bei Z u s t i m m u n g des Adressaten als v e r b i n d l i c h a n z u s e h e n . E i n e zweite F r a g e s t e l l u n g betrifft I n h a l t und W i r k u n g s weise, kurz: die S t r u k t u r einer p r i v a t r e c h t l i c h gestalteten S o z i a l b e z i e h u n g . Dieser U n t e r s c h i e d , in s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h e n S c h l a g w ö r t e r n m i t dem G e g e n s a t z p a a r „ M a r k t " und „ O r g a n i s a t i o n " g e k e n n z e i c h n e t , b e s t e h t d a r i n , dass sich die Satzung als o r g a n i s a t o r i s c h e s R e g e l w e r k g e g e n ü b e r dem A u s t a u s c h v e r t r a g typischerweise durch h i e r a r c h i s c h e E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s s e a u s z e i c h n e t .

Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S. 162. Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S.162f. 2 0 Aufgeschlossen etwa K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, S. 81. Dagegen will Vietveg, Normsetzung, S. 321 f., den Theorienstreit dadurch auflösen, dass er privaten Verbänden die Wahl zwischen Regelsetzung durch Norm und solcher durch Rechtsgeschäft eröffnet. Das ist nicht überzeugend (zur Kritik unten, § 7 A.II.l., S.234). Taupitz, Standesordnungen, S.559ff., beschreibt zutreffend das Sachproblem, sieht sich aber dennoch genötigt, im Theorienstreit Stellung zu beziehen (zugunsten der „Normtheorie"). 21 Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S.165; ders., Personengesellschaften, S. 2f.; im Ansatz auch schon Nitschke, Personengesellschaft, S. 160. 22 Richtig Teubner, Organisationsdemokratie, S.320; s. auch Taupitz, Standesordnungen, S. 691 f. 18 19

A. Private

Regelsetzung

im

Verbandsrecbt

113

Vor diesem Hintergrund muss das einfache Zwei-Stufen-Modell der Satzung, wie es der „modifizierten Normtheorie" zugrunde liegt, in zweierlei Hinsicht korrigiert werden. Erstens kann der dargestellte Zusammenhang zwischen Legitimation und Struktur der Ordnung nicht auf ein zeitliches Nacheinander reduziert werden, denn Legitimation und hierarchische Struktur folgen nicht aufeinander, sondern bedingen sich wechselseitig. Eine hierarchische Struktur enthält den Verzicht auf jeweils neu zu aktualisierende Zustimmungen, während umgekehrt eine einmalige Zustimmung möglicherweise nur eingeschränkt hierarchische Strukturen zu tragen vermag und daher zusätzliche Legitimationsinstrumente erfordert, wie wir sie beispielhaft in der Inhaltskontrolle von Satzung und Vereinsstrafe antreffen. 23 Zweitens stellt jene Verknüpfung von Legitimations- und Strukturfrage weder eine Besonderheit des Körperschafts- noch auch nur des Gesellschaftsrechts dar, sondern prägt mindestens jedes „Dauerrechtsverhältnis", 2 4 richtig verstanden sogar jede privatrechtlich begründete Rechtsbeziehung. Beim einfachen Austauschvertrag wird das in aller Regel durch den Umstand verborgen, dass viele Fragen nur deshalb nicht akut werden, weil sie positiv-rechtlich bereits entschieden sind. Halten wir fest: Da jede rechtsgeschäftliche Regelung immer auch private Ordnung gestaltet, ist private Regelsetzung keine Besonderheit des Verbandsrechts. „Vertragstheorie" und „Normentheorie" reden insoweit aneinander vorbei, als sie jeweils verschiedene Ebenen ansprechen. Die Vertragstheorie, die in der Satzung lediglich eine besondere Form des Rechtsgeschäfts erblickt, lässt außer acht, dass „das Rechtsgeschäft" lediglich ein Abstraktionsbegriff ist, der die ideale Legitimation privater Ordnung zum Ausdruck bringen soll. Eine andere Ebene spricht die sog. Normentheorie an, wenn sie die Aufmerksamkeit auf die hierarchische Struktur der verbandsmäßigen Ordnung lenkt. Aus der begrifflichen Kennzeichnung dieser Ordnung als „Norm" lassen sich nicht ohne weiteres Schlüsse, etwa im Sinne einer unmittelbaren Geltung staatsrechtlicher Grundsätze, ableiten. Doch ist mit dem Strukturelement eine Sachfrage angesprochen, welche neben derjenigen der Legitimation für das Verstehen privater Rechtsetzung von ausschlaggebender Bedeutung sein kann. Legitimation und Struktur privater Ordnung stehen nicht notwendig im Verhältnis des zeitlichen Nacheinander, sondern bedingen sich gegenseitig. Hierarchische Strukturen bedürfen unter Umständen zusätzlicher Legitimationsmechanismen, können dann aber ohne jeweils neu einzuholenden Konsens als private Ordnung auf die Adressaten zurück wirken.

II. Die „Rechtsnatur" der juristischen Person Mit dem Stichwort „Hierarchie" ist ein Problemkreis angesprochen, der über die Rechtsnatur der Satzung hinausweist auf das Gebilde, das mit der Satzung als 21 24

S.o. hei Fußnote 14. So Wiedemann, Personengesellschaften, S . 3 .

114

§ 5 Besondere

Theorien privater

Regelsetzung

G r ü n d u n g s v e r t r a g g e s c h a f f e n w i r d . In der d e u t s c h e n juristischen D i s k u s s i o n w i r d diese F r a g e t r a d i t i o n e l l u n t e r dem A s p e k t der „ R e c h t s n a t u r " der juristischen Person a b g e h a n d e l t . D i e N o r m e n t h e o r i e steht i n s o f e r n in e n g e m Z u s a m m e n h a n g m i t d e m G i e r k e ' s c h e n V e r s t ä n d n i s der K ö r p e r s c h a f t als realer V e r b a n d s p e r s o n . D o c h n i c h t h i s t o r i s c h e N e u g i e r verleiht d e m Streit in u n s e r e m K o n t e x t B e d e u t u n g , s o n dern der U m s t a n d , dass zu den streitenden F i k t i o n s - und V e r b a n d s l e h r e n m i t der sog. V e r t r a g s n e t z t h e s e in n e u e r e r Z e i t ein A n s a t z getreten ist, der den B l i c k w i e d e r d a r a u f lenkt, dass das P h ä n o m e n des V e r b a n d e s t h e o r e t i s c h nicht nur im A u ß e n - , s o n d e r n a u c h i m I n n e n v e r h ä l t n i s der „ N o r m u n t e r w o r f e n e n " von B e d e u t u n g ist.

1. Der

Theorienstreit

A u c h der parallel zur D e b a t t e u m die „ R e c h t s n a t u r " der S a t z u n g g e f ü h r t e Streit ü b e r die „ R e c h t s n a t u r " der j u r i s t i s c h e n P e r s o n 2 5 ist ein „völlig d e u t s c h e r G e g e n s t a n d " 2 6 , der in der a n g e l s ä c h s i s c h e n L i t e r a t u r k a u m n o c h eine R o l l e s p i e l t . 2 7 In D e u t s c h l a n d w u r d e er a m L e b e n e r h a l t e n durch die v o m positiven R e c h t n i c h t a u s d r ü c k l i c h e n t s c h i e d e n e F r a g e n a c h der R e c h t s f ä h i g k e i t der G e s e l l s c h a f t b ü r g e r l i c h e n R e c h t s ( G b R ) und der sog. V o r g e s e l l s c h a f t . Beide F r a g e n k ö n n e n heute als erledigt b e t r a c h t e t w e r d e n : P r a k t i s c h d u r c h G e s e t z g e b e r und R e c h t s p r e c h u n g , die die R e c h t s f ä h i g k e i t s o w o h l der G b R als a u c h der V o r g e s e l l s c h a f t g r u n d s ä t z l i c h a n e r k a n n t h a b e n , 2 8 t h e o r e t i s c h d u r c h r e c h t w i s s e n s c h a f t l i c h e U n t e r s u c h u n g e n , die h e r a u s g e a r b e i t e t h a b e n , dass „ R e c h t s f ä h i g k e i t " nur eine m e h r oder w e n i g e r ausg e p r ä g t e r e c h t l i c h e V e r s e l b s t ä n d i g u n g a n s p r i c h t , die nicht beliebig verliehen o d e r versagt w i r d , s o n d e r n an das Vorliegen b e s t i m m t e r F u n k t i o n s e l e m e n t e

(Hand-

lungs-, H a f t u n g s - , I d e n t i t ä t s f ä h i g k e i t ) g e k n ü p f t i s t . 2 9

Die Vertragsnetzthese

2.

(„nexus

of

contracts")

M a n k ö n n t e es w i e d e r u m d a m i t b e w e n d e n lassen und a u c h diesen T h e o r i e n s t r e i t z u g u n s t e n p r a k t i s c h e r F r a g e n a d a c t a legen, d o c h w ä r e der A u s w e g a u c h hier zu e i n f a c h . H e r a u s g e f o r d e r t w i r d der alte d e u t s c h e Streit d u r c h ein T h e o r i e k o n z e p t , das sich g e r a d e in u n s e r e m Z u s a m m e n h a n g als f r u c h t b a r erweisen k a n n . G e m e i n t

Ausführliche Darstellung bei Flume, Juristische Person, S. 3ff.; John, Rechtsperson, S. 2 2 f f . Flume, Juristische Person, S . 2 4 f . (mit rechtsvergleichenden Nachweisen). 2 7 Ausführlich Darstellung noch bei Herrn, Corporations, S. 107ff. Aktuelle Lehrbücher aus dem angelsächsischen Rechtskreis referieren den Streit meist nicht mehr. Siehe aber auch Hansmann/Kraakman, 110 Yale L.J. 3 8 7 , 4 3 8 f. ( 2 0 0 0 ) und die dortigen Hinweise auf die deutsche Debatte des 19. Jahrhunderts. 25 26

2 8 Zur Rechtsfähigkeit der G b R s. § 191 II Nr. 1 UmwG sowie B G H Z 146, 3 4 1 ; zur Rechtsfähigkeit der Vorgesellschaft B G H Z 8 0 , 129. 2 9 Wegbereitend Fahricius, Relativität der Rechtsfähigkeit (1963); John, Rechtsperson, insbes. S. 72ff., S. 2 1 8 f f . ; ferner Pawlowski, B G B AT, Rn. 109ff. Nach Flume (YS Kegel, S. 151) handelt es sich bei dieser Sichtweise um eine Kombination der Brinz'schen Zweckvermögenstheorie und der Hölder'schen Amtsträgertheorie.

A. Private

Regelsetzung

im

Verbandsrecht

115

ist die sog. Vertragsnetzthese („nexus of contracts"), die in der jüngeren deutschen Literatur - soweit wahrgenommen 3 " - den herkömmlichen Theorien der juristischen Person gegenübergestellt wird. " Der These, wie sie meist verkürzt wiedergegeben wird, soll dabei die Sicht zugrunde liegen, dass die juristische Person konzeptionell nur ein Vertragsgeflecht darstelle zwischen den verschiedenen Beteiligten, namentlich den Gesellschaftern untereinander und zu der Unternehmensleitung. Bevor wir uns mit der Frage auseinandersetzen, welchen Erkenntnisertrag eine derartige Sichtweise in unserem Kontext erbringen kann, ist ein caveat angebracht. Die Vertragsnetzthese ist, erstens, ihrem Ursprung nach keine juristische, sondern eine ökonomische Theorie, und sie ist zum zweiten keine Theorie der juristischen Person, sondern eine Theorie der Unternehmung. Sie ist eine ökonomische Theorie, weil sie mit „Vertragsnetz" nicht das Vorliegen von Verträgen im rechtlichen Sinne behauptet, sondern lediglich die Beziehungen der an der Unternehmung im weiteren Sinne Beteiligten als Austauschbeziehungen modelliert, sie ist eine Theorie der Unternehmung, indem sie dieses mikroökonomische Modell nicht allein auf als juristische Person verfasste Unternehmen, sondern auf jede Form der Unternehmung anwendet. Fruchtbar erscheint die Vertragsnetzthese in unserem Kontext vor allem deshalb, weil sie die mit dem funktionalen Verständnis der „juristischen Person" (wieder) ins Zentrum gerückte Frage aufwirft, welche sozialen Vorteile das Recht mit der Schaffung bestimmter organisatorischer Strukturen eigentlich bewirkt. Zum Teil wird der Vorteil juristischer Personifizierung in der Absonderung einer Vermögensmasse („asset partitioning") gesehen, die den Gläubigern eine kalkulierbare Befriedigungschance zuweise und damit ökonomisch vorteilhafte Transaktionen ermögliche. 12 Dieser, im Kern auf Brinz und Savigny zurückführende 1 ' Ansatz ist insofern zustimmungswürdig, als er die in Deutschland immer noch als Dogma behandelte Dichotomie von Gesamthand und juristischer Person überwinden hilft. Ob er als alleiniges oder auch nur entscheidendes Kriterium taugt, mag bezweifelt werden, kann hier aber dahin stehen, denn jedenfalls für das Thema privater Normsetzung sind nicht die vermögensmäßigen Beziehungen der an der juristischen Person im weiteren Sinne Beteiligten von Interesse, sondern die mit dieser Figur verbundenen Entscheidungsbefugnisse. Sie bilden, wie wir bei der Erörterung der Satzung bereits andeuteten, ein entscheidendes Element verbandsmäßiger Strukturen und werfen entsprechende Legitimationsprobleme auf. Diese

i 0 Frühe und umfassende Würdigung hei Schanze, J N P Ö 1 9 8 3 , S. 161, 165ff. " Vgl. etwa Adams, Eigentum, S. 14f.; Walz, AG 1 9 9 6 , S. 161, 165; Spindler, AG 1 9 9 8 , 53, 5 8 , 7 4 . Kritisch Hueck/Windhichler, Gesellschaftsrecht, § 1 R n . 2 8 (mit F n . 4 8 ) . i 2 So namentlich Hansmann/Kraakman, 110 Yale L.J. 3 8 7 , 3 9 0 f f . , 4 3 9 Fn. 82 ( 2 0 0 0 ) ; ähnlich schon Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, S. 195ff. („Theorie des organisierten Sondervermögens"). " Vgl. Fiume, FS Kegel, S. 147, 152.; ders., Juristische Person, S . 2 2 Fn. 1 3 2 ; Hansmann/ Kraakman, 1 10 Yale L.J. 3 8 7 , 4 3 9 F n . 8 2 ( 2 0 0 0 ) .

116

§ 5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

B e s o n d e r h e i t e n zu e r k l ä r e n w a r a u c h der h i s t o r i s c h e A u s g a n g s p u n k t der V e r t r a g s netzthese. M i t allen A b w a n d l u n g e n , w e l c h e die B e h a n d l u n g des T h e m a s seit seiner „ E n t d e c k u n g " d u r c h C o a s e 3 4 e r f a h r e n h a t , ist die G r u n d f r a g e d a b e i im w e s e n t l i c h e n dieselbe g e b l i e b e n : W a r u m ü b e r t r a g e n Individuen e i n e m zentralen A g e n t e n ( „ A r b e i t g e b e r " , „ j u r i s t i s c h e P e r s o n " etc.) freiwillig die B e f u g n i s , den E i n s a t z ihrer jeweiligen R e s s o u r c e n ( A r b e i t , K a p i t a l ) in e i n e m b e s t i m m t e n S i n n e zu dirigieren o d e r zu g e s t a l t e n , a n s t a t t sich die E n t s c h e i d u n g d a r ü b e r jeweils selbst v o r z u b e h a l t e n ? 3 5 J u r i s t i s c h ü b e r s e t z t u n d a u f unsere F r a g e s t e l l u n g zugespitzt: W a r u m u n t e r w e r f e n sich Individuen d e m N o r m s e t z u n g s - u n d D i r e k t i o n s r e c h t eines p r i v a t e n D r i t t e n ? D i e A n t w o r t e n , die Ö k o n o m e n h i e r a u f im L a u f e der Z e i t zu g e b e n vers u c h t h a b e n , f ü h r t e n zu v e r s c h i e d e n e n „ T h e o r i e n der U n t e r n e h m u n g " , 3 6 die n i c h t a n d e r s als die j u r i s t i s c h e D e b a t t e ü b e r die „ R e c h t s n a t u r " der S a t z u n g - z u m Teil v o n M i s s v e r s t ä n d n i s s e n g e p r ä g t war. W o l l e n wir a u s den ö k o n o m i s c h e n E i n sichten für die r e c h t l i c h e B e t r a c h t u n g K a p i t a l s c h l a g e n , m ü s s e n diese u n t e r s c h i e d lichen S i c h t w e i s e n der K o r p o r a t i o n a u s e i n a n d e r g e h a l t e n w e r d e n : Ö k o n o m e n , die das Bild der g r o ß e n A k t i e n g e s e l l s c h a f t als A u s g a n g s p u n k t w ä h len, g e l a n g e n n a h e z u a u t o m a t i s c h zu der E i n s i c h t , die E x i s t e n z b e r e c h t i g u n g der juristischen P e r s o n liege allein d a r i n , dass der A b s c h l u s s von E i n z e l v e r t r ä g e n unter T a u s e n d e n a n o n y m e r K a p i t a l g e b e r , A r b e i t n e h m e r und L i e f e r a n t e n s c h l i c h t unm ö g l i c h ist, so dass die juristische P e r s o n z u m „ k ü n s t l i c h e n " A n k n ü p f u n g s p u n k t w i r d , der d u r c h P r a k t i k a b i l i t ä t s g r ü n d e g e r e c h t f e r t i g t ist, j e d o c h keine d a r ü b e r hin a u s g e h e n d e E x i s t e n z b e r e c h t i g u n g h a t . 3 7 Bei dieser S i c h t der D i n g e b e s t e h t das eig e n t l i c h e P r o b l e m d a r i n , die d u r c h die „ k ü n s t l i c h e " Z w i s c h e n s c h a l t u n g der K o r p o r a t i o n und ihrer O r g a n e g e s c h a f f e n e n A n r e i z p r o b l e m e ( „ A g e n c y - c o s t s " ) zu bes c h r e i b e n , zu b e w e r t e n , und a u s d e m W e g zu r ä u m e n ( „ P r i n c i p a l - A g e n t - M o d e l l " ) . D a z u ist das „ k ü n s t l i c h e " B ü n d e l K o r p o r a t i o n g e d a n k l i c h a u f z u s c h n ü r e n in Aust a u s c h b e z i e h u n g e n aller im w e i t e r e n S i n n e an der K o r p o r a t i o n Beteiligten ( A k t i o n ä r e , M a n a g e r , A r b e i t n e h m e r , K r e d i t g e b e r , L i e f e r a n t e n ) . In der

finanzwissen-

s c h a f t l i c h e n F o r s c h u n g h a t sich diese V e r s i o n der V e r t r a g s n e t z t h e s e für die U n t e r s u c h u n g der K a p i t a l s t r u k t u r , i n s b e s o n d e r e des V e r h ä l t n i s s e s von A k t i o n ä r e n zu K r e d i t g e b e r n , als sehr f r u c h t b a r e r w i e s e n . ' 8 Ein gewisses E i g e n l e b e n e n t f a l t e t e sie in den a c h t z i g e r J a h r e n , als sie im L a u f e der juristischen R e z e p t i o n mit der F o r d e -

Coase, The Nature of the Firm (1937). Coase, The Nature of the Firm, S. 19. Guter Überblick bei Tirole, Industrieökonomik, S.31ff. , 7 So namentlich Jensen/Meckling, J.Fin.Fx. 3 (1976), 305, 31 Of., die den Begriff des „nexus of contract" zur Bezeichnung der Korporation erstmals gebrauchten. Obwohl Jensen und Meckling selbst noch betonen, dass die Korporation nur eine Form der als „nexus of contracts" zu verstehenden Unternehmungen sei, gab die These, die im übrigen nur als Vorbemerkung zu einem finanzwissenschaftlichen Beitrag gedacht war, der nachfolgenden juristischen Diskussion Anlass zu mancherlei Missverständnissen (s. sogleich im Text). 54 11

58 Vgl. Brealey/Myers, Corporate Finance, S. 484ff.; Richterllruruhotn, mik, S.375f.; Williamson, Governance, S. 171 ff.

Institutionenökono-

A. Private Regelsetzung

im

rung nach weitgehender Gestaltungsfreiheit

Verbandsrecbt im G e s e l l s c h a f t s r e c h t

117 verbunden

w u r d e u n d d a m i t eine heftige D e b a t t e in der a m e r i k a n i s c h e n G e s e l l s c h a f t s r e c h t s lehre a u s l ö s t e . 3 9 Ein a l t e r n a t i v e r A n s a t z greift die Idee des g e d a n k l i c h e n E n t b ü n d e l n s v o n K o r p o r a t i o n u n d U n t e r n e h m u n g a u f , w ä h l t als A u s g a n g s p u n k t a b e r n i c h t die a n o n y m e K a p i t a l g e s e l l s c h a f t , s o n d e r n die kleine G r u p p e , die eine A u f g a b e n u r g e m e i n s a m v o l l b r i n g e n k a n n ( T e a m a r b e i t s - A n s a t z ) . 4 0 Bei dieser S i c h t der D i n g e r ü c k t n i c h t das rivalisierende V e r h ä l t n i s v e r s c h i e d e n e r G r u p p e n von K a p i t a l g e b e r n in den M i t t e l p u n k t , s o n d e r n die B e d e u t u n g der z e n t r a l e n I n s t a n z ( „ m e d i a t i n g h i e r a r c h y " ) , der g e g e n ü b e r der E i n s a t z der R e s s o u r c e n von allen Beteiligten v e r s p r o c h e n w i r d , u n d die diesen lenkt, m o t i v i e r t u n d ü b e r w a c h t . 4 1 D e r T e a m a r b e i t s a n s a t z f ü h r t d a z u , der zentralen I n s t a n z m e h r als n u r k ü n s t l i c h e B e d e u t u n g zuzusprec h e n , denn v e r s c h i e d e n e K o l l e k t i v h a n d l u n g s p r o b l e m e k ö n n e n befriedigend n u r g e l ö s t u n d die g e m e i n s a m e A u f g a b e d a m i t b e w ä l t i g t w e r d e n , w e n n ein e n t s p r e c h e n d e r M o n i t o r , M o t i v a t o r u n d / o d e r M e d i a t o r v o r h a n d e n ist. D a m i t weist dieses M o d e l l Parallelen zu s o z i o l o g i s c h e n M o d e l l e n der R e s s o u r c e n p o o l u n g a u f , die e b e n f a l l s ü b e r den engen A n s a t z des k l a s s i s c h e n P r i n c i p a l - A g e n t - M o d e l l e s h i n a u s führen.42 Es liegt a u f der H a n d , dass beide S i c h t w e i s e n sich gegenseitig ergänzen m ü s s e n , u m ein s o z i a l w i s s e n s c h a f t l i c h befriedigendes M o d e l l zu liefern. W e r die B e d e u t u n g des T e a m a r b e i t s - A n s a t z e s b e t o n t , d a r f n i c h t die A n r e i z p r o b l e m e ü b e r s e h e n , die g e r a d e d u r c h den E i n s a t z einer „ m e d i a t i n g h i e r a r c h y " g e s c h a f f e n w e r d e n . U m g e k e h r t d a r f die P r i n z i p a l - A g e n t - S i c h t w e i s e sich n i c h t der s o z i o l o g i s c h und psyc h o l o g i s c h m o t i v i e r t e n Kritik v e r s c h l i e ß e n , die d a r a u f v e r w e i s t , dass die Vorstellung der B e t e i l i g t e n , einer k o l l e k t i v vorgestellten G a n z h e i t ( „ U n t e r n e h m e n " , „ F i r m a " , „ V e r e i n " ) a n z u g e h ö r e n , ihre E i n s t e l l u n g und d a m i t ihr V e r h a l t e n p r ä g e n k a n n . 4 ' Die Gefahr ö k o n o m i s c h e r Modellierung ähnelt also durchaus derjenigen j u r i s t i s c h e r T h e o r i e b i l d u n g : Ein M o d e l l zu f o r m e n , dass alle E r s c h e i n u n g e n e r k l ä ren will, je n a c h A u s g a n g s p u n k t a b e r n u r eine S i c h t w e i s e e r g i b t , die g l e i c h w o h l als A b b i l d des G a n z e n a u s g e g e b e n w i r d . Ü b e r z e u g e n k ö n n e n d a g e g e n n u r s o l c h e M o delle, die ihren L e i t g e d a n k e n so w ä h l e n und a u s w e i s e n , dass er m ö g l i c h s t allen E r scheinungen gerecht wird.

is> Nach wie vor instruktiv die Beiträge von Behchuk, Coffee u.a. zum Symposion der Columbia Law School in 89 Col.L.R. 1435ff. (1989) und dazu die deutschsprachige Darstellung bei Spindler, AG 1998, 53, 57ff. 4 0 Grundlegend Alchian/Demsetz, 62 AHR III f f . (1972); weiterführend Holmstrom, 13 Bell J.Econ 324ff. (1982); Cheung, 26 ). Law & . Leon. 1 ff. (1983). 41 Blair/Stout, 85 Virg.L.R. 247ff. (1999); Blair, 28 Stetson L.R. 27ff. (1998); siehe auch schon Schanze, JNPÖ 1983, S. 161, 170f. 4 2 Vgl. Vanherg, Markt und Organisation, S. 1 Off.; Coleman, Social Theory, S. 577f.; Selznick, Law, Society, and Industrial Justice, S. 101, 117f. 4 5 Vgl. Schanze, JNPÖ 1983, 161, 171; Teuhner, Unitas Multiplex, S.70ff.; Walz, AG 1996, 161, 167.

§ 5 Besondere

118

3. juristische

Theorien privater

Regelsetzung

Folgerungen

W i e d e r a r t i g e M o d e l l e in Bezug a u f die U n t e r n e h m u n g aussehen k ö n n e n , soll uns n i c h t w e i t e r interessieren. U n s e r e Ü b e r l e g u n g gilt der F r a g e , w e l c h e F o l g e r u n g e n aus d e m ö k o n o m i s c h e n A n s a t z für die juristische P e r s p e k t i v e zu ziehen sind. H i e r l e n k t der V e r t r a g s n e t z g e d a n k e das A u g e n m e r k d a r a u f , dass die aus r e c h t l i c h e r S i c h t a p o d i k t i s c h e r s c h e i n e n d e Stellung des M i t g l i e d s in e i n e m V e r b ä n d e k e i n e s w e g s s e l b s t v e r s t ä n d l i c h ist. I m H i n b l i c k a u f die g r o ß e A k t i e n g e s e l l s c h a f t h a t m a n dies in der d e u t s c h e n D e b a t t e , die der a n g e l s ä c h s i s c h e n so gesehen v o r a u s war, s c h o n v o r J a h r z e h n t e n g e s e h e n , g e l a n g t e d a b e i j e d o c h zu R e s u l t a t e n , die heute eher u m g e k e h r t w e r d e n : F o r d e r t e m a n d a m a l s im R a h m e n einer „ U n t e r n e h m e n s v e r f a s s u n g " die A u f w e r t u n g v o n V e r t r a g s p a r t n e r n zu M i t g l i e d e r n , 4 4 w u r d e s p ä t e r die T e n d e n z sichtbar, in M i t g l i e d e r n n u r n o c h b e s o n d e r e V e r t r a g s p a r t n e r zu sehen.45 D a m a l s wie h e u t e geht es a b e r im K e r n um dieselbe F r a g e : W e l c h e R e c h t e sollen d e n j e n i g e n zugebilligt w e r d e n , die im R a h m e n einer O r g a n i s a t i o n e i n e m E n t s c h e i d u n g s s y s t e m ausgesetzt sind, dass n i c h t n o t w e n d i g ihren a k t u e l l e n K o n s e n s verl a n g t ? R e i c h t die A u s s t i e g s m ö g l i c h k e i t o d e r b e d a r f es z u s ä t z l i c h e r S i c h e r u n g e n ? 4 6 A u s ö k o n o m i s c h e r S i c h t s c h l ä g t m a n vor, die F r a g e so zu b e a n t w o r t e n , dass die v o r h a n d e n e n o d e r v o r g e s c h l a g e n e n institutionellen A r r a n g e m e n t s T r a n s a k t i o n s k o s t e n reduzieren und in diesem S i n n e als effizient a u s g e w i e s e n w e r d e n k ö n n e n . 4 7 J u r i s t i s c h b e t r a c h t e t stellt sich das P r o b l e m w e i t e r h i n als s o l c h e s der L e g i t i m a t i o n dar, w o b e i a b e r s c h ä r f e r als früher d a r a u f g e a c h t e t w i r d , w e l c h e R ü c k w i r k u n g e n die Z u b i l l i g u n g von T e i l h a b e r e c h t e n a u f das F u n k t i o n i e r e n der jeweiligen O r g a n i s a t i o n hat. 4 f f Als E r t r a g k ö n n e n w i r d a m i t f e s t h a l t e n : Als lediglich p o i n t i e r t e V a r i a n t e der T h e o r i e der U n t e r n e h m u n g s c h ä r f t der V e r t r a g s n e t z a n s a t z den r e c h t l i c h e n B l i c k (wieder) für eine B i n n e n p e r s p e k t i v e , die m i t der F i x i e r u n g des Streits u m die „ R e c h t s n a t u r " der juristischen P e r s o n a u f deren F ä h i g k e i t , T r ä g e r v o n R e c h t e n und Pflichten g e g e n ü b e r D r i t t e n zu sein, teilweise a u s d e m A u g e g e r a t e n war. D i e B i n n e n p e r s p e k t i v e m a c h t sichtbar, dass es bei d e m , w a s juristisch als „ M i t g l i e d s c h a f t " in e i n e m V e r b a n d e r s c h e i n t , n i c h t a n d e r s als bei d e m V e r h ä l t n i s des A r b e i t n e h m e r s zu s e i n e m A r b e i t g e b e r , das C o a s e seinerzeit als A u s g a n g s p u n k t diente, a b e r a u c h bei jeder a n d e r e n privat gestalteten O r d n u n g , stets u m drei prinzipiell g l e i c h g e l a g e r t e S a c h f r a g e n g e h t : ( 1 ) W i e ist das mit der jeweiligen S o z i a l b e z i e h u n g v e r b u n d e n e b e s o n d e r e E n t s c h e i d u n g s s y s t e m s o z i a l t h e o r e t i s c h zu e r k l ä r e n ? - F r a ge der positiven ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e ; (2) w e l c h e r V o r k e h r u n g e n b e d a r f es gegeb e n e n f a l l s , u m das S y s t e m der S o z i a l b e z i e h u n g e n f u n k t i o n s g e r e c h t (effizient) zu

44 45 46

47 48

Vgl. nur Boettcher et al., Unternehmensverfassung, S.71 f., 89ff. Vgl. Mülbert, Aktiengesellschaft, S . 7 8 f f . Vgl. Behrens, Grundlagen, S . 3 2 2 . Williamson, Governance, S . 5 (und öfter); Hansmann, Ownership, S . 2 1 . Vgl. Kühler, FS Zöllner, 1 9 9 8 , S . 3 2 1 , 3 2 3 f f . (zur Unternehmensmitbestimmung).

B. Private Regelsetzung

durch Allgemeine

Geschäftsbedingungen

119

gestalten? - F r a g e der n o r m a t i v e n ö k o n o m i s c h e n T h e o r i e ; (3) wie sollten diese V o r k e h r u n g e n b e s c h a f f e n sein, um das E n t s c h e i d u n g s s y s t e m i n n e r h a l b des positiven R a h m e n s der R e c h t s o r d n u n g zu legitimieren? D i e s e F r a g e ist an den R e c h t s w i s s e n s c h a f t l e r adressiert.

B. Private Regelsetzung

durch Allgemeine

Geschäftsbedingungen

H i s t o r i s c h j ü n g e r e n U r s p r u n g s als die V e r b a n d s s a t z u n g sind die „ A l l g e m e i n e n G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n " ( A G B ) . D i e D i s k u s s i o n u m deren „ R e c h t s n a t u r " zeigt sichtb a r e Parallelen zur v e r b a n d s r e c h t l i c h e n D e b a t t e . I m 1 9 . J a h r h u n d e r t oft nur als b e s o n d e r e E r s c h e i n u n g der V e r k e h r s s i t t e g e w ü r d i g t , w u r d e die F r a g e , o b es sich bei diesem „ s e l b s t g e s c h a f f e n e n R e c h t der W i r t s c h a f t " 4 9 n i c h t eigentlich u m privat gesetzte R e c h t s n o r m e n h a n d e l e , s c h o n zu B e g i n n des 2 0 . J a h r h u n d e r t s t h e m a t i siert und in der F o l g e z e i t l e b h a f t e r ö r t e r t . Seit d e m I n k r a f t t r e t e n des A G B - G e s e t z e s (heute: § § 3 0 5 - 3 1 0 B G B ) und der e u r o p ä i s c h e n K l a u s e l r i c h t l i n i e 5 0 wird dieser Streit w e i t g e h e n d als erledigt a n g e s e h e n , denn der G e s e t z g e b e r h a t sich z u m i n d e s t verbal im S i n n e der V e r t r a g s a u f f a s s u n g e n t s c h i e d e n . D e n n o c h v e r s t u m m t e n die S t i m m e n d e r j e n i g e n n i c h t , die im A G B - R e c h t einen „ E t i k e t t e n s c h w i n d e l " s e h e n , der über den U m s t a n d h i n w e g t ä u s c h e , dass das G e s e t z d a m i t in der S a c h e eine F o r m privater N o r m s e t z u n g s a n k t i o n i e r e . D i e n ä h e r e B e t r a c h t u n g zeigt, dass sich hinter der D e b a t t e die n ä m l i c h e n S a c h f r a g e n der v e r b a n d s r e c h t l i c h e n D i s k u s s i o n verbergen.

I. D i e „ R e c h t s n a t u r " a l l g e m e i n e r G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n A n a l o g z u m G e s e l l s c h a f t s r e c h t k o n k u r r i e r e n a u c h im A G B - R e c h t zwei A n s i c h t e n , die w i e d e r u m als Vertrags- und N o r m e n t h e o r i e p r ä s e n t i e r t w e r d e n . 5 ' D i e g a n z h e r r s c h e n d e V e r t r a g s t h e o r i e geht m i t d e m W o r t l a u t des B G B d a v o n a u s , dass A G B V e r t r a g s b e d i n g u n g e n d a r s t e l l e n , die g r u n d s ä t z l i c h im W e g e des V e r t r a g s s c h l u s s e s V e r t r a g s b e s t a n d t e i l w ü r d e n . D a r a n v e r m ö g e der U m s t a n d , dass i n s b e s o n d e r e die von V e r b ä n d e n aufgestellten und d u r c h g e s e t z t e n A G B f a k t i s c h wie N o r m e n w i r k ten, n i c h t s zu ä n d e r n ; die G e g e n m e i n u n g v e r m e n g e u n z u l ä s s i g e r w e i s e die s o z i o l o gische mit der r e c h t s d o g m a t i s c h e n S i c h t . 5 2 D e n u n b e s t r i t t e n e n B e s o n d e r h e i t e n der 4 9 So die sprichwörtlich gewordene Formulierung von Grossmann-Doerth, Selbstgeschaffenes Recht der Wirtschaft und staatliches Recht ( 1 9 3 3 ) . i 0 Richtlinie des Rats v. 5 . 4 . 1993 9 3 / 1 3 / E W G über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, abgedruckt und erläutert bei Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, S . 2 8 0 f f . Vgl. zum folgenden die Darstellung bei (J/mer/Brandner/Hensen, A G B G , Einl. Rn. 2 2 - 2 7 und Wo//7Horn/Lindacher, A G B G , Einl. Rn. 1 2 - 1 5 . Beide folgen im Ergebnis der Vertragstheorie. Ausführliche Aufbereitung des (historischen) Meinungsspektrums bei Pflug, Status, S. 81 ff. 12 In diesem Sinne bereits /.. Kaiser, AGB, S . 7 6 , der den soziologischen Normcharakter von AGB erstmals näher untersucht (und bejaht) hat, ihn aber streng vom dogmatischen Blickwinkel trennt.

120

§5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

A G B , die aus ihrer einseitigen A u f s t e l l u n g h e r r ü h r t e n , sei, wie es auch das G e s e t z v o r s e h e , d u r c h e n t s p r e c h e n d e M o d i f i k a t i o n e n der r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e n

Katego-

rien R e c h n u n g zu t r a g e n . 5 3 D e m g e g e n ü b e r m e i n t die sog. N o r m e n t h e o r i e , dass a l l g e m e i n e G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n n a c h E n t s t e h u n g s w e i s e , Inhalt und W i r k u n g den N o r m e n des o b j e k t i v e n R e c h t s e n t s p r ä c h e n , da sie eine einseitig aufgestellte O r d n u n g d a r s t e l l t e n , der sich der V e r t r a g s p a r t n e r b e s t e n f a l l s unterwerfe.'' 4 D i e s e r B e s o n d e r h e i t sei n i c h t m i t einer „ K o r r u m p i e r u n g " v e r t r a g l i c h e r K a t e g o r i e n beizuk o m m e n , s o n d e r n nur, i n d e m m a n die A G B als das e r k e n n e , w a s sie der S a c h e n a c h seien: p r i v a t e R e c h t s n o r m e n .

II. D i e L e g i t i m a t i o n s f r a g e D e r T h e o r i e n s t r e i t spiegelt n i c h t nur in seiner B e z e i c h n u n g , sondern a u c h in seinen A r g u m e n t e n die P o s i t i o n e n wider, die wir in der g e s e l l s c h a f t s r e c h t l i c h e n D e b a t t e u m die „ R e c h t s n a t u r " der S a t z u n g a n g e t r o f f e n h a t t e n . E r muss d a h e r in gleic h e r Weise ü b e r w u n d e n w e r d e n . S o w u r d e d e n n in der A G B - r e c h t l i c h e n D e b a t t e s c h o n früh d a r a u f h i n g e w i e s e n , dass die G e g e n ü b e r s t e l l u n g von „ V e r t r a g " und „ N o r m " i n s o f e r n s c h i e f sei, als beide K a t e g o r i e n a u f v e r s c h i e d e n e n E b e n e n lägen. W ä h r e n d „ N o r m " a u f die W i r k u n g s w e i s e der jeweiligen Sätze verweise, bezeichne „ V e r t r a g " deren G e l t u n g s g r u n d . " D a m i t treffen wir e b e n die U n t e r s c h e i d u n g a n , wie sie W i e d e m a n n für das G e s e l l s c h a f t s r e c h t v o r g e n o m m e n h a t . Ü b e r s e t z t in die im v o r a n g e g a n g e n e n K a p i t e l v o r g e n o m m e n e U n t e r s c h e i d u n g stellen sich som i t a u c h im A G B - R e c h t die beiden m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t e n S a c h f r a g e n n a c h Leg i t i m a t i o n und S t r u k t u r einer privat gestalteten O r d n u n g . W i e ist nun die b e s o n d e r e R e g e l s t r u k t u r a l l g e m e i n e r G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n bes c h a f f e n , dass sie z u s ä t z l i c h e L e g i t i m a t i o n s e l e m e n t e e r f o r d e r l i c h m a c h t ? Ein n a h e liegender, v o r w i e g e n d von den N o r m t h e o r e t i k e r n - a b e r n i c h t nur von ihnen - vert r e t e n e r A n s a t z sieht die B e s o n d e r h e i t in der A r t ihrer Aufstellung: Bei A G B h a n dele es sich n i c h t u m e i n v e r s t ä n d l i c h , s o n d e r n u m einseitig gesetzte R e g e l u n g e n . 5 6 P o s i t i v - r e c h t l i c h ist das u n z u t r e f f e n d , denn die G e l t u n g von A G B setzt g e m . § 3 0 5 A b s . 2 v o r a u s , dass der P a r t n e r d a m i t „ e i n v e r s t a n d e n " ist. Angesichts ihrer g r o ß zügigen B e j a h u n g in R e c h t s p r e c h u n g u n d L i t e r a t u r steht diese V o r a u s s e t z u n g allerdings w e i t g e h e n d a u f d e m P a p i e r . 5 7 Einseitig ist a b e r in j e d e m Fall die G e s t a l t u n g des I n h a l t s a l l g e m e i n e r G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n , a u f die die „ a n d e r e Vertragsp a r t e i " k e i n e n Einfluss a u s ü b t , und v o n der sie r e g e l m ä ß i g nicht einmal K e n n t n i s Vgl. z.B. Wolf/Horn/Lindacher, AGBG, § 5 Rn.5f. Pflug, Status, S.4f., 32f.; Mertens, AG 1982, 29, 39; E. Schmidt, JuS 1 9 8 7 , 9 2 9 , 9 3 1 ; Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 196f. Helm, JuS 1965, 121, 125f.; auch Pflug, Status, S.46f. ^ So neben den in Fn.54 Genannten vor allem Plume, Rechtsgeschäft, S.610 u. S.669. Vgl. nur Palandt/Heinrichs, BGB, § 305 Rn. 25 u. 43: Einverständnis sei „in der Regel zu bejahen, wenn es nach vorheriger Erfüllung von II Nr. I und 2 zum Vertragsschluss kommt". Treffender hätte der Gesetzgeber daher formuliert „... und wenn die andere Partei ihrer Geltung nicht widerspricht". 54

ß. Private Regelsetzung

durch Allgemeine

Geschäftsbedingungen

121

n i m m t . E i n e a l t e r n a t i v e , v o r w i e g e n d v o n V e r t r a g s t h e o r e t i k e r n vertretene A n s i c h t h e b t d a h e r a u f den G e d a n k e n des i n s t i t u t i o n e l l e n M i s s b r a u c h der V e r t r a g s f r e i h e i t d u r c h den V e r w e n d e r a b . 1 8 Beide A n s ä t z e s t e h e n , w a s in der d o g m a t i s c h e n D e b a t t e vielfach ü b e r s e h e n w u r de, n i c h t d i a m e t r a l g e g e n e i n a n d e r , s o n d e r n s p r e c h e n s a c h l i c h dasselbe a u s , wie ja a u c h an der K o n t r o l l b e d ü r f t i g k e i t v o n A G B im K e r n nie gezweifelt w u r d e . O b m a n in der blinden U n t e r w e r f u n g des P a r t n e r s eine ihres S i n n g e h a l t e s entleerte und d a h e r r e c h t s g e s c h ä f t l i c h n i c h t m e h r ernst zu n e h m e n d e Z u s t i m m u n g sieht, o d e r o b m a n a u c h diese F o r m des E i n v e r s t ä n d n i s s e s n o c h als R e c h t s g e s c h ä f t gelten lassen will, um sie - g e w i s s e r m a ß e n eine „ j u r i s t i s c h e S e k u n d e " später - sogleich ihres l e g i t i m i e r e n d e n K e r n s zu b e r a u b e n , läuft a u f den s p r i c h w ö r t l i c h e n Streit u m das h a l b v o l l e o d e r h a l b l e e r e W a s s e r g l a s h i n a u s . In der S a c h e ist entscheid e n d , dass das eigentlich Spezifische a l l g e m e i n e r G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n n i c h t in ihrer K o m p l e x i t ä t u n d a u c h n i c h t in der w i r t s c h a f t l i c h e n o d e r intellektuellen U n t e r l e g e n h e i t des G e g e n ü b e r s liegt, denn beides ist z w a r t y p i s c h e r w e i s e , a b e r n i c h t n o t w e n d i g der Fall. A u s s c h l a g g e b e n d ist v i e l m e h r der f a k t i s c h und ö k o n o m i s c h b e g r ü n d e t e Ausfall einer a u c h nur potentiellen K o n t r o l l e ihres Inhalts d u r c h Partner o d e r M a r k t / 9 Plastisch g e s p r o c h e n : N i e m a n d wird v e r n ü n f t i g e r w e i s e v o n W e r k s t a t t zu W e r k s t a t t l a u f e n , u m die jeweils b e n u t z t e n R e p a r a t u r b e d i n g u n g e n zu a n a l y s i e r e n und in R e l a t i o n z u m R e p a r a t u r p r e i s zu setzen, o d e r in der I n n e n s t a d t einer G r o ß s t a d t von P a r k h a u s zu P a r k h a u s f a h r e n , u m sein A u t o d o r t a b z u stellen, w o die H a f t u n g s b e d i n g u n g e n a m günstigsten s i n d . 6 0 E r wird sich vielmehr, da er a u f derartige G e s c h ä f t e n i c h t verzichten k a n n , den v o m V e r w e n d e r gestellten R e g e l n blind u n t e r w e r f e n und d a b e i d a r a u f v e r t r a u e n , von diesem n i c h t ü b e r v o r teilt zu w e r d e n . Dieses V e r t r a u e n zu r e c h t f e r t i g e n und d a m i t t r o t z p r o h i b i t i v e r Inf o r m a t i o n s k o s t e n für eine effiziente und g e r e c h t e L a s t e n v e r t e i l u n g bei s t a n d a r d i sierten T r a n s a k t i o n e n zu s o r g e n , ist A u f g a b e und E x i s t e n z b e r e c h t i g u n g des R e c h t s der a l l g e m e i n e n G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n . 6 1 N u n d a r f allerdings n i c h t ü b e r s e h e n w e r d e n , dass die A u f g a b e a u c h a u f a n d e r e m W e g e g e l ö s t w e r d e n k ö n n t e . Statt die R e g e l a u f s t e l l u n g den V e r w e n d e r n zu ü b e r l a s s e n und sich a u f eine e x - p o s t K o n t r o l l e von Fall zu Fall zu b e s c h r ä n k e n , k ö n n t e der S t a a t die R e g e l a u f s t e l l u n g selbst in die H a n d n e h m e n und a u f diese W e i s e d e m b e s c h r i e b e n e n M a r k t v e r s a g e n b e g e g n e n . 6 2 W i r d dieser W e g , der sich ^ Grundsätzlich L. Kaiser, AGB, S. 102, 277ff. (in Anlehnung an Siebert, Verwirkung); ähnlich Fastrich, Inhaltskontrolle, S. 88. Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse, S . 4 7 8 ^ 8 0 („Markt für Zitronen"); Kötz, Gutachten, S.31f.; Enderlein, Rechtspaternalismus, S. 254ff.; Hönn, Kompensation, S. 149f. 60 Fastrieb, Inhaltskontrolle, S. 84. 61 Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse, S.480; Trehilcock, Contract, S. 119f.; MiinchKommBGB/Basedow, Vor § 3 0 5 Rn.5. 6 2 So geschehen in Bereichen des Wirtschaftsrechts, in denen der Inhalt allgemeiner Geschäftsbedingungen durch Rechtsverordnung vorgegeben ist, vgl. § 3 9 Abs.2 EnWG (n.F.) i.V.m. der „Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden (AVBEItV)" und § 5 7 Abs. 1 Nr. 5 PBefG i.V.m. der „Verordnung über Allgemeinen Beförde-

122

§ 5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

praktisch allenfalls im Falle des natürlichen Monopols empfiehlt, 63 überwiegend als zu inflexibel abgelehnt, wirft seine bloße Existenz doch die Frage auf, ob der staatliche Verzicht auf Ausübung jener Option theoretisch nicht doch als eine (unter Kontrollvorbehalt stehende) Delegation von Normsetzungsbefugnissen verstanden werden muss. Die Bejahung dieser Frage setzt die stillschweigende Annahme eines staatlichen Normsetzungsmonopols voraus, das aus staatswissenschaftlicher Sicht aber heute als überholt gelten kann. 6 4 Nicht in der Normsetzung liegt die genuine Aufgabe des Staates, sondern in der Gewährleistung, dass nur solche Regeln sanktioniert werden, die eine „gerechte", weil legitime Ordnung begründen. 6 5 Das insoweit vorhandene Defizit allgemeiner Geschäftsbedingungen macht also zusätzliche Legitimationsmechanismen erforderlich. Darin besteht auch seine Gemeinsamkeit mit Regeln, welche innerhalb einer Verbandsordnung Geltung für sich in Anspruch nehmen. Die von den Normtheoretikern - mit Recht! - immer wieder betonte funktionale Äquivalenz des „selbstgeschaffenen Rechts der Wirtschaft" mit dem dispositiven Recht nötigt nicht zu einer anderen Sicht der Dinge. In der Tat erfüllen AGB bei einer standardisierten Transaktion, soweit die Partner keine besonderen Abreden treffen, exakt die Funktion, die ansonsten das dispositive Recht wahrnimmt: Als „fertig bereit liegende Rechtsordnung" 6 6 halten sie für offene, aber regelungsbedürftige Fragen eine Antwort bereit. Damit usurpieren sie aber keine hoheitlichen Aufgaben. Umgekehrt übernimmt der Staat mit der Bereitstellung dispositiver Normen eine Aufgabe, die eigentlich den privaten Vertragspartnern obläge, von diesen aber aufgrund prohibitiver Transaktionskosten nicht erfüllt wird. 6 7 Es ist also lediglich eine Frage der Perspektive, ob man von der dispositiven Regel als Normalfall ausgeht und funktionale Äquivalente wie AGB als „Norm" liest, oder ob man umgekehrt die (ausgehandelte) Vertragsbedingung als Idealfall ansieht, deren Substitution durch das dispositive Recht dann als „Vertragsbedingung" erscheint. Die Sachfrage ist in jedem Fall dieselbe: Wie kann gewährleistet werden, dass die Geltung der jeweiligen Regel - wie auch immer man sie nennen mag - vor dem Hintergrund unserer Rechtsordnung als legitim ausgewiesen ist?

III. Fazit Der bis in unsere Tage fortgeschleppte Streit um die „Rechtsnatur" allgemeiner Geschäftsbedingungen verdeckt, worum es in der Sache geht. Allgemeine Geschäftsbedingungen sind Regeln, die aus tatsächlichen und ökonomischen Grünrungsbedingungen für den Straßenbahn- und Obusverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen". Vgl. die Beispiele in der vorhergehenden Fußnote. 6 4 S.o., § 3 B.I.2. ( S . 6 2 ) . 6 5 Vgl. auch schon L. Raiser, AGB, S . 9 7 f . 6 6 So die oft kritisierte, aber durchaus treffende Kennzeichnung durch B G H Z 1, 8 3 , 86. 6 7 Vgl. Schäfer/Ott, Ökonomische Analyse, S . 3 9 4 f .

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

123

den einer (potentiellen) K o n t r o l l e d u r c h P a r t n e r o d e r M a r k t e n t z o g e n sind. W i e die S a t z u n g der privaten V e r b ä n d e k o n s t i t u i e r e n sie eine O r d n u n g , der sich der E i n z e l n e n u r blind u n t e r w e r f e n k a n n . B e s t a n d das U n g e w i s s e bei diesen in der N o t w e n d i g k e i t , k ü n f t i g e R e g e l n o h n e jeweils n e u e Z u s t i m m u n g aller B e t r o f f e n e n in G e l t u n g setzen zu m ü s s e n , liegt es bei jenen d a r i n , dass die R e g e l n z w a r s c h o n v o r h a n d e n , vor ihrem „ I n k r a f t t r e t e n " a b e r e b e n f a l l s n i c h t n a c h g e p r ü f t w e r d e n k ö n n e n . In der S a c h e geht es a l s o a u c h w i e d e r u m ein L e g i t i m a t i o n s p r o b l e m .

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

B e s o n d e r e A u f m e r k s a m k e i t hat das P h ä n o m e n p r i v a t e r R e c h t s e t z u n g seit je im arbeitsrechtlichen S c h r i f t t u m g e f u n d e n . D a s n i m m t n i c h t W u n d e r , gelten d o c h die T a r i f n o r m e n geradezu als P a r a d i g m a privater R e c h t s n o r m e n . 6 8 G e w e r k s c h a f t e n und A r b e i t g e b e r ( v e r e i n i g u n g e n ) , p r i v a t e P e r s o n e n m i t h i n , v e r e i n b a r e n im sog. n o r m a t i v e n Teil des T a r i f v e r t r a g e s R e g e l n , die k r a f t a u s d r ü c k l i c h e r gesetzlicher A n o r d n u n g ( § § 1 A b s . 1, 4 A b s . 1 T V G ) als R e c h t s n o r m e n u n m i t t e l b a r e W i r k u n g e n t f a l t e n , o h n e dass es a u f die k o n k r e t e Z u s t i m m u n g der N o r m u n t e r w o r f e n e n ank ä m e . D i e gleiche W i r k u n g geht von B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g e n a u s , die z w i s c h e n Bet r i e b s r a t und A r b e i t g e b e r a b g e s c h l o s s e n w e r d e n (vgl. § 7 7 A b s . 4 B e t r V G ) . In ein e m w e i t e r e n Sinn k ö n n t e n sich schließlich a u c h einseitig d u r c h den A r b e i t g e b e r aufgestellte Regeln als private R e c h t s n o r m e n verstehen lassen. Eine v e r g l e i c h b a r e gesetzliche R e g e l u n g , wie sie für K o l l e k t i v v e r e i n b a r u n g e n b e s t e h t , fehlt i n s o w e i t allerdings.

I. D i e R e c h t s n o r m e n d e s T a r i f v e r t r a g e s u n d d e r B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g So unbestritten der R e c h t s n o r m c h a r a k t e r der n o r m a t i v e n Teile von T a r i f v e r t r a g und B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g heute ist, so o f f e n ist ihre t h e o r e t i s c h e B e w ä l t i g u n g geb l i e b e n . D a s P h ä n o m e n , dass private P a r t n e r d u r c h A b s c h l u s s eines zivilrechtlic h e n V e r t r a g e s R e c h t s n o r m e n p r o d u z i e r e n k ö n n e n , die für die A d r e s s a t e n gesetzesgleiche W i r k u n g e n t f a l t e n , hat (nicht nur) der A r b e i t s r e c h t s w i s s e n s c h a f t K o p f z e r b r e c h e n bereitet. M a n h a t v e r s u c h t , der Z w i t t e r s t e l l u n g z w i s c h e n V e r t r a g und G e s e t z d u r c h P r ä g u n g b e s o n d e r e r K a t e g o r i e n juristisch H e r r zu w e r d e n . S o w e r den K o l l e k t i v v e r t r ä g e (i.e. T a r i f v e r t r a g und B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g ) g e m e i n h i n als „ N o r m e n v e r t r ä g e " b e z e i c h n e t , w a s für sich g e n o m m e n w e n i g w e i t e r führt, d e n n zu N o r m e n v e r t r ä g e n - das G e s e t z k e n n t den B e g r i f f n i c h t - lassen sich s ä m t l i c h e V e r t r ä g e r e c h n e n , die i r g e n d w e l c h e R e g e l n für dritte V e r t r a g s s c h l ü s s e festlegen,

68

Siehe nur F. Kirchhof,

A G B , S . 7 6 ff.

Private Rechtsetzung, S. 1 8 1 ; Krüger,

Staatslehre, S . 4 8 5 , L.

Raiser,

124

§ 5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzling

ohne dass es dafür speziell auf die (so genannte) „ n o r m a t i v e " Wirkung a n k ä m e . 6 9 U b e r die umfassende Untersuchung und Kategorisierung Alfred H u e c k s hinaus hat die Behandlung des N o r m e n v e r t r a g s im zivilrechtlichen Schrifttum denn auch keine tiefergehenden Erkenntnisse mehr zu Tage gefördert.

0

Wenig ist ferner mit Begriffen g e w o n n e n , die lediglich beschreiben, was nicht zu bestreiten ist, dass nämlich kollektivvertragliche Rechtsetzung eindeutig weder der Regelbildung durch gewöhnlichen Vertrag noch solcher durch Gesetz zuzuordnen ist, sondern, wenn m a n so will, „ d a z w i s c h e n " liegt. Das gilt für den von Kreutz kreierten Begriff des „privatheteronomen R e c h t s g e s c h ä f t s " 7 1 e b e n s o wie für die „tatsächlichen N o r m e n " von L u k e s 7 2 , die „ Q u a s i - N o r m e n "

Hanaus71

oder die „sui-generis"-Kategorie, zu der W i e d e m a n n Zuflucht n i m m t . 7 4 Will m a n jenseits solcher Begriffsbildungen zum Kern des Problems vorstoßen, ist es auch hier unerlässlich, den einschlägigen Theorienstreit - hier verdient er den N a m e n wirklich - näher zu beleuchten. Dabei geht es nicht d a r u m , die streitenden Lehren in allen Ziselierungen zu entfalten. W i e bei den Ausführungen zum Verbands- und A G B - R e c h t k o m m t es allein d a r a u f an, die Sachfrage in den Vordergrund zu rücken, die sich erneut als solche der Legitimation privater Ordnung darstellt. Dazu ist zunächst der Blick auf die „ R e c h t s n a t u r " der Tarifvertragsnormen

zu richten,

die traditionell im Z e n t r u m der arbeitsrechtlichen D e b a t t e steht.

1. Die tarifvertraglichen a. Die

Rechtsnormen

Konstruktionsfrage

Als obsolet wird heute die Frage angesehen, wie die unmittelbare Geltung der Tarifnormen für die Mitglieder der Tarifvertragsparteien konstruktiv begründet werden k a n n , denn das positive R e c h t ( § § I Abs. 1, 4 Abs. 1 T V G ) ordnet diese Wir-

Vgl. schon A. Hueck, Normenverträge, S. 3 6 f . ; zuletzt Riehle, Arbeitsmarkt, R n . 1 1 9 4 f . Eine ältere, aus dem Völkerrecht übernommene Lehre wollte Normen aufstellende Verträge begrifflich als „ Vereinbarung" separieren (dazu Heiner, Institutionen, S. 82f.). Dieser Sprachgebrauch hat sich nicht durchgesetzt, kritisch dazu neben Hueck (ebenda, S . 9 6 ) auch schon Manigk (Privatautonomie, S . 5 6 f f . ) , L. Kaiser ( A G B , S . 6 2 f . ) und Lukes (Kartellvertrag, S . 2 8 1 ff.). Die im Völkerrecht z.T. noch geläufigen Begriffe „ n o r m a t i v e r " oder „Kollektivvertrag" bezeichnen andere Erscheinungen, s. nur Kimminich, Völkerrecht, S . 2 1 2 f f . Im Kartellrecht wird der Begriff „Vereinbarung" (§ 1 G W B ) als Oberbegriff für verbindliche wie unverbindliche Abreden verwandt. 70 Hueck, ebenda, unterschied den (unverbindlichen) „Richtlinienvertrag" ( S . 4 7 f f . ) , den schuldrechtlichen Normenvertrag ( S . 5 9 f f . ) und den „rechtsverbindlichen" (= „normativen") Normenvertrag (S. 8 t ff.), die er jeweils weiter unterteilte. L. Kaiser (AGB, S. 117ff. und Vertragsfunktion, S. 1 1 1 ) und Lukes (Kartellvertrag, S. 2 0 f . , 2 8 f f . , 2 0 7 ) haben diese Kategorisierung übernommen.

Kreutz, Betriebsautonomie, S . 9 9 f f . Lukes, Kartellvertrag, S . 2 1 8 f f . 7' Hanau, RdA 1 9 8 9 , 2 0 7 , 2 0 8 . 74 Wiedemann, T V G , § 1 R n . 4 7 a.E.

71

72

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

125

k u n g a u s d r ü c k l i c h und u n m i s s v e r s t ä n d l i c h a n . 7 5 Z w a r fehlte es a u c h in n e u e r e r Z e i t n i c h t an V e r s u c h e n , die n o r m a t i v e W i r k u n g des T a r i f v e r t r a g e s a u f rechtsges c h ä f t l i c h e m W e g e zu b e g r ü n d e n . S o v e r s u c h t e R a m m , die u n m i t t e l b a r e B i n d u n g der V e r b a n d s m i t g l i e d e r an den I n h a l t des T a r i f v e r t r a g e s ü b e r das V e r t r e t u n g s r e c h t des B G B zu r e k o n s t r u i e r e n . 7 6 D i e s e W i e d e r b e l e b u n g der älteren V e r t r e t e r t h e o r i e w u r d e r e s p e k t v o l l zur K e n n t n i s g e n o m m e n , 7 7 setzte sich a b e r d e s h a l b n i c h t d u r c h , weil sein k o m p l i z i e r t e r L ö s u n g s a n s a t z a n g e s i c h t s der k l a r e n A n o r d n u n g in § 1 T V G m i t R e c h t als e n t b e h r l i c h a n g e s e h e n w u r d e . 7 8 M e h r W i d e r h a l l e r f u h r ein G e d a n k e von B ö t t i c h e r , der m e i n t e , die N o r m s e t z u n g s b e f u g n i s der T a r i f p a r t n e r k ö n ne als G e s t a l t u n g s r e c h t g e d e u t e t w e r d e n , d e m sich die T a r i f g e b u n d e n e n a n a l o g § 3 1 7 B G B d u r c h V e r b a n d s b e i t r i t t u n t e r w e r f e n . 7 9 A u c h dieser A n s a t z ist - wie B ö t t i c h e r selbst s a g t 8 0 - k o n s t r u k t i v gesehen überflüssig; er stieß j e d o c h als M u s ter für die l e g i t i m a t o r i s c h e D e u t u n g des T a r i f v e r t r a g s a u f b e a c h t l i c h e R e s o n a n z . In n e u e s t e r Z e i t a r t i k u l i e r e n sich r a d i k a l e S t i m m e n , die den S p i e ß g l e i c h s a m wieder u m d r e h e n . Sie h a l t e n n i c h t die r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e n D e u t u n g s m u s t e r der „ n o r m a t i v e n W i r k u n g " , s o n d e r n deren gesetzliche A n o r d n u n g im T V G für überflüssig, weil sich die N o r m w i r k u n g des T a r i f v e r t r a g e s e b e n a u c h r e c h t s g e s c h ä f t l i c h k o n s t r u i e r e n l i e ß e . 8 1 D a h i n t e r steht w e n i g e r die A b s i c h t , den K o l l e k t i v v e r t r a g als s o l c h e n a b z u s c h a f f e n , 8 2 als v i e l m e h r das B e m ü h e n , e i n e m individualistisch o r i e n tierten L e g i t i m a t i o n s m u s t e r zur G e l t u n g zu verhelfen. W ä h r e n d wir die im T a r i f r e c h t in der T a t o b s o l e t e K o n s t r u k t i o n s f r a g e d a h e r e i n s t w e i l e n z u r ü c k s t e l l e n k ö n n e n , 8 ' w e r d e n wir uns der im Z e n t r u m der a r b e i t s r e c h t l i c h e n D e b a t t e s t e h e n d e n Legitimationsfrage nunmehr ausführlicher zuwenden.

' ^ Vgl. nur Wiedemann, T V G , § 1 R n . 4 0 u. Rn. 150, dort auch zur historischen Entwicklung (Wiedemann/Oei&er, T V G , Geschichte, Rn. 1 - 8 0 ) . Aufschlussreich zu den älteren, unter den Etiketten Vertreter-, Verbands- und Kumulationstheorie diskutierten Konstruktionsversuchen und ihren Schwächen Ramm, Tarifvertrag, S. 36ff.; ferner Giesen, Tarifnormen, S. 127ff. /6 Ramm, Tarifvertrag, S . 6 9 f f . , der dabei zwischen den Arbeitgebern, die durch ihre Vereinigungen rechtsgeschäftlich vertreten werden, und Arbeitnehmern, für die die Gewerkschaften im eigenen Namen handeln, differenziert („Differenzierungstheorie"). Vgl. Zöllner, Rechtsnatur, S . 7 („heilsame Beunruhigung der herrschenden Lehre"). Wiedemann, T V G , § I Rn. 150; näher Ricbardi, Kollektivgewalt, S. 1 3 4 - 1 3 7 und Zöllner, Rechtsnatur, S. 9f. Ramm selbst war es vor allem um die sachgerechte Bewältigung von Haftungsfragen im Zusammenhang mit der Verletzung der tarifvertraglichen Eriedenspflicht zu tun, die nach seiner Ansicht durch die Annahme einer Vertragspartnerschaft der einzelnen Arbeitgeber besser gelinge als durch eine „Zerreißung des Tarifvertrages in einen schuldrechtlichen und in einen normativen Teil" (Tarifvertrag, S. 6 7 , 78 ff., 99). Die h.M. bewältigt dieses Problem, indem sie die obligatorische Friedenspflicht als Vereinbarung zugunsten Dritter (5 3 2 8 BGB) versteht. 77 78

Bötticher, Unterwerfung, S. 18ff. Vgl. Bötticher, Unterwerfung, S . 2 2 . 8 1 So namentlich l'icker, Tarifautonomie, S . 7 6 f . ; ders., auch Riehle, ZfA 2 0 0 0 , 5, lOff. 8 2 In diese Richtung aber Picker, FS Richardi, S . 5 6 f f . 8> Näher dazu unten, § 8 B.II.3. ( S . 2 7 5 f f . ) . 79

80

FS Richardi, S . 4 7 f f . In der Tendenz

126 b. Die

§5

Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

Legitimationsfrage

Wie wir bei der Betrachtung des Verbands- und AGB-Rechts sahen, verdeckte die vom Gesetz offen gelassene Frage über die „Rechtsnatur" von Satzung und AGB dort das eigentlich relevante Legitimationsproblem. Im Arbeitsrecht blieb es lange Zeit aus umgekehrten Gründen verschleiert. Hier war es die gesetzliche Klärung der Konstruktionsfrage zugunsten der „Normtheorie", welche die Frage, worin eigentlich die Rechtfertigung tariflicher Normsetzungsbefugnisse liegt, in den Hintergrund treten ließ. In voller Schärfe brach sie erst (wieder) in den sechziger Jahren auf, als eine expansive Gewerkschaftspolitik das Problem der „Grenzen der Tarifmacht" zum zentralen arbeitsrechtlichen Thema machte. 8 4 Zöllner 8 '' und Richardi 8 6 griffen damals den von Bötticher ins Spiel gebrachten Unterwerfungsgedanken unter legitimatorischen Gesichtspunkten auf und entwickelten eine Position, die seither unter dem Rubrum „ M a n d a t a r s t h e o r i e " zunehmend Gefolgschaft findet. 87 Ihr Grundgedanke ist einfach: Normsetzung durch Private bedarf der Legitimation, und diese Legitimation kann nach zivilistischen Grundsätzen nur „von unten", also durch die Normunterworfenen selbst erfolgen, indem diese freiwillig den vertragschließenden Verbänden beitreten und sich damit deren Normsetzungsmacht „unterwerfen". 8 8 Die Tarifpartner agieren demnach, untechnisch gesprochen, als Beauftragte ihrer Mitglieder, mit der bedeutsamen Konsequenz, dass der Umfang ihrer Regelungsmacht sich - jedenfalls gedanklich nach den Grenzen des Mandats bestimmt. Mit dieser Sichtweise stellt sich die Mandatarstheorie gegen eine überkommene Auffassung, die in verschiedenen Spielarten vertreten wird, in der Sache aber auf dasselbe hinausläuft. Danach handeln die Tarifpartner bei der Normsetzung nicht als Beauftragte ihrer Mitglieder, sondern übernehmen die im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe, die „Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung freigelassenen Raum in eigener Verantwortung und im wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme [...] sinnvoll zu ordnen". 8 9 Die so verstandene Normsetzungs-

8 4 Vgl. aus der umfangreichen zeitgenössischen Literatur insbesondere die gleichnamige Habilitationsschrift Biedenkopfs ( 1 9 6 4 ) sowie dessen Juristentagsgutachten ( 1 9 6 6 ) , ferner die einschlägigen Monografien von Bötticher ( 1 9 6 6 ) , Gamillscheg ( 1 9 6 6 ) , Zöllner ( 1 9 6 6 ) , Richardi ( 1 9 6 8 ) und Säcker ( 1 9 6 9 ) .

Zöllner, Rechtsnatur, S. 3 1 , 37; s. auch schon ders., RdA 1 9 6 2 , 4 5 3 f f . u. RdA 1 9 6 4 , 4 4 3 f f . Richardi, Kollektivgewalt, S . 3 , 5 1 , 6 3 , 7 7 , 91 (u.ö.); ders., Gutachten, S . 2 6 , 61; ders. in: MünchHdBArbR, § 12 R n . 5 ; ders., Ordnung, S . 2 6 0 f . 8 7 Vgl. BAG ZIP 2 0 0 1 , 5 2 9 , 5 3 1 ; aus der Literatur vor allem Picker (Tarifautonomie, S . 4 3 f f . , 5 1 , 53 (u.ö.); ders., NZA 2 0 0 2 , 7 6 1 , 7 6 8 ; ders., GS Knobbe-Keuk, S . 8 7 9 f f . ; ders., ZfA 1998, 5 7 3 , 673ff.) und Rieble (Arbeitsmarkt, S. 3 5 9 f f . ; ders., ZfA 2 0 0 0 , 5ff.; Löwisch/Rieble, TVG, § 3 Rn. 1 ff.; Löwisch/Rieble in: M ü n c h H d B A r b R , § 2 5 8 Rn. 1); ferner Canaris, AcP 184 ( 1 9 8 4 ) , 2 0 1 , 2 4 4 ; Hönn, Kompensation, S . 2 0 5 ; Veit, Betriebsrat, S. 58ff., 81 f. Weitere Nachweise bei Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S . 5 5 9 Fn. 140. 85 86

88 Richardi, Kollektivgewalt, insbes. S . 1 2 3 , 1 4 0 , 1 6 3 , 177, 2 1 8 ; Zöllner, 37; s. auch schon Lieb, Normsetzung, S . 6 4 , 7 4 . 8 9 BVerfGE 18, 18, 2 8 ; BVerfGE 4 4 , 3 2 2 , 3 4 1 ; BVerfGE 6 4 , 2 0 8 , 2 1 5 .

Rechtsnatur, S . 3 1 ,

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

127

befugnis wird teils als a u f s t a a t l i c h e r E r m ä c h t i g u n g ( „ D e l e g a t i o n s l e h r e " ) , 9 0 teils als a u f der E i n r ä u m u n g eigener ( „ a u t o n o m e r " ) R e c h t s e t z u n g s b e f u g n i s s e

beru-

hend interpretiert ( „ A u t o n o m i e l e h r e " ) , 9 1 w a s hier a b e r n i c h t ins G e w i c h t f ä l l t . 9 2 E n t s c h e i d e n d ist, dass sich die R e g e l u n g s b e f u g n i s der T a r i f p a r t e i e n n a c h diesem V e r s t ä n d n i s nicht a u s p r i v a t e m , s o n d e r n a u s staatlichem

Z u g e s t ä n d n i s ergibt: D e r

S t a a t r ä u m t den K o a l i t i o n e n als privaten I n t e r m e d i ä r e n die B e f u g n i s ein, in e i n e m a b g e z i r k e l t e n Bereich s t a t t seiner R e c h t zu setzen. F o l g e r i c h t i g b e s t i m m t sich der U m f a n g tariflichen N o r m s e t z u n g s m a c h t n i c h t d u r c h ein M a n d a t der N o r m a d r e s s a t e n , sondern d u r c h den v o m S t a a t in A r t . 9 A b s . 3 G G (bzw. A r t . 1 3 7 E G V ) und im T V G g e s t e c k t e n R a h m e n , der g e g e b e n e n f a l l s durch A u s l e g u n g zu k o n k r e t i s i e ren ist. Es b e d a r f k a u m der B e g r ü n d u n g , dass der so skizzierte Streit trotz gegenteiliger B e t e u e r u n g e n n i c h t stets und n i c h t n u r durch j u r i s t i s c h e , s o n d e r n a u c h durch politische A n s c h a u u n g e n g e p r ä g t w u r d e (und w i r d ) . 9 3 W e r die R e g e l u n g s m a c h t der T a r i f p a r t e i e n (de f a c t o : der G e w e r k s c h a f t e n ) z u r ü c k d r ä n g e n will, neigt e h e r der m a n d a t a r i s c h e n T h e o r i e zu, wie u m g e k e h r t d e r j e n i g e , der einen breiten V e r h a n d lungsspielraum der V e r b ä n d e b e f ü r w o r t e t , sich r e g e l m ä ß i g im L a g e r der D e l e g a t i ons- o d e r A u t o n o m i e l e h r e n w i e d e r f i n d e t . D i e H i s t o r i e , in der m a n c h e den Schlüssel zur L ö s u n g s e h e n , 9 4 e r w e i s t sich - wie so o f t - als a m b i v a l e n t , da sie von beiden Seiten zur U n t e r s t ü t z u n g h e r a n g e z o g e n wird und es im Ü b r i g e n d a r a u f a n k o m m t , o b m a n die g e s c h i c h t l i c h e W u r z e l der K o a l i t i o n e n als S e l b s t h i l f e v e r e i n e 9 5 o d e r ihre a n s c h l i e ß e n d e E n t w i c k l u n g zu B e r u f s v e r b ä n d e n 9 6 für m a ß g e b l i c h h ä l t . 9 7 Eine verbindliche E n t s c h e i d u n g des Streites allein a u f positiver G r u n d l a g e wird d a d u r c h e r s c h w e r t , dass beide Seiten a u c h i n s o w e i t gute A r g u m e n t e für sich ins Feld führen

911 So die in älterer Literatur und Rechtsprechung vorherrschende Sichtweise, etwa Adomeit, Rechtsquellen, S. 136; in jüngerer Zeit noch Wiedemann/Oetker, TVG, § 3 Rn.20; zuletzt Janssen, Schlichtung, S.319; weitere Nachweise bei Wiedemann, TVG, § I Rn.43 Fn.83f. 91 So neben der zitierten Rechtsprechung des BVerfG namentlich Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 102ff.; ders., Gutachten, S. 111 f. (Zif. 2.2); Galperm, FS Molitor, S. 153ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S.558; Säcker, Gruppenautonomie, S. 236ff. (nur verbal dort noch der Delegationslehre folgend); Säcker/Oetker, Tarifautonomie, passim (insbes. S.245); Badura, RdA 1999, 8, 12. 92 Vgl. bereits BAGE (GS) 20, 175 = AP Nr. 13 zu Art. 9 GG (Differenzierungsklausel): „Es ist gleichgültig, ob man dabei annimmt, die Tarifautonomie sei vom Staat auf die Koalitionen delegiert oder stehe diesen originär zu". Eingehende Darstellung bei Giesen, Tarifnormen, S. 146ff. 9 ! Offen eingestanden von Biedenkopf, Gutachten, S. 105 und Gamillscheg, Differenzierung, S. 17; allgemein auch Wiethölter, Rechtswissenschaft, S. 281 ff. 9 4 So namentlich Picker (Tarifautonomie, S.43, 45; ZfA 1998, 573, 599ff., und öfter), der die Richtigkeit der mandatarischen Lehre historisch „beweisen" will. Sein Ausgangspunkt, die historische Sichtweise für maßgeblich zu erklären, stellt aber ebenfalls einen politischen Standpunkt dar. 95 So Picker, Tarifautonomie, S.21 ff.; s. (unter Hinweis auf I.otmar) auch Rückert, Legitimation, S. 181; ders., Philipp Lotmar, S. 350. 96 So z.B. Wiedemann, TVG, F.inl. Rn.90. 97 Zur Entwicklung der Koalitionen ausführlich Teuhner, Organisationsdemokratie, S. 42ff.

128

§5

Besondere

Theorien

prii'ater

Regelsetiimg

können. 9 8 So spricht für die Mandatarslehre der Umstand, dass die Tarifbindung im Grundsatz nur diejenigen erfasst, die Mitglied der vertragschließenden Verbände sind ( § 3 Abs. 1 TVG). Diesem „Verbandsprinzip" (Biedenkopf) entspricht es, dass Art. 9 Abs. 3 GG systematisch nicht als Zuständigkeitsregel, sondern als Freiheitsrecht ausgestaltet ist und es dem Einzelnen damit freistellt, einer Tarifpartei beizutreten oder nicht („negative Koalitionsfreiheit"). Andererseits erfassen betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Tarifnormen ebenso den „Außenseiter" (§ 3 Abs. 2 T V G ) wie auch die Tarifnormen über Gemeinsame Einrichtungen ( § 4 Abs.2 TVG), wie überhaupt der gesamte Tarifvertrag durch Allgemeinverbindlicherklärung auf Nichtorganisierte erstreckt werden kann (§ 5 Abs. 4 TVG). Man kann versuchen (und hat immer wieder versucht), die zuletzt genannten „Überwirkungen" auf Nichtmitglieder dadurch im Sinne der mandatarischen Lehre zu „korrigieren", dass man unter Berufung auf die negative Koalitionsfreiheit für eine teleologische Reduktion der betreffenden Normen eintritt" oder sie gar für verfassungswidrig erklärt. 1 0 0 Während es zur teleologischen Reduktion angesichts des unmissverständlichen Gesetzestextes einer gewissen methodologischen Chuzpe bedarf, 1 0 1 stehen der scheinbar unbegrenzten Erstreckung insbesondere der betrieblichen Normen auf Außenseiter in der Tat verfassungsrechtliche Bedenken entgegen. Diese ergeben sich zwar weniger aus der negativen Koalitionsfreiheit, die nicht schrankenlos gewährt wird und daher im Interesse der positiven Koalitionsfreiheit durchaus eingeschränkt werden kann. 1 0 2 Jedoch hat das BVerfG der gesetzlichen Verweisung auf Tarifverträge im Bergmannsversorgungsschein-Beschluss, der uns im staatsrechtlichen Teil der Arbeit begegnet ist, sehr enge Grenzen gesetzt, 1 0 ' woraus in der neueren Literatur der zutreffende Schluss gezogen wird, dass die Kompetenz der Tarifpartner zur Regelung betrieblicher und betriebsverfassungsrechtlicher Fragen erheblich einzuschränken ist. 1 0 4 Inwieweit die Rechtsprechung des BAG, das sich jedenfalls verbal um eine restriktive Auslegung des § 3 Abs. 2 T V G bemüht, mit dieser Maßgabe vereinbar ist, ist noch ungeklärt, bedarf hier aber keiner Debatte. Das Gebot einer vollständigen Herausnahme von Außenseitern aus dem Geltungsbereich von Tarifverträgen ist aus der ge9 8 Vgl. Wiedemann, T V G , § 1 R n . 4 7 f . ; Rieble, scharfer Verfechter der mandatarischen Sicht, räumt der Gegenseite doch eine „beeindruckende Verteidigung" ein (ZfA 2 0 0 0 , 5, 19 F n . 7 4 ) . 9 9 Etwa Rieble, Arbeitsmarkt, Rn. 1509ff. (Bindung nur des organisierten Arbeitgebers). 1 0 0 Vgl. bereits Zöllner, RdA 1 9 6 2 , 4 5 3 , 4 5 8 f . ; ferner Buchner, Tarifvertragsgesetz, S . 5 5 f f . , 67ff.; Lieb, Normensetzung, S . 7 5 (m. F n . 2 3 ) ; Richardi, Kollektivgewalt, S . 2 1 4 f . 101 Gamillscheg (Kollektives Arbeitsrecht, S . 5 6 2 f . ) rügt mit Recht, dass die „teleologischen" Einschränkungen des § 3 A b s . 2 u. 3 T V G das Gesetz an der Dogmatik, nicht aber diese an jenem messen. Dagegen fordert Picker offen dazu auf, dem Gesetz „nicht Folge zu leisten" (FS Richardi, S. 69). 1 0 2 Richtig Wiedemann/Oetker, T V G , § 3 R n . 2 5 u. Rn. 136; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, S . 5 6 3 u. 5 9 4 ; vgl. auch BAGE 6 4 , 3 6 8 (qualitative Besetzungsregeln); BAGF. (GS) 2 0 , 175 (Differenzierungsklausel).

' BVerfGE 6 4 , 2 0 8 , dazu bereits oben, § 3 B.I.2.b. ( S . 6 6 ) . Ausführlich Giesen, Tarifnormen, S . 2 1 9 f f . , 3 0 3 f f . , 361 f., 4 5 0 f f . ; ders., 1 4 8 4 ff. 10

104

BB 2 0 0 2 , 1480,

('.. Private

Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

129

nannten BVerfG-Entscheidung jedenfalls nicht abzuleiten und auch sonst von Verfassungs wegen nicht geboten. 1 0 5 Es verbleibt ein ambivalenter Befund, der als „non liquet" bezeichnet werden muss. 1 0 6 Will man angesichts dessen auf die legitimatorische Deutung der tariflichen Normsetzung nicht ganz verzichten, muss die Lösung auf prinzipieller Ebene gesucht werden. Sehen wir dazu von der je neu unternommenen, aber nicht weiter führenden Flucht in die Soziologie ab, 1 0 7 kann die Mandatarslehre dabei in der Tat für sich in Anspruch nehmen, das fundamentale Prinzip des Privatrechts auf ihrer Seite zu haben. Die Kompetenz zur Regelung der eigenen Angelegenheiten liegt nach dem freiheitlichen Fundament unserer Rechtsordnung nicht bei intermediären Mächten, sondern beim einzelnen Menschen selbst. 1 0 8 Das spricht dafür, auch der Tarifautonomie keinen Eigenwert zuzuerkennen, sondern sie lediglich als freiheitsverstärkende Funktion der individuellen Freiheit der betroffenen Mitglieder der Tarifvertragsparteien zu lesen. Dogmatisch hat diese Lösung den Vorzug, dass sie sich nicht nur gut in das auf dem Rechtsgeschäft aufbauende System des Bürgerlichen Rechts einfügt, sondern dem Rechtsanwender auch ein klares normatives Leitbild vorgibt. So gesehen kann das mandatarische Modell zunächst allen Charme für sich beanspruchen. Getrübt wird diese Perspektive indes bei einer Sichtweise, die jedenfalls dann nicht vernachlässigt werden darf, wenn der Horizont des geschriebenen Rechts überstiegen wird: die Rechtsvergleichung. 109 Betrachtet man die verschiedenen westlichen Arbeitsrechtsordnungen, so fällt auf, dass einige von ihnen - darunter solche mit einer ausgeprägten freiheitlich-demokratischen Tradition - wenig Skrupel haben, die Geltung kollektiver Tarifnormen auch auf solche Arbeitnehmer zu erstrecken, die weder Mitglied der betreffenden Gewerkschaft sind noch der Geltung in sonstiger Weise zugestimmt h a b e n . " 0 Während einige Rechtsordnungen Richtig H. Hanau, RdA 1996, 158, 177; Giesen, Tarifnormen, S . 2 2 4 . Ebenso Blanke, Tarifautonomie, S. 125, 148. " ' 7 Vgl. etwa Kaiser, Die Parität der Sozialpartner, S. 2 9 f f . (Koalitionen als „Institutionen", deren „konkrete Ordnung" der Staat lediglich nachvollziehe); ähnlich Krüger, Gutachten, S . 7 , 2 8 f f . ; dagegen u.a. Richardi, Ordnung, S . 2 5 7 f . ; Picker, ZfA 1 9 9 8 , 5 7 3 , 6 1 3 ; auch schon Lieb, Normsetzung, S. 5 2 f f . Ganz die soziologische Betrachtung nach vorn rückend Teubner, Organisationsdemokratie, S . 2 4 3 und Wiethölter, Rechtswissenschaft, S . 2 9 6 (Tarifautonomie als „politische Anteilhabe an der Rechtsbildung in unserer Gesellschaft"). 105

11,8 Isensee, Der Staat 2 0 ( 1 9 8 1 ) , 161, 162; Rittner, 130f.; Richardi, Kollektivgewalt, S . 5 0 . 1 0 9 Die Vernachlässigung dieser Perspektive durch m a n n / O e t k e r , T V G , § 3 R n . 2 4 . Grundsätzlich zur Fortbildung des nationalen Rechts jetzt Flessner, J Z

FS Sölter, S. 30; ders., AcP 188 ( 1 9 8 8 ) , 101, die „Mandatisten" rügen mit Recht WiedeBedeutung der Rechtsvergleichung für die 2 0 0 2 , 14ff.

1 1 0 Der Grund mag, wie Kahn-Freund (FS Rheinstein II, S. 1 0 2 4 ) andeutet, historischer Art sein: Die fehlende demokratische Tradition in Deutschland verleitete dazu, die Legitimation von Gruppenentscheidungen in deren (vermeintlicher) Autonomie oder auf privatrechtlichem, sprich: rechtsgeschäftlichem Wege zu suchen. Franz Neumann, ein anderer Schüler Sinzheimers, vertrat ganz allgemein die These, die Existenz einer voll ausgebildeten Rechtswissenschaft in Deutschland und deren Fehlen in England beruhe darauf, dass das deutsche Bürgertum seinen Willen nicht, wie das englische, in Gesetze zu transformieren wusste, sondern sich damit begnügte, vor-

130

§5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

für die T a r i f g e l t u n g die einseitige M i t g l i e d s c h a f t des A r b e i t g e b e r s g e n ü g e n lassen, gestehen a n d e r e den g e w ä h l t e n G e w e r k s c h a f t s r e p r ä s e n t a n t e n die B e f u g n i s zu, für alle im U n t e r n e h m e n b e s c h ä f t i g e n A r b e i t n e h m e r die A r b e i t s b e d i n g u n g e n a u s z u h a n d e l n . 1 1 1 A u c h das e u r o p ä i s c h e R e c h t r ä u m t den S o z i a l p a r t n e r n im R a h m e n des „ s o z i a l e n D i a l o g s " eine Stellung ein, die e r s i c h t l i c h n i c h t v o n e i n e m m a n d a t a r i s c h e n , s o n d e r n v o n e i n e m r e p r ä s e n t a t i v e n Bild g e t r a g e n ist (vgl. A r t t . 1 3 7 A b s . 4 , 139 EGV).112 D i e s e r B e f u n d n ö t i g t an sich n o c h n i c h t d a z u , das prinzipiell ü b e r z e u g e n d e m a n d a t a r i s c h e M o d e l l p r e i s z u g e b e n , z u m a l dieses u m g e k e h r t gegen den D i a l o g " in Stellung g e b r a c h t w e r d e n k ö n n t e . "

5

„sozialen

E r g i b t a b e r A n l a s s , seine k a t e g o -

rische K o m p r o m i s s l o s i g k e i t zu ü b e r d e n k e n . 1 1 4 S o ist unter d e m E i n d r u c k des a m e r i k a n i s c h e n T a r i f m o d e l l s s c h o n früh der G e d a n k e f o r m u l i e r t w o r d e n , die Legitimation tariflicher N o r m s e t z u n g „von u n t e n " mit derjenigen durch demokratische T e i l h a b e zu v e r b i n d e n . 1 1 5 D i e s e r G e d a n k e wird heute so v e r s t a n d e n , dass die m i t g l i e d s c h a f t l i c h e U n t e r w e r f u n g als zusätzliches

neben

L e g i t i m a t i o n s e l e m e n t eine

d e m o k r a t i s c h e B i n n e n s t r u k t u r der T a r i f p a r t e i e n , n a m e n t l i c h der G e w e r k s c h a f t e n , treten m ü s s e . " 6 E r k ö n n t e a b e r a u c h so g e d e u t e t w e r d e n , dass die f e h l e n d e Z u s t i m m u n g der N o r m a d r e s s a t e n u n t e r b e s t i m m t e n V o r a u s s e t z u n g e n d u r c h eine M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g kompensiert

w e r d e n k a n n . D i e s e L e s a r t trüge d e m U m -

s t a n d R e c h n u n g , d a s s T a r i f n o r m e n ein ö f f e n t l i c h e s G u t d a r s t e l l e n , dessen Bereitstellung - t r o t z aller Kritik a m „ T a r i f k a r t e l l " - v o l k s w i r t s c h a f t l i c h g e s e h e n a u c h positive W i r k u n g z e i t i g t . " 7 Weil die Bereitstellung ö f f e n t l i c h e r G ü t e r d u r c h das k l a s s i s c h e T r i t t b r e t t f a h r e r p r o b l e m g e f ä h r d e t w i r d , 1 1 8 ist eine D e u t u n g vertretbar, die „ Ü b e r w i r k u n g e n " der T a r i f n o r m e n a u f N i c h t o r g a n i s i e r t e nicht v o n v o r n h e rein als illegitim a u s s c h l i e ß t , s o n d e r n u n t e r b e s t i m m t e n V o r a u s s e t z u n g e n zulässt. gefundene Gesetze „auf hochraffinierte Weise zu interpretieren, um soviel Freiheit wie nur möglich gegen einen mehr oder weniger absoluten Staat zu sichern" (Die Herrschaft des Gesetzes, S.210). 1 1 1 Ausführlich Rebbahn, NZA 2 0 0 1 , 7 6 3 f f . ; ders., DRdA 2 0 0 1 , 103ff.; Gamillscbeg, Kollektives Arbeitsrecht, S . 4 4 3 , 5 5 4 f f . ; W i e d e m a n n / O e i W , Rn.3ff. 1 1 2 Vgl. auch Blanke, Tarifautonomie, S. 1 2 5 , 138, 149 (unter Hinweis auf EuGH Slg. 1 9 9 9 , 1 6 1 2 1 - „Drijvende Bokken"). VVDStRL Vgl. etwa die Kritik von Schwarze, RdA 2 0 0 1 , 2 0 8 f f . ; skeptisch auch Herdegen, 6 2 ( 2 0 0 3 ) , S . 7 , 19. 1 1 4 Einschränkend auch Blanke, Tarifautonomie, S. 1 2 5 , 138ff., der die (grundsätzlich befürwortete) mandatarische Lehre dadurch variiert, dass er Art. 9 Abs. 3 G G nicht als Komplementärgarantie der Privatautonomie, sondern als „grundrechtliches Gegengewicht" zu Art. 2 Abs. 1 G G verstanden wissen will, welches als „Grundrecht im Grundrecht" auf sich selbst angewandt werden müsse. Blanke bezeichnet diesen Gedankengang selbst als „ungesicherte Ideenskizze" (S. 138). In der Sache geht es ihm offenbar darum, der Tarifautonomie zugunsten von Außenseitern und Minderheiten gewisse Zügel anzulegen. Grundsätzlich Biedenkopf, Tarifautonomie, S . 4 7 f f . ; ders., Gutachten, S. 1 1 4 , 138. So vor allem Schüren, Normsetzung, S . 2 3 8 f . " ' Vgl. dazu nur Wiedemann, T V G , Einleitung: Tarifnormen ersparen den Arbeitsvertragsparteien das Aushandeln der Vertragsbedingungen und entlasten den staatlichen Normsetzungsapparat. 1 1 8 S.o., § 3 A . U . b . ( S . 5 2 ) . 115 116

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

131

D a s s der G e d a n k e einer L e g i t i m a t i o n d u r c h M a j o r i t ä t der d e u t s c h e n A r b e i t s r e c h t s o r d n u n g jedenfalls n i c h t g ä n z l i c h f r e m d ist, zeigt ein Blick in das B e t r i e b s v e r f a s s u n g s r e c h t . A u c h d o r t wird die L e g i t i m a t i o n s f r a g e a u f g e w o r f e n , lässt sich hier a b e r ( n o c h ) w e n i g e r k l a r b e a n t w o r t e n . B e v o r die F r a g e der L e g i t i m a t i o n priv a t e r N o r m s e t z u n g e i n g e h e n d e r zu b e h a n d e l n ist, soll d a h e r z u n ä c h s t der F r a g e n a c h g e g a n g e n w e r d e n , wie sich die n o r m a t i v e W i r k u n g der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g r e c h t f e r t i g e n lässt.

2. Die betrieblichen a. Die Unzulänglichkeit

Rechtsnormen der herkömmlichen

Deutungsmuster

D i e l e g i t i m a t i o n s t h e o r e t i s c h e D e u t u n g der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g hat sich seit j e h e r als w i d e r s p e n s t i g e r w i e s e n . D e m n a h e l i e g e n d e n V e r s u c h , sie a n a l o g d e m T a r i f v e r trag im m a n d a t a r i s c h e n S i n n e zu d e u t e n , steht von v o r n h e r e i n der U m s t a n d im W e g e , dass v o n der N o r m w i r k u n g der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g {§ 7 7 A b s . 4 B e t r V G ) a u c h s o l c h e A r b e i t n e h m e r erfasst w e r d e n , die w e d e r m i t der E r r i c h t u n g eines Bet r i e b s r a t s n o c h m i t d e m A b s c h l u s s einer B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g e i n v e r s t a n d e n w a ren, g e s c h w e i g e denn dieser k o n k r e t z u g e s t i m m t h a b e n . M a n hat v e r s u c h t , gleichw o h l eine A r t m i t g l i e d s c h a f t l i c h e r L e g i t i m a t i o n b e t r i e b l i c h e r N o r m s e t z u n g zu beg r ü n d e n , i n d e m m a n den B e t r i e b als V e r b a n d b e s c h r i e b , d e m der A r b e i t n e h m e r als „ M i t g l i e d " b e i t r e t e . " 9 D i e s e D e u t u n g ist j e d o c h zu R e c h t a u f breiten W i d e r spruch g e s t o ß e n . 1 2 0 D a b e i steht ihr w e n i g e r der E i n w a n d e n t g e g e n , d e m in den Bet r i e b e i n t r e t e n d e n A r b e i t n e h m e r fehle das B e w u s s t s e i n , sich der N o r m s e t z u n g d u r c h B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g zu u n t e r w e r f e n ; a u c h d e m e i n f a c h e n G e w e r k s c h a f t s mitglied w i r d eine e n t s p r e c h e n d e V o r s t e l l u n g bezüglich der T a r i f n o r m e n h ä u f i g f r e m d s e i n . 1 2 1 E n t s c h e i d e n d ist j e d o c h , dass der B e t r i e b s a n g e h ö r i g e sich der G e l t u n g der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g d u r c h A u s t r i t t a u s d e m „ B e t r i e b s v e r b a n d " n i c h t e n t z i e h e n k a n n , weil ein s o l c h e r „ A u s t r i t t " o h n e gleichzeitige B e e n d i g u n g des Arb e i t s v e r h ä l t n i s s e s rechtlich nicht m ö g l i c h ist. D e r a n g e s i c h t s dieses U m s t a n d e s d u r c h a u s n i c h t fern liegende G e d a n k e , den verfassten B e t r i e b als mit S a t z u n g s g e w a l t b e g a b t e S e l b s t v e r w a l t u n g s k ö r p e r s c h a f t zu b e g r e i f e n , wird heute n i c h t m e h r v e r t r e t e n . 1 2 2 G e g e n die ö f f e n t l i c h - r e c h t l i c h e E i n o r d n u n g s p r ä c h e z w a r w e d e r die fehlende R e c h t s f ä h i g k e i t des B e t r i e b e s n o c h 1 , 9 Insbesondere Reuter, RdA 1991, 193ff.; ders., RdA 1994, 152, 156ff.; ders., ZfA 1995, 1 ff.; Nebel, Betriebsnorm, S. 118ff., insbes. S. 124ff.; Ehmann, ZRP 1996, 314, 319. Siehe auch schon Meyer-Cording, Rechtsnormen, S.90, 101 ff. 1 2 0 Vgl. nur Canaris, AuR 1966, 129, 139; Richardi, Kollektivgewalt, S.313f.; Kreutz, Betriebsautonomie, S.65; Waltermann, Rechtsetzung, S.89; Reichold, Sozialprivatrecht, S.537ff.; zuletzt Möschel, BB 2002, 1 3 1 4 , 1 3 1 5 . 121 Anders Zöllner, Rechtsnatur, S.31, der in der Partizipation an den unmittelbaren Wirkungen des Tarifvertrages den Hauptzweck des Koalitionsbeitritts sieht. Empirisch steht diese Behauptung auf schwachen Füßen, weil der Tarifvertrag durch einzelvertragliche Bezugnahme meist ohnehin auf alle Arbeitsverhältnisse erstreckt wird, s.u. § 9 B.I.3. (S.315). 1 2 2 Ausführlich und statt aller Reichold, Sozialprivatrecht, insbes. S. 375ff.

132

§5

Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

die privatrechtliche N a t u r seines „ T r ä g e r s " , denn beide Eigenschaften sind a u c h bei der unstreitig d e m öffentlichen R e c h t z u z u o r d n e n d e n Börse a n z u t r e f f e n . I 2 ' Positiv-rechtlich steht jedoch die a u s d r ü c k l i c h e H e r a u s n a h m e des ö f f e n t l i c h e n Dienstes (§ 1 3 0 BetrVG), vor allem a b e r die fehlende Staatsaufsicht entgegen, die allgemein als n o t w e n d i g e s K o r r e l a t öffentlich-rechtlicher A u f g a b e n w a h r n e h m u n g a n g e s e h e n w i r d . 1 2 4 D a m i t gerät die streng m a n d a t a r i s c h e Lehre in ein Dil e m m a : Ist die betriebliche N o r m w e d e r mitgliedschaftlich noch s t a a t l i c h - d e m o kratisch legitimiert, soll eine a n d e r e Legitimation aber ausgeschlossen sein, d a n n d ü r f t e es N o r m s e t z u n g d u r c h Betriebsvereinbarungen eigentlich gar nicht g e b e n . Diesen Schritt will auch u n t e r den M a n d a t i s t e n n i e m a n d gehen, denn - so liest m a n - er w ä r e allein „ d u r c h die Starrheit d o g m a t i s c h e r Folgerichtigkeit zu rechtf e r t i g e n " . 1 2 5 Im Ergebnis b e g n ü g t m a n sich d a h e r w e i t g e h e n d d a m i t , die „ Z w a n g s o r d n u n g " der B e t r i e b s n o r m e n d u r c h möglichst enge Auslegung der zur N o r m s e t z u n g e r m ä c h t i g e n d e n Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes im Z a u m e zu halten u n d sie auf solche Regeln zu b e s c h r ä n k e n , die die A r b e i t n e h m e r begünstigen o d e r d a s D i r e k t i o n s r e c h t des Arbeitgebers beschneiden. 1 2 6 D a s dies theoretisch nicht befriedigen k a n n , liegt auf der H a n d . E i n f a c h e r h a b e n es Vertreter der Sichtweise, die in der gesetzlichen Regelung des Kollektivvertrags eine staatliche E r m ä c h t i g u n g zu privater N o r m s e t z u n g sehen ( „ D e l e g a t i o n s l e h r e " ) . Für sie spiegelt die B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g lediglich auf betrieblicher Ebene wider, w a s der T a r i f v e r t r a g auf überbetrieblicher Ebene ist. 1 2 7 Der U m f a n g der N o r m s e t z u n g s b e f u g n i s s e der Betriebspartner bestimmt sich a u c h f ü r sie nach den N o r m e n des Betriebsverfassungsgesetzes, d o c h besteht f ü r deren e i n s c h r ä n k e n d e Auslegung n u r insoweit Anlass, als es um die A b g r e n z u n g von der v o r r a n g i g e n (§ 7 7 Abs. 3 BetrVG), weil verfassungsrechtlich verbürgten T a r i f a u t o n o m i e geht. Soweit ein solcher V o r r a n g nicht besteht, sieht m a n folglich kein H i n dernis, den B e t r i e b s p a r t n e r n eine u m f a s s e n d e R e g e l u n g s b e f u g n i s zuzugestehen. 1 2 8 Die Frage nach der Legitimation der N o r m s e t z u n g w i r d dabei e n t w e d e r gar nicht gestellt, oder, soweit doch a n g e s c h n i t t e n , d u r c h k n a p p e n H i n w e i s auf die d e m o kratische Wahl des Betriebsrats erledigt. 1 2 9 Im Übrigen b e m ü h t m a n sich, wie im T a r i f r e c h t , die k o n k r e t e n Fragen p r a g m a t i s c h von Fall zu Fall zu lösen und d e m G r u n d s a t z s t r e i t aus d e m Weg zu gehen. Keine der dargestellten Sichtweisen ist ü b e r z e u g e n d . U n b e f r i e d i g e n d ist zun ä c h s t die m a n d a t a r i s c h e Sicht, die ihre Position, wie wir bei der B e h a n d l u n g des T a r i f v e r t r a g s s a h e n , z w a r auf ein f u n d a m e n t a l e s Prinzip des Privatrechts stützt, 12i

Vgl. o b e n , § 2 A . I . 1 . ( S . 2 9 f . ) . Statt aller Maurer, A l i g e m e i n e s V e r w a l t u n g s r e c h t , § 2 3 R n . 4 5 . 125 Richardi, K o l l e k t i v g e w a l t , S . 3 2 1 . 126 Vgl. Richardi, K o l l e k t i v g e w a l t , S. 3 1 7 ff.; ders., Z f A 1 9 9 0 , 2 1 1 , 2 3 0 f f . ; ders. in: M ü n c h H d b A r b R , § 12 R n . 2 0 , 2 3 f f . ; Picker, N Z A 2 0 0 2 , 7 6 1 , 7 6 9 ; ders. , T a r i f a u t o n o m i e , S. .58f.; Veit, Bet r i e b s r a t , S. 3 0 4 , 3 0 9 , 3 7 4 , 4 2 3 f f . 127 D e z i d i e r t Säcker, G r u p p e n a u t o n o m i e , S . 3 4 4 f . ; zuletzt ¡aussen, Schlichtung, S.328. 128 H . M . , vgl. n u r BAGF. 5 7 , 3 0 , 3 5 ; G K - W i e s e , § 8 8 B e t r V G , R n . 7 , 1 1 , 1 2 . 129 So e t w a Säcker, G r u p p e n a u t o n o m i e , S . 3 4 5 ; Zölhier/Loritz, A r b e i t s r e c h t , § 4 6 11 5 b. 124

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

133

vor der folgerichtigen D u r c h f ü h r u n g des eigenen G e d a n k e n s a b e r z u r ü c k s c h r e c k t . Die darin z u m A u s d r u c k k o m m e n d e A c h t u n g v o r d e m Gesetzgeber ist respektabel, stillt jedoch nicht das d o g m a t i s c h e B e d ü r f n i s , den (vermeintlichen) Widers p r u c h zwischen R e c h t s p r i n z i p und positiver Regelung a u f z u l ö s e n . Beschränkt m a n sich im Sinne der Delegationslehren d a r a u f , auf d a s Vorliegen einer gesetzlichen E r m ä c h t i g u n g zur privaten N o r m s e t z u n g zu verweisen, fällt es schwer, die G r e n z e n zu k o n t u r i e r e n , die der N o r m s e t z u n g s m a c h t der Betriebspartner gesteckt sind. Dass es solche G r e n z e n geben muss, w i r d aber bereits aus der F a c h a r z t e n t s c h e i d u n g des BVerfG deutlich, deren Leitlinien, wie wir s a h e n , u n g e a c h t e t der Frage B e a c h t u n g verlangen, o b die mit N o r m s e t z u n g s g e w a l t b e g a b t e G r u p p e öffentlich-rechtlich o d e r privatrechtlich verfasst ist. 1 3 0 Auch im Betriebsverfassungsrecht m u s s d a h e r g r u n d s ä t z l i c h die Frage nach der Legitimation der N o r m s e t z e r a u f g e w o r f e n w e r d e n . D u r c h b l o ß e n H i n w e i s auf die d e m o k r a t i s c h e Wahl des Betriebsrats lässt sie sich nicht b e a n t w o r t e n , d e n n D e m o k r a t i e b e d e u t e t M e h r h e i t s h e r r s c h a f t , deren Legitimität g e g e n ü b e r dissentierenden o d e r an der Wahl gar nicht beteiligten A r b e i t n e h m e r n b e g r ü n d u n g s b e d ü r f t i g bleibt. 1 1 1

b. Neuere

Deutungsversuche

Im jüngeren S c h r i f t t u m h a t es nicht an Versuchen gefehlt, das e r k a n n t e Begründ u n g s d e f i z i t zu beseitigen. Verschiedene H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t e n h a b e n sich der Frage gestellt, wie die B e t r i e b s n o r m e n als private u n d gleichwohl h e t e r o n o m e Regeln mit den G r u n d s ä t z e n unserer P r i v a t r e c h t s o r d n u n g v e r s ö h n t w e r d e n k ö n n e n . Einen ersten Anlauf u n t e r n a h m Kreutz, der die B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g als „privath e t e r o n o m e s R e c h t s g e s c h ä f t " e i n s t u f t , ' 1 2 d a m i t d a s P r o b l e m aber z u n ä c h s t n u r beschreibt, nicht löst. U m den h e t e r o n o m e n C h a r a k t e r der Regelung zu rechtfertigen, greift K r e u t z auf eine g r u n d r e c h t l i c h e P r ü f u n g z u r ü c k . Z w a r stelle § 7 7 Abs. 4 B e t r V G , der die n o r m a t i v e W i r k u n g der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g a n o r d n e , einen Eingriff in die allgemeine H a n d l u n g s f r e i h e i t (Art. 2 Abs. 1 G G ) derjenigen A r b e i t n e h m e r dar, die mit der b e t r e f f e n d e n Regelung nicht e i n v e r s t a n d e n s e i e n . 1 " D o c h sei dieser Eingriff d a n n gerechtfertigt, w e n n d a s BetrVG in v e r h ä l t n i s m ä ß i g e r Weise die S c h r a n k e n dieses G r u n d r e c h t s k o n k r e t i s i e r e . " 4 E b e n dies sei der Fall, d e n n die B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g verfolge den billigenswerten Z w e c k , die A r b e i t n e h m e r vor d e r einseitigen A u s ü b u n g des D i r e k t i o n s r e c h t s d u r c h den Arbeitgeber zu schüt-

150 Z u t r e f f e n d V/altermann, Rechtsetzung, S. 153; siehe auch schon Biedenkopf, Tarifautonomie, S.41 u. 52. Ferner oben, § 3 B.I.l.b. (S.62). 1,1 Richtig Picker, N Z A 2 0 0 2 , S.769; ders., Tarifautonomie, S . 5 7 (mit Fn. 1 0 0 - 1 0 2 ) ; ferner Waltermann, Rechtsetzung, S. 91 f., 205f.; Reichold, Sozialprivatrecht, S. 539; Käppier, FS Kissel, S . 4 7 5 , 4 8 0 . N ä h e r zur „demokratischen Legitimation" unten, § 6 B.I.3. (S. 186ff.). 1n Vgl. Kreutz, Die Grenzen der Betriebsautonomie (1979), S.109f.; diesem sachlich folgend Hann, Die Kompensation gestörter Vertragsparität (1982), S . 2 0 7 f f . Kreutz, Betriebsautonomie, S. 1 15. 1,4 Kreutz, Betriebsautonomie, S. 123ff.

134

§5 Besondere

Theorien

privater

Rcgelsetzung

zen. 1 3 5 D a z u sei sie ein geeignetes, e r f o r d e r l i c h e s und angemessenes M i t t e l , weil alt e r n a t i v e L ö s u n g e n , n a m e n t l i c h die Regelung der betrieblichen O r d n u n g d u r c h Gesetz o d e r T a r i f v e r t r a g , w e g e n der fehlenden „ F e i n a b s t i m m u n g " auf die betrieblichen Belange nicht in Betracht k ä m e n . 1 5 6 Insgesamt sei § 7 7 Abs. 4 BetrVG d a m i t v e r f a s s u n g s g e m ä ß u n d eine Verletzung des G r u n d r e c h t s aus Art. 2 Abs. 1 G G d u r c h die B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g als R e c h t s i n s t i t u t zu v e r n e i n e n . 1 3 ' Diese Ü b e r l e g u n g e n sind b e m e r k e n s w e r t , d e n n sie richten d a s A u g e n m e r k dar a u f , dass der Arbeitgeber im R a h m e n seines D i r e k t i o n s r e c h t s zu einseitiger Regelsetzung berechtigt ist, einseitig aufgestellte Regeln a b e r - wie zum A G B - R e c h t a u s g e f ü h r t - an einem Legitimationsdefizit leiden. Als M i t t e l , dieses Defizit zu k o m p e n s i e r e n , stellt die betriebliche M i t b e s t i m m u n g so gesehen ein f u n k t i o n a l e s Ä q u i v a l e n t z u r richterlichen I n h a l t s k o n t r o l l e des AGB- u n d V e r b a n d s r e c h t s dar. G e g e n ü b e r dieser weist sie den Vorzug g r ö ß e r e r S a c h n ä h e a u f , denn den Betriebsn o r m e n m ö g e n nicht alle b e t r i e b s a n g e h ö r i g e n A r b e i t n e h m e r z u s t i m m e n , d o c h k ö n n e n sie die Z u s a m m e n s e t z u n g des Betriebsrats - im Unterschied zu d e r des Gerichts - beeinflussen. D e n n o c h lässt d e r A n s a t z von Kreutz d r ä n g e n d e Fragen unb e a n t w o r t e t . Wie im ersten Teil der Arbeit illustriert, k a n n die H e r r s c h a f t eines Kollektivs belastende W i r k u n g e n zeitigen, die denjenigen der A n o r d n u n g e n eines einzelnen „ H e r r s c h e r s " in nichts n a c h s t e h e n . 1 3 8 W ä h r e n d die A r b e i t n e h m e r sich ihren Arbeitgeber i m m e r h i n a u s g e s u c h t h a b e n , trifft dies auf den Betriebsrat insoweit nicht zu, als dieser nicht von allen A r b e i t n e h m e r n g e w ä h l t w u r d e , ja m a n c h e A r b e i t n e h m e r mit seiner E r r i c h t u n g von v o r n h e r e i n nicht e i n v e r s t a n d e n gewesen sein m ö g e n . W ä r e der Schutz der A r b e i t n e h m e r vor einseitiger M a c h t a u s ü b u n g des Arbeitgebers der einzige Z w e c k der betrieblichen M i t b e s t i m m u n g , stellte sich d a h e r die Frage, w a r u m das Gesetz es nicht bei einem O p t i o n s m o d e l l belässt, das es den einzelnen A r b e i t n e h m e r n freistellt, sich bei der W a h r n e h m u n g ihrer betrieblichen Belange der Hilfe des Betriebsrats zu b e d i e n e n . 1 3 9 Die Parallele zur gesetzlichen V e r t r e t u n g M i n d e r j ä h r i g e r , die K r e u t z zieht, 1 4 0 zeigt, dass es sich bei s e i n e m ' K o n z e p t letztlich u m ein paternalistisches M o d e l l h a n d e l t , das z u m i n d e s t auf zivilistischer Ebene R e c h t f e r t i g u n g s b e d a r f auslöst. Auf verfassungsrechtlicher Ebene bleibt die Frage o f f e n , o b d e m Staat bei der E r m ä c h t i g u n g der Betriebspartner zur N o r m s e t z u n g nicht G r e n z e n gesetzt sind, die u n a b h ä n g i g d a v o n bestehen, a u s welchen G r ü n d e n die E r m ä c h t i g u n g erfolgt ist. Die letzte Frage m a c h t Waltermann z u m Kern seiner Ü b e r l e g u n g e n . 1 4 1 Ausgeh e n d von der These, dass die F a c h a r z t e n t s c h e i d u n g Leitlinien auch f ü r die Er1,5

1.7 1.8 1.9

Kreutz, Betriebsautonomie, S. 186ff. Kreutz, Betriebsautonomie, S . 2 4 0 f f . Kreutz, Betriebsautonomie, S.245. Vgl. oben, § 2 B.II.2. (S.45). D a f ü r aus rechtspolitischer Sicht Natzel,

Z f A 2 0 0 3 , 103, 141; Möscbel,

BB 2 0 0 2 , 1314,

1317. 140

Kreutz, Betriebsautonomie, S. 104f. Waltermann, Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarung zwischen Privatautonomie und Tarifautonomie (1996). 141

C. Private Regelsetzung mächtigung

privater N o r m s e t z u n g s g r e m i e n

im

135

Arbeitsrecht e n t h ä l t , s u c h t er die L ö s u n g

im

r e c h t s s t a a t l i c h e n G r u n d s a t z des G e s e t z e s v o r b e h a l t s . 1 4 2 E n t s p r e c h e n d der s t a a t s rechtlichen „Wesentlichkeitslehre"

soll der G e s e t z g e b e r d a n a c h g e h a l t e n sein,

„ w e s e n t l i c h e " F r a g e n , w e l c h e die B e l a n g e der b e t r o f f e n e n A r b e i t n e h m e r b e s o n ders tief b e r ü h r t e n , n i c h t der R e g e l u n g s m a c h t der B e t r i e b s p a r t n e r zu ü b e r l a s s e n , s o n d e r n selbst zu e n t s c h e i d e n . 1 4 1 Im Ü b r i g e n b e s t i m m e sich der U m f a n g der bet r i e b l i c h e n R e g e l u n g s b e f u g n i s n a c h den M a ß s t ä b e n , w i e sie der p a r l a m e n t a r i s c h e G e s e t z g e b e r im B e t r i e b s v e r f a s s u n g s g e s e t z v o r g e g e b e n h a b e . 1 4 4 M i t diesen E i n s i c h ten g e l a n g t W a l t e r m a n n insofern ü b e r den A n s a t z v o n K r e u t z h i n a u s , als er überz e u g e n d a u f G r e n z e n h i n w e i s t , die der s t a a t l i c h e n E r m ä c h t i g u n g privater N o r m s e t z u n g s g r e m i e n in j e d e m Fall gezogen s i n d . 1 4 5 O f f e n b l e i b t dabei allerdings, w a r u m der G e s e t z g e b e r den B e t r i e b s p a r t n e r n ü b e r h a u p t eine N o r m s e t z u n g s m a c h t e i n r ä u m t . I n s b e s o n d e r e lässt der H i n w e i s a u f v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e S c h r a n k e n die a u s zivilistischer S i c h t d r ä n g e n d e F r a g e u n b e a n t w o r t e t , wie sich diese N o r m s e t z u n g s b e f u g n i s zu dem G r u n d p r i n z i p des P r i v a t r e c h t s v e r h ä l t , private R e g e l n n u r m i t Z u s t i m m u n g ihrer A d r e s s a t e n in G e l t u n g zu setzen. D e r F r a g e n a c h d e m Z w e c k der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g , w i e sie K r e u t z gestellt h a t t e , lässt sich d a h e r mit W a l t e r m a n n s Ansatz nicht ausweichen. D i e s e r K r i t i k trägt Reichold

R e c h n u n g , der sich im R a h m e n einer a n s p r u c h s v o l -

len U n t e r s u c h u n g b e m ü h t , die G r u n d l a g e n der B e t r i e b s v e r f a s s u n g „ v o n u n t e n " , d . h . a u s zivilistischer S i c h t zu f o r m u l i e r e n . 1 4 6 W i e die M a n d a t i s t e n geht er dabei v o n der ü b e r z e u g e n d e n A u f f a s s u n g a u s , dass ein richtiges V e r s t ä n d n i s der k o l l e k t i v v e r t r a g l i c h e n N o r m s e t z u n g n u r a u f g r u n d einer a u s f o r m u l i e r t e n

Privatrechts-

t h e o r i e g e w o n n e n w e r d e n k a n n . Z u diesem Z w e c k e e n t f a l t e t er ein e t h i s c h - f u n k t i o n a l e s Bild des Z i v i l r e c h t s , das dem dieser A r b e i t z u g r u n d e liegenden

nahe

s t e h t . 1 4 7 A u s g a n g s p u n k t seiner G e d a n k e n ist d a b e i die T h e s e , dass sich P r i v a t a u t o n o m i e n i c h t in W i l l e n s f r e i h e i t e r s c h ö p f e , s o n d e r n als a u s f ü l l u n g s b e d ü r f t i g e r G r u n d w e r t der jeweiligen O r d n u n g s a u f g a b e a n g e p a s s t e S t r u k t u r e n b e n ö t i g e . 1 4 8 P r i v a t r e c h t , so R e i c h o l d , k ö n n e sich d a h e r n i c h t darin e r s c h ö p f e n , dem Einzelnen F r e i h e i t s s p h ä r e n zuzuweisen und a b z u s c h i r m e n , s o n d e r n m ü s s e V e r f a h r e n und O r g a n i s a t i o n e n b e r e i t h a l t e n , d a m i t sich Freiheit im Z u s a m m e n w i r k e n mit a n d e ren a u c h v e r w i r k l i c h e n k a n n ( „ F r e i h e i t sozialer K o o r d i n a t i o n " ) . 1 4 9 V o r diesem H i n t e r g r u n d e r s c h e i n t R e i c h o l d der B e t r i e b s r a t als „ M e d i u m der F r e i h e i t im H e r r s c h a f t s b e r e i c h B e t r i e b " . 1 5 0 Seine R o l l e beim A b s c h l u s s von B e t r i e b s v e r e i n b a r u n Waltermann, Rechtsetzung, S. 148ff.; dem folgend Veit, Betriebsrat, S. 199ff. Waltermann, Rechtsetzung, S. 151 ff., 242ff. 144 Waltermann, Rechtsetzung, S. 187; ebenso Veit, Betriebsrat, S.203, 291. I4 '' Zur Maßgeblichkeit der Facharztentscheidung auch für private Ordnungen bereits oben, § 3 B.I.l.b. (S.62). 146 Reichold, Betriebsverfassung als Sozialprivatrecht (1995). 147 Vgl. oben, $ 3 B.II. 1. (S. 73f.). 148 Reichold, Sozialprivatrecht, S.408. 149 Reichold, Sozialprivatrecht, S.434. 150 Reichold, Sozialprivatrecht, S.434, 448, 495. 142 I4!

136

$5 Besondere

Theorien privater

gen sieht er in der eines Vertragshelfers,]51

Regelsctzung

dem die A u f g a b e zufalle, die d a u e r h a f t e

A b h ä n g i g k e i t des A r b e i t n e h m e r s v o m W e i s u n g s r e c h t des A r b e i t g e b e r s und v o m arbeitsteiligen O r g a n i s a t i o n s z u s a m m e n h a n g im B e t r i e b zu k o m p e n s i e r e n . 1 , 2 D i e B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g w i r d für R e i c h o l d d a m i t zum „ v e r t r a g s a k z e s s o r i s c h e n " Ins t r u m e n t einer

innerbetrieblichen

beitsbedingungen.

Angemessenheitskontrolle

betrieblicher

Ar-

153

R e i c h o l d s G e d a n k e n , die a u ß e r h a l b des A r b e i t s r e c h t s erst vereinzelt die g e b ü h rende A u f m e r k s a m k e i t e r f a h r e n h a b e n , 1 , 4 ö f f n e n den Blick dafür, dass eine v o n der Z u s t i m m u n g ihrer A d r e s s a t e n a b g e k o p p e l t e private R e g e l n i c h t n o t w e n d i g als illegitim o d e r v o n „ o b e n " o k t r o y i e r t g e w e r t e t w e r d e n d a r f . G l e i c h w o h l ist a u c h sein K o n z e p t n i c h t v o r E i n w ä n d e n gefeit. Z u n ä c h s t u n t e r s c h e i d e t sich R e i c h o l d s R e c h t f e r t i g u n g der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g t r o t z der b e t o n t v e r t r a g l i c h e n Perspektive in der S a c h e k a u m von derjenigen K r e u t z ' , der - wie gesehen - im S c h u t z v o r einseitiger A u s ü b u n g des D i r e k t i o n s r e c h t s e b e n f a l l s den m a ß g e b l i c h e n Z w e c k der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g s i e h t . 1 5 5 D a m i t ist a u c h R e i c h o l d s L e h r e den gegen diese Sichtweise erhobenen

Bedenken

ausgesetzt. D i e s e B e d e n k e n

relativieren

sich,

w e n n m a n den V e r t r a g s h i l f e g e d a n k e n n i c h t a u f den S c h u t z v o r A b h ä n g i g k e i t , s o n d e r n a u f die E r g ä n z u n g s b e d ü r f t i g k e i t des n o t w e n d i g unvollständigen ( „ r e l a t i o n a l e n " ) A r b e i t s v e r t r a g e s r i c h t e t , 1 5 6 d o c h bleibt a u c h d a n n ein g r u n d s ä t z l i c h e r E i n w a n d b e s t e h e n . D e n n so sehr R e i c h o l d b e m ü h t ist, den freiheitlichen C h a r a k ter der B e t r i e b s v e r f a s s u n g m i t F o r m e l n wie „ F r e i h e i t durch G e s e l l i g k e i t " o d e r „ F r e i h e i t a u f G e g e n s e i t i g k e i t " zu b e t o n e n , 1 5 7 so wenig ä n d e r t dies d a r a n , dass sein „ V e r t r a g s h e l f e r " B e t r i e b s r a t a u c h zugunsten (oder zu L a s t e n ) derjenigen Arb e i t n e h m e r tätig w i r d , die ihn um diese V e r t r a g s h i l f e n i c h t g e b e t e n h a b e n . 1 5 8 D a mit a b e r wird seine T h e s e b r ü c h i g , im A r b e i t s v e r t r a g sei die „alleinige und ausreic h e n d e p r i v a t a u t o n o m e L e g i t i m a t i o n " für die N o r m e n w i r k u n g der B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g zu s e h e n . ' ^ 9 Als verräterisch e r w e i s t es sich d a b e i , w e n n R e i c h o l d die B e t r i e b s n o r m e n t r o t z ihrer a n g e b l i c h v e r t r a g l i c h e n L e g i t i m a t i o n als „ Q u a s i - V e r t r a g " o d e r n u r „ m a t e r i a l " vertraglich b e z e i c h n e t 1 6 0 und ihnen g e g e n ü b e r der Vere i n s s a t z u n g , m i t der er sie a u f eine Stufe stellt, eine „ e t w a s a n d e r e L e g i t i m a t i o n s l a -

Reichold, Sozialprivatrecht, S.486, 499, 549 (Herv. im Original). Reichold, Sozialprivatrecht, S. 509ff., 527. Siehe hierzu auch schon die Überlegungen Selznicks zum betrieblichen Schlichtungswesen (Law, Society, and Industrial Justice, S. 155f.). Reichold, Sozialprivatrecht, S.530ff., 542f. 154 Vgl. Calliess, Jb.J.ZivRWiss. 2000, 85, 88, 100; Bachmann, Jb.J.ZivRWiss. 2002, 9, 20f. 1 " Reichold selbst grenzt sich von Kreutz mit dem Vorwurf ab, dieser habe die „materiale Vertraglichkeit" und den „prozeduralen Charakter" der Betriebsvereinbarung übersehen (Sozialprivatrecht, S.533, 545). 1 . 6 So Windbichler, FS Zöllner II, 1998, S.999, 1006ff.; dies., Betriebsautonomie, S.237, S. 252; dies., JITE 1996, 250, 252. 1 . 7 Vgl. Reichold, Sozialprivatrecht, S.434, 530ff. 158 Richtig Veit, Betriebsrat, S.181. 159 Reichold, Sozialprivatrecht, S.542. 160 Reichold, Sozialprivatrecht, S.545. 151

112

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

137

ge" bescheinigt."' 1 Wie diese Formulierungen belegen, sieht auch Reichold, dass die Betriebsnormen nicht wirklich durch rechtsgeschäftliche Zustimmung ihrer Adressaten legitimiert sind. Wenn dem aber so ist, bleibt die Ausgangsfrage offen, worin ihre privatrechtskonforme Rechtfertigung liegen soll. Diese Frage nötigt nicht dazu, die von Reichold richtig erkannte Vertragsakzessorietät der Betriebsvereinbarung in Abrede zu stellen. 162 Will man seinen Ansatz fruchtbar machen und nicht zu Mandatars- oder öffentlich-rechtlichen Delegationslehren zurückkehren, 1 6 1 bleibt angesichts der aufgeführten Einwände nur folgende Alternative: Entweder der Begriff des Rechtsgeschäfts wird in dem Sinne ausgeweitet, dass er auch ungewollte, aber sozial sinnvolle Bindungen mit einschließt. 1 6 4 Dann gäbe der Arbeitsvertrag in der Tat die Grundlage für „vertragsakzessorische" Ergänzungen, die keiner weiteren Zustimmung mehr bedürften. Oder man verzichtet von vornherein darauf, die Rechtfertigung „akzessorischer" Normen rechtsgeschäftlich zu begründen und akzeptiert, dass private Regeln unter Umständen auch dann zivilistisch legitim sein können, wenn ihnen ihre Adressaten nicht zugestimmt haben. Für den ersten Weg mag sprechen, dass auch die sog. ergänzende Vertragsauslegung, der die Betriebsvereinbarung bei vertragsakzessorischer Deutung entspricht, nach h . M . ihre Rechtfertigung im ergänzungsbedürftigen Vertrag selbst findet. Abgesehen davon, dass dieser Meinung ernste Bedenken entgegen stehen, 1 6 1 spricht hier dagegen, dass der Bezug zum hypothetischen Parteiwillen, auf den man sich insoweit stützt, bei der Betriebsvereinbarung ersichtlich keine Rolle spielt, denn was einzelne Arbeitsvertragsparteien z.B. über die Lage der Arbeitszeit vereinbart hätten, wenn sie darüber gesprochen hätten, ist für den Inhalt einer darüber abzuschließenden Betriebsvereinbarung irrelevant. Die besseren Gründe sprechen daher für den zweiten Weg. M a n tut dem Privatrecht keinen Gefallen, wenn man Regeln, die ersichtlich nicht durch die Zustimmung eines Betroffenen legitimiert sind, gleichwohl in rechtsgeschäftliche Kategorien zwängt, wie nicht zuletzt die alte Debatte um den sog. faktischen Vertrag gezeigt hat. Letztlich stand und steht hinter diesen und ähnlichen Versuchen nur die Furcht des Zivilisten, private Regeln, die ungeachtet einer Zustimmung aller Adressaten gelten sollen, für illegitim zu erklären oder an das öffentliche Recht

Reichold, Sozialprivatrecht, S.51 1. Grundsätzlich zustimmend auch Richardi, BetrVG, Kinl. Rn. 129; Riehle, Arbeitsmarkt, Rn. 1418f.; Windbichler (oben Fn. 156). In dieser Richtung Veit (Betriebsrat, S. 184), die den Widerspruch der M a n d a t a r s l e h r e zum geltenden Recht erkennt und der Betriebsvereinbarung daher „doch gewisse öffentlich-rechtliche Z ü g e " zuschreibt (s. auch ebd., S.203: Vergleich mit Gemeinde und Studentenschaft). Auch für Rieble (Arbeitsmarkt, Rn. 141 1) stellt die Betriebsverfassung eine (offenbar suspekte) „Staatsvera n s t a l t u n g " dar. 164 In diese Richtung weist Reichold, wenn er sich ausdrücklich auf Köndgens L.ehre einer „Selbstbindung o h n e Vertrag" beruft (Sozialprivatrecht, S. 502ff.). Diese Lehre wird freilich von der ganz h . M . verworfen, s. dazu unten, § 7 B.II. (S.243ff.). N a h e r unten, § 7 A.IV. (S. 238ff.).

138

§ 5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

abtreten zu müssen. Beide Befürchtungen sind, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, unbegründet. II. Die einseitige Regelaufstellung durch den Arbeitgeber Neben den Kollektivvereinbarungen kennt das Arbeitsrecht mit der Möglichkeit einseitiger Regelaufstellung durch den Arbeitgeber ein weiteres Phänomen privater Normsetzung. Ihre Betrachtung ist lehrreich auch über den Bereich des Arbeitsrechts hinaus. 1. Allgemeine Arbeitsbedingungen Betriebsvereinbarung

(AAB) und ihre „Ablösung"

durch

Allgemeine Arbeitsbedingungen (AAB) entsprechen in der Sache den allgemeinen Geschäftsbedingungen und stellen insoweit keine Besonderheit des Arbeitsrechts dar. 1 6 6 Wie im AGB-Recht wurde auch hier die Frage gestellt, ob es sich bei den einseitig vom Arbeitgeber aufgestellten und pauschal in den Arbeitsvertrag einbezogenen Regeln um Normen oder Vertragsteile handelt, 1 6 7 und wie im AGB-Recht ist der Streit auch hier mit dem Einwand zu erledigen, dass er die eigentlichen Sachfragen verschleiert. Ih8 Eine besondere Note erhielt die Debatte im Arbeitsrecht dadurch, dass sich hier das praktisch relevante Problem stellt, ob Ansprüche der Arbeitnehmer, die auf AAB oder der - später zu behandelnden - Gesamtzusage beruhen, durch Betriebsvereinbarung nachträglich verkürzt werden können („ablösende Betriebsvereinbarung"). Mit ihm ist die Frage angesprochen, ob und wie Regeln, die einmal in Geltung gesetzt wurden, nachträglich geändert werden können. Da die Geltung der AAB wie die von AGB auf einer (wenn auch nur pauschalen) Zustimmungserklärung der Adressaten beruht, werden sie von der ganz h.M., der sich der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts anschloss, 1 6 9 als rechtsgeschäftlicher Bestandteil des Arbeitsvertrages gewertet. Nach dem sog. Günstigkeitsprinzip können sie daher ohne Zustimmung der Betroffenen durch Kollektivvereinbarung eigentlich nur zugunsten der Arbeitnehmer abgeändert werden. Mit der ganz h.L. bejaht der Große Senat die Geltung dieses Prinzips auch im Verhältnis Arbeitsvertrag - Betriebsvereinbarung, will es aber nur in „modifizierter" Form anwenden, indem er nicht auf einen individuellen, sondern auf einen kollektiven Günstigkeitsvergleich

if>6 p j e frühe,- z "[" streitige Frage einer Inhaltskontrolle von AAB ist durch die Schuldrechtsreform prinzipiell erledigt, vgl. jetzt § 3 1 0 Abs. 4 Satz 2 BGB. Danach unterliegen auch AAB der AGB-Kontrolle, wobei „die im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten angemessen zu berücksichtigen" sind, s. dazu statt vieler Singer, RdA 2 0 0 3 , 194, I 9 7 f f . 1 6 7 Für Normtheorie etwa Säcker, Gruppenautonomie, S . 4 9 7 ; dagegen die h . M . , vgl. nur BAGE (GS) 5 3 , 4 1 . 1 6 8 Ausführlich oben, B.II. (S. 120). 1 6 9 BAGE (GS) 5 3 , 4 1 .

C. Private Regelsetzung

im

Arbeitsrecht

139

abstellt. 1 /() D a n a c h darf die B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g d u r c h AAB o d e r G e s a m t z u s a g e v e r s p r o c h e n e Sozialleistungen zu Lasten einzelner A r b e i t n e h m e r reduzieren, solange diese in ihrer H ö h e insgesamt, also auf die G e s a m t b e l e g s c h a f t bezogen, erhalten bleiben. Dieses Vorgehen h a t d e m BAG in der Literatur viel Schelte eingetragen, die in d e m V o r w u r f gipfelt, die vom G r o ß e n Senat p r a k t i z i e r t e Version des Günstigkeitsprinzips sei „frei e r f u n d e n " . 1 7 1 D a g e g e n m u s s m a n f r a g e n , o b u n d w a r u m d a s G ü n s t i g k e i t s p r i n z i p im Verhältnis A r b e i t s v e r t r a g - B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g überh a u p t gilt. D a s Gesetz lässt die Frage - im Unterschied z u m T a r i f r e c h t ( § 4 Abs. 3 T V G ) - a u s d r ü c k l i c h o f f e n . Sie f ü h r t z u r ü c k auf den Zweck der Betriebsvereinbar u n g . Sieht m a n ihn mit den o b e n dargestellten Ansichten allein im Schutz vor der „ H e r r s c h a f t " des Arbeitgebers, bestehen w e n i g Z w e i f e l , dass eine die vertragliche Position des A r b e i t n e h m e r s v e r s c h l e c h t e r n d e Regelung d u r c h Betriebsvereinbar u n g nicht getroffen w e r d e n k a n n . Wie bereits gesagt, gibt der S c h u t z g e d a n k e den Z w e c k d e r Betriebsvereinbarung allerdings n u r u n z u r e i c h e n d wieder. Es gibt Bereiche, in d e n e n individuell belastende B e t r i e b s v e r e i n b a r u n g e n möglich sind, o h n e dass sich d e r w i d e r s t r e b e n d e A r b e i t n e h m e r d e m via G ü n s t i g k e i t s p r i n z i p entziehen k ö n n t e . In der Literatur beschreibt m a n sie h e r k ö m m l i c h mit der „ O r d n u n g s f u n k t i o n " der Betriebsvereinbarung u n d b r i n g t d a m i t t r e f f e n d z u m A u s d r u c k , dass S c h u t z g e d a n k e und G ü n s t i g k e i t s p r i n z i p jedenfalls nicht ausreichen, u m den Sinngehalt d e r betrieblichen N o r m s e t z u n g e r s c h ö p f e n d zu b e s c h r e i b e n . ' 7 2 In der Sache sprechen sie den w e i t e r f ü h r e n d e n , w e n n auch heute w e i t g e h e n d v e r d r ä n g t e n Ged a n k e n a n , dass die einheitliche G e l t u n g einer zivilen Regel u n t e r U m s t ä n d e n d u r c h d a s Wohl eines Kollektivs gerechtfertigt sein k a n n . An diesen G e d a n k e n , der in den „ N o r m t h e o r i e n " seinen - w e n n a u c h n u r u n g e n ü g e n d e n - A u s d r u c k gef u n d e n h a t , wird a n z u k n ü p f e n sein, w e n n die Frage der Legitimation privater Regeln a u s f ü h r l i c h e r b e h a n d e l t w i r d .

2.

Direktionsrecht

D a s sog. Direktions- o d e r Weisungsrecht e r l a u b t d e m Arbeitgeber, vertraglich nicht a u s d r ü c k l i c h festgelegte U m s t ä n d e der Arbeitsleistung zu k o n k r e t i s i e r e n . D a z u g e h ö r t neben Einzelweisungen a u c h die Aufstellung allgemeiner Regeln, namentlich solcher, die die O r d n u n g des Betriebes b e t r e f f e n , e t w a über P a r k p l a t z b e n u t z u n g , Kleiderablage o d e r Betriebszugang. 1 7 3 Auch der Erlass allgemeiner Verhaltensrichtlinien, z.B. in Gestalt eines „ E t h i k k o d e x " , ist m ö g l i c h . 1 7 4 So w e n i g n u n bestritten w i r d , dass d e m Arbeitgeber eine d e r a r t i g e K o m p e t e n z zusteht, so r o 11

BAGE, ebenda. Z o l l n e r / L o r i t z , Arbeitsrecht, § 6a II.2.b m . w . N . aus dem überwiegend kritischen Schrift-

tum. r 2

r4

Eingehend dazu unten, § 6 B . I U . e . (S.215ff.). Siehe nur Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 6 1 8 (S.74). Eingehend Schuster/Darsow, NZA 2005, 273ff.

140

§5 Besondere

Theorien privater

Regelsetzung

u n k l a r sind deren G e l t u n g s g r u n d und G r e n z e n g e b l i e b e n . Ü b e r w i e g e n d stützt m a n sich a u f eine (stillschweigende) r e c h t s g e s c h ä f t l i c h e U n t e r w e r f u n g der A r b e i t nehmer, die d e m A r b e i t g e b e r e n t s p r e c h e n d § 3 1 5

B G B ein einseitiges

Bestim-

m u n g s r e c h t e i n r ä u m t . 1 7 6 A n d e r e b e m ü h e n eine e h e r o b j e k t i v e B e g r ü n d u n g , i n d e m sie das D i r e k t i o n s r e c h t als d e m A r b e i t s v e r h ä l t n i s „ n a c h T r e u und G l a u b e n i m m a n e n t " a n s e h e n . 1 7 7 D e r G e s e t z g e b e r h a t den Streit d u r c h eine Positivierung der g ä n gigen B e s c h r e i b u n g e n des D i r e k t i o n s r e c h t s (§ 1 0 6 G e w O ) a b g e s c h n i t t e n , o h n e die d o g m a t i s c h e n G r u n d l a g e n zu k l ä r e n . P r a k t i s c h ist der Streit k a u m relevant. M ö g l i c h sind in jedem Falle W e i s u n g e n , deren Z u l ä s s i g k e i t d e m einzelnen A r b e i t n e h m e r o h n e weiteres einsichtig ist, e t w a die A n o r d n u n g , erst diesen und d a n n jenen L K W a u s z u l a d e n . Für die A u f s t e l l u n g einer B e t r i e b s o r d n u n g o d e r von V e r h a l t e n s r i c h t l i n i e n b e d a r f es dagegen n a c h § 8 7 A b s . 1 Nr. 1 B e t r V G der M i t b e s t i m m u n g d u r c h den B e t r i e b s r a t . 1 7 8 D e m Z u g r i f f d u r c h W e i s u n g s r e c h t e n t z o g e n sind schließlich M a ß n a h m e n , die den G e h a l t des individuellen A r b e i t s v e r t r a g s selbst b e r ü h r e n (Bsp.: L o h n k ü r z u n g ) , weil d a f ü r n a c h d e m V e r t r a g s p r i n z i p ( § 3 1 1 A b s . 1 B G B ) g r u n d s ä t z l i c h die Z u s t i m m u n g des V e r t r a g s p a r t n e r s ( A r b e i t n e h m e r ) e r f o r d e r l i c h ist. Im F>gebnis besteht a l s o eine S t u f e n f o l g e , die d a n a c h differenziert, w e l c h e B e d e u t u n g die jeweilige M a ß n a h m e für den d a v o n b e t r o f f e n e n A r b e i t n e h m e r h a t . U n k l a r ist im Einzelfall, w a n n die v e r t r a g l i c h e E b e n e betreten w i r d . Sie ist n i c h t unter ( s p e k u l a t i v e m ) Blick a u f den ( h y p o t h e t i s c h e n ) Parteiwillen zu k l ä r e n , s o n d e r n muss a u c h fragen, w a n n eine bet r i e b s e i n h e i t l i c h e R e g e l u n g so w e r t v o l l e r s c h e i n t , dass sie zur N o t auch o h n e Verh a n d l u n g mit einzelnen A r b e i t n e h m e r n , a b e r unter Beteiligung des B e t r i e b s r a t s , d u r c h g e s e t z t w e r d e n soll. D a s weist uns z u r ü c k a u f den Z w e c k der Betriebsvereinb a r u n g , deren a b s c h l i e ß e n d e E i n o r d n u n g n o c h a u s s t e h t . 1

3. Gesamtzusage

und betriebliche

y

Übung

Als I n s t r u m e n t e einseitiger R e g e l s e t z u n g k ö n n e n schließlich die sog. G e s a m t z u s a ge und die b e t r i e b l i c h e Ü b u n g v e r s t a n d e n w e r d e n , mit denen e t w a b e t r i e b l i c h e G r a t i f i k a t i o n e n e t a b l i e r t w e r d e n . Beide h a b e n sich a u ß e r h a l b des Gesetzes e n t w i c k e l t und z ä h l e n heute zu den a n e r k a n n t e n R e c h t s i n s t i t u t e n des A r b e i t s r e c h t s . 1 8 0 Überblick bei Hromadka, D B 1995, 2 6 0 1 ff. Vgl. B A G E 4 7 , 3 6 3 ; Bötticher, Unterwerfung. S. 6; Adomeit, Rechtsquellen, S. 102; Söllner, Leistungsbestimmung, S . 2 6 f f . 177 Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 6 I 8 (S.74); ähnlich Birk, I.eitungsmacht, S . 6 0 f . ; Veit, Betriebsrat, S. 178 f. 1 7 8 Für konzernweiten Verhaltenskodex LAG Düsseldorf ZIP 2 0 0 6 , 4 3 6 (Wal-Mart). 1 7 9 Dazu unten, § 6 B.II.3.e.( 1), S . 2 1 4 f f . 1 8 0 Statt vieler Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, S . 7 1 . Gesamtzusage und betriebliche Übung entfalteten ihre besondere Problematik insbesondere im Zusammenhang mit Ruhegeldzusagen. Diese haben 1 9 7 4 eine Regelung im Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersvorsorge (BetrAVG) erfahren, welches die Unverfallbarkeit daraus erworbener Anwartschaften anordnet. Da die Gewährung allgemeiner Gratifikationen in der Regel mitbestimmungsbedürftig ist, wird statt einseitiger Zusagen heute oft die Form der Betriebsvereinbarung gewählt. 175

C. Private

Rcgelsetzung

im

Arbeitsrecht

141

Fraglich ist geblieben, wie die Bindung des Arbeitgebers (und seine spätere Lösung) dogmatisch begründet werden k a n n . Weniger Probleme bereitet dabei die Gesamtzusage. A n e r k e n n t m a n die verpflichtende Kraft des einseitigen Versprechens, findet sie in der Rechtsgeschäftslehre ihren Platz. 1 8 1 Schwieriger ist die Eino r d n u n g der betrieblichen Ü b u n g . W ä h r e n d die h . M . sie als k o n k l u d e n t e n Vertrag o d e r als Vertrauenstatbestand mit rechtsgeschäftlicher W i r k u n g versteht, wird wegen der generellen W i r k u n g und der einseitigen Setzung auch (wieder) eine D e u t u n g als Akt betrieblicher N o r m s e t z u n g vertreten. 1 8 2 Darin spiegelt sich das U n b e h a g e n , das in den verschiedenen „ N o r m t h e o r i e n " des Verbands- und AGBRechts, a b e r eben auch im Arbeitsrecht seinen Ausdruck g e f u n d e n hat. Dagegen muss auch hier betont w e r d e n , dass es nicht auf die begriffliche Einkleidung, sondern auf die Sachfragen a n k o m m t . Wie k a n n die Bindung des Arbeitgebers an die eigene Praxis gerechtfertigt werden? Die Rechtsgeschäftslehre hält hier gegenüber der N o r m s i c h t den Vorzug bereit, dass sie den erforderlichen Rechtsbindungswillen und damit das Erfordernis der Freiwilligkeit der Bindung nicht u n b e d a c h t preisgibt. Umgekehrt erweist sich die N o r m s i c h t als förderlich, wenn es d a r u m geht, wie die Übung wieder beseitigt werden k a n n . 1 8 ' Die Pauschalität der N o r m s e t z u n g , die sich im AGB-Recht zum Nachteil des Regelsetzers auswirkt, muss hier zu seinen G u n s t e n w i r k e n , denn auf den Fortbestand einseitig gew ä h r t e r Kollektivgaben kann man nicht unbegrenzt vertrauen. Eine R ü c k n a h m e der Ü b u n g darf daher nicht an die strengen Voraussetzungen von Vertragsänder u n g oder Ä n d e r u n g s k ü n d i g u n g g e k n ü p f t sein, o h n e dass auf Vertrauensschutz gänzlich zu verzichten w ä r e . Diesen Erwägungen lässt sich auch im R a h m e n der Rechtsgeschäftslehre R e c h n u n g tragen. 1 8 4

4. Selbstbindung

und

Gleichbehandlungsgrundsatz

W ä h r e n d die h . M . dem P h ä n o m e n einseitiger Z u s a g e n des Arbeitgebers mit rechtsgeschäftlichen Mitteln b e i z u k o m m e n sucht, brachte Bötticher einen G e d a n ken ins Spiel, der unter dem Gesichtspunkt privater Regelsetzung besonderes Interesse verdient. Bötticher meinte, dass der Arbeitgeber, der eine Regel aufstelle, sich d a m i t zugleich selbst an deren Einhaltung binde („Bindung an die selbstgesetzte N o r m " ) . 1 8 5 D a m i t glaubte er insbesondere G l e i c h b e h a n d l u n g s p r o b l e m e lösen zu k ö n n e n , o h n e dazu auf den d a m a l s noch nicht allgemein a n e r k a n n t e n Gleichbeh a n d l u n g s g r u n d s a t z zurückgreifen zu müssen. Stellt der Arbeitgeber, um ein zeitgemäßes Beispiel zu bilden, die Regel auf, dass die private I n t e r n e t - N u t z u n g am Arbeitsplatz gestattet ist, so kann er - Bötticher folgend - nicht einem bestimmten

181 182 I8! 184 ,8i

A u s f ü h r l i c h u n t e n , § 8 B.III.6. ( S . 2 9 6 f . ) . Z u l e t z t Bepler, R d A 2 0 0 4 , 2 2 6 , 2 3 6 f . ; Thüsing, N Z A 2005, 718, 721. Thüsing, ebenda. S.u., § 7 B.III.3. ( S . 2 5 5 ) . Bötticher, R d A 1 9 5 3 , 1 6 1 , 1 6 2 f . ; dersRdA 1957, 317, 319.

142

§ 5 Besondere

Theorien privater

Regelsetzling

A r b e i t n e h m e r die private I n t e r n e t n u t z u n g v e r b i e t e n , weil er d a m i t gegen

die

selbstgesetzte N o r m verstieße. D e r G e d a n k e der „ s e l b s t g e s e t z t e n N o r m " , der bisweilen a u c h heute n o c h A n k l a n g f i n d e t , 1 8 6 ist v e r b l ü f f e n d e i n f a c h , a b e r er e n t p u p p t sich bei n ä h e r e m Z u s e hen als S c h e i n l ö s u n g , weil er die e n t s c h e i d e n d e F r a g e , warum

der N o r m s e t z e r an

seine eigene R e g e l g e b u n d e n sein soll, n i c h t b e a n t w o r t e t . 1 8 . W i l l m a n sich n i c h t mit der p h ä n o m e n o l o g i s c h e n B e g r ü n d u n g , die S e l b s t b i n d u n g ergebe sich s c h o n aus d e m W e s e n der N o r m , 1 8 8 b e g n ü g e n , 1 8 9 ist n a c h m a t e r i e l l e n Kriterien zu suc h e n , die eine derartige B i n d u n g t r a g e n . D a b e i sind die Prinzipien des g e l t e n d e n P r i v a t r e c h t s m a ß g e b l i c h . N a c h diesen tritt eine S e l b s t b i n d u n g g r u n d s ä t z l i c h n u r d a n n ein, w e n n der B e t r e f f e n d e sich e n t s p r e c h e n d v e r t r a g l i c h verpflichtet h a t . D a s setzt z u m einen R e c h t s b i n d u n g s w i l l e n v o r a u s , z u m a n d e r e n die A n n a h m e des Verp f l i c h t u n g s a n g e b o t s d u r c h den O b l a t e n . O b d a r a u f in Fällen einseitiger B e g ü n s t i g u n g verzichtet w e r d e n k a n n , ist eine F r a g e , die sich n u r d a n n ü b e r z e u g e n d b e a n t w o r t e n lässt, w e n n m a n die G r ü n d e für das V e r t r a g s p r i n z i p sorgfältig a n a l y s i e r t h a t . 1 9 0 D e n k b a r ist es, die u n g e w o l l t e S e l b s t b i n d u n g aus V e r t r a u e n s g e s i c h t s p u n k ten a b z u l e i t e n , d o c h w e r d e n d a m i t die G r e n z e n des positiven R e c h t s b e r ü h r t , das eine a l l g e m e i n e V e r t r a u e n s h a f t u n g n i c h t k e n n t . 1 9 1 P a u s c h a l lässt sich die „ S e l b s t b i n d u n g " des N o r m s e t z e r s a l s o n i c h t b e g r ü n d e n . E t w a s a n d e r e s e r g i b t sich n i c h t d a r a u s , dass die N o r m a u f s t e l l u n g ü b e r einen b l o ß e n I n d i v i d u a l a k t h i n a u s g e h t . Z w a r m a g es sein, dass die Aufstellung einer N o r m d e s h a l b e h e r zu einer S e l b s t b i n d u n g führt, weil sie beim P u b l i k u m leichter den E i n d r u c k der V e r l ä s s l i c h k e i t h i n t e r l ä s s t als eine b l o ß individuelle Z u s a g e . W e r beispielsweise e i n e m a n d e r e n v e r s p r i c h t , ihn zu e i n e m b e s t i m m t e n Z e i t p u n k t mit dem A u t o a b z u h o l e n , wird sich bei N i c h t e i n h a l t e n der Z u s a g e u . U . eher d a r a u f berufen k ö n n e n , das V e r s p r e c h e n sei u n v e r b i n d l i c h g e m e i n t g e w e s e n , als d e r j e n i ge, der eine Buslinie b e t r e i b t und d u r c h A u s h a n g b e s t i m m t e A b f a h r t z e i t e n

be-

k a n n t g i b t . ' 9 2 G l e i c h w o h l reicht es a u c h in diesem Falle n i c h t aus, den L i n i e n b e -

Vgl. Canaris, Privatrecht, S . 3 8 ; Zöllner/1.aritz, Arbeitsrecht, § 17 III 2 ( S . 2 1 8 ) ; beiläufig auch BAGE 5 5 , 2 6 2 („Selbstbindung" des Arbeitgebers bezüglich beabsichtigten Personalabbaus); B G H Z 159, 30, 4 7 : „Selbstbindung" des Vorstands durch Befragung der Hauptversammlung; s. aus soziologischer Sicht schon Selznick, Law, Society, and Industrial Justice, S . 8 4 : „The formal rule is a kind of commitment [...]. By incorporating objective Standards in rules, the rulemakers bind their own hands". Zum Versuch, diesen Gedanken dogmatisch fruchtbar zu machen („Selbstbindung ohne Vertrag"), s.u., § 7 B.II.I.e. ( S . 2 4 6 ) . Säcker, Gruppenautonomie, S . 4 6 7 (mit Fußnote 26). In diesem Sinne Bötticber, RdA 1 9 5 3 , 161. l s 9 Als „phänomenologisch" bezeichneten sich solche Lehren, die die Eigenschaft von Rechtsinstituten aus deren „Wesen" ableiten wollten. Danach sollen Vertrag und Versprechen ihre Bindungswirkung aus sich selbst heraus entfalten, so insbes. Reinach, Die apriorischen Grundlagen, des bürgerlichen Rechts, S . 7 1 6 , 7 4 1 ; dazu Larenz, Richtiges Recht, S. 6 1 ff.; Larenz/Wolf, BGB AT, § 2 R n . 3 0 Fußn. 17; eingehend Grossmann, Vertrag und Versprechen, S . 3 7 f f . 187

188

1,0 191 192

Ausführlich unten, § 8 B.III.5. (S. 2 9 1 ff.). Näher dazu unten, § 7 B.II. ( S . 2 4 3 f f . ) . Beispiel nach L. Raiser, AGB, S. 115.

D. Private

Regelsetzung

im

Kartellrecht

143

treiber an der „selbstgesetzten N o r m " festzuhalten, solange der Grund für dieses Festhalten nicht benannt wird. Die Pflicht zur Gleichbehandlung, um deren Begründung es Bötticher ging, lässt sich also solange nicht aus der „selbstgesetzten N o r m " ableiten, solange

deren

Verbindlichkeit nicht nachgewiesen ist. Für das Arbeitsrecht bedarf es dieses Nachweises nicht mehr, weil der Gleichbehandlungsgrundsatz heute gewohnheitsrechtlich anerkannt ist. 1 9 ' Der Anspruch des Übergangenen folgt dann aber nicht aus der „selbstgesetzten N o r m " , sondern aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz selbst. 1 9 4 In denjenigen Gebieten des Privatrechts, in denen sich eine Gleichbehandlungspflicht nachweisen lässt, mag also mit deren Hilfe eine Normbindung begründet werden. Damit verlagert sich das Problem der Bindung an die selbstgesetzte Norm aber lediglich auf eine andere Ebene, denn nunmehr geht es darum, den Grund und die Grenzen der Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes im Privatrecht aufzuzeigen. 19i Dieser Aufgabe, die über das Anliegen der vorliegenden Arbeit hinaus weist, muss sich stellen, wer jenseits von Vertrag und Vertrauenshaftung eine Bindung des privaten Aufstellers an seine eigenen Normen behauptet.

D. Private Regelsetzung

im

Kartellrecht

Wie das AGB-Recht zielt das Kartellrecht seinem Ursprung nach weniger auf die Ermöglichung als auf die Begrenzung privater Regelsetzungsmacht. Das ist berechtigt, denn die „Privatgesetzbücher" der internationalen Verbände greifen in oftmals brutaler Weise in die Rechtspositionen betroffener Individuen ein. 1 9 6 So gesehen kann das Kartellverbot als Regelsetzungsverbot begriffen werden (unten I.). Dieses Verbot ist ambivalent, weil Selbstregulierung zwar die Gefahr der Freiheitsbeschränkung in sich birgt, andererseits aber das Funktionieren freier Märkte auch erst gewährleisten kann. Das Kartellrecht trägt dem durch Freistellungen Rechnung, die allerdings präzisierungsbedürftig sind (unten II.).

1 9 ! Zu den verschiedenen Begründungssträngen Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, S. 4 2 0 ff. 194 Richtig Wolf, J Z 1 9 7 3 , 2 2 9 , 2 3 0 . 191 Treffend bereits G. Hueck, Gleichbehandlung, S. 125: „Eine Bindung des Arbeitgebers |scil.: an die selbstgesetzte Norm] kann aber nur daraus hergeleitet werden, daß für ihn ein besonderes Gleichbehandlungsgebot gilt, dessen Existenz also von der Normvollzugstheorie vorausgesetzt, nicht aber durch sie bewiesen oder ersetzt w i r d " . 1 9 6 Eindrucksvolle Schilderung solcher „privaten O r d n u n g e n " bei Kronstein, Das Recht der internationalen Kartelle ( 1 9 6 7 ) ; s. auch den Sachverhalt in E u G H Slg. 9 5 , 1-4921 = N J W 1 9 9 6 , 5 0 5 , 5 0 6 (Bosman): Existenzbedrohender Boykott eines Profi-Fußballers, der sich gegen (rechtswidrige) „Ablösesummen" der Sportverbände zur Wehr setzte.

144

§5

Besondere

Theorien

privater

Regelsetzitng

I. D a s K a r t e l l v e r b o t als V e r b o t p r i v a t e r R e g e l s e t z u n g M ä r k t e b e d ü r f e n einer geregelten O r d n u n g . Diese Einsicht ist ebenso u n b e s t r i t t e n wie der U m s t a n d , dass die O r d n u n g des M a r k t g e s c h e h e n s durch die M a r k t t e i l n e h m e r selbst ein p r o b l e m a t i s c h e s , weil tendenziell w e t t b e w e r b s h e m m e n d e s U n t e r f a n g e n ist. D a s (westliche) Recht beherzigt diese Einsicht, indem es w e t t b e w e r b s b e s c h r ä n k e n d e A b r e d e n g r u n d s ä t z l i c h u n t e r s a g t . 1 9 7 Unter den vielfältigen M u s t e r n der W e t t b e w e r b s b e s c h r ä n k u n g , die gleichwohl praktiziert w e r d e n , spielt die Aufstellung g e m e i n s a m e r N o r m e n eine wichtige Rolle.

1. Die „Rechtsnatur"

des

Kartellvertrages

Die u r s p r ü n g l i c h e Fassung des (deutschen) K a r t e l l t a t b e s t a n d e s w a r d u r c h ein zivilistisches D e n k e n g e p r ä g t , d a s bis 1 9 9 9 im M e r k m a l „Verträge ... zu einem gem e i n s a m e n Z w e c k " (§ 1 G W B a.F.) seinen A u s d r u c k f a n d . 1 9 8 Zivilistisch orientiert w a r a u c h der Versuch, die „ R e c h t s n a t u r " des Kartellvertrages mit der a u s d e m A r b e i t s r e c h t e n t l e h n t e n Figur des N o r m e n v e r t r a g e s zu erfassen. 1 9 9 Z w a r entfalte, so w u r d e a r g u m e n t i e r t , die K a r t e l l a b r e d e unter K o n k u r r e n t e n o d e r M a r k t gegnern nicht die n o r m a t i v e W i r k u n g , wie sie T a r i f v e r t r ä g e n eigne. D o c h w i r k e die A b s p r a c h e faktisch wie eine N o r m , weil den D r i t t e n tatsächlich die Wahl gen o m m e n w e r d e n , zu a n d e r e n als den a b g e s p r o c h e n e n Bedingungen zu k o n t r a h i e ren. D a s K a r t e l l v e r b o t sei d a h e r nicht als Verbot v o n W e t t b e w e r b s b e s c h r ä n k u n gen zu verstehen, s o n d e r n als V e r b o t vertraglicher N o r m s e t z u n g , soweit d a d u r c h die Vertragsfreiheit D r i t t e r beschnitten w e r d e . 2 0 0 Im historischen Prozess h a t sich diese D e u t u n g nicht durchsetzen k ö n n e n . 2 0 1 F a n d die Vorstellung v o m Kartellvertrag als ( v e r b o t e n e m ) N o r m e n v e r t r a g seinerzeit n o c h eine gewisse Stütze im W o r t l a u t des d e u t s c h e n Kartellverbots, welches die b e t r e f f e n d e n „ V e r t r ä g e " f ü r „ u n w i r k s a m " e r k l ä r t e (§ 1 G W B a.F.), w u r d e ihr mit der E r w e i t e r u n g u m d a s V e r b o t a b g e s t i m m t e n Verhaltens ( § 2 5 G W B a.F.), spätestens a b e r mit der Beseitigung des T a t b e s t a n d s m e r k m a l s „ V e r t r a g " in § 1 G W B d u r c h die sechste G W B - N o v e l l e der Boden e n t z o g e n . M a ß g e b e n d ist seither nicht m e h r das Vorliegen einer rechtsgeschäftlichen A b r e d e , die f ü r „ u n w i r k s a m " e r k l ä r t w i r d , s o n d e r n allein der w e t t b e w e r b s b e s c h r ä n k e n d e C h a r a k t e r k o o r d i nierten Verhaltens, welches „ v e r b o t e n " ist. Dies e n t s p r i c h t dem europäischen Kar-

1,7

Vgl. § 1 G W B ; A r t . 81 EGV; S h e r m a n Act § 1. Z u r h i s t o r i s c h e n E n t w i c k l u n g d e s K a r t e l l v e r h o t s a u s d e m BGB (§ 138 BGB) R. Schröder, Die E n t w i c k l u n g des K a r t e l l r e c h t s u n d des k o l l e k t i v e n A r h e i t s r e c h t s d u r c h die R e c h t s p r e c h u n g d e s R e i c h s g e r i c h t s v o r 1 9 1 4 , S. 1 ff. 1,9 Lukes, K a r t e l l v e r t r a g , insbes. S. 1 2 1 ff., 1 5 0 f f . , d e r sich d a b e i an die ältere U n t e r s u c h u n g seines L e h r e r s A. H u e c k z u m N o r m e n v e r t r a g a n l e h n t e , d a z u o b e n , C.I. (S. 124). 200 Lukes, K a r t e l l v e r t r a g , S. 2 5 3 f f . , S . 2 9 6 ; ä h n l i c h Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, D a s Recht der internationalen KarS. 1 0 6 f f . , 1 2 8 f f . , 1 3 9 f f . ; ders., G u t a c h t e n , S. 1 3 3 ; Kronstein, telle, S . 2 3 6 f . , 5 0 7 f . ; Martens, A c P 1 7 7 ( 1 9 7 7 ) , 1 13, 1 3 3 f . 201 A b l e h n e n d s c h o n L. Raiser, V e r t r a g s f u n k t i o n , S. 1 12f. 198

D. Private Regelsetzung

im

Kartellrecht

145

t e l l t a t b e s t a n d (Art. 8 1 A b s 1 E G V ) , d e m sich der d e u t s c h e G e s e t z g e b e r i n z w i s c h e n v o l l s t ä n d i g a n g e n ä h e r t h a t . F l a n k i e r t wird das K a r t e l l v e r b o t d u r c h das V e r b o t der m i s s b r ä u c h l i e h e n A u s n u t z u n g von M a r k t m a c h t ( § 1 9 G W B , A r t . 8 2 E G V ) , das es auch dem legalen K a r t e l l u n t e r s a g t , das U n t e r l a u f e n seiner R e g e l n durch D r i t t e mit unbilligen M i t t e l n zu v e r h i n d e r n .

2. Das

Legitimationsproblem

Ist die Vorstellung v o m K a r t e l l v e r t r a g als „ N o r m e n v e r t r a g " d a m i t a u c h o b s o l e t g e w o r d e n , so k o m m t in ihr d o c h eine B e o b a c h t u n g z u m A u s d r u c k , die w e i t e r v o n B e d e u t u n g bleibt. Es trifft zu, dass die E i g n u n g einer A b r e d e zur W e t t b e w e r b s b e s c h r ä n k u n g nicht a n g e m e s s e n b e s c h r i e b e n w e r d e n k a n n , w e n n n i c h t ihre W i r k u n g a u f das Verhältnis des K a r t e l l i e r t e n zu D r i t t e n ( W e t t b e w e r b e r , M a r k t g e g e n s e i t e , V e r b r a u c h e r ) b e r ü c k s i c h t i g t wird. I n d e m j e n e r sich selbst b i n d e t , b e r a u b t er diese m i t t e l b a r ihrer Freiheit, über den I n h a l t der ( p o t e n t i e l l e n ) V e r t r a g s b e z i e h u n g zu d i s p o n i e r e n . 2 0 2 W a s für den K a r t e l l i e r t e n o b l i g a t o r i s c h e Pflicht, wird für den D r i t ten zur - wenn auch b l o ß sozial ( f a k t i s c h ) w i r k e n d e n - N o r m . Z u r N o r m s e t z u n g g e g e n ü b e r Dritten a b e r fehlt K a r t e l l e n und m a r k t m ä c h t i g e n U n t e r n e h m e n die Leg i t i m a t i o n . 2 ' " W e d e r sind sie von jenen dazu e r m ä c h t i g t , n o c h k ö n n e n sie sich a u f eine s t a a t l i c h e D e l e g a t i o n stützen. D a m i t e r h ä l t das K a r t e l l v e r b o t die B e d e u t u n g eines allgemeinen Verbots

privater

Regelsetzung,

dass sich s o w o h l a u f rechtsge-

s c h ä f t l i c h begründete als a u c h a u f sonstige (soziale) N o r m e n bezieht. D i e F o l g e rung ist eindeutig: J e d e F o r m privater R e g e l s e t z u n g muss sich potentiell an diesem V e r b o t messen lassen.

II. M a r k t o r d n u n g d u r c h P r i v a t e : A u s n a h m e n v o m

Regelsetzungsverbot

D i e S t r e n g e des k a r t e l l r e c h t l i c h e n R e g e l s e t z u n g s v e r b o t s d a r f n i c h t d a r ü b e r hinw e g t ä u s c h e n , dass es in seiner g a n z e n R i g i d i t ä t nur die sog. h a r d - c o r e K a r t e l l e , nam e n t l i c h G e b i e t s - und P r e i s a b s p r a c h e n trifft, die im R a h m e n dieser A r b e i t n i c h t v o n B e l a n g s i n d . 2 0 4 I m Ü b r i g e n wird es von z a h l r e i c h e n , g e s c h r i e b e n e n wie unges c h r i e b e n e n A u s n a h m e n d u r c h b r o c h e n , die i n s g e s a m t der E i n s i c h t R e c h n u n g tra-

2 0 2 Diesen Zusammenhang zwischen Wettbewerbsbeschränkungen und dem Verlust der Vertragsfreiheit Dritter betont zu haben ist vor allem das Verdienst der ordoliberalen Schule, vgl. J Z 1964, Eucken, Wirtschaftspolitik, S. 2 7 5 f f . ; Böhm, O R D O 1950, S . X V , Lf. ; Mestmäckcr, 441, 443.

Biedenkopf, Wettbewerbsbeschränkung, S. 118f-; ders., Tarifautonomie, S . 5 3 . Vgl. zur Unterscheidung zwischen „hard-core-Kartellen", die stets verfolgt werden, und sonstigen Wettbewerbsbeschränkungen, die nur bei Überschreiten bestimmter Schwellenwerte aufgegriffen werden, Zif. 11 der „Bekanntmachung der Kommission über Vereinbarungen von geringer Bedeutung, die den Wettbewerb gemäß Artikel 81 Absatz 1 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nicht spürbar beschränken (de minimis)", ABl. C 368/13 v. 2 2 . 1 2 . 2 0 0 1 ; ferner Zif. 18 der „Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit", ABl. C 3/2 v. 6 . 1 . 2 0 0 1 . 2Hi

21,4

146

§ 5 Besondere

Theorien

privater

Regelsetzung

gen, dass Selbstregulierung ein ö k o n o m i s c h a m b i v a l e n t e s P h ä n o m e n ist. 2 0 5 Die M ö g l i c h k e i t e n privater Regelsetzung w e r d e n d a m i t in geringerem M a ß e v o m k a r tellrechtlichen R e g e l s e t z u n g s v e r b o t b e t r o f f e n , als eine isolierte Lektüre von § 1 G W B , Art. 81 Abs. 1 E G V g l a u b e n ließe.

1. a.

Tatbestandsausnahmen Verbraucherregeln

Kartell- u n d M i s s b r a u c h s v e r b o t richten sich n u r an „ U n t e r n e h m e n " . Regeln, mit d e n e n private V e r b r a u c h e r ihr Verhalten k o o r d i n i e r e n , fallen d a m i t von v o r n h e rein nicht u n t e r d a s V e r b o t w e t t b e w e r b s w i d r i g e n Verhaltens. 2 0 6 Gerechtfertigt w i r d d a s mit d e m Sinn u n d Z w e c k des Kartellrechts, welcher (auch) darin bestehe, die bestmögliche V e r b r a u c h e r v e r s o r g u n g sicherzustellen. Versuchen, dies d u r c h eigene A k t i o n zu erreichen, d ü r f e d a s Gesetz d a h e r nicht im Wege s t e h e n . 2 0 7 Die R a t i o trifft d o r t nicht, w o V e r b r a u c h e r d u r c h private Regeln Freiheiten a n d e r e r V e r b r a u c h e r beschneiden. Diesen Sachverhalten k a n n n u r in Extremfällen im R a h m e n des § 138 BGB begegnet w e r d e n . 2 0 8 H i e r a n zeigt sich, dass das Kartellverb o t , v e r s t a n d e n als R e g e l s e t z u n g s v e r b o t , zu eng ist, weil es das rechtspolitische Bed ü r f n i s nicht stillt, private Regelsetzung a u c h d o r t zu z ä h m e n , w o wirtschaftlicher W e t t b e w e r b nicht b e r ü h r t w i r d . Eine K o n t r o l l e p r i v a t e r Regelwerke m u s s d a h e r uU (auch) ü b e r a n d e r e M e c h a n i s m e n gewährleistet w e r d e n . 2 0 9

b. Hoheitliche

Regeln

Auch H o h e i t s t r ä g e r stellen als solche keine „ U n t e r n e h m e n " iSv § 1 G W B , Art. 81 Abs. 1 E G V d a r u n d unterliegen d a m i t ebenfalls nicht dem K a r t e l l v e r b o t . 2 1 0 Wettbewerbspolitisch versteht sich das nicht von selbst, d e n n B e s c h r ä n k u n g e n der H a n d l u n g s f r e i h e i t Dritter d u r c h hoheitliche Regelwerke, e t w a Satzungen ö f f e n t lich-rechtlicher S e l b s t v e r w a l t u n g s k ö r p e r s c h a f t e n , sind d u r c h a u s d e n k b a r . Erk a n n t w u r d e d a s s c h o n im F a c h a r z t b e s c h l u s s des BVerfG, welcher der Satzungsg e w a l t der S e l b s t v e r w a l t u n g s k ö r p e r s c h a f t e n (auch) aus diesem G r u n d e enge G r e n z e n z o g . 2 " Aus n ä m l i c h e n G r ü n d e n s t u f t der E u G H quasi-staatliche Standes-

201 O b e n , § 3 A.I.3. (S.54). Anders folgerichtig die streng ordoliberale Sicht, für die die Ausnahmetatbestände der §§ 2ff. G W B a.F. d u r c h w e g wettbewerbspolitische Sündenfälle darstellten, vgl. Emmerich, Kartellrecht (7. Aufl.) S.81 f.; moderater Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, Rn.248ff. 206 Statt aller I m m e n g a / M e s t m ä c k e r / Z / w m f r , GWB, §1 R n . 2 6 ; Whish, Competition Law, S. 82. 207 I m m e n g a / M e s t m ä c k e r / Z i m m e r , GWB, § 1 R n . 2 6 . 208 Z u r Sittenwidrigkeit einer Selbstbindung wegen Freiheitsbeschränkungen Dritter s. nur Palandt/Heinrichs, BGB, § 138 R n . ö l f f . 209 Dazu unten, § 1 1 B.III. (S.387ff.). 210 I m m e n g a / M e s t m ä c k e r / Z / m m g r , GWB, § 1 R n . 2 8 . 211 BVerfGE 33, 125; dazu oben, § 3 B.I.l.b. (S.60).

D. Private Regelsetzung

im

Kartellrecbt

147

Organisationen ( A n w a l t s k a m m e r n ) als U n t e r n e h m e n iSv Art. 81 Abs. 1 EGV ein u n d n i m m t sie damit nicht von vornherein aus d e m Kartellverbot heraus. 2 1 2 Die Unterscheidung zwischen potentiell kartellrechtswidrigen Standesregeln öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltungsorganisationen und kartellrechtsfreien Regeln des Staates erklärt sich d a d u r c h , dass der staatliche Gesetzgeber der Idee nach stets das Allgemeinwohl im Blick hat, seine Regeln also keine unzulässige Drittlastwirk u n g entfalten k ö n n e n . Der Gesetzesvorbehalt ü b e r n i m m t so gesehen die Funktio n , die das kartellrechtliche Regelsetzungsverbot im privaten Sektor erfüllt. 2 1 3 Er garantiert, dass nur solche Regeln Rechtsgeltung erlangen, deren D r i t t l a s t w i r k u n g d u r c h ein überwiegendes Allgemeininteresse ausgeglichen wird.

2.

Ausnahmetatbestände

Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, w a n n private Regelwerke, die dem Wortlaut nach unter das Kartellverbot fallen, von diesem befreit sind. Bis z u m Inkrafttreten der 7. GWB-Novelle waren die A u s n a h m e n vom Kartellverbot kasuistisch geprägt. Diese Regelungstechnik ist d u r c h A u f h e b u n g der einzelnen A u s n a h m e t a t bestände zugunsten einer Generalklausel ( § 2 GWB) nach europäischem Vorbild (Art. 81 Abs 3 EGV) aufgegeben w o r d e n . In der Sache hat sich freilich wenig geändert, da sich die Freistellungsvoraussetzungen in Art. 81 Abs. 3 EGV im Ergebnis weitgehend mit den speziellen gesetzlichen Regelungen in § § 2ff. G W B a.F. decken. 2 1 4 Im Folgenden sollen nur die A u s n a h m e n beleuchtet w e r d e n , die unter d e m Gesichtspunkt privater Regelsetzung besonders interessant sind. a.

Normenkartelle

Ein klassischer A u s n a h m e t a t b e s t a n d betrifft die einheitliche A n w e n d u n g technischer Standards, die in der Praxis meist durch Empfehlungen der einschlägigen N o r m u n g s v e r b ä n d e (DIN, V D E u.a.) bewirkt w i r d . 2 1 5 Ö k o n o m i s c h spricht f ü r ihre Zulässigkeit der sog. N e t z w e r k e f f e k t , 2 1 6 ferner der U m s t a n d , dass standardisierte P r o d u k t e substituierbar und d a m i t einem w i r k s a m e r e n W e t t b e w e r b ausgesetzt sind. 2 1 7 Schon nach altem Recht w a r die (unverbindliche) Aufstellung techni212 Grundsätzlich E u G H Slg. 2 0 0 2 , 1-1577 = N J W 2 0 0 3 , 877 (Wouters); eingehend dazu Whish, Competition Law, S. 120ff.; zur deutschen Rechtslage Emmerich, Kartellrecht, S. 17 m.w.N. 2 " Das gilt nicht mehr im supranationalen Kontext, in dem der Staat als Verfolger von Partikularinteressen erscheint. Die notwendige Kontrolle leisten hier nicht die Wettbewerbsregeln, sondern die europäischen Grundfreiheiten und das Welthandelsrecht. 2,4 So die Regierungsbegründung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S.26. 211 Mäscbel, Wettbewerbsbeschränkungen, R n . 2 7 8 ; Immenga/Mestmäcker/StfMier, GWB, § 2 2 R n . 9 1 m. En. 166; eingehend Marburger, Regeln der Technik, S. 2 6 8 ff. 216 Vgl. nur Whish, Competition I.aw, S. 9f.; vgl. jetzt auch § 20 Abs. 1 b E n W G , der die Energienetzbetreiber verpflichtet, „gemeinsame Vertragsstandards für den Netzzugang zu entwikk e l n " und dazu „alle Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Netzbetreibern a u s z u s c h ö p f e n " . 2I/ Vgl. Marburger, Regeln der Technik, S . 2 7 4 f .

§5 Besondere

148

Theorien privater

Regelsetzung

scher N o r m e n daher v o m K a r t e l l v e r b o t freigestellt ( § § 2 , 2 2 A b s . 3 Nr. 1 G W B a.F.), soweit die N o r m u n g nicht für andere, w e t t b e w e r b s w i d r i g e Z w e c k e ausgenutzt w u r d e . 2 1 8 D a z u waren die N o r m u n g s v e r b ä n d e gehalten, bei der R e g e l a u f stellung die potentiell von den N o r m e n betroffenen Kreise „in angemessener Weise zu beteiligen" (§ 9 Abs. 1 S. 3 G W B a.F.), w a s sie auch t a t e n . 2 1 9 Die R e c h t s l a g e nach der 7. G W B - N o v e l l e ist keine andere. N a c h den einschlägigen Leitlinien der E u r o p ä i s c h e n K o m m i s s i o n , die auch für das deutsche R e c h t maßgeblich s i n d , 2 2 0 werden Vereinbarungen über technische N o r m e n dann nicht vom K a r t e l l v e r b o t erfasst, w e n n sie für alle zugänglich und transparent sind und nicht zur E i n h a l t u n g der N o r m verpflichten, was für N o r m e n a n e r k a n n t e r O r g a nisationen, die auf nichtdiskriminierenden, offenen und transparenten Verfahren beruhen, vermutet w i r d . 2 2 1 Auch N o r m e n , die wegen ihrer wettbewerbswidrigen Auswirkungen eigentlich unter das K a r t e l l v e r b o t fallen, k ö n n e n unter den gen a n n t e n Voraussetzungen davon gem. § 2 Abs. 1 G W B , Art. 81 Abs. 3 E G V befreit s e i n . 2 2 2 D a m i t k o m m t der Freistellung technischer N o r m e n in gewissem Sinne Vorbildfunktion

zu: P r i v a t n o r m e n , die jedenfalls auch zu einer Stärkung des Wett-

b e w e r b s beitragen, und die in beteiligungsoffener Weise gesetzt werden, k ö n n e n als „ G ü t e z e i c h e n " vor dem kartellrechtlichen Regelsetzungsverbot Bestand haben. b.

Konditionenkartelle

Rechtspolitisch heikler ist die Freistellungsmöglichkeit für die Vereinbarung von Geschäftsbedingungen

( § 2 A b s . 2 G W B a.F.). Auch sie spielt in der Praxis vor al-

lem in F o r m von Verbandsempfehlungen eine R o l l e . 2 2 ' Deren Befreiung vom Kartellverbot setzte nach altem R e c h t eine Anmeldung bei der Kartellbehörde voraus, der eine Stellungnahme der betroffenen W i r t s c h a f t s - und Berufsvereinigung der M a r k t g e g e n s e i t e beizufügen w a r ( § 2 2 A b s . 4 S . 3 G W B a.F.). Die Empfehlungen mussten ausdrücklich als unverbindlich bezeichnet werden und zu ihrer Durchsetzung durfte kein D r u c k ausgeübt werden (§ 2 2 Abs. 2 N r . 2 G W B a . F . ) . 2 2 4 Schließlich waren die derart angemeldeten Empfehlungen im Bundesanzeiger b e k a n n t zu m a c h e n ( § 2 2 Abs. 5 G W B a.F.) und unterlagen einer M i s s b r a u c h s k o n t r o l l e durch Marburger, Regeln der Technik, S . 2 7 3 („Normungsmissbrauch"). Ausführlich zum Normungsverfahren des DIN oben, § 3 B.l.2.d. (S. 70f.). 2 2 0 Vgl. Regierungsbegründung 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 1 5 / 3 6 4 0 , S . 2 6 . 2 2 1 Vgl. Leitlinien ( F n . 2 0 4 ) , Rn. 163; zu den „anerkannten Organisationen" s. die Richtlinie 9 8 / 3 4 / E G v. 2 2 . 6 . 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften. 2,8

219

Vgl. Leitlinien ( F n . 2 0 4 ) , Rn. 169ff. ' Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, R n . 2 6 1 ; Immenga/Mestmacker//wme»gi7, G W B , 5 2 Rn. 10; eindrucksvolle Liste bei H. Schmidt in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGBG, Anh. § § 9 - 1 1 Rn. 1000. 222 22

2 2 4 Ein entsprechender Verweis auf § 2 2 A b s . 2 Nr.2 G W B a.F. fehlte zwar iii § 2 2 Abs.4 S . 3 G W B a.F., doch handelte es sich dabei um ein redaktionelles Versehen (Immenga/Mestmäcker/ Sauter, § 2 2 G W B Vorbemerkung).

D. Private Regelsetzung

im

Kartellrecht

149

die K a r t e l l b e h ö r d e ( § 2 2 Abs. 6 G W B a.F.). O b w o h l die Kommissionsleitlinien keine e n t s p r e c h e n d e n Regeln e n t h a l t e n , geht d e r d e u t s c h e Gesetzgeber d a v o n aus, d a s s K o n d i t i o n e n k a r t e l l e auch nach Streichung d e r zitierten Vorschriften weiterhin g r u n d s ä t z l i c h zulässig bleiben. 2 2 > Die L i t e r a t u r steht K o n d i t i o n e n e m p f e h l u n g e n dagegen tendenziell kritisch gegenüber, weil mit ihnen w e t t b e w e r b s s e n s i b l e P a r a m e t e r k o o r d i n i e r t w e r d e n . 2 2 6 D e r Kritik ist z u z u g e b e n , dass in b e s t i m m t e n (oligopolistischen) M ä r k t e n weniger der Preis als die K o n d i t i o n e n e n t s c h e i d e n d sind. Andererseits erleichtern einheitliche G e s c h ä f t s b e d i n g u n g e n den P r o d u k t v e r g l e i c h u n d f ü h r e n so zu m e h r P r e i s t r a n s p a r e n z . 2 2 7 Ein echter K o n d i t i o n e n w e t t b e w e r b d ü r f t e angesichts der a u c h f ü r den belesenen V e r b r a u c h e r in der Regel u n v e r s t ä n d l i c h e n K l a u s e l w e r k e z.B. des Finanz- u n d Versicherungsgewerbes o h n e h i n k a u m zu e r w a r t e n sein. 2 2 8 N e t z w e r k e f f e k t e m ö g e n sich auch hier einstellen, b e d e n k t m a n die P r o d u k t e i g e n s c h a f t v o n Versicherungs- u n d I n v e s t m e n t v e r t r ä g e n . 2 2 9 Eine Freistellung der K o n d i t i o n e n a b s p r a c h e n v o m K a r t e l l v e r b o t sollte d a h e r a u c h in Z u k u n f t nicht ausgeschlossen sein. A n a l o g den Leitlinien zur technischen N o r m u n g m u s s d a f ü r vorausgesetzt w e r d e n , dass die K o n d i t i o n e n in einem beteiligungsoffenen Verfahren festgelegt u n d allen Interessierten zugänglich g e m a c h t w e r d e n . Einer Missb r a u c h s k o n t r o l l e n a c h AGB- und Kartellrecht sind sie auch d a n n nicht e n t z o g e n .

c.

Umweltschutzvereinbarungen

Für U m w e l t s c h u t z a b s p r a c h e n sah das alte Kartellrecht keine a u s d r ü c k l i c h e Freistellung vor, so dass eine solche n u r im Wege der A b w ä g u n g b e g r ü n d e t o d e r nach d e r A u f f a n g r e g e l u n g des § 7 G W B a.F. erteilt w e r d e n k o n n t e . 2 ' 0 H e u t e attestieren die Leitlinien der E u r o p ä i s c h e n K o m m i s s i o n U m w e l t s c h u t z a b s p r a c h e n , die nicht als Mittel z u r Verschleierung eines (anderen) Kartells dienen, die Freistellung n a c h Art. 81 Abs 3 EGV, soweit deren w i r t s c h a f t l i c h e (!) Vorteile s c h w e r e r wiegen als ihre nachteiligen A u s w i r k u n g e n auf den W e t t b e w e r b . 2 " N u r in wenigen Fällen 225

Vgl. BT-Drucks. 15/3640, S. 26. Vgl. insbes. Möschel, Wettbewerbsbeschränkungen, R n . 2 6 2 ; Emmerich, Kartellrecht, S.62; ferner lmmenga/Mestmäcker//mm