Prinz Emil von Schoenaich-Carolath als Mensch und Dichter [Reprint 2022 ed.] 9783112639924

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Prinz Emil von Schoenaich-Carolath als Mensch und Dichter [Reprint 2022 ed.]
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Prinz Emil von Schoenaich-Larolath

Ein Verzeichnis der Schriften des Prinzen Emil von Schoenaich-Carolath

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Prinz Emil von Schoenaich-Larolath als Mensch und Dichter

Gustav Schüler

Leipzig

G. I. Göschen'sche Verlagshandlung 1909

Alle Rechte von der Verlagshandlung vorbehalten

O?n der holsteinischen Marsch, mit ihrem trüben, schwe-x) ren Bedrücktsein des Horizontes, der sich hart und starr auf die grünen Weideflächen spannt, hat Prinz Emil von Schoenaich-Carolath seine dichterischen Reifejahre

durchlebt und zu Ende geführt. Es liegt unsäglich viel von dem schwermutsatten Reiz der Deichlandschaft über der Carolathschen Kunst: eine feierlich sehnsüchtige Ruhe, ein eifervolles Treiben aller Kräfte und eine Angst und Erregtheit vor Nahem, Unentrinnbarem. Das alles sind Momente Carolathscher Kunst. Dazu aber kommt noch das Herrlichste: das Herauswachsen über die Erde, das Blühen im Äther, das Gebettetsein in Gott. Carolath ist als der letzte der Romantiker angesprochen worden, deren lange Reihe von Klopstock über Nova­ lis, Schlegel, Tieck, Brentano, Arnim, die Droste und Eichendorff bis in unsere maschinenklirrende Zeit führt.

Ein Weg, an dem die edelsten Blumen der deutschen

Lyrik blühen. Aber in die weltfernen Gärten der Ro­ mantik hat Carolath einen mächtigen Baum hinein­ getan, den alle Pilger dieser Erde kennen und lieben

nlüßten: lebenswaches und lebensheiliges Mitleid.

Er

hat in die verschwimmenden Träume jener Geister treibendes Lebensblut gegossen und die sehnsüchtig

dunkeln Gebete mit brausender Leidenschaft des Herzens erfüllt. Er hat seinen Dichtungen eine markige Erd-

ständigkeit gegeben.

Eine Realität, die immer über­

strömt ist vom unirdischen Glanze! Carolath ist von uns gegangen, als der Frühling über die Marsch brausete und die alten Weiden nieder­ bog in die grauen spülenden Wasser, die sich wie im Überdruß Herandrängien, weil für sie kein Raum war in der schießenden Wasserbreite.

Ein langes hartes

Siechtum zerbrach seine Kräfte und ließ seinen Geist immer freier, größer und stiller werden. Im noch weg­ sicheren Mannesalter ist er von uns gegangen, ein Prie­ ster der Schönheit, ein ergriffener Mensch der Erde,

ein König des Mitleids und ein glühender, überwäl­ tigter Seher, dessen Haupt hineinragt in andere Welten. Es ist klar, daß an der hochragenden Dichtergestalt

Carolaths die „literarhistorische Gerechtigkeit" noch zu erfüllen ist. Unsere Zeit ist merkwürdig still an seinen Gaben vorübergegangen. Während er seine lohenden Tempelfeuer in den Herzen der Besten entfachte, ist ihm die Gefolgschaft der Masse versagt geblieben. Sei es nun, daß inbrünstige Beter, wie er, vom Volke nicht

verstanden oder nicht geliebt wurden, sei es, daß die Höhe seines äußeren Lebens manchen zurückhielt, sei

es, weil das wache, brausende und zitternde Leben in den Liedern der besten lebenden Dichter seine aufpeit­ schenden Worte redet: Carolaths Kunst harrt noch ihrer großen Gemeinde. Über lärmende Augenblickswerte hinausgehoben,

wartet sein

Werk seiner Menschen.

Einer Zeit feierlich ergriffenen Besinnens, inständigster

Sehnsuchtsängste und heißer Gebete, wo die Seele die

Worte redet, ohne daß man es den Lippen ansieht,

daß sie beten. Dieses Buch soll nun versuchen, in schlichtester Weise von dem Menschen und Dichter Carolath zu erzählen, damit ihm mehr Liebe werde. Nicht Bewunderung. Wer den erdfremden, erhabenen Menschen gekannt hat, dem zu Häupten die beiden Sternenworte brannten „Geben und Vergeben", der weiß, daß er für sein Erdenwirken keine Bewunderung, sondern nur Liebe und stille Gefolgschaft wollte. Ich bin gewiß, daß Carolaths Zeit weit hinaus über den zufälligen Tages­

überhasteten schrillen Trommelwirbel aller Augenblickserfolge liegt. Viel von seiner ein­

lärm und die

facheren Lyrik, vielleicht zwei seiner gedanklich kühnen wundervoll leuchtenden Epen und einige seiner Ge­

schichten werden bleiben.

Es waltet Unzerstörbares in

Carolaths Kunst. Erst wenn wir Carolaths, des heißen, ferneergriffenen Wanderers Leben näher kennen, wird manches Dunkle in seiner Kunst klarer. Schlesien mit seinen alten Adels­

geschlechtern ist die Heimat des Prinzen. Er hat mit seinen poetischen Landsleuten, Mar Waldau und dem Grafen Strachwitz, manches Gemeinsame. Jedenfalls sind kühne Ritterlichkeit in Sinn und Handeln, auf­ rechter Gang im Lebensgewirr und frohe Hoffnung auf die Ziele der Menschheit das Teil dieser drei schle­

sischen Ritter vom Geiste. Carolath hatte eine herrliche Mutter und einen dichtenden Vorfahr, dessen Werke, Gedichte, Oden und Trauerspiele, voll herzlicher Einfalt

und krauser, gequälter Wunderlichkeiten waren.

Wie

Friedrich in seiner Biographie des Prinzen Carolath*)

nachweist,

krönte

der

damalige

Literaturallmächtige,

Gottsched, den Freiherrn Christoph Otto von Schoenaich

im Jahre 1752 in Leipzig zum Dichter. Der also Ge­

krönte hatte nichts Geringeres im Sinn, als mit dem Messiasdichter

Klopstock um

die

Palme zu

streiten.

Aber seine gereimten Anspruchslosigkeiten deckte rasch

der Sand des Vergessens zu.

In Breslau, wo seine

Eltern sich kurz vorher angesiedelt hatten, wurde hundert Jahre nach

jener Dichterkrönung

seines

Ahnen

am

8. April 1852 Prinz Emil von Schoenaich-Carolath ge­ boren. Der Sproß eines alten lebensrüstigen Geschlechtes war Erbe einer feinen, bewußten geistigen Kultur. Sein

Vater, Prinz Karl, besaß eine starke musikalische Be­

gabung, während seine Mutter, geborene von Oppen-

Schilden, wahrhaft glänzenden Geistes war.

Wie die

Dichter zumeist von den Müttern das Bunte, glühend

Belebte und Bewegliche haben, so ist auch wohl bei Caro­ lath die Mutter der Quell seiner phantasiemächtigen

Anschauungsgewalt,

seines

leidenschaftlichen

Suchens

und Sehnens. Auch die tiefe Fernesehnsucht, unter der Carolath sein ganzes Leben lang litt, ist wohl ein Erbteil seiner Mutter.

So sand denn der Knabe alles vor, um in ein Leben voll erlesenster Reize, Fülle und Feinheit zu treten. Und dieses Milieu, die aristokratische Höhenkultur, be*) Prinz Emil von Schoenaich-Carolath. Von Professor Dr. Her­ mann Friedrich. Berlin 1903.

stimmt sein ganzes Wesen. Aus den Kellern des Elends,

aus den schwerblütigen Niederungen der Volksseele steigen zumeist die mächtigen Menschheitsführer, die Genies mit ihren riesigen Ideen und ihren oft ungefügen künstlerischen Ausdrucksmitteln. Aber die feinen Voll­ ender einer künstlerischen Kultur, die Marmorbildner,

die die Granitquadern sinnvoll mit glanzender Täfelung

umkleiden, das sind zumeist die Sprößlinge alter Adels­ oder hochstehender Bildungsgeschlechter. Carolath ist jedoch mehr als ein glühend ergriffener Vollender, der Kuppeln vergoldet, er ist ein Baumeister, der von den Türmen aus neue wunderbar leuchtende und kühne Steinranken emportreibt. Er will mit allem, was er schafft, näher bei Gott sein. Ganz nahe. Seine gefalteten Hände liegen nahe den Einfahrtstoren der ewigen Städte. Diese seligen Schauernisse des Betens, wie auch die tiefen Herrlichkeiten des Mitleids sind Züge, die die wirklich Großen tragen.

So waren die ersten Jugendjahre Carolaths golden und lieblich. Kostbare Traumgebilde durchzogen seine Tage; die Liebe der Mutter umhegte den einzigen Sohn

mit tiefer Zärtlichkeit. Auch auf ihren Reisen, die sie

ihrer wenig festen Gesundheit halber alljährlich nach Venedig, wo sie sich dann den Winter und Frühling hindurch aufhielt, machen mußte, durfte sie der Knabe

begleiten. Der Nachklang jenes dort Erschauten blieb immer in seinen Werken und in seinem Leben. Viel­ leicht ist die eifervolle Formenstrenge in seinen Versen auf die Einwirkung der italienischen Bildwerke zurückzuführen.

So herrlich aber auch für den Knaben dies frühe Wandern in die Welt sein mochte, so nahm es ihm doch

die Wohltat eines geregelten Unterrichts. Die umher­ geworfene Unrast ließ keinen Unterricht an einer Schule zu; lückenhafte Einzelunterweisung wurde bis zum 15. Jahre betrieben. Erst dann trat Carolath in die Realschule am Zwinger zu Breslau.

Aber auch hier

war seines Bleibens nicht lange. Schon im Jahre 1868

siedelten seine Eltern nach Wiesbaden über. Aber wohl schon in Bresläu stieg dem Knaben eine dunkle Ahnung von seinem künftigen Poetenberufe auf.

Dort lebte

der alte volkstümliche Karl von Holtet den der Knabe öfter sah. Er „begegnete dem Alten, wenn dieser auf der Ziegelbastion oder der Marienaue lustwandelte. Dann blickte er voller Bewunderung auf die hohe Gestalt mit dem von weißer Haarmähne umwallten Charakterkopfe,

freute sich, den volkstümlichen Dichter begrüßen zu dürfen, und fühlte sich durch seinen Gegengruß hochbeglückt." In Wiesbaden wurde der Unterricht am dortigen Realgymnasium fortgesetzt. Mathematik und verwandte

Wissensgebiete waren dem Prinzen ein siebenmal ver­ riegeltes Tor. Er hatte, um das hierin Geforderte not­ dürftig zu leisten, mit viel Widerwärtigkeiten zu kämpfen.

Dagegen zeigte er für Sprachen und besonders für Deutsch starke Befähigung^ Sein brennendes Inter­ esse für Literatur erwachte hier vollends. Es wurde gelesen — gelesen — gelesen. Noch erhaltene Aufzeich­ nungen aus dieser Zeit geben Zeugnis von dem mäch­ tigen Eindruck, den besonders Uhland und Eichendorff

auf ihn machten. Immer und immer wieder Eichendorff, von dem bis zuletzt ein lebendigster Strom zu ihm hin­ überging. Der wunderlich süße Zauber Eichendorffscher Lyrik quoll hinein in die ersten Verse des jungen Poeten.

In sein junges Leben aber brach hier in Wiesbaden die erste Leidenschaft, die den Acker seiner Seele pflügte und für die blutroten Nelken und Nachtviolen seiner schwermütigen, leidzerquälten Verse zurechtmachte. Ein Ereignis, das tausend junge Herzen erleiden, ohne daß sie darum zerbrächen oder sonst ernstlich Schaden nähmen!

Aber in Carolath glomm der erste Liebesschmerz mit düsterem Feuer empor, um nie wieder ganz zu ver­ löschen. Er war eine jener tragischen Seelen, die sich mit leidenschaftlicher Vernichtungslust in ein Weh hin­ einbohren, ganz gleich, ob sie sich mit ihrem Tun alle Lebensquellen versanden und alle Freudenlampen aus­ löschen. Und dann glaube ich auch noch, daß Carolath ohne diese „verratene Liebe" nie der trotzig auffahrende

gedankenmächtige Dichter geworden wäre, der er be­ sonders in seinen ersten Werken ist. Ein zersplitternder, hastender Zug trat nun in sein Leben. Ein Durst nach

dem „gefährlichen" Leben, eine Gier, ein Taumel. Der einst so fröhlich Glaubende trat in ein gespanntes Ver­ hältnis zu Gott, der es zugelassen hatte, daß seine „reine

Flamme" vergiftet worden war. Schopenhauer kam in seine Hände, mit dem er nun gegen Gott zu Felde zog. Menschen- und Weltverachtung war auf die schwarze Fahne geschrieben, die er sich vorantrug. Zum Über­

fluß las er jetzt auch Voltaire, der mit seiner gleißenden

Skepsis die Seele des jungen Dichters ganz gefangen­ nahm. Das Weib war in das Leben und die Kunst

Carolaths gekommen wie ein wilder, peitschender Sturm, der mit würgender Hand in Büsche und Beete greift. Der Dämon Weib, „ein tödlich Gift", wurde ihm zur Sphinr, die ihn quälte und kaum mehr von ihm abließ. Es ist im Grunde gleichgültig, wer die unglückliche erste Liebe Carolaths gewesen ist; ihm ist dadurch die Weihe des Schmerzes geworden. Ihr weinte er nach, wie einem verlorenen Paradiese. Heimwehschmerzen, tief, unstillbar. Mit dem Ausbruch des Deutsch-französischen Krieges bezog Carolath, der zu seinem Leide nicht mittun durfte, die Hochschule zu Zürich. Wie er schon in Wiesbaden im Hause seiner Eltern, das als ein Mittelpunkt ge­ selligen und geistigen Lebens angesehen wurde, lite­

rarischen Persönlichkeiten wie Gustav Freytag und Bodenstedt begegnete, von denen ein Hauch großen Lebens zu ihm hinübergegangen war, so fand er auch in Zürich reiche Nahrung für seinen aufglühenden

poetischen Sinn. Wem es je auffiel, wie der Prinz in seinen späteren Jahren mit stolzem Haß alle Standes­ vorurteile bekriegte, wie er alles Konventionelle ver­ achtete, der möge die Wurzeln dieser Denkart in der

Züricher Zeit suchen, wo Johannes Scherr, der brau­ sende Feuerkopf, der Bürger der „roten Erde", und Gottfried Kinkel, der wundervoll sprachschöpferische Dichter und unerbittliche Republikaner, durch ihre Vor­

lesungen auf den Prinzen einwirkten. Besonders Gott­ fried Kinkel trat ihm persönlich nahe. Dessen Epos

„Otto der Schütz" übte in seiner ruhigen, großen Schön­

heit einen unverlöschlichen Zauber auf Carolath aus. An dem blühenden Sprachgeist Kinkels schulte er seine Formenstrenge, die sich nie genugtun konnte. Aber auch der Aufenthalt Carolaths in Zürich, der so verheißungsvolle Frucht trug, war nur von kurzer Dauer. Ein zweiter Sturmstoß des Schicksals prasselte in den Lebensbaum des Dichters. Seine heißgeliebte Mutter wurde ihm (1871) entrissen. Ein langes banges Siech­

tum war mit ihrem Tode zu Ende. Was er mit ihr ver­ lor, spricht er in den „Dichtungen" aus: Cs hat der Mann, sein müdes Haupt zu betten, Zwei Orte nur, die ihn vor Stürmen retten, Dahin er still nach jedem Schiffbruch kehrt: Der Mutter Herz, die beten ihn gelehrt, Das Herz der Frau, die Ml in Jugendschimmer Und Jugendliebe sein ward, sein für immer.

Kurz nach Beendigung des Krieges trat Carolath

in das Heer und wurde Offizier im Dragonerregiment zu Kolmar im Elsaß. So war er an der Westgrenze im Herzen eines eben niedergerungenen Bolksstammeö, der in Haß und Verzweiflung kochte. Er mochte glauben,

sich hier menschlich reich und segensvoll betätigen zu können und doch auch dem liebgewordenen nicht allzufern zu sein.

Zürich

Wie es aber vorauszusehen war, wurde ihm der Sol­ datenrock bald zur Last. Die dumpfe Enge des Gar­ nisonlebens, die tatenarme, bleierne Stille und dabei

das zermarternd Unstete und der brennende Fernedurst

in der Seele: alles das bestimmte ihn nach einigen Jahren, sich für längere Zeit beurlauben zu lassen. Da eben auch sein Vater gestorben war, so hatte er niemand Rechenschaft von seinem Tun zu geben. Sein romantischer Wandertrieb verschlug ihn nach Ägypten und Kleinasien, Jahr verweilte. befeuerten seine sättigten sie tief

wo er in erregtem Hin und Her ein Die phantastischen Gesichte jener Reise Phantasie zu kühnem Schwünge und mit feurigen Bildern. Die prunkenden

und überladenen Versgebilde aus jener Zeit sind Zeug­ nis des Einflusses jener Reisen.

Ein zehrendes Reisefieber war nun in der Seele des

Prinzen angefacht, das ihn nimmer zur Ruhe kommen ließ. Er kehrte nach Deutschland und zu seinem Regi­

ment zurück. Aber nur widerwillig und unter dem verlockenden Anreiz einer zaubervoll umschleierten Ferne genügte er seinen beruflichen Pflichten. Mit geschleppter Not, noch einige Jahre lang. Dann durchschnitt er kühn alle Seile, die sein glückhaft Schiff am Lande festhielten, und stach hinaus in die See, wo sich alle Winde brausend in die Segel setzten. Er entsagte endgültig der soldatischen Laufbahn. Zu meiner großen Freude kann ich über die Kolmarer Zeit des Prinzen und über seinen dortigen und

noch weiter hinaus dauernden herzlichen und künstlerisch bedeutungsvollen Verkehr mit der berühmten Dichterin Alberta von Puttkamer höchst Interessantes mit­

teilen. Ihre Erzellenz Frau Alberta von Puttkamer hatte die Güte, mir auszugsweise die Wiedergabe der ihrer

Feder entstammenden

wundervollen

Schilderung

zu

gestatten, die anläßlich des Todes des Prinzen im „Tag"

veröffentlicht wurde. Auch das prachtvolle Gedicht, das diese „Erinnerungen an Prinz Emil Carolath" einleitete,

gebe ich wieder. Der Artikel tragt die Aufschrift: „Aus der Werdezeit". „„Einst als ich kam, da standen deine Höh'n, Elsaß, im Morgenrot von Seligkeiten; In deinen starken Wäldern war Getön, Als ob viel Glocken gingen in den Weiten ...

Als ob sie alles, was Im Geiste war, zum Zu tausend Wundern Und kühn trat ich an Die Da So Ich

von Kraft und Lust Tag empor gerufen! drängte meine Brust, aller Tempel Stufen.

junge Torheit riß die Pforten auf — blendete mich aller Schönheit Glänzen — stolz, so götterleicht ward da mein Lauf: hätte mich mit Sternen mögen kränzen ...

„„Das sind Strophen aus einer Dichtung von mir,

welche ganz die Jugend- und Kraftstimmung wieder­ geben, die uns erfüllte, als wir bald nach dem Kriege ins Elsaß kamen. So wundervoll jung waren wir, so im Hochschwung aller Kräfte, daß sie fast wie über die Grenzen des eigenen Könnens hinausgehoben schienen. Damals in Kolmar. Ich weiß es noch, das seltsame

Gefühl, das mich beschlich, als ich zum erstenmal durch die hallenden Gassen schritt. Merkwürdig still war's, als schliefe die alte Zeit und wartete auf ein neues

Wecken ... Verlassenheit lag auf den Gassen. Das ist das rechte Wort. Verlassen halten ja auch viele hundert

Elsässer die Stadt. Alle, die nach der zwei Jahrhunderte wirkenden französischen Kulturherrschaft sich ihr mit Herz und Geist zu eigen fühlten. Und die anderen, die ge­

blieben waren im Heimatland, meist wohl aus mate­ riellen Gründen, die sahen die neuen Besitzer des Landes kommen mit Mißtrauen und bangem Erwarten, und duckten sich scheu und trotzig in ihren alten, grauen Häusern. Die standen in der Eigenherrlichkeit vergange­ ner Jahrhunderte. Viele, die Marke französischer Archi­

tektur tragend, vornehm zurückhaltend, „entre cour et jardin“, die meisten aber wie feste Burgen satter, reicher

Bürgerlichkeit, aus mittelalterlicher, deutscher Bau­ kunst stammend... Kolmar, die ehemalige deutsche Reichsstadt, liegt in einer üppigfrohen Landschaft, um­ hegt, wie von blühendem Wall, von den Vogesen. Aber auf der Stadt, auf der Landschaft lag damals etwas brütend Wartendes wie eine dumpfe Frage... Und dann kam jener Strom neuen Lebens, wie mit auf­

gestauter und nun losgebundener Wellenkraft; die Deutschen nahmen Besitz von dem wiedereroberten

Lande. Bald hallten die stillen Gassen vom „Schritt der Bataillone", vom fröhlichen Trab kecker Reiter­ offiziere, vom Schritt anmutiger, blonder Frauen, vom wuchtigen oder bedächtigen Gang ernster deutscher Männer, die in Staat und Stadt neue Ämter und

Würden übten und besaßen ... So bunt, so köstlich neu und jung war alles; so mit dem Einsatz hochgestimmter Kraft ward das Leben hier begonnen. Etwas vom Jubel des Eroberers, der nun auch moralisch erobern

will, war in allen Taten und in allen Reden... Da, damals war's, als ich Emil Carolath kennen lernte! ... Wir waren beide noch sehr, sehr jung, und noch ganz voll des Wunsches: Köstliches zu erleben und zu ge­ nießen. Die Blume der Stunden duftete noch so unbe­ rührt... Würden wir sie pflücken? sie zu Kränzen winden können? auch in der Kunst? Prinz Emil Caro­

lath war noch Fahnenjunker im 14. Dragonerregiment

in Kolmar (das übrigens bis heut seinen Standort nicht gewechselt hat), und mein Mann war Oberlandes­ gerichtsrat dort. „„Äußerlich war der Prinz nicht sonderlich anziehend,

wenigstens neben den ungewöhnlich ritterlichen und

schönen Gestalten der damaligen Offiziere kaum. Eine schlanke, ziemlich hohe Gestalt, die in ihren Bewegungen etwas liebenswürdig Schmiegsames hatte; ein kleiner,

runder Kopf, blonde, leichtgeringelte Haare um eine breitgewölbte Stirn. Die kurze Nase und die ein wenig

hervorstehenden Backenknochen gaben dem Gesicht eine slawische Prägung. Aber — die Augen! In denen lag

damals schon dämmernd die ganze feurige, schmerzliche lebenssehnende Lyrik seiner späteren Dichtung. Die

Augen hatten etwas so merkwürdig Erstauntes, als frügen sie weit in die Zeiten und tief in das Wesen alles Lebendigen hin ... Sie hatten auch bald erfragt,

welcher Art ich war, und ich habe dem Freund dann, durch ein ganzes Leben hin, bis zu seinem Tode, jetzt, immer gern und willig Antwort gegeben. Wir wußten

bald, daß wir auf gleichen Höhenwegen zu ähnlichen Sckülcr, Schoenaich-Carolath. 2

Zielen waren. So ist unser Zusammensein in Kalmar

(es dauerte nur zwei bis drei Jahre) für den Aufgang unseres Dichtertums bedeutsam geworden. Die Stim­ mung von Zeit und Ort war der Entfaltung auch günstig. Die Zeitstimmung! Ich sagte ja schon, daß sie einen hinreißenden Hochschwung aller Geister brachte. Und —

der Ort!?

Die Landschaft, diese wildklüftigen, etwas

unwegsamen Vogesen hatten außer ihren sinnfälligen Linien und Reizen, ihren blumenvollen Tälern und den waldwebenden Höhen noch einen feineren, heimlicheren

Reiz. Geschichte und Sage redeten stolze und träume­ rische Worte allüberall; für die, welche tiefhin zu horchen

verstehen. Und — Prinz Emil und ich, wir hatten wohl

das feinere Gehör der — Dichter. Obwohl wir damals noch kaum wußten von unserer künstlerischen Berufung, und daß lyrische Kraft in uns schlummerte. Bald frisch und fröhlich, bald schwärmerisch und schmerzlich ward die neue Welt umher mit all ihren fremden Gestaltungen,

ihren kräftigen Farben und drängenden Pulsen genossen.

Es war mehr eine Zeit des Erschließens und Genießens. Die Gewitterschauer und die Ruhe der Reife waren noch fern. Es stand noch alles (so auch die Politik und

das Leben im Elsaß) wie in einem feinen Morgenrot,

von dem man nicht wußte, ob es einen klaren oder

dunklen Tag bringen würde. „„Oft machten wir reizende Fahrten (der Prinz ritt,

und ich fuhr im Wagen) auf die alten Burgen der Vo­ gesen. Gespräche über Literatur und Kunst brachten damals schon starke und reine Anregung in unsere Be-

Ziehungen. Wir waren beide leidenschaftlich dem Genius von Byron und Müsset zugeneigt. Seltsamerweise spielten damals Goethe, der mich späterhin so führend

beeinflußte, und Gottfried Keller, dessen „grüner Hein­ rich" später eines meiner Kunstevangelien wurde, noch gar keine Rolle in meinem Geistesleben.

„„Oft geschah es damals, daß wir uns, harmlos, fast wie Schüler, die einen gleichen Aufsatz bearbeiten, ein

Thema gaben, das dann jeder auf seine besondere Weise

zu Strophen dichtete. Beim nächsten Zusammensein im Walde lasen wir einander dann die Verse... „Zi­

geuner" hieß ein Thema. Da wurde von uns beiden in glühenden Überschwenglichkeiten von Form und In­ halt, die wir vielleicht für Genie hielten, geschwelgt! Vielleicht war in dem Wuchern schon manch zartes Blühen und würziges Duften.-------- Die Blatter sind leider verloren gegangen — ich konnte sie nie mehr

finden ... Das waren brausende Jahre voll Kraft und Schaum und Duft!

„„Da starb des Prinzen Vater, und Carolath, der nun sehr jung in den Besitz eines ziemlich bedeutenden Ver­

mögens kam, nahm seinen Abschied als Offizier und ging auf Reisen. „„Das Leben trieb uns dann ganz verschiedene Pfade. In Briefen und Besuchen blieben wir uns gegenwärtig

und behielten einer auf den andern großen Einfluß. Noch einmal kam ein längeres Zusammensein. Es war 1878 am Mittelländischen Meer. Die „Lieder an eine

Verlorene" waren als erstes Buch des Prinzen er2*

schienen. Sie waren auf die „unendliche Melodie" eines Schmerzes gestimmt. Aber es war schon ein in

Kunst umgeformter Schmerz. „„Das waren wirklich unvergeßliche Tage: dies Wan­

dern in Olivenwäldern, an den Klippen von Villafranca, auf den Hellen Küstenwegen von Nizza, und hier und da in ganz verlorenen Dörfern der Alpes maritimes... „„Es gibt Stunden, für die der Raum, die Spanne Zeit, in der man sie erlebt, viel zu enge ist. Ihr Inhalt wachst weit über den Rahmen. Ihr Lichtkern strahlt weit aus ins Zukünftige. Solche Stunden haben fort­ zeugende Lebenskraft: man erlebt sie erst voll, nachdem

man sie gelebt hat.

„„Ich erinnere mich besonders eines wundersamen Märztages (es war dort unten schon sommerliches Glühen), als wir in Villafranca nach einer Wanderung Abendrast machten. Es war in einem höchst malerisch in der Bucht am Meer gelegenen kleinen Wirtshaus, wo das Nationalgericht Bouilla Baisse, eine Art Fisch­ ragout, in besonderer Güte bereitet wurde. Da waren Weltschmerz, Liebesleid, alle Sehnsüchte wie fortge­ weht aus Emil Carolaths Seele, und eine fast kindertolle Fröhlichkeit regierte die Stunde... Es mundete uns so köstlich, das Fischgericht, während die blauen Wasser der Bucht zu unseren Füßen in Sonnenringeln spielten und wir den kräftigen Landwein tranken — den roh­ gezimmerten Tisch, mit dem nicht sehr fein gesponnenen Tuch bedeckt, hatten wir mit Büscheln von Blüten be­ worfen, die wir auf der Wanderung gepflückt — und

Carolath hatte mir ein paar Zweige, zum Kranz ge­ bogen, auf das Haar gelegt... damals war er noch der feurige, glänzende Kavalier, der gern allen schönen

Hingerissenheiten seines Geistes folgte und sein Wesen noch nicht eingedämmt hatte in wohllöbliche Grenzen. Carolath gemahnte in seiner Erscheinung mit dem kos­ mopolitischen Wanderzug in seinem Wesen, in seiner vollblütigen Ritterlichkeit recht an das Bild, das ich mir

von dem herrlichen Britenlord gemacht hatte... Liebe war der Grundzug seines Schaffens und Lebens. Zu­ erst, und das tun auch seine Dichtungen dar — die leidenschaftliche Liebe zur Frau; — dann, wie sie von

drängenden Eigenwünschen mehr befreit war, die Liebe zur Schönheit im allgemeinen, zur Kunst, zur Mensch­ heit ... Und dann trat plötzlich ein Wandel in diese allumfassende Sehnsucht und Liebe. Prinz Carolath,

der Weltwanderer, ward seßhaft und — nahm ein Weib. Er ist sehr glücklich mit ihr geworden. Sie ist auch eine so sympathische, prachtvolle Natur ... Er zog die Gren­ zen für sein Wirken und sein Lieben enger. Ruhevolles Glück liebt die umhegte Stätte, wo es in heimlicher Geborgenheit holde Entfaltung sucht. Herrlich ist in

dieser letzten Liebesphase von Carolaths Leben der Zug großer Barmherzigkeit, milder Verzeihung und Demut. „„Carolaths starke Bücher reiften in jenen Werde- und Wanderjahren: „Lieder an eine Verlorene", „Tau­ wasser", „Geschichten aus Moll", „Dichtungen".

„„Für mich lebt Carolath einzig voll in jenem herrlichen Zugendleuchten; damals im Aufgang, im Morgenrot

seiner Dichtung war er mir verschwistert. Noch bis weit in die 80er Jahre hin steht er in stolzer und stürmender

Jugendkraft, dann — ward er mir ein wenig fremder. „„Vielleicht weil ich selbst wacher, feuriger, lebens­ mächtiger blieb, fühlt sich mein Wesen nur einig mit ihm in seinen sehnsüchtig vorwärtsstrebenden Jugend­

werken — und die werden ein unvergängliches Leben in der deutschen Dichtkunst haben. „„Neben mir liegt sein letztes Buch mit den Widmungs­ worten:

„Der großen Dichterin, der

hochverehrten,

treuen Freundin in bester Huldigung Emil Carolath..."

Das ist mir nun wie ein fortwirkendes Vermächtnis. „„Durch die flammenden Johannisfeuer der Jugend sind wir mitsammen geschritten. In diesem Feuerzauber war er mein starker, reiner Wandergenosse, auf den besten Wegen der Lebensschönheit.

„„Wir sind uns sehr viel gewesen—nicht in jener kurzen, schmerzlich seligen Liebe der Leidenschaft, sondern in jener köstlicheren Einheit der Seelen, die wie eine höhere

Offenbarung ist... Und auf sein Grab will ich nicht blasse Blumen des Abschieds legen, sondern mit warmen Händen will ich aus jedem Frühling rote, rote Rosen

brechen ünd sie über seine letzte Heimstätte breiten — eine blühende Mahnung an den unsterblichen Jugendtag seiner Kunst und — unserer Freundschaft."" — Unabhängig, jung, mit schöpferisch belebter Phan­ tasie, ein werdender Dichter, dem's in Kopf und Herzen schäumte und brausete, so sagte Carolath dem Soldaten­ leben auf. Die Wanderzeit brach an. Italien lockte ihn

mächtig. Es ging nach Rom. Hier drang Wunderbares in mächtigster Fülle und in strahlenden Gesichten auf ihn ein. Eine glücklichste Freundschaft verband ihn mit

dem glühenden Farbenphantasten Hans Makart, der damals in Rom wirkte. Es ist mehr als verständlich, daß sich Carolath zu diesem Maler, der schwelgerische Farbensymphonien träumte und dichtete, mächtig hin­ gezogen fühlte. Carolathö Kunst ist Prunk und Pathos,

wenigstens im Anfang seiner dichterischen Laufbahn. Erst nach und nach schlugen aus dem überreichen, ver­ gitternden Rankengewirr seiner Verskunst schlichte deut­

sche Veilchen die Augen auf und schmucklose Hecken­ röslein wagten sich ans Licht. Die Ausdrucksmittel der ersten Zeit waren selbstherrlich kühn und schwelgerisch

überladen. Hamerling, der Meister des inbrünstig kochen­ den Wortprunks, wurde vielfach von Carolath überboten, dessen Bilder sinnenfälliger und blutvoller sind. Ebenso lernte er in Rom den kunstsinnigen Grafen

Lanckoronski kennen, zu dem er ebenfalls in ein frucht­ bringendes Freundschaftsverhältnis trat. Mit beiden Freunden begann er (1876) ein mehrjähriges bunt­ bewegtes Wandern, das sich zunächst wieder nach Ägyp­ ten wandte. Die alten Eindrücke wurden verstärkt aus­ genommen. „Des bunten Ostens wellentfernte Pfade"

erfüllten die drei schönheitsdurstigen Pilger mit tiefen Wundern. Die deutungsschwere Symbolik des alten Theben tauchte späterhin wiederholt aus den Dich­ tungen Carolathö empor. Wie Byron mit zäher Be­ gierde in die Ferne trachtete, so lag unserm Dichter der

Zauber der Weite im Blute. Die schwelende Glut und die bleichen Horizonte der Wüste, die erhabene Kühnheit wilder Gebirge, die Majestät des Meeres und der macht­

voll starrende Tod schneeüberspreiteter nordischer Lande: alles das hatte er mit Auge und Seele umspannt und alles lebte mit funkelndem Leben und phantastisch heißen Gesichten in seinen Versen wieder auf. Die folgenden Jahre wurden durch Reisen nach Klein­ asien, Griechenland und Spanien ausgefüllt. Jäger­ fahrten nach Tunis und Montenegro, die voll bunter Abenteuer waren, schlossen sich an diese Bildungsreisen.

So reiste Carolath allmählich zum Weltbürger, der viel herrliche Wunder und doch auch viel Elend und Niedrig­

keit sah und Vergeben und Mitleid lernte. Im Jahre 1878 erwarb er weit draußen am dänischen Belt eine wundervoll einsam gelegene Besitzung, Palsgaard, wo er im Kreise von Freunden stimmungsvolle Tage verlebte. Es glitt viel von dem Schweren, Düsteren, Gebundenen der Landschaft in seine Poesie, die in dieser Zeit an einem harten Pessimismus krankte.

Aber die zarte Gesundheit des Prinzen machte einen dauernden Aufenthalt auf Palsgaard sowie auf dem Gute seines Onkels, Haseldorf (in der Nähe von Ham­ burg), unmöglich. Längere Kurreisen in die Schweiz unterbrachen die Ruhe der ländlichen Abgeschiedenheit; auch noch verschiedene andere Länder sahen den „fahren­

den Gesellen", dem die Sehnsucht Hort und Heil war.

Doch des Pilgerns Ziel nahte. In den Frühlings­ tagen des Jahres 1887 lernte Carolath zu Montreux

die Frau kennen, die sein Leben still und überreich

krönen sollte. Es war Katharina von Knorring. Bald wurde die Vermählung gefeiert. In dem stillen, in die breite Elbe hineingedeichten Haseldorf, das auf

Carolath überging, gingen die Jahre golden und glück­ gesegnet dahin. Hier ist auch wohl der Ort, in schlichten Worten über

die Frau zu reden, die das von fast stetigem Krankheits­

leid gefährdete Poetenleben mit lieber Güte und Huld schirmte und hütete. Jeden wird es befremden, daß

Carolath in hundert Tönen, schmerzgesättigt und nacht­ umstellt und doch tiefsüß und wundersam, das Lied von der verratenen Liebe sang, das scheue Sehnsuchts­ lied, drin suchende Flammen reden. Carolath hatte offenbar keine künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten für sein Heimlichstes, für die weilende Liebe und für das

köstlich umfriedete Glück. Die Gefährtin seines Lebens hatte aus innigem Verstehen und feinfühliger Seele teil

an seinem Schaffen. Man müßte die schamhaftig zurück­ gedämmte Seele Carolaths kennen, um das voll zu be­

greifen, was er mit der Widmung seines Gedichtzyklus „Heimkehr" zu Weihnacht 1903 sagen wollte. Es stehen keine pomphaften Worte dabei, sondern wahr, schlicht,

groß und treu, wie der Sommer vor den Garben, steht die Widmung „Meiner Frau": „Ich hab' dich geliebt, ich hab' dich errungen Und habe dich dennoch nie besungen, Weil nicht in Worten noch in Bildern Dein Herzensreichtum wär' zu schildern."

Schlicht, groß im Verstehen, tief im Erfassen und

Festhalten von Schönheit, wanklos zu dem, dessen Weg in die Sterne ging, und voll reicher Weibesliebe: das war die Frau, die von der Vorsehung dem weltfremden Dichter Carolath an die Seite gegeben war. Es ist für die Entwicklung eines Künstlers durchaus nicht gleich­

gültig, was für eine Frau ihm zur Seite steht. Das ungewollt Wegführende führt am stärksten. So war es vielleicht auch hier. Weithin an Carolaths Lebens­

weg standen die schwarzen Kreuzlein des Schmerzes: körperlicher Leiden, seelischer Beängstigungen, sorgfältig

gehegter Sehnsüchte, es war eine trübe Flucht von Kreuzen, zu denen sich Carolath im Schreiten mehr als genug hin- und zurückwandte. Da nahm ihn diese Frau bei der Hand und führte ihn und wußte von nichts zu reden als von den Blumen, die in köstlicher Fülle sich um die Hölzlein rankten, daß sie das stumpfe Schwarz

mit ihrem lebendigen Leben schier ganz zerbrachen.

Wer will hier aufstehen und sagen: Der Dichter hat das große Glück nicht gefunden, nach dem er wallfahrten ging. Ein stilles Gebettetsein in Herddämmerglück ist

das Köstlichste, was sich erstreben läßt; und wie ward's Carolath! Wer je hineinschauen durfte in das gastliche Herrenhaus zu Haseldorf, der nahm beide Hände voll Sonne und voll Liebe mit. Ein Herd, der seine Gäste so segnet, muß ganz auf Glück und Liebe gebaut sein.

Es weiß ein jeder, der einmal Gast in der prinzlichen Familie sein durfte: es ging ein Strom von Sonne und Güte und Liebe von diesem Hause aus.

Vorderansicht des Herrenhauses. Prinz Georg, Prinzessin Elisabeth und Prinz Gustav.

Die schwere, flache Marsch, die mit ihren nebelver­

schütteten Horizonten einem hart auf die Seele drückt, wollte dem Prinzen, dem die Berge wie Hochaltäre Gottes waren, nur widerwillig zur Heimat werden. So blieb er denn bis zuletzt ein Mensch großer Sehn­ süchte. Er mußte es bleiben. Sein Leben wollte groß zünden, seine Persönlichkeit sich in schöpferischen Wer­

ken ausatmen.

Er war ein Held der Menschheit, der

zufällig ein Dichter war.

Aug um Aug Lord Byron.

Das phantastisch Erderobernde, das flammenzüngig Prophetische, das Fiebern und Glühen um das Weib, das von Zweifeln durchschütterte Schreien um Gott: alles das ist beiden Dichtern gemeinsam. Und der Er­ löserdrang, der den leidzerquälten Bruder an die Hand nimmt und der mit leidenschaftlicher Kühnheit ganze

Völker und ganze Jeitenfluchten umspannt.

Heines

Formenzauber berauschte ihn unendlich. Aber auch die naturnahe, leise Seele Storms lebte in ihm. Ein glücklicheres Wort über die Kunst Carolaths ist vielleicht kaum geprägt worden als das des kürzlich verstorbenen geistvollen Essayisten Leo Berg: „Er ist ein Byron, der

durch Theodor Storm gegangen ist, bis auch er am Ende zu seiner Zeit gelangte und in der Mitleidsidee, die bei ihm aber noch ihre christliche Farbe rein behielt,

von den Kämpfen seines trotzigen Herzens ausruhte." Der Gutsherr und Dichter auf Haseldorf! Für wie viele bedeutet dieser Hinweis eine mehr als liebe Er­ innerung! Wie viele, Künstler, Poeten und Literaten,

die sich für ein Stündlein Frieden trinken wollten von

der treibenden Hast der Großstädte.

Von Hamburg

und Berlin und von wo überall. Und alle wurden mit der gleichen treuen Herzlichkeit eingeladen und aus­ genommen. Das weiße Schloß, das sich in die wunder­ sam quellende Wildnis des einzigschönen Parkes träu­ merisch hineinlegt, war für die Gäste ein liebliches

Sorgenfrei, ein Märchenschloß, wo der Hausherr von

seinen Reisen erzählte, von mancher Fährnis, von den goldenen Wundern des Orients, und wie im Hauch hinüberstreifte nach den Gärten der Ewigkeit, dahin seine Sehnsucht mit breiten Segeln trieb. Und die zartsorgende Herrin, der alle Gäste, ob hoch, ob niedrig,

gleich lieb waren, und der liebliche Kranz der Kinder! Es war ein unsäglich tiefer Friede in dem weißen Schlosse im grünen Park, in den kein Ruf oder Schall von der

Straße drang. Als ich jüngst den Park sah, der hart an den Elbdeich stößt, war der Herr des Hauses schon dahin gegangen,

wo alle Sehnsucht schweigt, „wo die Seele weder bangt noch irrt". Es war ein wundervoll gesättigter Früh­ lingstag. Die Vögel klammerten sich mit ihren Bein­

chen um die Zweige und schrieen vor Entzücken, die Fische in dem breiten Schloßgraben standen reglos oben auf dem Wasser und Blumen wehten, wo doch kaum

ein Hauch zog.

Duftwellen gingen von einer Blume

zur andern, wie Körper so wesenhaft, daß davon die Blumen zitterten. Und die dichten Tarussträucher stan­

den wie leiderschlagen, weil der nicht mehr kam, der sonst die dunkle Flut ihrer Blätter wie kosend hatte

durch seine Finger gleiten lassen. Die Vögel und die Fische und die Blumen aber wußten es noch nicht, daß der Herr des Gartens den ewigen Schlaf schlief. Sie alle hatte er gehütet. Die prinzlichen Kinder, weil sie es von andern Knaben gesehen hatten, wollten

für ihr Leben gern im Schloßgraben nach den schwarzen Karpfen angeln, die so großspurig daherschwammen. Lange wußte der Vater ihnen dies Beginnen auszu­ reden. Als sie ihn aber immer und immer wieder darum anbettelten, da ließ er aus den Angelhaken die Wider­ haken herausfeilen, damit die fetten Karpfen, die sofort

wieder befreit und ins Wasser getan wurden, sich nicht gar so qualvoll verwundeten. Das Erbarmen zur Krea­ tur, die mit stürmischer Sehnsucht aus ihrer Gebunden­ heit aufseufzt, war ihm mehr als Gebet. Ich wüßte

überhaupt keinen hochragenden Menschen, der das Leid der Kreatur so zu seinem eigenen Leide gemacht hätte. Hier schweigt jeder Vergleich, hier ist eine königliche Höhe im Menschentum, eine absolute, geniale Höhe. In dieser Mitleidsidee ist Carolath ein Priester und Pro­ phet. Und alle Stücke, in denen dieser Gedanke von

ihm schöpferisch ausgestaltet wurde, sind, getränkt mit seinem Herzblute, schlechthin Meisterwerke.

Er, der

früher abenteuerreiche Jägerfahrten in zwei Erdteilen gemacht hatte, entwöhnte sich, weil ihn die Jagdtiere jammerten, später ganz des Weidwerks. Es soll nun aber ja keiner kommen und sagen, halbverstörte alte

Jungfern, die mit ihren Katzen aus einem Teller essen,

hätten denselben Mitleidszug zum Tier. Bei Carolath

wuchs sich das Mitleid ins Weltumspannende, ins Heroi­

sche aus.

Es hatte den starr gespannten, genialischen

Zug. Ein junger Pastor aus einem der Nachbardörfer,

der die Carolathschen Kinder unterrichtet hatte, war mir bei meiner Wanderung Führer durch Schloß und Park. Ein prächtiger Führer, der jeden Steig und jeden Stein kannte und der den Zusammenhängen zwischen dem toten Dichter und dem Geschaffenen mit stiller,

schmiegsamer Bewunderung

nachgespürt

hatte.

Auf

einem breit sich erhebenden Rondell, wo vielleicht einst in der gefährlichen Schwedenzeit ein Ausguck gestanden

haben mochte, weilte der Dichter sehr gern. Riesige Birken erhoben sich rundum. Hier läßt sich für den, der mit der Natur und mit Gott allein sein will, köstliche Andacht halten.

Und zudem, wenn man eine Seele

hat wie Merlin, der da wußte, was die Vögel sangen

und die raschberegten Quellen redeten. Und dann schritt

er wieder die Parkwege ab, langsam, trübe, und ließ die weiten, erdfremden Blicke ins grüne Laub fallen. Vor­ bei an den Gräbern seiner Vorfahren, trutziglicher Marschensöhne, deren Staub von mächtigen Felstafeln

überdeckt war. (Auf eines dieser Gräber hat übrigens Liliencron ein prachtvolles Gedicht gemacht.) Dann schritt der Dichter auch wohl gelegentlich in das schlichte Kirchlein, in dessen Grabkapelle, zu ebener Erde, in einem prunklosen Eichensarge sein Leib der Wieder­ erweckung entgegenharrt. Carolath glaubte aufs Wort

an die Auferstehung des Fleisches.

Gartenseite des Herrenhauses.

Und dann schritt ich durch das knarrende Parkpförtlein auf den Deichs der den gelben, züngelnden Wassern

der Elbe wehrt. Noch ein kleiner Zug von dem Geiste des Schloßherrn sei hier angefügt. Der Park, dessen wundervolle Schönheit weithin bekannt ist, wurde in früheren Jahren unleidlich laut und lärmend über­ laufen. Man mußte gegen die rücksichtslosen Besucher Front machen. Jeder andere hätte nun an die Parktür

in drohend großen Lettern geschrieben: „Der Eintritt ist Unbefugten bei Strafe verboten!" Der prinzliche Gutsherr aber ließ anschreiben: „Fremde, die den Park zu sehen wünschen, wollen sich beim Gärtner melden."

Dieser Deichs so erzählte mir mein Führer, war ein bevorzugter Aufenthaltsort des Prinzen. Rechts und links die braunsalten Flächen, die von Knicks wie von bunten Netzmaschen durchzogen sind, und vor sich die wogende, strömende Wasserfläche. Breit, drängend, eilig aus dem Wege in die Nordsee. An den Abenden phantastisch, groß und deutsam. „Zwischen farbigen Leuchtfeuern wälzt sich der breite Elbstrom dahin, über­

jagt von stark segelnden, im Nordwestwind herantrei­

benden Wolkenmassen." Wie oft stand der Dichter wohl hier und knüpfte die Seile seiner Sehnsucht an die flimmernden Leuchtfeuer und mochte das Licht daraus

hervorzerren und große, breite Menschheitswege damit auslegen, daß keiner mehr in der Irre ginge. Und diese Wege gehen alle wie Bergstraßen hinauf ins Land der Ewigkeit. Alle Dichtung Carolaths hat den Sinn des Aufstiegs, des licht- und liebewirkenden Aufstiegs.

Aus der Marsch sehnte er sich hinaus mit unsäglich

bitterer Sehnsucht. Sein brennender Haß gegen alles Unreine, gegen Selbstsucht und gegen marktenden Krä­

mergeist ist im letzten Grunde Sehnsucht zur innersten Menschenhoheit. In wie vielen seiner Dichtungen kehrt nicht der Gedanke wieder, daß wirksam Hohes und edel Menschenherrliches durch wankhaften, niedern Krämer­

sinn zertreten und siech gemacht würde. Der in mehr­ facher Beziehung höchst bemerkenswerte Gedichtkranz

„Hans Habenichts", der deutungsreich in des Dichters innerstes Leben hineinwebt, ist eine hinreißende Pre­ digt gegen alles Kleingesinnte und Verlogene.

klirrende

Leidenschaft zersprengt

hier die

Eine absichtlich

fremd und fern gehaltene Form, und heiß und wetternd stürzt ein Zorn und Haß über Jeitsünden. Seine große

Seele, die nur in der Luft der Wahrheit und Gerechtig­ keit atmen konnte, redete sich in leidenschaftlichen Jörn,

wo es galt, gegen Torheit und Bosheit zu Felde zu ziehen. Mit blutvoller Leidenschaftlichkeit erfüllte ihn der Ge­ danke von einem großen triumphierenden Deutschland. Seine schönsten Lieder sind mit dieser händefaltenden Sehnsucht vollgefüllt; sie sind aus des Dichters innerstem

Blute als unvergängliche Blüten emporgequollen. So lebte der Dichter seine Tage auf Haseldorf dahin. Ich habe in der Umgegend mehrfach Leute verschiedener

Berufe angesprochen, um auf Umwegen etwas über den Prinzen zu erfahren. Es ist schwer, mit diesen Marschleuten zu reden. Es ist, als ob man an Steine

schlägt, um sie zum Klingen zu bringen.

Aber unter

mancher Mühseligkeit erreichte ich, was ich wollte. Und überall wußte ich aus dem schwerblütigen Gewirr des

widerhaarigen Idioms das eine herauszuhören: Er war so gut. Man schämte sich ordentlich, so gut war er. Man schämte sich. Hierin liegt eine wundervolle Bekenntnis­

höhe. Sein Menschentum ragte so hoch, daß es für manchen zum Erschrecken war. Besonders die letzten zehn Jahre seines Lebens waren ein ununterbrochenes Opferfest des Erbarmens zu Mensch und Tier. Eine seiner besten Erzählungen, „Der Heiland der Tiere", ist mit diesem träumerischen Mitleid bis zum Rande ge'füllt. Der Held der Geschichte, der sich zur Erlösung der seufzenden Kreatur selbst kreuzigt, hoch an einer Felsenwand, ist so von rauschendem Dichterblute durch­

strömt, daß der Dichter selbst der hochgemute Schwärmer ist, der sich die linke Hand ans Holz nagelt, so daß ihm das niederstürzende Blut den Arm und die Seite rot­ färbt. Es liegt eine erschütternde Tragik in dieser Vor­ stellung. Und doch kann man es nicht anders ausdeuten:

Carolath war von dem Gefühl schluchzenden Erbarmens und Mitleids für alles Bedrückte und Duldende so über­ füllt, daß fast nichts anderes in ihm Platz hatte. Er war wie ein Seher, wie ein Prophet. Daher das leiden­

schaftlich Feierliche, das herb Gewaltige seiner Dar­ stellungen. Er hatte nicht das Lächeln des Humoristen, der seine leidenden und weinenden Menschen tröstet

und mit schelmischem Wort hinwegweist aus den Niede­ rungen; er keuchte mit in den Sielen zerschundener Schüler, Schoenaich-Carolach.

3

Pferde, er hungerte mit seinen hungernden Menschen und litt geistige Not mit denen, die das Unglück stumpf gemacht hatte. Dieses Mitdulden, das entschieden den

Aug des Genies trug, erstickte jeden individuellen oder Kastenegoismus in ihm. Er arbeitete als ein begeisterter Seher und hatte nur die ganze Menschheit im Auge. Während sonst seine Darstellung zuweilen unter der Willkürlichkeit der Geschehnisse leidet, sind die Erzäh­ lungen, die vom Mitleid zur Kreatur handeln, von einer Wucht der Geschlossenheit und von einer dichte­ rischen Notwendigkeit, daß sie sich schlechthin zu dem

Range von Meisterwerken erheben.

„Die Kiesgrube" ist wie ein Marmorwerk, an dem jeder Meißelschlag recht ist. Es dürfte schwer sein, in der Weltliteratur eine Geschichte zu finden, die einen ähnlichen Stoff mit der gleichen Meisterschaft behandelt. Nicht genug des Rühmens kann über Carolaths tiefe

Bescheidenheit sein. Er wollte nichts sein als ein edler, großgeistiger Mensch, frei von allen Vorrechten der Ge­

burt. Ein solcher Strom von menschlich schöner, schlichter Güte kann nur von einem sehr hohen Menschen aus­ gehen. In seinen Augen lag ein seltsam zwingendes Leuchten wie Glanz von einer inneren Sonne. Ich kann mir nicht versagen, einige Zeilen aus einem Briefe

Carolaths anzuführen, den er an eine Dame schrieb,

die ihn an einem Vortragsabend — wie er meinte — weit über Gebühr gefeiert hatte. „Ich bitte Sie dringend, nie etwas anderes in mir zu sehen, als nur den geistes­

verwandten Künstler, und alle Titulaturen beiseite

Östlicher Giebel der Haseldorfer Kirche mit dem Erbbegräbnis, in dem der Prinz beigesetzt ist.

zu lassen. Wenngleich Sie, hochverehrte gnädige Frau, meine Leuchtkraft für spätere Zeiten allzu hoch bewerten,

so gebe ich dennoch zu, daß ich mich stets bestrebt habe,

trotz aller Leidenschaft des Temperaments, die Linien, welche das Gesetz der ewigen Schönheit vorzeichnet, streng innezuhalten." Und nun wollen wir Abschied nehmen von dem Schloßherrn auf Haseldorf, der dort in dem Kirchlein

den ewigen Dingen entgegenreift, die er glaubte: Auf­ erstehung des Fleisches und ein ewiges Leben. Und wir

wollen, was an unserm Teil ist, dafür sorgen, daß Carolaths Werke eingehen ins deutsche Volk, das der Dichter so hingerissen liebte. Sein Deutschland, die Krone aller Länder und Völker, das einem brausenden Ostermorgen entgegenträumt. In der Reihenfolge der im Verlage G. I. Göschen in Leipzig herausgegebenen „Gesammelten Werke" des

Prinzen Emil von Schoenaich-Carolath (7 Bände 1907) sollen die einzelnen Werke durchgesehen und betrachtet werden. Die Saat des Großen, die der Dichter hinaus­ gestreut hat mit edlen Händen, muß im deutschen Volke Frucht tragen. Der Dichter der spezifisch deutschen Sehnsucht wartet auf seine Zeit. Ich füge hier einige

Verse an, die ich dem lieben Toten, an den mich eine tiefe Bewunderung band, auf die Bahre legte: Nun hast du eilends deinen Lauf gewandt Hinan zu Welten, die du groß gedichtet, Ins harterstrittene Dollenderland Hast du den erdenmatten Schritt gerichtet.

Du bist zu Haus, du heißer Wandersmann,

Sehnsuchtentglühter, von der Schönheit Gilde, Wir sahen dich mit Stolz und Jubel an:

Du prunktest her mit deutschem Ritterschilde. Wahrheit und Güte, Stolz und Mannesmut War flammenvoll auf dein Panier geschrieben,

Und immer edler wuchs aus deinem Blut

Ein tief erbarmend gläubig Menschenlieben. Was du uns warst! Du gabst dein klares Wort Den Jungen, Zagen, tastend Ungewissen,

Zu goldnen Höhen hat uns fort und fort

Dein quellenkühnes Menschentum gerissen! Wer so wie du des Edlen Saat gesät, Der hat sein Werk machtvoll in Erz gegraben — Ob heut, ob morgen, sei es früh, sei's spät: Dein deutsches Volk wird dich zu eigen haben!

Der Prinz an seinem Arbeitstisch. (Das Gemälde stellt den Prinzen mit seiner Mutter dar.)

OjAun zu den Werken des Dichters Carolath! Den ersten Band der genannten Gesammelten Werke Men die drei gedankenmächtigen Epen „Angelina", „Die Sphinr" und „Don Juans Tod". Ich zähle die beiden letztgenannten Stücke zu dem Stärksten, was Carolath

geschaffen hat.

Wer hat gleich groß, mit gleich ver­

zweifelter Leidenschaftlichkeit an die goldenen Tore zur Stadt der Schönheit geschlagen, wer hat um die brennen­ den Rätsel, in denen das Weib lächelnd und lockend steht, gleich schmerzlich gebangt! Die fortstürmende Wucht dieser Dichtungen ist ganz und gar mächtig. Der Anschauungsgehalt ist riesig und die poetische Bewälti­ gung nahezu restlos. Hier hat Carolath auch seine eigene große Sprache, ganz und gar seine eigene. Wie diese

Stoffe blendend neu und unerhört kühn sind, so wird seine Ausdrucksgewalt hier schöpferisch. Diese lyrisch­ epischen Stücke haben gedankliche und sprachliche Höhe­ punkte, aus die die deutsche Literatur stolz sein muß. Nicht ganz dasselbe kann man von dem ersten Stück, „Angelina", sagen, dessen Werden auch zeitlich am

weitesten zurückliegt.

Schon 1875, in der Zeit des

römischen Aufenthaltes, entstand der erste Entwurf. Hier war noch alles durcheinander: gefährliches Geröll, kantig und scharf, zerrendes Dornengerank und auf­ schießende Nesseln; aber leuchtend und licht brechen doch

schon aus dem Grunde wundervolle Blumen, Veilchen und Rosen. Das Gedicht wurde 1878 vollendet. Es ist in die Form eines Erlebnisses eingekleidet. Mit der rasch treibenden Gewalt eines heißblütigen Dramas werden wir gepackt. Die Anschauungskraft ist stark und der Wortprunk wirkt berauschend. Die Reime sind kühn

und neu. Das Ganze hat Sturm und Schwung und drängt mächtig vorwärts. Angelina — in dem Klange liegt schon Sonne und Schönheit — ist eine junge Blumenverkäuferin, die bei den deutschen Künstlern in Rom ihrer wundervollen,

kindlich süßen Schönheit willen hoch beliebt ist. Deutsche Künstler, voll Jugend und Sehnsucht nach dem Brausen deutscher Eichen im Herzen, haben sich bei einem Lands­ mann zu Gaste geladen. In die schwerblütige Besinnlich­ keit all dieser heimwehmüden Gäste fällt mit einem Male das Wort: „Angelina wird Blumen bringen!" Das Wort wirkt Wunder: Wenn eine Glut, die sich verlöschend quält, Man einem Strome Schirasöl vermählt, Loht neu sie auf zu stürmisch hellen Flammen. So riß der Name, als ein Zauberwort, Das Tischgespräch in frischem Schwünge fort, DaS brausend ward, denn alles sprach zusammen.

Umwölkte Züge schienen plötzlich jung, Ein Zug von Frohsinn, von Begeisterung Kam neubelebend über alle Mienen, Und Beifall hob sich, als sein volles Glas Der eine hob und kühn daS rote Naß Hinuntergoß zum Wohl von Angelinen.

Es wird nun stürmisch gefragt und erzählt, daß Ange­ lina wie ein lächelnder Sonnenstrahl auftauche und ver­ schwinde. Tausend begehrliche Augen umwürben ihre Schönheit, aber noch keiner könne sich ihrer Gunst rühmen: »Die ihr mich seht, laßt alle Hoffnung fein', — So fiel aufseufzend hier ein zweiter ein, — Das ist ihr Wahlspruch. Viele Anekdoten Beweisen es. Zum Beispiel hat ein Lord Erst kürzlich ihr mit manchem schönen Wort Für einen Kuß zwei Handvoll Gold geboten. Sie nahm es an, dann keck und unverwandt Gab sie zum Kusse ihm — die kleine Hand, Ließ den Verblüfften, dessen Zechgenossen Sich kirschrot lachten ob des kalten Schlags, Und ging. Man fand die Münzen andern Tags In einer Kirche Opferstock geflossen.

Und dann tritt das liebliche Wunder ein in den Kreis der heißerregten Zechgenossen. Die verinnerlichte Schil­ derungskraft des Dichters erschafft sie lieblich und reich: ... Die reizende Gestalt Schien, von des Vorhangs Faltenwurf umwallt, Ein lichtes Bild auf sammetfinstrem Grunde, Des wunderfeines, sinnendes Profil Ein großer Künstler schuf in flüchtigem Stil Zu gottbegnadeter geweihter Stunde. Wie war sie schön! Ihr Haupt, halb abgewandt, Erschien mir fremd und dennoch wohlbekannt, Fast wie ein Klang aus lieber Kindersage. Ihr Aug' war dunkel, dabei wunderbar Groß und betrübt, als ob es immerdar Nach etwas Süßem, ewig Fernem ftage.

Das braune Haar umschmiegte voll und weich Die schöne Stirn und die war seltsam bleich, Doch wenn die Lippen sich zum Lächeln gaben, Umflog das Köpfchen zarter Heil'genschein — Den konnte nur ein totes Mütterlein In Angst und Schmerz darum gebetet haben.

Dann, nachdem sie ihr Blumenkörbchen geleert und dem einen bleichen, träumerischen Gaste ein Sträußchen Frühnarzissen aus ihrem Haar gereicht hatte, bat sie um eine deutsche Melodie: „Sie sind so traurig, eure

deutschen Lieder." Schuberts „Am Meer" durchbrauste das Zimmer. Ein starres, eingegrabenes Sinnen über­

fällt das liebliche Kind, das selbst ins Leben hineinblüht wie eine süße, fremde Sehnsucht: Sie stand in tiefem, tiefem Selbstvergessen. Das bleiche Köpfchen wie aus Leidenschaft Gemeißelt. Regungslos, statuenhaft Der schlanke Leib; von Tränen und von Flammen Der Blick durchschossen, während unruhvoll, Ein de profundis reich an Schmerz und Groll, Die Prachtakkorde schwül vorüberschwammen.

Dann plötzlich, als erschrecke das Kind unter dem Mahnen eines Entschlusses, ein hastiges „Felice notte“ und dann ist es verschlungen von der Straßenbrandung.

Die Künstler bleiben zurück, „bei schwerem Trünke". Einer von ihnen, Gaston, genial, brausend, „vom Lebenszugwind zeitig überstaubt", spricht, weil ihm graut, das liebliche Kind versinken zu sehen, wunder­ bare Worte über die Schönheit, die an den Straßen aufblüht:

O Schönheit, Schönheit, Danaergeschenk! Weh jedem, dem dein leuchtend Stirngehenk Als blitzend Stigma ward ums Haupt geschlagen! Weh ihm, dem Kind, das ausgesendet ward, Ein reiches Kleinod wunderseltner Art Durch einen Wald, einsam bei Nacht, zu tragen! Wohl zieht es aus, singend im Abendrot; Es kehrt nicht heim. Am Morgen liegt es tot, Erwürgt, beraubt, im fröstelnden Gehege. Auf blassem Mund sein letztes Seufzen starb: Ihr gabt ein Gut mir, das mich früh verdarb — So muß ich enden nun seitab vom Wege.

O Schönheit, Schönheit, letzter Widerschein, Abglanz des Edens! Ach, du bliebst allein Der Erde treu! Du konntest von dem Weibe, Don Edens blauer Blume lassen nicht, Du folgtest ihr und wardst das Tempellicht, Das ew'ge Licht im staubentkeimten Leibe.

Gaston schreit es dann hinein in den Jecherkreis: „Ange­ lina wird elend enden!" Er behauptet, daß sie jetzt schon

verloren in die Nacht hinaustaumelt. Einem wider­ sprechenden Freunde will er's sofort beweisen. Sie fahren

beide in die Straßen Roms hinein und suchen Angelina. Endlich nach wildem Umherjagen sehen sie das Mädchen,

wie es eben in eine dunkle, übelberüchtigte Gasse ein­ biegt. Dann hinein in ein Haus, wo sie von einem alten Weibe erwartet wird. „Madonna kommt!" Dann huscht sie ins Haus und eilt an das Bett eines tod­

kranken Kindes, das sich in Fieberangst hin und her wirft. Mit engelhafter Güte wartet sie des Kindes,

dessen Stirn bald süßer Schlaf umschmiegt.

Gaston,

der Zweifler, starrt ins Fenster und kann nichts als

weinen. Aus Glück und Angst. Der Dichter trium­ phiert: Es gibt noch Größe, Menschenherrlichkeit. Gott strahlt durch den Staub. Dann kommt der zweite Teil des Gedichts. Mit brausender Energie sind die Verse gefüllt, die uns er­

zählen, wie Angelina, die süße Blume, auf den Kehricht­ haufen des Lebens hingewirbelt wird.

Sie ward wie

kreiselnde Spreu. Nach wirr durchhetzten Jahren kommt sie zum Sterben. Die deutschen Künstler sehen sie in

einer Kirche im Sarge vor dem Altar. ... An dem Hochaltar Stand breit, von Dämmrung unbestimmt umflossen, Ein offner Sarg ... Erbarmend sah herab Der Jungfrau Bild aus goldgeschmücktem Rahmen, Mit Augen, die gar seltsam tief und schön, Echt menschlich klagend. An die stille Brust Von Angelina schmiegte sich ein Strauß Tiefbunter Blumen, und ein Schimmer lag Auf dem geschloßnen blütenroten Munde, Als hab' der Tod mitleidig fortgeküßt Das letzte Zucken und das letzte Weh, Die letzten Schlacken. Doch das Antlitz war Entsetzlich fragend, so wie ein Gebet, Das glücklich anhub und geendet ward Mit einem Aufschrei, — ein Gedankenstrich, Ein Fragezeichen, angstvoll hingemalt Am Schluß eines gewaltigen Gedichts. Mich zwang es nieder, und die tote Stirn Mit ihrem Zug von ungelöster Frage Streifte mein Mund. Schlaf wohl in diesem Kusse,

Verblühtes Kind. Es müssen Blumen sein, Im Scharlachschmuck der Schönheit aufzuflammen Am Straßenrande. Dir wird Gott verzechn. — Uns andre doch, mög' er uns nicht verdammen.

So erlosch dieses Licht im Sumpfe. Aber der Dichter bricht hier nicht ab, indem er die Schönheit hoffnungslos, fatalistisch hoffnungslos, dem Henkerbeil ausliefert, son­ dern er hebt seine Augen in die Sonne, sieht, wie die

zuckenden Lichter sich wie helle Bänder um die steinernen Säulen der Kirche binden, er sieht weißgekleidete Kinder in die Kirche einströmen und hört die Glocken gehen. Aus den Tastengängen der Orgel aber bricht groß und

zwingend das alte herrliche Osterlied „Christ ist er­ standen". Dieses Jugendwerk, das den ganzen Zauber hin­ reißender Jugendfrische atmet, ist noch voller Risse und Lücken, die Sprache aber ist heiß und ungestüm, Byrons Geist waltet. Der Schluß ist von mächtiger Menschheits­ hoffnung angefüllt. Hier ist Carolath bereits der Künder der Erlösung aus der Tiefe des Lebens.

Nun kommt das zweite, zeitlich weit spätere Werk, „Die Sphinr". Ein schlechtweg geniales Werk, von

stürmisch flatterndem Atem, von inbrünstiger Leiden­

schaft und von monumentaler Gedankenwucht. Sprachlich ist es von eherner Meisterschaft. Wie eine gewaltig brausende Fuge zermalmender Liebesleidenschaft geht das Werk einher. In „Angelina" stirbt das Weib am Manne, während hier der herrisch auffchäumende, mit Gott und Welt ringende Mann durch die gleisnerische

Lüge und das feigherzige Versteckspiel des Weibes in den Tiefen seines Wesens erschüttert, bis in die brutale Tierheit geschleudert und endlich schmachvoll vernichtet

wird. Das Epos ist ein flackernder Aufschrei. Der Held ist der Dichter selbst. Die ganze tiefeingegrabene Sehn­ suchtsangst seines Lebens betet dämonisch inbrünstig aus dem Werke heraus. Die erste Szene ist ein Liebesidyll zwischen Donna

Santa, einer wunderschönen knospenjungen Grafen­ tochter, und einem Offizier „aus dem Nordland". Ein Iypressenhain umschmiegt das Paar. Der blaue, selige

Himmel Italiens sättigt beide mit süßer, erschauernder Leidenschaft. Es ist Frühling. Donna Santa ist schön: Ihr Haupt war blond, um ihren Scheitel schmiegte Ein Goldstrahl sich, den ihr herabgesandt

Als Sonnengruß aus feinem, bessern, Land Ein Liebesengel, der im Licht sich wiegte.

Eifervoll glückselig sucht sie, durch den Park rufend, ihren Guy. Endlich ... löste sich ein Schatten Vorn lichten Grün, und aus dem Myrtenhaine

Trat rasch ein Jüngling; seine Augen hatten

Glückhellen Glanz.

Aber noch heute muß der junge Offizier Abschied nehmen, weil sein Vaterland ihn ruft. Das Mädchen

zittert im Weh des Abschiednehmens. Der Schwur der Treue, mit hartem Eifern gefordert, kommt wie das müde Zwitschern eines einschlummernden Vögelchens von ihrem Munde. Dieses „Ewig treu sein" des Weibes

ist für Carolath das von seichten Wassern überspülte Felsgeröll, das die zu Sieg und Glück hinausfahrenden

Schiffe des Mannes kläglich stranden läßt. Es ist die ewige Lüge, die so viel Herrlichkeit im Manne erwürgt und zuschanden macht. Die Abschiedsszene zwischen den beiden Liebenden ist von zauberhaftem Glanze. Wie

ein leises ahnendes Träumen von Untreue und Verrat kommt es über Guy: Er strich das Haar ihr endlich wie im Traume Sanft aus der Stirn, sie schlug beglückt empor Die sehnsuchttiefen, blumenhaften Augen Und lächelte. Aus seinem Herzen rang Sich wild ein Wort: Wirst du mir treu sein? — Ewig, Sprach sie ganz ernst, und wunderseltsam klang Aus ihrem Kindermunde dieses Ewig. Sie schwiegen wieder. Rötlich fiel ein Strahl Der Spätnachmittagssonne durch die Hecken Auf ihre Stirnen. Er schien aufzuschrecken: Santina, bat er, sing zum letztenmal Mir noch ein Lied! Ich weiß eins, das du sagtest Vor langer Zeit — es spricht von Glück die Weise Und Wiedersehn — wie geht doch jenes Lied? Und sie, da rot die Abendsonne schied, Begann zu singen ... Fern im Dufte schwammen Zarthelle Wolken; ihre Hände fanden Sich unbewußt und wie von selbst zusammen; Der Abend sank, auf dämmerbraunen Landen Ausblutend lag ein schattenhaftes Rot. Noch einmal hielt der Tag, der glückdurchsonnte, Verzögernd Rast und strahlte letzten Frieden Auf jene Kinder, deren Glück hinieden Versank am dunkeln Lebenshorizonte.

Eine schattenhafte Schwermut rinnt in das junghelle Glück der beiden Liebenden. Sie gehen auseinander. Er stürmt hinein in Krieg und Kriegesnöte mit der stachelnden Sehnsucht nach dem Sonnenkinde Santa irrt Herzen. Wir finden unsern Helden wieder am Lager­

feuer, im Feindesland.

Die Halfterketten der Pferde

klirren. Am Lagerfeuer sitzen Offiziere. Einer von ihnen nestelt aus dem Kollette einen Brief hervor, in

den er sich vertieft; einem Kameraden, der ihn um den Inhalt fragt, bedeutet er, daß das schönste Kind in seiner

Vaterstadt „durch Trug gewann des Ehstands Perlen­ haube". Sie habe die Treue dem gebrochen, dem sie sich angelobt habe, um auf besonderen Wunsch des Papstes einen reichen alten Oberkammerherrn zu heiraten. „Ein jedes Weib hat ihren Preis, am Ende — selbst — Donna Santa!" Da bäumt sich vom Stroh ein Offizier auf — Guy ist es — und will dem Lügner an die Kehle. Der Brief überzeugt ihn von der häßlichen Wirklichkeit. Ein

tolles Zechgelage soll dem todesfahlen Guy die Farbe wiedergeben. Mit rasendem, verrücktem Gelächter galop­ piert er hinaus in die Nacht. Hinan an den Feind!

Der im Herzen todwunde Guy wird von der Qual seiner Leidenschaft umhergehetzt wie das von Hunden verfolgte Wild. Der Blutdunst des Krieges kann den Schmerz nicht betäuben, der in ihm wühlt. Seine Seele schreit nach dem ungetreuen Weibe. Er geht zu einem greisen Rabbiner, der weithin im Lande seiner Weisheit wegen bekannt ist. Er will die Seele des Weibes ent­ schleiert wissen, der Tigerin Weib will er in die Zähne

greifen. Bei dem Rabbis dessen Zimmer von phan­ tastisch wirrem Jaubertande erfüllt tft, fragt der Mann

mit Gier nach dem Wesen des Weibes, das ihn ver­ nichtet hat. Aus sturmerregter Seele hervor flattern

seine gierigen Worte wie schwarze Raben, die von Leichenfeldern kommen. Gib mir die Wahrheit über das Weib! Ich will es wissen! Und so schildert er die schlan­ gengleißende Santa: Es hat die Frau, die meine Treu' besessen, Um Gold und Perlen ihres Schwurs vergessen, Ob sie auch war die holdeste von allen, Ob mir auch galt ihr erstes Liebeslallen, Obwohl die Glut, die lodernd uns umflammt, Ein LiebeSfeuer, echt und gottentstammt. Ich sah zu früh, daß Weib und Liebe narrten... Nun sage mir: was sendet Gott ein Kind, Das durstig ist, in einen weiten Garten, Darin die Brunnen rings vergiftet sind?

Der alte Jude spricht nun tiefe Wahrheitsworte, die wohl öfter mit Ironie untermischt sind, sonst aber hart und grabend an die Wurzeln des Lebens rühren.

Er sagt es dem trostsuchenden Manne gerade heraus: „Dich foltert Selbstverachtung, denn du liebst noch jenes Weib, das dich verraten hat. Du liebst sie dennoch!"

Und eifrig antwortet Guy: „Ich liebe sie!" Und nun bricht der Seelenarzt in die bitter schweren Worte aus: ... Wohl, so laß ab vom Kampfe, Der aussichtslos. Nicht kämpft sein Lieben nieder Ein Menschenherz. Man ist nicht Herr im Haus. Und wie vermöchte wohl das Fünkchen Ehre,

Das Körnchen Mut, die Dosis Mannesstolz Den Kampf, die Liebeszuckung zu bezähmen, Der Menschheit Veitstanz? Gegen Tod und Liebe Gibt es kein Mittel. Nenn mir die Gewalt, Die mächtiger als das Weib? Denk an Judith Und Delila, denk an Herodias Und Helena! Noch keiner hat erschlossen Des Weibes Wesen.

Guy unterbricht die nun noch folgenden Auslassungen mit dem ungeduldigen Ausruf: „Iur Sache, Meister!"

Und weiter: ... An einem Sterbebette Stehst du als Arzt; gib deine Tropfen her, Die besten Tropfen: warum ist die Frau Urfalsch und treulos?

Wie leidenschaftlich hat der Dichter dieses Wort hinaus­ geschrien! Diese Frage, die schon jahrtausendelang die Menschheit bewegte, wird hier unerhört kühn formuliert, und es flammt in der Frage schon wie eine drohende,

gefährliche Antwort. Nie und nirgends hat Carolath seinen Pessimismus so hart und klirrend ausgesprochen.

Wie ein aufpeitschender Sturm der Sinnengier rast es hin durch diese Dichtung.

Die Unterjocherschritte des

Mannes dröhnen über Wege und Stege und blumen­

bunte Beete, achtlos, was an buntem Tande und an blitzender Schönheit dabei zertreten wird. Es geht hinweg über den Leib des Weibes, weil man zu der Seele des Weibes keine Tür finden kann. Und der Leib des Weibes,

der brutal enttäuscht, wird niedergetreten, und fiebernd

geht die Jagd der Menschheit weiter nach der Seele des

Weibes. Der Rabbi findet wundervolle Worte für die große Weisheit und Güte dessen, der das Weib so und nicht anders schaffen mußte: ... Wenn sein lechzend Roß Mit Wassern tränkt der kluge Beduine,

Wirft ins Gefäß er eine Handvoll Sand, Das Naß zu trüben. Allzu tiefer Trunk

Schadet dem Tiere. Sieh, dasselbe tat Der weise Schöpfer. In den klarsten Quell Der Lebenswüste tat er emsig Schlamm

Mit vollen Händen; in den schönen Leib, Den süßen, sinnbetörenden des Weibes

Goß er Gemeinheit. Ja, der Schöpfer ist

Ein guter Hirte: allzu tiefer Trunk Schadet dem Tiere...

Aber auf alle die weisheitsvollen Einwendungen des Rabbi, die zur Entsagung mahnen, hat Guy nichts als das eine rasend hinausgeschrieene: „Mich dürstet, dürstet!"

Und so stürmt er denn hinaus in die Nacht, mit der Gier nach Santa. Er bricht ein in das Schloß, wo sie an der Seite des alten Gatten ein innerlich leeres Prunkdasein führt. Mit wilden, gefährlichen Worten höhnt er die

Ungetreue, die ihm zuerst mit Lüge und dann mit blitzendem, herausforderndem Hohn antwortet. Bis in ihrem begehrenden, jugendheißen Leibe eine Flamme sich aufreißt, die in ihre Augen flackert und dem Jugend­ geliebten kündet: Es ist Zeit! Auf die Frage Guys:

Warum warst du untreu? hat das Weib, das von den

Schauern des Blutes geschüttelt wird, keine andere Ant­ wort als die alte, vielgegebene: Schüler, Schoenaich-Carolath.

Ich weiß es nicht! 4

Dieses Bekenntnis des rein animalischen Wesens greift der Mann auf und ruft nun dem Weibe entgegen: Santa, ich glaube dir und sprech' dich frei. Ich sprech' die Frau von jedem Fehle los, Weil Gott mit Stein ihr leuchtend Herz umschloß, Weil um das Licht, das in ihr loht, sein Neid Als Hülle schlug ein kaltes Marmorkleid, Damit die Menschheit vor der Tempelhalle In Staub gebückt Entsagungsworte lalle.

Die beiden Menschen reißen sich aneinander in schranken­ losem Genießen.

Aber souverän waltet die Dichterkraft

Carolaths. Die wildesten Schauer werden klar und golden übertönt von hohen Worten, die sich Stärke und Schön­ heit an den großen, ewigen Quellen der Menschheit ge­ trunken haben. Es ist überhaupt das einzige Mal, daß

der Dichter die Sinnenstürme bis zur brutalen Sättigung schildert. Während bei anderen Dichtern derartige Schil­

derungen zumeist Selbstzweck sind, ist diese grellrote Glut

durch eine leidenschaftliche Angst vor der brutalen Lüge

des Genießens am Weibe so abgedämpft, daß kein un­ reiner Gedanke aufkommen kann. Der wuchtig wie in

Erz schreitende Pessimismus ist konsequent zu Ende ge­

dacht. Der Dichter bringt hier Bilder, die mit lapidarer

Anschauungsgewalt geschaut und gestaltet sind: ... Es war Morgenzeit, Um ihren Mund, den schönen, vielgeküßten, Lag stumpfes Lächeln satter Seligkeit. Sein Haupt, drin der Begierde Sturm verbraust, Sah trotzig-fahl; es ruhte seine Faust, Im Schlaf geballt, auf ihren heißen Brüsten.

So läßt der Löwe wohl, den in Gedanken

Der Schlaf befiel an einer Beutestelle, Schwergriffig liegen seine mächtigen Pranken

Auf der erwürgten, röchelnden Gazelle. —

. -. Meiner Seele Schwingen Lähmt Ekel, stöhnte Guy, es bricht mein Herz Vor schalem Abscheu: nun, da Stillung hätte

Der wilde Wunsch, verlor ich meinen Schmerz, Das Diadem.

(Santa/ deren vom satten Überdruß des Mannes be­ leidigter Leib sich jah aus den Kissen hebt, wird zur erhabenen Priesterin: In jeder Frau liegt der tiefsüße Zug, Der unbeschreibliche, ein ew'ges Sehnen

In uns zu wecken, daß wir aufwärts dehnen Iu Gott empor des Lebens Probeflug ... Heil dem, der Glück beim Weibe nie gefunden

Und aus der Tiefe dafür segnen mag.

Das ewig Weibliche ist Schmerz ohn' Ende: Wer allsogroß, daß ohne Groll und Spott

Er schweigend sich von Erdensonnen wende,

Steht freilich einsam da — doch eins mit Gott. —

Und große Schmerzen müssen heilig sein. Unselig, wer das Saisbild von Stein

Nach einer Seele ungestüm befrägt, Nach Lust schreit — und die schöne Form zerschlägt.

Ihm wird aus Trümmern, aus verstreuten, grauen, Die leere Nacht lichtlos entgegenschauen.

Ein Todesgrauen überfröstelt Guy an der Seite der schönen Sphinr, die er auf ihre Nichtigkeit hin geprüft

hat. Da das Weib, nach dem alles in ihm sich verzehrte,

ein Nichts ist, so ist auch die Welt nichts, und so ist auch 4*

sein Leben nicht den Hauch wert, mit dem man melan­ cholische Lieder aus einer Flöte weckt. Empört vor Ekel und Selbstverachtung, streicht er sich aus dem Buche des Lebens aus. So ist hier der Pessimismus unerbittlich

bis ans Ende der Dinge geschritten.

Guy endet so:

Zur Seite warf er Santas Haar, das blonde, Und führte tastend, ohne Laut noch Wort, Den Dolch ins Herz; so senkt sich eine Sonde Langsam und still in einen leeren Ort.

Es stürmt eine herrliche Leidenschaft durch diese Dich­ tung, eine inbrünstig suchende Wahrheitsgewalt. Das Stück ist eine der grandiosesten Beichten in der deutschen Literatur. Das Weib war die Feindin des Mannes, die sinnen­

gierige, seelenlose Feindin. Erlösung gab es nicht, als das türenzerbrechende Gelüst und nach brutaler Sätti­

gung das folternde Ungenügen und das wahnwitzige Hineinspringen in den Tod. Eine Skala zum Ver­ zweifeln. Da dichtete Carolath „Don Juans Tod". Er erlöste sich damit vom Weibe. Er hebt einen alten

Stoff kühn und schöpferisch in das pulsierende Leben und durchwirkt ihn mit unerhört neuen Gedanken. Die Dichtung ist ganz ausgereift, während „Die Sphinx"

noch von prachtvoll wilden Frühlingsstürmen durch­ braust ist. Zwischen dem Vollendungsjahr der „Sphinr" (1883) und dem Beginn der Arbeiten „Don Juans Tod"

(1890) liegt eine Reihe bedeutungsschwerer Jahre. Der Dichter hatte das Weib gefunden, das mit ihm die Wege ruhigen Friedens ging.

Sein einsam suchend Leben

wurde erdensicherer im Ausammenwandern mit einem Wesen, das so recht bestimmt war, diesen sehnsucht-

zerglühten Geist zu kühlen und zu stillen. Er hatte wohl kaum ein Organ für die Freude, sonst hätte er seinen

wunderbar

ausklingenden

Lebensspruch

doch

anders

formulieren müssen: Auf Wanderschaft von trüber Art Zwang auch ich durchs Leben

Ein büßend Herz, des Wahlspruch ward: Geben und vergeben.

„Don Juans Tod" ist ein überaus herrliches Ver­ söhnungsfest zwischen Mann und Weib. So voller Trunkenheiten, so voller Größe und Gewalt! Das Weib besiegt den Mann, den sturmrennenden und unersätt­ lichen, der nur ihren Leib besitzen will, mit ihrer Seele. Gegen das unreine, an der Erde hin qualmende Feuer seiner Sinnengier erhebt sich die Flamme ihrer Liebe und ihres großen mütterlichen Mitleids in freier, kühner Majestät. Hier erkämpft die Seele des Weibes einen

unsäglich feierlichen Sieg. Die Sprache, von zwingender Wucht und lebendigstem Leben, ist von klassischer Voll­

endung. Die Mythe von der Abstammung Don Juans

ist von einer derartigen Kühnheit und phantastisch­ zwingenden Gewalt, daß ich nichts anzuführen wüßte, was an nachgoethischer Poesie dem an die Seite zu stellen wäre. Diava, die Grusenfürstin — sie beherrscht ein paradiesisches Land im Kaukasus — sehnt sich nach dem Manne, der ihr im Traume erschienen ist. Frech

und schön — aber todbleich und mit so seltsam tiefen.

flammenversehrten Augen. Ihr Volk drängt, daß sie dem Lande einen König geben solle. Aber sie muß die ungestümen Mahner immer wieder vertrösten. Sie weiß nur von dem einen, nach dem ihr dunkles Auge brennt wie Lampen, „die durch Alabaster brennen". Da tost ein Tumult durch den Schloßhof. Ein Reiter ist mit rasendem Sprunge über die Brücke gesetzt, hat

die bestürzten Wachen überrannt und steht wie ein über­ höhter Mensch, der die Gesetze der Natur zerbrechen kann, vor Diava, die ihn mit dem wilden Ruf empfängt:

„Er ist es!" Don Juan, der spanische Tiger, hat von dem

Reiz der jungen Fürstin gehört und meldet sich so an, wie ein Raubtier in eine Hürde einbricht. Er ist da. Die Fürstin sucht in dem schönen Teufel eine Seele.

Aber sie sieht nur Gier und Sturm in ihm. Sie dringt in ihn mit eifervollen Worten, um sein Wesen und Tun zu ergründen. Er höhnt es ihr ins Gesicht, was er tun

und wollen muß: Im Lebenslenz, in Lebensungewittern,

Ob Sonnen stächen, ob mich Sturm umnachtet,

Ist eines nur, danach mein Wesen trachtet In ew'gem Durst, in Büngnis und in Zittern,

Ein Crdenziel erkenn' ich nur: das Weib — Am Weibe nur ein Göttliches: den Leib.

Diava fragt ihn erstaunt, ob er nie der Mutter Liebes­ hände kühlend auf seiner Stirn gefühlt hätte und ob er nie ein Weib „süß und groß" geliebt habe. Aber nichts hat ihr der glühende Gast am Lebensbacchanal darauf zu antworten, als: „Mich dürstet!" Da klafft die Türe

auf und die Vornehmen des Volkes kommen, um dem frechen

Eindringling

das Todesurteil zu verkünden.

Diava erhebt fidj, die Stirn von Glück und Hochsinn bekrönt und im Auge eine leuchtende Liebeswelt, und kündet, daß sie den Fremdling, ihr seit langem bekannt,

zum Fürsten und Gemahl erhebe. Ein Jubelsturm durch­ braust die draußen harrende Menge. Aber Don Juan wirft der hochherzigen Fürstin flammende Hohnworte ins Gesicht. Er will lieber den Tod, als sich von der Ehe

Eisengattern langsam die Brust zerstechen zu lassen. Nun kann nichts seinen Tod mehr hemmen. Selbst die be­

schwörenden Bitten der Fürstin nicht, die mit ihm, dem Geliebten, tausend schmähliche Tode mitstirbt. Da sie sieht, daß ihn nichts retten kann, bittet sie, daß sie diese letzte Nacht allein mit ihm bleiben dürfe. Es wird ihr

gewährt. In einer prächtigen Kirchenhalle will das Weib mit ihm um seine Seele ringen. Dieser Teil der Dichtung

ist von einer so monumentalen Größe und so unerhört neu und kühn, daß ich den ganzen Teil hier folgen lasse,

weil nichts geeigneter ist, Carolaths große Dichterkraft zu zeigen: Wie sinnbetörend deine Lippe brennt, Süße Diava, sprach mit heißem Schimmern Der Tigeraugen Don Juan entzückt. Doch sie, zur Stirn die Hände wild gedrückt: Laß ab, erbarm dich! Hörst du nichts? Sie zimmern Bei Fackelschein im Burghof dein Schafott! Eh' dich der Tod von meiner Seite reißt, Enthülle mir, beim dreimal heil'gen Gott, Wes deine Herkunft und wes Art du seist ...

Don Juan stieß der Kirchenfenster Flügel Wildblickend auf. Die Nacht war schwarz und heiß, Ein Wetter stand am fernen Kamm der Hügel, Die Steppe lag blitzüberflackert, weiß. Die Bäume murrten bange, schwül durchhaucht, Am Himmel schimmerten verstötte Sterne. Zuweilen hob sich Südwind in der Ferne Gleich einem Tier, das klagend, zornig faucht. Der Burghof flammte; rötlich angeglLnzt Hob sich Gebälk aus Fackeln, pechbekränzt, Die Säge schrie, dumpf scholl der Bretter Dröhnen. Don Juan warf vom Fenster sich mit Stöhnen. Vernimm es denn, sprach Heisern Tones er, Cs zeugte mich in Qualen Ahasver. Irrend ohn' Rast durch Länder, unbekannte, Sah er ein Weib. Sie schritt im Sommerwind Am Rain der Felder, stolz, ein Götterkind; Staub zog am Weg, Gewittersonne brannte. Ihr Blondkopf sich auf edlem Nacken hob Gebräunt und herrisch, ihren Mund, den roten, Ihr starkes Haar, geschürzt zu straffem Knoten, Des Spätnachmittags Flimmergold umstob. Dies fremde Weib, gleich einer Königin Lüftend den Staub mit leichten Goldsandalen, Trug göttlich Zeichen auf der Stirn, der schmalen, Venus war es, die holde Lesbierin. Von Christenzorn aus ihrem Reich vertrieben, War ihr kein Heim, kein Tempeldach geblieben. Nun schritt sie hin, verstoßen, sorgenschwer, In Götteraugen unerfüllte Träume, Im Haar den feinen frischen Ambrahauch Attischer Luft und weißer Meeresschäume. Öd war der Weg, die Heide heiß und leer. Und plötzlich hob, am Weg, aus Schutt und Sttauch Sich Ahasver. Er sprach: Ich möchte ruhn,

57 Mich einmal noch am Weibe gütlich tun, Dom Fluch gehetzt in allen Erdenwinden Mag ich vielleicht am Herzen einer Frau Erbarmen, Labung, kurze Ruhe finden. So zwang der Bettler ungefüg' und rauh Mit wilder Lust die marmorkühlen Glieder Des weißen schlanken Götterleibes nieder Am Straßenrain auf einem Nesselbette. Kein Auge sah den jäh vollbrachten Raub, Don fern nur krochen, über Hügelländern, Gewitterwolken, schwere, violette, Mit dunstgeballten, gelbgezackten Rändern. Und als die Göttin aus Gestrüpp und Ranken Entsetzt sich hob, sah fernhin sie durch Staub Im Abendrot den Bettler weiter schwanken. Sie selbst, auf irrem Wanderzug, gebar, Als es die Zeit, ein starkes Zwillingspaar, Das ward von ihr, im Kampf mit Weh und Hassen, An eines Grabens braunem Rand verlassen. Ein Wandersmann, des Saumtier Waren trug, In Linnen mild die früh Verwaisten schlug, Und nahm sie mit sich für ein Gottvergelt. Bald zogen sie, zwei Herrscher, in die Welt. Das Priestertum der Lust, des Sangs, der Dirnen Schuf Don Juan, sein Zwillingsbruder Faust Als Fürst weltferner Hochgedanken haust In deutschen Herzen, deutschen Dichterstimen... Dies, Königin, ist meine Lebenssage.

Dann packt die Angst des Sterbens den Lebenssatan

Don Juan. Wie der Prinz von Homburg wimmert er vor den wirren, grausen Schatten, die über die Fenster­ brüstung steigen und ihm den Hals zuschnüren wollen.

Ein wundersam inbrünstiges Zwiegespräch zwischen dem

vom Sterben gerüttelten Manne und dem jungen Weibe, in dem das mütterliche Erbarmen aufsteht, fügt sich an. Dann aber funkelt wieder der Trotz in dem Manne auf. Lieber einem Tiger in den Rachen springen, als sich wehrlos von Schlangen umringeln lassen. Er zerbricht mit einem tobenden Faustschlage des Chorwerks Eichen­ truhe, reißt daraus die schweren Meßgewänder hervor und häuft alles aufeinander. Dann will er Feuer hinein­ schütten und so mit Diava ein Hochzeitsfest ohnegleichen halten: Ha, stöhnt er dumpf, zur Brautnacht welches Pfühl! Ins Schloß das Tor, kein Fremder soll uns stören, Der Südwind singt im Turm das Hochzeitsamt. Doch sie, bang forschend, zitternd, glutdurchflammt: Begehrst du mich, soll dir mein Leib gehören? Jetzt wäge wohl. Leib oder Seele. Sprich — Die Seele, rief er, denn ich liebe dich Und will dir folgen durch die Seligkeiten.

Hier ist der sittliche Höhepunkt der Dichtung. Ein Sieg, der von der hellen Sonne des Christentums über­ strahlt wird. Die Flamme in den Gewändern wütet auf, auf wildem Roß reitet der Sturm an, die Lohe rennt um die Burg und frißt die Burg und die Stadt. Der Dichter schließt mit dem wundervollen Wort: Wen Liebesmacht auf feurigem Gefährt, Auf Flammenspeichen rettet vom Gemeinen, Dem werden Sonnen der Vergebung scheinen Im Heimatland, des Frühling ewig währt.

Über die Gewalt dieser Dichtung kann wohl nur eine Stimme sein. Nach Goethe ist nichts Derartiges gemacht

worden. Hamerling hat in seinen, „Ahasver in Rom" auch ganz hinreißende Schönheiten, aber es fehlt ihm die sittliche Wucht, die erhabene Prophetengebärde Carolaths. An diese drei großen episch-lyrischen Gedichte schließt

sich „Judas in Gethsemane". völlig im Christentum begründet.

Diese Dichtung ist Die Fabel ist frei

erfunden und mit modernem Ideengehalte angefüllt. Die Sprache ist wundervoll ziseliert, gedankengesättigt und blutvoll. Christus ringt im Garten Gethsemane seinen Abschieds­

kampf. Die harten Nöte des Sterbens tasten an seine Seele, die von allem Licht verlassen scheint. Die ganze

Lebens- und Liebestätigkeit Jesu gleitet in raschen, be­ wegten Bildern an uns vorüber. Aber nichts bleibt, als schwere, peitschende Schauer des Todes. Da tritt

plötzlich Judas Jschariot vor Jesus. Mit wilden, zer­ schneidenden Worten zeigt er das unstillbare, nach Er­ lösung schreiende Lied der Welt: Der Menschheit Straße, die kein Glück erhellt, Die Pendelwandrung von Begier zum Leide.

Der Dichter legt dem rasenden Ankläger hier Worte in den Mund, die von Haß und Rache triefen. Carolath hat im Erbarmen und Mitleid eine wunderbare, nach Quellen grabende Tiefe, während sein Haß gegen das

Schlechte wie ein blanker, funkelnder Eisberg in die Luft steigt. Ich finde, daß er im Haß noch elementarer, noch mächtiger ist. Die Rede Judas', der Jesus ein starres Schweigen gegenüberstellt, schlägt wie mit Keulen

auf Blumenbeete. Es sind so Haßgischende Verse in der Dichtung, wie sie in der deutschen Literatur kaum stärker

gehört sein dürften. Nun du gesandt hast in der Menschen Mitte, Wo nur der Tod verbürgt und sicher haust, Den eignen Sohn, soll helfen meine Faust, Daß er den Riß mit seinem Blute kitte. Weil ich in ihm, in seines Mantels Falten Gott selbst zur Erde niederreißen kann, So will ich greifen ihn und klammernd halten, Daß Rache mir sein Martertod gewähre.

Durch den Sturm läuft nun der Verfluchte und schreit Bewaffnete

nach Knechten, daß sie Jesum bänden.

treten auf den Plan, und der, der Jesum um dreißig

Silberlinge verschachert hatte, schlich durch die Büsche zur Pforte. Jesus aber hat keine Entgegnung auf alles

das, auf die entsetzlichen Anklagen des Judas und auf seine Gefangennahme, als tiefes Schweigen: Doch Jesus schwieg, von seinem Auge brach Ein Leidensblick, es folgten in die Ferne Dem irrenden, verlornen Kinde nach Des Heilands dunkle, stille Augensterne.

Carolath drückt seinem Stoff einen durchaus christlichen Stempel auf. An dem Werke entzücken uns die Neuheit

der Ideen und die Kraft und Schönheit der Ausführung.

*

*

*

Wir treten jetzt an die kleineren Stücke, die teils der Gedanken-, teils der reinen Stimmungslyrik zuzurechnen

sind. Gleich das erste Stück des zweiten Bandes „Re-

qutem" ist sehr stark.

Die Sprache, von Platenscher

Struktur, wälzt gigantische Gedankenblöcke. Vielleicht die Überfracht der Gedanken schreckt naive Leser nicht

selten hinweg von all diesen Kostbarkeiten. Die Gedichte setzen viel voraus. Wer aber in ihre Schönheit hinein­ zutauchen vermag, der wird köstlich belohnt. Das deutsche Volk muß sich zu diesem Dichter noch hinaufleben. Ich will in der Folge auf die Gedichte Hinweisen, die auf mich immer wieder mit neuem Zauber wirken. So „Albumblatt": Hab nicht zu lieb die knospende Rose: Cs flöge gar bald Ohn' Heimat und Halt

Ihr Duft dir vorüber ins Uferlose.

Unsterblich ist Schmerz allein. Was nie du besessen, Ersehnt, nie vergessen,

Wird deines Himmels Grundbau sein.

Manch einer, der mein Büchlein liest, auf dessen

Blätter ich weiter nichts hinschreiben möchte als treue Liebe und innigtiefe Dankbarkeit für den Dichter, wird

bedauernd eine geistreiche Stellungnahme zu den Werken

Carolaths vermissen. Auch das Geschnatter der kriti­ schen Hackemaschine wird wahrscheinlich bitter vermißt werden. Ich bin durchaus nicht blind gegen Carolaths

dichterische Fehler, aber ich will nur im edelsten Sinne werben für das Reich dieses Hohen, das nicht von dieser Welt ist. Wenn ich nur einige herzubringe zu der Ge­ meinde derer, die mit ihm wandern gehen, in Sehnsucht

zur Schönheit, so ist meine Aufgabe erfüllt.

Solche, wie sie der Dichter mit folgenden Versen kennzeichnet: Ein tiefes Leuchten zuckt im Edelstein.

So bricht aus Herzen, die von edlem Stamme, Rastlos der Liebe gottgeborne Flamme,

Der finstern Welt ihr Strahlengut zu leihn.

In seinem „Aus alter Zeit" findet er wundervolle Worte für die Herrlichkeit deutscher Märchen. Wenn ich an Carolath und zusammen mit ihm an unser großes

Deutschland denke, so überkommt mich eine heiße Freude. Wer hat wie er immer und immer wieder mit so herr­

lichen

Worten

von

seinem Deutschland geredet,

so

spornend, blitzend und hoffnungsherrlich! In dem eben

bezeichneten Gedicht sagt er: Gesegnet seist du, Liederpracht,

Du tiefe, du deutsche, du holde, Du Schah, der unserm Volke lacht

In unvergänglichem Golde,

Dich werden hüten und lassen nicht Die Herzen von deutschem Schlage,

Auf daß ihr Leben bei ernster Pflicht Stets lachende Rosen trage ...

Gleich füge ich hier an den „Gruß an Deutschland", den er um die Jahrhundertwende dichtete. Die schönsten Verse daraus sollen hier wiedergegeben sein: Mein Deutschland, du bist stark und groß,

Und doch ist eigen deinen Söhnen

Ein weicher Kern, ein Sehnsuchtslos Nach allem Fernen, allem Schönen...

Im schwarzen Schachte gleißt das Erz,

Der Hammer dröhnt, die Funken springen,

Doch heimlich hört das deutsche Herz Im Hörselberg die Geigen klingen;

Vom Zug der Esse scharf umbraust, Der Meister läßt kein Säumen merken,

Doch immer lebt als Sohn des Faust Er über seinen Crdenwerken. ... Heil unserm Volke, das mit Wucht

Die Scholle pflügt, der wir entstammen, Und dennoch Lebensgipfel sucht,

Drauf ew'ge Wachefeuer flammen. O Deutschland, was dich herrlich macht, Sind deines Herzens starke Triebe

Zu Dichtung, Frauen, Liederpracht;

Dein bestes Teil ist deine Liebe. Und wie um troh'ger Eichen Schaft

Sich wilde Rosen blühend ranken, So schlingt um deutsche Reckenkraft

Die Schönheit ihre Lenzgedanken.

Die deutsche Mannestreue hoch! Wohl hat sie herrlich Gut erkoren,

Doch höher steht ihr, heiliger noch

Das Vaterland, dem sie geboren ... Solang' noch unsre Wange brennt Beim holden Gruße schöner Frauen,

Solang' man Arbeit heilig nennt Und Treue gilt in deutschen Gauen,

Solang' vom Wasgau bis zum Belt Wir treu zu Gott und Kaiser halten,

So lang' wird keine Macht der Welt Der deutschen Marken Grundwert spalten.

Des hohen Erbteils walte frei, Mein Volk, daß deinem Schwert, dem scharfen, Geeint des Friedens Pflugschar sei, Und Liederfrühling deinen Harfen; Ein tiefes Lied, ein heller Schlag Und ein Gebet, voran den beiden — So darfst du, grüßend neuen Tag, Dom stürzenden Jahrhundert scheiden.

Wie wunderbar von

Abendfeier gesättigt ist sein

„Abendlied". Eichendorffsches Klingen und Sprießen und Goethescher Gedankenadel einen sich fjier, ohne daß

irgend eins dieser Vorbilder wegeweisend gewesen wäre.

Auch die klare, sinnenfällige Schlichtheit des alten Wands­ becker Boten liegt über diesem dichterischen Gebilde, das zugleich einen kühn gezimmerten Rhythmus aufweist. In den Schlußstrophen liegt mächtige Gebetskraft: Ach, Herr, nimm hin mein Lebensgut, Zerbrich mir Ehre, Stolz und Mut, Doch neig dich meinem Bangen, Vergönne, daß mein letzter Schrei Ein „Dennoch, Herr, dir glaub' ich" sei; Mehr will ich nicht verlangen. Komm, Hirt, allew'ger, führe du Dein Kind der großen Heimat zu, Durch Kreuz und Sterbestunden; Halt über allen Sündern Wacht, Bis sie sich dir zurückgebracht Und selig heimgefunden.

Ich weiß, daß des Prinzen hoher Wunsch war, dem deutschen Volke, das er mehr liebte, als je einer ahnt,

kräftige neue Gebete zu geben, aus denen sich Stärke

Handschrift des

ritt des Prinzen.

in zerbrechende Seelen beten ließ. Sind die eben wieder­ gegebenen Verse nicht erhaben, schlicht und gewaltig, nicht des Tröstens und geweihter Fülle voll? Je mehr Carolath reift, um so kühner und vor allem bestimmter formuliert er seine Gedanken, um so hin­ gegebener arbeitet er an seiner Sprache, die klassisches Gepräge trägt. Vor allem aber wird sein Rhythmus mit den Jahren immer sieghafter und souveräner. Im

Rhythmus ist Carolath genial. Er schafft selbstverständlich, er ist gesetzgeberisch. Die kurzen, wie absplitternden Schlußverse haben sehr starke rhythmische Wirkung. Das Gedicht „Letzter Sonnentag" bricht, nachdem es bis dahin ordnungsgemäß gebaut ist, so ab: Dein müdes Haupt neig meinem zu, Im fröstelnden Sonnenschein An meiner Brust in tiefer Ruh' Schlaf ein.

Als wäre der letzte Vers plötzlich zerbrochen, ab­ geköpft, wie wohl die Mutter im Singen plötzlich inne­ hält, wenn sie merkt: das Kind ist schon von Träumen

umgaukelt, ist eingeschlummert und atmet friedevoll und tief.

Ich füge wahllos die Gedichte hier an, ganz gleich, welcher Art sie sind, wie sie mir beim Durchblättern der Bände kommen. Da ist das „Spielmannslied", das

in volksliedartiger Schlichtheit von drei Rosen und drei Küssen redet, die die Liebste dem hinauswandernden Burschen gibt. Die Schwüre von Lieb' und ewiger Treue,

die sie obenein gibt, verblassen aber sehr schnell. Die Schüler, Schoenaich-Earolath.

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Liebste wird an einen reichen Mann verfreit und der arme Bursche wird ein Spielmann, Der fiedeln geht, bald ernst, bald heiter, Don Tür zu Tür, von Land zu Land.

Dasselbe Thema von verratener Liebe zugunsten eines reichen Dritten durchzieht in den mannigfachsten Abwandlungen den Kreis der Carolathschen Dichtungen. So „Böse Heimkehr", „Lied des Gefangenen", „Dom Scheiden". Einige Strophen aus der zuletzt­ genannten: Wenn dir ein Mägdlein recht gefällt Und sie nimmt einen andern, Dann heißt es, in die weite Welt Zu wandern.

Dann führt der Dichter an, was man alles draußen in der Welt tun könne, um das süße, marternde Ge­ dächtnis der Ungetreuen aus der Seele zu löschen. Es wird gewüstet, gezecht, es geht hinein in Gefahren und Schlachten, alles kann nicht helfen und heilen. Das Ge­ dicht schließt: Wenn dir ein Mägdlein recht gefällt Und sie nimmt einen andern, Dann ist's am besten, aus der Welt Zu wandern.

Hier könnten noch viele Gedichte Platz finden, die alle von auffälliger Schönheit und Starke sind. Ich füge eins an, das auf mich stets einen sehr starken Eindruck machte, das, wie man sagt, meine Jugendliebe war und

von unverlöschlichem Zauber für mich ist. Es ist eine kurze, schluchzende Geschichte, gefüllt mit allen Feuern und allen Tränen zweier Menschenherzen. Sie nennt

sich „Künstlerroman". Als tot auf schlechtem Gasthofbette lag Sein junges Weib bei Unschlittkerzenflammen, Da schob Papier, verstreutes, er zusammen, Und schrieb darauf bis an den grauen Tag. Es ward an Inhalt und an süßem Schalle Ein also großes ewiges Gedicht, Daß die Genossen es verstanden nicht — Und schweigend wichen, tiefergriffen alle. Er aber blieb allein mit einem Sarg, Darin begrub er seine Jugendliebe, Und jenes Buch, das ew'gen Ruhm verbarg, Und das kein Denker leichthin nach ihm schriebe, Er schob es unters fahle Goldgelock Als Ruhekissen für die schöne Tote Und riß sich aus den Hecken einen Stock Und schritt hinaus ins Morgenlicht, das rote.

Dann, im Weiterblättern, stoße ich auf das wundervoll

edle, sinnige und innige „O Deutschland", das dem

ewigen Bestände der deutschen Lyrik eingereiht ist: Mondschein und Giebeldächer In einer deutschen Stadt — Ich weiß nicht, warum der Anblick Mich stets ergriffen hat. Dort drüben beim Lampenscheine Ein Jüngling starrt ins Licht, Und schwärmt und schluchzt und empfindet Sein erstes und bestes Gedicht.

Dort sitzt eine junge Mutter,

Die wiegt ihr Kind zur Ruh', Sie lächelt und sinnt und betet

Und singt ein Lied dazu.

Cs blickt auf die mondhellen Giebel Tiefsinnend ein Greis hinaus,

Er hält in der Hand die Bibel,

Drin liegt ein welker Sttauß. Die Bäume rauschen, es funkeln

Die Sterne ab und zu;

Dort unten liegen die dunkeln Häuser in tiefet Ruh'.

Es plätschert in alter Weise

Am Simonsplatze der Born, Von weitem tutet leise Der Wächter in sein Horn...

O Deutschland, mir tat's gefallen In manchem fremden Land,

Dir aber hat Gott vor allen Das beste Teil erkannt.

Du lebst und schwebst und dämmerst In tiefer Seelenruh',

Wenn du dein Eisen hämmerst,

Erklingt ein Lied dazu.

O lasse dir niemals rauben Die alte Schwärmerei Für Frauen, Freiheit und Glauben —

Bleib unentwegt dabei! Daß du vom Born der Sage Mögst schöpfen Frömmigkeit

Und Kraft zu wuchtigem Schlage Nun und in Ewigkeit!

An die Herrlichkeit dieses Liedes reicht kaum etwas anderes heran, was das gleiche Thema behandelt. Der deutsche Geist blüht und blitzt uns hier entgegen und

deutsches Wesen feiert seine tiefergriffenen Feste. Weiter komme ich zu einem Liebesliede, „Letzter Tanz". Eine brausende Leidenschaft schreitet in den Rhythmen dieses Gedichtes, das ich für eine der bedeutendsten

Hervorbringungen der nachgoethischen Lyrik halte. Eine

unendliche Erhabenheit liegt hier in Wort und Gedanke. Aus dem Aufälligen herausgehoben, wächst das Gedicht in riesige, einsame Höhen des Allgemein-Menschlichen hinauf. Dergleichen gelingt selbst großen Dichtern nur in „Sonntagsstunden". Wohl keins der Carolathschen

Gedichte dieser Gattung ist von gleicher Vollendung. Das Gedicht hat alles: äußerst spannenden Vorgang, emi­ nente Stimmung, geniale Steigerung und hinreißende Wort- und Verskraft. Ich habe es von Leuten gehört, die

durchaus literarisches Urteil haben, daß sie dieses Gedicht für das Vollendetste erklären, was Carolath je geschaffen hat. Und doch liegt's zeitlich so weit zurück. Aber es atmet den stürmischen Schwung der Jugend, ist von

heißestem Atem und wie in einem Auge hingeschrieben. Wohl alle Anthologien haben sich seiner bemächtigt. Es

soll hier folgen für Leser, die es noch nicht kennen: Es glüht im Fieber das graue Haus, Lichtstreifen fallen breit hinaus

Auf sommertrübe Gassen; Es flammt der Saal von Kerzen ganz,

Und wir beide tanzen den letzten Tanz,

CH' wir uns müssen lassen.

Ich bin gezogen von Meer zu Meer,

Und als ich heimkam, die Taschen schwer, Warst du die Braut eines andern; Die Spatzen riefen's von jedem Dach,

Die Basen zischten und sprachen's nach:

Das kommt vom Wandern, vom Wandern. Wir tanzen, als habe der Tod dich gepackt, Es fegt deine Schleppe spitzengezackt

In welken Orangenzweigen,

Schon geht der Zeiger auf Mitternacht,

Dein junger Gemahl, er sieht's und lacht — Es schluchzen so wild die Geigen...

Ich wollte, wir irrten im nordischen Land,

Von keinem geliebt, von keinem gekannt, Im Schneesturm über die Heide, Und daß du ruhtest unbewußt

In meinem Mantel, an meiner Brust, Und daß wir stürben beide.

Wohl noch weiter zurück als das eben angeführte liegt ein anderes Gedichts „Aus der Jugendzeit", das

volksliedartig ein Lied vom verlorenen Glück singt. Der Pessimismus, der aus diesem Liede aufflattert, wie der graue Vogel über der Heide, weiß von keiner Sonne und von keiner Erlösung. unendliche Heide,

ein

Grauer Himmel, weglose,

mattes, sehnsüchtiges

Flügel­

schlagen und kein Ziel und keine Heimat. Eine dunkle

Not kriecht über das Heidekraut. Der Dichter sieht den

Vogel flattern und ruft ihm zu: Waldvogel über der Heide,

Der klagend die Heimat mied,

Ich glaube, wir beide, wir beide Haben dasselbe Lied.

Der Dichter hört aus dem lang hinausgestoßenen, kläglichen Schreien des Vogels seine Klage um das ihm vom Nordsturm zerstoßene Nest. Aber er tröstet

den flügelschlagenden Gesellen: Tröste dich mit mir, dem auch das zertrümmert wurde, was er so fest wähnte. Was er hielt und ewig zu halten glaubte, das ist ihm weg­ gerissen worden. Wir beide haben eine Heimat und in ihr

das Köstlichste verloren, was wir hatten. Die Heimat ist dahin, jetzt heißt es. Neues zu suchen. Verzweiflungsvoll redet der Dichter weiter mit dem grauen Unheilsgefährten:

Mr Das Und Und

wollen zusammen singen Lied vom verlornen Glück, wollen uns weiter schwingen nimmer kehren zurück.

Dieses Gedicht stammt aus Carolaths frühester Samm­ lung „Lieder an eine Verlorene" (1878). Ein un­

gestümer Schmerz redet aus den Versen. Der Schmerz um die Verlorene seiner Jugend konnte in ihm nicht zur Ruhe kommen. Byron und Heine waren damals die Leitsterne des jungen Poeten mit der stürmischen Hin­ gerissenheit der Seele. Der Gedankenbann der beiden

Ragenden im Lande der Poesie war unverkennbar, aber die eigenen Töne klingen schon durch. Der Zyklus „Westwärts" enthält leidenschaftlich be­ lebte Gedichte, die einen schönen Beweis für die starke

Phantasie und Vergegenwärtigungskraft Carolaths geben. Der Dichter war nie in Amerika, obwohl man es nach diesen Gedichten annehmen müßte. Wie Schiller seinen Teil schuf, ohne je die Schweiz gesehen zu haben, so

hat Carolath die amerikanische Landschaft und den Odem

der Dinge gefühlt und erfaßt. Für sehr stark halte ich das Gedicht „Sulamith", das den Gedanken des Er­

barmens wundervoll herausspinnt. Der Stoff ist höchst eigenartig. Satan, auf seinem Wanderwege über die

Erde, rastet auf einem Felsen im Judäerlande. Ole­ anderbäume umblühen ihn. Um den Felsen brandet das Meer. Den weißen Ufersand überrieseln wie at­ mend in Träumen ringelnde Schaumblitze.

Es war

um die Osterzeit. Scharen von Pilgern zogen die Straße. Der Klang der Glocken und die inbrünstigen Pilger­ lieder flössen in eins.

Da plötzlich, „wo die Straße

scharf sich wendet, stockte der Festzug". ... Quer im Wege lag Erschöpft ein Bettler. Hingestreckt im Sand, Rief jammernd er: Laßt mich nicht Durstes sterben, Erbarmt euch meiner, reicht den Wasserschlauch Um Jesu willen. Zitternd schleppte sich Der Greis, kniefällig, mit gerungnen Händen Hin zu den Priestern. Die doch riefen laut: Auf nach Jerusalem! Den Kleidersaum Aufschürzten sie, des Bettlers hagern Leib Hochüberschreitend.

Satan lachte. Aus seinen Augen „brach ein Blitz wilden Triumphes, sein Lachen war so satt von Hohn, satt von Verachtung". Ein einziger großer Jubelschrei

kam von seinen Lippen: Welt, du bist mein! Der Bettler lag hinsterbend auf dem Wege. Da kam ein Maronitenweib daher, arm, auf dem Kopfe trug sie eine Last

Brennholz und im Arme ein schlafendes Kind.

Da sah am Grabenrand Den Greis sie liegen. Ihre Bürde tat Sie von der Schulter, kniend sank sie hin Und nahm das Haupt des Kranken in den Schoß. Der Bettler sprach: Hilf, ich verdurste, Weib. Und rings kein Quell! ... Da überlief ein Rot, Ein tiefes Rot des Weibes schöne Züge, Erbebend löste, sacht, sie das Gewand Und bettete das wüste Greisenhaupt An ihre keusche, sanft geschwellte Brust. So blieb sie lang. Dann endlich griff zum Stabe, Gestärkt, der Bettler. Abgewandt und stumm Wies sie den Weg ihm, und er taumelte Hin an den Hecken. Sie doch wandte sich Zu ihrem Kind und weinte.

Das ist mehr als Barmherzigkeit.

Und es ist wohl

Carolaths schönster Dichter- und Lebenskranz, daß er mit so erhabener Leidenschaft für die Gebückten und

Gedrückten eintrat.

Zu welcher Höhe hatte sich sein

Menschentum hinaufgehoben! Er war ein Erfüller der

Lehre vom Mitleid zu denen, die unserer Hilfe bedürfen. Das Maronitenweib überwindet das schamhaftigste Weibtum und tränkt den Greis, einen fremden Mann,

an ihren Brüsten und errettet ihn so vor dem Ver­ Diese Szene könnte wohl einen großen Maler verlocken, all den Herrlichkeiten, die in diesem

schmachten.

Stoff liegen, nachzugehen. Satan, der vorher so höhnend frohlockt hatte, sah diesen Vorgang, der sein Siegertum in Scherben schlug, wie man ein Glas in Scherben schlägt, worin Gifttropfen aufbewahrt wurden. Satan sah es und schwieg still vor Grauen und Angst um sein Reich.

Doch Satan blickte regungslos ihr nach Aus götterleeren, abgrundtiefen Augen. Ich komme jetzt zu dem Zyklus „Hans Habenichts". Hier steht das unumwundenste Selbstbekenntnis, das

Carolath hinterlassen hat. Er ist der stürmische Held Hans Habenichts, der sein blondes Edelkind zurücklassen muß, mit dem er „süßheimliche Liebe" gehabt. Er

scheidet mit ahnender Angst im Herzen, weil „der Kauf­ herr gern Edelblut" freit und weil er der Ritter ist,

der nicht Hab und Gut zu bieten hat. Er geht in die Welt und ihm bleiben drei Dinge, auf die er seine Zu­

kunft baut: das im kargen Vaterhause geglühte Schwert,

das die Armen und Unbeschützten schützen soll, sein Vaterland, das Deutsche Reich, dem er Leib und Blut verschreibt, und der starke Fels seiner Liebe, an dem alles zerschellt, was bedrohlich anschäumt. So ist sein ein

schönster Reichtum und eine schimmernde Rüstung. Aber was er ahnte, geschieht: Sein blondes Lieb wird verkuppelt an einen der reichen Ratsgesellen. „Sie hob den Zunft­ pokal zum Mund — Fahr wohl, mein Vielgetreuer." Das Lied ist aus. Vorher, in seiner ahnenden Verzagtheit um sein Lieb, das von lockendem Reichtum umgirrt wird, singt er das wundervolle Lied von den Frauen, die ein

Ringlein aus früh zersprungenem Golde int Herzen haben.

Dies „Frageliedlein" zerquält ihm den Sinn, immer wieder muß er's singen, und immer wieder muß er fragen: Was müssen Frauen auf Erdenplan, Und seien sie noch so holde, Im Herzen ein heimlich Ringlein han, Ein Ringlein von falschem Golde?

Die Liebste ist verloren. Hans Habenichts betet mit glühenden Worten Rache vom Himmel hernieder: Schicksal, daran mein Glück verbraust, Leg mir ein Schwert in die Bettlerfaust. Gib mir, statt Weib und Kind, zum Lehn Alle, die herdlos und einsam stehn. Wirf mir das hungernde Herz in den Sand, Rette mein stürzendes Vaterland... Heilige Jungfrau, durch Schmach und Spott Hilf uns zur Rache, hilf uns zu Gott.

Er schickt sich an zum Rachewerke an dem tiefverhaßten Krämervolke. Mir nahmen die Reichen das letzte Gedeihn, Das einzige Schäflein vom Bache, Nun leg' ich das gleißende Schlachtschwert ein Für der Enterbten Sache. Bald reit' ich, ein Rächer, ins Land hinaus, Vor Heeressäulen jagend, Gestorbener Liebe schwarzen Strauß Am raubenden Schilde ttagend.

Hans Habenichts, dessen Schwert in einem Kriege um das große heilige Deutsche Reich immer voran ist, wird zum Ritter geschlagen. Die Rache laßt ihn aber nicht schlafen.

Er sammelt einen Haufen Kriegsvolk

und nimmt, als der Rat eben zecht, mit stürmender Hand die Stadt, darin sein treuloses Lieb zu finden ist. Ein wüstes Rauben und Morden gellt durch die Stadt.

Der Rächer sucht sein Lieb, das Ratsherrnweib. Durch Würgewerk und Gassenbrand Reitet zum Rathaus Hans Fahrinsland,

Breit glänzt sein Schlachtschwert in der Faust, Bleich schaut er, daß dem Volk es graust. Dort knien, das Festgewand am Leib, Der Ratsherr und sein weinend Weib.

Aber er will weiter keine Rache nehmen. Die beiden sollen leben, weil das Weib den Mann schützt der in Todesscheu sich duckt. Er heißt die beiden weiterleben: Zieht hin im Strahl des ew'gen Lichts, Teilt Herz, teilt Gut der Armen, Und kommt der Tag des letzten Gerichts, Dann betet für Hans Habenichts, Des Gott sich mög' erbarmen.

Sich selbst gibt er folgenden Wegweiser für das Leben,

das er nach der genommenen Rache als abgeschlossen erachtet: Ich habe Hoffart, hab' Verrat Gestraft mit Feuerruten; Nun hilf mir, Herr, zur letzten Tat, Laß mich als Büßer, als Soldat Fürs Deutsche Reich verbluten.

So geht er hin, hinein in ein funkelnd ritterlich Ster­ ben. Das Herrlichste an diesem Gedicht, das ohne straffes Zusammenfassen dahinstürzt wie ein Frühlingswasser,

ist der Traum des Hans Fahrinsland von einem Frie­ denskaiser. Das Bild, das er hier gibt, ist visionär ge­ schaut, mit verzauberndem Klang ergreift uns die herr­

liche Lockung: Dann über die Walstatt mög' reiten, gefaßt, Ein Kaiser, den still wir loben, Kein Krieger, von rotem Standartendamast Und Tubaruf umstoben,

Ein Friedenskaiser, sonnengroß An Demut und Erbarmen, Der mit Sankt Martins Mantelschoß Bedeckte die Not der Armen, Der segne den friedlichen Meilerbrand, Das Kornfeld, die wogenden Eichen, Der schreib« weit über sein herrliches Land Aufjubelnd des Kreuzes Zeichen —

Dann ist erfüllt der große Traum, Komm, heilige Sonnenwende; Ich hinge mein Schwert an den Eschenbaum, Mein Lied nähm' fröhliches Ende.

Der letzte Teil der Gedichte, Weihnacht 1903 seiner Frau gewidmet, enthält wahre Perlen lyrischer Kunst. Ich habe diese Gedichte sehr lieb. Sie offenbaren mir

immer wieder neue Schönheiten. Ein feierliches, großes Ahnen und eine erdeerlöste Weihe ist in ihnen, wie lebendiger Atem in einem Leibe. „Lenzfahrt" ist seherisch groß und peitscht wie mit Ruten. „März­

abend" ist voll tiefster Stimmungsgewalt. Ebenso „Über dem Moore". Das zuletztgenannte Gedicht ist

von erstaunlicher Schilderungskraft. Ein eigenwilliger,

zuckender Rhythmus trägt das sattfarbige Bild aus

der Marsch, das feierlich groß endet. Eines der wunder­ barsten Gedichte, die Carolath geschrieben hat, heißt „Uber dem Leben". Hier ist das menschlich Große,

das in Gott taucht, ganz ohne kirchlichen Zierat anö Licht gebracht. Ein feines, prächtiges Gedicht folgt: „Vermächtnis". Des Dichters Töchterlein, Prinzeß Elisabeth, hat einen leisen Strahl von der Dichtersonne

ihres Vaters aufgefangen. Der spinnt ein feines, klin­ gendes Gewebe goldener Faden. Das so ganz eigene

Gedicht sei hier teilweise angeführt: Komm, braune Laute, zierlich, schlank, Leg schlafen dich tief in den Schrank. Dereinst bricht Helle Sonnenflut Ins Dunkel, drin du lang geruht, Dann wisse, daß mein Töchterlein Dir aufgetan den alten Schrein ... Die Laute, Kind, leg still zurück; Dies Saitenspiel bringt Schmerz, nicht Glück. Den Fürsten scholl zu schrill sein Klang, Dem Volk zu hoch der Singesang, Den einen schien er golden, echt, Den andern schien er kupferschlecht, Und ob das Lied von Gott auch kam, Dem Sänger schuf es Erdengram. Die braune Laute, zierlich, schlank, Laß schlafen, Kind, in ihrem Schrank. Beginnt in deines Herzens Raum Ein Lied den Wandervogeltraum, So danke Gott, doch laß zum Licht Dein Lied, die Taube, fliegen nicht. Das Lied hat große Himmelseil', Doch jeder Taube harrt ein Pfeil; Sie hebt die Schwingen himmelan, Doch Herzblut haftet stets daran.

Dieses Gedicht ist zugleich eine sehr klare, mutige

Selbstbeichte. In der Tat schreckte der schrille Klang der Carolathschen Verse voller Jörn und Not um die

ans Kreuz geschlagene Menschheit wohl manchen auf, der hätte ändern und bessern können.

Ein überaus liebliches Friedensbild mitten im Kriege entrollt das Gedicht „Neben Gewittern". Iwei Heere im Vernichtungskampfe ringen vor Metz. Da

steht ein blonder Junge aus Ost- oder Westpreußen auf Posten. Er hat dafür zu sorgen, daß ein bestimmter Weg nicht überschritten wird. Ein französisches Mäd­ chen, noch halb ein Kind, sammelt ganz in der Nähe Beeren in einen Krug. Plötzlich schrie sie auf. Eine

Kupfernatter, die zusammengeringelt dalag, hatte sie gebissen. Der Soldat sah es, stürzte herzu, kniete nieder, sog das Gift aus und rettete so das Mädchen. Der Dichter

schließt das feine, mit seinen herben Gegensätzen äußerst

wirksame Stück mit den Worten: Ein Völkerkampf brach dort sich Bahn, Hier ward ein Liebeswerk getan,

Und welches der Werke größtes war, Macht einst das Jenseits offenbar.

Denn nur die Liebe kann erlösen Von Haß, von Krieg, vom Fluch des Bösen.

Das Liebesgedicht „Tiefblaue Veilchen" ist von tiefem Schmerz durchzittert. Es hat eine leidenschaft­

liche Belebtheit und ist von feinstem Stimmungszauber. Es handelt auch wieder von zwei jungen Menschen.

Das Mädchen, untreu, wankelhaft und von elterlichen Einflüssen bestürmt, nimmt „den andern, den reichen Mann". Dieses Thema behandelt Carolath mit nim­ mermüder Abwandelungsfähigkeit. Hier in diesem Ge­ dicht ist der Schluß besonders eindrucksvoll. „Der be­ trübte Landsknecht" eröffnet den wundervollen

Reigen der Carolathschen Landsknechtslieder, in denen er hinreißend originell, bildkräftig und von volkslied­

artiger Schlichtheit ist. In bangem Heimweh denkt ein Landsknecht seiner fernen Liebsten. Der Regen durch­ strömt das Land. Wie ein schwarzer Schleier liegt die Ahnung des nahen Todes aus seinem Herzen. Er will, um das geängstete Herz stille zu machen, ein Sträußchen Rosmarin darauf decken. Das haben zwei Hände, zwei schmale, Durchflochten mit schwarzem Band,

Drauf haben zum letzten Male Zwei Mädchenlippen gebrannt.

Von großem Glanze und hoher dichterischer An­ schauung ist das „Hugenottenlied". Es zeigt alle

Vorzüge Carolathscher Art in seltenstem Maße.

Mit

knappsten Worten macht es die Situation blitzschnell lebendig. Alle Vorgänge sind wie von buntem benga­

lischen Feuer überfunkelt. Hier ist das Gedicht: Der Staub bedeckt die Hügel, Antraben Heeresflügel, Bataille ward heut angesagt.

In großer Morgenkühle

Steht brennend eine Mühle; Ihr Funkenschopf zum Himmel ragt.

Cs rückt beim Trommelstreiche

Das Heer zum Scheldedeiche, Der Feind im Rottenfeuer steht; Der Brände Schwaden schmauchen,

Und durch den Wind ein Rauchen Verkohlter Ketzerknochen geht.

Handschrift des Prinzen.

Drei Sünden tun mich brennen, Die will ich frei bekennen, Sind Würfel, Wein, sind Weib genannt. Auf, Feldchoral, ertöne, Die Drachenbrut, o Herr, gewöhne, Zu fressen zahm aus deiner Hand. Am Brückenkopf der Schelde Ballt sich zuhauf im Felde Feindlich gesinnte Reiterei. Stückknecht, greif frisch zur Lunte Und triff ins Herz die bunte Hispanisch-römische Kumpanei.

Nun fällen wir die Speere, In unsre blanke Wehre Einlaufe Welscher und Papist. Heut lernen Knecht wie Fürsten, Daß es um Ruhm und Länderdürsten Ein böses Kegelschieben ist. Jetzt schmettern die Kartaunen, Im Stoße der Posaunen DerschlLng' uns gern der Fürst der Welt; Ein Dunstgewölk voll Panzerblitzen, Ein Wettersturm voll Pallaschspitzen An unsrer Lanzenfront zerschellt.

Die Seidenfahnen schweben, Gar vielen jungen Leben Ist bittres Sterben nah. Fahr, Welt, fahr, Gut, von hinnen, Herr Christ, hilf uns gewinnen Die Schlacht in Ehr' und Gloria.

Ebenso ist „Der Gernegroß" eine heißblütige, frische, schöne Dichtung. Ein lustiger Bursche, ein BruSchülcr, Schoenaich-Earolath. 6

der Tunichtgut, geht aufs Wandern.

Am Marienbilde

vorbei, „das segnen will mit sieben Schwertern im Herzen". Er klagt der wundertätigen Magd Gottes seine Not und daß er nun auf Abenteuer ginge. Er meint, daß ihn bald Landsknechtswind einfangen würde. Und dann käme die Schlacht heraufgeflackert.

Die

Trommeln rasen und rufen und die „Rottensalven

rollen".

Er weiß, daß im Sturm des Glückes heute

manch Krönlein wanken und niederfallen wird. „Möcht' eines mir fallen wollen", betet er voll abenteuernden Glücksdurstes.

Und weiter:

Ich bin ein armer Gernegroß, O Jungfrau, wirf geschwinde Ein blitzend Sternlein aus deinem Schoß, Daß ich groß Wegglück finde.

Maria aber, die Erdenfremde, versteht nichts von

solchem Glücksbegehren. Sie will die eigenwilligen Wege des jungen heißblütigen Menschen wieder zu andern Zielen wenden: Maria spricht im Sonnnenbrand: Bitt, daß am letzten Wege Der Heiland dermaleinst die Hand Aufs Haupt dir tröstend lege.

„Die Ketzertaufe" ist eine straffgeschürzte Ballade,

die äußerst glückliches Zeitkolorit trägt. Fanatischer Haß lodert in der Dichtung. In Prag ist's. Von der Moldau­ brücke wird ein junges „fürnehm Mägdlein" herabge­ stürzt, weil es nicht vor der Monstranz gekniet hat. Man

nannte das in jenen von Religionswirren zerquälten

Zeiten „die Ketzertaufe". Da bricht sich ein Ritter mit seinen Knappen ungestüm Bahn. Er sieht das Grause. Mit hartem Sporenstoß zwingt er sein Roß über die Brücke. Es springt. Ein Hufblih auf der Brüstung, Um Mann, um Roß und Rüstung Aufklatschend brach der Moldaustrom.

Dem Ritter gelingt das Retterwerk. Das starke Schlachtroß stampft und schwimmt. Mit dem blassen Mägdlein im Arme gewinnt er das Ufer, wo schon die Knappen seiner harren. Er führt das Kind auf sein

Schloß in Franken und macht es zu seinem Weibe. Das Gedicht schließt mit dem erhabenen Ausblick: Der Ritter schirmt sein Krönlein, Er hebt gar bald ein Söhnlein Dem greisen Roß zum Widerrist. Schwarz streicht der Haß durch Böhmen, Laß Kraft und Treue strömen Aufs Deutsche Reich, Herr Jesus Christ.

Auch das Gedicht „Der grübelnde Landsknecht" rechnet zu den vorzüglichsten Landsknechtsliedern. Sie

bilden eine ganz neue Art in der deutschen Lyrik. Carolath ist auf diesem Gebiete unbestrittener Meister. „Der

letzte Gang", ebenfalls zu dieser Gattung gehörend, ist von schwerblütiger Art und von bangen Todes­

schauern durchweht.

Ein Landsknecht ersticht im Zorn

seinen „Leutnant", der die Frauen höhnt, und muß dafür sterben. Er wird hinausgeführt.

Drei große Trommeljane Gehn vor umflorter Fahne; Das Volk die Schiebefenster lüpft, Will schauen, wie zur Schande Auf einem Haufen Sande Der Blondkopf mir vom Rumpfe schlüpft. Schon winken fromm und heiter Don goldner Jakobsleiter Mel Englein mir voll Zuversicht. Bitt, Kapuzinerpater, Für mich zum ew'gen Vater; Ein schlimmer Landsknecht war ich nicht.

Die

Landsknechtslieder soll das wundervoll stim­

mungsinnige „Der säumige Landsknecht" abschlie­

ßen. Es redet von Marschieren, von Staub und Müh­ sal des Weges. Das Herz des von Heimweh erdrückten Landsknechts ist weit ab von allem Heer- und Kriegs­

getümmel. Nur widerwillig marschiert er mit „auf Glück und Gnade". Das ergreifende Gedicht schließt mit den Worten: Mir lebt ein Lieb zu Hause, Dai weinte, wenn ich stürb'.

ES sollen nun noch einige besonders markante Ge­

dichte behandelt werden, um dann zu Carolaths Prosa­ werken überzugehen. Von tiefster Fülle der Gedanken

und großer geweihter Schlichtheit des Ausdrucks und

der Gestaltung ist „Valet". Der Dichter läßt hier sein Leben an sich vorübergehen. Alle Liebe ist ausgeliebt, alle Freunde sind verstoben, alle Pfade, die rosenum­

schlungen ins Land leuchteten, sind verstaubt.

Bald über den Feuerherden Von Lust und Lebensspiel Singt Sturm den Abschied auf Erden. Ach wieder ein Kind zu werden Ist tiefes heiliges Ziel.

Ich hab' einen schlichten Psalter, Voll leisem Lavendelduft, DaS ist ein Lebenserhalter; AuS ihm, troh Staub und trotz Alter Steigt Auferstehungsluft.

Das Bibelbuch ist ihm Heil und Hort, es „kennt nicht Zeit noch Tod". Eine große Hoffnung durchströmt den Dichter, der das Leben allezeit so grabesschwer nahm, die Hoffnung, daß der Tag bald gedeihen werde, wo auch sein Mund „Jubelmelodien singen lernt". Dieser Tag ist nun über ihn gekommen, rascher, als er's denken mochte.

Seine großgeahnte Erlösung zur Freude ist

vollendet. Ein gigantischer Gedankenpalast ist das Gedicht „Kraft und Sehnsucht". Tiefes Erbarmen mit den Schwachen durchläutet die Verse wie Glocken, die durch schwere, finsterste Nacht rufen und »ermatteten Wanderern gar lieblich von Herberg und Heimat reden. Zuerst wird der starke, robuste Arbeitsmensch vorgeführt, der mit Wucht und Lust das Eisen glüht und kernhafte Werte

schafft. Der hört „den Spruch mit Lachen: Ium Kehricht mit den Schwachen!"

Für diesen mit der Schwielen­

hand hat nur das Wert, was Erfolg hat. Sein gehal­ tenes Auge weiß nichts von den Kräften, die der Zeit

geheimnisvoll entrückt sind. Auf den berußten Arbeits-

mann, der nur im Augenblick wurzelt, redet der Dichter mit herrlicher Eindringlichkeit ein: Mein Freund, es gibt ein Lebensgrün,

Das wächst nicht bei der Esse Sprühn; Es walten über dem Arbeitstag.

Diel Kräfte, davon dir kaum träumen mag - - Es zog für deinen Lebenssieg

Vielleicht ein andrer in den Krieg, Ein andrer, der nicht wiederkam Und dessen Weib verstarb in Gram. Um deinen Hammer, der gleißt und vollbringt,

Ein feiner Lebenszugwind singt

Das leise mahnende Vermerken

Von fremden, zersprungenen Lebenswerken; Es halfen dir Siegendem zum Vollbrachten

Oft ftemde, verlorene Lebensschlachten,

Den Hammerkeil, den Eisenklopfer, Hebt nur des Holzscheits Funkenopfer; Es kann kein Werk durch Kraft bestehn,

Die Sehnsucht muß im Bunde gehn ...

Gilt nur die Kraft als Zukunftöwert Und sinken der Sehnsucht Flammen,

Bricht unrettbar am Arbeitsherd Das stärkste Volk zusammen.

Wie K. F. Meyers „Chor der Toten" zieht das Ge­ dicht weltferne Gleise. Erhabenster Schwung kreist um

das Geschaffene, das Ewige blitzt aus den tönernen Formen, die dahinsinken müssen, ohne dem gedient zu haben, wozu sie gebaut wurden. Manches Leben, das sich tastend durch schmerzliche Dämmerungen fragte, ist weiter nichts als ein scheuer Sehnsuchtsruf, der wie eines Wasservogels Schrei im Schilfe erstirbt.

Aber

zu einem Schrei reichte dies Leben dennoch aus. Und dieser Schrei wirbt und zeugt Kraft zum Schaffen. Der Dichter findet hier wunderbare Worte: Um uns nach Gottes Ratschluß ruht Des Unerfüllten Segensgut, Das Walten ist's des Ungebornen, Des Unerreichten, früh Verlornen... Es banden unsre goldnen Garben Getreue Helfer, die früh verstürben, Fern über den Strömen, darauf wir schwimmen, Diel bunte, zitternde Lichtlein glimmen. Das sind die sehnenden Heimatsgedanken Der Herzen, die früh im Strom ertranken... Um unsrer Kinder Haupt und Leben Beschirmend gute Geister schweben Von Menschen, die einst in fremden Landen Gestorben sind und das Glück nicht fanden. So nimmt an unsern Gütern teil Ein hütendes, ein fremdes Heil. Es eilt ein Glück, das sich verlor, Das unerfüllt, zu Gott empor, Und neugeboren steigt es nieder Ans Herz, im heiligen Kehrwieder. So schließt der Sehnsucht Strahlenschwinge Um Gott und uns die goldnen Ringe, Hoch über dem Leben sollst du hören Ein fernes Brausen von Engelchören.

Das ist Gewalt, das ist Sturm. Hier ist Carolath umgürtet mit dem Mantel des Propheten, der Gottes Mantel gestreift hat. Eine Erhabenheit, die bewußt bis ins Unfaßbare hinaufgesteigert ist. Es ist, als ob der Dichter sein Leben lang nach Gott und den göttlichen

Dingen gehungert und gedürstet hätte; als ob er ein Teil

aller Sehnsüchte wäre, die das Leben bis ins innerste Mark erfüllen. Abschied nehmen von dem Lyriker Carolath will ich

mit dem Gedicht „Trost", in dem die ganze Summe

der Liebe und Sehnsucht zusammengefaßt ist, die dem deutschen Volke in diesem Dichter gegeben war. Das Trauern gib auf Um verfehlten, verlorenen Lebenslauf, Es bleibt kein Suchen vergebens. Dereinst kommt Kraft; Das Wollen schafft Vollendung ewigen Lebens. Was sehnend erdacht, Ob nie vollbracht, Nicht sinkt es zum Unerfüllten. Im Marmorblock Schläft das Goldgelock Der Schönheit, der sacht verhüllten. Ein Meißelschlag, ein durchfieberter Tag Kann deinen Tempel bauen. Der Nebel weicht, Noch heut vielleicht Wirst Gott du schauen.

Der Lyriker Carolath hat dem deutschen Volke un­ endlich Herrliches gegeben.

kommen nun zu dem Erzähler Carolath. Es ist ein langer Weg, den seine Entwickelung hier durch­ messen mußte, um von den „Geschichten aus Moll" bis zur „Kiesgrube" zu kommen, die ich als eins der Meisterwerke deutscher Prosa bezeichne und dicht neben

Storm und Liliencron stelle. Die „Geschichten aus Moll" stellen zehn Novellen dar, die in den Jahren 1874—83

entstanden sind. Die Erzählung „Schön Lenchen" ver­ faßte er schon mit 22 Jahren, als er noch Kolmarer Offizier war. Die Erzählungen haben insgesamt leid­

volle Liebe als Grundakkord. Aber jede von ihnen zeigt eine neue Seite, eine Vertiefung, ein Wachsen und Erlösen. Ich halte die Erzählung „Die Rache ist in ein" für die stärkste. Hier ist eine Wucht von Lieben und Hassen, ein Sturm der Leidenschaften und eine

eisern zupackende Künstlerhand am Werke. Hier sind Menschen gezeichnet; die Leidenschaften sind ganz ohne jedes Bedenken hinausgeschrieen. Der Schauplatz dieser

Novelle ist ein geschlagenes, langsam zurückweichendes Heer, eine russische Armee. In der höchsten Gefahr war für sie ein neuer Heerführer vom Aaren gesandt,

den noch niemand kannte: General Graf Wassil Barinski. Er hatte sein Leben wie einen Sturm über sich hinbrausen lassen. Eine ungeheure Schuld lag hinter ihm. Er war über die Ehre seines Vetters Trekuroff

hinweggegangen wie ein rohes Tier über Blumenbeete. Ein Knabe war aus dem ehebrecherischen Begegnen zwischen Raissa, der Frau des genannten Vetters, und

Barinski hervorgegangen. Im Feldlager ging eben ein Kriegsrat zu Ende. Als das Zelt leer geworden, rückte Barinski, der Ober­ befehlshaber, den Sessel ans Feuer und las einen Brief,

den er schon einige Tage bei sich führte. Der kurze Brief lautete: „Soeben erfahre ich, daß Wassil in Ihre nächste Um­ gebung kommandiert ward. Wenn ich als Russin auch stolz sein muß, ihn vor dem Feinde und unter Ihrem Befehle zu wissen, so blutet doch das Herz der Mutter

in namenlosem Bangen. Er ist mehr als mein Sohn —

er ist die Verkörperung meiner und Ihrer unermeßlichen Schuld.

Kehrt er heim, dann will ich an Vergebung

glauben. Wachen Sie über dem Heile, über dem Leben meines Kindes. Raissa." Barinski war einst mit Raissa verlobt gewesen, hatte ihr dann aber kurz erklärt, daß er eine andere liebe.

Sie hieß Vera und stammte aus einer verarmten Fürsten­ familie. Barinski wurde von ihr ausgesogen, enttäuscht und fortgeworfen. Dann kam die furchtbare Sünde zwischen ihm und Raissa, die inzwischen Trekuroff geheiratet hatte.

Leutnant Trekuroff trat bei dem General ein, das Abbild seiner Mutter. In einem von stolzer, wahrer

Vaterliebe und jugendlicher Begeisterung erfüllten Zwie­ gespräche will Barinski den ungestüm nach Ehre ver-

langenden Jüngling nach Petersburg zurücksenden, um

ihn zu retten. Er soll seine Mutter und sein „Liebchen" Wiedersehen. Er werde doch wohl eins haben. Der junge Mensch flammt auf. Ja, er hätte eine Liebste, die er mehr liebte, als alles auf der Welt. Es ist dieselbe Vera, die einst seinen Vater vernichtet hat. Der General ist wie von Sinnen. Diese Teufelin, die sich mit tausend

Künsten jung erhalten hat, will seinen Sohn verderben. „Ihr Bild," schrie der General, „du mußt es bei dir haben, leugne nicht, ich weiß es ... her mit dem Bilde, ich befehle es dir!" „Ihr Bild -" Es lag in einer flachen Goldkapsel; die fliegenden Finger des Generals schlossen sich darum mit so wildem Griffe, daß die Hülle aufbarst.

War es ein Spuk? Ihm entgegen zuckte ein fein­ geschnittenes, elegantes Gesicht, etwas müde vielleicht, etwas welk, aber mit dem alten, sieghaften Iuge dämo­

nischer Urmacht, dem grausamen Lächeln der Russalka, der Teichnire, die aus Torfmooren höhnt und den Ge­ foppten mit ihren unabwendbaren Augen in die schwarze Lache hinabzieht ... Das knisternde sattrote Haar kräu­ selte sich um die schmale Stirn wie ein Streifen Lohe; wo es über der Brust zusammenschlug, am Rande des Bildes, stand in langen, feinen Schriftzügen der alte kühne Lockruf: „Je t’adore“.

Wie der General nun mit erschütterndem Schrei den Namen des Weibes nennt, meint der junge Mensch, der

General habe auch von ihrer Schönheit gehört und wäre

eifersüchtig. Maßlose Wut erfüllt den bis zum Wahn­ sinn Verblendeten. Mit wilden Worten schmäht er Barinski, in dem ein entsetzlicher Entschluß kämpft.

Er stellt eine Frage auf Tod und Leben: „Wenn du zur Wahl gezwungen wärst zwischen deiner Mutter und jener Frau — wenn eine von ihnen sterben müßte, um

der andern Platz zu lassen auf Erden ..." „So würde ich meine Mutter beklagen," sprach Trekuroff rasch, „über ihre Bahre aber die Frau zur Hoch­ zeit führen, die ich liebe." Der General schreit ihm ent­

gegen: „Das wirst du nicht tun, sie ist eine Ehrlose!" Da fliegt der Degen aus der Scheide und der Sohn stürzt sich mit furchtbarem Fluch auf den Vater, um ihn niederzuschlagen. Offiziere treten unvermutet ein. Man will den Rebellen festnehmen. Der General ver­ bietet es. Er kommandiert seinen Sohn nicht zur Mel­

dung nach Petersburg, nicht zum Stabe, sondern zum ersten Bataillon der ersten Angriffsstaffel ...

Der nächste Tag brachte einen schwer erkämpften Sieg. „Vom ersten Bataillon der ersten Angriffsstaffel kam keiner wieder, auch nicht der Leutnant Trekuroff."

Diese Erzählung ist in Wurf und leidenschaftlicher Ausgestaltung des Stoffes wahrhaft groß und erschüt­

ternd. Es soll dabei auch nicht gar zu lebhaft bedauert werden, daß der Zufall so willkürlich spielt. Vera, das reife Weib, kann nach zwanzig Jahren wohl noch ebenso verderblich wirken, wie sie es als vielleicht Siebzehn­ jährige getan hat. Alles andere aber stürmt an wie Gewitter, das alles Leben unter Hagellasten begräbt.

Sehr bedeutsam in der Idee unter den Geschichten aus Moll ist die Novelle „Vom Könige, der sich totgelacht hat". Überraschend gefügt und glanzvoll sicher in allen Teilen ist „Lia". Ich kann aber die „Geschichten aus Moll" nicht ver­

lassen, ohne auf „Die Königin von Thule" näher einzugehen. Diese Novelle ist von entzückender Grazie, sonnige Phantasie spinnt ihre Fäden und die Idee ist hochpoetisch.

Aus einer Salonplauderei heraus bricht

wie ein Quell ein Märchen von unsäglich feinem Stimmungs- und Sprachzauber. Ein kleiner Kreis guter Bekannter, Männer und

Frauen. Frau Regina, die Herrin des Hauses, ist die schönste und geistreichste der Frauen. Alles beugt sich neidlos ihrer Überlegenheit. Nach längerem Ge­ plauder bat einer: „Singen Sie uns etwas, gnädige Frau." Frau Regina setzte sich ans Klavier und sang:

„Cs war ein König in Thule —" Es war, als litte sie unter der Macht des eigenen Liedes, das die Zuhörer bezwang. Sie sah so fremd­

artig aus, so durch fernste Zeiten herbeigelockt, als passe

sie ganz in den Rahmen der Ballade. „Die Königin von Thule —" sagte eine Stimme; man wußte nicht, woher sie gekommen. Dieses Wort schlug alle in den Bann. „Die Königin von Thule! Seltsam. Alle Welt nennt den alten

König, aber an die Königin hat keiner je gedacht, kein Dichter hat sie besungen."

Ein hitziger Streit um die Königin von Thule ent­ brennt. War sie jung oder alt? War sie treu oder un­

Eine Märchenstimmung atmet durch den Kreis der Gäste. Da steht einer aus dem Kreise auf, Gunther Stormeck, und sagt: „Ich kenne die Königin von Thule, treu?

ich will ihre Geschichte erzählen, obgleich es nur ein Märchen ist."

Alle lauschten gespannt. Und er begann — Das nun folgende Märchen ist so duftig, so leiden­ schaftlich süß und strahlend, so schwermutsvoll und sonnig, daß es abgedruckt werden soll. Die Sprache zeigt feinste Verinnerlichung und durchschimmerndes Leben.

Und Gunther Stormeck begann: „Vor tausend Jahren war alles anders als heute, man hatte den schwarzen Frack noch nicht erfunden und

es gab keine Eisenbahnen. So kam es, daß ich eines Tags, als Ritter gewappnet, auf schnaubendem Rosse vor einem Schlosse hielt. Es war ein Schloß hoch am Meer, von blühenden Gärten umschmiegt; es war von weißem Marmor und hatte zahlreiche Türme und Zinnen. Das Gatter war geschlossen, die Löwen am Tor tagend drohend

und starr, als habe sie im Aufrecken der Schlaf gepackt.

Die Leute von damals hatten keine Visitenkarten und besuchten einander selten — denken Sie, Contessina, wie schrecklich —, es blieb mir also nichts übrig, als zur Harfe zu greifen und ein Lied zu singen. Die Töne flatterten wie Schwalben um die spitzen weißen Dachfirste, und

wie durch einen Zauber hob sich das Gatter. Ich ritt über die silberbeschlagene Brücke, durch zwei, drei Höfe,

in denen Brunnen sprangen, und hielt vor der großen Freitreppe, die Aügel locker, das Visier hoch aufgeschlagen. „Da erblickte ich die Königin von Thule, sie stand auf hohem Söller im Kreise ihrer Frauen. Sie trug ein Gewand von weißem Stoff, hellschimmernd in der

Sonne, im dunklen Haar ein Kränzlein weißer Früh­ Au beiden Seiten der Treppe drängten

lingsblumen.

sich Ritter und Mannen, reckenhafte Gestalten in gleißen­ dem Waffenschmuck; Mohren trugen ein samtenes Kissen, das legten sie zu Füßen der Königin. Ich kniete darauf und entbot ritterlichen Gruß, sie reichte mir sanft die Hand und forderte mich auf, mich zu erheben. Sie hatte

ein sehr süßes Reden, ich aber war befangen und senkte den Blick. Sie war schön, wie niemals ich ein Wesen erschaut. „Nun bliesen die Herolde hell und schmetternd einen

Hornruf, und die Königin reichte mir die Hand, daß ich sie zum Festmahl geleite. Das war in einer hohen Halle,

darein die Sonne fiel, prächtiges Gerät deckte die Tische; auf einem derselben stand nach altem Brauch ein ehern Becken, darin ein Stierkopf in roter Lache, den Kranz von Buchsbaum darum. Hohe gehenkelte Krüge warteten des Durstes der Helden. Die Königin brach weißes Brot,

gab mir davon und reichte es den anderen; zuzeiten nahm sie auch eine Schale voll goldhellem Wein, die war also schwer, daß ihre Hand zitterte. Sie trank davon und gab sie mir, ich aber suchte die Stelle, wo ihre Lippen den Rand berührt, und leerte den Becher bis zum Grunde.

Es war ein süßer Trunk, rosiges Licht kam vor meine

Augen, ich sah wie durch einen Schleier, daß ein paar alte Ritter freundlich lächelten und daß die Königin fast

befangen niederschaute. „.Gebt uns ein Lied,' sagte sie plötzlich, .wir hören

gern Mären aus fernen Landen.' „Es ward stille, und ich erhob mich. Trotzige Helden­ gesichter, schöne Frauenaugen sahen zu mir empor; ein

Page brachte meine Harfe. Durch die goldenen Saiten schlang sich ein Zweiglein weißer Frühlingsblumen ... Das weckte einen Sturm in meiner Brust, ich warf den Kopf zurück und griff in die Saiten, stürmend, ver­ zweifelnd und jubelnd, ich sang von der schönen Herze-

loyde und dem heiligen Gral, ich sang von allem, was mir im Herzen stürmte und stritt, von hoher Liebe, Rittersinn und Frauenschöne, und ich sah, glückseliger

Sänger, wie die Männer den Schwertknauf fester um­ griffen, wie die Frauen die Hände in den Schoß legten

und hochatmend zu mir aufsahen; ich sah, wie die Königin selber reglos war und blaß vom Liede, wie ihr großes Auge dunkler wurde und immer dunkler, wie ihr blühen­

der Mund leicht zuckte vor Stolz und Weh ... „Da brach ich ab mit klingendem, weithallendem Griffe.

Wildschwäne, die in weißer, gebrochener Linie übers Meer zogen, antworteten hell. Lauter Beifall ertönte, Becher klangen mir zu, dann standen wir auf vom Mahl und traten auf den Söller. Tief unter uns rollte das Meer im Sommerabendscheine, der Himmel war

weiß, an ihm schwammen rosenrote Wölkchen.

Die

Ritter gingen hinab, ihre Rosse zu proben, die Frauen

saßen fernab im Kreise und spannen; sie sangen dabei

einen alten liebreizenden Rundgesang. „.Kommt', sagte die Königin plötzlich, indem sie meinen

Arm nahm. „Wir stiegen langsam viel weiße Stufen hinunter, den Gärten zu. Sie lagen weit und schimmernd im letzten

Abendstrahl, ein herber Ruch von jungem Grün kam aus den Wäldern drüben. Wir fanden beide kein armes Wort; die Lieb' blüht schnell im Lande Thule. Wir gingen schweigend, Hand in Hand, zwei träumende, schauernde Menschen; der Mond war aufgegangen und es kam ein Wind mit feuchten Schwingen, da neigten

die Rosen all ihre tiefroten Kelche, duftend im silbernen

Mondlicht.

Sie hatte die Arme um meinen Nacken

geworfen und sah zu mir auf mit dunklen, glückseligen Augen. „Ein Hornruf kam vom Walde, erst ganz leise, dann anschwellend und ersterbend. Er war seltsam: heftig und traurig, zwingend und tröstend zugleich.

Ein Schauer

durchlief ihre schlanke Gestalt, sie wandte sich ab und

dem Klange zu — mich aber faßte ein wildes Weh, ich reckte mich auf, und was meine Hand umspann, war der

Griff des Schwertes.

„Der Hornruf erscholl von neuem, näher, wie es schien, dann wieder in weiter Ferne. So hat Nielsen der Däne geblasen, als er Frau Mette in den Tod rief. „Sie löste sich jäh aus meinen Armen. .Laß mich,' sagte sie, .wenn du gut bist. Es soll nicht sein — leb wohl.' Schüler, Schoerraich-Carolath.

„Sie streckte beide Hände gegen mich und ging hinaus in die Nacht. In demselben Augenblick erhob sich ein kalter Wind, er stieß durch die Baumkronen wie ein Weh­ ruf. Hinter mir schloß sich der Wald wie eine Mauer, der Mond begrub sich in Wolken... ich riß das Hift­ horn von der Seite zu einem Hilferuf, aber es gab

keinen Ton mehr ... ich schleuderte es fort und stürzte hinaus in die Nacht, ich suchte der Königin Spur, ich suchte die Gärten, das stolze Schloß mit seinen vielen

Zinnen.

Vergeblich; — als der Morgen graute, ein

fahler, entsetzlicher Morgen, stand ich am Rand eines

Sumpfes. Fette, breitblätterige Pflanzen umwucherten ihn, dann und wann reckte eine Weide ihr knorriges Haupt über trübe, schmutzige Wasserlachen. Weit ab da­ von trieb ein Bauer mit zwei mageren Mähren den Pflug durchs wüste Land. „,Wo ist das Schloß?' frug ich, — ,wo geht der Weg

nach Thule?' „Er sah mich an und schlug das Kreuz über seine Brust. .Erlöse uns von dem Übel', murmelte er aus zahnlosem Munde. Dann warf er mit einem Tritte die Schar aus der Furche und betrachtete mich hellen grauen Auges,

neubegierig. „,Wo ist Thule?' frug ich in wilder Angst, — »ich bin verirrt, sagt mir, wo ist Thule?' „Sein Blick ward wehmütig und ernst. ,Thule?' sagte er, als ob er seine ganze Erinnerung zusammennähme, — .ich hab's einst gewußt, den Weg, doch schon lange ver­ gessen. Nichts für ungut, Herr, aber nehmt einen Pflug

und führt ihn übers versunkene Land, tut wie ich, und arbeitet. Das ist der Weg, den ich Euch zeigen möchte, es ist der einzige, der zum Ziele führt/

„Und ich tat, wie er geheißen. Aus den Saiten der Harfe flocht ich Stricke und spannte darein mein Streit­ roß, das Schwert zerbrach ich, wandelte es zur Pflug­

schar und begann zu pflügen.

Es ging schwer, aber

es ging doch, und so habe ich fortgepflügt bis auf den

heutigen Tag." —

*

*

*

Im Jahre 1878, teils auf Reisen, teils in Palsgaard, entstand die größere Erzählung „Tauwasser".

Das wundersame Unglück zweier junger Herzen liegt auf ihr wie ein Fieber. Jedes Wort in der Novelle leidet mit. Es ist die Stimmung einer großen, erschütternden Lyrik

in dieser Geschichte einer Jugend. Ein dänischer Student Bent Sörensen, der aus einem engumgitterten Pfarr­ hause stammt, lernt in einer norddeutschen Universitäts­ stadt die italienische Sängerin Giacinta kennen. Beide

sind blutarm. Aber sie legen das goldfunkelnde Vierer­

gespann der Liebe vor den armseligen Wagen ihres Lebens. So geht es dahin. Ein Stückchen Weges. Aber das brausende Gespann erlahmt. Der Wagen schleudert

in den tiefen, steinigen Gleisen gefährlich hin und her. Die Fahrt hört jäh auf. Der Wagen liegt im Straßen­ graben. Aus dem glühenden, seligen Traumlande geht es hinein in regenumstäubte, graue Tage, in Entsagen und Verzichten. Der Hauch seltsam schwerblütiger Jugend 7»

über der Erzählung, wie mattes Sichhinfallenlassen ohne Widerstand, ist von hoher poetischer Schönheit. Die Novelle „Der Freiherr" entstand im Jahre 1891. Der Titelheld hat eine doppelte Schuld auf sich geladen. Seinen Jägerburschen hat er in eine verhaßte Ehe hineingetrieben und an sein Schicksal das eines jungen Mädchens geknüpft, das ihm wohl Dankbarkeit, aber niemals Liebe geben konnte. Sein Weib liebt einen andern. Seine Seele gehört ganz diesem andern. Und

nun sucht Rottberg, der Freiherr, mit unablässigem Ringen und Kämpfen die Seele seines Weibes sich zu unterwerfen. Es gelingt ihm nicht. Da opfert er sich, damit sein Weib atmen könne. Die Gestalt des fein­ sinnigen Genießers Rottberg ist mit kühner Sicherheit

gezeichnet. Die Erzählung drängt mit ungestümer Wucht vorwärts. Der Schluß wirkt durch das jähe Aufeinander­ prallen der Geschehnisse ungemein stark. Die Erzählung wirft mit kühner Eindringlichkeit die Fragen auf: Darf ein Starker, dem Macht ward, in die Lebensführung

anderer, über die er Gewalt hat, zerstörend eingreifen? Darf er, obschon Wohlwollen und Edelsinn ihn leiten, ein inneres Glück eines Menschen, so wenig Glück es auch nach außenhin tatsächlich darstellen mag, auch nur anrühren? Der Dichter beantwortet diese Fragen mit

einem schreienden „Nein!" Er proklamiert das Recht des einzelnen auf das, was er als Glück ansieht. Der Dichter hätte sich damit begnügen dürfen, daß Rottberg innerlich sein Werk verloren gibt, aber nein, er zerschlägt ihm auch das Leben. So ungestüm tritt Carolath ein

für die inneren Güter: Liebe und Sehnsucht. Ich wüßte nicht, daß je ein Dichter leidenschaftlicher für die Rechte des Herzens die Stimme erhoben hätte, als Carolath.

Mit großer Freude komme ich nun auf die dem Jahre 1893 entstammende Erzählung „Der Heiland der Tiere". Im Eingang ist schon darauf hingewiesen worden. Nie hat mich das wunderbare Adelsmenschen­ tum Carolaths mächtiger ergriffen, als beim Lesen dieser Botschaft des Erbarmens für die stumme Kreatur. Mag es sein, daß die Idee der Novelle etwas zu kühn ins Heroische des Mitleids hinübergreift. Die Idee ist aber so grandios ausgestaltet, daß jedes Bedenken schweigen

muß. Wie Walther von der Vogelweide von den Vögeln betrauert worden sein soll, so hätte das Volk der Tiere dem größten und herrlichsten Anwalt, den es vielleicht je unter den Menschen hatte, seine Abgesandten zur Toten­

folge schicken müssen. Sind jemals leidenschaftlichere Worte für das gemarterte Tier gehört worden, als hier! Dieses gigantische Mitleid in Carolath, das gar nichts mit weichmütiger Gefühlsaufwallung zu tun hat, bedeutet einen der leuchtendsten Höhepunkte in der Geschichte der Menschheit.

Die Geschichte erzählt zunächst von einem Tiroler Bauernknaben, der seine junge Seele mit dem Leben der stummen Kreatur so innig verbunden hatte, daß er, als er die Schlachtüng seiner Lieblingskuh mit ansehen muß, in Schwachsinn verfällt. Tirol ist seiner Tier­ quälereien wegen mit einem mehr als traurigen Ruf

belastet. Die steilen, steinigen Wege dort sind wahre Marterwege für das Zugvieh, das mit gemeinster Grau-

samkeit die Straßen hinaufgepeitscht wird.

Eine der­

artige Quälerei, die den bis dahin stumpfsinnigen Knaben entsetzlich aufregt, gibt ihm den Verstand wieder.

Und nun ist der brennende Mittelpunkt seines Wesens das neue Evangelium von der Kreatur, die nach Er­ lösung schreit. Überall, wo er eine Tierquälerei wittert,

ist er ungerufen zur Stelle, mahnt, bittet, bettelt und — wird verhöhnt. Man haßt und verfolgt ihn und sieht in ihm nichts als einen „Empörer wider der Väter Sitten". Ja, der wahnwitzige Haß steigert sich derart, daß man ihn für einen Aufrührer gegen Gott hält. Das ganze Dorf ist gegen den Verrückten für die unver­

nünftige Kreatur in hellem Aufruhr. Kein Tag vergeht,

daß er nicht an Ehre und Gut gekränkt würde. Er kann

die Menschen so nicht überwinden. Da kommt ihm der schwindelnde Gedanke, daß er sich für die nach Erlösung schreiende, gemarterte Kreatur ans Kreuz schlagen müsse.

Mit wahnwitziger Ergriffenheit hängt er dieser Idee nach; bis ein Heilandsfieber ihm den Hammer in die Hand gibt, daß er seinen Arm an einen Baum nagelt. Mit knotigen Stricken hatte er sich vorher festgebunden. Der Baum, an dem er das grauenhafte Kreuzigungs­

werk vollzieht, hat sein Wurzelwerk in eine Felswand eingeschlagen, die steil über dem Dorfe hängt, wo man den Heiland der Tiere ausgestoßen h'atte. In furchtbarer Höhe hängt der Gekreuzigte, an dem das Blut nieder­

geht wie ein Regen, weil er sich eine Ader durchschlagen hat. Das Volk starrt empor zu dem Schrecknis. Da plötzlich schießt aus dem Hofe des „Heilandes" ein Flam-

menstrudel auf.

Man hatte sein Gehöft angezündet.

Der aufspringende Föhn setzt sich in die Lohe, das Nachbarhaus, das ganze Dorf brennt. Alles wird ver­ nichtet. Die verzweifelnden Menschen retten sich auf einen hochgelegenen Friedhof. Sie starren empor zu

dem Sterbenden; das Fünklein Wahnsinn zündete, das

von ihm ausging; eine rasende Ergriffenheit schlägt sich wie Krallen in aller Herzen — — die Menschen

und die mithinaufgeretteten Tiere „umfassen sich zu —

neuem Bunde". Wenn's der Sterbende noch sehen könnte, so könnte auch von seinen Lippen das große Siegeswort gehen: Es ist vollbracht!

Nach einem solchen Meisterwerk will ich, indem ich die übrigen Erzählungen „Bürgerlicher Tod" und „Lichtlein sind wir" nur aufführe, zu der kurzen Er­ zählung kommen, die in bezug auf künstlerische Ge­

schlossenheit eins der herrlichsten Kleinodien der deutschen Prosadichtung ist, ich meine „Die Kiesgrube". Jedes Lob ist hier töricht. Die Mitleidöidee, die im „Heiland der Tiere" ausgestaltet ist, lebt auch in dieser Geschichte

mit herrlichster Kraft. Man könnte seitenlang über diese wunderbare Schöpfung schreiben. Es ist mein Vorsatz, Carolaths Kunst klingen zu machen, weit hinein ins Volk. Da wüßte ich nun nichts, was ein schönerer Helfer zu diesem Werke wäre, als daß ich die verhältnismäßig kurze Novelle hier wiedergebe. Durch den Abdruck

dieser Novelle muß geradezu ein Hunger auf Carolath erweckt werden. Wer auch die Geschichte schon gelesen

haben sollte, möge sie ruhig noch einmal lesen.

Die Kiesgrube /As war ein Tag zwischen Loire und Jura. Fern hinter welligen Hügelketten schob sich das neugebildete fran­

zösische Korps in Stellung, dessen Flanke deckten zwei Halb­

brigaden, hier auf Vorposten lagerte, in leicht ansteigen­ dem Gelände, ein Bataillon.

Die Sonne schien warm auf die nassen, räderdurch­ furchten Felder, in den Hohlwegen sackte sich zusammen­

schmelzender Schnee mit braunen, krustigen Rändern. Drunten, am Kreuzpunkt der Straßen, lag ein Wirts­ haus, dahinter, in seichter Talmulde, das Dorf. Vor der

Kirche hatte man die Nußbaume gefällt, so daß sie als

Verhau den Dorfeingang sperrten.

Sonst bot das Gelände ein Bild des Friedens, nichts schien auf nahe Kriegsgefahr zu deuten, es gingen sogar

Gerüchte, daß die Deutschen irgendwo, zwischen Belfort

und der Lisaine, eine Niederlage erlitten hätten.

Vom

Feinde sei nichts zu befürchten, und Ruhetage ständen in

Aussicht.

Des freuten sich die Leute des dritten Bataillons, denn die meisten waren kriegsmüde, und ihre vernachlässigten

Monturen, ihre lärmende, schlechte Haltung zeugten reich­ lich davon, daß der Feldzug bisher für sie aufreibend, un­ heilvoll gewesen war. Oben am Feldsaum lag eine Kiesgrube, die Abfallstätte

des Dorfes.

Dort scharten sich Mannschaften, Mobil-

garten und Liniensoltaten im Durcheinander. Seitwärts, noch eben zwischen den zertrümmerten Rädern hängend, stand ein gestrandeter verlassener Marketenderkarren. Den halten die Soldaten erbrochen und beraubt; weitumher lagen Sardinenbüchsen, Kistendeckel, fettige Papierreste. Ein halbgefülltes Fäßchen erfreute sich des regsten Zu­ spruchs, doch hatten sich des Schatzes ein paar energisch aussehende Kerle bemächtigt, die eine Art Schenkpolizei ausübten. Jetzt war ein beliebtes, volkstümliches Spiel im Gange; mit verbundenen Augen kniete einer und gab seine Kehr­ seite preis, auf diese schlugen einzeln, in Reihenfolge die Kameraden, natürlich in derber Weise. Der Blinde hatte zu raten, von wem der Schlag gekommen: nannte er den Täter, so mußte der die Stelle des Geschlagenen ein­ nehmen. Jetzt fiel ein Hieb von besonderer, klatschender Wucht; der Getroffene sprang empor und rieb wutschnaubend seine krapproten Hosen. „Das war Betrug," schrie er, in­ dessen die andern vor Wonne brüllten, „ihr habt nicht mit der Hand gehauen, sondern mit einem Riemen! Ja, mit deinem Leibriemen, du verdammter Hund", fügte er hinzu, einem hageren, grinsenden Infanteristen sofort an die Kehle springend. Andere suchten wegzureißen, zu vermitteln; im Um­ sehen entstand eine erbitterte Prügelei. Hundert Schritte davon schlenderte, im Kapuzmäntelchen und rotem goldverschnürten Käppi, ein Leutnant. Als er den Lärm vernahm, zog er eine Landkarte aus der

Tasche und begab sich, eifriges Terrainstudium vor­ schützend, aus der Nähe der Streitenden. Auf einmal erhob sich unfern des gestürzten Marke­ tenderkarrens hinter einem Schutthaufen ein schmutz­ bedecktes Tier. Es war ein großes, abgezehrtes Pferd, das infolge seiner schrecklichen Magerkeit noch größer als gewöhnlich erschien. Unter dem schäbigen Fell zeichneten sich die Rippen wie Tonnenreifen, am Vorderbein trug es eine große unförmige Geschwulst, die von Schlägen oder von vernarbendem Knochenschuß herrührte. Zutunlich und wohl halb verhungert schleppte es sich

bis zu den Streitenden und begann die zerbrochenen Kisten nach etwas Stroh zu durchsuchen. Die Erscheinung war eine derart unvermutete, kläglich komische, daß sich der Zank legte und ein allgemeines Ge­ lächter entstand. Die schlechtesten Witze wurden laut. „Der sieht ja aus," hieß es, „als ob Mittfasten und Karfreitag zusammenfielen." „Das ist des Teufels Rosinante," schrie ein anderer,

„die schickt uns Satan zum Spazierenreiten." „Paßt mal auf", sprach ein kleiner, stämmiger Kerl, in­ dem er den Leibgurt lockerte und die Mütze in den Nacken schob. Er nahm einen Anlauf und sprang von hinten auf das Tier, das gesenkten Kopfes dastand. „Hü, Alter!" rief er, indem er die mageren Weichen mit den Hacken be­ arbeitete. „Linksgalopp, marsch!" Das alte Geschöpf, seines Zeichens offenbar ein aus­ gedientes Militärpferd, verstand zum Jubel der An-

wesenden die Aufforderung und versuchte willig, trotz seines geschwollenen Beines, ein paar humpelnde Galopp­ schritte zu tun. „Wir wollen mitreiten," riefen einige, als daS Ge­ lächter sich gelegt hatte, „auf dem Kamel haben wir alle

Platz." „Wartet mal," sprach einer, „wir wollen FaschingSumzug halten." Er holte aus dem Marketenderkarren eine schmutzige Frauenhaube mit flatternden Bändern und stülpte sie

über die trübseligen, baumelnden Pferdeohren. Unter­ dessen hatten drei, vier andere den Rücken des Pferdes erklettert.

„Brrr, Alter — hü, nun vorwärts!" Aber das kranke Tier bewegte sich nicht, nur seine Beine zitterten unter der Last. Das Stillstehen erregte Hohnrufe und Zorn. „Spaßverderber, willst du oder willst du nicht?" Hiebe begannen zu hageln. Das Pferd tat eine letzte Anstrengung und stand aber­ mals still. Nun sprangen etliche erbittert hinzu, Fußtritte polterten zwischen die hageren Weichen. „Laßt doch das Tier in Frieden", bat ein kleiner Rekrut, der die Quälerei nicht mehr ansehen mochte. „Was ist gefällig, Monsieur Schuetz, Monsieur Pierre Schuetz?" höhnte ein langer Moblot. „Sollten Sie viel­

leicht in Ihrer Heimat zu den Ehrenmitgliedern des Tier­ schutzvereins zählen, hochgeehrter Monsieur Schuetz?" Und alle wiederholten imChor: „MonsieurSchneeeets"— Dem kleinen gehänselten Elsässer war vor Erregung das

Weinen nahe. „Man quält doch Geschöpfe nicht ohne Grund zu Tode, das da hat sein Lebtag schwer gearbeitet — und dann hat das alte Tier ja doch auch schließlich ein­ mal eine Mutter gehabt —" Der einfaltsvolle Einwand weckte eine brüllende Lach­ salve. „Sollte man nicht meinen," rief der hagere Moblot, „daß ihr elsässisches Bauernpack mit euren Haustieren aus

einem Troge freßt? Wenn du nicht mitmachen willst, so scher dich zum Teufel, dummer Rekrut. Geh in den Stall und trink Brüderschaft mit den Ochsen. Ihr andern vor­ wärts — hü, Schindmähre!"

Aber die Mähre war nicht vom Fleck zu bringen. „Holt einen Knüppel und schlagt vor die Schienbeine", riet einer, der früher Sandfuhrmann gewesen war.

Gesagt, getan, doch die Kreatur rührte sich nicht; aus dem schmierigen Fell brach dicker Schweiß, die Augen wurden gläsern, trübe. „Was geht hier vor sich?" rief eine zornheisere «Stimme. „Seid ihr französische Soldaten oder feiges Marodeur­ gesindel?" Vor den überraschten stand ein ältlicher, untersetzter Herr in bürgerlicher Kleidung. Ihm folgte, säbellos, das Reitstöckchen im Stiefel tragend, ein Verwaltungsoffizier. Man merkte es ihm an, daß er trotz seiner Epauletten sich

nur ungern in die Nähe der Soldaten gewagt hatte. Das Erstaunen der anfangs überraschten legte sich gar bald; den Offizier beachteten sie nicht, um so mehr wid­ meten sie dem alten Herrn ihren Spott.

109 „Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuchs?" rief einer, sich breitspurig auf seinen Knüttel stützend.

„Guten Tag, Herr Bürgermeister", sprach ein anderer mit tiefer Verbeugung. „Sie wollen uns wohl wegen

Störung der Sonntagsruhe belangen, und der Mehlsack dort hinter Ihnen soll das Protokoll aufnehmen, he?" „Sie tragen Offiziersabzeichen", herrschte der alte Herr

seinem Begleiter zu, „und wissen nicht, sich Respekt zu ver­ schaffen? Mein Gepäck blieb zurück, und ich habe Zivil­ kleider am Leibe, sagen also wenigstens Sie der Bande, woher wir kommen, und daß —" „Ware gegenüber dieser Stimmung der Leute und in diesem Augenblick völlig unnütz", entgegnete der andere achselzuckend, leise.

Dann, als er bemerkte, daß immer mehr Soldaten sich scharten und die Kiesgrube füllten, ließ er seine Stimme anschwellen. „Das sind übrigens brave Troupiers und gute Kameraden", rief er im Brustton väterlichen Wohl­

wollens. „Nur manchmal etwas ausgelassen, im ganzen aber wirklich brave, gute Kinder. Sie wissen und fühlen es, der Stolz und die Hoffnung Frankreichs ruhen auf ihnen —" Ein johlendes Gelächter lohnte die Redewendung.

„Wir verbitten uns dein Lob, du Speckmade. Halte den Mund und spare deine Mühe. Was habt ihr übrigens hier zu suchen? Macht, daß ihr fortkommt, und haltet uns nicht

auf. Gleich geht der Schnellzug weiter. Einsteigen, meine Herrschaften, einsteigen!" Der lange schwarze Kerl hatte den Ruf getan, indem

er sich gleichzeitig wieder dem ermatteten, keuchenden Pferde näherte. Doch auch der alte Herr trat dichter heran. „Wer die Hand noch einmal gegen dieses Geschöpf hebt," rief er, dem Moblot fest ins Gesicht sehend, „ist kein Soldat mehr, sondern ein Schuft und ein Feigling." „Feigling du selbst", schrie der Hagere haßerfüllt. „Und weil dir an dem Tier gar so viel zu liegen scheint, so sollt ihr beide eure Bescherung kriegen. Da —" Er hatte rasch eine Zaunlatte erhoben, sprang auf das Tier zu und schlug es mit voller Wut zweimal über den

Kopf. Es warf den Hals matt in die Höhe und blieb noch auf­

recht stehen, auf zitternden Knien. Ein Auge lief ihm, ausgeschlagen, langsam über den hängenden Kopf; es starb noch immer nicht. Der alte Herr hatte sich aufgereckt, die Adern schwollen ihm in den Schläfen, in seiner Hand lag plötzlich ein

schwerer Armeerevolver. Erst schien es, als wolle er dem Schurken, der den Schlag getan, einen Schuß ins Gesicht brennen; dann aber wandte er sich zu dem alten Pferde, streichelte es und jagte ihm kurzweg die Kugel durchs Gehirn. Es fiel zusammen und streckte sich. Jetzt waren es die Schreier, die mit offenen Mäulern dastanden. Etliche drückten sich und rissen ehrenhalber ein paar erzwungene Witze; die schlimmsten jedoch, die für den enttäuschten, wutfahlen Mobilgardisten Partei ge-

genommen, rafften Zaunlatten auf und wollten dem

Fremden zu Leibe. Da erschien, von den Offizieren abgesandt, ein alter, mit

Denkmünzen beleihter Sergeant, ein Auvergnate. Unter gräßlichen Flüchen trieb er seine Leute auseinander.

Dann die Backen aufblasend, maß er den Angekommenen. „Verhaftet, folgen Sie mir zum Kommandanten!" sprach er barsch. Aus den Straßengräben hinter den Scheuntoren reckten Mannschaften die Hälse empor, betrachteten neugierig den Vorgang. Sie bildeten Reihe, die Hände in den Kapotttaschen, die Zigarette im schlaffen Mundwinkel. Etliche Spaßvögel tauschten in langgezogenen Diskanttönen ihre Bemerkungen.

Plötzlich steckte einer die Finger in den Mund und tat einen gellenden Pfiff. Die Andeutung ward sofort be­ griffen. „Achtung, ein Spion! Ein verkleideter Preuße! Ja, wenn wir stets verraten werden, was hilft dann aller

Mut? Armes Frankreich!" Durch die dunkelnden Dorfgassen wälzte sich, fort­ wachsend, der häßliche Ruf: „Spion! Spion!" Der kleine Gefangenentransport erreichte den Gasthof. Uber dem Treppengang machte der Sergeant Halt und

klopfte mehrfach. Nach kurzem Harren öffnete sich die Tür; eine dralle Schenkmagd, ein paar Teller nebst ge­ leerten Flaschen tragend, floh kichernd aus dem Zimmer. Drinnen stand, vor einem halb abgedeckten Tisch und einer von vergossenem Rotwein fleckigen Feldkarte, der Kommandant. Er schnob den Unteroffizier an, bedeutete ihn, sich nebst

seinem Begleiter davonzuscheren; der alte Herr jedoch drängte den Sergeanten gegen die Tür, zog eine Brief-

112 lasche und erzwang sich, mit dem Fuß aufstampfend. Ge­

hör: „Bisher Kommandant der Marineinfanterie zu Brest. Durch Befehl des Diktators einberufen und mit folgendem Kommando betraut —" Ein Knittern von Papieren, das Umstürzen eines heftig zurückgeschobenen Stuhles, dann aufsteigende, kurze Aus­ einandersetzung, beherrscht durch eine zornige, scharf klingende Stimme, die jede Entgegnung zurückwies. Unten rasselten und hielten ein paar Gepäckwagen. Begleitung energisch zurückweisend, verließ der alte Herr das Gasthaus, nahm aus der Hand eines Trainsoldaten

blaulibellierte Papiere, las sie beim Schein aufflammen­ der Streichhölzer und bestieg eines der Gefährte. Dann verschwand der kleine Jug eilig, auf holperigen Wegen, mit schwankenden Laternen, in der Nacht. Droben, gestiefelt über dem Bett liegend, schlief der Kommandant einen wüsten Schlaf. Bei den Feldwachen herrschte Getöse, Flammenstöße lohten winddurchfacht. Auf dem brandroten Hintergrund hoben sich die Umrisse tanzender, mimender Soldaten. Die Kiesgrube war verlassen, in ihr lag die riesenhafte, beulenbedeckte Gestalt des verendeten Pferdes. Wohlig, wie glücklich, endlich rasten zu dürfen, streckte es die un­

förmlichen geschwollenen Beine.

Der Mond war auf­

gegangen, bestrahlte die Ackerschollen, streifte jede Kuppe. Er kroch endlich langsam über das tote Tier und weckte in dessen glasigem Augenwinkel ein grünes, tückisches Leuchten.



*

*

Der Morgen dämmerte bleifarbig; der Schrei ver­ sprengter Hähne scholl von den Gehöften. Plötzlich ent­ stand links in den Feldern ein flackerndes, jäh abreißendes

Gewehrfeuer. Daß dort etwas nicht in Ordnung, könnte ein Laie wissen. Doch die Schläfer im Dorf denken nicht an Gefahr; der Feind ist noch weit, sie haben Ruhetag. Sie recken sich, schimpfen über falschen Alarm. Doch schon ist das Dorf voller Feinde. Ulanen preschen

durch die Hauptgasse, stechen und schlagen auf alle ein, die

halbbekleidet aus den Quartieren stürzen. Dann ver­ schwinden sie spurlos wie toller Spuk, nur am Dorfsaum, in den Häusern, hat sich eine starke Abteilung eingenistet und knattert aus trefflicher Deckung ihre zähe Morgenreveille. Zum Straßenkampf ist's nicht Zeit, die über­ fallenen Kompagnien hasten und fluten dem entgegen­ gesetzten Ausgang des Dorfes zu. „Sammeln!" tönt das Kommando.

„Hinein in die

Kiesgrube! Sammeln!" In die Kiesgrube drängt sich die Menge, doch drinnen sieht es nicht schön aus. Zwischen den Überresten der gestrigen Feier, zwischen Sardinenbüchsen und Flaschen­ scherben liegt das tote Pferd. Es erscheint, steifknochig

hingestreckt, manchem noch riesiger, als es bei Lebzeiten gewesen. Auf seine erstarrten Lefzen, aus denen die langen Zähne hervortreten, hat der Tod einen halb fürchterlichen, halb befriedigten Zug geprägt, als wolle

es sagen: „Seht her, ihr andern. Mein Teil an Lebens­ not habe ich überstanden. Ihr aber wißt nicht, was noch Schüler, Schoenaich-Carolath.

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kommen kann. Ich habe Ruhe und bin gut daran, besser

vielleicht als ihr." Ist es die frühe Morgenstunde, ist es die Nähe des Feindes — manchen befällt würgendes Unbehagen. Fern im Vorlande werden kurze graue Linien sichtbar, die sich schußlos heranschieben, auftauchend und ver­ sinkend. „Die Kiesgrube halten!" schreien die Offiziere. Aus der Mulde fluten Schützenschwärme und hüllen

sich sofort in ein heftiges, weitstreichendes Chassepotfeuer. Gegenüber, auf morgenhellem Hügelzug bewegen sich kleine dunkle Häuflein, durch Zwischenräume getrennt. Von denen steigt plötzlich eine Trichterwolke auf. Herüber, doch hoch über die Stellung, viel zu hoch, kommt eine

Granate. Im Waldsaum zwischen den schwarzen Fichten­ zweigen verstirbt sie mit Prasselschlag, in kupferfarbiger Lohe. „Schlechtes Zeichen", urteilt der alte Sergeant, der neben seiner Flügelrotte liegt. „Die drüben sind uns näher am Leibe, als sie's wissen."

„Teufel, die saß!" Ein Kompagniechef, der abends vorher vergnügt dem Spionenfange zugesehen, fliegt vom Eisenschimmel,

bleibt als hingespritzter Farbenfleck zwischen den Lehm­

schollen liegen. Aus der Schützenkette zurück rennt einer der ärgsten Schreier von gestern; er rennt wie irrsinnig, die zerschmetterte, baumelnde Kinnlade mit den Händen stützend. Zwei andere Granaten folgen in sekundenscharfem

Intervall; beide sind bösartige Treffer.

Ein Halbzug

taumelt, durch Luftdruck und Splitterschlag zersprengt,

durcheinander;

aufgestörte

Schützenschwärme

trichterförmig nach rückwärts.

weichen

Die feindliche Batterie,

von Gegenfeuer unbelästigt, nutzt ihren Vorteil aus. Jetzt

feuert sie Schrapnells; hoch am Himmel, Gewitterwölk­ chen gleichend, platzen die Geschosse, senden den Bleihagel schräg niederwärts, daö Gelände scherend, Deckungen

durchschlagend, Bäume schrammend. Immer rascher hüllen sich die deutschen Geschütze in

Dampf, immer regelmäßiger, mit unheimlicher Sicher­ heit kommen die Treffer herüber.

Das fällt den Ver­

teidigern auf die Nerven. Iu dumm, vor einer Batterie zu liegen, die sich eingegabelt hat, wie auf dem Übungs­

feld! Hastig, viel zu voreilig wird die Kiesgrube geräumt.

Im toten Winkel, hinter schußsicherem Höhenzug, sammelt sich das Bataillon. — Es kam in rasch hergestellten Truppenverband, die Auf­

nahmebrigade ordnete sich zum Vormarsch. Ihre Front entlang ritt der Stab.

Adjutanten, ein

Signalflaggenträger, von Dragonern umgeben.

Allen

voran ein kleiner untersetzter Herr in goldstrotzendem Käppi.

Als er vor das dritte Bataillon kommt, grüßt er nicht, sondern zügelt sein Pferd. „Gibt's unter euch einen an­

ständigen Burschen, der Pierre Schnetz heißt?" Die Führer riefen die Frage weiter, der Name lief

rückwärts durch die Kompagnien. Aus der Front hastete, hochbepackt, ein kleiner Rekrut; 8*

er wußte nicht, ob er belobig! oder ob er vor ein Kriegs­ gericht gestellt werden sollte. Mit angefaßtem Gewehr, im Innersten erzitternd, blieb er vor dem Befehlshaber stehen. Der musterte ihn kurz, freundlich. „Hast du Eltern? Ja. Nun wohl. Du meldest dich beim Furier und fährst sofort mit den Brigadeakten nach Lyon. Wenn du dann später — vielleicht bald — nach Hause kommst, so bleib ein braver Mensch und grüße die Alten von deinem General." Er trieb sein Pferd senkrecht auf das Bataillon zu,

wendete dann, und ritt langsam, dicht vor den Gliedern, die Front ab. Er tat es wortlos, doch während er vorbei­ ritt, wurde er von den Meuterern erkannt; manchem be­ gannen die Knie zu schlottern, manche Hand löste sich schlaff vom Gewehrkolben. Als er vorbei war, ging ein Wispern durch die Reihen. Viele wandten sich mit Gesichtern, die käsebleich geworden

waren, dem Nebenmann zu. Doch schon hielt der Stab seitwärts auf einem Hügel. Der General hob nicht einmal das Fernglas, ein einziger Blick zeigte ihm die drohende Gefahr. Da war ein schwerer Flankenstoß im Werke, ja noch Schlimmeres. Südöstlich, meilenfern ballten sich kleine Traubenwölkchen, in der

klaren Luft verfliegend. Kein Zweifel, dem aufmar­ schierenden, zusammengeschobenen Armeekorps drohte Umfassung; auch am rechten Flügel hatte der Feind an­ gepackt. Doch das war nicht eigene Sache, dort mochten andere sorgen; hier hieß es einsetzen, rücksichtslos. Schon

wand sich links, durch Terrainwellen, eine zweite deutsche

Batterie, auftauchend und verschwindend wie der Rücken einer kurzgegliederten Schlange. Schräg vom Dorfsaum her fegte der Dampf feindlichen Gewehrfeuers. Im Vor­ gelände sprangen Schützenschwärme heran, sich gefährlich

verstärkend. „Die Kiesgrube halten," entschied der General; „hier

müssen wir stehen oder fallen." Er atmete auf. Hinter ihm endlich kam hilfbereite

Artillerie, die Geschütze im Sturzacker schlenkernd und schleudernd, die Pferde in den Sielen keuchend. Iwei bange Minuten, dann brach Schnellfeuer los, aufwütend, den deutschen Angriff niederzwingend, die gefährliche Lücke für kurze Jeit schließend.

Und doch zu spät — wahrscheinlich zu spät. Den Rand des Bruches umklammern, im Steinschutt liegend, die ersten dünnen Schwärme der feindlichen Schützen; die ringen nach Atem, keuchend hingestreckt, sich duckend unter

der Wucht des nahen, rasenden Geschützfeuers, dabei doch kaltäugig nach Schußfeld für die Klappenvisiere spähend. Hinter ihnen, wie aus der Erde gewachsen, aufgelöste Kompagnien, unter Hurra laufend.

mit

dem

Bajonett an­

„Die Kiesgrube!" schreit der General mit wetterleuch­ tenden, Unglück ahnenden Augen. „Die Kiesgrube wieder nehmen, sonst geht, Gott schütze uns, das Gefecht ver­

loren." „Die Kiesgrube? Herr General," gibt der Adjutant barsch zurück, „dort hott uns alle der Teufel. Das wird ein Massengrab —"

Ein Höfling war der brave Offizier niemals gewesen. Jetzt scheidet er, durch den Kopf geschossen, mit tiefer, spitzer Hofmarschallverbeugung vom Pferde.

Wie der General sich betroffen umsieht, gewahrt er leere Sättel und angeschossene, wild bockende Gäule. „Ja so! Iündnadelfeuer auf vierhundert Meter? Dann frei­ lich Er wendet sich und reitet, um seinen Befehl selbsteigen zurückzutragen. Das dritte Bataillon, so viel weiß er, hat

den Schlüssel der Stellung, die Kiesgrube, preisgegeben. Daß dieses, gerade dieses Bataillon die Kiesgrube wieder­ nehmen soll, ist nicht mehr als billig, ist ihm unumstöß­ licher Entschluß. Freilich glaubt er nicht mehr an ein Ge­ lingen. Gleichviel; wie er über den Sturzacker galoppiert und wie sein Säbel in der Scheide schüttelt, gefällt er sich in dem Vorgefühl naher Vergeltung. Er weiß, daß jenes viehisch hingemarterte Pferd von gestern bald Gesellschaft

bekommen, daß es zugedeckt werden wird mit den Leibern seiner Peiniger. Dieses steht zweifellos fest. Im übrigen ist es, da Blut doch einmal fließen muß, durchaus logisch, daß die Ungerechten zuerst an die Reihe kommen, früher als viele Gerechte, viele arme Teufel dort hinten. Aber wie? Denkt der General daran, das Tier rächen zu wollen durch Menschenblut? Im Grunde, nein. Dennoch erfüllt es ihn mit Ge­ nugtuung, daß der Zufall zum Strafgericht gleichsam

drängt.

Die Freveltat erscheint ihm als schwerwiegend

und bedeutungsvoll: nicht als Einzelausbruch, als An­ stifterin zu schlimmeren Folgetaten, sondern als Offen-

barung des schlechten, ehrlosen Geistes, der von jener Truppe Besitz ergriffen hatte. Bekümmert, doch mit geschärften Blicken sieht er, der

warme Patriot, neben den glänzenden, bewunderungs­ würdigen Eigenschaften seines Volkes auch dessen Erb­ fehler, die Ruhmsucht, die Grausamkeit, den Mangel an Selbstzucht, den spöttelnden, nicht umzubringenden Läster­

trieb, in jenen Schuldigen verkörpert. Er sieht alle schäd­ lichen Stoffe, alle verderblichen Keime, das dürre, sieche Dekadententum in jenem zuchtlosen Haufen dort drüben greifbar versammelt. Jene Beule auszudrücken, die

Menschheit vor der Fortzeugungskraft solchen Abschaums zu bewahren, würde eine nützliche, einwandsfreie Tat sein. Früher pflegte man Meuterer zu dezimieren; dieses Verfahren werden die Preußen entbehrlich machen. Übrigens dezimieren? Gutenacht! Aus der Kiesgrube, dem Höllenschlund, kehrt keiner lebendig wieder. Wie sagte doch der erschossene Offizier soeben? „Ein Massen­

grab!" Der General hat einen kurzen Weg zu durchmessen. Während sein Pferd die Ackerfurchen überquert, fesselt ihn eine Wolkenbildung seltsamer Art, die man zuweilen bei Gewittern, bei Schiffbrüchen und Feldschlachten wahr­ nimmt. Über den willenlosen Scharen, die ein Herrscher­

wort in den Krieg, ein Befehlsruf in den Tod sendet, ballt sich ein sturmvoller Himmel mit finsteren Wolken­ säumen. Aus denen zuckt erdenwärts, gleich einem Henkerschwert, ein breiter, fast gleißender Strahl. Es ist

die apokalyptische Verbildlichung des Gesetzes, daß ohne

Blutvergießen es keine Vergebung der Lebensschuld, ohne

Brandopfer keine Versöhnung, keine Wiedergeburt gibt. Doch jener Strahl ändert sich plötzlich, wird glänzender, breiter. Aus nachtverschleiertem Grunde, auf hohem Stamm hebt sich ein Kreuz, wächst heran über die Wolken­ schatten, streckt seine bleichen, leuchtenden Arme weit über Himmel und Erde. Dereinst, du heiliges Zeichen, kommt dein Siegestag. Es wird die Menschheit, irre geworden an ihren Götzen und an sich selbst, nach Versöhnung schreien. Es werden die Völker erkennen, daß nur ein friedlicher Wettkampf in Arbeit und Nächstenliebe ihrer würdig ist, daß es nur einen berechtigten, gottgewollten Krieg gibt: den Krieg

gegen Selbstsucht und Sünde.

Via crucis — via lucis! Noch leuchtet, verheißend, kein Regenbogen; am Himmel ziehen wetterschwangere Schneewolken, darüber gleißt die stechende südfranzösische Wintersonne. Jetzt ist der Befehlshaber zur Stelle gekommen; einem

meldenden Truppenführer nimmt er das Wort vom Munde, zeigt auf das dritte Bataillon. „Wir greifen an,

Herr Oberst; Ihr Regiment folgt als Reserve. Jetzt an den Feind mit denen da! Und sollten die Herren nach rückwärts durchgehen, so lassen Sie feuern — doch nicht zuerst auf die Preußen!" Er zieht den Säbel und setzt sein Pferd in kurzen Trab. „Das dritte Bataillon en avant! Zum Sturm auf die Kiesgrube!"

So nehmen wir von Carolath, einem edelsten der

Adelsmenschen, Abschied, mit tiefem Dank für alle die

brausenden Ergriffenheiten, mit denen er uns füllt, und für das Wegezeigen und das Hinaufdeuten zu großen Höhen. Möge die Schar wachsen, die auf seinen Wegen geht!

Die Werke des Prinzen Emil von Schoenaich-Carolath

erschienen in folgenden Ausgaben:

Gesammelte Werke

7 Bände

Broschiert M. 10.—, gebunden M. 15.—

Inhalt: 1.DichtungenI. 2.DichtungenII. 3.Gedichte. 4.Tau­ wasser. 5. Geschichten aus Moll. 6. Der Freiherr. Regulus. Der Heiland der Tiere. 7. Bürgerlicher Tod. Lichtlein sind wir. Die Kiesgrube. Die Wildgänse. Des Bettlers Weihnachtsgabe.

Fern ragt ein Land ... Eine Auswahl aus den Dichtungen Broschiert M. 1.60, gebunden M. 2.— Liebhaberausgabe auf echtem Büttenpapier und in Pracht­ band gebunden.........................................................M. 12.—

Dichtungen 9. u. 10. Auflage, broschiert M. 3.—, gebunden M. 4.—

Gedichte 5. u. 6. Auflage, broschiert M. 3.—, gebunden M. 4.—

Geschichten aus Moll 3. Auflage

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. broschiert M. 3.—, gebunden M. 4.—

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. broschiert M. 3.—, gebunden M. 4.—

Tauwaiser 3. Auflage

Der Freiherr. Regulus. Der Heiland der Tiere 3. Auflage

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. broschiert M. 3.—, gebunden M. 4.—

Lichtlein sind wir. Die Kiesgrube. Die Wildgänse 2. Auflage

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. broschiert M. 1.80, gebunden M. 2.50

Bürgerlicher Tod gebunden M. 1.—

Neue Ausgabe

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Verlag der

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G. I. Göschen'schen Verlagshandlung in Leipzig